Zeitlich parallel zum Antinomistischen Streit (1556–1571)Vgl. . entfaltete sich mit dem Synergistischen Streit (1555–1560/61) ein weiterer Konfliktherd, der die Mitwirkung (συνεργία – synergia) des menschlichen Willens bei der Bekehrung des Menschen und damit in einem weiteren Sinne die Frage zum Gegenstand hatte, ob sich der Mensch frei und aus eigenem Antrieb dem Guten zuwenden könne. Diese Frage war nicht neu, sondern bereits im Zusammenhang mit Ausformulierung der reformatorischen Rechtfertigungslehre allein aus Glauben und allein aus göttlicher Gnade aufgekommen. sah – vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen während seiner Zeit als Mönch im Kloster – den menschlichen Willen in Selbstbezogenheit und eigennützigem Streben gefangen und daher unfrei, wenn es um die Rechtfertigung vor Gott ging. In allen geistlichen Bezügen blieb der Mensch – nach – in jeder Hinsicht auf Gott als gnädig Handelnden angewiesen. Eine Mitwirkung des Menschen an seinem Heil bzw. an seiner Rechtfertigung vor Gott, z.B. über gute Werke oder aus eigenem willentlichen Antrieb, war im Prinzip für alle Reformatoren ausgeschlossen.Vgl. dazu grundlegend , sowie Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520, in: WA 7, 20–38. Dennoch ergaben sich in der weiteren Entwicklung der reformatorischen Theologie bereits früh unterschiedlich nuancierte Standpunkte. Ausschlaggebend für die in der nachinterimistischen Zeit geführte, im Jahre 1555 aufbrechende Kontroverse, war die Position Philipp Melanchthons, die er in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts begonnen hatte, unabhängig von Luther weiterzuentwickeln.
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Der junge Philipp Melanchthon hatte zu Beginn seines reformatorischen Wirkens in Wittenberg noch ganz so wie sein älterer Freund und Kollege Martin Luther die Lehre von der Unfreiheit des menschlichen Willens vertreten.Vgl. zum Folgenden die ausführliche Darstellung der Entwicklung von Melanchthons Willenslehre bei Kolb, Bound Choice, S. 70–102. Zu den Voraussetzungen des Streits vgl. auch Michel, Der synergistische Streit, bes. S. 252–255. Klare Aussagen dazu finden sich in seinen Loci Communes aus dem Jahr 1521, in denen Melanchthon ausführte, dass der Wille des Menschen ganz seinen Affekten preisgegeben sei. Aus sich heraus könne er daher nichts Gutes vollbringen. Nichts geschehe ohne den Willen Gottes. Alles Handeln der Menschen findet daher seinen Ort in der göttlichen praedestinatio. Selbst der Glaube des Menschen ist gottgewirkter, geschenkter Glaube, nicht etwa1 eine eigene Leistung.Vgl. Philipp Melanchthon, Loci Communes 1521, Art. 1 De hominis viribus adeoque de libero arbitrio / Die Kräfte des Menschen, insbesondere der freie Wille, in: Melanchthon, Loci 1521 lat.dt., S. 24–47, bes. §34–70, S. 32–47. In seiner Summa bzw. Zusammenfassung (§66–68), formulierte Melanchthon prägnant: [66] Wenn du den menschlichen Willen unter dem Blickwinkel der Vorherbestimmung begutachtest, gibt es weder in äußeren noch inneren Werken irgend eine Freiheit, sondern alles geschieht aufgrund göttlicher Bestimmung. [67] Wenn du den Willen unter dem Gesichtspunkt der äußeren Werke beurteilst, scheint es nach dem Urteil der Natur eine gewisse Freiheit zu geben. [68] Wenn du den Willen unter dem Gesichtspunkt der Affekte beurteilst, gibt es schlechterdings keine Freiheit, auch nicht nach dem Urteil der Natur. Vgl. ebenfalls die lateinischen Ausgaben MWA, Bd. II/1, Gütersloh 21978, S. 21–31, bes. S. 25–31; CR 21, Sp. 86–97, bes. Sp. 89–97. Diese mit den reformatorischen Standpunkten Luthers übereinstimmenden Aussagen finden sich jedoch schon in der zweiten Auflage der Loci Communes von 1535, der sogenannten secunda aetas, nicht mehr.Vgl. CR 21, Sp. 274–283. Melanchthon hatte seine einstige Position allmählich weiterentwickelt. Wahrscheinlich geschah das noch nicht unter dem Eindruck der Auseinandersetzung zwischen Luther und Erasmus über den freien Willen des Menschen im Jahre 1524/1525, wie die alte Forschung behauptete.Richtungweisend für die Annahme, dass Melanchthon bereits angesichts der heftigen Kontroverse zwischen Luther und Erasmus und der prägnanten Aussagen Luthers in De servo arbitrio eine vermittelnde Haltung zwischen beiden Helden angenommen und eine entsprechend vermittelnde Theologie formuliert habe, wurde Wilhelm Maurer. Die Quellen aber sprechen eine andere Sprache, so dass die Deutung Maurers heute als definitiv überholt gelten kann. Dies hat Timothy J. Wengert herausgestellt. Vgl. Wengert, Dispute, S. 1–14 zur Forschungslage, bes. S. 8f. Denn noch in Melanchthons Kolosserbriefkommentar von 1527 übte Melanchthon deutliche Kritik an Erasmus’ Position und trat ihm als Gesinnungsgenosse Luthers gegenüber.Vgl. Wengert, Dispute, S. 80–109. Zu klären wäre, wie weit sich dann im Römerbriefkommentar von 1532 schon eine Weiterentwicklung der Theologie Melanchthons im Blick auf den menschlichen Willen zeigt. Die Loci Communes von 1535, die sich zu dem dogmatischen Lehrbuch der Wittenberger Reformation schlechthin entwickelten, weisen jedenfalls eine signifikante Veränderung gegenüber der ersten Auflage auf, die Melanchthon wohl unter dem Eindruck der kursächsischen Visitation von 1527/1528 vollzog. Angesichts der sittlichen Verwahrlosung, von der er in manchen Gemeinden erfuhr, insistierte er – übereinstimmend mit Luther – darauf, dass die zur Buße rufende Gesetzespredigt der Predigt des Evangeliums voranzugehen habeVgl. dazu unsere Ausgabe Bd. 4, S. 3–5. und begann, die Verantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln zu thematisieren und theologisch zu begründen: Wenn der Mensch Böses tut bzw. in Sünde fällt, so handelt er in voller Verantwortung dafür. Es sind nicht irgendein Schicksal oder eine göttliche Vorherbestimmung, die ihn dazu veranlassen. Von deterministischen Sichtweisen, wie man sie aus Luthers, gegen Erasmus gerichteter Schrift De servo arbitrioVgl. WA 18, 600–787. ableiten konnte, entfernte er sich. Gott womöglich als causa peccati anzunehmen ist unmöglich. Gottes Heiligkeit lässt dies nicht zu. Mit diesen Vorstellungen beschritt Melanchthon jedoch keineswegs einen Sonderweg. Sogar bei Luther lassen sich ähnliche Überlegungen finden. Im Umkehrschluss aber bedeutete dies, dass dem Menschen durchaus eine positiv sittliche Natur zugeschrieben werden konnte. All dies wiederum brachte zwangsläufig Auswirkungen auf die theologische Lehre von der Erbsünde hervor: Auch wenn die Erbsünde eine so tiefe Verderbnis des Menschen begründet, dass dieser aus sich selbst heraus nichts vollbringen kann, was als wahrhaft gutes, meritorisches Werk vor den Augen Gottes Bestand hätte,Mit dieser Erbsündenlehre positionierte sich die Reformation gegen die mittelalterliche Scholastik, die von der Fähigkeit des Menschen ausging, ein meritum de condigno hervorzubringen, d.h. ein Verdienst bzw. gutes Werk, das dem zu erwartenden göttlichen Lohn vollkommen entspricht, im Unterschied zu dem menschlichen meritum de congruo, dem unvollkommenen Verdienst, das aber von Gott gnädig anerkannt werden kann. Vgl. Thomas von Aquin, Sent. 2 d.27 q.1 a.3. so bleibe dem menschlichen Willen doch eine Entscheidungsfähigkeit, mit der er auf Affekte, mit denen er konfrontiert wird, reagieren könne und müsse. Aufgrund dieser Entscheidungsfähigkeit schließlich trägt der Mensch, dem Gott mit seinem universalen Heilswillen gnädig entgegenkommt und dessen Wille durch den Heiligen Geist bewegt wird, doch zugleich eine eigene Verantwortung für Heil oder Unheil. Denn er ist fähig, in der einen oder anderen Weise auf Gottes Entgegenkommen zu reagieren. Mit anderen Worten: Wenn der Mensch das Wort Gottes hört und der Heilige Geist in ihm wirkt, dann kann sich der Wille des Menschen zustimmend oder ablehnend verhalten bzw. sich diesem Wirken entziehen. Dies ist die von Melanchthon schon in den Loci Communes von 1535 sich andeutende Lehre von den tres causae conversionis oder den tres causae concurrentes, die bei der Bekehrung des Menschen eine Rolle spielen. Diese drei zusammenlaufenden bzw. interagierenden causae oder Wirkkräfte sind, so Melanchthon, verbum Dei, d.h. das Wort Gottes, spiritus sanctus, d.h. der Heilige Geist und humana voluntas, d.h. der menschliche Wille. In der tertia aetas der Loci Melanchthons von 1543, d.h. der letzten grundlegenden Überarbeitung bis zur letzten Ausgabe von 1559, ist zu lesen: Hic concurrunt tres caussae bonae actionis, verbum Dei, Spiritus sanctus et humana voluntas assentiens nec repugnans verbo Dei.CR 21, Sp. 658 (Loci Praecipui Theologici 1543). MWA II/1, S. 270f (Loci Praecipui Theologici 1559). Zugleich hielt Melanchthon dezidiert die reformatorische Grundentscheidung fest, dass allein in Gott die Ursache des menschlichen Heils liege. Denn dadurch, dass er die Aktionsmöglichkeiten des menschlichen Willens im geistlichen Bereich darauf beschränkt sah, dem Wirken Gottes zuzustimmen (assentire) und ihn nicht abzulehnen (necrepugnare), hatte er eine theologisch minimalistische Definition des Vermögens des menschlichen Willens vorgelegt. Sie ergab sich daraus, dass er – aristotelischem Denken gemäß – im menschlichen Willen keine causa efficiens der Bekehrung bzw. Rechtfertigung sah, sondern lediglich eine causa materialis, die nicht selbst ursächlich wirkt, sondern lediglich zu einem Faktor im Prozess der Bekehrung wird.So hatte Melanchthon z.B. ausgeführt: Voluntas humana non potest sine Spiritu sancto efficere spirituales effectus, quos Deus postulat […], ebd. S. 268. Denn der menschliche Wille kann, nach Melanchthon, nicht aus sich selbst heraus eine Entscheidung treffen, sondern erhalte die Fähigkeit dazu dadurch, dass er durch den Heiligen Geist in Bewegung und so in Stand gesetzt werde zu reagieren. Auf diese Weise konnte der Wittenberger Reformator sowohl die Eigenverantwortlichkeit des Menschen, als auch die Verderbnis der menschlichen Natur durch die Erbsünde, die corruptio naturae, sowie die Rechtfertigung des Sünders sola fide und sola gratia theologisch zusammenhalten und dogmatisch erklären. Denn auch das zustimmende oder ablehnende Verhalten des menschlichen Willens geschah nach dieser Lehre ja nicht aus eigenem Impuls heraus, so dass diesem Verhalten auch keine zum Erwerb des Heils anzurechnende Verdienstlichkeit zukommen konnte. Aber in dieser von Melanchthon entwickelten Theologie war von einem Zusammenwirken, d.h. von einer Synergia verschiedener Faktoren die Rede, die aufgrund möglicher Parallelisierungen zu altgläubigen, scholastischen Lehren oder gar zu semipelagianischen VorstellungenDie im 5. Jahrhundert existierenden Gruppe der sog. Semipelagianer lehrte, dass der menschliche Wille durch den Sündenfall zwar geschwächt sei, dass aber im Menschen eine Anlage zum Guten erhalten geblieben sei. Die dadurch vorhandene menschliche Fähigkeit, sich für das Gute zu entscheiden und Gutes hervorzubringen werde durch die göttliche Gnade unterstützt. Zündstoff für theologische Diskussionen bot. Wenn Melanchthon zudem – in Anlehnung an Paulus – von der unterstützenden Funktion des Heiligen Geistes sprach, der der menschlichen Schwachheit aufhelfe,Vgl. Loci Communes 1535, in der überarbeiteten, Heinrich VIII. gewidmeten Fassung: Et Spiritus sanctus ibi efficax est per verbum. Sicut inquit Paulus [Rom. 8. 26.]: Spiritus adiuvat infirmitatem nostram. […] In hoc exemplo videmus coniungi has causas, Verbum, Spiritum sanctum, et voluntatem, non sane otiosam, sed repugnantem infirmitati suae. (CR 21, 376). konnte das erst recht den Eindruck erwecken, als würde er den menschlichen Kräften doch entscheidende Funktionen im Rechtfertigungsgeschehen zuschreiben. Im frühen Reformationsjahrhundert jedoch ergab sich vorerst kein Grund für Auseinandersetzungen darüber, ebenso wenig wie die Notwendigkeit, klärende Formulierungen auszuhandeln. Das änderte sich mit der Erstellung des Leipziger Landtagsentwurfs, an dem nicht nur Melanchthon, sondern auch ein Teil der damaligen Wittenberger Theologen beteiligt war.Die Leipziger Landtagsvorlage, von Matthias Flacius und Nikolaus Gallus als Leipziger Interim tituliert und kommentiert, ist kritisch ediert in unserer Ausgabe Bd. 2, S. 357–441.
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Die Tatsache, dass die synergistische Lehre Melanchthons in den Leipziger Landtagsentwurf Eingang gefunden hatte, ließ bei manchen die Befürchtung entstehen, dass sie – sollte das Dokument Rechtskraft erhaltenDie Leipziger Landtagsvorlage wurde jedoch nicht verabschiedet. Vgl. die Historische Einleitung, unsere Ausgabe Bd. 2, S. 357. – zur offiziellen Kirchenlehre in Kursachsen werden könnte. Hier nämlich wurde unter dem Abschnitt Wie der Mensch vor Gott gerecht wird ausgeführt: Wiewol Gott den Menschen nicht gerecht macht durch verdienst eigener werck, die der Mensch thut, sondern aus barmhertzigkeit, vmbsonst, one vnsere verdienst, das der rhum nicht vnser sey, sondern Christi, durch welches verdienst alleine werden wir von den suͤnden erloͤset vnd gerecht gemacht, gleichwol wircket der barmhertzige Gott nicht also mit dem Menschen wie mit einem plock, sondern zeugt jhn also, das sein wille auch mitwircket, so er in verstendigen jaren ist, …Der Theologen Bedencken 1550 mit Abdruck des Leipziger Interims, unsere Ausgabe Bd. 2, S. 388,15–389,5. Vgl. auch den zwischen den kfl. Räten, Theologen und den Bf. von Naumburg und Meißen verglichene Rechtfertigungsartikel, Pegau 1548 August 24, in: PKMS 4, Nr. 74, S. 116, 15–20. Schon damals glaubten Nikolaus Gallus und Matthias Flacius, dass die Aussage, Gott handele mit dem Menschen nicht wie mit einem Block, im Grunde ein Stück weit die Freiheit des menschlichen Willens voraussetze, welcher demzufolge dann im Stande sein müsste, ein meritum de congruo, d.h. ein Verdienst nach Billigkeit,Vgl. oben Anm. 10. hervorzubringen. Für sie schien in diesen Wendungen die Nähe zur scholastischen Theologie deutlich hervorzutreten, und sie äußerten dies auch offen in einem Kommentar, als sie die von ihnen als Leipziger Interim titulierte Landtagsvorlage veröffentlichten und so allseits bekannt machten.Vgl. unsere Ausgabe Bd. 2, Nr. 4, S. 389, 6–9 mit Anm. 182. Dennoch schien dies damals noch nicht die Gemüter zu erhitzen. Zum Ausbruch des Synergistischen Streits kam es erst einige Jahre später, als im Jahre 1555 der Leipziger Professor und Superintendent Johannes Pfeffinger,Zu seiner Person vgl. u. S. 22f. Pfeffinger war seit August 1540 Superintendent und zugleich Pfarrer an St. Nicolai in Leipzig. Seine Superintendentur war zudem mit einem Lehramt an der Universität verbunden. Seit 1555 war Pfeffinger Professor primarius und Senior der Theologischen Fakultät. Er genoss hohes Ansehen unter den Theologen im albertinischen Sachsen, das nur noch von Melanchthon übertroffen wurde. In seiner Theologie orientierte sich Pfeffinger sowohl an Luther als auch an Melanchthon. Herzog Moritz von Sachsen hatte Pfeffinger – der es übrigens, wie alle seine Leipziger Amtskollegen, 1546 ausdrücklich abgelehnt hatte, für den Kaiser zu beten – zu fast allen Verhandlungen um eine Leipziger Alternative zum Augsburger Interim hinzugezogen. Pfeffinger gehörte deshalb zu den Urhebern der Leipziger Landtagsvorlage. Er hatte die albertinische, vom neuen Kurfürsten Moritz verfolgte Religionspolitik, vorbehaltlos gebilligt. der 1548 an der Leipziger Landtagsvorlage mitgewirkt hatte, in zwei akademischen Disputationen das Thema des freien Willens behandelte. In den zugrundeliegenden Disputationsthesen De libertate voluntatis humanae quaestiones quinque, Leipzig 1555 (Nr. 1) brachte er – Melanchthon ähnlich – zum Ausdruck, dass, wenn der Heilige Geist durch das Wort Gottes im Menschen wirke, sich dieser nicht ut statuaVgl. u. S. 32,27f ; 33,18. verhalte, sondern dass sein zustimmender Wille als Faktor der Bekehrung mit ins Spiel komme. Die Ursache dafür, warum einige Menschen das Heil ererben, andere aber nicht, müsse in der Verantwortlichkeit des Menschen selbst liegen, Gott könne nicht zum Urheber der Sünde gemacht werden. Dagegen wandten sich die Thüringer Theologen des ernestinischen Herzogtums Sachsen, die sich zunehmend als einzige berechtigte Hüter der Theologie Martin Luthers verstanden, mit heftigem Widerspruch. Der Weimarer Hofprediger Johannes StolzZu seiner Person vgl. u. S. 80. erstellte unverzüglich 110 Thesen, die zur Widerlegung der Lehre seines Leipziger Kollegen Pfeffinger aus dem albertinischen Kurfürstentum Sachsen dienen sollten (Nr. 3, s.u.). Zunächst verlief diese Kontroverse noch unter den Gelehrten. Erst ab 1558 bezog man durch den Druck der Stolz’schen Thesen und weiterer volkssprachlicher Schriften eine breitere Öffentlichkeit mit ein. Wie in fast allen Streitigkeiten jener Zeit war auch hier der ehemalige Vertraute und Freund Luthers, Nikolaus von Amsdorf, Wortführer der Gegenpartei, neben ihm Matthias Flacius Illyricus und Nikolaus Gallus. Amsdorf ließ im Jahr 1558 in Jena ein Bekenntnis drucken, das er mit einer ausdrücklichen Zurückweisung der – seiner Ansicht nach – falschen Lehre und ihrer Vertreter kombiniert hatte: Offentliche Bekenntnis der reinen Lehre des Euangelii und Confutatio der itzigen Schwärmer (Nr. 2). In dieser Schrift, deren Funktion im Rahmen der Kontroverse weniger in positivem Bekennen als vielmehr in der Benennung der vermeintlichen Irrlehre und der Abgrenzung davon lag, bezog er kompromisslos gegen Pfeffinger Position. Die Polarisierung verlief so scharf, dass alle Differenzierungen verloren gingen und Pfeffingers Lehre verkürzt und entstellt zur Sprache kam. Amsdorf behauptete nämlich, Pfeffinger und seine Gesinnungsgenossen hätten gelehrt, dass sich der Mensch aus natürlichen Kräften des freien Willens auf die göttliche Gnade vorbereiten und sich ihr anpassen könnten, um sie sodann zu empfangen. Amsdorf sah damit den Weg zurück zur spätmittelalterlichen Scholastik eingeschlagen, die durch die Reformation Martin Luthers doch längst überwunden war. Etwa zur gleichen Zeit erschienen nun auch die Thesen von Johannes Stolz im Druck: Refutatio propositionum Pfeffingeri de libero arbitrio cum praefatione M. Joh. Aurifabri (Nr. 3). Der Streit weitete sich schnell aus. Denn auch Matthias Flacius, der inzwischen Professor an der neu gegründeten Universität Jena geworden war,Flacius war 1557 von Magdeburg auf eine Professur nach Jena gewechselt. bezog öffentlich Position. Er ließ ebenfalls noch 1558 eine Refutatio propositionum Pfeffingeri de libero arbitrio (Nr. 4) drucken sowie Thesen, die als Grundlage für eine Jenaer Disputation über den freien Willen gedacht waren und eine Zurückweisung der gegnerischen Position enthielten. Damit hatte Flacius zugleich ein theologisches Programm vorgelegt, das die an Luther orientierte Ausrichtung der Universität Jena im Gegensatz zu der eher zu Melanchthon und seiner Lehre neigenden Universitäten Wittenberg und Leipzig offen vor Augen führte und zugleich die Rivalität des ernestinischen Herzogtums Sachsen mit dem albertinischen Kurfürstentum theologisch spiegelte. In seiner Argumentation blieb Flacius auch in dieser Schrift seinem Anspruch und Ziel treu, eine Verteidigung der wahren Lehre, so wie sie seiner Ansicht nach nur von Martin Luther in authentischer Weise vertreten worden war, zu leisten. Für ihn stand – unter Rückgriff auf Aussagen des Wittenberger Reformators – fest, dass sich der Mensch bei seiner Bekehrung vollkommen passiv (mere passiveVgl. u. S. 126,18.21f) verhalte. Man könne ihn deshalb durchaus mit einem Block (truncusVgl. u. S. 126,7; 128,4f.) vergleichen. Ja, der Mensch verhalte sich sogar schlimmer als ein Block, denn er sei nicht nur passiv, sondern dem Willen Gottes gegenüber auch feindlich und widerstrebend gesinnt (hostiliter erga Dei operationemVgl. u. S. 128,31.). Den Grund dafür sah Flacius darin, dass der Mensch durch die Erbsünde seinen Stand als Ebenbild Gottes eingebüßt und zur imago SatanaeVgl. u. S. 127,36. geworden sei. Diese Disposition aber könne der Mensch aus eigenen Kräften nicht rückgängig machen. Die Verwandlung des Menschen von der imago Satanae in die imago Dei könne nur beneficio Christi, d.h. durch die Wohltat Christi, erfolgen.Vgl. u. S. 133,26f.
Die Gegenseite schwieg nicht. Noch im Jahr 1558 kam eine Antwort Pfeffingers auf AmsdorfsÖffentliches Bekenntnis heraus, in der er sich auf Amsdorfs Verschärfungen einließ. In seiner Antwort auf die Offentliche Bekenntnis […] Nic. v. Amsdorf (Nr. 5) erläuterte Pfeffinger noch einmal seine Lehre und gab den darin enthaltenen Synergismus unumwunden zu. Jetzt wurde klar, dass nach Pfeffinger nicht nur der wiedergeborene Wille dazu befreit und demzufolge in der Lage sei, dem Geist Gottes zu folgen, sondern dass offenbar auch dem natürlichen Willen des Menschen vor Bekehrung und Wiedergeburt die Fähigkeit eigen sei, dem Geist Gottes entweder zu gehorchen oder ihm zu widerstreben. Das heizte die Debatte weiter an. Sowohl in Jena als auch in Leipzig und Wittenberg fuhr man damit fort, sich über das Thema des freien Willens auseinanderzusetzen. In diese Kontroverse, in deren Verlauf Amsdorf seinem Gegner Unaufrichtigkeit nachzuweisen versuchte (Dass D. Pfeffinger seine Missetat böslich und Fälschlich leugnet, 1559, Nr. 6), und Pfeffinger daraufhin nun ebenfalls das Format des Bekenntnisses wählte (Nochmals gründlicher, klarer, wahrhaftiger Bericht und Bekenntnis, 1559, Nr. 7), um der Schriftgemäßheit seiner Lehre Nachdruck zu verleihen, schaltete sich auch Nikolaus Gallus ein. Er hatte sich als Gesinnungsgenosse des Flacius nach dem Augsburger Interim in Magdeburg aufgehalten hatte, war aber 1553 wieder nach Regensburg zurückgekehrt. Hier brachte er im Jahre 1559 Luthers gegen Erasmus von Rotterdam gerichtete Schrift De servo arbitrioVgl. WA 18, 600–787. in der deutschen Übersetzung des Justus JonasZu Jonas vgl. Dingel, Jonas. neu heraus und stellte ihr eine eigene Vorrede (Nr. 8) voran. Dies war der erste Separatdruck von Dass der freie Wille nichts sei.Er war zugleich der letzte, der im 16. Jahrhundert von lutherischer Seite erschien. Vgl. die Auflistung der Ausgaben in WA 18, S. 597–599, die späteren Ausgaben S. 599. Mit dieser Publikation versuchte Gallus die Autorität Martin Luthers gegen die durch Philipp Melanchthon angestoßene Weiterentwicklung der Willenslehre in die Waagschale zu werfen. Melanchthon warf er vor, nach Luthers Tod die von Erasmus vertretende Lehre, der menschliche Wille habe eine facultas applicandi se ad gratiam in seine Loci Communes übernommen, sich damit der Lehre des Augsburger Interims angepasst und daher die authentische reformatorische Lehre aufgegeben zu haben.Vgl. Loci Praecipui Theologici, 1559, in: Melanchthons Werke in Auswahl, Bd. II/1, S. 273; CR 21, Sp. 659. Vgl. dazu Robert Kolb, Bound Choice, S. 114f.
All dies glättete die Wogen keineswegs, sondern verschärfte die Spannungen nur noch mehr, die in beiden sächsischen Territorien, dem ernestinischen und dem albertinischen, Unruhe stifteten. Flacius entwickelte daraufhin und auch angesichts der gleichzeitigen religionspolitischen Entwicklungen den Gedanken, der über die Territorialgrenzen hinaus wirkenden theologischen Uneinigkeit durch ein klares Bekenntnis entgegenzuwirken. Er trat mit diesem Vorschlag sogar an seinen neuen Landesherrn, Johann Friedrich II., den Mittleren, heran und riet ihm, den sich im Zuge des synergistischen Streite offenbarenden evangelischen Häresien durch ein Verbot zu wehren,Vgl. Tschackert, Die Entstehung der lutherischen und der reformierten Kirchenlehre, S. 522. So auch Gehrt, Ernestinische Konfessionspolitik, S. 122. was eine Vertreibung all derer bedeutet hätte, die trotz Verbots hartnäckig an der als falsch gewerteten Lehre festhielten. Ein solches Lehrverbot aber wurde nicht in die Tat umgesetzt. Dagegen veranlasste der Herzog tatsächlich die Abfassung eines solchen Bekenntnisses durch die Jenaer Theologen und beauftragte zunächst Erhard Schnepf, Victorin Strigel und Andreas Hügel mit der Erstellung einer Vorlage, wobei diese nun ihrerseits versuchten, den Einfluss ihrer Kollegen Flacius und Amsdorf so gering wie möglich zu halten.Vgl. dazu Gleiß, Weimarer Disputation, S. 46–51. Gleiß hat den Entwurf der drei Theologen für das später anders konzipierte Konfutationsbuch in den Archivalien entdeckt. Vgl. ebd., S. 47, Anm. 39. Aber auf einem Konvent in Weimar 1558 konnte Flacius zusammen mit der Mehrheit der führenden ernestinischen TheologenGleiß, Weimarer Disputation, S. 49. Vgl. die in der Einleitung zu Nr. 9 genannten Theologen. erneut seine Interessen geltend machen, was sich vor allem in seinem Insistieren auf der Abgrenzung von der falschen Lehre durch namentliche Verwerfungen, d.h. die namentliche Benennung der Irrlehrer und deren unmissverständlicher Widerlegung niederschlug. Johann Friedrich der Mittlere ließ daraufhin das Dokument überarbeiten, in dem sich nun deutlich die Federführung des Flacius bemerkbar machte. Das Ergebnis war das Weimarer Konfutationsbuch (Nr. 9), dessen Entstehung aber nur zu einem Teil durch diese innerterritorialen Spannungen begründet ist. Ebenso wichtig waren die reichsweiten, religionspolitischen Konstellationen, die sich aber mit den laufenden theologischen Auseinandersetzungen verschränkten. Beides, der schwelende Streit um den sogenannten Synergismus einerseits und die auf der Ebene der Reichsfürsten nach dem gescheiterten Religionsgespräch von Worms 1557 in Gang gekommene theologische Konsenssuche andererseits, griffen ineinander. Die Entwicklungen auf Reichsebene waren bestimmt durch den Frankfurter Fürstentag von 1558, der eine bekenntnismäßige Einigung der evangelischen Stände im Reich in die Wege leiten sollte. Hier war eine unter dem Einfluss Melanchthons entstandene Formel zur Unterschrift vorgelegt worden, in der die seinerzeit offenen Streitfragen so behandelt wurden, dass ein Minimalkonsens unter Wahrung der bestehenden theologischen Vielfalt ermöglicht werden sollte.Die Frage einer synergistischen Mitwirkung des menschlichen Willens bei der Bekehrung kam in dem Rechtfertigungsartikel der Formel nicht einmal vor. Der von der Rechtfertigung handelnde Artikel 1 hat eher die Abgrenzung von der Lehre Andreas Osianders zum Gegenstand. Vgl. dazu Dingel, Melanchthons Einigungsbemühungen, S. 136f. Dementsprechend verzichtete man dezidiert auf disqualifizierende Namensnennungen vermeintlicher Irrlehrer.Vgl. Dingel, Melanchthons Einigungsbemühungen, bes. S. 133–136. Johann Friedrich der Mittlere, ebenso die norddeutschen Städte, hatten damals unter Protest den Frankfurter Fürstentag verlassen und ihre Unterschrift unter diese Konsensformel, die als Frankfurter Rezess bekannt wurde, verweigert. Die wenig später erfolgende Erstellung des Weimarer Konfutationsbuchs war sozusagen die ernestinische Antwort auf den Frankfurter Rezess. Durch dessen obrigkeitliche Durchsetzung im Herzogtum Sachsen erhielt nun aber auch der Streit um die rechte Lehre und damit ebenso der synergistische Streit eine politische Dimension. Das durch die Jenaer Theologen erstellte Weimarer Konfutationsbuch verfolgte nämlich ein doppeltes Ziel: es sollte einerseits die theologischen Spannungen im Innern des ernestinischen Sachsen glätten und andererseits nach außen hin das Bekenntnis zur rechten reformatorischen Lehre verdeutlichen sowie signalisieren, dass sich das ernestinische Herzogtum auch nach dem Verlust des Kurkreises Wittenberg und seiner UniversitätNach der Niederlage der Evangelischen im Schmalkaldischen Krieg war die Kurwürde mit dem Kurkreis Wittenberg an den aus der albertinischen Linie stammenden Moritz von Sachsen gegangen. in der legitimen Nachfolge der durch Luther geprägten Wittenberger Reformation sah.Vgl. dazu Irene Dingel, Dorothea Susanna, bes. S. 184–189. Vgl. auch Leppin, Katastrophenverarbeitung, S. 304–306. In neun Abschnitten grenzte man sich von all dem ab, was man als reformatorische Häresie bzw. dissentierende Meinung identifizierte, und verwarf deren Vertreter unter namentlicher Benennung.Das waren Michael Servet mit seinen antitrinitarischen Anschauungen, Caspar von Schwenckfeld und seine Vergottungschristologie, die Antinomisten und ihre Standpunkte, die Täufer mit ihrer Lehre, die alten und neuen Zwinglianer, d.h. die Calvinisten, mit ihrer Abendmahlslehre, die Synergisten, Andreas Osiander und Francesco Stancaro sowie die von ihm formulierte Rechtfertigungslehre, Georg Major und seine Lehre von den guten Werken, die Adiaphoristen und ihre Haltung. Zum Inhalt des Weimarer Konfutationsbuch vgl. Leppin, Katastrophenverarbeitung, 299–304. Damit war der über das Bekenntnis gewährleistete lehrmäßige Konsens auf eine exklusive Bekenntnisgemeinschaft zurückgenommen. Zudem schlug das Konfutationsbuch insofern einen Sonderweg ein, als es das Bekenntnis zur wahren Lehre nicht und in erster Linie über Positiva, d.h. über affirmative Bekenntnisaussagen,Auf die positiven Bekenntnisaussagen folgen bereits in den altkirchlichen Bekenntnissen abgrenzende Verwerfungen der als falsch erkannten Lehre. Vgl. zur Entwicklung des Anathema und der Rolle der Verwerfung im Luthertum: Gensichen, Damnamus. sondern ausschließlich über Negativa, d.h. über die Abgrenzung von falscher Lehre definierte.Vgl. dazu Dingel, Bekenntnis und Geschichte, bes. S. 75–80. Wichtig für den synergistischen Streit wurde der 6. Abschnitt des Weimarer Konfutationsbuchs, der eine Widerlegung der Irrtümer im Artikel vom freien Willen und des Menschen KräftenVgl. u. S. 419–433. bot. Hier wurde eine Kooperation des menschlichen Willens bei der Bekehrung strikt verworfen. Dagegen schrieb das Konfutationsbuch die Anschauung des Flacius fest: Dass es dem nicht Wiedergeborenen unmöglich sei, den Willen Gottes im geoffenbarten Wort zu erkennen und zu ergreifen oder sich selbst aus eigenem Willen Gott zuzuwenden, etwas Gutes zu wollen oder zu vollbringen. … Unser Wille ist zum Gehorsam Gottes oder zur Wahl des Guten vollkommen ausgelöscht und verderbt homini non renato impossibile esse, intelligere aut apprehendere Voluntatem Dei in Verbo patefactam, aut sua ipsius uoluntate ad Deum se conuertere, boni aliquid uelle, aut perficere, f. 34. uoluntas etiam nostra ad Dei obaedientiam aut ad bonum eligendum prorsus extincta et deprauata est, f. 35. Unsere Ausgabe Nr. 9, lat. S. 424,20–23; 428,5f; dt. S. 425,28–32 ; 429,6–8.. Obwohl das Weimarer Konfutationsbuch aus der Jenaer theologischen Fakultät hervorgegangen war, fand es keineswegs einhellige Zustimmung unter den Professoren. Victorin Strigel, Kollege des Flacius an der Universität Jena, und Andreas Hügel, Superintendent in Jena, weigerten sich, das Konfutationsbuch anzunehmen und die herzoglichen Maßnahmen zu seiner Durchsetzung mitzutragen. Johann Friedrich enthob sie daraufhin ihrer Ämter, und ließ sie Ende März 1559 festnehmen und inhaftieren. Nur durch Intervention namhafter Persönlichkeiten kamen Strigel und Hügel Monate später schließlich wieder frei, ohne jedoch in ihre Ämter zurückkehren zu können.Vgl. Koch, Strigel, bes. S. 393f. Zugleich aber erfuhr die Gruppe um Flacius durch Neuberufungen vorübergehend eine innere Stärkung. Zu ihr gehörten Simon Musaeus (schon seit 1558 Professor in Jena, bis 1561), Johann Wigand (1560–1561 Professor in Jena), Matthäus Judex (1560–1561 Professor in Jena) und Johann Friedrich Coelestin (1560–1562 Professor in Jena, Graezist). Strigel aber wurde in den weiteren Auseinandersetzungen zu dem Hauptgegner des Flacius und seiner Gesinnungsgenossen.
Der den Synergismus ablehnende Kurs des Konfutationsbuchs erfuhr weiter Unterstützung durch Nikolaus Gallus, der sich 1559 erneut zu Wort meldete, diesmal mit einer kommentierten Sammlung von Auszügen aus verschiedenen Bekenntnissen (Erklärung und Consens vieler christlicher Kirchen, Nr. 10), mit denen die Evangelischen in unterschiedlichen Situationen ihre Rechtgläubigkeit bezeugt hatten. Ihm lag daran, die Übereinstimmung maßgeblicher reformatorischer Kirchen in ihrer Opposition gegen eine Mitwirkung des menschlichen Willens bei der Bekehrung aufzuzeigen und die damit verbundene Lehre von der Willensfreiheit autoritativ zurückzuweisen. Nicht nur das Weimarer Konfutationsbuch stellte er auf diese Weise in eine Linie mit dem Bekenntnis der Hansestädte, mit dem diese 1548 gegen das Interim Position bezogen hatten, außerdem mit der Confessio Wirtembergica, mit dem sich die Württemberger im Jahr 1552 von der Theologie des Konzils von Trient abgegrenzt hatten, und schließlich mit den Schwabacher Artikeln von 1529/30, die die Ansbacher und Wittenberger theologisch geeint und sodann als Grundlage der Confessio Augustana fungiert hatten. Auch sich selbst positionierte Gallus auf diese Weise in einen regional übergreifenden, römischkatholische Tendenzen abwehrenden theologischen Konsens.
Eine Lösung der theologischen Frage aber führte auch dies nicht herauf, zumal sich mit der theologischen Gegnerschaft zwischen Flacius und dem seit September 1559 aus der Haft entlassenen Strigel eine persönliche verband. Schon früher nämlich hatte Strigel seinen Kollegen angegriffen, ihn als Erfinder einer neuen Theologie abgestempelt und ihm Ehrgeiz als Motiv für seinen Kampf gegen die Wittenberger Theologen vorgeworfen.
Theologisch gesehen lag die Differenz zwischen Flacius und Strigel im Verständnis der conversio, d.h. Bekehrung. Für Flacius war die conversio der Vorgang der Erweckung des Sünders zur Buße. In diesem Prozess wird dem Menschen zugleich der Glaube geschenkt, was einer Neuschöpfung des Menschen gleichkommt. Dieser Prozess vollzieht sich für Flacius in einer kurzen, abgeschlossenen Frist. Vor allem mit seinen bußtheologischen Aussagen stand Flacius in der Tradition Martin Luthers, aber auch Strigel konnte deutlich an den Wittenberger Reformator anknüpfen, wenn er – anders als Flacius, aber in Reminiszenz an die erste der 95 Thesen LuthersVgl. WA 1, 233, 10f. oder an die Erklärung Luthers zur Taufe im Kleinen KatechismusVgl. Zum Vierdten in der Erklärung des Sakraments der Taufe im Kleinen Katechismus, in: BSELK, S. 884, 12–17. – in der conversio eine das ganze Leben umspannende Entwicklung des menschlichen Gnadenstandes sah. Nach Strigel schließt die conversio die lebenslange Buße mit ein und setzt ein kontinuierliches Wachstum des geistlichen Lebens in Gang. Die maßgebliche Differenz zur Lehre des Flacius und auch zu dem Standpunkt Luthers aber lag darin, dass Bekehrung für Strigel nicht Neuschöpfung oder Belebung eines geistlich Toten bedeutete (so aber bei Flacius), sondern eine Wiederbelebung von Kräften, die im Menschen vor seiner Bekehrung nur als schlummernde, ohnmächtige Kräfte vorhanden sind. Dies Sichtweise führte dazu, dass Strigel eine verantwortliche Selbstentscheidung des Menschen bei der Bekehrung als möglich ansehen konnte.
Als traditionelles und sowohl im akademischen als auch im öffentlichen Raum bewährtes Mittel zur Wahrheitsfindung und Definition eines religiösen GrundkonsensesDingel, Von der Disputation zum Gespräch, S. 61. galt die Disputation bzw. das Religionsgespräch. Und so drängten Flacius und seine Gesinnungsgenossen bei Johann Friedrich dem Mittleren, ihrem Landesherrn, auf die Veranstaltung eines solchen Kolloquiums, das die Gelegenheit bieten sollte, den Gegner der Irrlehre zu überführen. Es fand vom 2. bis 8. August 1560 – unter Anwesenheit des Herzogs und seines ganzen Hofs sowie zahlreicher Studenten – im Weimarer Schloss statt und stellte Flacius und Strigel als Disputanten gegenüber; an ihrer Seite Simon Musaeus einerseits und Andreas Hügel andererseits.Vgl. zu Ablauf und religionspolitischer Einordnung Gleiß, Weimarer Disputation. Den Vorsitz führte Kanzler Christian Brück (d.J.). Auch wenn verschiedene theologische Fragen zur Diskussion stehen sollten, rückte diejenige nach dem freien Willen sofort in den Vordergrund. Tatsächlich kam auch nur sie zur Diskussion. Die Disputation endete vorzeitig, wohl u.a. wegen des plötzlichen Tods von Johann Friedrichs Erstgeborenem, und daher ohne Ergebnis.Vgl. Gleiß, Weimarer Disputation, S. 132f. Die ihr zugrunde liegenden Thesenreihen, die Simon Musaeus in seiner Dokumentation des Kolloquiums zum Druck brachte (Disputatio de originali peccato et libero arbitrio, Nr. 11), belegen die unveränderten Positionen beider Seiten. Die von Flacius und Musaeus gemeinsam abgefasste erste Thesenreihe thematisiert den engen Konnex der Frage des freien Willens mit der Erbsündenlehre, so dass die Weimarer Disputation unversehens zum Auftakt für die sich daran anschließende Kontroverse um das Verständnis de peccatum originale wurde.Vgl. dazu unsere Ausgabe Bd. 6. Strigel dagegen verteidigte die melanchthonische WillenslehreEr brauchte zur Verdeutlichung seiner Position ein Bild, auf das später die Konkordienformel von 1577 wieder Bezug nahm. Er verglich nämlich die Wirkweise des menschlichen Willens mit der eines Magneten. Vgl. dazu unsere Ausgabe Bd. 1, S. 24, Anm. 104. und wiederholte in diesem Zusammenhang die Formulierungen Melanchthons, wie sie sich in dessen Loci Communes von 1559 finden: Concurrunt in conversione haec tria: Spiritus Sanctus movens corda, vox Dei, voluntas hominis, quae voci divinae assentiturVgl. unten S. 546,4–8..
Wie sehr sich im Synergistischen Streit auch der Gegensatz zwischen den Universitäten Jena und Wittenberg sowie dem ernestinischen Herzogtum Sachsen und dem albertinischen Kurfürstentum Sachsen mit ihrem jeweiligen Anspruch auf die Bewahrung des authentischen Erbes der Reformation ausdrückte, wird in einer kurz auf die Weimarer Disputation folgenden, polemischdenunzierenden Veröffentlichung des Flacius aufs Neue deutlich. 1561 brachte er die Confessio et Sententia der Wittenberger Theologen heraus (Nr. 12) und versah sie, gemeinsam mit seinem Gesinnungsgenossen Zacharias Praetorius,Zur Person des Praetorius vgl. u. S. 556,13–22. mit Kommentaren, die dazu dienen sollten, einerseits die eigene Position derjenigen Melanchthons und seiner Kollegen schroff entgegenzustellen und andererseits die eigene Lehre apologetisch und theologisch differenzierend zu legitimieren. Aber die Dynamik der Auseinandersetzung führte dazu, dass zugleich plakative Positionierungen formuliert wurden. So propagierten Flacius und Praetorius selbstbewusst ihre Deutung, dass der unbekehrte, fleischliche Wille des Menschen sich sogar widerstrebend gegen Gott verhalte, dass die Bekehrung ein absolut passiv zu erfahrender Akt sei und sich der Mensch in diesem geistlichen Prozess nicht anders als ein hartnäckiger Klotz verhalte. Aber nicht nur theologisch gewann die Kontroverse an Brisanz, sondern auch religionspolitisch. Flacius und seine Anhänger, ebenso die Jenaer Drucker, hatten sich nämlich bei der Publizierung dieser und anderer Schriften über die im Herzogtum Sachsen herrschenden Zensurbestimmungen hinweggesetzt. Zudem leisteten sie Widerstand gegen die Einrichtung eines Konsistoriums durch ihren Landesherrn, der durch diese Maßnahme die Kontroversen zu kanalisieren hoffte und daher die Theologen von allen Beratungen dazu ausschloss. Diese aber sahen in dem Agieren des Herzogs eine unrechtmäßige Anmaßung von Kompetenzen, die eigentlich dem geistlichen Ministerium obliegen sollten. Zugleich bestanden sie auf ihrem Recht, mit dem Ausschluss vom Abendmahl den Kirchenbann an denjenigen auszuüben zu dürfen, die von der Position des Weimarer Konfutationsbuchs abwichen. Dies wiederum wertete der Herzog als Kompetenzüberschreitung seitens der Theologen, da in seinen Augen die Verhängung des Banns der obrigkeitlichen Zustimmung bedürfe. Flacius und mit ihm seine Anhänger und Gesinnungsgenossen Johann Friedrich Coelestin, Matthäus Judex, Johann Wigand, Petrus Eggerdes, Superintendent in Gotha, und Johann Aurifaber, Hofprediger in Weimar, wurden ihrer Ämter enthoben und des Landes verwiesen.Vgl. dazu Gehrt, Ernestinische Konfessionspolitik, S. 195–212. Musaeus wurde nach Bremen berufen. Dieser Exodus der Gruppe um Flacius ereignete sich in der Zeit von Juni 1561 bis Februar 1562. Dennoch blieb das Weimarer Konfutationsbuch in Geltung. Victorin Strigel und Andreas Hügel wurden rehabilitiert und konnten in akademische bzw. geistliche Ämter zurückkehren: Strigel auf seine Professur an der Universität Jena, Hügel auf eine Superintendentur in Orlamünde. Flacius fand Unterschlupf in Regensburg, wo er auf die Unterstützung durch Nikolaus Gallus zählen konnte, der dort das Amt eines Superintendenten innehatte. Aus dieser Zeit stammt Flacius’Bekenntnis von der Enturlaubung (Nr. 13), das kein theologisches Bekenntnis sui generis darstellt, sondern vielmehr die ungerechte Behandlung der Entlassenen vor Augen führen will, was er als Wüten des Teufels gegen die reine Lehre am Ende der Zeiten interpretiert.Vgl. u. S. 585–587. Die hier zusammengestellten Stücke und die abgedruckten Reaktionen und Kommentare von Flacius, Musaeus, Wigand und Judex belegen, wie eng verzahnt das Ringen um die reine reformatorische Lehre mit den landesherrlichen, ordnungspolitischen Maßnahmen verlief.
Eigentlich hätte damit Ruhe im Herzogtum Sachsen einkehren können, denn Voraussetzung für die Rehabilitierung Strigels und die Wiedereinsetzung in seine Professur war gewesen, dass dieser in einer Erklärung seine Übereinstimmung mit den im ernestinischen Herzogtum Sachsen herrschenden Lehrnormen nachwies. Diese Erklärung hatte Herzog Johann Friedrich sogar durch auswärtige Theologen begutachten lassen, und die besonders kritischen Württemberger, Jacob Andreae und Christoph Binder,Zu seiner Person vgl. u. S. 663f. waren im Mai 1562 sogar nach Weimar gereist, um in einem Gespräch mit Strigel noch bestehende Unklarheiten auszuräumen.Vgl. dazu u. S. 661, Anm. 3. In der daraus hervorgegangenen Declaratio Victorini vom 6.5.1562 hatte Strigel seine synergistische Position abgemildert bzw. so differenziert ausgeführt, dass sie von den Württembergern akzeptiert wurde. Nun sollte diese Declaratio auch von allen Pfarrern im Herzogtum Sachsen gebilligt werden, wobei die Confessio Augustana und deren Apologie, die Schmalkaldischen Artikel und das Weimarer Konfutionsbuch selbstverständlich weiterhin als normative Bekenntnisse des Landes in Geltung standen. Dazu diente eine Visitation, die von den beiden Theologen Johann Stössel, Professor an der Universität Jena und Superintendent und Maximilian Mörlin, Superintendent in Coburg, geleitet wurde. Aber in der Pfarrerschaft existierten erhebliche Widerstände gegen die Declaratio Victorini, obwohl Stössel versuchte, durch abmildernde Erläuterungen und Kommentare die Declaratio akzeptabel zu machen und ihre Übereinstimmung mit der im Konfutationsbuch prägnant Ausdruck findenden lutherischen Lehrtradition nachzuweisen. Die Gegner sprachen spöttisch von einer Superdeclaratio. Massenentlassungen folgten. Über 40 Theologen mussten ins Exil gehen. Auch wenn die Declaratio Victorini nicht im Druck erschien, wurde sie schnell auch jenseits der Grenzen des Herzogtums bekannt und vor allem für die Theologen in der Grafschaft Mansfeld zum Stein des Anstoßes. Sie grenzten sich im August 1562 mit einer Confessio (Nr. 14) entschieden von ihr ab und versuchten, Strigel Abweichung von der Lehre Luthers nachzuweisen. Dieser verließ schließlich im Oktober 1562 das Herzogtum Sachsen, um eine Professur an der Universität Leipzig im Kurfürstentum Sachsen anzutreten. Von dort aus bezog er im Rahmen seiner Psalmenauslegung 1563 (Hypomnämata in omnis psalmis Davidis, Nr. 16) ein letztes Mal vor gelehrtem Forum Stellung zu seiner Auseinandersetzung mit Flacius,Vgl. dazu Gleiß, Weimarer Disputation, S. 155f, 270–273. der die Entwicklungen im Herzogtum Sachsen von seinem Regensburger Exil aus mit Interesse verfolgt hatte. In seiner Erzählung, wie der Religionsstreit Victorini geschlichtet (Nr. 15), die 1562 erschienen war, hatte Flacius sich selbst als verleumdeten Gerechten und seinen Gegner Strigel als Verbreiter falscher Lehre dargestellt, der unter dem Deckmantel des Märtyrer[s] für die WahrheitVgl. u. S. 667; 706,5–7. die Zerstörung der reformatorischen Kirche vorantreibe. Flacius hatte seine Erzählung als kommentierte Sammlung der maßgeblichen Schriften, wie z.B. des Berichts der Württemberger über die Verhandlungen mit Strigel und der deutschen Fassung der Declaratio Victorini konzipiert, um deutlich zu machen, wie perfide Strigel agiert habe, wenn er einerseits die Übereinstimmung seiner Lehre mit dem Konfutationsbuch versichere, andererseits aber auf seiner Überzeugung beharre. Strigel, der mit seiner Wortmeldung im Rahmen der Auslegung des Psalters bewusst den Kontext des polemischen Schriftenaustauschs verließ, betonte demgegenüber die Übereinstimmung seiner Lehre mit der Heiligen Schrift, der Lehre Melanchthons und Luthers sowie mit der Confessio Augustana. Zugleich aber wurde tatsächlich deutlich, dass er bei seiner Lehre von der Mitwirkung des menschlichen Willens bei der Bekehrung, d.h. im Rechtfertigungsgeschehen, blieb. Im Maie 1563 sandte Strigel seinen Psalmenkommentar an Herzog Christoph von Württemberg, dessen Theologen in dem Entstehungsprozess der Declaratio Victorini eine Rolle gespielt hatten. Dies war der Anlass dafür, dass mit einer Veröffentlichung von Schriften und Briefen der Württemberger Theologen, die von Flacius begonnene Diskussion um die Rechtgläubigkeit Strigels wohl auch in Württemberg weitergeführt wurde. Die von einem anonymen Kompilator zusammengestellten Etliche Schriften und Handlungen … der Wirtenbergischen Theologen (Nr. 17) aus dem Jahr 1564 zielten darauf, Strigel aufs Neue als Irrlehrer und als nicht vertrauenswürdig zu brandmarken, was die Württemberger aus der Überprüfung der maßgeblichen Stellen in Strigels Psalmenkommentar erhoben und belegten. Auch Nikolaus von Amsdorf, damals Superintendent in Eisenach, bezog in seiner Schrift Wider die Synergia Victorini (Nr. 18) scharf ablehnend Position. Nicht nur, aber gerade in seiner Stellungnahme wird aufs Neue deutlich, wie sehr die Theologen um Flacius und Amsdorf, wie auch die Mansfelder Theologen mit Cyriakus Spangenberg an ihrer Spitze, darum bemüht waren, das reformatorische Erbe Martin Luthers gegen Einflüsse und Anklänge an die altgläubige, römischkatholische Theologie, wie sie in Trient neu formuliert wurde, zu verteidigen. Zugleich tritt deutlich hervor, dass es angesichts der politischen Ereignisse rund um das Augsburger Interim und angesichts der Konsolidierung der römischen Theologie immer schwieriger wurde, eine innerprotestantische Lehrpluralität, die Luther und Melanchthon zusammen sehen konnte, zu wahren. Die Schüler und Anhängerschaft beider Wittenberger Reformatoren trat zunehmend auseinander. Der synergistische Streit entwickelte sich in den Folgejahren – theologisch konsequent und weiterhin verbunden mit religionspolitischen Konstellationen – zu einer Kontroverse um die zwischen den großen christlichen Konfessionen grundlegend unterschiedliche Deutung der Erbsünde und damit zu einer Auseinandersetzung um anthropologische Grundverständnisse.