Darmstädter Tagblatt 1924

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Heſſiſche Neueſte Nachrichten
Morgenzeitung der Landeshauptſtadt
Wöchentliche illuſtrierte Beilage: „Die Gegenwart”, Tagesſpiegel in Bild und Wort
Nachdruck ſämtlicher mit X verſehenen Original=Aufſätze und eigeven Nachrichten nur mit Quellenangabe „Darmſt. Tagbl.” geſfattet.
Nummer 342
187. Jahrgang
Dienstag, den 9.Oezember 1924.

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ſtädter 8 Nationa bavi=

Die Reichs= und Landtagswahlen.

Die zweite Ziffernreihe ſtellt die Ergebniſſe der letzten Wahlen dar.

Eendergebniſſe aus dem Reich
Reichswahlkreis Weſtfalen=Süd (9. Wahlkreisverb. Weſtfalen).
nraßt: Regierungsbezirk Arnsberg (Dortmund, Lippſtadt,
(lienkirchen, Hagen, Hamm, Hattingen, Hörde, Iſerlohn,
Siegen, Soeſt, Witten).
1Sigerige Mandate: Sozialdemokraten 4, Deutſchnationale 3,
Im rum 6, Kommuniſten 5, Deutſche Volkspartei 3, Demokrat. 1.
Zuntrum 350 761 (333 074) Sozialdemokraten 317 410 (205 430),
4mmuniſten 155 390 (279 296), Deutſche Volkspartei 154 056
04442), Deutſchnationale 152 229 (157 221), Demokraten 76 509
(D8), Wirtſchaftspartei 18 129 (—), Nationalſozialiſten 14 305
(B7), Unabhängige 10 714 (21 077), Chriſtl.=Soz. 8219 (24 366),
fwertungs= und Aufbaupartei 2685 (—).
Reichswahlkr, Oſthannover (8. Wahlkreisverb. Niederſachſen).
ſifaßt: Reg.=Bez. Stade (Lehe, Geeſtemünde, Verden, Zeven,
en iervörde), Reg.=Bez. Lüneburg (Celle, Soltau, Uelzen,
Lüchow, Harburg).
erige Mandate: Soz. 3, Deutſchnat. 2. Deutſche Volksp. 2.
Teſamtſtimmenzahl 501 883 (504 713). Soz. 141 244 (107 486),
ſchnat. 104 991 (77 602), Welfen 125 395 (152 585), Deutſche
liSp. 57 294 (45 350), Kom. 22 310 (39 864), Nat.=Soz. 21 657
427), Dem. 90 156 (19 216).

Reichswahlkr. Weſer=Ems (8. Wahlkreisverb. Niederſachſen).
hiimßt: Reg.=Bez. Aurich (Emden, Wittmund, Leer, Weener),
Bez. OSnabrück (Meppen, Linden, Bentheim, Melle),
Neg.=Bez. Bremen, Oldenburg).
erige Mandate: Soz. 3, Deutſchnat. 3, Zentr. 3, Kom. 3,
Deutſche Volksp. 2, Nat.=Soz. 2.
elbgegeben wurden 676 397 (660 090) Stimmen. Davon er=
ten: Soz. 171 393 (137 472), Zentr. 137 124 (126 691), Deutſch=
nale 108 165 (102 868), Deutſche Volksp. 106 277 (87 233),
66 605 (56 741), Nat.=Soz. 32 649 (48 993), Kom. 30 942
227), Welfen 14 113 (17901), Chriſtl.=Soz. Volksgem. 5239
), Deutſch=Soz. 1722 (3937), Freier Wirtſch. 1591 (3867).

Reichswahlkr. Merfeburg (6. Wahlkreisverb. Sachſen=Thür.).
lifnßt: Reg.=Bez. Merſeburg (Naumburg, Wittenberg,
Halle, Weißenfels, Zeitz, Bitterfeld, Delitzſch).
sh erige Mandate: Soz. 3, Deutſchnat. 4, Kom. 5, Deutſche
Volksp. 2, Nat.=Soz. 2.
Es wurden 716 482 gültige Stimmen abgegeben, davon ent=
ſem auf die Deutſchnat. 212 377, Kom. 164, 165, Soz. 133 928,
tut ſche Volksp. 86 739, Dem. 48 410, Nat.=Soz. 3481, Wirtſchafts=
i des deutſchen Mittelſtandes 91 112, Zentr. 10 284.

10. Reichswahlkr. Magdeburg (6. Wahlkreisverb. Sachſen=Thür.).
Umfaßt: Reg.=Bez. Magdeburg (Aſchersleben, Gardelegen,
Halberſtadt, Oſchersleben, Quedlinburg, Salzwedel, Stendal,
Wernigerode), Freiſtaat Anhalt.
Bisherige Mandate: Soz. 5, Deutſchnat. 4, Kom. 2, Deutſche
Volksp. 3, Dem. 1.
Soz. 350 878 (269 674), Deutſchnat. 209 101 (206 900), Deutſche
Volksp. 139 316 (125 969), Dem. 62220 (60 696), Kom. 46 336
(88 160), Wirtſchaftsp. 30 708, Nat.=Soz. 27 348 (43 162), Zentr.
17039 (15 809).
7. Reichswahlkreis Breslau (5. Wahlkreisverband Schleſien).
Umfaßt: Reg.=Bez. Breslau (Brieg, Glatz, Schweidnitz,
Striegau, Waldenburg, Wohlau).
Bisherige Mandate: Soz. 5, Deutſchnat. 5, Zentr. 4, Deutſche
Volksp. 2, Nat.=Soz. 2, Deutſch=Soz. 3.
Es wurden 956 122 gültige Stimmen abgegeben. Davon
entfallen auf die Soz. 303 730, Deutſchnat. 275 894, Zentr. 183 737,
Volksp. 73 327, Dem. 44351, Kom. 29 260, Deutſch=Soz. und
Reichsbund für Aufwertung 17 060, Wirtſchaftsp. des deutſchen
Mittelſtandes 13 830, Nat.=Soz. 13 491. Es fehlen noch 21 kleinere
Bezirke.
6. Reichswahlkr. Pommern (Wahlkreisverb. Pom.=Mecklenburg).
Umfaßt: Reg.=Bez. Stettin, Köslin, Stralſund.
Bisherige Mandate: Soz. 3, Deutſchnat. 8, Kom. 2, Deutſche
Volksp. 2, Nat.=Soz. 2.
Abgegeben wurden 901 814 Stimmen (895 161). Davon er=
hielten: Deutſchnat. 443242 (442947), Soz. 221514 (169 579),
Deutſche Volksp. 58 845 (41 784), Kom. 59 365 (77 664), Nat.=Soz.
38267 (65 620), Dem. 33 851 (23 232), Wirtſchaftsp. 20 552
(18 490), Zentr. 9623 (7670), Deutſch=Soz. 8793 (18 269), Auf=
wertungs= und Aufbaupartei 12 459.
23. Reichswahlkreis Düſſeldorf=Weſt (12. Wahlkreisverband
Rheinland=Nord). Umfaßt: Cleve, Crefeld, Duisburg, Mühl=
heim a. R., Hamborn, Mörs, M.=Gladbach.
Bisherige Mandate: Soz. 2, Deutſchnat. 2, Zentr. 6, Kom. 3,
Deutſche Volksp. 2.
Zentr. 332 178 (306 120), Soz. 107 161 (73 184), Kom. 95 594
(142 217), Deutſchnat. 87 229 (81027), Deutſche Volksp. 73 856
(68 739), Dem. 26900 (21 610), Wirtſchaftsp. 26 897, Nat.=Soz.
7276 (19 794).

26. Reichswahlkreis Franken (14. Wahlkreisverband Bayern
Nordweſt). Umfaßt: Reg.=Bez. Oberfranken (Bayreuth,
Bamberg, Hof, Kulmbach) und Coburg, Reg.=Bez. Mittel=
franken (Ansbach, Erlangen, Fürth, Nürnberg), Reg.=Bez.
Unterfranken (Würzburg, Aſchaffenburg, Kiſſingen,
Schweinfurth, Gmünden.
Bisherige Mandate: Soz. 5, Deutſchnat. 4, Kom. 2, Nat.=Soz. 5,
Dem. 2. Bayeriſche Volksp. 5.
Bayer. Volksp. 328 034 (292 415), Soz. 317439 (258 175),
Deutſchnat. 284 130 (165 632), Nat.=Soz. 92 205 (230 010), Dem.
53 371 (40 063), Kom. 15 041 (67 851), Bayer. Bauern= u. Mittel=
ſtandsp. 35 321 (23 790), Bayer. Mittelſtandbund 33 766, Deutſche
Volksp. 16 352 (5614).
19. Reichswahlkreis Heſſen=Naſſau (10. Wahlkreisverb. Heſſen).
Umfaßt: Reg.= Bez. Kaſſel, (Hanau, Homburg, Marburg,
Fulda, Herzfeld, Fritzlar, Melſungen), Wiesbaden (Limburg,
Höchſt, Uſingen, Frankfurt a. M.), Wetzlar, Waldeck.
Bisherige Mandate: Soz. 7, Deutſchnat. 6, Zentr. 4, Kom. 2,
Deutſche Volksp. 4, Nat.=Soz. 2, Dem. 2.
Abgegeben wurden 1 177 577 gültige Stimmen. Davon er=
hielten Soz. 373 692, Deutſchnat. 225 525, Zentr. 201 038, Kom.
63 911, Deutſche Volksp. 152 161, Nat.=Soz. 29 069, Dem. 99 271,
Wirtſchaftsp 25 660, Großdeutſch=Heſſ. Bund 1233, Haeußerbund
245, 1. S. P. 5028, Deutſch=Soz. 744, F. F. F. 744.
16. Reichswahllr. Südhannover=Braunſchweig (8. Wahlkreisverb.
Niederſachſen). Umfaßt: Reg.=Bez. Hannover (Diepholz,
Hoya, Sulingen, Linden, Hameln), Hildesheim (Peine, Gos=
lar, Göttingen, Münden, Uslar, Northeim), Braunſchweig.
Bisherige Mandate: Soz. 6, Deutſchnat. 3, Zentr. 2, Kom. 2,
Deutſche Volksp. 3, Nat.=Soz. 2, Dem. 2, Deutſch=Hann. P. 3.
Soz. 339 552 (304 481), Deutſchnat. 166 079 (152 822), Deutſche
Volksp. 145 230 (136 246), Deutſch=Hann. 117 861 (139 538), Zentr.
51891 (48 341), Dem. 46 451 (44603), Kom. 44 387 (83 218), Nat.=
Soz. 30 607 (77 168).
4. Reichswahlkreis Potsdam I (Wahlkreisverb. Brandenburg II).
Umfaßt: Kr. Prenzlau, Angermünde, Oberbarnim, Niederbarnim,
Jüterbog, Potsdam, Brandenburg.
Bisherige Mandate: Soz. 4, Deutſchnat. 5, Kom. 3, Deutſche
Volksp. 2, Nat.=Soz. 2, Dem. 2.
Es wurden 898 364 gütige Stimmen abgegeben. Davon ent=
fallen auf die Deutſchnat. 280 973, Soz. 271 941, Kom. 108 614,
Volksp. 70 442, Dem. 55 899, Wirtſchaftsp. des deutſchen Mittel=
ſtandes 42 796, Nat.=Soz. 25 413, Zentr. 22 679 Stimmen. Es
fehlen noch drei kleine Gemeinden.

Das vorläufige amtliche Endergebnis.

Sozialdemokratiſche Partei . .
Deutſchnationale (Heſſiſche) Volkspartei
Zentrum
Kommuniſten .
Deutſche Volkspartei .. . . .
Nationalſozialiſtiſche Freiheitsbewegung
Demokraten
Baheriſche Volkspartei . .

heſſiſche Landwirte) ..
Die Preußenwahl.

Die Preußen haben das Unglück gehabt, daß ſie die Eutſchei=
dung über ihren Landtag im Schatten der Reichstgaswahl aus=
fechten mußten und jetzt, nachdem die Schlacht geſchlagen iſt, geht
es ihnen wieder ſo, daß das Ergebnis der preußiſchen
Wahl faſt gar nicht beachtet wird. Nicht ganz mit Un=
recht, denn wir wiſſen ja, wie ſtark die Rückſichtnahme, auf dieſe
Wahlen geweſen und wohl auch heute noch iſt. Denn es iſt kei=
neswegs ausgeſchloſſen, daß zwiſchen der Neu=
bildung der Regierung im Reiche und in Preu=
ßen auch diesmal auf eine engere Verbindung
hingearbeitet wird. Die Sozialdemokraten bleiben zwar
mit 116 Sitzen die ſtärkſte Fraktion im Hauſe, obwohl ihnen die
Deutſchnationalen mit 111 ſehr nahe gekommen ſind. Das be=
deutet aber für die Sozialdemokratie den Verluſt von
20 Sitzen, für die Deutſchnationalen dagegen einen
Gewinnvon 34, wobei zum Ausdruck kommt, daß ſo groß der
Gewinn der Sozialdemokraten gar nicht ſein kann, wenn ſie in
Preußen 20 Sitze verloren haben. Das iſt allerdings in Preußen
darauf zurückzuführen, daß hier die Vergleichszahlen aus dem
Jahre 1921 zugrunde liegen, im Reich dagegen die Zahlen vom
4. Mai. Infolgedeſſen kehren auch die Kommuniſten mit einem
Gewinn von 20 Plätzen zurück, alſo in einer Fraktionsſtärke von
47 Mandaten, während das Zentrum ſeine Stärke von 79 unver=
ändert behält, ebenſo wie die Demokraten bei ihren 26 bleiben.
Die Deutſche Volkspartei iſt von 57 auf 50 zurückgegangen. Die
Nationalſozialiſten gewinnen 12, ſie waren bisher überhaupt nicht
vertreten. Die Wirtſchaftspartei ſteigt von 4 auf 10 und auch die
Deutſchhannoveraner haben einen Gewinn von 2 Plätzen zu ver=
zeichnen. Eine neue Errungenſchaft iſt, daß dank der anderen
Konſtruktionen des preußiſchen Wahlrechtes auch die Polen mit
einem Sitz in den Landtag einziehen. Dies iſt vielleicht ganz gut,
denn da haben ſie wenigſtens ein Ventil, mit dem ſie ihrem gepreß=
ten Herzen Luft machen können.
Politiſch iſt das Entſcheidende der Preußenwahlen, daß So=
zia ldemokraten, Zentrum und Demokraten, die
vorher auch ohne die Deutſche Volkspartei eine ſtarke Mehrheit
beſaßen, nunmehr in die Minderheit gedrängt ſind.
Sie haben einmal das Wort geprägt, daß man mit der Deutſchen
Volkspartei nur regieren kann, wenn ſie zur Regierungsbildung
nicht unbedingt notwendig ſei. Sie können ja jetzt ſehen, wie ſpeit
ſie dabei Recht behalten. Jedenfalls ſind ſie ohne die Deut=
ſche Volkspartei ohnmächtig, während auf der
anderen Seite eine Regierungsbildung zwi=
ſchen Deutſchnationalen, Zentrum und Deutſcher
Volkspartei auch ohne die Demokraten möglich
iſt. Freilich kehrt das Zentrum in ſeiner Zuſammenſetzung im
weſentlichen unverändert zurück, und die Landtagsfraktion war
im allgemeinen weſentlich radikaler, als die Reichstagsfraktion.
Vielleicht bleibt jedoch die Tatſache, daß das Zentrum in ſeinen
alten weſtfäliſchen, mehr konſervativ eingeſtellten Hochburgen
einen Stimmenrückgang zu verzeichnen hat, auf die Entſcheidung
der Fraktion, nicht ohne Wirkung. Immerhin, es wird in
Preußen, wie auch im Reich nicht leicht ſein, eine
neue Regierung auf tragfähiger Grundlage zu
bilden.

Der Parteivorſtand der Deutſchen Volkspartei iſt von
dem Parteiführer Dr. Streſemann auf kommenden Mittwoch vor=
mittag einberufen, um zu der Rückwirkung der Reichs=
tagswahlen auf die politiſche Umſchichtung Stel=
lung zu nehmen.

tagswahl ſtellt ſich wie folgt: Einſchließlich der auf die Land=
tagswahlliſte entfallenden Mandate dürften die
116 Sitze erhalten
Sozialdemokraten
(bisher 136, darunter 28 Unabhängige)
Deutſchnationale . .. 111 (77)
Zentrum . * 79 (unveränd.)
Kommuniſten . . . 47 (27)
Deutſche Volkspartei . 50 (57)
Nationalſozialiſten .. 12 (—
Demokraten . . . . 26 (unveränd.)
Wirtſchaftspartei . .. 10 (4)
Dazu kommen Hannoveraner .
5 (3)

und Polen

Berliner Preſſeſiimmen zum Wahlergebnis.

Die Rechtspreſſe beurteilt die Lage auf Grund des neuen
Reichstages etwas anders als die Linke. Die „Deutſche
Tageszeitung” ſagt in ihrer Spitze „ Bürgerregie=
rung ohne Demoraten‟ Der „Lokalanzeiger”
nennt drei Möglichkeiten: Entweder das Parlament kehr zur
Großen Koalition” zurück, oder das Zentrum macht einen
Linksblock mit, oder entſchließt ſich das Zentrum, tut es das,
was es ſchon im Oktober, im Mai hätte tun ſollen, und geht in
eine bürgerliche Koalition, den Demokraten das Spiel zwiſchen
Katze und Maus mit den Sozialdemokraten überlaſſend. Die
„Deutſche Zeitung” ſchreibt, die Wahlergebniſſe zeigen,
daß die beiden Linken, trotz ihrer gewaltigen Geldmittel und
trotz des geradezu vorbildlichen Zuſammenarbeitens ſo gar
nichts erreichen können. Sie erweiſen zugleich, daß die er=
drückende Mehrheit des deutſchen Volkes ſchwarz=weiß=rot iſt
und nur durch die elende Uneinigkeit und Zerſplitterung nicht
dazu gelangt iſt, ihren Willen durchzuſetzen. — In der
„Kreuzzeitung” heißt es, zunächſt liege es klar auf der
Hand, daß der Zweck der Reichstagsauflöſung
nicht erreicht worden iſt. — Die „Deutſche Allge=
meine Zeitung” ſtellt feſt: Der einzige Ausweg bleibt ein
Kabinett der nationalen Volksparteien. Es
fragt ſich nur, ob das Zentrum ſich nicht verſagen wird. — Die
Börſenzeitung” ſagt, es ſtehe ſomit feſt, daß der Links=
block keine Mehrheit hat und daß ohne die Deutſche
Volkspartei keine Mehrheit zu erhalten iſt.
Im Gegenſatz zur Rechtspreſſe ſchreiben die Blätter der
Linken triumphierend von einem Sieg der Linksparteien, wäh=
rend doch das bisher vorliegende vorläufige amtliche Endergeb=
nis der Wahlen klar und deutlich beweiſt, daß der Links=
block geſcheitert iſt und ſelbſt mit dem Zentrum zuſam=
men nicht gegen die vereinigten Rechtsparteien regieren kann.
Das „B. T.” z. B. hebt hervor, daß die Wahlen einen deut=
lichen Zug nach links zeigen, und ſpricht ſich daher gegen
die Bildung eines Bürgerblocks aus. Die „Voſſiſche Zei=
tung” betont, daß alle drei republikaniſchen Parteien, die die
Farben der deutſchen Republik zu den ihren machten, einen
ſtarken Zuſtrom an Wählern hatten und daß das Geſamtverdikt
des 7. Dezember unzweifelhaft für Schwarz=Rot=Gold und
gegen Schwarz=Weiß=Rot laute. — Die „Germania”
bezeichnet als Ergebnis der geſtrigen Wahlen, daß ein Zu=
ſtrom breiter Wählermaſſen nach der politiſchen Mitte feſtzu=
ſtellen ſei.

Der Trümmerhaufen.

Obwohl die Sozialdemokraten und Demokraten
äußerlich ein ſtarkes Maß von Siegesfreude an den Tag legen.
lingt doch zwiſchen den Zeilen unverkennbar ein gewiſſer
Katzenjammer durch. Sie können nicht gut leugnen, daß
die Parole, unter der ſie den Wahlkampf mit ſtarker Unter=
ſtützung des Reichsbanners Schwarz=Rot=Gold geführt haben,
geſcheitert iſt. Die Linksmehrheit der Sozialdemokraten,
Demokraten und Zentrum iſt nicht einmal formal vor=
handen. Ganz abgeſehen davon, daß immerhin noch die Frage
offen blieb, ob das Zentrum ſich im entſcheidenden Augenblick:
zur Beteiligung daran hätte breitſchlagen laſſen. Auf der an=
deren Seite können ſie auch nicht beſtreiten, daß die Deutſch= ſich gut behaupteten, alſo vor der Kritik!
ihrer Wähler beſtanden haben, und daß der Rechtsblock.,
um den von der Gegenſeite her der Wahlkampf geführt wurde.
eine formale Mehrheit hat, die größer iſt als im letzten:
Reichstag. Es fragt ſich nur, ob ſie ſich auswirken kann. Dar= iſt es ſchwer, im Augenblick ein Urteil zu fällen. Wenn:
man ſich einmal die Möglichkeiten vergegenwärtigt, die ſich aus;
der Zuſammenſetzung des Parlaments ergeben, ſo erwachſen:
nebeneinander drei Kombinationen.
Zahlenmäßig am meiſten Ausſicht hätte die Rückkehr der
„Großen Koalition”,, alſo die Verbindung von Zentrum.,
Sozialdemokraten, Demokraten und Deutſcher Volkspartei. Derr
Vorwärts” iſt wohl auch bereit, dieſes Geſchäft zu machen.
Er bereitet ſeine Leſer bereits darauf vor, indem er einige
Gretchen=Fragen über die Stellung zur Republik in den lunt= Raum hinausſchickt, denn an wen er ſie richtet, ſagt err
nicht. Zentrum und Demokraten ſind ihm ja längſt republilg= zuverläſſig. Die Fragen ſcheinen daher nur an die
Adreſſe der Deutſchen Volkspartei gerichtet zur

ſein, und da wird er ſich ſchwer täuſchen. Der Kampf iſtn
von den Sozialdemokraten die ganze Wahlzeit hindurch mit denn

infamſten Waffen gerade gegen die Deutſche Volks= geführt worden. Es iſt deshalb ganz ausge=, daß jetzt dieſelbe Deutſche Volkspartei ſich mitt
den Sozialdemokraten Arm in Arm an den Re= ſetzt, ganz abgeſehen von den ſachlicheny
Schwierigkeiten, die ſich bei der Durchführung des Steuerpro=
gramms aus der verſchiedenen wirtſchaftlichen Einſtellung dern
Deutſchen Volkspartei und der Sozialdemokraten ergeben müſſen,1
Den Gedanken an die „Große Koglition” kann man alſon
ruhig begraben.
Die „Germania”, die es mit keiner Seite verderben
möchte, ſtreichelt die Sozialdemokraten und die Deutſchnatio=
nalen; die Sozialdemokraten ſogar noch etwas mehr.. Sie will
offenbar den Verſuch ihres Herrn und Meiſters Dr. Marx vor= e=
bereiten, noch einmal das Experiment der großen Volls=
gemeinſchaft zu wiederholen. Auch das aber muß nachc
dem Wahlkampf, der die Gegenſätze zwiſchen den Deutſchnatio= und Sozialdemokraten bis zur Unüberbrückbarkeit ver=
tieft hat, als ausſichtsloſes Experiment gelten.
So bliebe als letzter Ausweg, um eine Regierung mitu
einer wirklich tragbaren Grundlage auf die Beine, zu ſtellen,n
die Rückkehr, zum Rechtsblock mit oder ohne
Demokraten. Herr Dr. Marx wird es ſelbſtverſtändlich zu=9
nächſt mit den Demokraten verſuchen, die aber vermutlich nocht
ſchärfer ablehnen werden als vor der Auflöſung, obwohl es
offenes Geheimnis iſt, daß unter den Neueingetretenen verſchie=!
dene ſind, die mit der radikalen Politik Kochs ſich nicht in Ueber=1
einſtimmung befinden. Fraglich bleibt daher, ob dem.
Reichskanzler ſich aus prinzipiellen Gründen überhauptn
in der Lage fühlt, die Regierungsbildung ohne die
Demokraten zu übernehmen. Aber das wäre dannn
eine Perſonenfrage. Wichtiger wäre, ob die Deutſchnationalen,
die vor der Auflöſung immerhin unter dem Druck möglichern
Parteiauseinanderfetzungen ſtanden, jetzt aber doch gefeſtigt as?
der Feuertaufe der Wahl zurückgekehrt ſind, inzwiſchen ſo M !
gelernt haben, um nicht durch Ueberſpannung ihme
Forderungen auch der Deutſchen Volkspartei von voms
herein alle Verſuche auf dieſer Grundlage unmöglich zim
machen. Verlangen ſie aber wieder die unbeſtrittene Führung.,
verlangen ſie vor allem eine grundlegende Aenderung in dern
Richtung der bisherigen Außenpolitik, dann iſt auch dieſer Aus=
weg verſperrt, ehe man ihn überhaupt betreten hat.
Aber ſelbſt, falls hier keine Schwierigkeiten entſtehen, wüßten
man noch nicht, ob das Zentrum, deſſen radikaler Flügel unge=
ſchwächt wiederkehrt, heute noch Neigung hat, ſich mit dend
Deutſchnationalen zuſammenzutun. Immerhin iſt für dien
Deutſche Volkspartei nach ihrer ganzen Haltung wäh=
rend des letzten Halbjahres die Verbreiterung der Re=
gierung nach rechts, wenn es ſein muß, auch ohne dien
Demokraten, die erſte und ſelbverſtändliche Löſunge
Sie wird ihre ganzen Kräfte einſetzen, um dieſes Ziel zu eken
reichen, und kann es vielleicht auch erreichen, wenn bei denu
Deutſchnationalen ſich eine vernünftige Strömung durchſetz.
Aber, falls auch diefe Löſung ſcheitern ſollte, was dann?
Vielleicht hätte ſich darüber reden laſſen, die Mindeis
heitsregierung, die ja etwas verſtärkt aus dem Wahle

* Heſſiſches Landestheater.
Großes Haus. — Montag, den 8. Dezember.
3. Sinfonie=Konzert.
E. N. Das heutige Konzert brachte den Verſuch einer hiſto=
riſchen Vortragsfolge, indem es ziemlich bunt Werke durchein=
anderwürfelte, deren Entſtehungszeit etwa zwiſchen 1670 und
1790 lag. Ob dieſe nun originalgetreu oder in völlig moderner
Ueberarbeitung erklangen, daran war nur die zufällige künſtle=
riſche oder hiſtoriſche Einſtellung des Herausgebers ſchuld. Un=
ſeres Erachtens iſt es ſtets mit großen Schwierigkeiten verbun=
den, einem breiten Publikum ſolche hiſtoriſchen Vortragsfolgen
vorzuſetzen, wenn man es tatſächlich ernſt damit nehmen will,
für ältere Kunft zu intereſſieren. Für unſer Empſinden war da=
her das Sonderkonzert des Muſikvereins mit den Beck=
Aufführungen durch Bodo Wolf eine Muſterveranſtaltung, denn
der Hörer wurde ohne Zwang und ohne gelehrte Auseinander=
ſetzungen faſt unmerklich auf den Boden geführt, auf dem er auf=
nehmen ſollte, das heutige Konzert trotz vieler bedeutender
Leiſtungen als Ganzes eher ein Gegenbeiſpiel.
Als ſtärkſten muſikaliſchen Gewinn buchen wir das Kennen=
lernen einer Sinfonie in D=Moll von Friedemann Bach, dem
älteſten und genialſten Sohn des großen Johann Sebaſtian. In
Ihrer langſamen Einleitung mit darauffolgender Fuge verkör=
pert ſie die Form der alten franzöſiſchen Opern=Ouvertüre, in
dem Gegenſatz beider Teile zeigen ſich auch die Gegenſätze in
Friedemanns Geſchick, die für ihn tragiſch wurden. Die Fuge
mit dem intereſſanten, an die ehernen Gedanken des Vaters er=
innernden Thema ſtellt ſein eigenſtes Weſen dar, den konſer=
vativen Zug, mit dem er den Künſtlerſtil des Vaters erhalten
möchte, in dem poetiſch verklärten Vorſpiel, das wie ein Morgen=
dämmern wirkt, paßt er ſich dem damals modernen empfind=
ſamen Stil an, für den ſein jüngerer Bruder Philipp Emanuel
ein Bahnbrecher wurde. Die bedeutende Konzentration des Wer=
kes hebt es über ſeine Zeit weit hinaus und läßt uns das Ge=
ſchick des Lebens dieſes Künſtlers ahnen, der nicht alle weichen
Empſindeleien ſeiner Zeit michmachen wollte und darum als alt=
modiſch verlacht wurde.
Heinrich Joh. Rigels Sinfonie in D=Dur führte uns dagegen
in die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts. In Wertheim
geboren, hat dieſer Künſtler an Ort und Stelle den neuen Stil
der Mannheimer Sinfoniker als junger Menſch in ſich aufge=
nommen, war dann in Paris als Klavierlehrer tätig, wo er die
deutſche Schreibweiſe ſeines Namens Riegel veränderte und
Konzertmuſit für öffentliche Aufführungen ſchrieb. Sie wurden
Lort neßen Werken der Mannheimer Komponiſten und neben

Sinfonien von Haydn und Chriſtian Bach, dem Londoner Bach,
geſpielt. Sie wollen nichts anderes ſein, als geiſtreiche, friſche
Unterhaltungsmuſik. Ein zweites Thema tritt im erſten Satz
der Modulation noch wohl auf, birgt aber keinen weſentlichen
Gegenſatz zum Hauptthema in ſich, der für die Geſtaltung bei
Haydn ſo überaus wichtig wird. Auch eine thematiſche Durch=
führung iſt weniger vorhanden als bei den meiſten Mannheimern.
So bleibt der erſte Satz ziemlich gleichförmig, merkwürdigerweiſe
faſt ganz in piano geiaucht, was bei der ſonſt ſo lebhaften Dyna=
mik der Zeit ungeſöhnlich ſein dürfte. In dem liedhaften An=
dante intereſſierte der herbe Zwiſchenſatz mit der wirkſamen
Generalpauſe. Der Schlußſatz dient als luſtiger Abgeſang, wie
noch ſtets bei Haydn.
Als letztes Orcheſterwerk eiklang eine der wertvollen Ballett=
Suiten, die Felir Mottl aus Melodien des Begründers der fran=
zöſiſchen Oper „Jean Baptiſte de Lully zuſammengeſtellt hat.
Sehen wir von dem melodiſchen Kern ab, ſo iſt alles andere
Mottls Werk, die reizvolle Inſtrumentierung, die Anordnung
und Gruppierung der Gedanken, die Dynamik und die geiſtvollen
Beziehungen zwiſchen Melodie und Klang. Jeder Satz iſt ein
Kabinettſtück für ſich, aber wir hören eigentlich mehr Mottl als
Lully. Unſer Orcheſter ſpielte am ſchönſten den Bach und den
Lully; hier waren die Spieler ſtärker intereſſiert als bei der doch
nur hiſtoriſch intereſſanten Rigel=Sinfonie, hier war auch Ballings
Stabführung ganz anders beſeelt und beſchwingt als bei jener.
Dazwiſchen ſang Birgitt Engell. Eine prachtvoll gebil=
dete, faſt kleine und zarte Sopranſtimme, vorzüglich im Ausdruck,
meiſterhaft in der Koloratur und bewundernswert in der vor=
bildlichen Atemtechnik. Die Künſtlerin trug vier Arien von
Händel vor, von denen nur zwei auf der Vortragsfolge ſtanden,
leider ohne Text, der bei der unendlich engen Verbindung von
Wort und Ton in der älteren Muſik für das Verſtändnis uner=
läßlich iſt und nicht immer ganz deutlich wurde. Der ganze Reich=
tum Händelſcher Empfindung ließ ſich aus dieſen Geſängen
ahnen, wenn auch keiner pathetiſch oder dramatiſch war. Wunder=
voll war die Ruhe und Abgeklärtheit in „Care selve” aus der
Oper „Atalanta”, reizvoll und graziös die Tauben=Arie aus
„Acis und Galathea‟ Ein Geſang an den Schlaf ſchien ſeiner
Stimmung nach ebenfalls aus einer Oper zu ſtammen, während
die letzte Vogelzwitſcher=Arie mit dem von Herrn Geißler mei=
ſterhaft geſpielten Flötenſolo, wenn wir nicht irren, aus dem
Oratorium „L’Allegro il Moderato ed il Penſieroſo”, ſtammt.
Von wirklicher Größe der Konzeption iſt die Schilderung des
Mondaufganges im Mittelteil. Als Nachteil empfanden wir es,
daß die Bearbeitungen, welche die Künſtlerin benutzte, unein=
heitlich waren. Die Arie aus „Acis und Galathea” war hiſtoriſch
orcheſtriert, allerdings durfte die ſtarke Beſetzung (vier Kontra=
bäſſe) nur für die Ritornelle, nicht auch für die Begleitpartien