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: Das globalisierte Spiel

Das globalisierte Spiel

Fußball und Identitäten in Brasilien aus transnationaler Perspektive, 1884-1930

Inhalt

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DANKSAGUNG
Die vorliegende Arbeit ist im Rahmen des Teilprojektes »Fußballenthusi- asmus: Die Anfänge des Fußballs in Lateinamerika als transnationales Phä- nomen – Argentinien, Brasilien und Uruguay im Vergleich, 1867-1930« der DFG-Forschergruppe 955 »Akteure der kulturellen Globalisierung, 1860-1930« entstanden. An erster Stelle danke ich meinem Betreuer Stefan Rinke, der diese Arbeit und damit auch meinen Werdegang begleitet und mir vorausschauend den Weg gewiesen hat. Bei allen Mitgliedern der Forschergruppe möchte ich mich für die vielen Gespräche und anregenden Diskussionen, die Kommentierung erster Ideen und späterer Entwürfe bedanken. Das gilt auch den Teilnehmern des Forschungskolloquiums für die Geschichte Lateinamerikas am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin, die die Reifung dieser Arbeit ebenfalls begleitet haben. Viele Personen haben mich aus diesem Umfeld unterstützt, besonders genannt seien aber Georg Fischer, Nina Elsemann, Stefanie Gänger, Jochen Meissner und Maria Moritz, denen ich für die kritische Lektüre von Teilen des Manuskriptes und für viele Anregungen danke. In Brasilien wäre die Arbeit ohne die Unterstützung zahlreicher Personen nicht möglich gewesen. In Rio de Janeiro gilt mein Dank den Mitarbeitern der Biblioteca Nacional , der Biblioteca Histórica do Itamaraty, des Ver- einsarchives des Fluminense Football Club, den Mitgliedern des NEPESS- Netzwerkes an der Universidade Federal Fluminense ; in São Paulo und Campinas den Mitarbeitern des Arquivo Público do Estado de São Paulo, des Edgar-Leuenroth-Archivs, des Archivs des Clube Atlético Paulistano, des Archivs des Esporte Clube Pinheiros, des Instituto Martius Staden, des Instituto de Estudos Brasileiros und den Mitgliedern der Forschergruppe Ludens an der Universidade de São Paulo. Viele weitere Menschen haben mich während der Bearbeitungszeit begleitet, ich kann hier nur einige erwähnen: Alain El Youssef danke ich für viele Gespräche zum Thema und seine Geduld. Für ihre bedingungslose Unterstützung danke ich meiner Familie, besonders aber meinem Vater Günther Peters für seine Gelassenheit und Ausdauer bei der Lektüre des gesamten Manuskriptes. 12
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EINLEITUNG
Am 19. Januar 1920 veröffentlichte die Tageszeitung A Gazeta aus São Paulo den Kommentar eines Korrespondenten aus Montevideo, Uruguay, über eine Konferenz der Fußballverbände der im Ersten Weltkrieg neutral gebliebenen Länder in Amsterdam. Anlass war ein Vorschlag des belgi- schen Fußballverbandes, die besiegten Länder von den internationalen Fußballbeziehungen der FIFA über eine Statutenänderung auszuschließen.1 Die Konferenzteilnehmer standen unter Druck: Die Siegerländer verlang- ten, dass auch die neutralen Länder keine Spiele mehr mit deutschen, österreichischen und ungarischen Mannschaften austragen sollten. Weil sich das nicht durchsetzen ließ – die mehrheitlich neutralen Länder in der FIFA wollten sich keine Vorschriften machen lassen –, trat Ende 1920 die englische Football Association (FA) aus Protest aus der FIFA aus.2 Der Erste Weltkrieg und die aus ihm hervorgehenden Machtkonstellatio- nen in Europa hatten einen erheblichen Einfluss auf den internationalen Sport – entgegen den Prinzipien der sich ursprünglich als unpolitisch einschätzenden internationalen Sportverbände.3Entsprechend hielt auch der südamerikanische Journalist die Konferenz in ihren politischen Implikatio- nen für ein bis dahin einzigartiges Ereignis der Fußballgeschichte und kam nach einer Analyse der Argumente für und wider den Ausschluss der be- troffenen Länder zu diesem Ergebnis: »[A]uf den diplomatischen, kommer- ziellen und wissenschaftlichen Gebieten gibt es schon keine Möglichkeit, die Deutschen auszuschließen, umso schwieriger wird dies auf dem beson- ders internationalen Gebiet des Sports sein.«4 Der Zeitungsbericht zeigt mehrere Aspekte der Rolle des Fußballs zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die die vorliegende Studie an den Beispielen Rio de Janeiros und São Paulos untersucht: Es bestand ein Bewusstsein für die Globalität des Fußballs, brasilianische Sportjournalisten und Presse- rezipienten nahmen den Fußball als »besonders international« wahr. Ja, der Bericht führt vor Augen, dass die brasilianische Sportpresse selbst der Internationalität des Fußballs entsprach, denn Korrespondenten berichteten 1 Vgl. »Football. A Guerra e o Football Internacional (Especial para a Gazeta, Montevideo 1920)«, A Gazeta , 19.1.1920. 2 Vgl. E ISENBERG , Christiane/L ANFRANCHI , Pierre/M ASON , Tony/W AHL , Alfred (Hg.), FIFA 1904-2004. 100 Jahre Weltfußball , Göttingen 2004, S. 66. 3 Vgl. K EYS , Barbara J., Globalizing Sport: National Rivalry and International Community in the 1930s , Cambridge, Mass. u.a. 2006, S. 38. 4 »Football. A Guerra e o Football Internacional«, A Gazeta , 19.1.1920. Diese und alle folgenden Übersetzungen fremdsprachiger Zitate sind von der Autorin. 14 14 Einleitung zu diesem Zeitpunkt regelmäßig und ausführlich über internationale Spiele, über Fußballpolitik und mit dem Sport verbundene Themen aus anderen Ländern. Und in für den lokalen oder nationalen Fußball relevanten Fragen bezogen sich brasilianische Journalisten auf die Vorgänge im inter- nationalen Fußball. Außerdem verweist die Quelle auf den Zusammenhang von Fußball und Politik. Der internationale Sport lud Nationen dazu ein, sich miteinander zu messen und nationalistischen Ansinnen Ausdruck zu verleihen. Zugleich war Fußball enger mit Fragen der internationalen Poli- tik verknüpft, als es die kosmopolitischen und friedenstiftenden Gründer- väter der Olympischen Bewegung oder der FIFA beabsichtigt hatten. Während die Diffusion des Sportes zu einer Uniformierung von Regeln und Techniken führte, nutzten Nationalstaaten seine universalen Grundlagen, um sich voneinander abzugrenzen. Universalisierung und Differenzierung im Fußball waren interdependent.5 T HESEN UND F RAGESTELLUNG Abgrenzungen über den Fußball fanden jedoch nicht nur auf einer nationa- len Ebene statt. Die Internationalität des Fußballs ermöglichte Differenzie- rungen auf ganz unterschiedlichen Identifikationsebenen. Auch regionale und »rassische« Identitäten wurden über den Fußball unter transnationalen Bezugnahmen konstruiert und bestärkt. Das ist der Grund, warum die vor- liegende Studie auf einer Stufe unterhalb der nationalen Ebene ansetzt und die beiden zu Beginn des 20. Jahrhunderts wichtigsten Sportzentren Brasi- liens, Rio de Janeiro und São Paulo, untersucht. Identitätskonstruktionen über den Fußball fanden zudem nicht in ge- schlossenen Räumen statt und folgten nicht vorgegebenen unidirektionalen Pfaden, vielmehr war der Fußball an der Konstruktion räumlicher Vorstel- lungen und »rassischer«, nationaler und regionaler Identität beteiligt. Die zentrale These ist: Brasilianische Sportakteure waren über den Fußball schon früh in eine transnationale Sportgemeinschaft, hier als Diskursge- meinschaft verstanden, eingebunden. Der internationale Sport bot ihnen Gelegenheit, »rassische«, regionale und nationale Identitäten über den Bezugspunkt der Nation hinaus zu verhandeln. Folgende Fragen liegen der Studie zu Grunde: Welche Rolle spielte der Fußball als transnationales Phänomen in den beiden Städten? Welchen Raum bot er für Differenzierungen nach »rassischer«, regionaler und natio- naler Zugehörigkeit? In welcher Beziehung standen die Kategorien 5 Vgl. K EYS , Globalizing Sport , S. 34-43. 15 Einleitung 15 »Rasse«, Region und Nation zueinander? Inwieweit überlagerten sich diese Identitätskonstruktionen oder interagierten sie miteinander? Eine Grundannahme dieser Arbeit ist: Fußball als transnationales Phäno- men half dabei, Differenzen herzustellen und Vorstellungen von Ausgren- zungskategorien wie »Rasse« und regionale Überlegenheit zu entwickeln. Es handelte sich nicht ausschließlich um Differenzen, die schon vor und auch unabhängig von der »Ankunft« des Fußballs existierten. Aus dieser Annahme ergeben sich weitere Fragen: Wie verorteten sich die hier behan- delten Akteure über diese Identitätskonstruktionen in einem sich heraus- bildenden transnationalen Sportraum? Bildete sich bei den Sportakteuren über den Fußball ein Bewusstsein für Globalität heraus? Wo waren im Um- kehrschluss auch Grenzen der Globalisierung des Fußballs bzw. wie stellten Akteure diese Grenzen her und verfestigten sie? Die vorliegende Studie ist eine Untersuchung der kulturellen Globalisie- rung des Fußballs in Brasilien im Zeitraum zwischen 1894 und 1930. Der Beginn des Untersuchungszeitraums ist aus einer transnationalen Pers- pektive in der Dekade angelegt, in der erste Spiele nach den Regeln der englischen Football Association nachgewiesen sind und Immigranten und Brasilianer erste Klubs gründeten.6Das Ende des Zeitraums bildet aus der hier eingenommenen transnationalen Perspektive die erste Weltmeister- schaft in Lateinamerika, die 1930 in Montevideo, Uruguay, stattfand und an der Brasilien mit einer nicht sehr erfolgreichen Auswahl teilnahm. Diese Weltmeisterschaft ist dennoch ein Höhepunkt, an dem sich – wie noch gezeigt wird – das Selbstbild und der Status Brasiliens im internationalen Fußball grundlegend gewandelt hatten. Die Erfolge südamerikanischer Nationalmannschaften bei den Olympi- schen Spielen 1924 und 1928 in Europa, die ebenso erfolgreiche Reise eines Klubs aus São Paulo nach Europa im Jahr 1925 und die seit dem Ende des Ersten Weltkrieges wahrgenommene Schwäche und Zerstritten- heit Europas untermauerten diese neue Rolle. Nach 1930 »exportierten« südamerikanische Länder den berühmt gewordenen »südamerikanischen Stil« über die Migration professioneller Fußballer – Anfänge eines profes- sionellen Transfermarktes lassen sich hier erkennen.7Die 1930er-Jahren 6 Ausführlicher hierzu in Kapitel 1. 7 Vgl. hierzu: D IETSCHY , Paul, Football Players' Migration: A Political Stake, in: Christiane EISENBERG/Pierre LANFRANCHI(Hg.), Football History: International Perspectives/Fußball-Geschichte: Internationale Perspektiven, Special Issue/Sonderheft, in: Historische Sozialforschung/Historical Social Research 31, 2006, Nr. 1, S. 31-41; KOLLER, Christian, Transnationalität: Netzwerke, Wettbewerbe, Migration, in: DERS./Fabian BRÄNDLE(Hg.), Fussball zwischen den Kriegen. Europa 1918-1939 , 16 16 Einleitung waren gekennzeichnet von Institutionalisierungen und Konsolidierungen, sowohl auf der internationalen Ebene, weil die FIFA mit einem festen Sitz in Zürich und der Ausrichtung einer eigenen Meisterschaft mehr Aner- kennung bekam, als auch auf der nationalen Ebene durch den brasiliani- schen Präsidenten Getúlio Vargas, der den Fußball als Nationalsport für sein politisches Zentralisierungsprojekt als »Chiffre« verwenden wollte.8 Diese Institutionalisierungen knüpften an vorangegangene Entwicklungen an, die in hohem Maße mit der kulturellen Globalisierung des Fußballs seit seinen Anfängen zusammenhingen. T HEORETISCHE E INORDNUNG Wohl kaum ein anderes massenkulturelles Phänomen verbindet heute so viele Menschen miteinander und weist dabei einen so hohen Organisati- onsgrad auf wie der von globalen Organisationen gelenkte moderne Sport.9 Seine globale Bedeutung ist historisch angelegt: Sporthistoriker und – historikerinnen argumentieren, moderner Sport, wie er im 19. Jahrhundert in Großbritannien entstand und sich von dort in alle Weltregionen verbrei- tete, habe eine herausragende Bedeutung und Funktion für moderne Gesell- schaften, da er durch seine Regelhaftigkeit ein Instrument der Rationalisie- rung und »Affektkontrolle« sei.10Zugleich aber, so die Historikerin Christiane Eisenberg, lasse er Raum für Emotionen und Affekte und sei beliebig genug, um zum Schauplatz für ganz verschiedene identitäre Aus- Zürich/Berlin 2010, S. 37-63; L ANFRANCHI , Pierre/T AYLOR , Matthew, Moving with the Ball: The Migration of Professional Footballers , Oxford u.a. 2001, S. 11-72. 8 Zur Konsolidierung der FIFA: Vgl. E ISENBERG , Christiane, Der Weltfußballver- band FIFA im 20. Jahrhundert. Metamorphosen eines ›Prinzipienreiters‹, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 2, 2006, S. 209-230; KEYS, Globalizing Sport , S. 54 f. Zu Sportpolitik unter Vargas und zur Einrichtung eines CND ( Conselho Nacional de Desportos ): Vgl. MANHÃES, Eduardo Dias, Política de esportes no Brasil , 2. durchges. und erw. Aufl., Rio de Janeiro 2002, S. 29-98. Zum Fußball unter Vargas als »Chiffre«: NEGREIROS, Plínio José Labriola de Campos, Futebol nos anos 1930 e 1940: construindo a identidade nacional, in: História: Questões e Debates 20, jul/dez 2003, Nr. 39, S. 121-151. Siehe auch: AGOSTINO, Gilberto, Vencer ou morrer: futebol, geopolítica e identidade nacional , Rio de Janeiro 2002; DRUMOND, Maurício, Nações em jogo: esporte e propaganda política em Vargas e Perón , Rio de Janeiro 2008. 9 E ISENBERG , Christiane, Die Entdeckung des Sports durch die moderne Geschichts- wissenschaft, in: Historical Social Research 27, 2002, S. 4-21, hier 16 f. 10 E LIAS , Norbert/D UNNING , Eric, Die Suche nach Erregung in der Freizeit, in D IES ., Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation , Frankfurt am Main 2003, S. 135-140; ELIAS, Norbert, Die Genese des Sports als soziologisches Problem, in: DERS./DUNNING, Sport und Spannung , S. 230-272, hier 265. 17 Einleitung 17 drücke zu werden.11Inwieweit die Modernisierung von Gesellschaften und die Entstehung des modernen Sports lange Zeit als untrennbar angesehen wurden, beweist die rhetorische Frage, die Elias und Dunning in ihrer klas- sischen Studie Sport im Zivilisationsprozess zur Entstehung des modernen Sports in Großbritannien stellen: »Ließe sich nicht auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass beides, die Industrialisierung und die Entstehung des Sports, interdependente Teilentwicklungen einer umfassenden Verände- rung der Staatsgesellschaften der Neuzeit sind?«12 Während Elias und Dunning vor allem modernisierungstheoretische Einordnungen des modernen Sports vornehmen und ihn auf diese Weise an größere gesellschaftliche Wandlungsprozesse koppeln, betont Eisenberg, dass zumindest dem Fußball als moderner Sportart ein »Eigenweltcharak- ter« innewohne. In dieser »Eigenwelt« könne theoretisch jeder mit jedem für einen vorübergehenden Moment in Konkurrenz stehen und sei dabei nur den klaren Regeln des Spiels unterworfen.13Zugleich, und das sei eben- falls ein besonderes Kennzeichen des modernen Sports, könne das Vorübergehende und Beliebige einen Ewigkeitswert erhalten, wenn das Ergebnis erinnert und in einen größeren, sinnstiftenden Zusammenhang eingeordnet werde.14Verschiedene Sporthistoriker und -historikerinnen meinen, die letztere Funktion prädestiniere den modernen Sport vor allem für die Einordnung in den identitätsstiftenden Zusammenhang der Nation und des Nationalen.15So weist Eisenberg in ihrer grundlegenden Studie 11 E ISENBERG , Christiane, Sportgeschichte. Eine Dimension der modernen Kultur- geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 23, 1997, Nr. 2, S. 295-310, hier 296. Vgl. auch GUTTMANN, Allen, Games and Empires: Modern Sports and Cultural Imperialism , New York 1994, 181 f.; HÜSER, Dietmar, Moderner Sport und Geschichte als Wissenschaft – Zur politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verflechtung eines massenkulturellen Phänomens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: NPL 51, 2006, Nr. 2, S. 223-263. 12 D UNNING , Eric/E LIAS , Norbert, Sport im Zivilisationsprozess. Studien zur Figurationssoziologie , Münster 1981, S. 13. 13 E ISENBERG , Christiane, Einführung, in: D IES . (Hg.), Fußball, soccer, calcio , S. 7-21; EISENBERG, Christiane, »English sports« und deutsche Bürger. Eine Gesell- schaftsgeschichte 1800-1939 , Paderborn u. a. 1999, S. 14. Auf den autonomen Charakter des von ihm so genannten »Feldes sportlicher Praktiken« verweist auch Pierre Bourdieu: Vgl. BOURDIEU, Pierre, Historische und soziale Voraussetzungen modernen Sports, in: Gunter GEBAUER/Gerd HORTLEDER(Hg.), Sport – Eros – Tod , Frankfurt am Main 1986, S. 91-112, hier 94-100. 14 E ISENBERG , Sportgeschichte, hier 296; D IES ., Fußball als globales Phänomen. Historische Perspektiven, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 26, 2004, S. 7-15, hier 10. 15 Vgl. E ISENBERG , »English sports« ; D YRESON , Mark, Globalizing the Nation- Making Process: Modern Sport in World History, in: The International Journal of the History of Sport 20, 2003, Nr. 1, S. 91-106. 18 18 Einleitung zum Transfer des englischen modernen Sports nach Deutschland darauf hin, dieser diene auch der »Außendarstellung moderner Nationen« und habe zugleich eine systemische Bedeutung für Gesellschaften, da er sich in andere Bereiche, so in die Politik, übertragen lasse.16 Eisenbergs Annahmen sind grundsätzlich zuzustimmen. Es besteht aber die Gefahr, modernen Sport, und hier den Fußball als modernen Sport schlechthin, ausschließlich im abgeschlossenen Raum der Nation zu unter- suchen, weil vorausgesetzt wird, der Fußball habe sich wegen dieser be- sonderen Eignung als »Sinnstiftung« für moderne Gesellschaften verbrei- tet. Auch in der Sichtweise von Elias und Dunning gibt es Verkürzungen: Es könnte angenommen werden, Fußball sei eine Facette westlicher Mo- dernisierung, ja könne mitunter auch als ihr Zeichen oder Symbol zu ver- stehen sein. Wer die Diffusion des Fußballs auf diesem Erkenntnisweg untersucht, neigt dazu, die globale Verbreitungsgeschichte des modernen Sports als Modernisierungsgeschichte zu untersuchen, im Zuge derer er von Sportbegeisterten begleitend zu Parlamentarisierung, Rationalisierung und Industrialisierung in die Welt getragen wurde. Dieser Ansatz ist als grundlegende Annahme auch bei Historikern zu finden, die sich mit der Sportdiffusion auseinandergesetzt haben.17So bei Allen Guttmann, der nach dem Zusammenhang zwischen Verbreitung des Sports und Kulturimperialismus fragt. Er kommt zu dem Schluss, Kul- turimperialismus gehe zu sehr von statischen Kulturräumen aus und vor allem zu stark von Manipulationen durch Machthaber und deren Auf- oktroyierungen kultureller Werte. Er entscheidet sich alternativ für den Begriff der »kulturellen Hegemonie« nach Gramsci.18Doch geht er in seiner Studie wenig auf Fallbeispiele und Differenzierungen ein, was auch der breit angelegten Analyse anhand einzelner Sportarten geschuldet ist.19 Auch in Arbeiten, die spezifisch die Sportverbreitung in Lateinamerika untersuchen, folgen Historiker diesem Analysepfad. So J.A. Mangan und Joseph L. Arbena, doch auch sie bleiben bei diffusionstheoretischen An- nahmen und stellen am Beginn ihrer Arbeiten die Frage: »Kulturimperia- 16 E ISENBERG , »English sports« , S. 13-15. Ähnlich G UTTMANN , Games and Empires , S. 181 f. und DYRESON, Globalizing, S. 91-106. 17 Vgl. E LIAS /D UNNING , Sport und Spannung . 18 Vgl. G UTTMANN , Games and Empires , S. 178-181. Guttmann verweist u.a. auf die Rolle, die Sport für Emanzipationsbewegungen spielte, weil Kolonialisierte zum Bei- spiel ihre Kolonialherren im eigenen Spiel schlagen wollten. Ähnlich zum Beispiel auch: BALE, John, Sports Geography , London u. a. 1989. 19 Vgl. G UTTMANN , Games and Empires . 19 Einleitung 19 lismus – ja oder nein?«.20Ebenso lässt sich eine neuere Arbeit zur Sportver- breitung von Großbritannien nach Brasilien dieser diffusionstheoretischen Richtung zuordnen: Der Historiker Gregg Bocketti hat in einer verglei- chend angelegten Studie nach dem Zusammenhang zwischen britischem Kulturimperialismus und der Verbreitung des modernen Sportes in Brasi- lien und Trinidad gefragt.21 Sporthistoriker und –historikerinnen und historisch arbeitende Sportgeo- grafen und Sportsoziologen verstanden die Welt häufig als System aus Zentrum und Peripherie, an die der Fußball gelangte und in der er als In- strument kolonialer und imperialer Machtausübung fungierte.22Diffusions- theoretiker, die mit solchen modernisierungstheoretischen und kulturimpe- rialistischen Annahmen arbeiten, schließen aus der Vernetzung von Gesell- schaften und aus der Globalisierung der Welt die Entstehung globaler kul- tureller Gleichförmigkeit und Uniformität.23Der diffuse Begriff der Globalisierung, wie er in den letzten Jahrzehnten zum allgegenwärtigen Paradigma und auch Menetekel unserer Zeit wurde, ist in der allgemeinen, nicht fachwissenschaftlichen Diskussion und selbst in Wissenschaftskrei- sen allzu oft gleichgesetzt worden mit einer Einebnung von Unterschieden in einer romantisierenden Vorstellung von autochthoner Kultur und Tradi- 20 Siehe Mangan, der seiner Analyse die Konzepte »kultureller Imperialismus, kultu- relle Hegemonie und kulturelle Emulation« zu Grunde legt, sich dabei an Said und Arbena orientiert und durchaus die »Macht der ›Einflusslosen‹« beachtet: MANGAN, J.A., The Early Evolution of Modern Sport in Latin America: A Mainly English Middle-Class Inspiration?, in: DERS./Lamartine P. DACOSTA(Hg.), Sport in Latin American Society. Past and Present , London/Portland 2002, S. 9-42. Vgl. auch: ARBENA, Joseph L., Sports Language, Cultural Imperialism, and the Anti-Imperialist Critique in Latin America, in: Studies in Latin American Popular Culture 14, 1995, S. 129-141. 21 Vgl. B OCKETTI , Gregg P., The Creolization of British Sport in Trinidad and Brazil, 1870-1940 , unveröffentl. Ph.D. Thesis, Tulane University 2004. 22 Die hier erfolgende Kritik an diffusionstheoretischen Sportstudien folgt: CARRINGTON, Ben, Race, Sport and Politics: The Sporting Black Diaspora , London u. a. 2010, S. 65 f. 23 M AGUIRE , Joseph, Global Sport: Identities, Societies, Civilizations , Cambridge 1999, S. 16-17. Vgl. für das Beispiel Lateinamerika: GIULIANOTTI, Richard, Football, South America and Globalisation: Conceptual Paths, in: Rory M. MILLER/Liz CROLLEY (Hg.), Football in the Americas: Fútbol, Futebol, Soccer , London u.a. 2007, S. 37-51, hier 42 f. Die Verbreitung des modernen Sports vor allem als Prozess der Uni- formierung zu sehen klingt auch bei Bayly an: Vgl. BAYLY, Christopher, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780-1914 , Frankfurt/New York 2008, S. 35. Für eine kritische und diskursanalytische Auseinandersetzung mit dem »Kulturimperialismus« als Forschungsperspektive: Vgl. TOMLINSON, John, Cultural Imperialism: A Critical Introduction , London 1991. 20 20 Einleitung tion.24Das soll hier nicht geschehen und die Warnung des Afrikahistorikers Frederick Cooper ernst genommen werden, nicht einfach einen verdeckten Revisionismus zu betreiben und Modernisierung durch Globalisierung zu ersetzen. Mit Osterhammel und Petersson wird hier Globalisierung ganz allgemein als »Aufbau, […] Verdichtung und […] zunehmende Bedeutung weltweiter Vernetzung«25gefasst, wie sie seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts besonders in wirtschaftlicher Hinsicht zunahm. Es soll hier auch nach den Grenzen von Globalisierung gefragt werden, entsprechend gilt es Globalisierung als Perspektive anzusetzen.26 Der Kulturgeograf Joseph Maguire war einer der ersten, der die diffusi- onstheoretischen Annahmen für den Sport kritisch hinterfragt hat. In der Erklärung der Sportdiffusion lehnt er sich an Arjun Appadurai und dessen Theorie der »disjunctures« und »global flows« an, wenn er sagt, Globali- sierungsprozesse seien nie uniform verlaufen, sondern gleichsam multidi- rektional und deshalb folgten sie auch nicht zwingend Linien von Machtrelationen.27Er will für die »unbeabsichtigten Dynamiken« und die »nicht-westlichen Einflüsse auf den Westen« im Prozess der Sportglobali- sierung sensibilisieren.28 Er nimmt ausgehend von diesen Annahmen auch einen Periodisierungs- versuch von Sportglobalisierung vor. Eine solche haben die Soziologen Richard Giulianotti und Roland Robertson für die Verbreitung des Fußballs in Lateinamerika weiter ausdifferenziert, indem sie herausarbeiteten, dass Lateinamerika in der Take-Off-Phase zwischen 1870 und 1920 vom Fuß- ball erfasst wurde. Diese Phaseneinteilung entspricht anderen Perio- disierungsvorschlägen jüngster historischer Globalisierungsstudien, in denen die Zeit ab 1870/1880 bis 1914 oder sogar bis 1940 als erste Hoch- 24 Vgl. O STERHAMMEL , Jürgen/P ETERSSON , Niels P., Geschichte der Globalisierung , 4. durchges. Aufl., München 2007, S. 7-15; Vgl. aus Sicht der Soziologie: BECK, Ulrich, Was ist Globalisierung? , Frankfurt am Main 2007, insbes. S. 80 ff. 25 O STERHAMMEL /P ETERSSON , Geschichte der Globalisierung , S. 24. 26 Vgl. C ONRAD , Sebastian/E CKERT , Andreas, Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen: zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: Sebastian CONRAD/Andreas ECKERT/Ulrike FREITAG(Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen , Frankfurt am Main 2007, S. 7-49; COOPER, Frederick, Was nützt der Begriff der Globalisierung? Aus der Perspektive eines Afrika-Historikers, in: CONRADu. a. (Hg.), Globalgeschichte , S. 131-161; OSTERHAMMEL/PETERSSON, Geschichte der Globalisierung , S. 41-45. 27 M AGUIRE , Joseph, Global Sport: Identities, Societies, Civilizations , Cambridge 1999, S. 210 f.; APPADURAI, Arjun, Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization , Minneapolis 1996, S. 90. 28 M AGUIRE , Global Sport , S. 31 f. 21 Einleitung 21 phase einer nicht nur ökonomischen, sondern auch kulturellen Globalisie- rung definiert wird.29Auch Giulianotti und Robertson warnen davor, Sportdiffusion mit Modernisierungsprozessen gleichzusetzen und gehen in ihrem »global globalization model« von dem Konzept der »multiple mo- dernities« aus, also der Existenz diverser Modernisierungswege in den Hemisphären, Gesellschaften und Kulturen.30 Ihre Kritik an diffusionistischen und eurozentrischen Modellen ist be- deutend und die Verständnisversuche der Sportverbreitung sind unabding- bar für alle weiteren Versuche, das Phänomen des modernen Sportes in der Welt zu begreifen, jedoch können auch Giulianotti und Robertson regional Spezifisches nur streifen.31 Eine umfassende Kritik leistet der Sportsoziologe Ben Carrington an den existierenden Studien zur Verbreitung des modernen Sports. Er kritisiert, sie betrachteten seine Verbreitung zu sehr aus der Perspektive des Westens als Ursprungsort des modernen Sportes. Er meint, alle sportdiffusionisti- schen Theorien nähmen an, die Idee des Sportes entspringe als etwas Mo- dernes, Rationales dem kolonialen Moment und sei gegensätzlich zum Irrationalen und Barbarischen, das zeitlich vor der Moderne und räumlich außerhalb dieser liege.32Er konstatiert weiter: 29 Vgl. G IULIANOTTI , Richard/R OBERTSON , Roland, Globalization & Football , Los Angeles u. a. 2009, S. 7-14; GIULIANOTTI, Richard, Fußball in Südamerika. Globalisier- ung, Neoliberalismus und die Politik der Korruption, in: Michael FANIZADEH/Wolfram MANZENREITER/Gerard HÖLDL/Rosa DIKETMÜLLER(Hg.), Global Players. Kultur, Ökonomie und Politik des Fußballs , Frankfurt am Main 2005, S. 159-181, hier 160-167; DERS., Football, South America and Globalisation, S. 39 ff. Zu den umstrittenen Periodisierungsfragen der historischen Globalisierung: Vgl. OSTERHAMMEL/PETERSSON, Geschichte der Globalisierung , S. 24-27 und für die Hochphase S. 63-86; BAYLY, Die Geburt der modernen Welt , S. 59-67; DERS., »Archaic« and »Modern« Globalization in the Eurasian and African Arena, c.1750-1850, in: Antony G. HOPKINS(Hg.), Globali- zation in World History , London u. a. 2002, S. 47-73; Vgl. auch: CONRAD, Sebas- tian/SACHSENMAIER, Dominic, Introduction. Competing Visions of World Order: Global Moments and Movements, 1880s-1930s, in: Sebastian CONRAD(Hg.), Compet- ing Visions of World Order. Global Moments and Movements 1830s-1930s , New York 2007, S. 1-27, hier 4 f. 30 Vgl. G IULIANOTTI u.a., Globalization & Football , S. 1 f. Das Konzept der »multiple modernities« geht auf den Soziologen Shmuel N. Eisenstadt zurück: EISENSTADT, Shmuel Noah, Multiple Modernities, in: Daedalus 129, 2000, Nr. 1, S. 1-29. 31 Giulianotti und Robertson arbeiten in einem »core-periphery«-Modell: GIULIANOTTIu. a., Football, South America and Globalisation, S. 41. 32 C ARRINGTON , Race, Sport and Politics , S. 44 ff. Vgl. auch: T AYLOR , Matthew, Global Players? Football, Migration and Globalization, c. 1930-2000, in: EISENBERG u.a. (Hg.), Football History: International Perspectives, S. 7-30, hier 13 f. Die Kritik an dichotomischen Gegenüberstellungen ist seit Saids Orientalism schon länger ein Thema 22 22 Einleitung The ideological work necessary to produce a de-racialized and gender- less liberal theory of citizenship is the same work undertaken to fabricate sport as actually constituting a meritocratic and egalitarian space of ›fair play‹ and ›level playing fields‹, conflating in its own way sporting myth with universal truth, the myth of rationality for Modern Sport. Sport's ›power‹ comes as much from the ability of some to exclude others from rightful participation and ownership as it does from its own ›intrinsic‹ rules and characteristics. The non-sporting ›primitive‹ turns out to be, in the end, a fiction of the western imagination.33 Carrington kritisiert in diesem Sinne Guttmann, der in einer Studie über die Entstehung und Konstituierung des modernen Sports grundlegende Eigen- schaften als Maßstäbe definiert hat, anhand derer sich die »Modernität« von Sport messen lassen könne.34Neben den Kategorien Säkularismus, Bürokratisierung, Spezialisierung, Rationalisierung, Quantifizierung und Rekordorientierung (»Obsession with Records«) legte er den Maßstab der »Chancengleichheit« (»Equality« in seinem Buch Games and Empires ) im Sport zu Grunde, um moderne von prä-modernen Sportarten abzugrenzen.35 Guttmann setzt voraus, grundsätzlich jeder könne an Spielen teilnehmen, eine Vorauswahl werde allein nach Leistung und Training getroffen, anders als dies, nach seinem Dafürhalten, noch bei prä-modernen Sportarten ge- der Geschichtswissenschaften. Die Anwendung Saids auf die Verbreitung des britischen Sports als Prozess des »cultural borrowings« hat Mangan vorgenommen: Siehe: MANGAN, The Early Evolution of Modern Sport in Latin America. Ein weiteres Beispiel ist für den uruguayischen Fußball: BAYCE, Rafael, Cultura, identidades, subjetividades y esterotipos: Preguntas generales y apuntes específicos en el caso del fútbol uruguayo, in: ALABARCES, Pablo (Hg.), Futbologías: fútbol, identidad y violencia en América Latina , Buenos Aires 2003, S. 163-177. 33 C ARRINGTON , Race, Sport and Politics , S. 45 f. 34 Die hier erfolgende Kritik an Guttmann folgt der Carringtons: Vgl. ebd., S. 65 f. Vgl. GUTTMANN, Allen, Vom Ritual zum Rekord , Schorndorf 1979; DERS., Games and Empires . 35 Vgl. G UTTMANN , Vom Ritual zum Rekord, S. 35-45. Vgl. auch die Wiederholung dieser Kategorien in seiner neueren Studie: GUTTMANN, Games and Empires , S. 2 f. Zur Einordnung Guttmanns in die Entwicklung angelsächsischer Sporttheorien von einer noch eher dependenztheoretischen und neo-marxistischen Perspektive hin zu einer gramscianischen und dann schon post-strukturalistischen Ausrichtung in den 1990er- Jahren: Vgl. CARRINGTON, Ben/MCDONALD, Ian (Hg.), Marxism, Cultural Studies and Sport , London u. a. 2009. Ähnlich ist es bei DaMatta, der noch deterministisch argumentiert, indem er die Verwirklichung eines politischen Ziels erwartet. Carrington kritisiert deterministische Analysen allgemein. Er meint, in Sportstudien solle es darum gehen, die Macht des Sportes für »(verkörperlichte) Emanzipation und Freiheit [zu untersuchen], aber ohne irgendwelche endlichen Garantien hinsichtlich seiner politi- schen Wirksamkeit«: Ebd., S. 16. 23 Einleitung 23 schehen sei.36Diese Kategorien, so Carrington, begünstigten ein moderni- sierungstheoretisches Narrativ der Diffusion des modernen Sportes, da sie dazu einlüden, Regionen, in denen zum Beispiel »Chancengleichheit« nicht durchgesetzt sei, als nicht modern zu bezeichnen, sie in einem als größer gedachten System dichotomisch zu hierarchisieren und sie zugleich als reine »Empfänger« von modernem Sport an die Peripherie eines Sender- Empfänger-Modells zu stellen. Auf diese Weise träten vor allem auch die Sender als historische Akteure in den Vordergrund.37 Auch wenn die vorgebrachte Kritik von Carrington an Guttmann richtig ist, sollen Guttmanns Ansätze und die anderer, ähnlich argumentierender Autoren hier nicht als unbrauchbar gekennzeichnet werden. Im Gegenteil, sie schufen Einsichten gerade im Hinblick auf die Diffusion des Sportes im Zusammenhang mit Machtbeziehungen. Jedoch disqualifiziert Carringtons Kritik aus meiner Sicht eine Untersuchung der Verbreitung des Fußballs nach Brasilien als Form des Kulturtransfers, da auf diese Weise zu stark von fixen räumlichen Einheiten ausgegangen werden müsste, die darüber- hinaus vergleichend nebeneinander gestellt werden müssten. Auch stünden dann historische Akteure als Sender und Empfänger an einem Anfangs- und Endpunkt im Vordergrund.38Die vorliegende Studie folgt den vorange- gangenen Annahmen und Einordnungen, indem sie in den einzelnen Kapi- 36 G UTTMANN , Vom Ritual zum Rekord , S. 35-45; Guttmann beachtet selbstverständ- lich Ausgrenzung nach »Race« und Genderkategorien, jedoch sagt er, dass »Ausschluß wegen Schichtenzugehörigkeit […] offensichtlich eine Anomalie des modernen Sports« ist, ebenso »Ausschluß wegen Rasse«: Ebd., S. 41. 37 C ARRINGTON , Race, Sport and Politics , S. 65 f. 38 Vgl. zur Kritik an vergleichenden Ansätzen: C ONRAD , Sebastian, Vergleich, Trans- fer, transnationale und globalgeschichtliche Perspektiven. Geschichte der Geschichts- schreibung jenseits des Nationalstaats (am japanischen Beispiel), in: Jan ECKEL/Thomas ETZEMÜLLER(Hg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft , Göttingen 2007, S. 230-254. Conrad meint, die Transfergeschichte und die transnatio- nale Geschichte seien nicht scharf voneinander zu trennen: Ebd., S. 251. Einer der ersten, der die Nationalfixiertheit in der komparatistischen Sozialgeschichte kritisiert hat, ist wohl Michel Espagne. Siehe dazu: PAULMANN, Johannes, Internationaler Ver- gleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift , 1998, Nr. 267, S. 649-685, hier 668-671. Zur Problematik der Festlegung von »Ausgangs- und End- punkten« und Festschreibung nationaler Untersuchungseinheiten in der Transferge- schichte s.: WERNER, Michael/ZIMMERMANN, Bénédicte, Vergleich, Transfer, Verflech- tung. Der Ansatz der Histoire Croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28, 2002, S. 607-636, hier 614 f. Für eine Kritik an vergleichenden Ansätzen in der Sportgeschichte siehe: MELO, Victor Andrade de (Hg.), História comparada do esporte , Rio de Janeiro 2007. 24 24 Einleitung teln einigen der existierenden Narrativen für die Ankunft und Verbreitung des Fußballs in Brasilien kritisch nachspürt.39 Zugleich entspricht das geschilderte Verbreitungs-Narrativ der eigenen Logik und Rede der hier im Fokus stehenden historischen Akteure: Fuß- baller, Wissenschaftler, Sportjournalisten, Politiker und Sportfunktionäre aus Rio de Janeiro und São Paulo betrachteten Anfang des 20. Jahrhunderts den Sport zunehmend als ein Mittel, um Brasilien als Teil der »zivilisierten Welt« Anerkennung zu verschaffen. Sportlicher Habitus (Amateurideal) und die Befolgung sportlicher Regeln wurde von diesen Akteuren diskursiv als Zeichen für Modernität und »Zivilisierung« konstruiert. Der Diskurs diente als Grundlage für Ausgrenzungen und Hierarchisierungen, so zum Beispiel in beiden Städten für soziale und rassistische Exklusion von Afro- Brasilianern aus Fußballvereinen. Er diente der Verhandlung »rassischer« Identität in Beziehung zu nationaler Identität. Paulistaner Sporteliten bot er Argumente für eine regionale Hierarchisierung in der Darstellung São Paulos als »weiß«, modern, fortschrittlich und überlegen gegenüber einem »rückständigen« Rio de Janeiro oder gar anderen Regionen in Brasilien, oder für die Repräsentation Brasiliens als »zivilisierter Nation« nach außen bei internationalen Spielen.40Alle genannten Differenzierungsversuche geschahen unter transnationalen Bezugnahmen. Wenn die folgende Untersuchung in die Forschungsrichtung transnatio- naler Geschichte eingebettet wird, erfolgt die Betrachtung des Untersu- chungsgegenstandes aus der Perspektive sowohl von Transnationalität als auch von Globalisierung. Beide Konzepte bilden keine Theorie- Untersätze.41Hinsichtlich des Identitätsbegriffes wird eine Entstehung von 39 Für den brasilianischen Fall haben einige Autoren den Fußball als einen gesellschaftlichen Bereich kategorisiert, in dem demokratische und egalitäre Werte gültig seien, anders als in anderen gesellschaftlichen Bereichen in Lateinamerika. So der Anthropologe Roberto DaMatta, der den Fußball, an seine emanzipatorische Wirkung glaubend, sogar einmal als »Schule der Demokratie« bezeichnete: Vgl. DAMATTA, Roberto, »O futebol é a maior escola de democracia« (Interview), in: Revista de História da Biblioteca Nacional 1, Nr. 7, S. 42-47; DERS., A bola corre mais que os homens: duas copas, treze crônicas e três ensaios sobre futebol , Rio de Janeiro 2006, S. 139; DERS., Antropologia do óbvio: um ensaio em torno do significado social do futebol brasileiro, in: Revista USP , Dossiê futebol , São Paulo Juni/August 1994, Nr. 22, S. 14-40. Kritisch hierzu: SUSSEKIND, Hélio Carlos, Futebol em dois tempos: incluindo uma breve história do futebol carioca e uma ficção; crônica póstuma inédita de Nelson Rodrigues , Rio de Janeiro 1996. 40 Vgl. Kapitel 2-4 der vorliegenden Arbeit. 41 Hierbei stütze ich mich auf folgende Ausführungen zum Ansatz der transnationalen Geschichte als Perspektivenerweiterung: CONRADu.a., Globalgeschichte, Globalisie- rung, multiple Modernen, S. 21 f.; CONRAD, Sebastian/OSTERHAMMEL, Jürgen, Einlei- 25 Einleitung 25 Identitäten durch Austausch und globale Bezugnahmen angenommen. Damit folgt die Studie der Kritik von Sebastian Conrad an den Methoden der Vergleichsgeschichte und der »histoire croisée«: Bei beiden bestehe »[…] die Gefahr, substantielle Identitäten vorauszusetzen, statt ihre perfor- mative Entstehung in der Praxis der Interaktion zu lokalisieren.«42In Orien- tierung an Kiran Patel wird außerdem davon ausgegangen, dass »trans- nationale Geschichte« keine Perspektive bildet, die den Nationalstaat und seine Bedeutung überwinden soll, vielmehr stehen Beziehungen und Ver- flechtungen im Vordergrund, die über den Nationalstaat hinausgehen, im- mer aber auch auf ihn Bezug nehmen oder sich von ihm abgrenzen, deren Mittel- und Bezugspunkt der Nationalstaat also bleibt.43 Historiker und Historikerinnen sind sich inzwischen einig: Die Welt er- lebte seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine vorher ungekannte Dichte globaler Verflechtung und globalen Austausches, ermöglicht vor allem durch technologische Revolutionen im Bereich des Personen- und Gütertransportes und der Nachrichten- und Informationsübermittlung.44Für viele Menschen entfal- tete sich diese Veränderung in einer wahrgenommenen Zeit- und Raumkompression unter dem Eindruck, räumlich ferne Ereignisse hätten direkte Auswirkungen auf ihr unmittelbares Umfeld. Erlebbar war diese Verdichtung besonders für die Menschen, die Teil der großen transatlanti- schen Migrationsströme waren, von denen viele aus Europa, Asien und arabischen Ländern auch nach Brasilien kamen. Einen Teil dieses Austau- sches bildete außerdem die Herausbildung internationaler, nicht-staatlicher Organisationen, die normative Uniformierungen vornahmen, Dienstleistun- gen anboten oder Wirtschaftsaktivitäten unternahmen. Ihre Mitglieder tung, in: D IES . (Hg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914 , Göttingen 2004, S. 7-27, hier 13 f.; PATEL, Kiran Klaus, Nach der Nationalfixiertheit. Perspektiven einer transnationalen Geschichte , (Öffentliche Vorlesungen der Humboldt-Universität zu Berlin 128, 12. Januar 2004) Berlin 2004; Vgl. auch die Diskussionen auf der Online-Plattform H-Soz-u-Kult zu den Möglichkeiten und Grenzen der transnationalen Geschichte: z. B. MEISSNER, Jochen, Die Tradition der »Area Studies« und die Perspektiven neuer Formen transnationaler, transkultureller, postkolonialer und globaler Geschichtsschreibung, in: H-Soz-u-Kult , 16.3.2005, URL: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2005-03-003> (abgeru- fen am: 25.3.2009); Siehe auch Coopers fundamentale Kritik an dem Begriff »Globalisierung«: COOPER, Was nützt der Begriff der Globalisierung? 42 C ONRAD , Vergleich, Transfer, transnationale und globalgeschichtliche Perspekti- ven, S. 250. 43 P ATEL , Nach der Nationalfixiertheit , S. 11. 44 Vgl. O STERHAMMEL /P ETERSSON , Geschichte der Globalisierung , S. 63-70. 26 26 Einleitung entstammten unterschiedlichen regionalen Kontexten, wiesen oftmals aber durch denselben spezifischen Tätigkeitsbereich große biografische Ge- meinsamkeiten auf.45 Teil dieser institutionellen Globalisierung war der moderne Sport, so als Baron Pierre de Coubertin und weitere adlige Europäer die olympische Bewegung begründeten.46Auch die Gründer der FIFA im Jahre 1904 waren europäische, weiße Männer, die von Paris aus mit dem Anspruch auftraten, den Fußball und seine Regeln uniformieren und global lenken zu wollen.47 Beide Gründungen waren transnationale Organisationen; der durch die Begründer ausgelöste Enthusiasmus, die damit einhergehenden Austausch- beziehungen, eine transnationale Bewegung. In einem weiteren Sinne wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff ei- ner »transnationalen Sportgemeinschaft« verwendet. Damit wird angenom- men, brasilianische Sportler, Sportjournalisten und Sportfunktionäre waren in eine über die Nation hinausgehende Diskursgemeinschaft eingebunden, in der sie über die Presse mit dem Sport zusammenhängende Codes und Symbole verhandelten. In dem Begriff ist gleichzeitig auch angelegt, dass diese Diskurse niemals losgelöst von der lokalen, regionalen und nationa- len Ebene geführt wurden.48 In zweifacher Hinsicht bestand eine Einbindung der genannten Akteure in eine transnationale Sportgemeinschaft. Erstens organisatorisch über die Einbindung brasilianischer Sportfunktionäre in internationale Sportorga- nisationen, die auch als transnationale Nicht-Regierungsorganisationen 45 G EYER , Martin H., The Mechanics of Internationalism, in: D ERS ./Johannes PAULMANN(Hg.), The Mechanics of Internationalism: Culture, Society, and Politics from the 1840s to the First World War , Oxford u. a. 2001, S. 1-25, hier 22. 46 O STERHAMMEL , Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts , München 2009, S. 732. Zum IOC: Vgl. KEYS, Globalizing Sport , S. 28-35; EISENBERG, Christiane, The Rise of Internationalism in Sport, in: GEYERu.a. (Hg.), The Mechanics of Internationalism , S. 375-403. 47 K EYS , Globalizing Sport , S. 50 f.; E ISENBERG u.a. (Hg.), FIFA 1904-2004 , S. 58-62. Die FIFA trat mit einem Alleinvertretungsanspruch auf, war allerdings im ersten Jahrzehnt in Bezug auf die Universalisierung der Fußballregeln von dem britischen International Football Association Board abhängig. Erst die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg brachte der FIFA und anderen internationalen Sportverbänden eine stärkere Machtposition. Gegenüber dem IOC trat die FIFA mit der Forderung auf, einen eigenen Fußballwettbewerb auszurichten und verwirklichte dieses Anliegen 1930, obgleich zu diesem Zeitpunkt weder von einer globalen Organisation noch von einem globalen Wettbewerb gesprochen werden konnte: KEYS, Globalizing Sport , S. 44-45 und 51-52. 48 Auf diese Charakteristik des Hochleistungssportes in Abgrenzung zum Massen- sport hat Barbara Keys hingewiesen: Vgl. KEYS, Globalizing Sport , S. 11 f. 27 Einleitung 27 charakterisiert werden können.49Auch wenn der 1916 gegründete brasilia- nische Nationalverband und die verschiedenen Lokalverbände, die an die FIFA angeschlossen waren, personell stark mit der brasilianischen Regie- rung und lokalen politischen Eliten verbunden waren, entstanden hier Dia- loge und Austauschmechanismen, die über den Nationalstaat hinausgingen. Zweitens manifestierte sich die Transnationalität des brasilianischen Fuß- balls vor 1930 in der starken Interdependenz zwischen Fußballverbreitung und -begeisterung und der sich ausdifferenzierenden und ausdehnenden Medienlandschaft, also der Tagespresse und Zeitschriften.50 Die ersten Fußballenthusiasten waren nicht ausschließlich Söhne der oligarchischen Eliten, die durch ihre traditionell in Europa absolvierte Ausbildung mit dem Fußball in Kontakt gekommen waren, sondern auch Angehörige einer langsam entstehenden, urbanen Mittelschicht. Sie waren eine schon bedeutende, wenn auch Anfang des 20. Jahrhunderts in Bezug auf Selbstwahrnehmung und Zusammengehörigkeitsgefühl sehr diffuse Akteursgruppe für die Verbreitung kultureller Phänomene wie dem Fuß- 49 Vgl. zum politikwissenschaftlichen Verständnis transnationaler Organisationen: CLAVIN, Patricia, Defining Transnationalism, in: Contemporary European History 14, 2005, Nr. 4, S. 421-439, hier 425. Für eine begriffsgeschichtliche Herleitung und Definition des Begriffes »transnational« siehe auch den Eintrag im »Dictionary of Transnational History«: SAUNIER, Pierre-Yves, Transnational, in: Akira IRIYE/ Pierre- Yves SAUNIER(Hg.), The Palgrave Dictionary of Transnational History , Basingstoke u. a. 2009, S. 1047-1054; Zu transnationalen Nicht-Regierungsorganisationen siehe auch: IRIYE, Akira, Global Community: The Role of International Organizations in the Ma- king of the Contemporary World , Berkeley u. a. 2004; BOLI, John/THOMAS, George M., Introduction, in: DIES. (Hg.), Constructing World Culture: International Nongovern- mental Organizations Since 1875 , Stanford, Calif. 1999, S. 1-49. Die Gegenüber- stellung von international und transnational und entsprechend von staatlich und nicht- staatlich trügt jedoch, denn international meinte in der Historiografie lange auch schon die Einbeziehung nicht-staatlicher Akteure: PATEL, Nach der Nationalfixiertheit , S. 7 ff. Siehe auch im Band von Geyer: GEYERu.a. (Hg.), The Mechanics of Internationalism. Und da entsprechend für den Sport: EISENBERG, The Rise of Internationalism in Sport . Auch: HOBERMAN, John, Toward a Theory of Olympic Internationalism, in: Journal of Sport History 22, 1995, Nr. 1, S. 1-37. 50 So zum Beispiel der Journalist Casper Líbero, der 1918 mit finanzieller Hilfe wichtiger Politiker der Republikanischen Partei die Tageszeitung »A Gazeta« aus São Paulo übernahm und die Grundsteine dafür legte, dass sie mit der Gazeta Esportiva zu einer der bedeutendsten Sportmedien des 20. Jahrhunderts in Brasilien wurde. 1925 führte er zum Beispiel den jährlich stattfindenden Silvesterlauf nach französischem Beispiel in São Paulo ein: Vgl. STYCER, Mauricio, História do Lance!: projeto e prática do jornalismo esportivo , São Paulo 2008; Vgl. auch EISENBERG, Christiane, Medienfußball. Entstehung und Entwicklung einer transnationalen Kultur, in: Geschichte und Gesellschaft 31, 2005, S. 586-609, hier 589 ff. 28 28 Einleitung ball.51In ihrer Suche nach Abgrenzung nach unten gegen Arbeiter und zu- gleich gegen die Gruppe der bacharéis – meist studierte Söhne reicher Familien, die durch ihre Titel Privilegien und gesellschaftlichen Status genossen und in die öffentliche Verwaltung strömten – bot der Fußball ein exzellentes Orientierungsinstrument. In den sich neu gründenden Zeit- schriften wetterten Journalisten und hygienisch und sozialdarwinistisch argumentierende Schriftsteller und Mediziner gegen die »Körperlosigkeit« der bacharéis im 19. Jahrhundert, gegen ihr rachitisches und krankes Aussehen, und propagierten ein neues Körperbild des muskelgestählten, gesunden und körperbewussten, zugleich aber geistvollen Mannes (und auch der Frau). Nach unten gelang diese Abgrenzung anfangs über einen expliziten Ausschluss von Arbeitern aus Klubs und Ligen, später über die rigide Verteidigung des Amateurethos.52 Weil diese jungen Pioniere ein großes Interesse daran besaßen, ihre und die gesellschaftliche Position des Sportes zu festigen, sich als rechtmäßige Vertreter einer Sportart und ihrer Regelauslegung zu etablieren, kam ihnen zugute, dass sich auf der anderen Seite auch die ausdifferenzierende Presse in den großen Städten für dieses noch junge kulturelle Phänomen interes- sierte.53Die hohe Affinität von Medien zum Sport, die sich laut Eisenberg transnational seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts beobachten lässt, liegt an dem hohen Unterhaltungswert, den Sport als alltägliches Phänomen bot.54Ihn boten oftmals auch die jungen Sportler selbst, als bekannte Per- sönlichkeiten der urbanen Elite.55Fußball war also zugleich ein idealer 51 Die Abgrenzung einer »Mittelklasse« von den traditionellen oligarchischen Eliten auf der einen und Land- und Fabrikarbeitern auf der anderen Seite kann in den beiden Städten Rio de Janeiro und São Paulo ab 1900 vorgenommen werden. Owensby spricht hier von einer noch etwas diffusen und nicht unbedingt sich selbst als homogene Klasse identifizierenden Gruppe von Stadtbewohnern, die nicht-manuellen Tätigkeiten nach- ging ( colarinho-branco ), wie zum Beispiel Ladenbesitzern, einfachen kaufmännischen Angestellten und aufstiegsorientierten Händlern sowie Studenten von Fächern der freien Berufe. Sogar Industrielle konnten sich als Angehörige dieser diffusen Gruppe sehen: Vgl. OWENSBY, Brian Philip, Intimate Ironies: Modernity and the Making of Middle- Class Lives in Brazil , Stanford, Calif. 1999, S. 26-35. 52 Vgl. P EREIRA , Footballmania, S. 41-55 ; O WENSBY , Intimate Ironies S. 22-26 und 31 ff. Zum bacharelismo s.: ADORNO, Sérgio, Os aprendizes do poder: o bacharelismo liberal na política brasileira , Rio de Janeiro 1988. 53 E ISENBERG , Medienfußball, S. 589 ff.; H OLLANDA , Bernardo Borges Buarque de, O descobrimento do futebol: modernismo, regionalismo e paixão esportiva em José Lins do Rego , Rio de Janeiro 2004, S. 128-156. 54 E ISENBERG , Medienfußball. 55 Kurioserweise richteten sich die ersten größeren Sportmagazine in São Paulo und Rio de Janeiro vor allem an Frauen. Neben Spielabläufen berichteten sie über das Leben 29 Einleitung 29 Gegenstand für die Medienlandschaft Anfang des 20. Jahrhunderts in den großen Städten, die einem sich stark verändernden Markt und Publikum ge- recht werden und die Schnelllebigkeit des urbanen Raumes abbilden wollte.56 Die Ausdifferenzierung der Medienlandschaft hing auch mit den tiefgrei- fenden sozialen Umwälzungen in den Städten zusammen. Gerade die Presse mit ihren neuen Genrebildungen bot sich für die Aushandlung von Identitäten an. Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts exis- tierte keine homogene Vorstellung einer nationalen brasilianischen Identi- tät, eher befanden sich unterschiedlichste gesellschaftliche und regionale Gruppen in einem Prozess ihrer Verhandlung und Erfassung. Eine homo- gene Identität, die einer europäischen ähnlich sei, war ein nie erreichtes Ideal zumeist »weißer« Eliten, wie Jeffrey Lesser argumentiert.57Die Reali- tät habe immer anders ausgesehen: Europäische und nicht-europäische Ein- wanderer, ehemalige Sklaven, »mestiços« suchten Ende des 19. Jahrhun- derts, zu dem Zeitpunkt an dem diese Studie ansetzt, einen Platz in der Gesellschaft, oder Eliten versuchten, ihnen einen Platz zuzuweisen.58 Eine Bestandsaufnahme der bisherigen Studien zur brasilianischen Fuß- ballgeschichte ergibt: Kaum eine Studie hat sich in einem über die Nation hinausgehenden Kontext mit der Geschichte des Fußballs und der Ver- handlung nationaler Identität befasst. Dabei zeigt sich schon bei einem nur in den elitären Klubs und besondere gesellige Anlässe im Zusammenhang mit dem Sport, wo sich die urbane Elite versammelte. 56 Zur Medienlandschaft in Brasilien Anfang des 20. Jahrhunderts: Vgl. B ARBOSA , Marialva, História cultural da imprensa: Brasil, 1900-2000 , Rio de Janeiro 2007, S. 1-101; MARTINS, Ana Luiza/LUCA, Tania Regina de (Hg.), História da imprensa no Brasil , São Paulo 2008. Speziell zu Zeitschriften in São Paulo in der Ersten Republik: MARTINS, Ana Luiza, Revistas em revista: imprensa e práticas culturais em tempos de república , São Paulo (1890-1922) , São Paulo 2001; CRUZ, Heloisa de Faria, São Paulo em papel e tinta: periodismo e vida urbana, 1890-1915 , São Paulo 2000. Zur Entstehung der Sportchronik: RAMADAN, Maria Ivoneti B., Crônica de Futebol: um subgênero, in: Pesquisa de Campo 5, 1995, S. 45-68; BOTELHO, Da geral à tribuna. 57 L ESSER , Jeffrey Howard, A negociação da identidade nacional: imigrantes, minorias e a luta pela etnicidade no Brasil , São Paulo 2000, S. 17-35. Zur Konstruktion nationaler Identität durch Intellektuelle und Schriftsteller der 1870er-Generation siehe: OLIVEIRA, Lúcia Lippi, A questão nacional na Primeira República , São Paulo 1990. Entsprechend für die Konstruktion regionaler Identität durch intellektuelle Eliten in São Paulo: FERREIRA, Antonio Celso, A epopéia bandeirante: letrados, instituições, invenção histórica (1870-1940) , São Paulo 2002. 58 L ESSER , A negociação da identidade nacional , S. 17-35 . 30 30 Einleitung oberflächlichen Blick auf die Quellen, dass selbst bei lokalen und nationa- len Spielen Bezüge auf andere Länder und Regionen konstant waren.59 Zugleich spielte in Rio de Janeiro, mehr noch in São Paulo, die Multiethnizität der brasilianischen Bevölkerung eine bedeutende Rolle für den Fußball, da sich Klubs entlang ethnischer und »rassischer« Markierun- gen gründeten. Auch hier entstanden im Zuge der Popularisierung Kon- flikte und Kämpfe im Sportraum, die Aufschluss über identitäre Konstruk- tionen in einer multiethnischen Gesellschaft geben können. In diesen Verhandlungen über regionale und nationale Identität in der transnationalen Sportgemeinschaft wurde immer auch die Kategorie »Rasse« mitverhan- delt. Die oben erfolgte Auswertung von Literatur aus der internationalen Sportgeschichte stützt eine aus der Globalgeschichte informierte, räumlich offene Herangehensweise, die neue Einsichten in die Konstruktion von Identitäten bringen kann. Der Studie liegt ein Identitätsbegriff im Sinne Bernhard Giesens zu Grunde, demzufolge Identitäten als konstruiert ver- standen werden.60 59 Als Ausnahme macht der Historiker Gregg Bocketti die Ergiebigkeit einer transnationalen Perspektive für die brasilianische Fußballgeschichte offensichtlich. Er untersucht die fragile ethnische Identität von Söhnen italienischer Immigranten, die Anfang 1931 Brasilien verließen, um als rimpatriati (eingebürgerte Italiener) für einen römischen Verein als Profis zu spielen: BOCKETTI, Greg P., Italian Immigrants, Brazi- lian Football, and the Dilemma of National Identity, in: Journal of Latin American Studies 40, 2008, S. 275-302. 60 Vgl. G IESEN , Bernhard, Kollektive Identität , Frankfurt am Main 1999. Über die soziale Konstruiertheit von (nationalen) Identitäten besteht inzwischen weitestgehend Konsens: Vgl. aus historischer Perspektive: HOBSBAWM, Eric J./RANGER, Terence (Hg.), The Invention of Tradition , London 1985; ANDERSON, Benedict, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzeptes , erw. Neuausg. Frankfurt am Main 1996. Zur Konstruktion »rassischer« und ethnischer Identitäten in Lateinamerika siehe etwa: WADE, Peter, Race and Ethnicity in Latin America , London 2010. Grundle- gend zum Identitätsbegriff sind auch die Beiträge in einem Sammelband von Aleida Assmann und Heidrun Friese: Vgl. insbes. STRAUB, Jürgen, Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs, in: Aleida ASSMANN/Heidrun FRIESE(Hg.), Identitäten (Erinnerung, Geschichte, Identität, 3) , Frankfurt am Main 1998, S. 73-104. Trotz vielfach geäußerter Kritik am Identitätsbegriff als wissenschaft- lichem Analyseinstrument wird hier an ihm festgehalten. Zur Kritik: Vgl. NIETHAMMER, Lutz, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur , Reinbek bei Hamburg 2000. Vgl. auch die Sammelrezension von Uffa Jensen zu Identitäten : JENSEN, Uffa, Rezension zu: Aleida ASSMANN/Heidrun FRIESE(Hg.), Identitäten. Frankfurt am Main 1998, in: H-Soz-u-Kult , 19.11.2000, URL: <http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=3959> (abgerufen am: 25.3.2009); DERS., Rezension zu: Niethammer, Lutz, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek bei Hamburg 2000, in: H-Soz-u-Kult , 19.11.2000, 31 Einleitung 31 Giesen sieht kollektive Identität so, dass Menschen soziale Situationen, die sie als unveränderlich und oftmals selbst gar nicht als konstitutiv wahr- nehmen, wie Rang, Status, Ressourcenverteilung, situationsabhängig kodi- fizieren. Nach Giesen gibt es drei Codes nach denen Menschen Grenzen ziehen, er unterscheidet zwischen primordialen, traditionalen und univer- salistischen Codes. Mit situativen Bedingungen kollektiver Identität meint er »Umstände, die jenseits der Verfügung der beteiligten Akteure liegen, aber dennoch die gemeinsame Herstellung von Grenzen nachdrücklich beeinflussen«.61Kollektive Identität werde aber nicht nach einem dieser Idealtypen von Codes und Situationen konstruiert, sondern meistens können mehrere dieser Typen zutreffend sein. Eine Gemeinschaft könne sich also sowohl auf primordiale Merkmale wie Religion und Geschlecht beziehen und zugleich auf eine gemeinsame Tradition oder sie könne eine zukunftsverheißende universale Ordnung propagieren. Kollektive Identität sei dabei weitaus fragiler als personale Identität, da, so Giesen, »individuelle Personen ihre körperliche Existenz als selbstverständlich gegeben betrachten können«, während »Grenzen zwischen Angehörigen und Außenstehenden im Falle sozialer Bewegungen nur über die Konstruktion kollektiver Identität bestimmbar« seien.62Es erscheint naheliegend, im Folgenden von Identitäten statt Identität zu sprechen, um dem Umstand gerecht zu werden, dass sich soziale Akteure situations- abhängig ganz unterschiedlichen Gemeinschaften zurechnen können.63 Übertragen auf den Zusammenhang von Fußball und Identitäten lassen sich Vorbehalte gegenüber einer zu leichtfertigen Annahme ausdrücken, dass sich eine Gemeinschaft über den Fußball ausschließlich und homogen zu einer bestimmten kollektiven Identität, nämlich zur Nation, bekennt und der Fußball auf diese Weise diesem Kollektiv immer wieder dazu dient, sich über sich selbst bewusst zu werden und wiederum anderen Kollektiven (Nationen) dieses Selbstbewusstsein deutlich zu machen. Diese Annahme würde darauf hinauslaufen, alle Selbstdarstellungen nach einem solchen Entstehungsmuster nationaler kollektiver Identität zu untersuchen. Einmal gefunden, wäre es zu leicht, alle Bezüge auf die Nation im Fußball immer URL:<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=3959> (abgerufen am: 25.3.2009). 61 G IESEN , Kollektive Identität , S. 69. 62 G IESEN , Kollektive Identität , S. 118. 63 Das legen die Beiträge im Sammelband von Aleida Assmann und Heidrun Friese nahe. Vgl. etwa: BAUMANN, Gerd, Ethnische Identität als duale diskursive Konstruk- tion. Dominante und demotische Identitätsdiskurse in einer multiethnischen Vorstadt von London, in: ASSMANNu.a. (Hg.), Identitäten , S. 288-313. 32 32 Einleitung auf diese eine angenommene kollektive Identität zurückzuführen und diese damit gleichsam zu essentialisieren.64 Wir haben es im Untersuchungszeitraum und an den Untersuchungsorten mit einer multi-ethnischen Gesellschaft zu tun, in der sich verschiedene Gruppen auf der Suche nach nationaler, aber auch regionaler und »rassi- scher« Identität befanden, mit den damit verbundenen unterschiedlichen sozialen Situationen und Kodifizierungen. Diese Gruppen konnten sich in ihren Äußerungen auf mehrere kollektive Identitäten gleichzeitig beziehen, beispielsweise auf die Nation und die Region. Zugleich konnten verschie- dene Gruppen unter der Herstellung völlig unterschiedlicher Bezüge, eine »Vorstellung« derselben kollektiven Identität entwerfen. Im Hinblick auf diese Schwierigkeiten ist es wichtig, auf die Offenheit der Kategorie Iden- tität zu verweisen, die in der vorliegenden Untersuchung durch drei quer durch die Arbeit verlaufende Analyseachsen berücksichtigt wird. Das sind die Kategorien »Rasse«, Region und Nation. F ORSCHUNGSSTAND Sport ist in den letzten Jahren häufig Gegenstand von globalhistorisch und transnational angelegten Studien geworden, vor allem in den USA und Großbritannien.65 Für die Geschichte des Fußballs in Brasilien existieren keine Studien, in denen der Faden der hierzulande populären Globalgeschichte und transna- tionalen Geschichte aufgenommen worden wäre.66Die vermehrt in den letzten zwanzig Jahren entstandenen wissenschaftlichen historischen Ar- beiten zum Fußball konzentrieren sich auf klassische sozialhistorische Themen, auf die Frage nach »Rasse«, Klasse und Nation in einer nationalen 64 Eine neue Herausforderung für die Identitätsdebatte entsteht durch das Denken der Konstruktion von transnationalen Identitäten und sogar transnationalen Öffentlichkei- ten: Vgl. KAELBLE, Hartmut/KIRSCH, Martin/SCHMIDT-GERNIG, Alexander, Zur Entwicklung transnationaler Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert. Eine Einleitung, in: DIES. (Hg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert , Frankfurt/New York 2002, S. 7-36. 65 Ein Beispiel ist die Studie der Historikern Barbara Keys, die in einer transnationa- len Perspektive Sport als Mittel der Diplomatie und Außendarstellung in den 1930er- Jahren durch die USA, die Sowjetunion und Deutschland unter dem Nationalsozialis- mus betrachtet hat: Keys, Globalizing Sport . 66 Auch der brasilianische Sporthistoriker Victor de Melo plädiert für eine Berück- sichtigung transnationaler und globalhistorischer Ansätze in der brasilianischen Sport- geschichte und verweist auf Forschungsdesiderate: MELO(Hg.), História comparada do esporte , S. 17. 33 Einleitung 33 oder lokalen Perspektive oder geben einen synthetisierenden Überblick.67 Vor allem der Zusammenhang zwischen Fußball und der Konstruktion nationaler Identität war ein bevorzugtes Thema vergangener Forschung.68 Eine für die vorliegende Arbeit grundlegende Studie ist die Sozialge- schichte des Fußballs in Rio de Janeiro von Leonardo Pereira, der die bis dahin anekdotische, teilweise positivistische und wenig quellenbasierte Geschichtsschreibung des Fußballs in Brasilien kritisierte und in einer empirisch fundierten und differenzierten Verbindung von Kultur- und Sozialgeschichte die Aneignung und Popularisierung des Fußballs in Rio de Janeiro darstellte.69Tatsächlich haben bis in die 1990er-Jahre vor allem Forscherinnen und Forscher der Sozialwissenschaften und Anthropologie Fußball zum Forschungsgegenstand gemacht, dabei aber eher eine gegen- wartsbezogene Perspektive eingenommen.70 Historische Darstellungen des Fußballs beschränkten sich lange auf sol- che von Journalisten der großen Tageszeitungen aus São Paulo und Rio de Janeiro, die über ihn in Form historischer Chroniken schrieben.71Diese 67 Vgl. C ALDAS , Waldenyr, O pontapé inicial: memória do futebol brasileiro (1894- 1933) , São Paulo 1990; FRANCOJÚNIOR, Hilário, A dança dos deuses: futebol, cultura, sociedade , São Paulo 2007; FRANZINI, Fábio, Corações na ponta da chuteira: capítulos iniciais da história do futebol brasileiro (1919-1938) , Rio de Janeiro 2003; HOLLANDA, O descobrimento do futebol ; Teixeira DASILVA, Francisco Carlos/SANTOS, Ricardo Pinto dos (Hg.), Memória social dos esportes – Futebol e política: a construção de uma identidade nacional , Rio de Janeiro 2006. 68 Vgl. nur einige Publikationen zur Geschichte des südamerikanischen Fußballs, wo dies schon im Titel deutlich wird: ARCHETTI, Eduardo P., In Search of National Identity: Argentinian Football and Europe, in: J. A. MANGAN(Hg.), Tribal Identities: Nationalism, Europe, Sport , London 1996, S. 201-219; BOCKETTI, Italian Immigrants; DERS., Playing with National Identity: Brazil in International Football, 1900-1925, in: Hendrik KRAAY(Hg.), Negotiating Identities in Modern Latin America , Calgary 2007, S. 71-89; KARUSH, Matthew B., National Identity in the Sports Pages: Football and the Mass Media in 1920s Buenos Aires, in: The Americas 60, Juli 2003, Nr. 1, S. 11-32; LEITELOPES, José Sérgio, Transformations in National Identity through Football in Brazil: Lessons from Two Historical Defeats, in: MILLERu. a. (Hg.), Football in the Americas , S. 75-93; ANTUNES, Fátima Martin Rodrigues Ferreira, »Com brasileiro, não há quem possa!«: futebol e identidade nacional em José Lins do Rego, Mário Filho e Nelson Rodrigues , São Paulo 2004. 69 Vgl. P EREIRA , Footballmania . 70 Vgl. eine der ersten und grundlegenden Veröffentlichungen zum Fußball in Brasilien: DAMATTA, Roberto/GUEDES, Simoni Lahud/FLORES, Luiz Felipe Baêta Neves/VOGEL, Arno (Hg.), Universo de Futebol , Rio de Janeiro 1982. Siehe auch die Beiträge in einer Sonderausgabe der Revista USP : Revista USP , Dossiê futebol , São Paulo Juni/August 1994, Nr. 22. Siehe auch die soziologische Studie von LEVER, Janet, Soccer Madness , Chicago 1983. 71 F IGUEIREDO , Antônio, História do Foot-Ball em São Paulo , São Paulo 1918; SANT'ANNA, Leopoldo, Supremacia e decadência do futebol paulista , São Paulo 1925; 34 34 Einleitung Darstellungen dienen heute als Quellen. Spärlich waren lange historisch fundierte Beiträge, die meisten bezogen sich unkritisch auf diese histo- rischen Texte oder das Buch des Journalisten Mário Filho O Negro no futebol brasileiro ,72arbeiteten eher unsystematisch oder wenig mit Primär- quellen oder sind im Bereich der populärwissenschaftlichen Literatur anzu- siedeln.73Andere wiederum beschäftigten sich mit einzelnen Klubs.74Zu den hauptsächlich in den Sozialwissenschaften und der Anthropologie verorteten Studien, kamen in den letzten Jahren eine Reihe von kritischen historischen Arbeiten.75Darüber hinaus zeugt eine Fülle von kürzlich erschienen Dissertationen und Magisterarbeiten von der Anerkennung modernen Sports als Forschungsgegenstand und von der Lebendigkeit des Forschungsbereiches Fußballgeschichte.76Ein Beispiel für eine verglei- M AZZONI , Thomaz, História do futebol , São Paulo 1950; F ILHO , Mário, O negro no futebol brasileiro , 4. Aufl., Rio de Janeiro 2003 (1947). 72 Vgl. F ILHO , O negro no futebol brasileiro . Kritisch und ausführlicher hierzu: Hollanda, O descobrimento do futebol , S. 144-149 und SOARES, Antônio Jorge, História e a invenção de tradições no futebol brasileiro, in: Revista Estudos Históricos 13, 1999, Nr. 23: Esporte e Lazer, S. 119-147. 73 Es gibt unzählige populärwissenschaftliche Bücher, vor allem von Journalisten. Ein Beispiel in deutscher Übersetzung: BELLOS, Alex, Futebol: Fussball - Die brasilia- nische Kunst des Lebens , Berlin 2004. Erste historische und wissenschaftlich fundierte Ansätze lieferte der Historiker Robert M. Levine: Vgl. LEVINE, Robert M., Sport as a Dramaturgy for Society: A Concluding Chapter, in: Joseph L. ARBENA(Hg.), Sport and Society in Latin America: Diffusion, Dependency and the Rise of Mass Culture, London u. a. 1988, S. 137-146; DERS., Sport and Society: The Case of Brazilian »futebol«, in: Luso-Brazilian Review 17, 1980, Nr. 2, S. 233-252. 74 So etwa: A RAÚJO , José Renato de Campos, Imigração e futebol. O caso Palestra Itália, São Paulo 2000; NEGREIROS, Plínio José Labriola de Campos, Resistência e rendição: A gênese do Sport Club Corinthians Paulista e o futebol oficial em São Paulo , 1910-1916, unveröffentl. dissertação de mestrado em História, Pontifícia Universidade Católica de São Paulo, São Paulo 1992. 75 Siehe S ILVA , Carlos Leonardo Bahiense da, Sobre o negro no futebol brasileiro, de Mário Filho, in: TEIXEIRADa SILVAu. a. (Hg.), Memória social dos esportes , S. 287-312; SOARES, Antônio Jorge, Futebol brasileiro e sociedade: a interpretação culturalista de Gilberto Freyre, in: ALABARCES(Hg.), Futbologías , S. 145-162; DERS., O Racismo no futebol do Rio de Janeiro nos anos 20: uma história de identidade, in: Ronaldo HELAL/Antônio Jorge SOARES/Hugo LOVISOLO(Hg.), A invenção do país do futebol: mídia, raça e idolatria , Rio de Janeiro 2001, S. 101-122. 76 Vgl. G ONÇALVES J ÚNIOR , René Duarte, Friedenreich e a reinvenção de São Paulo: o futebol e a vitória na fundação da metrópole , unveröffentl. dissertação de mestrado Universidade de São Paulo, São Paulo 2008; NEGREIROS, Plínio José Labriola de Campos, A nação entra em campo: futebol nos anos 30 e 40 , unveröffentl. dissertação de doutorado, Pontíficia Universidade Católica de São Paulo, São Paulo 1998;SOUZA, Denaldo Alchorne de, O Brasil entra em campo!: construções e reconstruções da identidade nacional (1930-1947) , Rio de Janeiro 2008. Vgl. auch die Arbeiten des historisch arbeitenden Geografen Gilmar Mascarenhas zu Fußball in Rio Grande do Sul: 35 Einleitung 35 chende und über die Nation hinausblickende Arbeit über den Fußball in Südamerika ist die historische Studie von Tony Mason, der allerdings die südamerikanischen Länder ohne Verknüpfungen nebeneinander stellt.77 Auch der US-amerikanische Historiker Gregg Bocketti hat vergleichend über die Entstehung und Verbreitung des Sports in Brasilien gearbeitet und neue Perspektiven auf den Fußball geöffnet.78 Die vorliegende Studie stützt sich in Teilen auf die in den Dissertationen und Vereinsstudien sowie den grundlegenden Arbeiten von Leonardo Pereira zusammengetragenen Daten und Einordnungen, grenzt sich aller- dings in der transnationalen Perspektive und im Blick über die Grenzen von ihnen ab. Die Herangehensweise an die Konstruktion von Identitäten über den Fußball bringt divergierende Formen der »Sinnstiftungen« an die Ober- fläche. Die Vereinnahmungen für divergierende, auch regionale Identitäts- konstruktionen zeigen, wie politisch Fußball im Untersuchungszeitraum schon war. Wie die Arbeiten von Leonardo Pereira für Rio de Janeiro veranschau- lichen, war Fußball schon vor 1930 äußerst populär und wurde zunehmend als Nationalsport angesehen. Er weist auch nach, dass Getúlio Vargas 1930 leicht an diese Entwicklungen anknüpfen konnte, um den Fußball politisch für sein nationales Zentralisierungsprojekt zu nutzen.79Ähnlich argumen- tiert der Historiker Plínio Negreiros: So habe zum Beispiel die Regierung die Weltmeisterschaft 1938 in Frankreich als einen »Test der brasiliani- schen Nation in Europa« betrachtet.80Fußball habe in der Vargas-Ära als »Bindeglied der nationalen Einheit« fungiert.81 Die vorliegende Studie nimmt hier weitere Differenzierungen vor, denn schon vor 1930 erkannten Eliten – Journalisten, Sportfunktionäre und Sportler und selbst das immer größer werdende Publikum – eine politische M ASCARENHAS , Gilmar de Jesus, O futebol da »canela preta«: o negro e a modernidade em Porto Alegre, in: ANOS 90. Revista do Programa de Pos-Graduação em História 11, 1999, S. 144-161; DERS., A bola nas redes e o enredo do lugar. Uma geografia do futebol e de seu advento no Rio Grande do Sul , unveröffentl. dissertação de doutorado em Geografia Humana, Universidade de São Paulo, São Paulo 2001. 77 R INKE , Stefan, Historias del fútbol en América Latina – historias de sociedades y culturas, in: RIBEIRO, Luiz (Hg.), Futebol e Globalização , Jundiaí 2007, S. 187-209, hier 189; DERS., La última pasión verdadera? Historia del fútbol en América Latina en el contexto global, in: Iberoamericana 7, Nr. 27 2007, S. 85-100. Vgl. MASON, Passion of the People? 78 B OCKETTI , The Creolization ; D ERS ., Playing with National Identity. 79 Vgl. P EREIRA , Footballmania , insbes. S. 338. 80 N EGREIROS , Futebol nos anos 1930 e 1940, S. 130. 81 Ebd., S. 143. 36 36 Einleitung Bedeutung des Fußballs. Es waren zwar überwiegend nicht-staatliche Ak- teure, die im Fußball eine Darstellungsform »nationaler Einheit« oder auch regionaler Überlegenheitsansprüche sahen, doch waren ihre Handlungen deshalb nicht weniger politisch. Die brasilianische Regierung unterstützte Sportfeste und Reisen von Vereinsmannschaften finanziell und über per- sönliche Verbindungen zwischen der Regierung und diesen nicht-staatli- chen Akteuren. Und die Medien spielten hier eine Schlüsselrolle, da sie Fußball einordneten, ihm Sinn zuschrieben und ihn im transnationalen Kontext verorteten. Das Verständnis des Fußballs als »Bindeglied der nationalen Einheit« trat also schon weit vor 1930 auf und auch internatio- nale Fußballbegegnungen fungierten schon seit dem Ende des Ersten Welt- krieges als Testfelder für die brasilianische Nation oder für regionale Vor- stellungen nationaler Identität. Auch das Projekt der Formierung eines »neuen brasilianischen Men- schen« unter Vargas hat Vorläufer in der Idee der Schaffung einer harmo- nischen, uniformen raça brasileira (»brasilianische Rasse«) über den Fuß- ball, wie sie vor allem seit dem Ersten Weltkrieg vermehrt formuliert wurde.82Politische Eliten der Vargas-Ära »erfanden« keine völlig neuen Zugriffsweisen auf den Sport und die Ideen der Formation eines »neuen brasilianischen Menschen« und der politischen Nutzung des Sports waren nicht aus dem Nichts gegriffen. Vielmehr bestand hier eine Kontinuität zu Entwicklungen und Ideen der 1920er-Jahre, die anschlussfähig für das Vargas-Regime waren und die Sportfunktionäre in den 1930er-Jahren in- stitutionell umsetzten.83Die Kontinuität ging über Ideen hinaus und bezog sich auch auf Akteure, die in den 1930er-Jahren eine Schlüsselrolle im Zentralisierungs- und Politisierungsprojekt Vargas‘ spielen sollten. Allerdings gab es hier auch Diskontinuitäten. Das politische Projekt, das Vargas auch über den Fußball verfolgte, richtete sich in großen Teilen auch gegen die dezentralen Kräfte der Ersten Republik.84In der vorliegenden 82 Für das Konzept der raça brasileira in der ausgehenden Ersten Republik und des »neuen brasilianischen Menschen« unter Vargas: Vgl. DÁVILA, Jerry, Diploma de brancura: política social e racial no Brasil 1917-1945 , São Paulo 2006, S. 47-93. Zur Idee des »neuen brasilianischen Menschen« in Bezug auf Sportpolitik ab 1934: Vgl. JACKSON, Gregory, The New Brazilian Man: Football, Eugenics and Public Policy, 1934-1946, in: Christina PETERS/Stefan RINKE(Hg.), Global Play: Football between Region, Nation, and the World in Latin American, African, and European History , Stuttgart 2014, S. 143-170. 83 Vgl. J ACKSON , The New Brazilian Man. 84 Zu Vargas und Regionalismen siehe: G OMES , Ângela Maria de Castro (Hg.), Regionalismo e centralização política: partidos e constituinte nos anos 30, Rio de 37 Einleitung 37 Studie wird deshalb untersucht, wie Paulistaner Eliten über den Fußball den Anspruch verfolgten, eine nationale brasilianische Identität nach außen und innen unter Paulistaner Vorzeichen darzustellen und zu formulieren. Ob- gleich Vargas gegen diese Fliehkräfte arbeitete und mit der Zentralisierung eine solche Paulistaner Anspruchsverwirklichung aushebelte, so ist doch ein wichtiges Ergebnis, dass für die langfristige und nachhaltige diskursive Konstruktion einer regionalen Paulistaner Überlegenheit der Fußball eine zentrale Rolle spielte.85 Der letzte Themenbereich kann auch deshalb hier herausgearbeitet wer- den, weil Quellen aus Rio de Janeiro und São Paulo berücksichtigt werden. In vorherigen Studien stand oftmals Rio de Janeiro im Vordergrund, was eine Einschränkung bedeutet, da die Internationalisierung des Fußballs entschieden auch von Paulistaner Fußballakteuren vorangetrieben wurde. Es existieren kaum auf ausreichendem Quellenstudium basierende histori- sche Studien des frühen Fußballs in São Paulo, zumindest keine Arbeit, die mit Pereiras Sozialgeschichte zu Rio de Janeiro vergleichbar wäre.86Indem der Blick auf Rio de Janeiro und São Paulo gerichtet wird, erfolgt eine Erweiterung des Zugriffs. Q UELLEN UND M ETHODE Die weiter oben skizzierte Interdependenz zwischen Presse und Fußball- diffusion bildet Ausgangspunkt der hier verwendeten Methode. Die Tages- zeitungen, in denen Sportnachrichten einen immer größeren Platz einnah- men, und die sportspezifischen Zeitschriften bildeten Sprachrohre sportbe- geisterter sozialer Akteure aus den Städten Rio de Janeiro und São Paulo. Janeiro 1980; H ENTSCHKE , Jens R. (Hg.), Vargas and Brazil: New Perspectives , New York u.a. 2006. 85 Vgl. zur diskursiven Konstruktion einer Paulistaner Identität in dieser Zeit: WEINSTEIN, Barbara, Racializing Regional Difference. São Paulo versus Brazil, 1932, in: Nancy P. APPELBAUM/Karin Alejandra ROSEMBLATT/Anne S. MACPHERSON(Hg.), Race and Nation in Modern Latin-America , London 2003, S. 237-262. Siehe auch ihr kürzlich erschienener Aufsatz zu einer »paulistaner transnationalen Mittelschichtsiden- tität«: WEINSTEIN, Barbara, Weiß, männlich, Mittelschicht: Regionalismus, Transnatio- nalismus und Klassenidentität im São Paulo des frühen 20. Jahrhunderts, in: Georg FISCHER/Christina PETERS/Stefan RINKE/Frederik SCHULZE(Hg.), Brasilien in der Welt. Region, Nation und Globalisierung 1870-1945 , Frankfurt am Main 2013, S. 320-347. 86 Waldenyr Caldas arbeitet zu São Paulo und Rio de Janeiro, greift jedoch sehr stark sportpolitische Fragestellungen auf und konzentriert sich vor allem auf die Einführung des Profi-Fußballs: Vgl. CALDAS, O pontapé inicial . Für eine kulturhistorische Einordnung des Fußballs im São Paulo der 1920er-Jahre siehe: SEVCENKO, Nicolau, Orfeu extático na metrópole: São Paulo, sociedade e cultura nos frementes anos 20 , São Paulo 1992, S. 24-73. 38 38 Einleitung Die Inhalte der Pressetexte gingen weit über Ankündigungen und Berichte über Spiele hinaus. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Presse und der Popularisierung des Fußballs gab es nun Hintergrundberichte, Interviews mit Sportlern und – gerade in den 1920er-Jahren – eine viel- schichtige Berichterstattung über den Zusammenhang von Sport und Hygiene sowie Sport und Medizin. In Leitartikeln erörterten die wichtigs- ten Sportjournalisten, angesehene Wissenschaftler und Schriftsteller die gesellschaftliche Bedeutung des Fußballs, seinen Nutzen und seinen Scha- den. In Diskussionen, an denen auch Leser teilnahmen, debattierten Sport- begeisterte über Auswahlen für anstehende Spiele und verhandelten auf diesem Wege über Vorstellungen, wie ihre Stadt, die Region oder Brasilien nach außen auftreten und dargestellt werden sollte. Die Presse war damit weit mehr als Vermittler und Sprachrohr. Entsprechend sind die Debatten in der Sportpresse nicht nur als Linse zu sehen, durch die auf andere gesellschaftliche Bereiche geschaut werden kann. Ausgehend vom Verständnis des Sports als »Eigenwelt« und der Interdependenz von Presse und Sport durch die starken personellen Ver- knüpfungen der Akteure, ist die Presse als diskursprägend einzuordnen, das heißt, sie ordnete, normierte, stiftete Sinn und stellte Dinge in einen Zu- sammenhang.87Dabei spielten transnationale Bezüge eine beträchtliche Rolle, wie sich in den anschließenden Kapiteln zeigen wird. Die Arbeit ist jedoch keine klassische linguistische Diskursanalyse, in der zum Beispiel der Häufigkeit von Begriffen und der Regelhaftigkeit ihrer Verwendung nachgegangen wird. Vielmehr soll ermittelt werden, wie Akteure gerade über die Sportpresse Identitätsvorstellungen durch Bezüge auf transnationale Ereignisse diskursiv herstellten und prägten. Der Diskursbegriff, der dieser Arbeit zugrundeliegt, knüpft an die Arbeit Frank Beckers an, der die »Amerikanisierung« in der Weimarer Republik als einen »Interdiskurs« des Sports als Alternativangebot zu einem »Inter- diskurs« der Militarisierung untersucht hat, mit dem Intellektuelle eine Modernisierung von Politik, Ökonomie und Kultur nach amerikanischem Modell für diese Epoche vorschlugen.88Becker zufolge existieren in moder- nen, arbeitsteiligen Gesellschaften Spezialdiskurse, die zur Verständigung eines vermittelnden »Interdiskurses« bedürfen. Demzufolge repräsentiere 87 Mit dem Konzept der »Eigenwelt« und der »Sinnstiftung« orientiere ich mich im Folgenden an Christiane Eisenberg: EISENBERG, » English sports« , S. 12-16; siehe auch: EISENBERG, Medienfußball. 88 Vgl. B ECKER , Frank, Amerikanismus in Weimar. Sportsymbole und politische Kul- tur 1918-1933 , Wiesbaden 1993, zugl. Diss. phil., Münster 1992. 39 Einleitung 39 der »Interdiskurs« »einen einheitlichen Bildraum [Hervorh. im Original]«, in dem »die Divergenz der Spezialdiskurse durch den Rückbezug auf ein- heitliche Bilder« aufgehoben werde. Auf diese Weise geschehe eine Ein- bindung in eine »übergreifende und damit einheitsstiftende diskursive Ordnung«.89Solche einheitlichen Bilder hat Becker als Symbole untersucht, die Intellektuelle diskursiv über eine »Vertextung« in Zeitschriften, Zeitun- gen und Literatur herstellten und deuteten, um dem neuen und populär werdenden Phänomen des Sports einen Sinn zu geben.90 Auch der vorliegenden Studie liegt ein ähnlicher Quellenkorpus zu- grunde, über den Journalisten, Schriftsteller und Sportfunktionäre vor allem Sinnstiftungen vornahmen und auf diese Weise wiederum selbst zur Popu- larität des Fußballs beitrugen. Analog zum »Interdiskurs« einer Moder- nisierung nach amerikanischem Vorbild gilt für den Sportdiskurs in den beiden Städten Rio de Janeiro und São Paulo in erster Linie die Vermitt- lung einer Modernisierung nach europäischem Vorbild. Über den Fußball- diskurs bildeten die Akteure außerdem andere Spezialdiskurse ab. Das war zuerst das Amateurethos, das sie sich aneigneten, um auf diesem Wege Vorstellungen eines »zivilisierten« und später auch nationalen, also brasilianischen, sportsman zu vermitteln. Weiterhin interagierte der Fußballdiskurs mit Spezialdiskursen über »rassische« Identität, über eine regionale Überlegenheit und einen regionalen Repräsentationsanspruch São Paulos und mit nationalen Differenzierungen gegenüber Argentinien, Uru- guay und europäischen Ländern. In Verbindung mit den weiter oben gemachten Ausführungen zur Trans- nationalität der Medien ist noch einmal zu betonen, dass die Diskurse in ständiger Bezugnahme und unter Verweis auf Beispiele in anderen Län- dern, also nicht selbstverständlich in einem geschlossenen Raum produziert wurden: Die Grenzziehung von Räumen selbst war eine diskursive Praxis.91 Im hier zugrundeliegenden Diskursverständnis werden neben Texten auch körperliche Handlungen von Akteuren als diskursives Handeln aus- 89 Ebd., S. 20 f. 90 Ebd. 91 C ONRAD u.a., Globalgeschichte, S. 28. Zum neuen Raumverständnis im Zusam- menhang mit dem für die Transnationale Geschichte wichtigen »spatial turn« siehe: LAMBERT, David/LESTER, Alan (Hg.), Colonial Lives Across the British Empire: Impe- rial Careering in the Long Nineteenth Century , Cambridge 2006; LÖW, Martina, Raum- soziologie , 1. Aufl., Frankfurt am Main 2001. Kritisch zur Annahme einer völligen Entgrenzung: HAUSBERGER, Bernd, Globalgeschichte als Lebensgeschichte(n), in: DERS. (Hg.), Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen , Wien 2006, S. 9-27, hier 20. 40 40 Einleitung gelegt.92Damit verhält sich der zugrundegelegte Diskursbegriff auch offen gegenüber kommunikativen Handlungen, wie zum Beispiel der körper- lichen und damit materiellen Inszenierung von Identitätsvorstellungen.93 Für beide Städte wurden die wichtigsten und größten Tageszeitungen der Zeit mit Sportteilen anhand ausgewählter wichtiger Schlüsseldaten, vor allem internationaler Spielbegegnungen, und den Schlüsselkategorien der drei Untersuchungsachsen »Rasse«, Region und Nation ausgewertet. Für São Paulo war dies für den Zeitraum 1918 bis 1930 vor allem die Ta- geszeitung A Gazeta. Sie hatte sich nach der Übernahme durch Casper Líbero 1918 zur wichtigsten Sportzeitung im Staat São Paulo entwickelt. Und sie berücksichtigte im Gegensatz zur zweiten ausgewerteten Tages- zeitung O Estado de São Paulo auch die kleineren Klubs aus den Vororten. O Estado de São Paulo , als repräsentatives Medium der Elitenakteure, wurde als eine der wichtigsten Tageszeitungen mit Sportberichterstattung ebenso nach diesen Schlüsseldaten ausgewertet, dies geschah ergänzend zu der vorhandenen Zusammenstellung aus dieser Zeitung im Archiv des Sportklubs C. A. Paulistano (hier von 1901-1930). Für Rio de Janeiro wurde nach oben genannten Kriterien die Zeitung Gazeta de Notícias (1906, 1908, 1917-1930) untersucht, die ebenfalls eine der ersten Zei- tungen mit differenzierter Sportberichterstattung war, und komplementär dazu die Zeitungen O Imparcial , O Paiz und Correio da Manhã . Einen weiteren Quellenkorpus bildeten die zahlreichen Sportzeitschriften, von denen einige ab den 1920er-Jahren sogar täglich erschienen. Die wich- tigsten darunter: Supplemento Sportivo D’O Imparcial (Rio de Janeiro, 1921-1922), Rio Sportivo (Rio de Janeiro, 1909 und 1926-1930), Vida Sportiva (Rio de Janeiro, 1917-1921).94Zusätzlich ausgewertet wurden einzelne Ausgaben der Zeitschriften A Cigarra Sportiva (São Paulo), Sport 92 Vgl. L ANDWEHR , Achim, Historische Diskursanalyse , Frankfurt am Main 2008, S. 92-95. 93 Vgl. zur Kritik an einer Begrenztheit der diskursanalytischen Untersuchung von Identitätskonstruktionen und ihrer hypothetischen Ausblendung von kommunikativen Handlungen: JENSEN, Rezension zu: Aleida ASSMANN/Heidrun FRIESE(Hg.), Identitä- ten, 2000. Zum hier zugrunde gelegten Diskursbegriff und der Einbeziehung von Materialitäten: Vgl. LANDWEHR, Historische Diskursanalyse , S. 95. Zum Begriff der Inszenierung: Vgl. MARTSCHUKAT, Jürgen/PATZOLD, Steffen, Geschichtswissenschaft und »performative turn«. Eine Einführung in Fragestellungen, Konzepte und Literatur, in DIES. (Hg.) , Geschichtswissenschaft und »performative turn«. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit , Köln 2003, S. 1-31. 94 Die Daten in Klammern beziehen sich auf die jeweiligen Auswertungszeiträume, die sich bei den Zeitschriften weitestgehend mit den Erscheinungszeiträumen über- schneiden. 41 Einleitung 41 Illustrado (Rio de Janeiro), Sports (São Paulo) und Sports Magazine (Rio de Janeiro). Auch in Rio de Janeiro konnte auf Sammlungen von Zeitungsartikeln im Archiv des Sportklubs Fluminense F.C. zugegriffen werden. Einen zweiten Quellenkorpus stellen die schon oben erwähnten Veröf- fentlichungen namhafter Sportjournalisten der Zeit dar, die im Untersu- chungszeitraum oder kurz danach schon Geschichten des Fußballs verfass- ten.95Die Akteursperspektive konnte auch durch die Auswertung von Nachlassdokumenten eines Journalisten bzw. durch die Berücksichtigung der Publikation eines Fußballspielers erweitert werden.96Ergänzt wurden die beiden Quellenkorpora durch Dokumente aus diversen Archiven in Rio de Janeiro ( Arquivo Nacional , Biblioteca Histórica do Itamaraty ) und São Paulo ( Instituto de Estudos Brasileiros / USP , Arquivo Municipal Washing- ton Luís , Arquivo Público do Estado de São Paulo , Instituto Martius Staden ) und durch Dokumente aus Fußballklubs selbst, soweit diese über Archive verfügten (Fluminense F. C., C.A. Paulistano, E.C. Pinheiros [ehe- mals S.C. Germânia]). Aus Interesse am Zusammenhang zwischen Fußball und Politik oder Diplomatie waren gerade die Dokumente aus dem brasilianischen Außen- ministerium und aus Fußballklubs hilfreich, zumal letztere als nicht-staatli- che Akteure internationale Begegnungen organisierten. Mit Hilfe dieser Dokumente ist eine Rekonstruktion transnationaler Beziehungen möglich, die über den Nationalstaat hinausgingen und in denen eine lokale mit einer globalen Ebene verbunden war. In der Auswahl der Quellen ist jedoch auch eine Begrenztheit angelegt: Die frühe Sportpresse wurde von Angehörigen der urbanen Eliten heraus- gegeben und ihre Zielgruppe war die alphabetisierte Stadtbevölkerung. Auch die Erweiterungen des Quellenkorpus um Dokumente aus Elite- Fußballklubs, aus Nachlässen und Veröffentlichungen von Sportlern und Sportjournalisten können diese soziale Begrenztheit kaum auflösen.97Aus 95 Vgl. F IGUEIREDO , História do Foot-Ball; M AZZONI , História do futebol ; SANT'ANNA, Supremacia . Von Mazzoni auch die ab 1928 jährlich herausgegebenen Almanache zum Sport: MAZZONI, Thomaz, Almanaque Esportivo (1° anno) , São Paulo 1928. 96 Nachlass von Afonso Vasconselos Varzea, cod: IW, cx. 14, pac. 2, AN; C ORRÊA , Floriano Peixoto, Grandezas e misérias do nosso futebol , Rio de Janeiro 1933. 97 Arbeiterklubs haben keine eigenen Archive hinterlassen oder ein Zugang war nicht möglich. Ein Grund für die schwierige Quellensituation ist, dass einige große Klubs der Zeit vor 1930 nach Einführung des Profi-Fußballs nicht mehr weiter existierten oder sich aus dem Fußball zurückzogen. 42 42 Einleitung diesem Grund konzentriert sich die vorliegende Arbeit auf Elitenakteure und auf Angehörige der neu entstehenden Mittelschichten, die besonders stark am Sport interessiert waren. Wo es möglich ist, wird die Position von subalternen Akteuren berücksichtigt; dies geschieht allerdings eher aus Berichten über sie. Die Auswahl Rio de Janeiros und São Paulos für die Untersuchung liegt darin begründet, dass die beiden Städte Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die Sportzentren Brasiliens waren, von denen aus lokale und nationale Verbände in Verbindung zu anderen nationalen Verbänden und zur FIFA standen und in denen im Untersuchungszeitraum die ersten und meisten internationalen Spiele stattfanden. Im Zusammenhang werden beide Städte als Sportraum konzeptualisiert. Das hier zugrunde liegende Sportraum-Verständnis geht auf Andrei S. Markovits und Steven L. Hellermanns Studie zu Fußballentwicklung in den USA zurück.98Wie Mar- kovits u.a. an anderer Stelle ausführten, ist Sport in einem räumlichen Ver- ständnis als »contested cultural territory« zu sehen.99Durch diese Betrachtungsweise können die konstanten Aushandlungen von Machtposi- tionen und hegemonialer Dominanz untersucht werden. Dieser Sportraum bestehe nicht nur aus materiell-physischen Manifestationen sportlicher Aktivität, wie Klubanlagen, Stadien, Sportstätten, sondern er sei vor allem »culturally constructed«.100In ihm sei eine Sportart dominant und diese Do- minanz werde kulturell immer wieder reproduziert. Es handle sich also nicht um einen statischen Raum, der a priori vorhanden und von Gruppen besetzt sei, er werde erst durch die Aushandlung und den Kampf um die Hegemonie der sozialen Akteure kulturell konstruiert.101 Auch in brasilianischen Städten erhoben schon Anfang des 20. Jahrhun- derts verschiedene soziale Gruppen Anspruch auf den öffentlichen Raum und damit auch auf die Ausübung des Sports.102Sowohl Rio de Janeiro als 98 Vgl. M ARKOVITS , Andrei S./H ELLERMAN , Steven L., Offside: Soccer and American Exceptionalism , Princeton u.a. 2001 und MARKOVITS, Andrei S./TOMLINSON, Alan/YOUNG, Christopher, Mapping Sports Space, in: American Behavioral Scientist 46, 2003, S. 1463-1475, insbes. S. 1470-1471. 99 M ARKOVITS u. a., Mapping Sports Space, S. 1471. 100 Ebd., S. 1470. 101 Ebd., S. 1471. Die Annahmen von Markovits u. a. beziehen sich auf Pierre Bour- dieu, der als erster die Existenz eines Sportraumes bzw. eines »Feld[es] der Sport- praktiken« beschrieben hat, das »Schauplatz von Kämpfen« sei: BOURDIEU, Pierre, Sport and Social Class, in: Social Science Information 17, 1978, Nr. 6, S. 819-840, hier 826; BOURDIEU, Historische und soziale Voraussetzungen modernen Sports, S. 98 f. 102 H ERSCHMANN , Micael/L ERNER , Kátia, Lance de sorte: o futebol e o jogo do bicho na Belle Époque Carioca , Rio de Janeiro 1993, S. 19-20. 43 Einleitung 43 auch São Paulo erlebten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts grundlegende Transformationen: Ein rasantes Bevölkerungswachstum, die Gleichzeitig- keit unfreier und freier Arbeit mit dem Beginn einer kapitalistischen Marktwirtschaft, den Zustrom europäischer und nicht-europäischer Im- migranten und von Arbeitern und ehemaligen Sklaven aus dem Hinterland, Diskontinuitäten und Kontinuitäten in der politischen Ordnung im abrupten Übergang vom Kaiserreich zur Republik. Diese Transformationen drückten sich unter anderem in städtebaulichen Reformen aus, wie der»Haussman- nisierung« Rio de Janeiros unter Pereira Passos und der damit einherge- henden sozialräumlichen Marginalisierung der armen Bevölkerungsteile.103 In dieser sich wandelnden räumlichen Ordnung, so meinen Kátia Lerner und Micael Herschmann, kämpften Angehörige unterschiedlicher sozialer Schichten um ihren Platz in der Stadt. Spiele hätten dabei eine wichtige Rolle eingenommen: Sie hätten dazu gedient, neue Werte und Codes darzu- stellen und auch dazu, genau gegen eben diese Widerstand zu leisten und vor ihnen zu fliehen.104Zugleich habe das Spiel eine Möglichkeit darge- stellt, etwas zu leben, für das in den modernen Beziehungen kein Platz mehr war.105 In beiden hier untersuchten Räumen, São Paulo und Rio de Janeiro, bil- deten Eliten in den neu gegründeten Klubs überholte Hierarchien ab, indem sie durch Statuten, Codes und streng regulierte Umgangsformen andere Schichten ausgrenzten.106Schon in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts gründeten Arbeiter, Afro-Brasilianer und Immigranten in den Vororten von 103 Vgl. B ENCHIMOL , Jaime, Pereira Passos: um Haussmann tropical – a renovação urbana da cidade do Rio de Janeiro no início do século XX , Rio de Janeiro 1992; HAHNER, June Edith, Poverty and Politics: The Urban Poor in Brazil, 1870-1920 , Albuquerque 1986; MEADE, Teresa A., »Civilizing« Rio: Reform and Resistance in a Brazilian City, 1889-1930 , University Park, Pa. 1997; PORTOROCHA, Oswaldo, A era das demolições: cidade do Rio de Janeiro, 1870-1920 , Rio de Janeiro 1995. Zu den Transformationen in São Paulo siehe auch: SEVCENKO, Orfeu extático . 104 H ERSCHMANN u. a., Lance de sorte , S. 19 f. 105 Ebd., S. 23. In der Zeit der Ersten Republik entstanden vielfältige alternative kulturelle Ausdrucksformen, deren Ausübende sich dem disziplinierenden Zugriff der Eliten und des Staates entzogen, darunter der Samba und Capoeira: Vgl. HOLLOWAY, Thomas H., Policing Rio de Janeiro: Repression and Resistance in a 19th-century City , Stanford 1993; Zu alternativen Klubgründungen durch Afro-Brasilianer: BUTLER, Kim D., Freedoms Given, Freedoms Won: Afro-Brazilians in Post-Abolition São Paulo and Salvador , New Brunswick u.a. 1998, S. 78-87; Für den Fußball auch: PEREIRA, Leonardo Affonso de Miranda, O jogo dos sentidos: os literatos e a popularização do futebol no Rio de Janeiro, in: DERS./Chalhoub, Sidney (Hg.), A história contada: capítulos de história social da literatura no Brasil , Rio de Janeiro 1998, S. 195-231. 106 Vgl. P EREIRA , Footballmania . 44 44 Einleitung Rio de Janeiro und São Paulo zahlreiche Vereine, die durchaus auch als Formen des Widerstandes gegen hegemoniale Kulturpraktiken gesehen werden können und nicht ausschließlich als Nachahmung.107Ende der 1910er-Jahre veröffentlichten sie Spielergebnisse, Berichte über regelmä- ßige Treffen und das Klubleben in den Sportrubriken lokaler Zeitungen. Diese wiederum wiesen zunehmend eine differenzierte Sportberichterstat- tung auf und repräsentierten nicht mehr ausschließlich die Elite-Klubs. Vereine waren also Organisationen für die unterschiedlichen gesellschaftli- chen Gruppen, die Söhne urbaner Elitenangehöriger, Angehörige der neu entstehenden Mittelschicht und Arbeiter, die zum einen Formen des Wider- stands bilden, in denen aber auch demokratische Strukturen eingeübt wer- den konnten, da ihr interner Aufbau nach demokratischen Grundmustern geregelt war.108 Die Durchsetzung dieser Prinzipien kann auch auf eine Verbindung meh- rerer Ebenen über die nationale Ebene hinaus zurückgeführt werden: Natio- nale und lokale Sportverbände fungierten an jeweiliger Stelle als Überwa- chungsinstitutionen für Regeln, die die englische FA oder die FIFA auf internationaler Ebene aufstellten.109Unmittelbare Vermittler dieser Regeln und Wächter über ihre Durchsetzung waren meistens Journalisten und Klubvorsitzende und die lokalen Ligen. Hier liegt ein weiterer Grund, warum es sinnvoll ist, den oben gestellten Fragen in einem transnationalen Zusammenhang nachzugehen. Diese lo- kalen Sportler waren es auch – dabei füllten sie oft mehrere gesellschaftli- che Funktionen gleichzeitig aus –, die modernen Sport als eine kulturelle Praxis definierten, mit deren Hilfe sich die Bevölkerung in den Städten und im Landesinneren in sozialreformerischer Denkweise zum Positiven trans- formieren und Brasilien »zivilisiert« würde.110Oftmals übergingen diese Eliten die nationale Ebene, indem sie sich direkt an Vorgaben der FIFA oder solchen anderer Länder orientierten. Das war ebenfalls ein Weg, wie 107 Vgl. ebd; H ERSCHMANN u.a., Lance de sorte , S. 21. 108 Vgl. H ERSCHMANN u. a., Lance de sorte . Siehe hierzu für den argentinischen Fall: FRYDENBERG, Prácticas y valores en el proceso de popularización del fútbol. Buenos Aires 1900-1910, in: Entrepasados 6, Nr. 12, 1997, S. 7-29. 109 E ISENBERG , Der Weltfußballverband FIFA, S. 211. Eisenberg macht drei Funktionen als »Transmissionsriemen« in der Durchsetzung der FIFA als Weltverband aus, darunter die gegenseitige Anerkennung von Vertretungsmonopolen: Ebd. 110 Vgl. zum Sport als Teil einer Bewegung der öffentlichen Gesundheit und Hygiene zur »Aufweißung« der brasilianischen Bevölkerung: DÁVILA, Diploma de brancura , S. 51. Siehe auch: HERSCHMANNu. a., Lance de sorte , S. 36-39. 45 Einleitung 45 brasilianische Akteure aus dem Sport in eine transnationale Sportgemein- schaft eingebunden waren. A UFBAU DER A RBEIT Die Gliederung der Arbeit folgt den thematischen Gesichtspunkten »Rasse«, Region und Nation, die sich jeweils quer durch den Untersu- chungszeitraum ziehen. Die Arbeit gliedert sich in vier Kapitel. Im an- schließenden ersten Kapitel erfolgt in einer Verknüpfung sozial- und kul- turhistorischer Ansätze eine Untersuchung des Übergangs des Fußballs in Rio de Janeiro und São Paulo vom elitären Amateur- zu einem populären Massensport. Im Vordergrund steht dabei das Amateurethos, das brasiliani- sche elitäre Fußballakteure in dieser Übergangsphase in einem transnatio- nalen Kontext verhandelten. Die Kategorie »Rasse« ist Gegenstand des zweiten Kapitels. Lange Zeit wurde der brasilianische Fußball in der populärwissenschaftlichen und auch sozialwissenschaftlichen und historischen Literatur zur Fußballge- schichte in Brasilien als eine soziale Aufstiegsmöglichkeit für afro-brasili- anische Spieler dargestellt. Diese Analysen bezogen sich vor allem auf Mário Filhos Monografie O Negro no futebol brasileiro , die dem Fußball eine harmonisierende Wirkung zuschrieb, der ethnische Unterschiede auf- hebe und es letztlich vermöge, das Ideal der democracia racial zu verwirk- lichen, in der unterscheidbare ethnische Herkünfte keine Rolle mehr spiel- ten.111Damit einher ging die Herausarbeitung körperlicher Merkmale, die vermeintlich ethnisch-kulturell determiniert sind und zur Ausprägung eines eigenen spezifischen brasilianischen Fußballstils geführt hätten.112Die Ent- faltung dieser Harmonisierung wird in der Historiografie zeitlich mit der Vargas-Ära zusammengelegt, in der die ethnische Exklusion durch die Po- pularisierung und durch die »Nationalisierung« des Fußballs aufgehoben worden sei. In diesem Kapitel wird gezeigt, dass die Inklusion afro-brasilianischer Spieler unter anderem dadurch erfolgte, dass Afro-Brasilianer als selbstver- ständlicher Teil brasilianischer Geschichte betrachtet wurden, die einen wichtigen Beitrag zur Nationenbildung geleistet hätten. Rezipienten der Sportpresse und afro-brasilianische Fußballspieler selbst hierarchisierten schon Ende der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts Nation und »Rasse«, sahen afro-brasilianische Spieler als Brasilianer und ordneten damit ihre 111 H OLLANDA , O descobrimento do futebol , S. 149; S OARES , Futebol brasileiro e sociedade, S. 145-162. 112 S OARES , Futebol brasileiro e sociedade, insbesondere S. 150 f. 46 46 Einleitung ethnische Herkunft der Gemeinsamkeit einer historischen Vergangenheit unter. In dieser Hierarchisierung von Nation und »Rasse« wurde von den afro-brasilianischen Spielern die Übernahme »weißer« Eigenschaften und Verhaltensweisen erwartet, Fußball also als eine Möglichkeit des embranquecimento gesehen. Die Umkehrung und Herausstellung typisch afro-brasilianischer Eigenschaften, die in der historischen Literatur auch als erwachendes Selbstbewusstsein und Darstellung von brasilianischer Iden- tität nach außen interpretiert wurde, markierte den Beginn der Konstruktion des »schwarzen Athleten« in einem globalen Kontext.113 Das Kapitel 3 analysiert aus der Perspektive der Region São Paulo, wie Fußballakteure regionale Identitäten über den Fußball in einem globalen Kontext verhandelten. Im zugrunde gelegten Zeitraum entstand zwischen Rio de Janeiro und São Paulo eine ausgeprägte Rivalität im Fußball. Die Differenzierungsdiskurse bezogen sich auf Topoi wie »Rasse«, »Zivilisie- rung« und »Rückständigkeit«. Über den Fußball drückten die hier untersuchten Akteure, Sportjournalisten, Klubfunktionäre und Spieler nicht nur regionale Identitätsvorstellungen aus, sie stellten sie über den Fußball auch her. Der sich immer stärker internationalisierende Fußball bot einen Rahmen für diese Aushandlungen. Die vertikale Untersuchungskategorie »Rasse« spielt auch hier eine bedeutende Rolle, da die regionalen Unter- schiede gerade von den Paulistas in Differenz zu Rio de Janeiro und ande- ren Regionen auch »rassialisiert« wurden. In zwei Dimensionen wird in Kapitel 4 gezeigt, in welchem Ausmaß auch die Aushandlung nationaler Identität in einem transnationalen Kontext stattfand. Eine Dimension bildet dabei die Verbindung Brasiliens zu den beiden südlichen Nachbarländern Argentinien und Uruguay, die von Fuß- ballakteuren gerade am Anfang des Fußballaustausches ab 1908 als »zivili- sierter« und moderner wahrgenommen wurden. Dazu trugen auch die Er- folge argentinischer und uruguayischer Fußballteams in Europa bei. Im Vordergrund stehen Debatten um die Beteiligung an den Campeonatos Sul- Americanos ab 1916, die im Kontext der politischen Beziehungen zwischen den drei Ländern Konfliktpotential boten und zeigen, wie sehr auch in Brasilien Fußball politisiert war und welche Rolle Fußball außerdem als Mittel der Diplomatie spielte. Die zweite Dimension des Kapitels umfasst die Verbindung des brasilia- nischen Fußballs zu Europa. 1925 unternahm der Paulistaner Klub 113 Das Konzept des »schwarzen Athleten« stammt von Carrington, der seine Konstruktion Anfang des 20. Jahrhunderts in einem transatlantischen Raum nachzeich- net: CARRINGTON, Race, Sport and Politics , S. 76-82. 47 Einleitung 47 C. A. Paulistano eine Reise nach Europa – nach Frankreich, in die Schweiz und nach Portugal –, um dort den Fortschritt des brasilianischen Fußballs vor europäischem Publikum zu zeigen. Die Paulistas sahen sich dabei als Vertreter ganz Brasiliens, also eines nationalen Stils und legten alles daran, das Land als kulturell und wirtschaftlich fortschrittlich, modern und »weiß« zu repräsentieren. Gleichzeitig leiteten die Brasilianer aus ihrem Erfolg und dem argentinischer und uruguayischer Fußballmannschaften in Europa ab, sie seien, zumindest im Fußball, zukunftsweisend und moderner als die Europäer selbst. Dreh- und Angelpunkt blieben jedoch hier weiterhin euro- päische Konzepte und Vorstellungen von Moderne und »Zivilisation«. 48
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1. ANEIGNUNG IM GLOBALEN KONTEXT
Eine Erzählung des Schriftstellers P. Totisone Toti aus dem Jahr 1922 hat folgenden Handlungskern: Der Friseur Bifano besitzt einen eigenen Salon in der Stadt Uberaba im Landesinnern des Staates Minas Gerais und ist begeisterter Fußballfan. Er kennt immer die neuesten Ergebnisse, seine Wohnung ist dekoriert mit Bildern von nationalen und internationalen Fußballgrößen, so von einem Helden seiner Zeit, dem »pé de ouro« (»Goldfuß«) Arthur Friedenreich.1Eines Tages betritt ein junger Mann den Friseursalon, den der alternde Friseur unweigerlich für einen Carioca hält, denn er ist sportlich und verkörpert eine moderne Männlichkeit, die Bifano mit der Großstadt verbindet. Doch zu seiner Überraschung stammt der Sportler ebenfalls aus dem Landesinneren von Minais Gerais. Er hat durch sein jugendlich-sportliches Aussehen Erfolg bei den Frauen und entspricht dem Ideal eines guten esportista (Sportler ) : Täglich liest er die Sportnach- richten, kleidet sich ordentlich, hält immer zu seiner Mannschaft und ist darüber hinaus ein guter Patriot. Die beiden Männer entwickeln eine Freundschaft und besuchen gemeinsam mit zwei jungen Damen Fußball- spiele.2 Die erste fiktionale Erzählung in Brasilien, in der Sport thematisch im Mittelpunkt steht, macht den Blick frei auf verschiedene Aspekte der Ent- wicklung des brasilianischen Fußballs bis in die 1920er-Jahre: Erstens eine regional ungleiche Verbreitung und Entwicklung des Fußballs – die Prota- gonisten schauen zum Fußball der Großstädte Rio de Janeiro und São Paulo auf und bewundern die dort produzierten Fußballhelden. Zweitens hat sich Sport als Freizeitbeschäftigung etabliert und damit einhergehend ein mo- dernes, körperliches Männlichkeitsideal auch im »Hinterland« durchge- setzt. Drittens wird das Ideal eines sportsman ,3das sich Anfang der 1920er- Jahre in Brasilien schon breit durchgesetzt hatte, mit einer patriotischen Grundeinstellung in Verbindung gesetzt.4Und es nehmen viertens in der Erzählung selbstverständlich auch Frauen als Zuschauer an den Fuß- ballspielen teil. 1 Toti, P. Totisone, O grande esportista , Uberaba 1922, S. 16-17. 2 Vgl. ebd., S. 5-25. 3 Der Begriff sportsman ist den Quellen entnommen, wo er allerdings nicht immer einheitlich verwendet wurde, die Autoren schrieben sowohl »sportsman« als auch »sportman« (Sg.) bzw. »sportmen« oder »sportsmen« im Plural. Hier wird die korrekte Schreibweise sportsman bzw. sportsmen verwendet. 4 Dies schlug sich in der Erzählung auch in einer sprachlichen »Nationalisierung« nieder: So sprach Toti nicht vom sportsman , sondern schon vom esportista . 50 50 Aneignung Anhand der Gegenüberstellung des alternden Friseurs Bifano und des jungen esportista ist eine Auseinandersetzung mit dem Männlichkeitsbild zu erkennen. Im weiteren Verlauf dieser Erzählung wird Fußball zudem als kommerzielles Spektakel dargestellt. Es entstehen Interessenkonflikte zwischen profitorientierten Klubverantwortlichen und Fans.5Die Erzählung Toti schreibt somit zentrale Parameter des Fußballs fort, an denen er sich bis zum Ende der 1910er-Jahre entwickelt hatte. Zwischen 1894 und 1930 vollzog sich im Fußball in Brasilien ein um- greifender sozialer Wandel: In den ersten 10 Jahren des genannten Zeit- raums war der Fußball ein Sport, den Angehörige urbaner Eliten in exklu- siven Vereinen ausübten, aus denen sie durch verschiedene Exklusions- mechanismen, von hohen Mitgliedsbeiträgen über sprachliche Codes und Kleiderordnungen bis hin zu expliziten Ausschlusskriterien in den Vereins- statuten, Angehörige unterer sozialer Schichten ausgrenzten. Wie Leonardo Pereira für Rio de Janeiro herausfand, gründeten ab circa 1907 Arbeiter und Angehörige einer entstehenden Mittelklasse in urbanen Vororten eige- ne Vereine, von da an besuchten Zuschauer aus allen sozialen Schichten Fußballspiele in Stadien. Eine soziale Ausdifferenzierung fand also sowohl bei den Ausübenden des Fußballs als auch bei den Zuschauern statt.6 Im 19. Jahrhundert hatte der Fußball verschiedene Eintrittswege in Bra- silien: Fußballhistoriker und –historikerinnen nehmen an, das erste Spiel nach den Regeln der 1863 in England gegründeten Football Association (FA) habe 1894 zwischen einem Team aus britischen Eisenbahnarbeitern der São Paulo Railway und britischen Mitarbeitern der Paulistaner Gas- gesellschaft und der London Bank stattgefunden. Doch schon davor, so berichten es auch Zeitgenossen, konnten Fußball spielende Matrosen aus- ländischer Schiffe in brasilianischen Häfen beobachtet werden und auch an den Eliteschulen im Landesinneren der Bundesstaaten Rio de Janeiro und São Paulo entwickelte sich das Spiel zu einer beliebten Freizeitbeschäfti- gung und einem Unterrichtsinhalt.7In den 1880er-Jahren hatte eine natio- 5 Vgl. ebd., S. 8-9 und S. 17. 6 Vgl. P EREIRA , Footballmania , S. 57-107. 7 Vgl. V ARZEA , George, Literatura do Futebol , Datum unbekannt: Nachlass Afonso Vasconselos Varzea, cod.: IW, cx. 6, pac. 2, AN; PEREIRA, Leonardo Affonso de Miranda, Footballmania: uma história social do futebol no Rio de Janeiro, 1902-1938 , Rio de Janeiro 2000, S. 21 f.; Siehe Nachweise anderer Anfänge: ANTUNES, Fátima Martin Rodrigues Ferreira, Futebol nas fábricas, in: Revista USP , Dossiê futebol , São Paulo Juni/August 1994, Nr. 22, S. 102-109; BUCHMANN, Ernani, Quando o futebol andava de trem: memória dos times ferroviários brasileiros , Curitiba 2004; CALDAS, Waldenyr, Brasilien, in: EISENBERG, Christiane (Hg.), Fußball, soccer, calcio. Ein englischer Sport auf seinem Weg um die Welt , München 1997, S. 171-184, hier 172. 51 Aneignung 51 nale Erziehungsreform zur Einführung moderner sportlicher Praktiken vor allem in jesuitischen Schulen geführt, die an den Erziehungseinrichtungen Europas ausgerichtet waren. Bereits damals wurden dort Schülern Spielre- geln vermittelt, die denen des modernen Fußballs sehr glichen, wie der Historiker José Moraes dos Santos Neto herausfand.8Zusammen mit immi- grierten Bahnarbeitern begannen sie den Sport auf offenen Plätzen auszu- üben, so an den sich im Bau befindenden Bahnstrecken.9 Ein weiterer Weg waren Immigranten aus Europa, die dort schon Fußball gespielt hatten und in Brasilien Klubs gründeten. So der deutsche Bank- kaufmann Hans Nobiling, der 1907 berichtete, bei seiner Ankunft in São Paulo im Jahr 1897 sei der Fußball in São Paulo und in ganz Brasilien »wirklich vollständig unbekannt« gewesen, einzig die Mitglieder des São Paulo Railway Cricket Club und des São Paulo Athlétic Club hätten jähr- lich jeweils eine Partie Fußball und Rugby ausgetragen.10Nobiling hatte zuvor im Hamburger Klub S.C. Germania gespielt und brachte Regel- handbücher und weitere Fußballrequisiten mit nach São Paulo, wo er mit anderen Immigranten unterschiedlicher Herkunft den Klub Internacional gründete und später den deutschen Immigrantensportverein Germânia.11 Der Fußball nach den Regeln der FA kam also durch junge spezialisierte Fachkräfte und Bahnarbeiter aus Großbritannien und anderen europäischen Ländern nach Brasilien, über die jungen Söhne elitärer Familien, die im europäischen Ausland studiert hatten und über die Einführung europäischer Erziehungsmethoden an Schulen. In vielen Studien und im populären Ge- dächtnis beginnt der Fußball jedoch erst mit seinen beiden »Vätern« Oscar Cox und Charles Miller, die den Fußball nach Rio de Janeiro beziehungs- weise São Paulo gebracht hätten und über die die Verbreitung des Fußballs auch im Zuge des britischen Imperialismus erklärt wird. Cox lernte das Spiel während seiner Studienzeit in Lausanne auf dem Collège de la Ville, von dort kam er 1897 nach Rio de Janeiro, wo er an mehreren Klubgrün- dungen beteiligt war und in den Anfangsjahren eine bedeutende Rolle im 8 N ETO , José Moraes dos Santos, Visão do jogo. Primórdios do futebol no Brasil , São Paulo 2002. 9 Vgl. ebd. 10 »Relatorio do veterano esportista Hans Nobiling. Fundador do S.C. Germania. Sobre a origem do futebol em São Paulo«, 15.8.1907, G IV, n° 19/137, IMS. Vgl. auch: CARDIM, Mário, Resumo histórico da vida esportiva de São Paulo , in: Jubiläumsschrift zum 25-jährigen Bestehen des Vereins Germania S. C., ECP. 11 Vgl. C ARDIM , Resumo histórico da vida esportiva , S. 2. 52 52 Aneignung lokalen Sport einnahm.12Miller wiederum war der Sohn eines britischen Konsuls, der – üblich für Elitesöhne – mit neun Jahren zur Schulausbildung nach England ging und bei seiner Rückkehr im Jahr 1894 allerlei Fußball- requisiten mitbrachte.13 Sicherlich existiert weiterhin ein Erkenntnisinteresse daran, wer, wann und wo genau das erste Mal gegen einen Ball trat. Wie Leonardo Pereira schreibt, ist jedoch die Frage nach der »Logik, die die Konsolidierung der Bedeutungen antrieb, die vor einiger Zeit den ersten Jahren des Fußballs zugeschrieben wurden«, von ungleich größerer Anziehungskraft. Beide genannten »Väter« waren für die Konstituierung des Fußballs jedenfalls bedeutend und Teil einer »europhilen« Elite, jedoch, so Pereira, »handelten sie in einem größeren Kontext, der zuließ, dass ein einfacher Zeitvertreib sich in ein wahres Phänomen verwandelte.«14 Fußball begann überhaupt erst ab circa 1900 eine größere gesellschaftli- che Rolle zu spielen, davor waren andere Sportarten populärer und Fußball bestenfalls eine Randnotiz in den Zeitungen wert.151901 spielte das erste Mal in Rio de Janeiro eine Mannschaft aus brasilianischen Spielern gegen die britischen Mitglieder des Payssandu Cricket Club, danach gründeten brasilianische junge Männer Vereine, die nur dieser Sportart nachgingen.16 In den folgenden Jahren, angeregt auch durch erste internationale Spiele, 12 A QUINO , Rubim Santos Leão de, Futebol: uma paixão nacional , Rio de Janeiro 2002, S. 27. 13 Ebd.; P EREIRA , Footballmania , S. 22; C ALDAS , Brasilien, S. 172. 14 P EREIRA , Footballmania , S. 23. 15 Vgl. B OTELHO , André Ricardo Maciel, Da geral à tribuna, da redação ao espectáculo: a imprensa esportiva e a popularização do futebol (1900-1920), in: TEIXEIRADASILVAu.a. (Hg.), Memória social dos esportes , S. 313-333; BRUHNS, Heloisa Turini, Futebol, carnaval e capoeira: entre as gingas do corpo brasileiro , Campinas 2000, S. 62; MELO, Victor Andrade de, Cidade esportiva: primórdios do esporte no Rio de Janeiro , Rio de Janeiro 2001; PEREIRA, Footballmania , S. 23 f. Allgemeiner zur Interdependenz von Presseentwicklung und modernem Sport als Medieninhalt in einem transnationalen Zusammenhang: Vgl. EISENBERG, Medien- fußball. 16 Vgl. P EREIRA , Footballmania , S. 28 f. So die Vereine Fluminense Football Club (1902), Botafogo Football Club (1904), América Football Club (1904) und Bangú Athletic Club (1904) in Rio de Janeiro: Vgl. ebd., S. 28-35. Die vier Klubs gründeten 1905 zusammen mit den Vereinen Football and Athletic Club und dem Sport Club Petrópolis einen Verband, die Liga Metropolitana de Futebol , später Liga Metropolitana de Desportes Terrestres (METRO): Vgl. AQUINO, Futebol , S. 28. In São Paulo gründeten schon 1901 die Elitevereine Internacional (1899), São Paulo Athletic (1888), S.C. Germânia (1899), Mackenzie College (1898) und C. A. Paulistano (1900) eine eigene Liga, die Liga Paulista de Football : Vgl. MASON, Passion of the People? Football in South America , London/New York, 1995, S. 11. 53 Aneignung 53 wandelte sich der Fußball in Rio de Janeiro und São Paulo zur beliebtesten Sportart mit Anhängern in allen Bevölkerungsschichten, die wiederum eigene Vereine gründeten.17Darunter waren ganz unterschiedliche Typen, wie zum Beispiel der im April 1904 von britischen Technikern der Textil- fabrik Companhia Progresso Industrial gegründete Fabrikverein Bangú Athletic Club, der anfangs nur gelernte Fabrikarbeiter, kurze Zeit später schon ungelernte Arbeiter in den Mannschaften akzeptierte und aus diesem Grund als einer der ersten Vereine gilt, die den sozialen und rassistischen Exklusionscharakter des frühen Carioca-Fußballs aufbrachen.18Die Popularisierung ging einher mit einer Differenzierung der Sportmedien, aber auch mit Konflikten, die sich im Kontext der internationalen Spiele um soziale und ethnische Repräsentation, Amateur- und Profitum drehten. Obwohl seit Mitte der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts viele Klubs schon Spieler – vor allem aus unteren Schichten – als Halb-Profis anstell- ten, führten die brasilianischen Sportverbände den Profi-Fußball erst 1933 unter Vargas offiziell ein.19 Im gesamten hier behandelten Zeitraum hatten jedoch Eliten-Akteure eine hegemoniale Position inne, weiterhin lenkten sie den Fußball admi- nistrativ in Klubs und Verbänden auf lokaler, nationaler und regionaler Ebene.20Ihre Hegemonie manifestierte sich auch in ihrer diskursiven Domi- nanz in der Sportpresse, in der sie dem Fußball »einen Sinn stifteten« und festlegten, wie Angehörige unterer sozialer Schichten Sport auszuüben hatten. Diese »Sinnstiftung« geschah innerhalb eines über die Nation hinausge- henden Kontextes, indem die Eliten-Akteure Bezüge auf Diskurse in einem transnationalen Sportraum nahmen. Ein zentrales Wertebündel, das diese urbanen Eliten sich aneigneten, war das Ideal des Amateursportlers bzw. 17 Vgl. P EREIRA , Footballmania , S. 57-68. 18 Vgl. ebd., S. 32 f.; C ALDAS , Brasilien, S. 174; L EITE L OPES , José Sérgio, Classe, etnicidade e cor na formação do futebol brasileiro, in: Cláudio H. M. BATALHA/Alexandre FORTES/Fernando Teixeira da SILVA(Hg.), Culturas de classe , Campinas 2004, S. 121-163, hier 130-133. 1907 entstand in Rio de Janeiro auch schon eine Liga Suburbana de Futebol mit Vereinen aus den subúrbios (Vororten) Rio de Janeiros: Vgl. AQUINO, Futebol , S. 38. 19 C ALDAS , Brasilien, S. 178. 20 Die Anwendung des Hegemoniebegriffes nach Gramsci auf die Beziehung zwi- schen Sport und Machtbeziehungen stammt aus der inzwischen klassischen Studie von John Hargreaves zur soziokulturellen Entwicklung des Sports in Großbritannien im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Vgl. HARGREAVES, John, Sport, Power and Culture , Cambridge 1989. Zum Konzept des »umkämpften Raumes«, zurückgehend auf Bourdieu, siehe: MARKOVITSu. a., Mapping Sports Space, S. 1471. 54 54 Aneignung des sportsman . Sie übertrugen dieses Ideal in einem spezifischen elitären Verständnis in den brasilianischen Kontext, obwohl beispielsweise in der Vorbildregion für Fußball, Großbritannien, schon seit den 1890er-Jahren Profi-Ligen existierten und der Fußball dort schon ein Arbeiter- und Massensport war.21Die Konstruktion des Amateurideals in Brasilien und seine Rechtfertigung ist im Zusammenhang mit spezifischen Entwicklun- gen in Brasiliens urbanen Zentren zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu sehen. Ein Teil dieser Eliten nutzte das Ideenbündel vor allem, um den Fußball- Sportraum gegen das Vordringen unterer sozialer Gruppen zu verteidigen. Je populärer der Fußball wurde, umso schärfer formulierten und stärker konstruierten elitäre Sportler, Erzieher und Journalisten dieses Ethos und nutzten es als Form der Abgrenzung oder als Vorgabe, wie sich subalterne Gruppen in dem Sportraum zu verhalten hatten und wie sie Sport praktizie- ren sollten. Im vorliegenden Kapitel werden diese Entwicklungen beschrieben und damit auch klassenspezifische Bedeutungszuweisungen an den Fußball abgehandelt. In den ersten drei Teilen (1.1, 1.2 und 1.3) wird ausgeführt, wie das Amateurethos im globalen Kontext entstanden ist und welche spe- zifische Ausprägung und Konnotationen es in Brasilien erfahren hat. Vor allem hier wird dargelegt, dass Fußball in Verbindung mit dem Amateur- ideal von Anbeginn weit mehr war als sinnfreies Sporttreiben. Anhänger der aufkommenden Hygienebewegung wie Erzieher und Journalisten, aber auch Sportler und Sportfunktionäre aus den Elitevereinen stifteten dem Fußball einen Sinn, im Zuge dessen das Amateurideal zu einem moralisie- renden Instrument für die eigene Schicht und für Angehörige anderer sozi- aler Gruppen wurde. Die folgenden Teilkapitel (1.4, 1.5 und 1.6) verdeutlichen ein komplexes Zusammenspiel lokaler und globaler Herausforderungen, auf die die ge- nannten Elitenakteure mit dieser Sinnstiftung reagierten. Das waren im lokalen Rahmen vor allem die Entstehung von Klubs in den Arbeitervor- orten der beiden Städte Rio de Janeiro und São Paulo und seine Populari- sierung. Seine Verbreitung brachte die Einführung des Halb-Profitums mit sich, das von nicht wenigen Spielern aus unteren sozialen Schichten als Aufstiegsmöglichkeit gesehen wurde. Es wurde versucht, der Popularisie- rung des Fußballs das Amateurideal entgegen zu stellen. Es war für die 21 Vgl. H OLT , Sport and the British ; P FISTER , Gertrud, Wem gehört der Fußball? Wie ein englisches Spiel die Welt eroberte, in: Michael FANIZADEH/Wolfram MANZEN- REITER/Gerard HÖLDL/Rosa DIKETMÜLLER(Hg.), Global Players. Kultur, Ökonomie und Politik des Fußballs , Frankfurt am Main 2005, S. 37-56, hier 40. 55 Aneignung 55 Eliten Herrschaftsinstrument und es sollte bestehende soziale Strukturen festigen und erwünschte Verhaltensweisen fördern. Die Verbreitung des Fußballs als sinnfreie Ausübung konnte dadurch nicht aufgehalten werden. 1.1. D AS A MATEURETHOS : B EGRIFF UND GLOBALER K ONTEXT Das Fußballspiel und das Amateurethos beschrieben die brasilianische Sportpresse bis in die 1920er-Jahre vor allem als britische Traditionen, als feste Bestandteile eines britischen Charakters.22Die Entstehung des Ethos stellten Sportjournalisten und Sportler in einen Zusammenhang mit der Modernisierung und Industrialisierung in Großbritannien. Als Wiege des modernen Fußballs und des sportsman galten die public schools, dort hät- ten die Briten nach vorherrschender Meinung über Jahrzehnte virile, dis- ziplinierte und patriotische Männer ausgebildet. Unter anderem hätten sie von dieser Vorbereitung im Ersten Weltkrieg profitiert. Überhaupt sei die Machtstellung Großbritanniens seit dem 19. Jahrhundert zu einem guten Teil durch die sportliche Erziehung seiner Jugend zu erklären. Ver- schiedentlich wurde in der Sportpresse hervorgehoben, in Brasilien sei eine Reproduktion dieses Menschenbildes möglich, hierzu sei eine Institutiona- lisierung des Sports an den Schulen notwendig, dort müsse Charakterbil- dung in den Vordergrund gestellt werden.23 Tatsächlich hatte sich der moderne Fußball nach den Regeln der Foot- ball Association an den englischen public schools im 19. Jahrhundert herausgebildet, dort erlernten ihn englische Elitensöhne und zunehmend Söhne der Mittelklasse. Die gewalttätigen Formen des Fußballspiels, die 22 Dies geht aus unzähligen Artikeln hervor, die modernen Sport als genuin englisch oder britisch darstellen, so zum Beispiel aus den Artikeln des Sonderkorrespondenten Jack Watson, der für A Gazeta regelmäßig über die neuesten Sportereignisse in Groß- britannien berichtete und auch die Rolle des Sports in der britischen Gesellschaft beurteilte. Vgl. etwa: »Notas Inglezas. O Football na Inglaterra«, A Gazeta , 26.11.1919; »Football. Notas Inglezas«, A Gazeta , 13.1.1920; »Football. Notas da Inglaterra«, A Gazeta , 21.1.1920; »Football. Football na Grã-Bretanha. Foram prohibidas as gratificações extraordinarias aos jogadores«, A Gazeta , 28.2.1920; »O Football Britannico. Um Club de Profissionaes em Apuros por falta de rendimentos«, A Gazeta , 3.3.1920. 23 Vgl. »O Exeter City joga amanha contra os inglezes do Rio. O que e’ a Foot-ball Association e o profissionalismo na Inglaterra«, Correio da Manhã , 17.7.1914; »A verdadeira origem do Football«, Vida Sportiva , Nr. 103, 16.8.1919; »Football. A Origem do Football. E a sua introdução em França e Hespanha«, A Gazeta , 28.1.1920; »Rapido Historico do Football Association«, Vida Sportiva , Nr. 133, 13.3.1920; »O Exeter City e o profissionalismo no foot-ball – Os vencimentos de cada ›player‹ e as especulações«, OESP , 24.7.1914. 56 56 Aneignung bis dahin zwischen Mannschaften in den Dorfgemeinden stattfanden, schränkten Kontrollinstanzen nun durch klare Regeln und zentrale Über- wachung ein.24Dunning und Elias zufolge fand ein »Zivilisierungsprozess« statt, der lokal divergierende Formen des Sportspiels anglich.25Von einer sich von Ort zu Ort stark unterscheidenden Ausübung wandelte sich der Fußball zu einer zentral kontrollierten, vereinheitlichten Sportpraxis. In der fortschreitenden »Modernisierung« und »Zivilisierung« 26 des Fuß- ballspiels schälte sich das Amateurethos als ein Bündel von Werten und Praktiken heraus, das bis weit in das 20. Jahrhundert hinein Gültigkeit besaß.27Der Sporthistoriker Richard Holt definiert das Amateurethos, wie es in Großbritannien seit dem mittelviktorianischen Zeitalter entstanden war, folgendermaßen: Amateurism was many things: a belief in a new kind of vigorous physi- cal culture based on reforming old games and exercises; an organizing principle based on voluntary association and the creation of representa- tive national structures; a written and unwritten code of conduct to pro- mote the competitive principle; and an aesthetic of sport itself. It was a complex phenomenon with complex causes.28 Wie Christiane Eisenberg darlegt, stammte das Amateurideal ursprünglich aus der britischen Aristokratie und beinhaltete vor allem den Gedanken, jeglicher Tätigkeit ohne Denken an Vergütung nachzugehen, kein allzu großes Leistungsstreben an den Tag zu legen und ein allrounder zu blei- ben, der verschiedene Tätigkeiten ausüben könne ( disinterestedness ).29Im späten 19. Jahrhundert habe, so zeigen Norman Baker und Richard Holt, die aufsteigende britische middle class das Ideal adaptiert, da ihre Söhne gemeinsam mit Adligen public schools und Universitäten besuchten. Um- gekehrt wurden in den public schools auch die englischen Oberschichten mit Mittelklasse-Idealen vertraut gemacht. Aus dieser gegenseitigen Beein- flussung habe sich eine Reformulierung des Amateurideals und seine An- 24 E LIAS u.a., Sport und Spannung , S. 481. 25 Ebd.; H ARGREAVES , Sport, Power and Culture , S. 16-37. 26 Beide Begriffe aus: E LIAS u.a., Sport und Spannung , S. 481. 27 B AKER , Norman, Whose Hegemony? The Origins of the Amateur Ethos in Nineteenth-Century English Society, in: Sport in History 24, 2004, Nr. 1, S. 1-15, hier 1. 28 H OLT , Richard, The Amateur Body and the Middle-class Man: Work, Health and Style in Victorian Britain, in: Sport in History 26, 2006, Nr. 3, S. 352-369, hier 353. 29 E ISENBERG , » English sports« , S. 62 f.; B AKER , Whose Hegemony?, S. 1 f. 57 Aneignung 57 passung an Mittelklasse-Werte ergeben.30Die Ablehnung von Gewinnerzie- lungsabsichten sei mit der Übernahme von middle class -Idealen stärker hervorgetreten. In der Folge habe sich das Amateurethos, so Eisenberg, auch gegen Adlige gerichtet, die im 19. Jahrhundert in Wettspielen eben gerade auch hohe Geldsummen investiert hatten.31In den Vordergrund sei das fair-play gerückt, das allgemein als Devise für den gesellschaftlichen Umgang miteinander in den Klassen-Beziehungen ausgegeben wurde.32 Ursprünglich umfasste das Ethos der sportsmanship , und darin einge- schlossen das Amateurethos, die Werte Disziplin, Teamgeist, Fairness und Unterordnung unter den Willen der Gruppe bzw. die Leadership des Mann- schaftskapitäns, so definieren es verschiedene Autoren. Das Aufkommen des Profi-Sports führte zu einem Selbstverständnis des Amateurs als Ge- gensatz zum Profi-Sportler. Deshalb wurde die Ablehnung profitorientier- ten Wettkampfes erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zentral, ge- nutzt vor allem von der Mittelklasse als moralisches Instrument gegen Profis jedweder sozialen Herkunft.33Vor allem Richard Holt hebt darauf ab, wie sehr sich das – dann auch internationalisierte – Amateurethos im urbanen London im Umfeld einer neuen middle class herausschälte, die Büroarbeit ausübte, stark vom Leistungsgedanken geprägt war und sich Gedanken über einen gesunden Freizeitausgleich machte. Dieser wurde im Amateursport gesucht. Das ist auch für den brasilianischen Kontext von Bedeutung, denn wie zu zeigen sein wird, war gerade dieser Faktor – Sportausübung ohne Profit- interesse – ein Anlass für Angehörige der urbanen Mittelklasse, den Fuß- ball gegen eine angenommene »Demoralisierung« durch Einführung des Profitums zu verteidigen. 30 B AKER , Whose Hegemony?, S. 4; Vgl. H OLT , The Amateur Body, S. 353. 31 E ISENBERG , » English sports« , S. 65. 32 B AKER , Whose Hegemony?, S. 5. Christiane Eisenberg zeichnet nach, wie sich die Haltung der disinterestedness und damit auch des fair play aus der ökonomischen Theorie des doux commerce des 17. Jahrhundert entwickelte. Als gesellschaftlich strukturiender Leitgedanke sei diese in den sportlichen Wettkampf und das Ideal der sportmanship der englischen middle class eingegangen. Daraus entwickelte sich ihr zufolge auch eine moralische Verurteilung von Profitinteresse und zugleich die Zentralität des Amateurideals: EISENBERG, » English sports« , S. 56-69. 33 Vgl. zu der Konstruktion dieses Gegensatzes und zu den Werten des Amateurethos: BAKER, Whose hegemony?. Auch: EISENBERG, » English sports« , insbes. S. 62-69; HARGREAVES, Sport, Power and Culture , S. 39 ff.; Holt, Sport and the British, S. 98-103, DERS., The Amateur Body; DERS., Amateurism and its Interpretation. The Social Origins of British Sport, in: Innovation 5, 1992, Nr. 4, S. 19-31. 58 58 Aneignung Das zur sportsmanship gehörende Ethos wurde zwar schon zum Ende des 19. Jahrhunderts durch die Gründung von Profi-Ligen in Nordengland und durch die Wandlung des Fußballs zum zentralen Sport in der Arbeiter- klasse herausgefordert, doch behielt es, trotz der Kommerzialisierung des Sports, für die Eliten und die Mittelklasse bis weit in das 20. Jahrhundert hinein eine herausragende Bedeutung als Identifikationsmittel.34Auch im Ausland identifizierten Sportler und Sportjournalisten den britischen Sport mit diesem Ethos. Das hatte auch damit zu tun, dass sich die englische FA im Bereich der internationalen Fußballbeziehungen mit großer Beharrlich- keit auf das Amateurideal bezog und sich etliche Male aus den Sportbezie- hungen zurückzog, weil die FIFA den Amateurstatus nicht so eng aus- legte.35Die Auseinandersetzungen zwischen der FA, der FIFA und dem IOC nahm auch die brasilianische Sportpresse kurz nach dem Ersten Welt- krieg als Machtkonflikte zwischen den ehemaligen Kriegsparteien wahr, wobei der FIFA insgesamt eine wenig machtvolle Position zugeschrieben wurde, da diese sich nicht über nationale Interessen hinwegsetzen könne.36 Das Amateurideal spielte eine bedeutende Rolle in dem sich ab dem Ende des 19. Jahrhunderts ausbildenden transnationalen Sportraum. Pierre de Coubertin berief sich darauf mit seiner Idee einer Olympischen Bewe- gung. Bei den Olympischen Spielen und anderen internationalen Sportver- anstaltungen propagierten die Begründer der Sportbewegung das Ethos und ein damit verbundenes Menschenbild.37Die Verbreitung der Ideale des Amateurethos fand im Zuge der vor allem schriftlichen Übernahme von Spielregeln statt, die Sportler, Erzieher und Sportjournalisten aus dem Englischen in andere Sprachen übersetzten. In der historischen Forschung wurde die Entstehung dieses Ethos in der britischen Gesellschaft meistens als Parallele oder in Interdependenz zu 34 Vgl. zum Wandel zum Arbeitersport in Großbritannien: H OLT , Sport and the British , S. 148-179. Zum Amateurethos als Identifikationsmittel: Vgl. BAKER, Whose hegemony?, S. 1-15. 35 E ISENBERG , Christiane, Playing the Market Game: Cash Prizes, Symbolic Awards and the Professional Ideal in British Amateur Sport, in: Sport in History 31, 2011, Nr. 2, S. 197-217, hier 211. 36 Vgl. »Football Internacional. Um protesto contra a exclusão da Allemanha e Austria-Hungria da Federação Internacional de Football Association«, Vida Sportiva , 13.3.1920, Nr. 133, S. 22. Besonders die Sportsektion der Zeitung »O Imparcial«, die von 1926-1928 der Journalist Afonso Varzea leitete, blickte mit großem Interesse und Genauigkeit auf die in den 1920er-Jahren andauernden Auseinandersetzungen der englischen FA mit der FIFA: Vgl. Ohne Titel, O Imparcial , 7.1.1928, Nr. 6032, S. 9; Ohne Titel, O Imparcial, 24.2.1928, Nr. 6072. 37 K EYS , Globalizing Sport , S. 30-35. 59 Aneignung 59 Industrialisierung und Urbanisierung im 19. Jahrhundert erklärt.38Der Sporthistoriker Richard Holt unterscheidet zwei Perspektiven, aus denen die Herausbildung des Amateurethos von Historikern und Historikerinnen aufgezeigt wurde: Zum einen eine sozialhistorische und teilweise neo- marxistische Perspektive, aus der heraus es als Mittel zur Klassensegrega- tion und als Aufoktroyierung bürgerlicher Werte wie Patriotismus und Konkurrenzdenken bestimmt wurde.39Zum anderen aus einer diffusions- historischen Perspektive, aus der heraus man es als Mittel zur Erziehung und Moralisierung im Zuge eines kulturellen Imperialismus im britischen Empire betrachtet habe.40 Ähnlich sehen auch die Erklärungsansätze für den Transfer des Amateur- ethos und den Beginn des Fußballs als Elitensport in Südamerika aus: Auch hier gibt es die Erklärung, das Ethos sei im Zuge eines Kulturimperialismus von britischen Akteuren an die Grenzen eines »informal empire«41getragen worden, das neben Argentinien und Chile auch Brasilien eingeschlossen habe.42Im Rahmen einer sozialgeschichtlichen Darstellung beschrieben diese Ansätze, wie brasilianische Akteure in ihrem Land das Amateurethos 38 Vgl. als klassische Interpretation hierzu E LIAS u.a., Sport und Spannung . Vgl. weiterhin: BAKER, Whose Hegemony?; HARGREAVES, Sport, Power and Culture ; HOLT, The Amateur Body; LOWERSON, John, Sport and the English Middle Classes, 1870-1914 , Manchester 1993; MANGAN, J.A., Athleticism in the Victorian and Edwardian Public School , Cambridge 1981. Für den brasilianischen Fall hat sich der Anthropologe José Sérgio Leite Lopes mit dem Amateurethos als Ideal der Eliten befasst: Vgl. LEITELOPES, Classe, etnicidade e cor . 39 H OLT , The Amateur Body, S. 352. 40 Ebd., S. 353. In Bezug auf die kulturimperialistische These kritisiert Holt hier vor allem den Autor J.A. Mangan: MANGAN, Athleticism . 41 Vgl. den Ursprung des Begriffs bei Gallagher und Robertson: G ALLAGHER , John/ROBINSON, Ronald, Der Imperialismus des Freihandels, in: Hans-Ulrich WEHLER (Hg.), Imperialismus , Köln 1970, S. 183-200. Die Bestätigung dieser These bei Cain und Hopkins: Vgl. CAIN, Peter J./HOPKINS, Antony G., British Imperialism, 1688-2000 , 2. Aufl., New York 2001, insbes. S. 243-274. Siehe auch: GRAHAM, Richard, Sepoys and Imperialists: Techniques of British Power in Nineteenth Century Brazil, in: Inter- American Economic Affairs 23, 1968, S. 23-37; OSTERHAMMEL, Jürgen, Gentleman- Kapitalismus und Gentleman-Charakter: Eine neue Gesamtdeutung des britischen Impe- rialismus, in: NPL 39, 1994, Nr. 1, S. 5-13. 42 Vgl. zum Beispiel Mangan, der sich auf den argentinischen Fall bezieht. Er be- greift Argentinien als Teil des britischen »informal empire« und arbeitet mit einem an Edward Said angelehnten Transferverständnis. Eine besondere Rolle komme den public schools als »Außenstellen« des britischen Imperialismus‘ in Argentinien zu: MANGAN, The Early Evolution of Modern Sport in Latin America, S. 21 und S. 36. Auch: GUTT- MANN, Games and Empires , besonders S. 56-63. 60 60 Aneignung adaptierten und darüber den Fußball als exklusiven Raum nach unten verteidigten.43 Beide Ansätze schauten sowohl auf britische als auch auf brasilianische Elitenakteure, trotzdem ist nicht deutlich geworden, warum das Ama- teurethos im Fußball in Brasilien eine so starke Ausstrahlungskraft hatte. Außerdem ist in diesen Erklärungen der Fokus zu sehr auf die Nachahmung eines von britischen Akteuren vorgegeben Wertebündels gelegt worden, ohne dass sein Wandel herausgearbeitet wurde. Dabei wird ausgeblendet, dass sich die Akteure permanent mit dem Amateurideal in einem transnati- onalen Kontext auseinandersetzten und es entsprechend rekonfigurierten. Auch ist noch nicht hinreichend deutlich geworden, welche sozialen Ak- teure an dieser Aneignung und Aushandlung des Amateurethos beteiligt waren und welche Bedeutung sie ihm zuschrieben. Auch für das Verständnis der Fußballverbreitung in Brasilien können die weiter oben genannten Faktoren, die Holt anführt, von Bedeutung sein. Auch dort fand ein Wandel in der Wahrnehmung von Gesundheit, Arbeit und männlicher Ästhetik statt. In Brasilien vollzog sich dieser Wandel ebenfalls im Kontext der Entstehung einer urbanen Mittelklasse und den Herausforderungen durch Urbanisierung und Industrialisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit diesen erweiterten Untersuchungsparametern im Blick rücken stärker soziale Akteure in das Blickfeld, die im Wandel der Zeit für die Adaptation des Fußballs verantwortlich waren, also nicht nur britische Einwanderer und elitäre Sportpioniere, sondern Mittelschichtsan- gehörige und Arbeiter. Deutlich wird so auch, dass das Amateurideal kein fixes Wertebündel war, das unverändert nach Brasilien transferiert wurde, sondern das in einem spezifischen Kontext angeeignet und modifiziert wurde. Für das Verständnis der kulturellen Globalisierung des Fußballs, die eben nicht einfach eine Uniformierung von Werten bedeutete, ist das ein entscheidender Aspekt.44 43 Vgl. zu der Diffusions- und Kulturimperialismusthese insbesondere: S HIRTS , Matthew G., Futebol no Brasil ou Football in Brazil? in: José Sebastião WITTER(Hg.), Futebol e cultura: coletânea de estudos , São Paulo 1982. Vgl. zu der sozialhistorischen Interpretation und Entstehung als Wertesystem an britischen colleges in Brasilien: CALDAS, Brasilien. 44 Selbstverständlich kann der Transfer des Amateurethos auch im Rahmen des Wissenstransfers von Europa nach Lateinamerika im 19. Jahrhundert betrachtet werden, so im Kontext der Herausbildung einer staatsnahen Europa-orientierten »Intelligenzija« in »ciudades letradas«: Vgl. RAMA, Ángel, La ciudad letrada , Santiago de Chile 2004. Auf die Problematik der Adaptation des Konzeptes der »ciudad letrada« für São Paulo hat Woodard verwiesen: Vgl. WOODARD, James P., A Place in Politics: São Paulo, Brazil, from Seigneurial Republicanism to Regionalist Revolt , Durham u.a. 2009, 61 Aneignung 61 Das Amateurethos im Sinne der Werte des fair play , des kollektiven Denkens, des Betreibens von Sport um des Sportes willen war Grundlage der neu gegründeten Vereine brasilianischer Eliten. Auch die Sportver- bände schrieben es fest und die Sportpresse befasste sich ausdauernd damit, es genauer zu definieren. Allerdings hat sich die Sportpresse explizit erst mit dem Amateurethos und der Bedeutung von sportsmanship befasst, als der Fußball sich zu einem Massensport wandelte und Spieler auftraten, die mit ihm Geld verdienten. Davor wurde es selbstverständlich vorausgesetzt. Das Amateurethos war bereits Motor für die Gründung von Vereinen, die ersten Sportpraktizierenden bezogen sich darauf. Doch erst mit der Popula- risierung, Professionalisierung und Kommerzialisierung des Fußballs ge- wann es eine moralisierende und erzieherische Komponente, die die Sport- presse verbreitete. Abgrenzung spielte also eine herausragende Rolle für seine Definition. Wer waren diese Akteure, die den Fußball und das Amateurethos als erstes propagierten? Und aus welchen Motiven handelten sie? Eine erste Gruppe waren Angehörige der urbanen Eliten. In São Paulo beispielsweise die Familie Prado, die unmittelbar wichtig für die Sportentwicklung zum Ende des 19. Jahrhunderts und in den ersten beiden Dekaden des 20. Jahr- hunderts in dieser Stadt war. Besonders tat sich Antônio Prado Júnior her- vor, der Sohn des gleichnamigen Paulistaner Kaffeeoligarchen und Politi- kers. Er war selbst begeisterter Sportler, wie viele seiner Brüder und andere Familienmitglieder, und fungierte in São Paulo als Sportmäzen.45Er und andere soziale Akteure seiner Generation und Herkunft verstanden den Sport als ein exklusives Refugium von Eliteangehörigen oder von Perso- nen, die in der Lage gewesen waren, sich den Sport als kulturelles Kapital anzueignen. Das schlug sich in unterschiedlichen Abschottungsversuchen durch Reglementierungen, institutionellen Ausschluss und vor allem als diskursive Art der Exklusion über die Formulierung des Amateurethos nieder. Auf Dauer mussten Akteure wie Prado erkennen, dass die Populari- sierung und der damit verbundene Wandel sportlicher Werte und Formen S. 30 f., auch: S. 252, Fußnote 62. Ich untersuche im Folgenden die Aneignung des Amateurethos nicht vordergründig im Anschluss an Formen des Wissenstransfers im 19. Jahrhundert, denn mir geht es um die spezifische Aneignung im Kontext der Entstehung einer transnationalen Sportgemeinschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 45 Zur Familie Prado: L EVI , Darrell E., The Prados of São Paulo, Brazil: An Elite Family and Social Change, 1840-1930 , Athens u. a. 1987. 62 62 Aneignung seiner Ausübung unaufhaltsam waren. Bei einem Teil dieser Akteure führte dies zu einer Abwendung und zu einem Rückzug vom Sport.46 Eine zweite Gruppe von Akteuren waren Sportler, Journalisten, Erzieher und Reformer, die zum Teil auch einer neu entstehenden urbanen Mittel- klasse zuzurechnen waren. Auch sie gehörten dem Umfeld der Eliteklubs an, hatten dort Fußball spielen ge- und die Werte des Amateurethos erlernt. Anders jedoch als angesichts der Popularisierung den Rückzug zu suchen, begriffen und nutzten sie Sport und speziell Fußball als eine Möglichkeit, Menschen anderer sozialer Schichten im Einklang mit den Werten des Amateurethos zu erziehen. Sie waren es, die das Amateurethos etablierten, schärfer definierten und auch in der Sportpresse reproduzierten. Die Ange- hörigen dieser Gruppe überschnitten sich auch mit Anhängern der zu Be- ginn des 20. Jahrhunderts populären Hygienebewegung und Befürwortern von Reformen im Erziehungswesen und der Militärausbildung. Im Unter- schied zu Sportpionieren wie Prado Júnior waren sie oftmals auch von der Popularität des Sports direkt abhängig, zum Beispiel als Journalisten, und profitierten von seiner vertikalen Verbreitung. Diese beiden Gruppen führe ich im Folgenden begrifflich häufig zu- sammen und bezeichne sie als Elite, auch wenn viele von ihnen als Journa- listen, Erzieher und Reformer im Selbstverständnis und in bestimmten Forderungen, Attributen und ihrer Lebensweise der sich herausbildenden, noch diffusen urbanen Mittelschicht angehörten. Ich bin mir der Debatte um eine historische Mittelschicht und ihre Identität in Brasiliens Städten dabei durchaus bewusst und reflektiere diese mit, indem ich an bestimmten Punkten diese Akteure mit einem Selbstverständnis einer modernen Mittel- schichtsidentität gegen die traditionellen und eher aristokratischen Akteure abgrenze.47 Als Elite werden sie hier allerdings auf Grund ihres Einflusses und ihrer Hegemonie, beispielsweise in der Presse, im Erziehungssystem und spezi- fischer in den Sportklubs und -verbänden bezeichnet, worin sie von einer letzten Gruppe abzugrenzen sind, nämlich den Angehörigen nicht-elitärer sozialer Schichten, die die Hegemonie der Eliten herausforderten und sich in suburbanen Klubs und Ligen organisierten. Die Popularisierung des Fußballs bedeutete auch, dass sich Spieler dieser sozialen Herkunft auf der 46 Vgl. P EREIRA , Leonardo Affonso de Miranda, Pelos campos da nação: um goalkeeper brasileiro nos primeiros anos do futebol brasileiro, in: Estudos históricos 10, 1997, Nr. 19, S. 23-40. 47 Vgl. hierzu W EINSTEIN , Weiß, männlich, Mittelschicht, S. 320-326 und 330-332. Siehe auch OWENSBY, Intimate Ironies . 63 Aneignung 63 Basis der universalen Regeln an den elitären »Pionieren« messen konnten. Potenziell bot damit der Fußball auch die Funktion eines sozialen Auf- stiegs, der vor allem über das Halb-Profitum möglich zu sein schien. Dazu war es notwendig, das Amateurethos zu adaptieren. Diejenigen allerdings, die diesen sozialen Aufstieg nicht anvisierten und die zum reinen Vergnügen Fußball spielten, forderten die Gültigkeit und die Universalität des Wertebündels des Amateurethos heraus und stellten es in Frage. Denn sie spielten und organisierten Fußball womöglich völlig anders, nach eigenen Vorstellungen und nicht im Rahmen der von den Eliten ge- wünschten Regeln und Wertevorgaben. Die von den Elitenakteuren gegründeten Klubs und die von ihnen herausgegeben Zeitschriften oder geleiteten Sportredaktionen hielten das Ideal eines Sportlers aufrecht, der den Sport in seiner Freizeit auszuüben hatte und ansonsten einer geregelten Arbeit nachgehen sollte; der sich beim Ausüben des Sports und auch im restlichen Alltag wie ein Gentleman ver- halten und seinem Verein treu sein sollte; der auf dem Sportplatz Werte wie Mannschaftsgeist und Disziplin über Individualismus und Egoismus zu stellen hatte.48 1.2. D IE »N ATIONALISIERUNG « DES A MATEURETHOS IN B RASILIEN Eine Form der Aneignung war, den Fußball und das Amateurethos als nationale historische Tradition zu erfinden. Das ging einher mit einer ver- änderten Sportberichterstattung mit Beginn des Ersten Weltkrieges. Schon vergangene Siege einzelner Klubs und der Nationalmannschaften bereitete die Presse auf und erzählte sie als patriotische Heldentaten wieder. Daraus wob sie einen narrativen Stoff, indem sie Fußballereignisse als Traditionen von Klubs, der Stadt, der Region oder gar der brasilianischen Nation erfan- den.49Ab circa 1915 publizierten die Zeitungen auch Spielerbiografien. Die vorgestellten Spieler stellten sie als Vertreter einer besseren, glänzenden Vergangenheit des Fußballs dar, in der alle Fußballer pure Amateure waren. Ein Beispiel für dieses Narrativ ist eine Interviewreihe, die am 28.2.1918 die Tageszeitung A Gazeta mit »Meistern und Veteranen« (»Campeões e 48 Vgl. Moraes, Jorge de, »A Edução Physica«, Vida Sportiva , Nr. 107, 13.9.1919, S. 17-19, hier 19. 49 Vgl. hierzu auch die Geschichte der Sportkolumne, die Hollanda als Genre be- schreibt, in dem Autoren den Fußball als Tradition »erfinden«: HOLLANDA, O descobrimento do futebol , S. 140 und S. 192 ff. 64 64 Aneignung Veteranos«) des nationalen Fußballs begann. Darin kamen Spieler zu Wort, die an bedeutenden internationalen Spielen teilgenommen, zum Großteil ihre Fußballkarriere aber schon hinter sich hatten. Sie gehörten zur »Pio- niergeneration« des Paulistaner Fußballs, waren Amateursportler und hat- ten Anfang des 20. Jahrhunderts in einem der gerade gegründeten Elitever- eine, wie dem Klub des Mackenzie Colleges begonnen oder hatten selbst einen Verein gegründet. Die Zeitung stilisierte die Spieler dieser Generation nun zu Helden. Das verstärkte die Reihe durch eine ikonografische Darstellung der Spieler, zum Beispiel durch Fotografien der Spieler bei wichtigen Spielzügen. Durch die Aufnahmen war der Leser plötzlich mitten im Spiel und erlebte den Moment des Tors oder der Vorbereitung des Tors noch einmal mit. Auch fingen die Fotografien ein neues Männlichkeitsbild ein und entwarfen es zugleich, um es dann mit erfundenen nationalen und lokalen Traditionen zu verknüpfen.50 Dies geschah auch in einer der ersten historischen Veröffentlichungen zum Fußball, die der angesehene Sportjournalist Antônio Figueiredo 1918 verfasste. Er schrieb bei der Tageszeitung O Estado de São Paulo bzw. beim Estadinho , seiner Abendausgabe. In seiner »Geschichte des Fußballs in São Paulo« (»História do Foot-Ball em São Paulo«) erzählt er die Ent- wicklung des Fußballs als eine Erfolgsgeschichte des Bundesstaates São Paulo, vor allem in Abgrenzung zu Rio de Janeiro. Er stellt sie als Modernisierungspfad dar, auf dem sich der Paulistaner Fußball technisch vor allem durch die Begegnung mit ausländischen Teams entwickelt habe.51 Für Figueiredo bedeutete die Einführung des Sports auch die Entstehung eines neuen Menschentypus, der geistige und körperliche Fähigkeiten in sich vereine. Ähnlich sei dies im antiken Griechenland gewesen, zu dem er eine historische Linie zog und auf diese Weise den sich herausbildenden neuen Menschentypus in eine historische Tradition stellte. Um seine Ar- gumentation zu stärken, bezog er sich auch auf die USA nach der Präsi- 50 Die Veränderung der Sportchronik und fotographischer Darstellung ergab sich schon früher als lange angenommen. Zur Fotografie in der Sportberichterstattung: Vgl. BOTELHO, Da geral à tribuna, S. 325. In der historischen Literatur zur Entwicklung der Sportberichterstattung ist eine Veränderung oft erst mit dem Journalisten Mário Rodrigues Filho in Verbindung gebracht worden: Vgl. HOLLANDA, O descobrimento do futebol , S. 144-147. Hollanda meint, Filho habe die Sportchronik modernisiert und lebendiger und umgangssprachlicher gemacht. Doch auch er weist darauf hin, dass die Pionierrolle für die Modernisierung der Sportchronik durch einige Historiker kürzlich relativiert worden sei, unter Verweis auf ähnliche Entwicklungen in São Paulo seit ca. 1915: Ebd., S. 149. 51 Vgl. F IGUEIREDO , História do Foot-Ball , S. 39-45 und S. 80 f. und 177 f. 65 Aneignung 65 dentschaft Monroes, wo er anscheinend eine solche glückliche Vereinigung und Herausbildung eines neuen Menschentypus verwirklicht sah. Auf dem Weg zu einem modernen Land, so Figueiredo, spiele der Sport, besonders der Fußball, eine herausragende Rolle: Der Sport […] muss für dieses Ziel eingesetzt werden, denn er bereichert die neuen Generationen, er macht sie gesund, bereitet sie auf den Frie- den und den Krieg vor, adelt sie, vergrößert sie. Die Spiele unter freiem Himmel zu vergessen, die in den letzten beiden Dekaden das Vergnügen der Jugend waren, wäre ein Fehler, vielleicht sogar ein Verbrechen.52 Figueiredos Einordnung des Sports ist im zeitlichen Kontext zu sehen: Dass er sich auf die USA als »Sportnation« beruft, hat mit einer Abwen- dung brasilianischer Eliten von Europa zu tun, das sich in Folge des Ersten Weltkriegs in einer kulturellen Legitimationskrise befand, da spätestens jetzt sein spezifisches Fortschritts- und Moderneparadigma als verfehlt wahrgenommen wurde. Zugleich nahmen Sportmedien die USA in den 1920er-Jahren durch die vermehrt stattfindenden internationalen Sport- großveranstaltungen als sportlich erfolgreiche Nation wahr, wie durch die vom amerikanischen Militär und dem YMCA 1919 im französischen Per- shing-Stadion organisierten Inter-Allied Games .53Weiterhin sahen Paulista- ner Intellektuelle in den USA ein Vorbild für die Entwicklung ihres eigenen Staates, vor allem in der Figur des Selfmademan .54 52 Ebd., S. 7. 53 Vgl. D YRESON , Globalizing, S. 97 ff.; »A Olympiada de Anvers. A Participação dos Sportsmen Brasileiros, Chilenos, Argentinos e Italianos«, A Gazeta , 8.1.1920. Das widerspricht der These von Keys, die USA hätten erst in den 1930er-Jahren im Sport eine Anziehungskraft ausgeübt: Vgl. KEYS, Globalizing Sport , S. 75. José Murilo de Carvalho sagt, dass im Zeitraum zwischen 1870 und 1914 im Zuge des Fortschrittsparadigmas urbaner Eliten eine Orientierung an amerikanischen Erziehungsmustern zunahm, dazu zählt er auch Leibeserziehung. Der sportsman habe den »[f]rankophilen Dandy mit seinem belle-époque -Stil [Hervorh. im Original]« abgelöst: Vgl. CARVALHO, José Murilo de, Brazil 1870-1914: The Force of Tradition, in: Journal of Latin American Studies 24, 1992, S. 145-162, hier 147. Die Idee des sportsman als Idolfigur kam sicherlich vor allem noch aus dem britischen und kontinentaleuropäischen Kontext, jedoch existierte ab der Zwischenkriegszeit auch schon eine globale Ausstrahlung der US-amerikanischen Sportkultur. Vgl. zur mit dem Ersten Weltkrieg veränderten Wahrnehmung des Sports als missionarische Möglichkeit der Verbreitung amerikanischer Werte beim US-Militär: POPE, S. W., Patriotic Games: Sporting Traditions in the American Imagination, 1876-1926 , New York/Oxford 1997, besonders S. 139-155. Vgl. auch »O futeból Norte-Americano. O caracter guerreiro des- se jogo e o seu preparo scientifico. Uma victoria do amadorismo«, Sports , 20.5.1921. 54 F ERREIRA , A epopéia bandeirante , S. 114 und 324. Obgleich einflussreiche Paulis- taner Intellektuelle in einer ufanistischen Strömung Ende des 19. Jahrhunderts den 66 66 Aneignung Die Historisierung des modernen Sports als antike Tradition hängt auch mit einer im transnationalen Sportkontext vorherrschenden neo- hellenistischen Bewunderung antiker Vorläufer des Sports zusammen.55 Bestes Beispiel ist Pierre de Coubertin, der die Olympischen Spiele be- wusst als antike Tradition erfand und wiederbelebt sehen wollte, um einen neuen Menschentypus zu formen. Coubertin selbst inspirierte sich bei sei- ner Erfindung der Olympischen Spiele bei den britischen modernen Sport- arten und wollte diese internationalisieren.56Die Aneignung von Sport für Projekte nationaler Erneuerung und Moralisierung wiesen somit eine ge- wisse globale Gleichförmigkeit auf. Zwar verfolgten Autoren wie Figuei- redo nationale Vorhaben, allerdings konnten sie erst vor dem Hintergrund eines transnationalen Austauschs von Ideen, Körperbildern und der Inter- aktion von Sportlern sinnvolle Zusammenhänge schaffen. Auch Figueiredo idealisierte in seiner História do Foot-Ball em São Paulo den Amateursportler: In der ersten »goldenen« Phase des Fußballs zwischen 1902 und 1904 hätten Fußballamateure vor einem eleganten und auserwählten, begeisterten Publikum gespielt. Der Fußball habe sich zwar seitdem vor allem technisch weiterentwickelt, trotzdem sei er in der ersten Phase besonders ursprünglich und zugleich besonders amateurhaft gewe- sen.57Die Spieler hätten kaum ihre Positionen eingehalten, sondern das gesamte Feld bespielt: [B]estimmte Verteidiger – stellt Euch vor! – durchliefen das Feld von einer Seite zur anderen, indem sie täuschten; einige Torhüter, um sich zur Schau zu stellen, entfernten sich von ihrem Posten, blieben im Raum, täuschten auf allen Seiten die Stürmer, die wütend zu ihnen auf- schlossen!!58 Der Fußballspieler musste anscheinend in dieser frühen Phase keine beson- ders ausgefeilte Technik beherrschen, nicht so stark an der Einhaltung der Regeln interessiert und auch weniger diszipliniert sein.59Er war das, was für den britischen Amateursport als allrounder beschrieben ist und sowohl Einfluss der USA in Lateinamerika kritisierten: Vgl. O LIVEIRA , A questão nacional , S. 105-109. 55 In Bezug auf den Neo-Hellenismus im britischen Amateurethos berufe ich mich auf Holt, The Amateur Body, S. 364. 56 K EYS , Globalizing Sport , S. 30 f. 57 Vgl. F IGUEIREDO , História do Foot-ball , S. 77 f. 58 Ebd., S. 78. 59 Vgl. ebd. 67 Aneignung 67 die Spielposition auf dem Fußballplatz als auch die gesamte Lebensein- stellung umfasste.60In seinen Grundzügen hingen auch brasilianische Fuß- ballspieler und Klubs aus der frühen Amateurphase diesem Vorbild des allrounders an.61Beispielhaft sind hier Elitenangehörige wie der schon erwähnte Antônio Prado Júnior, der mehrere Sportarten ausübte, Motor- sport- und Tennisvereine gründete und Mitte der 1920er-Jahre einen Rück- zug seines Klubs C.A. Paulistano aus dem Fußball anstieß, als eine offizi- elle Einführung des Profi-Fußballs absehbar war.62Die Klubgründer des C.A. Paulistano legten von Beginn an Wert darauf, dem Fußball keinen Vorzug vor anderen Sportarten zu geben.63 Der Wandel von der Vorstellung des Amateursportlers als allrounder hin zum spezialisierten Fußballer spiegelte sich in der Art und Weise, wie Zeitungen und Sportzeitschriften Sportler darstellten (Bild 1 und Bild 2). Auch darauf verweist die bereits erwähnte Interviewreihe »Meister und Veteranen«.64Die Reihe stellte die interviewten sportsmen als Vertreter eines im Niedergang befindlichen Ideals dar. Neben den oft ganzseitigen Interviewtexten zeigte sie in den meisten Fällen Porträtfotos der Spieler, oft inszeniert als typische gentlemen : Die Sportbekleidung erinnerte an soziale Kleidung als Ausdruck ihres Status, sie trugen einen Anzug und manchmal eine Krawatte. Ihre gesellschaftliche Position war Voraussetzung für den Zugang zum exklusiven Sportraum. Zunehmend setzten sich jedoch Fotos von Spielzügen durch, die zum einen den Fortschritt technischer Möglich- 60 Das Verständnis des Amateurs als allrounder entstammt Baker zufolge der engli- schen Oberschicht des 19. Jahrhunderts, die den Amateursportler als jemanden sah, der vorausschauend sein sollte, demzufolge mehrere Positionen im Sport und in der Gesell- schaft insgesamt ausfüllen konnte, der also auch Leadership -Qualitäten hatte. Der allrounder war außerdem weder auf eine einzelne Sportart noch überhaupt im Leben auf Sport an sich spezialisiert. Damit, so Baker, intendierten die englischen Vertreter des Amateurethos eine Abgrenzung gegen professionelle Sportler. Sie bezogen sich damit auf Professionalität im Sinne von Spezialisierung insgesamt, verkörpert im Facharbeiter oder im spezialisierten Angestellten: BAKER, Whose hegemony? S. 9 f. 61 Ebenso Marcos Mendonça, eine Torwart des Elite-Klubs Fluminense F. C., der auf dem Höhepunkt seiner Karriere 1919 den Rückzug aus dem Fußball antrat, da er die Zunahme gewaltsamer Ausschreitungen beanstandete: Vgl. PEREIRA, Pelos campos da nação; DERS., Footballmania , S. 109 ff. 62 Vgl. »Antônio Prado Júnior: O Presidente«, in: Club Athletico Paulistano: um clube que cresceu com a cidade , São Paulo 1970, S. 134 ff. 63 Vgl. Bericht über die Generalversammlung des C. A. Paulistano, 28.11.1904, in: Album 1901-1904, S. 220-223, CAP. 64 Die interviewten sportsmen waren die Sportler Hugo de Moraes, Sylvio Lagreca, Francisco de Nascimento Pinto, Adolpho Millon, Mario de Macedo, Dr. Luiz Alberto Pannain, Alencar Mouth, Antonio Picagli, Juan Bertone und Demosthenes de Sylos. 68 68 Aneignung keiten demonstrierten, aber auch eine veränderte Wahrnehmung und veränderte soziale Herkunft des Sportlers.65 Doch auch Fotos vom Platz transportierten Werte des Amateurideals: Wie die Geste des fair-play auf dem Foto unten (Bild 3), auf dem der Spie- ler Sylvio Lagreca dem uruguayischen Spieler Ángel Romano der gegneri- schen Mannschaft Nacional aus Montevideo die Hand reicht. Bild 1: Der Spieler Francisco Bueno Netto von Fluminense F. C. Quelle: Sport Illustrado , Nr. 7, 18.9.1920. Bild 2: Der Spieler Rubens Salles in einem vornehmen Trikot seines Vereins C. A. Paulistano. Quelle: A Gazeta , 20.6.1918. 65 Vgl. Botelho , Da geral à tribuna, S. 325-328. Fotografien waren noch teuer und aufwändig, entsprechend demonstriert ihre Zunahme die Bedeutung des Fußballs in der Berichterstattung: Vgl. ebd. 69 Aneignung 69 Bild 3: Der brasilianische Spieler Sylvio Lagreca und der uruguayische Spieler Ángel Romano des Klub Nacional, Montevideo bei einer Begegnung im Jahr 1917. Quelle: A Gazeta , 7.3.1918. Die Erfüllung des Amateurethos forderten die interviewten sportsmen auch in Begegnungen mit ausländischen Teams ein. Sie verglichen das Ver- halten von Spielern unterschiedlicher ausländischer Teams und am besten beurteilten sie die Spieler Argentiniens und Uruguays. Ein Großteil der in der oben erwähnten Interviewreihe zu Wort kommenden Spieler hatte 1914 an einem Spiel gegen den englischen Profi-Klub Exeter City teilge- nommen. Während die Spieler von Exeter mit ihrer brutalen Spielweise dieses Ethos kaum verkörperten, seien die argentinischen und uruguay- ischen Spieler zumeist vorbildhafte sportsmen .66Aber nicht nur das Verhal- ten auf dem Spielfeld, sondern auch die Art und Weise wie das gegnerische Team im Land empfangen und behandelt wurde, gehörte zum Habitus des sportsman .67Kurioserweise rangierten in dieser internationalen Hierarchie die Briten nur noch weit unten. Die Einführung des Profi-Fußballs in Groß- britannien sah die Sportpresse als eine negative Entwicklung, weil sie einer nunmehr eigenen Tradition widersprach, der des brasilianischen oder im weiteren Sinne lateinamerikanischen sportsman . Dahinter steht ein Männ- 66 Vgl. »Campeões e Veteranos III. Francisco do Nascimento Pinto«, A Gazeta , 15.3.1918. 67 Vgl. ebd. 70 70 Aneignung lichkeitsbild, für das das Amateurideal zentral war, ein Mann, der Interesse an verschiedensten Sportarten hatte, aber auch an Literatur und Hochkultur. Autoren wie Antônio Figueiredo und die Darstellungsweisen in der Sport- presse hatten einen bedeutenden Anteil an der Konstruktion dieses Typus. Sie schufen dieses Bild in der Auseinandersetzung mit der europäischen und US-amerikanischen Sportkultur. Sie eigneten es jedoch für den brasilianischen Kontext nicht unhinterfragt und unverändert an und fügten es zum Beispiel mit regionalistischen Identitätskonstruktionen zusammen. 1.3. F USSBALL ALS I NSTRUMENT ZUR »Z IVILISIERUNG « UND S CHAFFUNG EINER RAÇA BRASILEIRA Eine bedeutende Rolle im Prozess der Verbreitung und Popularisierung des Fußballs spielten Übersetzungen europäischer Fußballregeln, Lehrwerke, Handbücher und Fachliteratur zu Leibesertüchtigung und Sport. Die Über- setzer und Autoren schufen auf diese Weise Wissen über das Spiel und verbreiteten es. Sie orientierten sich dabei aber nicht ausschließlich an Großbritannien; auch Frankreich, das traditionelle kulturelle Vorbild brasilianischer Eliten, und andere Länder sahen sie als »Sportnationen«.68 Schon zum Ende des 19. Jahrhunderts tauchte Sport als Thema in neu gegründeten Illustrierten und Magazinen auf, zunächst noch als elitäres gesellschaftliches Vergnügen eingestuft und auf der gleichen Stufe mit Theater und Varieté stehend. Berichtet wurde vorwiegend von den bei den urbanen Eliten beliebtesten Sportarten, also von Pferderennen und Ruderre- gatten – Fußball war ein Randgeschehen. Die Artikel beschränkten sich meistens darauf, Spiele anzukündigen und die Mannschaftsaufstellungen zu publizieren. Auf ein Spiel verwiesen sie eingehender, wenn es im Rahmen eines Festes stattfand. Auch in den noch relativ kleinen Sportsektionen der Tageszeitungen war das so.69 Ab dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entwickelte Fußball sich zur zentralen Sportart in Brasilien und gewann einen größeren kulturellen Stellenwert. Erzieher, Wissenschaftler und Journalisten waren an dieser Sinnausweitung beteiligt, sie wollten über den Fußball eine homogene raça 68 Auch in Europa ist die Fußballverbreitung nicht genuin Großbritannien zuzuschrei- ben, wie Matthew Taylor meint: TAYLOR, Global Players?, S. 13 f. 69 Vgl. M ELO , Cidade esportiva , S. 187-192. 71 Aneignung 71 brasileira formieren. Ziel war es auch, eine angenommene »Degeneration« Brasiliens aufzuhalten und diese umzukehren.70 Was war der Hintergrund für dieses Denken? Mit dem Ende des Kaiser- reichs und dem Beginn der Ersten Republik sollte das Land umfassend sozialpolitisch reformiert werden. Hinter der »Degenerations«-Theorie standen die Ende des 19. Jahrhunderts in Europa und auch in Brasilien populären »Rassentheorien«, die grundsätzlich davon ausgingen, dass unterscheidbare »Rassen« existierten und eine Mischung dieser »Rassen« zum »Niedergang« der gesamten Bevölkerung führe. Obwohl die »Ras- sentheorien« in Europa und auch Brasilien ab 1915 unpopulär wurden, hielt sich die Theorie der »Degeneration« und eines »sozialen Evolutionismus« bis in die 1930er-Jahre.71Neben der Förderung europäischer Immigration setzten politische und wirtschaftliche Eliten auch auf sozialpolitische Maß- nahmen, um der angenommenen »Degeneration« entgegenzuwirken.72 Dahinter stand auch die Berufung der Reformer auf neo-lamarckianische Theorien, wie allgemein in den Ländern Lateinamerikas mit multiethni- schen Bevölkerungen Anfang des 20. Jahrhunderts üblich. Im Gegensatz zu den in Europa verbreiteten Mendelschen Erb-Theorien gingen Neo- Lamarckianer in Lateinamerika unter Berufung auf den französischen Bio- logen Jean-Baptiste de Lamarck davon aus, von einer Generation zur nächsten vererbte Eigenschaften könnten auch durch Umwelteinflüsse verändert werden.73Die Mendelschen Gesetze als Grundlage der Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen »Rassentheorien« in Europa hingegen nah- men an, die Erbinformationen seien nur durch Kreuzung und Selektion veränderbar, nicht aber durch äußere Einflüsse. Mit der neo- larmackianischen Interpretation tat sich eine große Bandbreite sozialrefor- merischer Instrumente auf, mit denen sich die hypothetische »Rassen- formation« angeblich auch von außen durch die Umwelt steuern lasse. Entsprechend sprachen die intellektuellen Vertreter dieser Richtung auch 70 Vgl. »CLUB ATHLETICO«, Correio Paulistano , 2.12.1900, in: Album 1901- 1904, CAP. Zum Konzept der raça brasileira Vgl. DÁVILA, Diploma de brancura , S. 47-93. 71 B ORGES , Dain, »Puffy, Ugly, Slothful and Inert«: Degeneration in Brazilian Social Thought, 1880-1940, in: Journal of Latin American Studies 25, 1993, Nr. 2, S. 235-256, hier 249. 72 D ÁVILA , Diploma de brancura , S. 55. 73 S TEPAN , Nancy Leys, » The Hour of Eugenics«: Race, Gender, and Nation in Latin America , Ithaca/London 1991, S. 39 und 73 ff. Auch: SCHWARCZ, Lilia, O espectáculo das raças: cientistas, instituições e questão racial no Brasil 1870-1930 , São Paulo 1993, S. 47-66. 72 72 Aneignung nicht mehr von mehreren »Rassen«, sondern von der Entstehung einer »brasilianischen Rasse«. Auch Sport konnte damit als Teil eines sozialen Reformprogramms ge- dacht und entsprechend sollte Sporterziehung national verbreitet werden.74 Gerade Fußball war aus Sicht dieser Reformer eine prädestinierte Sportart, um den modernen Mann auf die Herausforderungen einer modernen, in- dustrialisierten und urbanen Gesellschaft, auch auf das Leben in einer durch zunehmende Auseinandersetzungen zwischen Nationalstaaten ge- prägten Welt vorzubereiten.75 So sah es zum Beispiel Fernando de Azevedo, der den Fußball aus psycho-sozialer Sicht für eine der vollendetesten Sportarten hielt, um einen »neuen Menschen« auszubilden, vor allem auch weil er ein Interesse an Leibeserziehung bei denen wecke, die sich sonst nicht dafür interessieren würden.76Azevedo war Erzieher und Soziologe und von 1927 bis 1931 Diretor da Instrução Pública (Leiter des Erziehungswesens) im Bundes- distrikt Rio de Janeiro. Unter ihm baute die Stadt 16 neue Schulen und reformierte die Escola Normal (Ausbildungsschule), die Lehrpersonal vom Kindergarten bis zur Universität ausbildete.77Er war zudem einer der prominentesten Eugeniker der 1920er-Jahre und fungierte unter anderem als Sekretär der 1918 gegründeten Sociedade Eugênica de São Paulo .78 In einer Veröffentlichung von 1920 plädierte er für die Systematisierung der Leibeserziehung in Brasilien nach dem Vorbild west- und nordeuropäi- scher Länder und der USA. Er war für eine umfassende Sozialreform vor allem im urbanen Raum, für den Bau öffentlicher Sporteinrichtungen, wie Schwimmbäder und Sportplätze, in denen sich Arbeiter von Krankheiten (auch biologischen Erbkrankheiten), negativen Auswirkungen der Stadtluft und der Fabrikarbeit regenerieren sollten.79 74 Vgl. B ORGES , »Puffy, Ugly, Slothful and Inert«, S. 248-249; D ÁVILA , Diploma de brancura , S. 55. 75 Vgl. C ARDIM , Mário, A educação physica na Argentina e no Uruguay, in: Annuario do ensino do Estado de São Paulo , 1918, p. 186-211, hier 189. 76 A ZEVEDO , Fernando de, Da educação physica: o que ella é – o que tem sido – o que deveria ser , São Paulo/Rio de Janeiro 1920, S. 230-237. 77 Vgl. H ERSCHMANN , Micael/K ROPF , Simone/N UNES , Clarice, Missionários do progresso: médicos, engenheiros e educadores no Rio de Janeiro, 1870-1937 , Rio de Janeiro 1996, S. 184-189. 78 D ÁVILA , Diploma de brancura , S. 54. Dávila beschreibt ihn als einen der wesentli- chen Akteure, die Ende der 1920er-Jahre die Eugenik aus dem begrenzten wissen- schaftlichen Umfeld in öffentliche Politik einbrachten. 79 Vgl. A ZEVEDO , Da educação physica , S. 286-287. 73 Aneignung 73 In dieser neuen Auslegung physischer Aktivität definierten Akteure wie Azevedo und auch der weiter oben genannte Figueiredo den Fußball um: Von einem exklusiven sozialen Raum für Eliten zu einem sozialen Raum für möglichst viele Menschen. Doch selbst eher aristokratische Sportpio- niere der ersten Stunde, wie der aus einer illustren Industriellenfamilie Rio de Janeiros stammende Arnaldo Guinle, betrachteten Sport als Möglichkeit, eine raça brasileira zu schaffen. Das war auch die Idee hinter einer Veröf- fentlichung, die er als Präsident des Elitefußballklubs Fluminense F.C. aus Rio de Janeiro zusammen mit dem Präsidenten des Brasilianischen Fußballverbandes CBD und Gründer der ACE ( Associação dos Chronistas Esportivos ), Mario Pollo, publizierte.80Sie verfassten ein Handbuch für Erzieher zur Leibeserziehung auf Grundlage der Theorien Lamarcks. Ein begeisterter Rezensent von A Gazeta hielt zur Grundthese des Buches fest: […W]ir können schlussfolgern, dass von gut ausgeführten Arbeitsbewe- gungen nicht nur die Kraft, sondern auch die Gestalt des Körpers ab- hängt. Im Anblick der eurythmischen Schönheit einer griechischen Sta- tue sehen wir nichts anderes als die Gesundheit und Harmonie, die in aufeinanderfolgenden Generationen erreicht wurden durch die langsame Modellierung auf den stimulierenden athletischen Festen Athens. […] Und jetzt, wo von der Wiederaufrichtung der Rasse gesprochen wird, wo man über bedeutende Probleme der Eugenik, einer Methode, die auf wissenschaftlichen Beobachtungen beruht, nachdenkt, wird eine prakti- sche Methode körperlicher Arbeit notwendig, da Studien dieser Art in unseren Büchereien fehlen. Diese Lücke füllt das Büchlein der Herren A. Guinle und Mario Pollo. 81 Die Grundidee des Buches war, dass Sport und Leibeserziehung einer für wissenschaftlich gehaltenen Methode entsprächen, nämlich der Eugenik, die der »Regeneration« der brasilianischen Bevölkerung diene. Aus dem hygienischen Verständnis von Sport ließ sich ableiten, dass seine Verbrei- tung in allen sozialen Schichten positiv sei, da erst so die mit ihm verbun- dene Erziehungsmission erfüllt werden könne. 80 Die Gesamtausgabe von 1920, Guia Pratico da Educação Physica: calcado no methodo adoptado no Centro de Instrucção Physica de Joinville-Le-Pont , war leider, soweit meine Recherche ergab, in Archiven und Bibliotheken nicht erhältlich. Zu Mario Pollo als Gründer der Associação dos Chronistas Esportivos : Vgl. BOTELHO, Da Geral à tribuna, S. 329 f. 81 »Um Livro sobre Educação Physica pelos Sr.s Drs. Arnaldo Guinle e Mario Pollo (Rio)«, A Gazeta , 9.3.1920. 74 74 Aneignung Allerdings löste die zunehmende Popularisierung des Fußballs auch Bedrohungsgefühle bei den Eliten aus, die ihn über die Klubs und Ligen lenkten: Die soziale Hierarchie der Gesellschaft, in der sie bislang fast natürlicherweise die Spielregeln bestimmt hatten, geriet Anfang des 20. Jahrhunderts ins Wanken. Man reagierte auf diese Bedrohungsgefühle, indem man die Sportregeln dahingehend auslegte, dass die mit der Sport- ausübung verbundenen Werte definiert und geschärft wurden. Damit ver- suchte man, die gegebene Hierarchie im Sportraum zu konsolidieren und zu rechtfertigen. Die Schärfung der Idee des Amateurs und der sportsmanship gehörte dazu – hierüber gelang es Angehörige unterer Schichten auszu- grenzen und von oben auszulegen, wie diese Sport zu praktizieren hatten.82 Die Akteure, die dem Fußball diesen moralischen, über einen reinen Zeitvertreib hinausgehenden, Sinn verliehen und Teil der Hygienebewe- gung waren, vereinten oftmals mehrere gesellschaftlich wichtige Funkti- onen. So waren sie selbst oft Sportler und gründeten oder traten Klubs bei, sie arbeiteten oftmals zugleich als Erzieher oder Journalisten oder standen Kommunikationsmedien nahe, über die sie ihre Ansichten verbreiten kon- nten. In vielen Fällen waren sie beruflich mit dem Sport derart verquickt, dass sie von seiner Verbreitung und Popularität finanziell und statusmäßig abhängig waren.83Sie waren eher Vertreter einer neu entstehenden leis- tungsorientierten urbanen Mittelschicht als einer aristokratischen Ober- schicht. Außerdem hatten sie Verbindungen zu der sich herausbildenden transna- tionalen Sportgemeinschaft, weil sie sich auf Autoren und Spezialisten aus anderen Ländern bezogen, um ihre Position stark zu machen, und auch weil sie mit den internationalen Sportorganisationen und ihren Ideen vertraut waren, so mit der Olympischen Bewegung. Oftmals waren sie selbst auf Reisen das erste Mal mit Sport in Berührung gekommen. Diese Akteure fungierten an einer Schlüsselstelle zwischen einer sich herausbildenden transnationalen Sportgemeinschaft und einer nationalen Reformelite.84 82 Dieses Argument stützt sich auf: H ARGREAVES , Sport, Power and Culture , S. 57-93. Zum Bedrohungsgefühl, ausgelöst durch gesellschaftlichen Wandel, wie Urbanisierung und Industrialisierung in Brasilien: Vgl. CARVALHO, José Murilo de, Os bestializados: o Rio de Janeiro e a república que não foi , São Paulo 1987. 83 Vgl. P EREIRA , Footballmania , S. 42-87; Siehe auch: D ÁVILA , Diploma de brancura , S. 52-57 und STEPAN, » The Hour of Eugenics« , S. 73 ff. und 91 f. 84 Dieser Funktion kommt auch deshalb eine so große Bedeutung zu, weil in Brasi- lien zu diesem Zeitpunkt der Staat noch keine einflussreiche Position in der Lenkung und Organisation des Sports einnahm. Vgl. zur Verbindung von Persönlichkeiten wie Arnaldo Guinle mit der Internationalen Olympischen Bewegung: NETO-WACKER, 75 Aneignung 75 Beispielhaft ist der Lehrer, Journalist, Erziehungsreformer und Sportler Mário Cardim, der sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts für eine Reform des brasilianischen Erziehungswesens und damit einhergehend der Verbreitung des Sports einsetzte. Cardim war Chefredakteur für Auslands- nachrichten bei O Estado de São Paulo , wo er 1907 die erste eigenständige Sportredaktion einer brasilianischen Tageszeitung leitete, und Chefredak- teur der Paulistaner Tageszeitung A Noite war.85In diesen Funktionen berichtete er auch über Fußballspiele und publizierte 1906 einen Guia de Football (Fußballhandbuch), für den er die erste Übersetzung der Regeln der englischen Football Association in das Portugiesische vornahm.861918 führte Cardim eine Studie in Argentinien und Uruguay zur dortigen Ent- wicklung der Leibeserziehung durch, auf der sehr wahrscheinlich auch seine spätere Veröffentlichung von 1929 mit dem Titel Die Leibeserzie- hung in der modernen pädagogischen Praxis beruhte.87Mit seinen Veröf- fentlichungen prägte er nachhaltig die Form der Sportberichterstattung der nächsten Jahre und beeinflusste andere große Sportjournalisten des frühen Fußballs, wie Leopoldo Sant’Anna, Antônio Figueiredo und Paulo Varzea.88 In den späten 1920er-Jahren beauftragte ihn der Bürgermeister Rio de Janeiros, Antônio Prado Júnior, mit der Leitung seines Sekretariats im Hauptstadtdistrikt Rio de Janeiro. Damit stand Cardim in Verbindung zu einem Dreigespann aus Paulistanos, die in dieser Zeit in Rio de Janeiro maßgeblich das Erziehungswesen reformierten.89Diese Gruppe bestand aus dem weiter oben erwähnten Erzieher Fernando de Azevedo, aus Antônio Prado Júnior, der seit 1927 Bürgermeister Rio de Janeiros war, und dem Marcia de Franceschi, Brasilien und die Olympische Bewegung von 1896 bis 1925, in: Stadion 25, 1999, S. 131-137. 85 Vgl. »Cardim, Mário«, aus: C OUTINHO , Afrânio, Brasil e brasileiros de hoje , 2 Vols., 1961, S. 239, nach: World Biographical Information System Online, URL: <http://erf.sbb.spk-berlin.de/han/474383180/db.saur.de/WBIS/biographicMicrofiche Document.jsf> (abgerufen am: 15.8.2011); R IBEIRO , André, Os donos do espectáculo: histórias da imprensa esportiva do Brasil , São Paulo 2007, S. 33. 86 C ARDIM , Mário, Guia de Football , São Paulo 1906. 87 Vgl. C ARDIM , A educação physica, S. 186-211. Leider war seine Veröffentlichung A educação physica na moderna prática pedagógica ( Die Leibeserziehung in der mo- dernen pädagogischen Praxis ) von 1929 nicht in brasilianischen Archiven zugänglich. 88Vgl. RIBEIRO, Os donos do espectáculo , S. 39-43. 89 Vgl. V IDAL , Diana Gonçalves (Hg.), Reforma da instrução pública no Distrito Federal (RJ) 1927-1930 , Arquivo Fernando de Azevedo, Instituto de Estudos Brasileiros, Universidade de São Paulo, URL: <http://www.usp.br/niephe/publicacoes/ index.asp> (abgerufen am: 7.9.2011).; Vgl. HERSCHMANNu.a., Missionários do pro- gresso , S. 184-189. 76 76 Aneignung brasilianischen Präsidenten Washington Luís. Sie alle verband eine beson- dere Affinität zum modernen Sport.90 Im Rahmen seiner Studie von 1918 hatte er in Argentinien und Uruguay die Adaptation europäischer Methoden der Gymnastik, des Sports und der Leibesertüchtigung beobachtet und nachvollzogen. Daraus leitete er Mo- delle für Brasilien ab.91Die beiden Länder, so Cardim, verfügten über einen höheren zivilisatorischen Standard als Brasilien. Argentinien sei Pionier in der Aufnahme von Sport in die Unterrichtscurricula: Der große Drang des Fortschritts und der sozialen Vollendung, der alle Leidenschaften der öffentlichen Männer und der ganzen Masse des Vol- kes dieses Landes dominiert und der die überlegene Bedeutung der ar- gentinischen Nation über alles andere stellt, führt dazu, dass dieses Land als eines der ersten in dieser Welt eine modellhafte Einstellung in Sa- chen Leibeserziehung übernommen hat.92 Cardim lobte die Robustheit und gute Gesundheit der Bevölkerung beider Länder und führte sie auf die Einführung der Leibeserziehung in den Schulen zurück. Die Uruguayer seien wegen der modernen Anwendung der Leibeserziehung sogar von besonders schönem Aussehen.93 Sportliche Erziehung bewertete er als eine staatliche Aufgabe; die argen- tinischen und uruguayischen Regierungen stählten ihre Staatsbürger auf öffentlichen Sportplätzen in den Städten Buenos Aires und Montevideo, auch in den zahlreichen Sportklubs und Schulen.94Nach ihrem Vorbild forderte Cardim 1918 für Brasilien die Einrichtung einer Ausbildungsstätte für Sportlehrer und einer nationalen Aufsichtsbehörde, der Escola Normal 90 Zu Azevedo: Vgl. B ORGES , Dain, »Azevedo, Fernando de«, in: Latin American Lives , nach: World Biographical Information System Online , URL: <http://erf.sbb.spk- berlin.de/han/474383180/db.saur.de/WBIS/basicTextDocument.jsf> (abgerufen am: 29.1.2010). Zu der Gruppe in Rio de Janeiro: Vgl. Reforma da instrução pública no Distrito Federal, vgl. vorherige Fußnote. Ihre Sportaffinität ist hier dokumentiert: »O Circuito de Itapecerica - Berço do Automobilismo Paulista«, OESP , 28.11.1952, in: CPJ Pacote 32 40, Pasta »Notas para o livro ›História dos Esportes em São Paulo‹«, SpUEB; P. Luis an Dr. Raul Leme Monteiro, 14.4.1945, in: CPJ Pacote 32 29, Pasta: »Notas para o livro ›História dos Esportes em São Paulo‹«, SpUEB. 91 Es ist zu vermuten, dass einige Ausführungen aus Azevedos Studie von 1920 auf der Studie von Cardim beruhen, so Azevedos Äußerungen zum zivilisatorischen Fort- schritt Argentiniens und Uruguays in der nationalen Systematisierung der Leibeserzie- hung in der Einleitung zur zweiten Auflage von 1920: Vgl. AZEVEDO, Da Educação Physica , S. 9. 92 C ARDIM , A educação physica na Argentina e no Uruguay , S. 210. 93 Ebd. 94 Ebd., S. 202. 77 Aneignung 77 Superior de Educação Physica und der Inspectoria Estadual de Educação Physica – Einrichtungen, die erst in der Ära Vargas entstanden.95Zuvor war die Ausbildung vor allem an französischen Methoden orientiert und in der Hand des Militärs.96 Schon in seinem 1906 veröffentlichten Guia de Foot-Ball berief sich Cardim auf Beispiele aus in sportlicher Hinsicht als »zivilisiert« geltenden Ländern, um seine Sportmoral auszuführen. Neben den übersetzten Fuß- ballregeln referierte er in dem Handbuch die »physischen und moralischen Qualitäten der Fußballspieler«. Seine Ausführungen beruhten auf einer Studie des zu dieser Zeit für den Bereich der Leibesertüchtigung äußerst populären französischen Autors E. Weber.97Über die Fußballregeln hinaus brachte die Studie dem brasilianischen Fußballspieler die Tugenden eines britischen sportsman näher. Fußball schule die Eigenschaften des moder- nen Mannes: Disziplin, Fairness und Unterordnung des Individuums unter ein Kollektiv. Cardim kritisierte, in den Fußballklubs in São Paulo seien diese Ziele nicht verwirklicht, die Spieler setzten noch zu stark das »Dribbling« als Ausdruck des Individualspiels ein. Sogar das Publikum fordere bei den Spielen, diese Form brasilianischen Spiels zurückzunehmen.98Die Spiel- form des »Dribbling«, also das Mitführen des Balles ohne Abspiel an einen Mitspieler, identifizierte die Presse in Anleitungen zum richtigen Spiel in den Anfangsjahren des Fußballs als typisch brasilianisch und als generellen Ausdruck eines kulturell determinierten Charakterzugs, sich individuell darzustellen und nicht an das Kollektiv und eine gemeinsame Sache zu denken. 95 Vgl. L INHALES , Meily Assbú, A escola e o esporte: uma história de práticas culturais , São Paulo 2009, S. 208-250; ARANTES, Ana Cristina, A história da educação física escolar no Brasil, in: Educación Física y Deportes , Revista Digital 13, 2008, Nr. 124, URL: <http://www.efdeportes.com/efd124/a-historia-da-educacao-fisica-esco lar-no-brasil.htm> (abgerufen am: 14.9.2014). Zu brasilianischen Erziehungsreformen unter Vargas im Vergleich zur Ersten Republik allgemein: Vgl. HENTSCHKE, Jens R., Reconstructing the Brazilian Nation: Public Schooling in the Vargas Era , Baden-Baden 2007, S. 53-73. 96 Vgl. T ERRET , Thierry, French Gymnastics in Brazil: Dissemination, Diffusion and Relocalization, in: The International Journal of the History of Sport 26, 2009, Nr. 13, S. 1983-1998. 97 E. Weber war ein französischer Autor, dessen Buch »Sports atléticos« 1907 ins Portugiesische übersetzt und neun Mal aufgelegt wurde: Vgl. PEREIRA, Footballmania , S. 37 f. 98 C ARDIM , Guia de Football , S. 55. 78 78 Aneignung Im Guia de Football legte Cardim fest, was modern sei und unterwies potenzielle Fußballspieler darin, wie sie diesen fortschrittlichen Status auf dem Fußballplatz und darüber hinaus in ihrem gesamten Wesen und Leben erreichen könnten. Er interpretierte die Fußballregeln und die mit ihm ver- bundenen moralischen Werte als europäisches Wissen, mit deren Umset- zung – der genauen Einhaltung weniger und übersichtlicher Regeln eines enorm regulierten Spiels – auch eine Transformation des brasilianischen Menschen gelingen würde. Die Veröffentlichung Mário Cardims lässt sich in einen Literaturkanon weiterer zeitgleicher Veröffentlichungen einreihen, die alle eine Form von sportlicher »Zivilisierungsmission« miteinander verband.99Die Schriften und Übersetzungen dieser Autoren waren Ausdruck einer allgemeinen Suche nach wissenschaftlich probaten Mitteln und modernen Erkenntnis- sen, wie der Mensch auf die Herausforderungen der modernen Gesellschaft vorbereitet werden könne; wie er zu einem »zivilisierten« Menschen erzo- gen werden könne, in einer Gesellschaft, die sich selbst am Übergang von einer traditionellen zu einer modernen Gesellschaft sah; wie er zu einem modernen, wehrhaften Staatsbürger geformt werden könne; und wie dieser Mensch gleichzeitig den Prototypen einer »neuen Rasse« darstellen könne.100 Der Radius der sportlichen »Zivilisierungsmission« Cardims war jedoch auf eine elitäre Zielgruppe beschränkt, wie es generell auf Veröffentlichun- gen zu Sport in Büchern und in der Presse in diesem Zeitraum zutraf. Dies lag nicht nur an der Verwendung englischer Fachausdrücke, sondern auch 99 Der Begriff der »Zivilisierungsmission« als deutscher Neologismus geht auf einen Tagungsband zurück, herausgegeben von Jürgen Osterhammel und Boris Barth: Vgl. insbes. OSTERHAMMEL, Jürgen, »The Great Work of Uplifting Mankind«. Zivilisie- rungsmission und Moderne, in: Boris BARTH/Jürgen OSTERHAMMEL(Hg.), Zivilisierungsmissionen , Konstanz 2005, S. 363-425. Auch der Historiker José Murilo de Carvalho verwendet ihn für die Vielfalt an durchgeführten Modernisierungsversu- chen, also den Erziehungs-, Reform-, Hygiene- und Urbanisierungsprojekten brasiliani- scher Politiker und Reformer Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Brasi- lien: Vgl. CARVALHO, Brazil 1870-1914, S. 148. Jeffrey Needell charakterisiert alle staatlichen Reformversuche und Reformerfolge des brasilianischen Staates des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als Zivilisierungsmissionen: NEEDELL, The Domestic Civilizing Mission. Zur »Zivilisierung« Rio de Janeiros in der Ersten Republik und Widerständen durch Subalterne: Vgl. MEADE, »Civilizing« Rio , besonders S. 17-44. 100 Beispiele sind frühere Publikationen zur Leibeserziehung, die sich an der »zivilisierten Welt« orientieren und hygienisch für eine staatliche Förderung argumen- tieren: Vgl. VERÍSSIMO, José, A educação nacional , 2. edição augmentada de uma introducção e de um capítulo novos, Rio de Janeiro 1906, S. 74-86; Vgl. NASCIMENTO, Domingos, O homen forte: gymnastica domestica – natação – esgrima – tiro ao alvo , Curitiba 1905, S. V- XVI. 79 Aneignung 79 an den Zugangsmöglichkeiten zu diesem Buch, die schon alleine auf Grund der Lesefähigkeit begrenzt waren.101Im Grunde richtete sich der Guia de football an die Mitglieder der im Buch aufgeführten und schon existieren- den Klubs, also an praktizierende Fußballer aus der urbanen Oberschicht. Wenn es seine Absicht war, dem Fußball neue Spieler zuzuführen, dann verfolgte er diese kaum außerhalb des Radius dieses sozialen Umfelds.102 Tatsächlich hatten zu den Klubs mit ihren exklusiven Ausstattungen nur wenige Menschen Zutritt, in erster Linie nur, wer sich für diesen eleganten Rahmen angemessen kleidete und verhielt. Im Handbuch und in den Zei- tungen manifestierte sich die Exklusivität schon sprachlich: Die Fußballre- geln, die Anleitung für Schiedsrichter, die Handreichungen und auch die ersten Spielankündigungen in der Presse verwendeten englische Fach- ausdrücke für die Spielerpositionen, -regeln und -techniken, wie »half- back«, »touch-Linie« und »kick-off«, ohne sie zu übersetzen.103 Exklusiv waren auch die strengen Aufnahmeregeln der Eliteklubs und ihres 1901 gegründeten Verbandes, der Liga Paulista de Football . Die LPF verlangte von den Klubs einen einmaligen Eintrittsbeitrag von 50$000 réis und den Besitz eines Fußballfeldes nach den international normierten Ma- ßen.104Gerade die zweite Auflage, der Erwerb eines Grundstückes zum Bau einer Klubanlage mit einem Fußballfeld, war für die meisten Klubs auf- wändig und kostspielig. Der Klub Germânia erhob zum Beispiel einen einmaligen Eintrittsbeitrag von 10$000 réis und 2$000 réis Monatsbeitrag. Wie Pereira für Rio de Janeiro anführt, war ein solcher Monatsbeitrag nicht so hoch, dass er Ar- beitern den Zutritt unerschwinglich gemacht hätte.105Viele der Klubs legten 101 Botelho stellt zwar heraus, Anfang des 20. Jahrhunderts hätten öffentliche Lesun- gen in den großen Städten Zeitungsinhalte über den Radius der Alphabetisierten hinaus verbreitet, allerdings waren Form und Ausdrucksweise eindeutig ein Exklusionsmecha- nismus: Vgl. BOTELHO, Da geral à tribuna, S. 317-324. 102 Vgl. hierzu auch T OLEDO , Luiz Henrique de, Lógicas no futebol: dimensões simbólicas de um esporte nacional , unveröffentl. dissertação de doutorado em Antropologia Social, Universidade de São Paulo, São Paulo 2000, S. 43-50. 103 Vgl. C ARDIM , Guia de Football , S. 28 und 63. 104 »Estatutos da Liga Paulista de Foot-Boll (sic!)«, Diário Official , 26.5.1915, APESP. 105 Vgl. Sport-Club Germania, São Paulo, Satzungen, S. 9. Pereira vergleicht die Eintrittsbeiträge der ersten Klubs in Rio de Janeiro, von denen der des Klub Fluminense mit 5$000 réis am exklusivsten war: Vgl. PEREIRA, Footballmania , S. 33. Im Kaufkraft- vergleich zeigt sich für São Paulo, dass zum Beispiel ein erwachsener männlicher Arbeiter in der Textilindustrie im Jahr 1920 am Tag durchschnittlich 5$729 réis verdiente: Vgl. HAHNER, Poverty and Politics , S. 197. Der Mitgliedsbeitrag in einem Klub wie Germânia hätte weniger als die Hälfte seines Tageslohnes umfasst. 80 80 Aneignung jedoch fest, dass nur Zugang habe, wer durch ein Klubmitglied empfohlen und daraufhin durch eine Kommission ausgewählt wurde.106In dieser Hin- sicht waren die ersten Klubs eher an einem aristokratischen Klubmodell orientiert, in dem sich alle untereinander kannten.107Die aufgeführten Exklusionsmechanismen bildeten zusammen genommen eine große Hürde. In einigen der existierenden Elite-Klubs war die volle Mitgliedschaft zu- sätzlich ethnisch beschränkt, so legten die Satzungen des deutschen Im- migrantenklubs Germânia fest, ein vollwertiges Mitglied müsse der deut- schen Sprache mächtig sein.108Diese Einschränkung wurde zwar in einer Nationalisierungskampagne in Folge des Ersten Weltkrieges aufgehoben, da gerade deutsche Institutionen in dieser Zeit Sanktionen erfuhren.109Der Klub Germânia berief sich allerdings auch in den folgenden Jahren stark auf eine gemeinsame Ethnizität und stellte sich als Bewahrer des »Aus- landsdeutschtums« dar.110 Auch der 1914 von italienischen Immigranten gegründete Klub Palestra Itália legte in seinen Statuten fest, ein Mitglied solle »von gutem morali- schem Verhalten sein und nicht von Notbehelfen oder der Herumtreiberei leben.«111Dieser Satz war frei auslegbar und so ist es wahrscheinlich, dass er recht willkürlich angewendet wurde. Die Idee, über den Fußball starke, virile und gesunde Männer zu erzie- hen, war bevormundend. Mit dem Ziel der Schaffung einer raça brasileira unterwarfen die Reformer die Sportler einem missionarischen Anliegen. 106 Das geht zum Beispiel aus den Statuten des S.C. Germânia und des Palestra Itália hervor: Vgl. Sport-Club Germania, São Paulo, Satzungen. Angenommen in der Gene- ral-Versammlung vom 10. Dezember 1904, São Paulo 1905, S. 4, ECP; Vgl. Statuten des Klubs Palestra Itália, Art. 5 a), Sociedade Civil n°440 A, Sociedade Palestra Itália, 15 de dezembro de 1914, APESP. Auch in den Vereinssitzungen des C. A. Paulistano wurde die Aufnahme von Neumitgliedern meistens auf Empfehlungen vorgenommen: Vgl. »Atas da Diretoria«, in: Album »1916-1927«, CAP. 107 Vgl. zur Abgrenzung zwischen einem aristokratischen und bürgerlichen Klubideal in Großbritannien: EISENBERG, »English Sports« , S. 61 f. 108 Vgl. Sport-Club Germania, São Paulo, Satzungen, S. 3. 109 Vgl. Esporte Clube Pinheiros , Albúm do Centenário, 1899-1999 , S. 34, ECP; Vgl. zur Nationalisierungskampagne: »Football. Os Sports na Câmara Municipal«, A Gazeta , 2.2.1920; »A isenção de impostos dos clubs sportivos brasileiros«, A Gazeta , 9.2.1920. 110 Das geht insbesondere aus den Veröffentlichungen anlässlich der Klubjubiläen hervor: Vgl. 25 Jahre Sport Club Germania, 1899-1924 , 1924; 30 Jahre Sport-Club Germania. São Paulo, 7. September 1899-1929 , September 1929. Beide: ECP. Vgl. auch: »Der Sportclub Germania in São Paulo. Ein Stützpunkt des Deutschtums in Brasilien«, Hamburger Nachrichten , 25.8.1932, in: G IV f, n° 19/18, IMS. 111 Vgl. Statuten des Klubs Palestra Itália Art. 5 b). Der Klub hatte ein eher exklusi- ves Profil, ihm gehörten eher italienische Mittelklasseangehörige und Unternehmer an als Arbeiter: LEITELOPES, Classe, etnicidade e cor, S. 141 f. 81 Aneignung 81 Sie überließen ihnen nicht, wie sie den Sport ausüben wollten. Sie nahmen an, ihnen den Weg des brasilianischen »Fortschritts« und der »Modernisie- rung« weisen zu müssen.112Ihren Vorstellungen entsprachen in erster Linie männliche Angehörige der urbanen Ober- und Mittelschicht. Vereine und Fußballanhänger, die nicht in dieses von den Eliten vorgegebene Profil passten und sich den Fußball auf ihre eigene Weise aneigneten und ihn ausübten, gründeten eigene Klubs. Sie bildeten eigene Stile und eigene Formen heraus, dieses Spiel zu praktizieren. Diesen Prozess nahmen die hygienisch argumentierenden Eliten als Popularisierung wahr und verhan- delten darüber in der Sportpresse. Weniger neutral bezeichneten sie ihn als »Dekadenz« und als »Niedergang« des Fußballs.113 1.4. »D EKADENZ «-D ISKURSE UND »N ATIONALISIERUNG « DES F UßBALLS Die Popularisierung des Fußballs, also seine sozial vertikale Verbreitung in den späten 1910er und den 1920er-Jahren, löste unter Schriftstellern, Er- ziehern, Politikern und Sportlern Diskussionen über einen möglichen Nie- dergang des Fußballsports aus. Die Entstehung immer neuer Fußballvereine in den Vororten der großen Städte und das erhebliche Anwachsen des Pub- likums bei Spielen zwischen großen Klubs konfrontierte die oben genann- ten Eliten und Mittelschichtsreformer mit Ausübenden und Zuschauern, die ihre zivilisationsmissionarischen und sozialreformerischen Ideen nicht teilten und im Fußball mitunter etwas völlig anderes sahen. Viele Spieler dieser neuen sozialen Schichten verdienten außerdem mit dem Fußball ihren Lebensunterhalt, indem große Klubs sie in einem ausgeklügelten System des damals sogenannten profissionalismo marron [wörtliche Über- 112 Dieses Argument ist auch angelehnt an das Konzept der »bestializados«, mit dem der Historiker José Murilo de Carvalho den Politikstil und die Idee von Modernisierung und Fortschritt der politischen Eliten der Ersten Republik dargestellt hat: Vgl. CARVALHO, Os bestializados . 113 Der Begriff »Popularisierung« ist den Quellen entnommen. In den Sportteilen der Tageszeitungen oder den Sportzeitschriften bezeichneten die Autoren damit eine massenhafte Verbreitung des Fußballs vor allem unter Bewohnern der ärmeren Stadt- teile und Vororte, bei Arbeitern und Afro-Brasilianern, sowohl als Ausübenden als auch als Zuschauern. Sie konnotierten den Begriff dabei meistens negativ, das heißt als Gegensatz zu einer kultivierten Ausübung. Allgemein zur konnotativen Aufladung von »populär« als gegensätzlich zu »culto«/»erudito« vgl. GARCÍACANCLINI, Néstor, Culturas híbridas: estrategias para entrar y salir de la modernidad , Buenos Aires 1992, S. 13-25. 82 82 Aneignung setzung: »brauner Professionalismus«, Halb-Profitum] alimentierten.114Die Sportenthusiasten der ersten Stunde reagierten unterschiedlich auf diese Entwicklung: Entweder erklärten sie den Fußball zu einem geeigneten Mittel, auf diese neuen sozialen Gruppen Einfluss zu nehmen, oder sie sahen darin ausschließlich eine Bedrohung und weitere Verrohung des ursprünglich elitären Sportes. In dieser Debatte schälten sich verschiedene Gruppen heraus. Die erste Gruppe sah in der Popularisierung auch eine »Nationalisierung« des Fuß- balls. Galt der Fußball bis in die 1910er-Jahre noch als europäischer, ja britischer Sport, so symbolisierte die Ausübung des Sports durch Angehö- rige aller sozialen Klassen für sie nun seine Entwicklung zu einem brasilia- nischen Kulturgut. Den negativen Begleiterscheinungen der Popularisie- rung, also Zuschauerausschreitungen und unsportliches Verhalten, könne Einhalt geboten werden, indem sie von oben gesteuert werde. In der Aus- breitung des Sports, dem »wachsenden Enthusiasmus« für den »liebsten Sport«, sahen sie also auch Chancen.115Die zweite Gruppe sah die Zu- nahme von Gewalt, die Regelmissachtungen und Verstöße gegen die sport- lichen Codes vor allen Dingen als Bedrohung und Zeichen des unaufhalt- samen Niedergangs eines ehemals kultivierten Sports. Im Folgenden werden beide Seiten berücksichtigt und dabei der Diskurs der »Dekadenz« des Fußballs innerhalb der reformerischen und intellektu- ellen Eliten dargestellt. Im darauffolgenden Kapitel werden diese Auseinandersetzungen dann auch aus der Perspektive der an ihnen betei- ligten Klubs und Spieler betrachtet. Die Debatten sind auch im Kontext des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs zu sehen, der auch in abseits des Kriegsgeschehens liegenden Ländern ei- nen »nationalistischen Ausbruch«116verursachte und, wie schon gesagt, eine Abwendung von Europa als unumstrittenem kulturellen Vorbild.117Der Erste Weltkrieg hatte zugleich eine transnationale Katalysatorfunktion für die Popularisierung des Fußballs, die auch in der brasilianischen Sport- presse dieser Zeit spürbar ist.118Der Fußball wurde nun in Brasilien als ein 114 Vgl. A NTUNES , Futebol nas fábricas, S. 102-109; C ALDAS , O pontapé inicial , S. 37-73. 115 »A Resurreição dos musculos«, A Gazeta , 17.11.1919. 116 G EYER , The Mechanics of Internationalism, S. 6. 117 Vgl. A LBERT , Bill, South America and the First World War: The Impact of the War on Brazil, Argentina, Peru and Chile , Cambridge 1988, S. 313-319. 118 Auf die Popularisierungswirkung des Weltkriegs für den Fußball in Europa, sogar durch freundschaftliche Spiele zwischen britischen und deutschen Soldaten zwischen den Schützengräben und als Mittel zu Erhaltung der Kampfmoral, haben Fußballhistori- 83 Aneignung 83 Sport wahrgenommen, der nicht nur »als Leibesertüchtigung an den Tagen der Vorbereitung auf das Leben in den Schützengräben genutzt wurde, sondern der auch als Stärkung der Nerven derjenigen diente, die jeden Moment dem Tod die Stirn bieten mussten.«119Insgesamt ließen die Kriegserfolge Englands, Frankreichs und der USA als Resultat sportlicher Ausbildung in diesen »Sportnationen« eine positive Sicht der Popularisie- rung des Fußballs zu. Diskurse um Popularisierung und »Dekadenz« des Fußballs fanden nur vermeintlich in einem nationalen oder gar lokalen Rahmen statt, vielmehr nahmen die moralisierenden Mittelschichtsangehö- rigen Bezug auf internationale Geschehnisse und die Bedeutungszunahme sportlicher Großveranstaltungen in der Zwischenkriegszeit. In dieser Hin- sicht wandten sich die Eliten also nicht einfach von Europa ab, weil sie doch weiterhin auf die Siegermächte England und Frankreich blickten. Auf der einen Seite der Debatte für und wider den Fußball standen dabei Verfechter, die ähnlich wie Antônio Figueiredo argumentierten und den Sport als Mittel sahen, ein neues, harmonisches Menschenbild zu schaffen. Fußball war hier Mittel zum Zweck und erfüllte die Aufgabe einer diszipli- nierenden Praxis, die sich komplementär zu geistiger Tätigkeit verhielt. Auf der anderen Seite standen Schriftsteller und Journalisten, die nicht daran glaubten, der Fußball könne diesen Zweck erfüllen und die gerade auf Grund der jüngsten Entwicklungen der Professionalisierung und Popularisierung Bedenken hatten. Sie vermuteten hier eher eine kulturelle Bedrohung für Brasiliens sozio-kulturelle Entwicklung.120 Am meisten Aufsehen erregte eine zwischen 1919 und 1921 von dem Schriftsteller Lima Barreto und dem Journalisten und Anwalt Carlos Süsse- kind de Mendonça geführte Debatte, die sich unter anderem in einem offe- nen Briefwechsel über ihre gemeinsame Ablehnung des Sports auseinan- dersetzten. Die Briefe von Mendonça wurden Ende 1921 als Buch unter dem Titel Porque o esporte está deseducando a nossa mocidade veröffent- ker und –historikerinnen verschiedentlich hingewiesen: Vgl. K OLLER , Transnationalität; auch LANFRANCHI, Pierre, Frankreich und Italien, in: EISENBERG(Hg.), Fußball, soccer, calcio , S. 41-64, hier 51 ff. EISENBERG, Christiane, Deutschland, in: DIES. (Hg.), Fuß- ball, soccer, calcio , S. 94-129, hier 103 ff. 119 »Inicio da Temporada Britannica. Bellas Consequencias da Guerra - Muitos Aficionados estreiam; Grande Enthusiasmo - Concorrencia Avultada; Augmento das Localidades«, A Gazeta , genaues Datum unbekannt, vermutlich zwischen 7. und 12.11.1919. 120 L INHALES , A escola e o esporte , S. 46 f. 84 84 Aneignung licht.121Er behauptete, die Annahme geistiger und körperlicher Harmonie durch Sport sei ein Trugschluss eines inzwischen intellektuellen Mainstreams. Seine Kritik setzte an drei Schlüsselargumenten an, die die Befürworter einer Basis-Sporterziehung an den Schulen anführten: Sport halte die Menschen von Lastern ab, wie zum Beispiel dem Trinken und Glücksspiel, er stelle eine Sublimierung sexueller Triebe dar und er erziehe zur Solidarität.122 Das vorherrschende Credo des mens sana in corpore sano , das Hygieni- ker wiederholt als Ausdruck für die körperlich-geistige Harmonie kolpor- tierten, lehnte er ab: Gerade durch die Popularisierung des Fußballs näh- men die beschriebenen Missstände noch zu, denn sie führe dazu, dass im- mer mehr Menschen passive Anhänger und keine aktiven Sportler wür- den.123Auch die Ausübenden entwickelten sich nicht automatisch zu besse- ren Menschen, wenn die Klubs mit ihrem Profitinteresse falsche Grundla- gen legten. Gegen den modernen Sport spreche außerdem, so Mendonça, dass er eine fremde kulturelle Praxis sei, die mit den klimatischen Bedin- gungen Brasiliens und den Eigenschaften der Brasilianer nicht überein- stimme. Die Übernahme fremder kultureller Praktiken erschwere eine brasilianische Identitätsfindung.124 Mit seinen Äußerungen stellte Mendonça sich gegen wesentliche Ver- treter des Sportjournalismus, die zu dieser Zeit argumentierten, der Sport und vor allem der Fußball hätten einen besonders hohen moralischen und deshalb pädagogischen Wert für die Jugend Brasiliens. Nun behaupteten Autoren das Gegenteil. Während Mendonça den Sport als ein den Brasilia- nern fremdes Kulturprodukt ansah, das brasilianischen Traditionen wider- spreche, argumentierte Lima Barreto gegen den Fußball aus einer sozialen Perspektive.125Fußball distinguiere sozial und diskriminiere. Lima Barreto klagte unter anderem auch einen ihm innewohnenden rassistischen Charak- ter an, nachdem 1921 das Gerücht umging, der Präsident Epitácio Pessoa 121 Ebd., S. 46 f.; Vgl. den Abdruck von Auszügen aus dem Buch in »Varias. Um ataque contra o Esporte. Como Sussekind de Mendonça ataca o esporte nacional, especialmente o futebol«, Sports , 21. August 1923, Anno IV, 21.8.1923. 122 Zitiert nach: L INHALES , A escola e o esporte , S. 46 f. 123 Zitiert nach: L INHALES , A escola e o esporte , S. 49- 61. Als Beispiel für das Credo im Zusammenhang mit dieser Debatte: Vgl. Souza, A. de, »Mens sana in corpore sano!«, Vida Sportiva , Nr. 87, 26.4.1919, S. 16. 124 Zitiert nach: L INHALES , A escola e o esporte , S. 49- 61. 125 Vgl. ebd., S. 43-61. Vgl. auch P EREIRA , O jogo dos sentidos, S. 206-224; D ERS ., Sobre confetes, chuteiras e cadáveres: a massificação cultural no Rio de Janeiro de Lima Barreto, in: Projeto História , 1997, Nr. 14, S. 231-241; BOTELHO, Da geral à tribuna, S. 330-333; ANTUNES, » Com brasileiro, não há quem possa!« , S. 22. 85 Aneignung 85 hätte persönlich dafür gesorgt, dass keine afro-brasilianischen Spieler in der brasilianischen Nationalmannschaft nach Argentinien reisten.126Er gründete, die Fußballbewegung ironisierend, eine »Liga gegen den Fuß- ball« (»Liga contra o foot-ball«).127 In der Zeitschrift Sports , einem seit 1919 herausgegeben und von der APEA mitfinanzierten Sportmagazin,128nahm auch der Journalist, Politiker und Fußballspieler Alexandre Barbosa Lima Sobrinho ausführlich Stellung zu der Veröffentlichung von Mendonça.129Lima Sobrinho wog die Argu- mente für und wider den Fußball ab. Er glaubte, der Fußball beeinflusse In- tellekt, Physis und Moral eines Menschen positiv:130 Der Fußballspieler benötigt Entscheidungsqualitäten. Die Entwicklung des Spiels bringt ihn oftmals in besondere Situationen, die ihn zu un- mittelbaren Entschlüssen zwingen. Daher rührt der Habitus der schnellen Entscheidungen, was in den anstrengenden Kämpfen eines der besten Elemente für den Sieg ist. Außerdem ist der Fußball ein Gemeinschaftsspiel. Die beste Taktik ist die der Kombination, in der die Spieler verschwinden und sich auflösen zum Wohle und zum Vorteil der Gruppe, eine Einstellung der Entsagung ist ein hoher Ausdruck von Solidarität. Auch lehrt der Fußball die Disziplin, eine seltene Eigenschaft in unse- rem Land des lächerlichen, nutzlosen und verhassten ›es geht nicht‹. Denn die diskrete Autorität des Kapitäns und des Schiedsrichters erhebt 126 P EREIRA , O jogo dos sentidos, S. 215 ff. Vgl. auch Kapitel 4.1.2, S. 251 der vorliegenden Arbeit. 127 Vgl. P EREIRA , O jogo dos sentidos, S. 206-209; Vgl. »A Liga contra o football«, Vida Sportiva , Nr. 102, 9.8.1919, S. 22; SANT’ANNA, Leopoldo, »O Momento«, A Gazeta , 18.03.1919. 128 Diese Zeitschrift wurde laut den Angaben im Editorial von dem einflussreichen und sportenthusiastischen Schriftsteller Henrique Coelho Netto und von Thorwald Rasmussen, mit einer längeren Unterbrechung zwischen April 1921 und Mai 1923, seit 1919 herausgegeben und seit Anfang 1920 mit einem monatlichen Zuschuss von 150$000 réis von der lokalen Liga APEA gefördert: Sports , 20.5.1923; »Associação Paulista de Sports Athleticos«, A Gazeta , 9.2.1920. Zu Coelho Netto: PEREIRA, O jogo dos sentidos. 129 »Lima Sobrinho, Barbosa«, in: Dicionário Histórico-Biográfico Brasileiro , URL: <http://www.fgv.br/cpdoc/busca/Busca/BuscaConsultar.aspx>(abgerufenam: 14.9.2014). 130 Lima Sobrinho, Barbosa, »A utilidade do Futeból. Os tres aspectos da questão - intellectual, moral e physico - O professionalismo disfarçado como o elemento mais desprestigiador do esporte bretão«, Sports , 21.8.1923, Anno IV, S. 28 ff. 86 86 Aneignung sich als unwiderstehliches Prinzip über die Macht und unterwirft das Rebellentum der Kraft ihrer Willkür. Seit seiner »Demokratisierung« werde der Fußball aber vor allem von »Herumtreibern« (»vagabundos«) ausgeübt, so Lima Sobrinho, die die Werte Solidarität, Unterordnung unter einen Mannschaftskapitän und Disziplin nicht respektierten und sogar schlechten Einfluss auf die Jugend ausübten. Die jüngste Entwicklung des Fußballs zeige seine Veränderung zum Massensport – die Veranstalter von Spielen interessiere nur noch Profit. Da die Massen, so Lima Sobrinho, immer mit dem gewinnenden Team hielten, bildeten die Klubs die Spieler nur noch für dieses Ziel aus: Die erste Konsequenz ist, dass seine Mitglieder nicht mehr ausgesucht werden. Jeder, der spielen kann, nützt dem angestrebten Ziel. Und weil die Herumtreiber mehr Muße haben, können sie besser trainieren und sich auf diesem Wege verbessern, in kurzer Zeit werden sie die Mehrheit auf den Spielplätzen darstellen und die Wohlerzogenen fernhalten, die durch den Kontakt mit ihnen in höchste Verlegenheit geraten. Wer die Entwicklung des Fußballs mitverfolgt, beobachtet unter seinen Tenden- zen eine zur exzessiven Demokratisierung. Er kam aus den Eliteschich- ten zu denen des Abschaums durch die Mobilisierung der Herumtreiber. 131 Lima Sobrinho stützte in seiner radikalen Argumentation Mendonças An- griffe gegen den Sport. Eine erzieherische Wirkung des Fußballs sei nicht garantiert, es komme zu sehr darauf an, wer ihn ausübe. Besonders deutlich unterschied Lima Sobrinho, wie auch Mendonça, zwischen dem Fußball als erzieherisches Mittel an den Schulen und dem Fußball als Spektakel für Zuschauermassen in Stadien, denn »sobald er in die luxuriösen Stadien geht, pervertiert und schadet er, indem er seine Spieler gegenüber den Profis einebnet.« Lima Sobrinho beschrieb den Fußball als Massen- spektakel wie folgt: Da er ein Spiel ist, zieht er leicht die Massen in seinen Bann und verur- sacht brennenden Enthusiasmus, Grund für seine Entstellung. Es bilden sich ›clubs‹, die die Legionen von Anhängern anziehen; an den Ein- gangstoren der geschlossen Spielfeldern werfen die Einnahmen genü- gend für die Finanzierung der Spieler ab.132 131 Ebd. 132 Ebd. 87 Aneignung 87 Der Profi-Spieler, den Lima Sobrinho hier beschrieb, stand im Widerspruch zum Amateur. Ihn zeichne nicht die angestrebte harmonische Vereinigung von Intellekt und physischer Kraft aus, sondern die Brutalität, die Unhöflichkeit und Ungebildetheit, wenn nicht sogar pedantische und anmaßende Dummheit, was noch schlimmer ist. […] Im Spiel will der Professionelle um jeden Preis gewinnen, um den Lohn, den er erhält, zu rechtfertigen. Dazu verwendet er alle niederträchtigen Methoden, unredlichen Tricks, wie Beinstellen und sogar Schläge und Tritte, oftmals verkrüppelt er seinen Gegner dabei für immer. Er ordnet sich den Entscheidungen des Schiedsrichters nicht unter und es macht ihm nichts aus, den Schiedsrichter als Gauner zu bezeichnen und ihm das bei Gelegenheit sogar zu sagen. Er verliert völlig die Vorstellung von Gerechtigkeit […].133 Lima Sobrinho beschrieb einen Wandel von puren Amateuren zu profitorientierten Spielern, die die Ideale des Amateurethos aus den Augen verlieren und gewalttätig werden. Schon 1918 hatte der Journalist Marcio Vidal in der Zeitschrift Vida Sportiva , dem offiziellen Organ der ACE, sich abschätzig über halbprofessionelle Spieler geäußert. Er bezog sich auf zwei Fälle, in denen Spieler aus Klubs der Liga Metropolitana zu suburbanen Klubs gewechselt waren. Er wolle in seinen Ausführungen nicht so weit gehen zu sagen, Geld habe eine Rolle bei dieser Entscheidung gespielt, aber dennoch sei es in- zwischen zur Gewohnheit geworden, Spieler nach ihrer Leistung auszu- wählen. Diese seien keine wahren sportsmen . Das seien diejenigen, die den Sport um des Sportes willen praktizieren; die den Stolz besitzen auf ihren Schultern die Insignien des Klubs zu tragen, zu dem sie gehören; die ihren Klub mit Hingabe verteidigen, dafür jedwede Art von Opfer auf sich nehmen; für die es keine Versuchung gibt, die sie dazu bringen könnte, ihre Kollegen zu verlassen; die ihren Klub als sportliches Heimatland betrachten […].«134 Einen echten sportsman mache »die sportliche Disziplin, die Liebe zur Flagge, die er angenommen hat und der Opfergeist […]« aus.135Er betonte, die Vereine sollten Vorkehrungen treffen, um keine »fremden Elemente« in die Klubs zu lassen, diese seien »Pfröpflinge, die schlechte Früchte geben, 133 Ebd. 134 »A Prata da Casa«, Anno II, Nr. 50, Vida Sportiva , 3.8.1918, S. 1. 135 Ebd. 88 88 Aneignung Parasiten, die die Bäume töten, an die sie sich anhängen, wenn sie nicht rechtzeitig vernichtet werden.«136Diese drastische Ausdrucksweise richtete sich gegen die Aneignung des Fußballs von unten und weist darauf hin, wie stark Fußballer aus der Elite die Popularisierung auch als Bedrohung emp- fanden. Der Wechsel des Vereins widersprach grundlegend dem Ideal des Amateursportlers, das führte zum Beispiel der Schriftsteller Henrique Coelho Netto aus. Netto war eines der ersten Mitglieder des Elitevereins Fluminense F.C. in Rio de Janeiro und gleichzeitig einer der erbittertsten Verfechter des Amateursports. Er formulierte seine Position zum Amateur- sport kurz vor dem anstehenden Campeonato Sul-Americano 1918, das in Rio de Janeiro stattfinden sollte: Es ist nicht gerecht, das unter den Mitgliedern einige weiterhin die kor- rekten Normen befolgen und nur Amateure anstellen, während andere, mit Skandal und unter generellem Protest, Spieler aufnehmen, die per Vertrag angestellt werden, die Söldner sind und die sich den Klubs nicht aus Liebe zu ihrer Fahne anschließen, sondern aus dem Interesse, wel- ches sie ihm abgewinnen können.137 Weiter meinte er: »Der Klub sollte für den Spieler wie eine kleine Heimat sein, der er sich widmet und für die er sich freien Herzens aufopfert ohne ein anderes Interesse als das des Sieges.« Er verglich Profi-Spieler mit Söldnern in der Antike, die nicht mit regulären Soldaten eines kriegeri- schen Heeres zu vergleichen gewesen seien. Zudem könne ein Klub, der mit Profi-Spielern ein Spiel gewinne, nicht stolz auf diesen Sieg sein, denn »er gewinnt nicht wegen der Anstrengung seiner Mitglieder, sondern we- gen der Pflicht seiner Angestellten […].«138 Gehäuft berichteten die Zeitungen Ende der 1910er- und zu Beginn der 1920er-Jahre über aufgedeckte »Skandale« von Halb-Profitum in den gro- ßen Klubs Rio de Janeiros und São Paulos. Sie sollten den Lesern als Lehreinheiten dienen, wie ein idealer Amateurspieler auszusehen habe. Auch hier orientierten sich die Zeitungen, hinsichtlich der Reformen der Statuten und des rechtlichen Umgangs mit Regelverstößen im Umfeld der Ligen, stark am Ausland – entweder indem sie Präzedenzfälle zitierten oder 136 Ebd. 137 »O Profissionalismo«, Vida Sportiva , 28.9.1918, Anno II, N. 58, S. 3. 138 Ebd. 89 Aneignung 89 auf dort bereits durchgeführte Reformen verwiesen.139Es gab Wechselwir- kungen lokaler und internationaler Entwicklungen im Fußball. Über die Presse nahmen auch die Leser selbst Vergleiche und Abgren- zungen vor. Als 1928 O Estado de São Paulo seine Leser aufrief, sich zur Einführung des Profitums zu äußern, meldete sich ein Leser, der einen entscheidenden Unterschied zwischen Europa, Nordamerika und Brasilien sah. In Europa und Nordamerika gäbe es keinen Mangel an Arbeitskräften, der Profi-Fußball entziehe sie nicht dem Arbeitsmarkt, Arbeit stelle dort zudem ein »Grund des Stolzes« dar. Anders in Brasilien, wo ein »Fußball- fieber« herrsche und Arbeit für viele eine »Schande« sei; hier benötige der Arbeiter den Fußball nicht zum Zeitvertreib, die »parasitären Klassen« sollten sich ausruhen statt Sport zu treiben.140 Wiederholt beschrieben Journalisten die Zunahme von Gewalt als eine Begleiterscheinung der Popularisierung des Fußballs. Fußball hatte sich in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts in ein Massenphänomen verwan- delt, Journalisten erfassten ihn explizit als Sport der »Massen«.141Doch nicht alle kamen zu solch negativen Urteilen wie Lima Barreto, Mendonça oder Lima Sobrinho. Der leitende Sportredakteur von A Gazeta , Leopoldo Sant’Anna, sah die Unterstützung von Fußballklubs durch die Regierung, die Lima Barreto ebenfalls kritisierte, als begrüßenswert, denn so zumin- dest würden die abgeführten Steuern an das Kollektiv zurückgegeben, an alle sozialen Klassen, und landeten nicht in den Taschen der »Familien und […] Freunde und Angestellten der Bosse.« Den Fußball beschrieb er als 139 Vgl. zum Beispiel eine Forderung nach einer Reform der Statuten der APEA am Beispiel europäischer Ligen: »Football. O Momento«, A Gazeta , 23.7.1919. Vgl. auch zum Profitum im Ausland, vor allem in Spanien und Uruguay: »Football. Notas Hespanholas. O Football - O Professionalismo - O Suborno - A Temporada de Outubro - Um Interessante Commentario do ›Figaro‹ sobre o Profissionalismo«, A Gazeta , 31.12.1919; »Football. Notas Uruguayas. A Familia Brown - O Professionalismo agita o Mundo Sportivo - Jogadas Famosas - Viagens que Fracassam«, A Gazeta , 8.3.1920; »Quando chegara' a nossa vez? O Professionalismo no Exterior«, A Gazeta , 13.2.1922. 140 »A questão do professionalismo. O inquerito do ›Estado‹ -- Um ponto de vista curioso«, OESP , 6.3.198, S. 9. In der Interviewreihe des O Estado de São Paulo äußerten sich bekannte lokale sportsmen aus São Paulo, so auch Charles Miller. Er habe ein Spiel der Profi-Liga in England verfolgt, das im Vergleich zu Amateurspielen langweilig gewesen sei: »Esporte. Futebol. A questão do professionalismo«, OESP , 9.3.1928, S. 7. 141 Sant’Anna, »O Momento«, A Gazeta , 18.3.1919. Dass der Wandel der Kommunikationsmedien stark mit der Entstehung einer»Massenkultur« zusammenhing und sie reflektierte, ist in ganz Lateinamerika in den 1920er-Jahren beobachtbar. Vgl. zu Chile: RINKE, Stefan, Cultura de masas, reforma y nacionalismo en Chile , Santiago de Chile 2002. 90 90 Aneignung eine eigene Welt, in der der Mensch seine »Schulden, seinen Ärger« für einen Augenblick vergessen könne.142 Die Sportpresse beklagte Ende der 1920er-Jahre nicht nur den sozialen Wandel des Publikums und der Zuschauer. Sie kritisierte, die Vereine und Ligen würden mehrheitlich von sogenannten »cartolas« (wörtlich: »Zylin- dern«) gelenkt, die kaum mehr Interesse am Sport an sich hätten und denen es vor allem darum gehe, an den Stadionkassen Geld einzunehmen und die Fußballklubs zu profitablen Unternehmen auszubauen.143Sie rekrutierten talentierte Fußballspieler aus suburbanen Klubs oder Fabrikklubs, wie dem Vorortverein Bangú, und alimentierten sie in einem ausgeklügelten System des Halb-Profitums. Die Spieler gaben sich nach außen als Amateure, da nach den offiziellen Regeln die Bezahlung von Spielern verboten war und sanktioniert wurde, lebten in Wahrheit aber vom Fußball. Zu dieser Entwicklung trugen auch die Zunahme internationaler Sport- wettkämpfe und der Erfolg bei Olympischen Spielen bei.144Die Sportler und Mannschaften galten als Helden, sie standen symbolisch für die Nation oder Region. Entsprechend wurde der Zuschauer am Spielfeldrand zu einer wichtigen Komponente des Geschehens – nicht nur weil er Eintrittsgeld zahlte, auch weil er durch seinen Jubel die Spieler dazu anstachelte, bis an die Grenzen des körperlich Leistbaren zu gehen. Das Amateurethos definierten seine überzeugtesten Vertreter just dann stärker, schärften und verteidigten es, als sie mit dem Auftreten von Halb- Profis und einem sie stützenden und auf Profit aufbauenden System ihre 142 Sant’Anna, »O Momento«, A Gazeta , 18.3.1919. 143 Vgl. »As autoridades do Futebol e a imprensa«, OESP , 24.5.1930; »Futebol. A Crise de Jogadores. A escolha de campeões«, OESP , 30.5.1930. Der Wandel der ad- ministrativen Führung der Klubs wird zum Beispiel von Paulo Varzea in seinem Vor- wort zum Buch von Floriano Peixoto Corrêa beschrieben, in dem er prinzipiell profitorientierten Klubvorständen die Schuld am »falso amadorismo« (»falsches Amateurtum«) gibt: Vgl. CORRÊA, Grandezas e misérias , S. 17-50. An der adminis- trativen Spitze der Fußballligen gab es weitestgehend eine Kontinuität urbaner Eliten, wie zum Beispiel die Herkunft der gewählten Mitglieder zum Vorstand des lokalen Fußballverbandes São Paulos, APSA, im Jahr 1920 zeigte, die alle aus freien Berufen und der lokalen Kaffeeelite stammten: »A Assembléa Geral da A. P. de S.A. A sua nova directoria – importantes resoluções«, A Gazeta , 23.1.1920. Der Begriff »cartolas« ist in Brasilien noch heute die geläufige und abschätzige Bezeichnung für profitorientierte Vereinsmanager. 144 1928 war Fußball bei den Olympischen Spielen in Amsterdam die bei Weitem po- pulärste Disziplin mit dem höchsten Zuschaueranteil von 250.347 Zuschauern: Vgl. IXe Olympiade Amsterdam 1928, Rapport Officiel, Annexe IV: Diagramme du nombre total des spectateurs payants pour les différents sports et pour la séance d’ouverture, FFC. 91 Aneignung 91 gesellschaftliche Position bedroht sahen. Mit seinem Wandel zum Geschäft kam dem Fußball in ihren Augen sein moralischer Sinn abhanden. Diese Entwicklung, die Ausrichtung des Fußballs nach anderen Prinzipien, be- deutete für die Eliten einen Kontrollverlust über diesen Sport. Er unterlag nicht mehr den Wertevorgaben, die die Fußballpioniere in den Handbü- chern festgelegt hatten und die sich darüber hinaus in kulturellen Verhal- tenscodes spiegelten, sondern den Regeln eines gewinnorientierten Marktes und den Vorstellungen der sich ihn aneignenden sozialen Gruppen. Den Reformern und Sporteliten entglitt der Fußball als ein Instrument, mit dem sich soziale Kontrolle ausüben und eine raça brasileira formen ließ. Dies mündete teilweise in einen Rückzug einiger Sportpioniere aus dem Fußball oder aber in weiteren Versuchen der Exklusion oder der hegemonialen Kontrolle.145Wie Leonardo Pereira argumentiert, vereinte die reformeri- schen Befürworter und die Gegner des Fußballs, dass sie im Fußball einen moralischen Sinn sahen – so unterschiedlich ihre Schlussfolgerungen auch waren, wie die Popularisierung des Fußballs sich auswirken würde.146 1.5. F UTEBOL DE VÁRZEA UND P OPULARISIERUNG Tatsächlich hatte sich in Rio de Janeiro und São Paulo seit dem ersten Jahr- zehnt des 20. Jahrhunderts eine alternative Klublandschaft herausgebildet, zum großen Teil als Reaktion auf die Exklusion aus den elitären Verei- nen.147Arbeiter und Angehörige der Mittelschicht gründeten Vereine und füllten die wenigen freien Stunden zwischen Arbeit und häuslichen Ver- pflichtungen mit Freizeitaktivitäten. Sport wurde immer populärer und seit dem ersten Jahrzehnt bis in die 1920er-Jahre vervielfachte sich die Anzahl der Sportklubs in den urbanen Arbeitervierteln und Vorstädten ( subúrbios ) Rio de Janeiros und São Paulos.148 Alle Arten von Sport waren in ihrem Spektrum vertreten, doch bei wei- tem am Populärsten war der Fußball, er entwickelte sich zum wichtigsten Zeitvertreib der Arbeiterschaft. Diese Vereine entstanden unter prekäreren 145 Vgl. P EREIRA , Pelos Campos da Nação; D ERS ., O jogo dos sentidos. 146 Vgl. P EREIRA , O jogo dos sentidos, S. 217-224. 147 B UTLER , Freedoms Given , S. 78-87. 148 In Rio de Janeiro wuchs die Einwohnerzahl in der Nordzone der Stadt und den außerhalb des Zentrums liegenden Vorstädten während und nach den Sanierungsmaß- namen von 1906 überproportional an: Vgl. MEADE, »Civilizing« Rio , S. 121-125. São Paulo verzeichnete ebenso ein Anwachsen der Industrievororte im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts: Vgl. LOVE, Joseph LeRoy, São Paulo in the Brazilian Federation, 1889-1937 , Stanford, Calif. 1980, S. 26. 92 92 Aneignung Konditionen als die Klubs der Elite mit ihren mondänen Klubhäusern auf weit angelegten Grundstücken mitten in der Stadt. In São Paulo spielten sie ihn entlang der Flussufer ( várzea ) auf brachliegenden Grundstücken, daher stammt der Begriff futebol de várzea , der sich in der zeitgenössischen Lite- ratur als allgemeiner Begriff für nicht-elitären, urbanen Fußball durchge- setzt hat.149 So erwähnt der Historiker Joseph Love in seiner Regionalstudie zu São Paulo ausdrücklich den futebol de várzea als Freizeitaktivität in São Paulos Arbeitervierteln Brás und Belenzinho. Er sei eine Adaptation des elitären Fußballs, im Gegensatz zu diesem aber besonders gewalttätig gewesen: »The working-class version was rough, and some players even went armed to the matches. Italian, Spanish, and Portuguese immigrants participated, often basing their teams on the factories where they worked.«150Mit dieser Bewertung nimmt Love Urteile über den várzea -Fußball auf, die Paulista- ner Sportjournalisten und die oben beschriebenen Reformer und Sportler gefällt hatten: Sie beschrieben ihn als besonders gewaltvoll und werteten ihn gegenüber dem Fußball der Eliteklubs ab. In Rio de Janeiro, wie Pereira nachweist, gründeten Arbeiter und Ange- hörige der urbanen Mittelschicht alleine im Jahr 1907 mehr als 40 neue kleinere Fußballklubs, so dass die sechs Elitevereine der 1905 gegründeten Liga Metropolitana von da an nur noch in der Minderzahl waren.151Diese Zahlen entnimmt Pereira den Polizeiakten der Stadt Rio de Janeiro, da Neugründungen von der Polizei registriert und erlaubt werden mussten. Aus diesen Akten lässt sich in Grenzen auch etwas über das soziale Profil ihrer Mitglieder sagen, da die Klubvorsitzenden teilweise ihre Berufe an- gaben oder im Aktenvorgang der zuständige Polizeiangestellte das Profil der Vorsitzenden beschrieb. Aus den Akten geht eine starke Ablehnung gegenüber Personen hervor, die keiner geregelten Beschäftigung nachgin- gen und sich der »Herumtreiberei« (»vagabundagem«) verdächtig machten. Die Polizei überwachte und disziplinierte das Klubleben, um Vereini- gungen aufzulösen, in denen die Mitglieder verbotenen Spielen wie dem damals populären jogo do bicho nachgingen oder Samba tanzten. Wie an den Anmerkungen in den Eingaben bei der Polizei abzulesen ist, standen 149 Vgl. zur Definition futebol de várzea : A RAÚJO , Imigração e futebol , S. 62. 150 L OVE , São Paulo , S. 89. 151 Vgl. P EREIRA , Footballmania , S. 70-73. Pereira weist nach, dass in Rio de Janeiro 1920 circa 13.000 Spieler an einen Verband angebunden waren, bei 1.157.873 Einwoh- nern mit 598.307 Männern seien das damit 2 von 100 Einwohnern gewesen. Insgesamt waren zu diesem Zeitpunkt 91 Vereine bei der Polizei registriert; die Zeitungen führten sogar 300 auf: Vgl. ebd., S. 126. 93 Aneignung 93 gerade Angehörige unterer sozialer Schichten unter dem Verdacht, Sport- vereine nur als Vorwand zu gründen, um das Spielverbot zu umgehen.152 Positiv registrierte die Polizei, wenn die Mitglieder ein »gutes Betragen« zeigten, wie im Falle des 1912 von Arbeitern gegründeten Alliança Foot- Ball Club.153Die soziale Herkunft der Mitglieder war zwar auch bei der Registrierung dieses Vereins von Bedeutung, die meisten Mitglieder waren aber Arbeiter oder Angehörige einer neu entstehenden urbanen Mittel- schicht.154Insgesamt ist jedoch davon auszugehen, dass die Polizei Vereine dieser sozialen Gruppen stärkeren Kontrollen unterzog.155 In Rio de Janeiro ist die Gründung dieser Vereine unter anderem als Reaktion auf die weiter oben schon beschriebenen Exklusionsmechanismen in den großen Eliteklubs zu sehen. Die Ablehnung richtete sich explizit auf soziale Merkmale: Pereira schreibt, der Klub Botafogo habe zum Beispiel in seine Statuten die Klausel aufgenommen, die Mitglieder dürften keiner körperlichen Arbeit nachgehen. Andere Klubs wiederum schotteten sich ab, indem sie die Mitgliedsbeiträge hochsetzen.156 Leider liegen keine genauen Zahlen darüber vor, wie viele dieser Klubs in den Arbeitervierteln und Vororten São Paulos zu verschiedenen Zeit- punkten existierten und welches Mitgliederprofil sie aufwiesen; für São Paulo lassen sich ähnliche polizeiliche Registrierungen wie in Rio de Janeiro nicht finden. Trotzdem gibt es Hinweise auf rapide zunehmende 152 Vgl. ebd. Ganz ähnlich war das Vorgehen bei den Karnevalsklubs, die ebenfalls in dieser Zeit von Arbeitern und Angehörigen der Mittelschicht in der ganzen Stadt ge- gründet wurden und die teilweise auch mit den Fußballklubs verbunden waren: Vgl. SILVA, Zélia Lopes da, Os carnavais de rua e dos clubes na cidade de São Paulo: metamorfoses de uma festa (1923-1938) , São Paulo u.a. 2008, S. 70. Zu afro-brasiliani- schen Klubgründungen als Reaktion auf die Exklusion von Afro-Brasilianern aus ande- ren Klubs: Vgl. BUTLER, Freedoms Given , S. 78-87. Zur »Zivilisierung« des Sambas seit den 1890er-Jahren und zur damit einhergehenden Kriminalisierung des afrikani- schen batuque durch weiße Eliten in Salvador Bahia: Vgl. ebd., S. 171-189 . 153 »Alliança Foot-Ball Club«, GIFI 6 C 365, AN. 154 So waren die Mitglieder der Klubs Internacional Football Club (1912), Riachuelo Foot-Ball Club (1913), des Sport Club Amazonas (1916), des Terra Nova Foot-Ball Club, des Commercio Foot-Ball Club (1918) zum Beispiel Zahnärzte, Studenten, Metz- ger, Schuhmacher, Mechaniker, Typografen, Buchbinder, Erdarbeiter, Angestellte im öffentlichen Dienst, überwiegend jedoch Handelsangestellte und Händler: Vgl. GIFI 6 C 368; GIFI C 432; Série Justiça IJ6 597; Série Justiça IJ6 597; Série Justiça IJ6 645: Sociedades-Clubs-Grupos etc. 1918, AN. 155 Siehe zum Beispiel die Registrierung des Klubs Associação Athletica do Rio. Der zuständige Polizeikommissar äußerte den Verdacht, in den Räumlichkeiten des Klubs spielten die Mitglieder verbotene Glücksspiele: Vgl. »Sociedades Carnavalescas durante o anno de 1912«, GIFI 6 C 367, AN. 156 P EREIRA , Footballmania , S. 62-63. 94 94 Aneignung Klubgründungen in São Paulo in den 1910er-Jahren und auf eine Blütezeit des Fußballs auf improvisierten Plätzen, eben den várzeas .157Gloria Lanci und Matthew Brown haben kürzlich für eine zweite Gründungsphase von Fußballklubs in São Paulo ab circa 1906 insgesamt sechs solcher populärer Klubs gezählt.158Es dürften weit mehr gewesen sein. Bei diesen sechs Klubs – Clube Atlético Ypiranga, Sport Club Corinthians Paulista, Palestra Itália, Associação Portuguesa de Desportos, Crespi Football Club, São Paulo da Floresta – handelt es sich um Klubs, die später in die Eliteliga APEA aufgenommen wurden und ihre offiziellen Turniere mitspielen durf- ten. Die vielen anderen Klubs hatten eigene Ligen oder waren vermutlich einfach Nachbarschaftsvereine, die keine regularisierten Turniere austru- gen. In einem von Ecléa Bosi für seine Sozialgeschichte São Paulos durchge- führten Interview berichtete der Sohn venezianischer und toskanischer Einwanderer Amadeu [Nachname unbekannt], dass er ungefähr 1915 be- gonnen habe, Fußball zu spielen und es zu diesem Zeitpunkt ein äußerst reges Klubleben in den várzeas in São Paulo gab:159 Ich habe mit neun Jahren begonnen zu spielen. Zu der Zeit gab es mehr als tausend várzea-Felder. In Vila Maria, in Canindé, in Várzea do Glicério, jedes Viertel hatte mehr oder weniger 50 Fußballfelder. Penha, da kannst du fünfzig annehmen. Barra Funda, Lapa, zwischen zwanzig und 25 Felder. Ipiranga zusammen mit Vila Prudente, da kannst du fünf- zig drauf tun. Vila Matilde, so zwanzig.160 Auch wenn der Umgang mit diesen Aussagen einer gewissen Vorsicht bedarf, da sie keinen gesicherten Rückschluss auf eine genaue Anzahl der Klubs zulassen, geben sie doch ein Bild von der Lebendigkeit des futebol de várzea in den Vororten und Arbeitervierteln São Paulos. Amadeu berichtete weiter, die Anhänger verteilten sich über die Stadt, um Spiele anzuschauen, statt wie später zu einem großen Stadion zu strö- men.161Das bedeutet im Vergleich zur Gegenwart, es gab viele kleine 157 G ONÇALVES J ÚNIOR , Friedenreich e a reinvenção de São Paulo , S. 37-42. 158 Vgl. B ROWN , Matthew/L ANCI , Glória, A Transnational Investigation of Football and Urban Heritage in São Paulo, 1890 to 1930, in: PETERS/RINKE(Hg.), Global Play , S. 17-39, hier 30-34. 159 Den Hinweis auf die Erwähnung des futebol de várzea bei Bosi entnehme ich GONÇALVESJÚNIOR, Friedenreich e a reinvenção de São Paulo , S. 41. 160 B OSI , Ecléa, Memória e sociedade: lembranças de velhos , 4. Aufl., São Paulo 1995, S. 138. 161 Ebd., S. 138 f. 95 Aneignung 95 Klubs, denen die Arbeiter anhingen, deren Spiele sie am Wochenende besuchten – der populäre Fußball war also äußerst differenziert, lokal orientiert und lebendig.162 Die soziale und ethnische Zusammensetzung der Klubs in São Paulo war stark durch die europäische Immigration geprägt. Schon die Namen der unterschiedlichen Vereine verweisen teilweise auf die soziale oder ethni- sche Herkunft ihrer Mitglieder oder auf einen gemeinsamen Arbeitgeber.163 Die Klubnamen spiegelten die Vielfalt des multiethnischen São Paulo wider, vor allem offenbaren viele Namen, wie Italo-Luzitano F.C. und Juvenil Torino F.C., dass Italiener die größte Immigrantengruppe waren. Oftmals übernahmen die Klubs auch Namen bekannter Vereine aus anderen Städten, wie zum Beispiel América nach dem Klub in Rio de Janeiro, oder erinnerten an ausländische Mannschaften, die in Brasilien gespielt hatten, wie im Falle des South Africa F.C . Bekanntestes Beispiel ist der Arbeiterklub Corinthians, der später einer der größten Fußballvereine Brasilien werden sollte und den Arbeiter 1910 in Erinnerung an den englischen Klub Corinthian F.C. gründeten, der in diesem Jahr Brasilien besucht hatte.164Während Arbeiter in den várzeas ihre eigenen Klubs gründeten, schloss das die gleichzeitige Anhängerschaft eines der großen Elitevereine der Stadt nicht aus. In den 1920er-Jahren berichtete auch die Tagespresse regelmäßig über das Leben der clubes de várzea . Die Klubs wählten eines der großen Presseorgane, kündigten darüber Spiele an und verbreiteten Spielergeb- nisse. Besonders viele der kleineren Vereine aus den subúrbios meldeten sich bei der Tageszeitung A Gazeta , die unregelmäßig die bei ihr re- gistrierten Klubs auflistete. Anfang 1920 führte die A Gazeta 93 »Sportzu- sammenschlüsse« auf. Der große Teil dieser Sportklubs waren Fußball- klubs.165Im Januar 1922, so berichtete A Gazeta von sich selbst, war sie das 162 Darauf weist ein Bericht in der Zeitschrift A Cigarra Sportiva hin, der darüber berichtet, suburbane Klubs würden ständig entstehen und wieder aufgelöst, sie hätten ein sehr kurzes Leben: Vgl. »O Sport popular«, A Cigarra Sportiva , Nr. 5, 7.7.1917, S. 1. 163 Vgl. hierzu auch P AOLI , Célia M., Working-class São Paulo and its Representa- tions, 1900-1940, in: Latin American Perspectives 14, 1987, Nr. 2, S. 204-225, hier 215 f. 164 Vgl. M ASON , Passion of the People? , S. 13; N EGREIROS , Resistência e rendição . 165»A ›Gazeta‹ é Orgam Official das Seguintes Agremiações Sportivas«, A Gazeta , 5.3.1920, S. 3. Die folgenden Ausgaben des Jahres weisen darauf hin, dass ihre Zahl kontinuierlich zunahm: Vgl. die Ausgabe vom 7. April 1922. 96 96 Aneignung »offizielle Organ fast aller Fußball-Klubs von São Paulo, die ihren Sitz außerhalb der APEA haben«, also außerhalb des lokalen Eliteverbandes.166 Die clubes de várzea waren also inzwischen als feste Institution des kulturellen Alltags der Stadt akzeptiert. Trotzdem vertrat A Gazeta sie nicht in der gleichen Weise wie einen der großen Klubs. Eher berichtete sie herablassend und geringschätzig über die clubes de várzea und ihre Anhän- ger und Mitglieder. So verfassten die Redakteure die Spielberichte in einem völlig anderen sprachlichen Duktus als die über die Eliteklubs der APEA. Die Ausdifferenzierung des Fußballs durch die immense Anzahl an Klubgründungen in den subúrbios paulistas registrierte die Presse nicht nur als numerisches Ereignis, darüber hinaus machte sie sie zum Mittelpunkt einer Debatte über die Veränderungen, die die Popularisierung des Fußballs mit sich brachte. Sie sah die Entwicklung in erster Linie mit Sorge, be- richtete oftmals in drastischer Sprache von den Spielen als Orte des Chaos und der Gewalt und leitete daraus ab, der Fußball in São Paulo befände sich in einer Phase des Niedergangs im Vergleich zu den ersten Jahren der Prosperität, als die Neugründungen vor allem Elite-Klubs waren. Sie setzte die Vereine, ihre Spieler und Anhänger konstant mit der Zunahme von Gewalt und einer allgemeinen Verrohung im Fußball in Verbindung.167 166 »A ›Gazeta‹ e os ›seus‹ clubes… Uma conflagração entre o Pinga, H. Das Chammas, Caramuru’ e Onze…«, A Gazeta , Januar 1922 (genaues Datum unbekannt). Die Associação Paulista de Sports Athléticos (APSA) nannte sich ab 1917 Associação Paulista de Esportes Atléticos (APEA). 167 Tatsächlich ist mit der Popularisierung des Fußballs Ende der 1910er-Jahre eine zunehmende Nachfrage nach Polizeiüberwachung bei Fußballspielen zu verzeichnen. Für das Jahr 1918 finden sich in den Polizeiakten der Stadt Rio de Janeiro vermehrt Gesuche von Klubs für Polizeipatrouillen. Anscheinend setzte die Polizei dabei so viele Männer ein, dass der Dienst einiger Polizeikommissariate dadurch vorübergehend eingeschränkt war. Das geht aus einem internen Gesuch hervor, weniger Polizisten für Fußballspiele abzustellen: Vgl. Série Justiça IJ6 645, AN. 97 Aneignung 97 Bild 4: Gewalt im Fußball: Die Karikatur illustriert die gewandelte Wahrnehmung von Fußballspielen in den 1920er-Jahren als chaotisch und gewaltsam. Quelle: »A Semana Sportiva«, A Gazeta , 20.3.1922.168 Der leitende Sportredakteur von A Gazeta , Leopoldo Sant’Anna, gab neben dem Halb-Profitum die Schuld an der angenommenen »Dekadenz«, die sich in einer Missachtung traditioneller Werte äußerte, »neuen« und uner- fahrenen Personen, die die Klubs leiteten und deren vorrangiges Interesse am Fußball ökonomisch sei. Sie sähen ihn vor allem als Geschäft und seien mit »finanziellem Kapital« (»capital-dinheiro«) statt mit einem eher im- materiellen »Kapital des Talentes« (»capital-aptidão«) ausgerüstet. Sie interessierten sich, so Sant’Anna, nicht für das Spiel an sich, sondern sähen darin eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Vor allem eine Gruppe hob Sant’Anna hervor: Es seien vor allem Personen »die noch nicht unter uns aufgewachsen sind und die von einem Tag auf den anderen hohe Klubpräsidenten werden.«169Sant’Anna bezog sich damit unmissver- ständlich auf Immigranten, von denen einige in São Paulo im Zuge der Urbanisierung und Industrialisierung zu Geld gekommen waren, wie zum Beispiel der italienisch-stämmige Unternehmer Francisco Matarazzo. In São Paulo schlug diesen teilweise von den alten, aristokratischen Eliten 168 »Die sportliche Woche«, »Ein üblicher Stammkunde in der Gegend«. 169 S ANT 'A NNA , Supremacia , S. 155. Er bezeichnet die Immigranten als »fremde Elemente« (»elementos extrangeiros«). 98 98 Aneignung Verachtung entgegen, oftmals wurden sie als »neureich« verunglimpft.170 Die »Europhilie« der Eliten hatte an diesem Punkt Grenzen, die sich auch im Kontext der Popularisierung des Fußballs äußerte.171Ähnliche Ressentiments bestanden in Rio de Janeiro, so Bernardo Hollanda, gegen den von portugiesischen Händlern gegründeten Immigrantenklub Vasco da Gama, der in den 1920er-Jahren zu einem der erfolgreichsten Klubs mit einer großen Anhängerschaft aufstieg. Da auch er durch die Einrichtung eines Profi-Ausbildungssystems nicht-elitärer Fußballer die traditionellen Werte des Amateurtums missachtete, begegnete er in der Presse und in den Sportlern der Elitevereine einem starken Anti-Lusitanismus.172 Es ist kein Zufall, dass die Presse gerade um 1920 die Popularisierung des Fußballs – vor allem in den Immigrantenvierteln São Paulos – als be- drohlich für eine bestehende Ordnung beschrieb.173Hintergrund ist sicher- lich die große und anhaltende Streikbewegung, die São Paulo in der Zeit zwischen 1917 und 1920 erlebte und deren eindrucksvoller Beginn ein Generalstreik von circa 40.000 Arbeitern im Jahr 1917 war.174Die Streiks weiteten sich von São Paulo auf Rio de Janeiro aus. Auch wenn um 1920 die Ordnung nach massiven Repressionen gegen die Streikenden durch Arbeitgeber und die Polizei wieder hergestellt schien, hinterließen die Ereignisse in den Jahren 1917 bis 1920 einen nachhaltigen Eindruck. Es war ein ausgeprägteres Klassenbewusstsein entstanden. Im Zuge der Streikbewegung hatten sich Teile der Arbeiterschaft organisiert, sie for- derten eine Ausweitung ihrer Rechte, stellten Partizipationsansprüche, so- wohl politisch als auch kulturell.175 Die Streikwelle stellte die bis dahin positive Einstellung von Arbeitge- bern, staatlichen Behörden und Politikern zu europäischen Immigranten auf den Kopf.176Hatten sie bis dahin europäische gegenüber brasilianischen Arbeitskräften, zumeist ehemaligen Sklaven, positiv als arbeitsam, fleißig 170 Vgl. L OVE , São Paulo , S. 86 f. 171 Der Begriff der »Europhilie« im Fußball ist Bocketti entnommen: Vgl. B OCKETTI , The Creolization , S. 125-142; DERS., Italian Immigrants, S. 283. 172 H OLLANDA , O descobrimento do futebol , S. 200. 173 Vgl. »BILHETES PRETOS. ›AS TORCEDORAS DEVEM OU NÃO PAGAR A ENTRADA?‹ [Majuskeln im Original]«, A Gazeta , 7.12.1921. 174 Vgl. F AUSTO , Boris, Conflito social na república oligárquica: a greve de 1917, in: Estudos CEBRAP 10, 1974, S. 79-109. 175 Vgl. zu Arbeiterbewegung und -kultur in São Paulo: H ARDMAN , Francisco Foot, Nem pátria, nem patrão: memória operária, cultura e literatura no Brasil , 3. erw. u. durchges. Aufl., São Paulo 2002. Für Rio de Janeiro: Vgl. CHALHOUB, Trabalho, lar e botequim . 176 Vgl. A NDREWS , Black and White Workers, S. 499-502. 99 Aneignung 99 und gehorsam abgegrenzt, verdächtigten sie sie nun als Aufrührer, die mit aus Europa importierten anarchistischen und anarchosyndikalistischen Ideologien in Brasilien für Unruhe sorgten.177Hieraus resultierten der Wunsch nach Aufrechterhaltung der Ordnung und eine Suche nach Mög- lichkeiten der Disziplinierung der Arbeiterschaft.178 Im Zusammenhang mit dem Thema Immigration wird einmal mehr deutlich, dass Fußball regionale und nationale Identitätszuschreibungen auf sehr differenzierte Weise und unter transnationalen Bezugnahmen heraus- forderte. Fußball wurde sehr stark verbunden mit einem Idealtypus eines vermeintlich in Europa existierenden Amateursportlers, den Eliten in Bra- silien in den 1920er-Jahren schon inkorporiert zu haben glaubten. Abwei- chende Formen der Ausübung dieses Sports wurden hingegen abgelehnt, unterdrückt oder zu regulieren versucht. Diese abweichenden Formen konnten durchaus auch von europäischen Immigranten getragen sein, wur- den deshalb aber nicht automatisch als nachahmenswert anerkannt. Der Fußballdiskurs diente dazu, »Gewalt« und »Dekadenz« mit seiner Popularisierung in den 1920er-Jahren zu verbinden. Beispielhaft für das Verständnis von Fußballklubs als Institutionen der Disziplinierung von Arbeitern und Bewohnern der urbanen Vororte durch die Presse ist die Presseberichterstattung, die nach einem Mordfall eintrat, der sich im Okto- ber 1921 während eines Spiels von clubes de várzea im Eliteviertel Vila Cerqueira César in São Paulo ereignete. Die Tötung eines Anhängers durch einen anderen Fan löste in der lokalen Sportpresse eine intensive Diskussion über den futebol de várzea aus. Wie die Berichterstattung in O Estado de São Paulo nahelegt, war die lokale Presse überwiegend der Mei- nung, der futebol de várzea müsse auf Grund seiner zunehmenden Gewalt- tätigkeit verboten werden, der Mord sei ein Resultat einer schon länger andauernden Entwicklung.179 Der Mordfall war der Höhepunkt einer insgesamt negativen Berichter- stattung über einen längeren Zeitraum. Die Auseinandersetzung Ende des Jahres 1921 ist von großem Interesse, weil sich unter anderem Anhänger 177 Ebd. 178 In den 1920er-Jahren begannen sich Industrielle und Wissenschaftler für US- amerikanische Systeme zur Ausbildung von Arbeitern und Steuerung von Arbeits- prozessen zu interessieren, wie dem Taylorismus. Mit diesen sollte anstelle repressiver Praktiken in den paternalistischen Arbeitsbeziehungen in Fabriken die Arbeiterschaft diszipliniert und so »sozialer Frieden« hergestellt werden: Vgl. WEINSTEIN, Barbara, For Social Peace in Brazil: Industrialists and the Remaking of the Working Class in São Paulo, 1920-1964 , Chapel Hill u.a. 1996. 179 Vgl. »O FUTEBOL NAS VÁRZEAS«, OESP , 7.10.1921. 100 100 Aneignung und Spieler von clubes de várzea in Leserbriefen zu Wort meldeten und sie einen seltenen Zugang zu den Anhängern der clubes de várzea vermittelt, wenn auch beschränkt und gefiltert über die Elite-Presse.180 In der Debatte äußerten sich Vertreter mehrerer Gruppen. Die eine war für ein stärkeres Eingreifen der Polizei bei Spielen der várzea . Sie sah in dem Mordfall eine große Gewaltbereitschaft der Spieler und Anhänger dieser Vereine bestätigt. Ihretwegen befände sich der Fußball in den letzten Jahren im Niedergang. Auf der anderen Seite standen aber auch Sportjour- nalisten, die die clubes de várzea verteidigten, da sie gerade in ihnen eine Möglichkeit sahen, gegen eine angenommene »Dekadenz« des Fußballs und der Gesellschaft insgesamt anzugehen und, ganz im Sinne der Hygie- ne-Bewegung, den Fußball als erzieherisches Mittel einzusetzen. So verteidigte der Autor eines Leitartikels auf den Sportseiten von A Gazeta die clubes de várzea gegen die gegnerischen Stimmen, indem er meinte »die kleinen Klubs haben dasselbe Recht auf Leben wie die großen«. Wei- ter meinte er: »Wenn sie ein Brandherd von Kriminalität wären, wären die großen das nicht weniger. Jedes Spiel weckt natürlicherweise Leiden- schaften. Und man soll nicht sagen, das sei nur im Fußball so.«181Auch die Spiele der Eliteklubs in der lokalen Eliteliga APEA seien gewaltvoll, im Gegensatz allerdings zu den Spielen der clubes de várzea würden sie poli- zeilich überwacht.182 Hervorzuheben für den Kontext dieses Kapitels ist, dass der Autor seine Argumente durch Hinweise auf gewaltvolle Ausschreitungen des Publi- kums bei Sportveranstaltungen im Ausland unterlegte, so während eines Boxwettkampfes in Nordamerika. Auch in New York, Paris und London, Metropolen von als »zivilisiert« geltenden Ländern, endeten Sportveran- staltungen regelmäßig in Tumulten. Das Phänomen war seiner Meinung nach also eher nicht kulturspezifisch brasilianisch. Die clubes de várzea seien außerdem für die Arbeiter »das einzige Ver- gnügen, dass sie an Sonntagen besitzen.« Das Verbot dieser Klubs wäre ein erster Schritt in Richtung des Niedergangs des Fußballs, »denn es sind diese clubes de várzea, aus denen die großen Spieler kommen.«183Erst sie 180 Der Historiker José Sebastião Witter wies noch 2003 darauf hin, es existiere zum Phänomen futebol de várzea keine Studie, obwohl der »informelle Fußball« ihm zufolge immer noch existiere und den Fußballalltag Brasiliens ausmache: Vgl. WITTER, José Sebastião, Futebol: um fenômeno universal do século XX, in: Revista USP , São Paulo Juni/August 2003, Nr. 58, S. 161-168, hier 162. 181 »Os clubs de varzea e os clubs da Apea«, A Gazeta , 3.10.1921. 182 Ebd. 183 Ebd. 101 Aneignung 101 trügen zum »intensiven Fußballleben São Paulos und in allen großen Städ- ten« bei.184Der Journalist spielte auf die wichtige Funktion der clubes de várzea in der lokalen Fußballgemeinschaft als Ausbildungsstätten für junge Spieler an und als Möglichkeit für junge Männer aus der Arbeiterklasse überhaupt erst mit dem Fußball in Kontakt zu treten. Die großen Vereine rekrutierten einen erheblichen Teil ihrer besten Spieler aus den Vorort- klubs.185 Kurze Zeit später hieß es in A Gazeta , der Polizeihauptkommissar São Paulos, João Baptista de Souza, habe auf Grund des Mordfalles empfohlen, Spiele der clubes de várzea im Stadtbezirk zu verbieten. O Estado de São Paulo druckte die Empfehlung des Kommissariats im Wortlaut ab: In Übereinstimmung mit den dieser Polizeieinheit bekannt gewordenen Informationen über kontinuierliche Streitigkeiten und Ausschreitungen auf Grund von Fußballspielen in dieser Hauptstadt, aus denen sogar Verbrechen rühren, empfehle ich, in Eurem Bezirk Vorkehrungen zu treffen, damit diese Spiele in den várzeas und auf brachliegenden Grundstücken, wo sich hauptsächlich sonntags Individuen treffen, die nicht zu den gut organisierten Gesellschaften gehören, nicht mehr er- laubt werden. Auf diese Weise soll der Wiederholung oben aufgezeigter Vorkommnisse vorgebeugt werden. 186 Die Empfehlung illustriert die Kriminalisierung der Fußballspieler als Angehörige nicht »gut organisierter Gesellschaften«. Hier manifestierte sich die seit dem 19. Jahrhundert bei brasilianischen Eliten verbreitete ideologia da vadiagem . Sie war dem Historiker George Reid Andrews zufolge zwar vornehmlich eine rassistische Ablehnung der »schwarzen« und »gemischten« Bevölkerung aus dem Glauben an ihre »angeborene Faulheit und Verantwortungslosigkeit«, vor allem auf dem Arbeitsmarkt in Brasiliens ökonomisch schnell wachsendem Staat São Paulo.187Sie beinhal- tete für den Zeitraum der Ersten Republik jedoch auch eine Kriminalisie- rung kultureller Praktiken subalterner Stadtbewohner insgesamt, die nicht den Elite-Idealen europäischer und »zivilisierter« Lebensweisen und Vor- stellungen von der Nutzung des entstehenden urbanen Raumes entsprachen. 184 Ebd. 185 »O Sport Popular«, A Cigarra Sportiva , Nr. 5, 7.7.1917, S. 1. 186 Vgl. »O FUTEBOL NAS VÁRZEAS [Majuskeln im Original]«, OESP , 7.10.1921. 187 A NDREWS , George Reid, Black and White Workers: São Paulo, Brazil, 1888-1928, in: HAHR 68, 1988, Nr. 3, S. 491-524, hier 495. 102 102 Aneignung Unter diese nicht »zivilisierten« Praktiken fielen zum Beispiel auch entste- hende Tanzklubs, Capoeira und Glücksspiele wie das jogo do bicho . Ent- sprechend unterwarfen Eliten und Mittelklasse-Reformer auch diese Prak- tiken sozialpolitischen Reformmaßnahmen, die dazu dienen sollten, das Land zu »reinigen«, zu ordnen, eben zu »zivilisieren«. Auch Gewaltausbrüche im futebol de várzea sahen sie in diesem Sinne vor allem als ein Problem der Störung öffentlicher Ordnung, weniger als soziales Problem. Der Historiker Sidney Chalhoub erklärt, die politischen Eliten des Kaiserreichs und der Ersten Republik hätten das Gesellschafts- system als integral verstanden, in dem an unterster Stelle Kriminelle und kurz darüber »Müßiggänger« (»ociosos«) standen, also Menschen, die zugleich mit Armut und mit einer Ablehnung eines geltenden »übergeord- neten Gesetzes der Arbeit« assoziiert wurden. Chalhoub meint, gerade die Konstruktion des »Müßiggangs« und des Verbrechens als integraler und eben nicht als marginaler Teil des Gesellschaftssystems, hätten einen Nut- zen für die Eliten, auf diese Weise erst könnten sie Kontroll- und Unterwerfungsmechanismen rechtfertigen.188Auch der hier dargestellte Diskurs ist vor dem Hintergrund dieses Verständnisses zu sehen: Die kon- stante Assoziation des futebol de várzea mit Gewalt diente nicht dazu, die Ausübenden zu marginalisieren, sondern sie im bestehenden System kontrollieren und eine bestehende Ordnung rechtfertigen zu können. Entsprechend konnten Journalisten die Spiele der clubes de várzea auch im Sinne einer solchen Zivilisierungs- und Erziehungsfunktion verteidigen, und zwar unter Bezugnahme auf die »zivilisierte Welt« – Europa – und der Vorstellung von der dortigen Funktion des Sports: Die várzea-Spiele und die Spiele auf den brachliegenden Plätzen sind verboten. Es ist, als ob sie in Paris die Picknicks an den Ufern der Seine, die Bootsausflüge, die gesunden Übungen verbieten würden, die den Arbeiter von den dunklen Tavernen der großen Hauptstadt fernhalten. In einer Epoche, in der die Wohlfahrtsorganisationen versuchen, die Laster durch Übungen, Spiele, Vergnügungen, Ablenkungen zu ersetzen, ist in São Paulo der einzige Zeitvertreib des armen Arbeiters verboten, der die ganze Woche in der giftigen Umgebung der Fabriken erstickt, der leidet, ohne eine Linderung für seine Arbeit während der sechs beschwerlichen Tage zu finden. […] Die Vergnügen an freier Luft sind notwendig für 188 C HALHOUB , Sidney, Trabalho, lar e botequim: o cotidiano dos trabalhadores no Rio de Janeiro da belle époque , 2. Aufl., São Paulo 2001, S. 78-80. 103 Aneignung 103 die Arbeiter der Industrie. Es ist eine Ungerechtigkeit, ihnen den einzi- gen Zeitvertreib wegzunehmen.189 Auch nachdem das Verbot zurückgenommen wurde, wiederholte derselbe Verfasser seine Argumentation unter Bezug auf Europa: Die Spiele zu verbieten sei gegen die »übernommenen Gewohnheiten in den ausländi- schen Hauptstädten, wo der Arbeiter von den Spelunken der Laster fernge- halten wird, um sich den hygienischen Übungen auf den Plätzen zuzu- wenden.« In Folge eines Verbotes »würden sich die Verbrechen multiplizieren.«190 Noch stärker anzutreiben schien den Autor eine Anhäufung von Moti- ven, die zu einer generelleren Unzufriedenheit im »Proletariat« führen und sich letztlich in einer größeren Bewegung gegen die Regierung richten könnten. Der Autor sah die Funktion der clubes de várzea entsprechend als Sublimierung affektiver Regungen und sogar als eine Form, Streikbewe- gungen oder gar massivere Formen sozialer Umwälzungen zu vermeiden: […D]ie Tat der geschätzten Autorität wäre nicht nur unpopulär für den Polizeihauptkommissar, sondern sogar für die Regierung, die ihn ausge- wählt hat. Unser Proletariat, das jetzt in einer friedlichen Epoche lebt, würde die Ungerechtigkeit jetzt vielleicht ins Innerste des Herzens ver- drängen. Doch eines Tages würde die Unzufriedenheit sich ausbreiten und die gesamte Klasse beherrschen. Dazu wären ein oder zwei deutli- chere Verfügungen ausreichend, die den Klassenunterschied betonen, die die Verachtung der Kleinen durch die Großen aufdecken […].191 Sportjournalisten brachten Sport in Verbindung mit der Entstehung von in ihren Augen »zivilisierten« Gesellschaften, wie der europäischen, und befanden ihn für ein Instrument der »Affektkontrolle«, mit dem sich auch gesellschaftliche Widerstände zurückdrängen ließen.192Das hier zugrunde gelegte Verständnis des Sporttreibens war paternalistisch, so wie Norbert Elias die Spiele im 19. Jahrhundert in Großbritannien als »ideologisch legitimiert« bezeichnet, da sie »teils als Ausbildungsstätten für den Krieg, teils unter dem Aspekt ihrer Verwendung bei der Erziehung militärischer und politischer Führer für Großbritanniens wachsendes Weltreich und teils 189 »Os clubs de varzea. E' prohibido divertir-se«, A Gazeta , 8.10.1921. 190 »O FUTEBOL NAS VÁRZEAS. Não é prohibido divertir-se [Majuskeln im Original]«, A Gazeta , 12.10.1921. 191 Ebd. 192 Der Begriff der »Affektkontrolle« geht auf Norbert Elias und Eric Dunning zu- rück: Vgl. ELIASu.a., Sport und Spannung , insbes. S. 121-229. 104 104 Aneignung als Mittel, um ›Männlichkeit‹ einzuimpfen und zum Ausdruck zu bringen«, gesehen wurden.193Der kulturelle Nutzen der Vereine und des Spiels lag darin, die Arbeiterschaft zu disziplinieren. Die Vereine und Verbände boten außerdem die Möglichkeit eines staatlichen Zugriffs, dem sich andere kul- turelle Praktiken entzogen, die nicht so gut wie der Fußball organisiert waren. Der zum Ausdruck gebrachten Angst, der futebol de várzea könne sich dem Zugriff entziehen, entsprach auch die häufige Gleichsetzung des Fuß- balls mit dem urbanen Phänomen der Capoeira.194Das Spiel und die Kampf- und Selbstverteidigungstechnik vor allem afrikanischer und brasi- lianischer Sklaven und Freigelassener und später auch portugiesischer Immigranten verfolgte die Polizei seit Beginn des 19. Jahrhunderts arg- wöhnisch in Rio de Janeiro. Die sogenannten capoeiras wurden vor allem ab 1889 mit jungen, männlichen Angehörigen der Unterschicht assoziiert.195 Capoeiras etablierten einen »sozialen Raum«, der sich teilweise der Kon- trolle der Polizei und anderer Autoritätspersonen, wie Arbeitgebern und im Kaiserreich auch noch den Sklavenhaltern, entzog.196 Mit der Gleichsetzung machten die Jounalisten deutlich, dass sie in der Popularisierung des Fußballs, der sich in ihren Augen einer als kriminell und unorganisiert wahrgenommenen kulturellen Praxis anglich, eher eine negative Form von »Nationalisierung« sahen. In den 1920er-Jahren setzten Politiker den Sport deshalb auch auf ihre politische Agenda. Das zeigt beispielsweise das Programm des Paulistaner Politikers Washington Luís von der regional zu der Zeit in São Paulo regie- renden Partei PRP ( Partido Republicano Paulista ). 1919 kandidierte der ehemalige Bürgermeister São Paulos für das Amt des Staatsgouverneurs São Paulos und wurde 1920 gewählt. Sein Regierungsprogramm stellte vor allem die Stärkung und den Schutz der Paulistaner Kaffeewirtschaft und 193 Ebd., S. 481. 194 Vgl. zum Beispiel ein Bericht über ein Spiel zwischen den nicht-elitären Klubs Mangueira und Vasco da Gama in Rio de Janeiro: Ohne Titel, Correio da Manhã , 29.7.1924. Vgl. auch: »BILHETES PRETOS. ›AS TORCEDORAS DEVEM OU NÃO PAGAR A ENTRADA?‹«, A Gazeta , 7.12.1921. 195 Vgl. R ÖHRIG -A SSUNÇÃO , Matthias, Capoeira: the History of an Afro-Brazilian Martial Art , London u. a. 2005, S. 70-95; auch: HOLLOWAY, Thomas H., »A Healthy Terror«: Police Repression of Capoeiras in Nineteenth-Century Rio de Janeiro, in: HAHR 69, 1989, Nr. 4, S. 637-676, hier 643. 196 Vgl. H OLLOWAY , »A Healthy Terror«, S. 646; B UTLER , Freedoms Given , S. 186-189. 105 Aneignung 105 der Industrie in den Mittelpunkt.197Aber auch der Sport spielte darin eine Rolle. Das geht aus Zeitungsberichten hervor, in denen Luís betonte, Lei- beserziehung sei mindestens genauso wichtig wie der Bau von Schulen. Er hob darin die Bedeutung des Sports für die Vorbereitung der Menschen auf das Leben in der modernen Gesellschaft hervor: Es ist notwendig, die Intelligenz des Mannes zu entwickeln und zu um- säumen, um ihn auf die aktuellen Kämpfe vorzubereiten, die in höheren Sphären als früher ausgefochten werden; aber es ist notwendig, ihn phy- sisch für alle Kämpfe des Lebens vorzubereiten, selbst für die intellektu- ellen.198 Deshalb, so Luís, sei es die Pflicht jedes Brasilianers, Schulen zu bauen und Sportvereine zu unterstützen, »damit sie sich in allen Städten, in allen Dörfern und auf allen Fazendas multiplizieren.« Ganz im Zeitgeist der 1920er-Jahre dachte Luís den Sport als ein umfassenderes kulturelles Pro- jekt für eine Gesellschaft im Übergang in die Moderne und appellierte: »Stärken wir und vor allem brasilianisieren wir den Brasilianer.«199 Es gab auch von anderer Seite lokalpolitische Versuche, den Sportverei- nen finanziell und politisch mehr Anerkennung zu verschaffen, die aber alle in dieselbe Richtung wiesen. Ende 1919 reichte der republikanische Abgeordnete und sportsman Armando Prado200einen Gesetzesvorschlag im Rathaus der Stadt São Paulo ein, mit dem in der Stadt ansässige Sportver- eine von städtischen Steuern und Abgaben befreit werden sollten. Bedin- gung war eine »Nationalisierung«, eine abrasileiramento (Brasilianisie- 197 Vgl. »Washington Luís Pereira de Sousa«, in: Dicionário Histórico-Biográfico Brasileiro , URL: http://www.fgv.br/CPDOC/BUSCA/Busca/BuscaConsultar.aspx (ab- gerufen am: 14.2.2012). 198 »O Dr. Washington Luis e os Desportos«, A Gazeta , 27.1.1920. Vgl. auch: »Do Sport«, A Gazeta , 30.1.1920. 199 »O Dr. Washington Luis e os Desportos«, A Gazeta , 27.1.1920 . 200 Armando Prado war Gründungsmitglied und Präsident der LPF und Mitglied in mehreren Paulistaner Sportklubs. Außerdem verteidigte er als Anwalt Sportvereine in Rechtsfragen: Nachlass Armando Prado: Caixa 1, Subsérie »Esportes« und Caixa 3, Grupo: Particular XIX, Armando Prado, Grupo: Atividade Profissional, Sub-Grupo: Serviço Publico, Série: Correspondencia, Envelope 11, 1928 Janeiro-março, in: Arquivo Municipal Washington Luís/São Paulo. Armando Prado war einer der wenigen »schwarzen« Angehörigen der Paulistaner Elite. Sein Vater war ein Mitglied der Fami- lie Prado, ein Cousin Antônio Prados, der laut Darrell Levi mit zwei afro-brasiliani- schen Frauen zusammenlebte: LEVI, Darrell E., The Prados of São Paulo: An Elite Brazilian Family in a Changing Society, 1840-1930 , Ph.D. Yale University, Ann Arbor 1974, S. 128 ff. Vgl. auch ANDREWS, George Reid, Negros e brancos em São Paulo, (1888-1988) , Bauru 1998, S. 226. 106 106 Aneignung rung) der Sportvereine. Davon sollten ausschließlich die Vereine profitie- ren, deren Geschäftssprache Portugiesisch sei und »die aus Gründen der Nationalität kein Hindernis für den Eintritt von Brasilianern in ihre Mannschaften als Mitglieder und im Zugang zu irgendeinem sozialen Amt schaffen.« Außerdem müssten sie jährlich ein Fest zugunsten einer lokalen karitativen Einrichtung veranstalten.201 Auch eine sprachliche »Nationalisierung« des Fußballs dominierte eine zeitlang die Sportpresse, vor allem in Rio de Janeiro: Philologen, Fußball- spieler und Journalisten diskutierten über eine Umbenennung des »foot- ball« in »pébola« oder »ballipodo«, um »verunstaltende Vokabeln auszu- merzen« und seiner Aneignung als brasilianischem Nationalsport gerecht zu werden.202In diesen Debatten um die Erhaltung der »Sprachreinheit« stellten sie das verwendete englische Vokabular als »barbarisch« in Kon- trast zu den vorgeschlagenen brasilianischen Neologismen.203Sie sahen den Fußball inzwischen als »brasilianische Gewohnheit« und als »brasiliani- schen Sport«204und so befanden einige Teilnehmer der Debatte gerade »Hybridismen« für besonders verunstaltend.205Diese Einschätzung übertru- gen elitäre Fußballanhänger auch auf den Sprachgebrauch durch Angehö- rige unterer sozialer Schichten, die unfähig seien, die Begriffe richtig aus- zusprechen oder ihre Bedeutung nachzuvollziehen. Mit einer Übersetzung der englischen Termini wollte zum Beispiel der Verband der Sportjourna- listen in São Paulo ACE der Popularisierung des Fußballs gerecht wer- den.206Dafür hielt er sogar Faltblätter zur »Nationalen Sportterminologie« bereit, die Vereinsmitglieder im Hauptsitz der ACE abholen und als Grundlage für ihre Veröffentlichungen nutzen konnten.207Redakteure von Sportzeitschriften nahmen die Initiative begeistert auf und setzten sie so- gleich um.208 201 »Football. Os Sports na Camara Municipal«, A Gazeta , 2.2.1920; »A isenção de impostos dos clubs sportivos brasileiros«, A Gazeta , 9.2.1920. 202 »Foot-ball ou ballipodo?«, Vida Sportiva , Nr. 38, 11.5.1918, S. 1. 203 »Conversas pébolisticas«, Vida Sportiva , , Nr. 74, 25.1. 1919, S. 13. 204 »Neologismos versus Barbarismos«, Vida Sportiva , Nr. 76, 8.2.1919. 205 L IMEIRA , João Silva, »O vocabulario do football (Collaboração)«, Vida Sportiva , Anno II, Nr. 57, 21.9.1918, S. 27. 206 »Terminologia sportiva«, Vida Sportiva , 7.8.1920. 207 »Terminologia Esportiva. Com os Srs. Secretarios de Clubes«, A Gazeta , 22.3.1922, S. 2. 208 So die Redaktion der Zeitschrift »Sport Illustrado« in Rio de Janeiro, die den Titel kurz danach in »Esporte illustrado« umbenannte: »O ›Sport Illustrado‹e a terminologia esportiva paulista«, Sport Illustrado , Nr. 35, 2.4.1921. 107 Aneignung 107 Die anvisierten politischen Fördermaßnahmen sind im Kontext der ver- änderten Einschätzung von Sport in den 1920er-Jahren zu sehen: Erstens als Möglichkeit, auch durch Sport erfolgreich und wirkungsvoll eine ange- nommene »Degeneration« der brasilianischen »Rasse« zu bekämpfen. Hier diente Europa als Vorbild, wo nach dem Ersten Weltkrieg der Körper, also der energetische, gesunde und disziplinierte Körper, »zum Signum urbanen Lebens schlechthin« geworden sei, wie Michael Cowan und Kai Marcel Sicks es ausdrücken.209Das gilt vor allem für São Paulo und für eine sich dort herausbildende Mittelschicht, die sich in den Umbrüchen und Trans- formationen des urbanen Lebens zurechtfinden will, die Abgrenzungen vornimmt zwischen in ihren Augen überkommenen, traditionellen und mit der alten politischen Ordnung verbundenen Lebensformen gegenüber mo- dernen, fortschrittlichen, urbanen und an Europa orientierten Entwürfen.210 Zweitens bedeutete die Kampagne zur »Nationalisierung« des Sports die Ablehnung alternativer und subalterner Formen seiner Aneignung. Gewalt- ausschreitungen im Zuge der Popularisierung sahen die sportbegeisterten Reformeliten und Politiker als Problem der öffentlichen Ordnung und be- gegneten ihnen entsprechend auch mit Repression und polizeilicher Über- wachung. Washington Luís zum Beispiel war bekannt dafür, die Situation der Arbeiterschaft nicht als soziale Frage, sondern als Problem öffentlicher Ordnung anzugehen, entsprechend ordnete er eine äußerst repressive Vor- gehensweise gegen die Streikenden von 1917 an.211 Diese Vereinnahmung des Sports durch den Staat für eine Nationalisie- rungskampagne lag, wie weiter oben dargestellt wurde, auch an einer ver- änderten Einschätzung, wie sich »Degeneration« und »Dekadenz« bekämp- fen ließen. Es ist bemerkenswert: Nun wurden nicht mehr nur ehemalige Sklaven und indigene Bevölkerungsteile als Ursache für die »Degenera- tion« ausgemacht, sondern auch europäische Immigranten. Die Streikerfah- rungen, die Umbrüche der 1920er-Jahre und die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, in dem Europa plötzlich als Hort der »Barbarei« statt der »Zi- vilisation« erschien, trugen dazu bei, »Degeneration« mehr als soziales denn als »rassisches« Problem wahrzunehmen. 209 C OWAN , Michael/S ICKS , Kai Marcel, Technik, Krieg und Medien. Zur Imagina- tion von Idealkörpern in den zwanziger Jahren, in: DIES. (Hg.), Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933 , Bielefeld 2005, S. 13-29, hier 20. Vgl. zu Körperdiskursen in Europa vor dem Ersten Weltkrieg: SARASIN, Philipp, Reiz- bare Maschinen: eine Geschichte des Körpers 1765-1914 , Frankfurt am Main 2001. 210 Vgl. zu São Paulo in den 1920er-Jahren S EVCENKO , Orfeu extático . Siehe auch: WEINSTEIN, Weiß, männlich, Mittelschicht. 211 Vgl. »Washington Luís Pereira de Sousa«, in: DHBB. 108 108 Aneignung Sozialreformerische Maßnahmen wurden ergriffen, um die angenom- mene »Degeneration« der als einer erdachten »brasilianischen Rasse« aufzuhalten.212Die Sportpresse äußerte sich deshalb dankbar, als die Polizei ein Verbot des futebol de várzea »für das gute Gewissen des zivilisierten Staates und für den geschwächten physischen Körper Jecas« abgewendet hatte.213 Die Presse verstärkte die Popularisierung, indem sie die Spiele mit Sinn füllte und so zur ihrer Inszenierung als Spektakel beitrug.214Dadurch weckte sie Interesse weit über den engen Kreis elitärer Anhänger hinaus. Konstant stiegen die Zuschauerzahlen, 1917 zum Beispiel zählte ein aus- verkauftes Spiel von Brasilien gegen Uruguay in São Paulo 8.000-10.000 Zuschauer, das ausverkaufte Endspiel Brasilien gegen Uruguay beim Cam- peonato Sul Americano in Rio de Janeiro 1919 verfolgten schon 25.000 Zuschauer, bei einer Einwohnerzahl von angeblich 1.157.873 (1920).215Die 212 Vgl. B ORGES , »Puffy, Ugly, Slothful and Inert«. 213 »Os Attilas do Esporte. Na terra onde o principe da Gran Ventura encontrou… o Paraizo perdido! – o futebóla endemoniado…«, A Gazeta , 3.1.1922.. Mit Jeca bezog sich der Autor auf eine der bekanntesten literarischen Figuren der 1920er-Jahre, Jeca Tatu, den der Schriftsteller Monteiro Lobato schuf, als Prototyp des brasilianischen Hinterlandbewohners, der aus schierem Unwissen krank, schwach und faul ist, also durch Sozialreformen und den Segen der Wissenschaft heilbar: ANTUNES, »Com brasileiro, não há quem possa!«, S. 33; BORGES, »Puffy, Ugly, Slothful and Inert«, S. 250. 214 Vgl. E ISENBERG , Medienfußball , S. 589 ff. Zum »Spektakel« in modernen, indus- trialisierten Gesellschaften siehe ganz allgemein Guy Debords klassische Studie, in der er Spektakel als »Ergebnis und Zielsetzung der bestehenden Produktionsweise« der industrialisierten Gesellschaft bezeichnet und als »allgegenwärtige Behauptung der bereits getroffenen Wahl in der Produktion und der von ihr untrennbaren Konsumtion [Hervorh. im Original]«: DEBORD, Guy, Die Gesellschaft des Spektakels , 1. Aufl., Berlin 1996, S. 14 f. Debords marxistisches Verständnis ist heute sicher kritisch zu sehen. Zu einem kritischen Umgang mit Debord und einer Einordnung von Sportveran- staltungen als Spektakel siehe: GEBAUER, Gunter, Sport in der Gesellschaft des Spekta- kels , Sankt Augustin 2002. Gebauer versteht den Sport als »eine soziale Repräsentation […], in der sich die ganze Gesellschaft wiedererkennen lässt.« Er sei ein Medium, das »[…] Beziehungen zwischen den Beteiligten [erzeugt], indem e[s] sie miteinander verbindet (als Partner), aber auch trennt (als Gegner) oder ihnen eine Teilhabe ermög- licht (als Zuschauer).« Gebauer ist der Auffassung, es gäbe keine so direkte Repräsen- tationsform von Gesellschaften wie den Sport, deshalb sei beispielsweise das Theater in seiner Funktion in modernen Gesellschaften nicht mit dem Sport zu vergleichen: Vgl. ebd., 156-171. Wörtliche Zitate: S. 160 und 161. Zum Fußball entsprechend: S. 172- 187. Siehe auch die anthropologische Deutung des Fußballspiels als »Ritual« und der Mannschaften als »Stämme«: MORRIS, Desmond, Das Spiel: Faszination und Ritual des Fußballs , München 1981. 215 »Football. Os uruguayos em São Paulo. Commentarios sobre o match de ante- hontem«, Gazeta de Noticias, 16.01.1917. PEREIRA, Footballmania , S. 137. 109 Aneignung 109 Vereine trugen diesem Prozess durch den Bau immer größerer Stadien Rechnung, wie zum Beispiel 1919 der Klub Fluminense mit dem Estádio das Laranjeiras , das 25.000 Zuschauern Platz bot oder 1927 der portugie- sische Immigrantenklub Vasco da Gama mit dem Bau des Estádio São Januário mit einem Fassungsvermögen von 40.000 Menschen.216 Die Zuschauer erwarteten wiederum erregende Spiele mit gut ausgebil- deten Spielern. Auch durch die Internationalisierung nach dem Ersten Weltkrieg fanden immer häufiger Spiele in kürzerer Folge statt.217All diese Faktoren forderten von den Klubmanagern, dauerhaft auf gut trainierte Mannschaften zurückgreifen zu können. Die Fußballspieler traten in eine größere Konkurrenz zueinander. Sie probierten neue Trainingsmethoden aus, stellten ausländische (europäische) Trainer ein und elaborierten konti- nuierlich ihre Trainingssysteme.218Hierin war langfristig angelegt, dass das Amateurprinzip nicht mehr aufrechterhalten werden konnte und eine Profi- Liga eingeführt werden musste. 1.6. A UF DEM W EG ZUM P ROFI -F UßBALL In den 1920er-Jahren geriet das brüchige Amateursystem, auf dem der Fußball in Rio de Janeiro und São Paulo basierte, zunehmend in Kritik. In beiden Städten formierten sich Bewegungen für die Einführung eines Profi- Systems. Ihre Anhänger bezogen sich auf Mitteleuropa, da dort in einigen Ländern der Profi-Fußball schon eingeführt war. In Großbritannien gab es schon seit den 1880er-Jahren Profi-Ligen. Auch in Argentinien und Uru- guay diskutierten Sportpresse und Vereine über die offizielle Zulassung von Profi-Spielern.219Zudem waren der Amateurstatus und seine Auslegung eines der wichtigsten Themen bei den Zusammenkünften von FIFA und IOC in den 1920er-Jahren.220Die brasilianische Sportpresse reflektierte 216 Vgl. G AFFNEY , Christopher Thomas, Temples of the Earthbound Gods: Stadiums in the Cultural Landscapes of Rio de Janeiro and Buenos Aires , Austin 2008, S. 50-68; PEREIRA, Footballmania , S. 136. Vasco da Gama ist ein von portugiesischen Händlern 1898 in Rio de Janeiro gegründeter Ruderverein, der 1915 auch die Sportart Fußball aufnahm. Erst mit dem Stadionbau im Jahr 1927 konnte er das Stigma eines »fremden Klubs« bei den lokalen Elitevereinen überwinden, das aus einem starken Antilusitanis- mus resultierte: Vgl. HOLLANDA, O descobrimento do futebol , S. 200. 217 Zur Internationalisierung: Vgl. E ISENBERG , The Rise of Internationalism. 218 So die Eliteklubs Fluminense (Charles William 1911) und C. A. Paulistano (John Hamilton 1906/1907): Vgl. BOCKETTI, The Creolization , S. 191-195. 219 Vgl. E ISENBERG u.a. (Hg.), FIFA 1904-2004 , S. 25 f.; C ALDAS , Pontapé inicial , S. 60. 220 Vgl. E ISENBERG u. a. (Hg.), FIFA 1904-2004 , S. 68. 110 110 Aneignung diese Entwicklungen und Debatten. Sie hatte dabei weit mehr Einfluss auf die Transformationen des Amateursystems, als zum Beispiel der Historiker Waldenyr Caldas ihr zuschreibt, wenn er meint, die Sportpresse sei vor den 1930er-Jahren noch »unbedeutend im Fußball« gewesen.221 In Brasilien waren es zunächst einzelne Fußballklubs, die für ein Pro- fitum eintraten, so in Rio de Janeiro die Vereine América und Vasco da Gama, die inoffiziell schon ein Profi-System ausgebildet hatten.222Aber auch die betroffenen verdeckten Profispieler hatten ein Interesse an der Offizialisierung ihres Status. Von den Verbänden durch rigide und oftmals willkürliche Regeln und Maßnahmen kriminalisiert und von den Vereinen oft abhängig und ausgebeutet, sahen sie in der offiziellen Einführung eines Profi-Systems die Lösung ihrer Probleme. Der Lokalverband in Rio de Janeiro zum Beispiel ging gerade in den 1920er-Jahren mit umfassenden Untersuchungen und Befragungen gegen das Halb-Profitum vor. So hatten Spieler ab 1924 alle 90 Tage einen Be- schäftigungsnachweis zu erbringen, der beweisen sollte, dass sie nicht hauptsächlich vom Fußball lebten. Außerdem mussten sie Auskünfte geben über Schreib- und Lesefähigkeit, zum Familienstand, zur Nationalität und zum Studien- und Arbeitsort.223Die Aufnahme in die erste Liga des Verban- des war an die Größe des Klubs und seine Infrastruktur gebunden, das waren weitere Exklusionsmechanismen. Hinzu kam eine Stimmgewich- tung, die den Eliteklubs mehr Macht zuwies. Auf dieser Grundlage konnten die Eliteklubs kurz vor wichtigen Begegnungen Spieler sperren und so die Siegchancen kleinerer Klubs aus den Vororten mindern. Dahinter stand der Gedanke, auf diesem Wege den Fußball zu »moralisieren« und das Ama- teurethos wieder als Leitgedanken zu etablieren.224 Es ging jedoch auch um Macht und Gewinn im inzwischen rentablen Fußball. Die Lokalverbände nahmen in Rio de Janeiro seit 1908 und in São Paulo seit 1913 Eintritt, mit der Zunahme an Zuschauern in den späten 1910er- und den 1920er-Jahren war Fußball inzwischen äußerst lukrativ.225 Dass hinter der Diskriminierung der kleineren Klubs und ihrer Spieler auch wirtschaftliche Interessen standen, davon zeugt zum Beispiel die Regelung 221 C ALDAS , O pontapé inicial , S. 62. 222 Ebd., S. 67-78. 223 Ebd., S. 61 und S. 84. 224 Ebd., S. 82-86. 225 Ebd., S. 38; Vgl. D ERS ., Aspectos Sociopolíticos do Futebol Brasileiro. Um breve histórico, in: DERS., Temas da cultura de massa: música, futebol, consumo , São Paulo 2001, S. 99-111, hier 103. 111 Aneignung 111 des Lokalverbandes von Rio de Janeiro, die Spiele der größeren Klubs an Sonntagen abzuhalten – dem Wochentag mit den höchsten Zuschauerzah- len – und die der kleinen Klubs an Samstagen, an denen viele Spieler und Fußballanhänger arbeiteten.226 Die Sportpresse ging mit dem Thema unterschiedlich um. Caldas, der die Geschichte der Einführung professioneller Fußballligen in São Paulo und Rio de Janeiro darstellt, meint, Sportjournalisten hätten fast immer die Position der verdeckten Profi-Spieler unterstützt.227Einige Presseorgane kritisierten die willkürliche Vorgehensweise der Eliteklubs im Lokal- verband und sprachen die Exklusionsmechanismen offen an. Dahinter stand jedoch oft weniger Solidarität mit den Spielern als vielmehr eine Ab- lehnung der Doppelmoral der Eliteklubs, die nach außen den Amateur- gedanken bewahrend auftraten, im Grunde jedoch Fußball als Geschäft be- trachteten. Die Haltung der Presse ist zum Teil mit ihrer Verknüpfung mit den Elitevereinen zu erklären, so war zum Beispiel seit 1921 Macedo Soares, der Präsident des nationalen Sportverbandes CBD, den die lokalen Eliteklubs in Rio de Janeiro lenkten, zugleich auch Chefredakteur der im Sport einflussreichen Zeitung O Imparcial .228 Im Zuge der immer weiter fortschreitenden Internationalisierung des Fußballs ließ sich die Aufrechterhaltung eines Amateursystems immer weniger legitimieren. Von verschiedenen Seiten im transnationalen Sport wurde das Amateursystem herausgefordert. So stellten die Diskussionen über den Amateurstatus Ende der 1920er-Jahre zwischen der FIFA und dem IOC eine institutionelle Herausforderung dar. Wie Barbara Keys darstellt, war die FIFA in der Amateurfrage selbst unschlüssig, während das IOC relativ streng an dem Amateurstatus festhielt. Die FIFA überließ es den Nationalverbänden ihn zu definieren, im Gegensatz zum IOC. Die FIFA war auf Grund dieser Meinungsverschiedenheit mit dem IOC dafür, ein von den Olympischen Spielen unabhängiges internationales Sportturnier zu organisieren und die Einnahmen durch die Zuschauer zu finanzieren. Es zeichnete sich ab, dass der Fußball auch im Rahmen der internationalen Sportturniere zur kommerziell wichtigsten Sportart wurde. Aus diesem Grund konnte und wollte das IOC, obwohl es ideologisch gegen den kommerziellen Status war, 1928 den Fußball von den Olympischen Spielen nicht ausschließen.229 226 Vgl. S ILVA , Sobre o negro no futebol brasileiro, S. 306 f. 227 C ALDAS , O pontapé inicial , S. 62; Vgl. D ERS ., Brasilien, S. 176 ff. 228 Vgl. P EREIRA , Footballmania , S. 175. 229 K EYS , Globalizing Sport , S. 51-54. 112 112 Aneignung Diese Impulse aus der transnationalen Sportgemeinschaft zeigen, dass sich Transformationen im brasilianischen Fußball nicht alleine aus dem nationalen Gefüge heraus verstehen lassen. Hier entstanden »Vereinheitli- chungseffekte«230in einem transnationalen Kontext, zum einen institutionell über die nationalen Sportverbände, zum anderen diskursiv über die Sport- presse. Diese »Vereinheitlichungseffekte« durch die Medien brachten mittel- fristig auch die Einführung des Profi-Fußballs in Brasilien voran. Sport- journalisten einer jüngeren und professioneller arbeitenden Generation verfügten über Kontakte zu Sportlern, Journalisten, Fußballspielern und Vereinen in anderen Ländern und bezogen sich auf sie. Zuletzt, Anfang der 1930er-Jahre, gaben migrierende Fußballspieler den letzten Anstoß, den Profi-Fußball einzuführen, weil sie Brasilien auf der Suche nach besseren Arbeitsbedingungen verließen.231Die brasilianischen Sportfunktionäre aus den Klubs und den Verbänden mussten sich über kurz oder lang diesen Veränderungen fügen. Das geschah bereits auf einer 1925 in Prag abgehaltenen FIFA-Konfe- renz, auf der die Sportfunktionäre aus den Mitgliedsnationen über den Amateurstatus diskutierten. Die FIFA gab später einen Fragebogen an die Nationalverbände heraus, in dem sie unter anderem wissen wollte, ob es »notwendig sei, den verdeckten Professionalismus zu bekämpfen« und welche Maßnahmen sie vorschlügen, um einen ökonomisch motivierten Transfer von Spielern zwischen Ländern zu vermeiden.232Die CBD machte in ihrer Antwort deutlich, dass sie den »verdeckten Professionalismus«« nicht dulde und ihn vor allem als »Entkräftung […] der guten sportlichen Normen« betrachte. Sie schlug Maßnahmen im nationalen Rahmen vor und lehnte die Organisation einer »internationalen Kontrollkommission« wegen der schwierigen Entscheidungsfindung ab. Außerdem empfahl sie ein rigi- des Transfergesetz: Spieler, die zwischen zwei Ländern wechselten, sollten über drei Jahre für die Teilnahme an offiziellen Spielen gesperrt werden. Impulse für eine Lockerung des Amateurstatus kamen also nicht aus dem institutionellen Kontext des transnationalen Fußballs. Es war eher das En- gagement von Journalisten und von vom ausbeuterischen Halb-Profisystem betroffenen Fußballspielern, das mittelfristig Impulse für ein Aufbrechen 230 E ISENBERG , Der Weltfußballverband FIFA, S. 210. 231 Vgl. C ALDAS , O pontapé inicial, S. 61 ff.; Vgl. L ANFRANCHI u.a., Moving with the Ball ; DIETSCHY, Football Players' Migration, S. 33 f. 232 »Amadorismo e profissionalismo. A confederação Brasileira em Praga«, A Gazeta , 11.5.1926. 113 Aneignung 113 des rigiden Amateursystems brachte. Auch sie agierten in einem transnati- onalen Kontext. Im Jahr 1933 veröffentlichte der Fußballspieler Floriano Peixoto Corrêa eine Autobiografie mit dem Titel Pracht und Elend unseres Fußballs .233 Darin beschrieb er den schwierigen Übergang vom Amateursystem zum Profitum. Interessant ist das Buch vor allem deshalb, weil es das erste auto- biografische Zeugnis eines Fußballspielers aus der Frühzeit des brasiliani- schen Fußballs darstellt. Der Journalist Paulo Varzea verfasste die Einleitung zur Autobiografie. Darin kritisierte er heftig das elitäre Ama- teursystem, seine Doppelmoral und die Ausbeutung der Spieler durch den verdeckten Professionalismus: »Der Fußball wurde durch einen Professio- nalismus heimgesucht, aber durch einen Banditen-Professionalismus, usur- patorisch, schwindlerisch, betrügerisch, der nur den Leitern Geld gab und die Spieler mit Trinkgeldern ausbeutete.«234 Schon 1927 hatte Corrêa sich in einem Interview in der Zeitung Rio Sportivo zum Profitum bekannt. Seine Aussagen bauschte die lokale Sport- presse zum Skandal auf, obwohl schon seit dem Ende der 1910er-Jahre regelmäßige Berichte über die Praxis des verdeckten Profitums existier- ten.235Aber ein offenes Bekenntnis eines Fußballspielers hierzu war unüb- lich. Corrêas Autobiografie zeigt, wie die Karriere eines nicht-elitären Spie- lers aussehen konnte. Er kam mit dem Fußballsport in der Stadt Itapecerica in Minas Gerais in Kontakt. Mit 16 ging er nach Porto Alegre auf die Militärschule, wo er bald beim dortigen Klub Internacional spielte. 1924 wechselte er auf die Militärschule an der Praia Vermelha in Rio de Janeiro, dort engagierte ihn ein Sportfunktionär für den Eliteklub Fluminense. Der Verein integrierte Corrêa in sein Halb-Profi-System, stellte ihm eine Unterkunft bereit und befreite ihn später vom Militärdienst. Die Klubvorsitzenden versprachen dem Spieler eine Anstellung, vertrösteten ihn zugleich aber immer wieder.236 Mitte der 1920er-Jahre waren feste Anstellungen von Spielern bei Klub- Mitgliedern längst üblich – dies war nur eine Form, um den Überprüfungen 233 C ORRÊA , Grandezas e misérias . 234 Ebd., S. 26 f. 235 Vgl. Floriano Peixoto Corrêa an Afonso Varzea, 11.5.1933: Nachlass von Afonso Vasconselos Varzea, cod: IW, cx. 13, pac. 2, AN. Siehe die Berichte zum Profitum: »Futebol. Dinheiro haja! O interesse monetario no futebol. A questão é de bom actores ou de bons… futebolistas«, A Gazeta , 29.12.1921; »O Professionalismo«, A Gazeta , 26.5.1922. 236 C ORRÊA , Grandezas e misérias , S. 58-72. 114 114 Aneignung durch den lokalen Sportverband zu begegnen.237Corrêa berichtete, was es bedeutete, Halb-Profi zu sein: Er wurde häufig für Spiele und Trainings aufgestellt, die er wegen seiner finanziellen Abhängigkeit selten absagen konnte, während er gleichzeitig nach außen den Habitus eines Amateur- sportlers zu bewahren hatte. Letzteres umfasste einen Lebensstil, den er finanziell kaum bestreiten konnte, wie Kleidung, gesellschaftliche Ver- pflichtungen oder Besuche von geselligen Anlässen und Festen der Elite. Er verschuldete sich und geriet nur noch stärker in eine direkte Abhängig- keit von den Klubvorsitzenden und von seiner eigenen sportlichen Leis- tung, die ihm letztlich seine Position garantierte.238Die Autobiografie Corrêas beschreibt keinen Einzelfall, sie steht exemplarisch für das System, auf dem der Fußball in den 1920er-Jahren beruhte. Auch von Austauschbeziehungen berichtete Paulo Varzea in der Einlei- tung zu Corrêas Autobiografie. So habe es in den 1910er-Jahren einen re- gen Spielertransfer zwischen Rio de Janeiro und São Paulo, den beiden Sportzentren und anderen größeren Städten in Brasilien gegeben, aber auch zwischen Brasilien, anderen Staaten Südamerikas und Europa. Mehrere Spieler der Paulistaner Elitevereine Palmeiras, Paulistano, Mackenzie und São Paulo Athlétic wurden des Profitums beschuldigt, so die Spieler Alvaro Rocha, Tutú Miranda und Asburry. Sie hätten pro Spiel 50$000, 100$000 oder 200$000 réis erhalten.239Die Sportvereine Germânia und São Paulo Athlétic hätten Spieler aus Deutschland und England geholt und als Profis beschäftigt.240Vermutlich bezog sich Paulo Varzea auf den Fußballspieler und Leichtathleten Hermann Friese.241Besonders hob er den Klub S.C. 237 Es war für das Halb-Profisystem üblich, den Fußballspielern offiziell als Alibi eine Anstellung zu verschaffen, zum Beispiel bei einem Händler oder Fabrikanten, der auch Klubmitglied war. Inoffiziell waren die Spieler aber von der Arbeit freigestellt und konnten so den ganzen Tag trainieren: LEITELOPES, Classe, etnicidade e cor, S. 133-142. 238 C ORRÊA , Grandezas e misérias , S. 66-71. Corrêa berichtete in diesem, biograf- ischen, Teil seiner Arbeit, dass man von ihm erwartet habe, dass er sich entsprechend kleide und bei gesellschaftlichen Ereignissen im Smoking erscheine, den er sich sogar teilweise habe ausleihen müssen. 239 C ORRÊA , Grandezas e misérias , S. 22. Nimmt man in der Hauptsaison mehrere Spiele im Monat an, konnten alleine diese Einnahmen ein besseres Einkommen darstellen, als ein durchschnittlicher Arbeiter monatlich verdiente: Siehe den Kaufkraftvergleich in Fußnote 105. 240 C ORRÊA , Grandezas e misérias , S. 20-24. 241 Herrmann Friese kam 1903 direkt vom Hamburger Sportklub Germania zu dem deutschen Immigranten-Klub. Er war erfolgreicher Fußballspieler und auch Leichtath- let: »25 Jahre Sportclub Germania São Paulo. Der Bruderverein des Sportclubs Germania-Hamburg«, 6.11.1924, in: G IV f, n° 10/2, IMS. 115 Aneignung 115 Americano hervor, dieser hätte ein ganzes Team aus Profi-Spielern be- schäftigt und habe sogar »einen Schlafsaal in seinem Hauptsitz« in Rio de Janeiro improvisiert.242 Corrêa erwähnt im Zusammenhang eine »campanha profissionalista« (»Professionalisierungs-Kampagne«), die Sportjournalisten starteten, um sich für die offizielle Einführung und Legalisierung des Profi-Fußballs einzusetzen.243Besonders stellt er Paulo Varzea heraus. Der hatte die Auto- biografie von Corrêa initiiert und ihn bei seiner Anklage gegen die Klub- und Verbandsvorsitzenden unterstützt. Varzea arbeitete für den Klub América in Rio de Janeiro. Zusammen mit seinem Bruder, Afonso Varzea, führte er die »campanha profissionalista« an.244Der Klub América, so schreibt Varzea selbst in der Einleitung, sei ein »Bollwerk der Legali- sierung des Professionalismus« gewesen.245Die Brüder Varzea hätten Kon- takt zu anderen Klubvorsitzenden aufgenommen, so zu dem Vorsitzenden von Fluminense. In der Sache des Professionalismus empfahlen sie ihm, sich an Billy Sudel, den Bürgermeister von Preston in England, zu orientieren. Der hatte Ende des 19. Jahrhunderts in England ein halb- professionelles System für den Klub Preston North End eingeführt und sich, als sein Tun publik wurde, für die Anerkennung und Einführung des Profitums bei der englischen FA eingesetzt.246Ähnlich sollte auch der Klub América sein Profi-System offenlegen.247Später, zu Beginn der 1930er- Jahre, hätte die Migration erster Profi-Fußballer aus Brasilien nach Italien und Spanien eine Debatte in der Presse ausgelöst und ein Handeln nahe- gelegt.248 Es erscheint wichtig, auf die Brüder Varzea gesondert einzugehen: Die Brüder Paulo und Afonso Varzea spielten für die Entwicklung der Sport- presse eine besondere Rolle. Auch sie sind Beispiele dafür, dass die ersten Fußballenthusiasten nicht ausschließlich Söhne der aristokratischen Eliten waren, die durch ihre traditionell in Europa absolvierte Ausbildung mit dem Fußball in Kontakt gekommen waren, sondern auch Angehörige einer langsam entstehenden urbanen Mittelschicht. Sie kamen das erste Mal bei Spielen in den várzeas von São Paulo mit dem Fußball in Berührung und 242 C ORRÊA , Grandezas e misérias , S. 23. 243 Ebd., S. 119 ff. 244 Ebd., S. 141. Siehe auch S. 48 f. 245 Ebd., S. 48. 246 Vgl. C ALDAS , O pontapé inicial , S. 68; C ORRÊA , Grandezas e misérias , S. 152 f. 247Vgl. CORRÊA, Grandezas e misérias , S. 48 f. 248 Vgl. ebd., S. 123. 116 116 Aneignung durch den vielgereisten Vater, einen Schriftsteller aus Santa Catarina, der die Söhne zu den ersten großen internationalen Fußballspielen Brasiliens mitnahm.249 Afonso Varzea arbeitete als Geschichts- und Geografielehrer und setzte sich für Bildungsreformen im brasilianischen Schulwesen ein. Er begann 1914 mit 17 Jahren als Kriminalreporter bei der Zeitung A Noite in Rio de Janeiro eine Journalistenkarriere und durchlief später mehrere wichtige brasilianische Zeitungen. Ab 1927 leitete er die Sportsektion der Zeitung O Imparcial und reformierte diese maßgeblich. Ab 1927 erschien, neben der täglichen Sportsektion von O Imparcial , zweimal wöchentlich eine mehr- seitige Beilage über Sport.250 Afonso Varzeas Rolle in der Sportredaktion von O Imparcial widerlegt auch die Pionierrolle des Journalisten Mário Filho bei der Sportzeitung »Jornal dos Sports« in den 1930er-Jahren, die ihm die historische For- schung lange Zeit zuwies.251Die Veränderungen, die Afonso Varzea dort einleitete, demokratisierten die Berichterstattung, weil er den Fußballsport nicht mehr als einen Raum der Elite erfasste, den diese gegen andere sozi- ale Schichten zu verteidigen hatte, sondern als eine Sportart, die inzwi- schen von Angehörigen unterschiedlicher sozialer Schichten ausgeübt wurde. Er sah in seiner Berichterstattung die Popularisierung des Fußballs als durchweg positiv. Die Modernisierung geschah zum Beispiel über die Stärkung von Hinter- grundinformationen, so durch Interviews mit Spielern, einer stärker kom- mentierenden Berichterstattung, insgesamt einer Verbreiterung der Bericht- erstattung auch auf recherchierte Ereignisse im Ausland. Afonso Varzea, so lässt sich aus seinem Privatnachlass rekonstruieren, hatte durch seine Funktion als Sportredakteur und später auch als Trainer zahlreiche Verbin- dungen zu Sportexperten, zu Journalisten und Trainern in Großbritannien und den USA. Von dort erhielt er direkt Informationen und diese Kontakte scheinen auch bedeutend gewesen zu sein für das Vorhaben, das Profitum in Brasilien einzuführen.252 249 Varzea, George, Literatura do Futebol, Datum unbekannt: Nachlass von Afonso Vasconselos Varzea, cod: IW, cx: 6, pac. 2, AN. 250 Nachlass von Afonso Vasconselos Varzea, cod: IW, cx. 14, pac. 2, AN. 251 Vgl. A NTUNES , »Com brasileiro, não há quem possa!«, S. 35 ff. Ausführlich zu der Relativierung dieser lange zugewiesenen Rolle durch neuere Arbeiten: HOLLANDA, O descobrimento do futebol, S. 144 ff. 252 C ORRÊA ., S. 21 ff. Eine Gesamtschau der Sportpresse Ende der 1920er-Jahre zeigt eine Zunahme von Auslandsberichterstattung. Siehe etwa: »Pagina dos Redactores. Sports-Magazine e sua apresentação. Voltemos ao seio da Confederação Sul- 117 Aneignung 117 Mit der Modernisierung der Sportberichterstattung verabschiedete sich Varzea nicht von der Idee eines erzieherischen Auftrags des Fußballs. Die Sportseiten unter seiner Redaktionsleitung waren weiterhin darauf bedacht, den Sportlern festgelegte moralische Werte zu vermitteln bzw. in einem weiteren Sinne mitzuteilen, wie man regelgetreu zu spielen hatte. Ausdruck dessen war zum Beispiel die Herausgabe eines erzieherischen Fußballre- gelheftes unter dem Pseudonym David Jack, das in einer hohen Auflage gedruckt wurde, und im Titel betonte, auch für arme Fußballspieler er- schwinglich zu sein.253Im Vorwort zu diesem Heft bezog er sich auf den britischen Schiedsrichter J.R. Schumacher, der die Verbreitung schlecht übersetzter Fußballregeln in der Welt beklagt hatte, denn, so Varzea, »das Gesetz nicht zu kennen verursacht eine Menge Vorfälle und gibt Spielraum für eine Reihe von Unannehmlichkeiten.«254Deshalb sah er vor, die 17 gültigen Regeln direkt aus dem Text des britischen International Board ohne Anmerkungen zu übersetzen. Die emanzipatorische Botschaft ging jedoch nicht so weit, dass Afonso Varzea ein traditionelles Amateurideal verteidigte. Vielmehr setzte er sich mit anderen für die Einführung einer Profi-Liga und die gerechte Entloh- nung und Anerkennung der bisherigen Scheinamateure ein. 1.7. Z USAMMENFASSUNG Neben den sozialen Wandlungsprozessen, die sich über die Biografie Corrêas darstellen lassen, gibt seine Biografie auch Auskunft über Inter- aktionen zwischen lokalen und globalen Entwicklungen im Fußball, hier im Bereich der Einführung einer Profi-Liga in Brasilien. Tatsächlich einge- führt wurde der Profi-Fußball offiziell erst 1933 unter Vargas. Er sah im Fußball ein wichtiges Instrument zur Erreichung seiner politischen Ziele.255 Die Rechercheergebnisse zeigen, wie brasilianische Eliten, Sportfunkti- onäre, Journalisten und auch Angehörige einer reformorientierten urbanen Mittelschicht schon vor den 1930er-Jahren den Fußballdiskurs nutzten, um alternative Aneignungen von unten mit »Dekadenz« und Gewalt in Verbin- Americana. O eterno feminino«, Sports Magazine , 1.5.1928. Im Jahr 1928 wurde auch die Sonderausgabe von A Gazeta , Gazeta Esportiva , aufgelegt. 253 Vgl. V ARZEA , Afonso (Pseudonym: Jack, David), As regras do Futebol. Ao alcance de toda gente tiradas directamente do texto inglês , Rio de Janeiro 1929: Nach- lass von Afonso Vasconselos Varzea, AN. 254 Vgl. ebd., S. 1. 255 P EREIRA , Footballmania , S. 338-344. Vgl. auch N EGREIROS , A nação entra em campo , S. 184. 118 118 Aneignung dung zu bringen und darüber hinaus politische Projekte zu formulieren. Sie setzten dabei an einem Amateurideal an, das sie sich aus einem transnatio- nalen Kontext für ihre Ideen einer »Zivilisierungsmission« der brasiliani- schen Gesellschaft aneigneten. Schon nach dem Ersten Weltkrieg formulierten sie die Idee, über den Sport eine raça brasileira zu schaffen. Ein Vorhaben, dem sich Vargas im Estado Novo dann mit größerer Effizi- enz und durch praktische Umsetzung stellte, indem er tatsächlich Sportmi- nisterien und Ausbildungsinstitutionen einrichtete.256 In den 1920er-Jahren handelte es sich bei der Schaffung einer raça brasileira zwar noch nicht um ein nationales politisches Programm. Aber Elitenangehörige, die später unter Vargas zu Schlüsselfiguren für eine Um- setzung dieser Ideen werden sollten, formulierten sie hier bereits.257Der sich wandelnde Fußballdiskurs im Zeichen der Popularisierung zeigt, unter welchen Bedingungen Popularisierung akzeptiert wurde. Eliten eigneten sich mit dem Fußball verbundene Ideale an, wie das Amateurethos, indem sie es mit spezifischen brasilianischen Diskursen wie dem Hygienediskurs verbanden. Auf diese Weise wollten sie Probleme einer Gesellschaft ange- hen, die eine Phase politischer, sozialer und wirtschaftlicher Krisen und Umbrüche erlebte, in der neu entstehende soziale Schichten in den Städten um ihren Platz im sozialen und politischen Raum kämpften und gleichzei- tig aristokratische Eliten ihren angestammten Platz in der Gesellschaft bewahren wollten. Der Fußballdiskurs diente diesen Eliten dazu, diese Hierarchien zu rechtfertigen und die Popularisierung des Fußballs nach ihren Vorstellungen zu gestalten, um zum Beispiel Arbeiter zu disziplinie- ren. Zugleich war der Fußball auch eine kulturelle Praxis, um diese Zu- griffe und Hierarchien von unten in Frage zu stellen. Auch über den Ersten Weltkrieg hinaus orientierten sich brasilianische Eliten im Vorhaben der Schaffung einer »brasilianischen Rasse« an Europa und der »zivilisierten« Welt, obwohl sie zugleich eine »Nationalisierung« des Fußballs forderten. Vor allem vor dem Hintergrund der globalen Po- pularisierung des Fußballs in Folge des Ersten Weltkriegs und der zuneh- menden Kontakte durch internationale Spielbegegnungen nahmen die Aus- einandersetzung und der Dialog mit Europa und, in geringerem Maße, den USA eher zu. Das wird später noch zu zeigen sein. So sind die Debatten 256 Vgl. N EGREIROS , A nação entra em campo . Negreiros Hauptthesen sind auch in einem veröffentlichten Aufsatz nachzulesen: NEGREIROS, Futebol nos anos 1930 e 1940. Siehe auch: DÁVILA, Diploma de brancura , S. 107-114; JACKSON, The New Brazilian Man. 257 Vgl. J ACKSON , The New Brazilian Man. 119 Aneignung 119 um den Amateurstatus und die Einführung des Profi-Fußballs nicht ohne die Auseinandersetzungen mit den Vorgaben der FIFA und den Entwicklungen in anderen Ländern zu verstehen. Im Zusammenhang des Diskurses um eine »brasilianische Rasse« ent- stand Anfang des 20. Jahrhunderts eine weitere Herausforderung für die brasilianische Gesellschaft, nämlich die Rolle von Afro-Brasilianern im Sport. Für den Fußball bedeutete das: Rassistische Exklusion und »rassi- sche« Identitäten wurden im Verlauf seiner Ausbreitung mitverhandelt. 120
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2. »RASSE«: RASSISMUS UND DIE VERHANDLUNG »RASSISCHER« IDENTITÄTEN
Es scheint, als habe der Weltkrieg, der so schlimme Auswirkungen auf den Fortgang der Nationen hatte, in keinster Weise die sportlichen Traditionen der Länder ins Wanken bringen konnte. […] Die aktuelle Epoche ist die des Sportes. Und glücklicherweise entwickeln sie sich in unserer Heimat und verbreiten sich in alle sozialen Klassen. Und das ist eine viel verheißende Nachricht, denn der Sport ist die große Kraft, die den Namen einer Rasse erhebt und verewigt. […] Kämpfen wir für den Sport. Lasst uns den großen Wert der Leibeskultur begreifen. Und nach dieser ungeheuerlichen und großartigen Anstrengung wird Brasilien dann das große Eldorado, das Gelobte Land sein, das uns der größte Denker der lateinischen Rasse – Olavo Bilac – mit seinem Feuerwort vorausgesagt hat […].1 Der enthusiastische Appell des Autors dieser Zeilen verdeutlicht die verän- derte Einschätzung des Sports nach dem Ersten Weltkrieg als ein Instru- ment zur allgemeinen Mobilmachung, Stärkung und fortschrittlichen Entwicklung der Brasilianer. Besonders stark offenbart er ein im Zusam- menhang spezifisches Verständnis der »brasilianischen Rasse« als eine raça , die jeden unabhängig von der sozialen und ethnischen Herkunft ein- zuschließen schien. Was hatte sich zu einem vorherigen Verständnis verän- dert und welche Möglichkeiten bot der Fußball »rassische« Identitäten auszuhandeln? Waren es ausschließlich intellektuelle Eliten, wie der Schriftsteller Olavo Bilac, die diese Einschätzung teilten und betonten?2 In diesem Kapitel rückt die Kategorie »Rasse« in den Vordergrund und damit eine weitere Form von Inklusion und Exklusion aus dem »sozialen Raum« des Fußballs.3In einer diskursanalytischen Herangehensweise wird dargelegt, wie Sportjournalisten, Zeitungsleser und afro-brasilianische Fußballspieler »Rasse« im Verhältnis zur Nation verhandelten und hierar- chisierten und wie Fußball dazu beitrug, »Rasse« zu »materialisieren«.4Als transnationales Phänomen spielte er eine nicht zu unterschätzende Rolle in 1 Jonh (sic!) Brow, »Lutemos pelo sport«, SSOI , 21.5.1921. 2 Vgl. zum Verhältnis brasilianischer Intellektueller zum Fußball: A NTUNES , » Com brasileiro, não há quem possa!« , S. 21 ff. 3 Zum Fußball als »sozialer Raum«: Vgl. B OURDIEU , Sport and Social Class; BOURDIEU, Historische und soziale Voraussetzungen modernen Sports. 4 Zur Materialisierung von »Rasse«-Vorstellungen über den modernen Sport siehe CARRINGTON, Race, Sport and Politics . 122 122 »Rasse« der Aushandlung »rassischer« Identitäten und für die Vergleiche von Rassismen. »Rasse« ist eine sozial und diskursiv konstruierte Kategorie, die jegli- cher wissenschaftlichen Grundlage entbehrt.5Allerdings kommt dem Be- griff »Rasse« analytisch eine Bedeutung zu, weil er – unabhängig von dem zeitlich höchst unterschiedlichen Verständnis – eine Referenzkategorie dar- stellt, die historische Akteure vor allem seit dem 18. Jahrhundert mit wissenschaftlichem Anspruch nach ästhetischen Merkmalen konstruierten, um soziale Hierarchien und Machtansprüche zu rechtfertigen.6In der Ent- stehung eines aus diesen Hierarchisierungen hervorgehenden, wissenschaft- lich begründeten Rassismus seit dem 18. Jahrhundert waren Schädelform, Hethiternase, Haut- oder Haarfarbe […] immer nur opti- sche Hilfskonstruktionen für das, worum es eigentlich ging: um die Anthropologisierung und Biologisierung sozialer Unterschiede, die da- mit dem sozialen Wandel entzogen werden. Rassismus tritt daher nie alleine auf, sondern stets in Verbindung mit antiegalitären, antidemokratischen und antiliberalen Einstellungen und Doktrinen.7 Auch im frühen brasilianischen Fußball spielte Rassismus eine bedeutende Rolle, da Eliteklubs afro-brasilianische Spieler nach »rassischen« Katego- rien ausgrenzten und auf diese Weise auch Machtansprüche durchsetzen und erhalten wollten. 2.1. E UGENIK , EMBRANQUECIMENTO UND DEMOCRACIA RACIAL : M ÁRIO F ILHO UND DIE I NTERPRETATIONEN VON R ASSISMUS IM FRÜHEN BRASILIANISCHEN F UßBALL Auf lange Sicht stellte die sozialwissenschaftliche und historische Literatur in Brasilien Fußball als eine soziale Aufstiegsmöglichkeit für afro-brasilia- 5 Vgl. C AVALLI -S FORZA , Luigi L./M ENOZZI , Paolo/P IAZZA , Alberto, The History and Geography of Human Genes , Princeton NJ 1994, S. 19 f. Ich danke Oliver Gliech für diesen Hinweis. 6 Vgl. M OSSE , George L., Rassismus. Ein Krankheitssymptom in der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts , Königstein/Taunus 1978, S. 23-38. Siehe auch: GEULEN, Christian, Geschichte des Rassismus , München 2007, S. 13-16; PRIESTER, Karin, Rassismus. Eine Sozialgeschichte , Leipzig 2003, S. 11-16. Zum »Rasse«-Begriff als sozial konstruierte Kategorie aus Sicht der Sportsoziologie siehe: HYLTON, Kevin, » Race « and Sport: Critical Race Theory , London 2009, S. 6-9. 7 P RIESTER , Rassismus , S. 15. 123 »Rasse« 123 nische Spieler dar.8Diese Analysen legten vor allem die Publikation des Journalisten Mário Filho O negro no futebol brasileiro (»Der Schwarze im brasilianischen Fußball«) von 1947 zu Grunde. Er beschrieb den Fußball vor 1930 als geprägt von starkem Rassismus gegenüber afro-brasili- anischen Spielern. Gleichzeitig sprach er dem Fußball eine Harmoni- sierungswirkung zu, der ethnische Unterschiede aufhebe und es zuletzt vermöge, das Ideal einer democracia racial (»Rassendemokratie«) zu verwirklichen.9In dieser »Rassendemokratie«, als deren Vordenker maßgeblich der Soziologe Gilberto Freyre gilt, sollten unterscheidbare »rassische« Merkmale und Herkunft keine Rolle mehr spielen. In Verwirklichung dieses Konzeptes in einem brasilianischen Fußballstil kämen hingegen spezifische körperliche Merkmale zum Ausdruck, die »rassisch«-kulturell determiniert seien.10Freyre, und letztlich auch Filho, legte vorherige negative Assoziationen mit einer »Rasse« ab und betonte ihren positiven Beitrag zu »einem rassisch und kulturell hybriden Brasilien«.11 Sich später auf Filho beziehende Autoren legten die Entfaltung dieser Harmonisierung zeitlich mit der Vargas-Ära zusammen, in der die Popularisierung, »Nationalisierung« und Professionalisierung des Fußballs die »rassische« Exklusion endgültig aufgehoben habe.12Daran beteiligt gewesen seien vor allem Sportjournalisten, allen voran Filho selbst, der in der Zeitung »Jornal dos Sports« die Fußballberichterstattung modernisierte, darin afro-brasilianische Spieler zu Stars aufbaute und ein sozial heteroge- nes Publikum in Form und Aufbau der Berichterstattung ansprach.13 Auf Mário Filho beruht auch ein Narrativ, in dem die Rolle einzelner Klubs für den sozialen Aufstieg von Afro-Brasilianern in der brasiliani- 8 Vgl. D A M ATTA , Antropologia do óbvio; Vgl. H ELAL u.a., A invenção do país do futebol . Vgl. auch die Kritik an DaMattas These des Fußballs als »soziale Versöhnung«: SUSSEKIND, Futebol em dois tempos . 9 H OLLANDA , O descobrimento do futebol , S. 149. 10 Vgl. zum Beispiel die Beschreibung dieses Stils durch den Anthropologen Roberto DaMatta in einem der ersten geisteswissenschaftlichen Sammelbände zur Fußball- geschichte in der Revista USP : DAMATTA, Antropologia do óbvio, S. 28 f. 11 F RY , Peter, A persistência da raça: ensaios antropológicos sobre o Brasil e a África austral , Rio de Janeiro 2005, S. 15. 12 Vgl. etwa: S ANTOS , Ricardo Pinto dos, Uma breve história social dos esportes, in: TEIXEIRA DASILVAu. a., (Hg.), Memória social dos esportes , S. 33-54; FRANZINI, Cora- ções na ponta da chuteira , S. 125. Zur Kritik daran: SOARES, Futebol brasileiro e sociedade. 13 Vgl. L EITE L OPES , José Sérgio, A vitória do futebol que incorporou a pelada, in: Revista USP , Dossiê futebol , São Paulo Juni/August 1994, Nr. 22, S. 64-83. 124 124 »Rasse« schen Gesellschaft stark mythologisiert wurde. Für die Zeit vor 1930 schrieben Autoren diese pionierhafte Aufgabe der sozialen und »rassi- schen« Inklusion einzelnen Klubs zu, allen voran den Vereinen Vasco da Gama und Bangú A.C. in Rio de Janeiro. Beide nahmen früh afro- brasilianische Spieler auf und waren zugleich Mitglieder im lokalen Eliten- verband der Stadt.14Weil die Historiografie immer stark auf Exklusions- mechanismen in den Elitevereinen in Rio de Janeiro blickte, neigte sie zudem dazu, bestimmte Ereignisse nahezu mythisch zu verklären.15Das geschah im Falle des Aufstiegs von Vasco da Gama in Rio de Janeiro in die erste Liga des Verbandes im Jahr 1923. Die Eliteklubs protestierten gegen den Aufstieg des besonders in den Vororten äußerst populären Vereins und gründeten einen neuen Verband, aus dem sie Vasco da Gama ausschlossen. Sie begründeten den Ausschluss vor allem mit der weithin bekannten Tat- sache, dass der Verein Fußballspieler unter der Hand in einem Halb- Profisystem ausbildete. Dass Vasco da Gama die etablierten Hierarchien im Fußball herausforderte und es letztlich schaffte, sich in der ersten Liga als gleichwertiger Klub neben den Elitevereinen zu etablieren, wurde lange als bedeutender Markstein für einen Aufstieg afro-brasilianischer Spieler über den Fußball gesehen. Eine ähnliche Rolle schrieben Fußballhistoriker dem Klub Bangú zu, der als Fabrikverein ebenfalls früh afro-brasilianische Spieler aufnahm und in der Eliteliga akzeptiert wurde. Auch der Fall des Spielers Carlos Alberto von Fluminense F.C., dem Fans des Gegners »pó-de-arroz« (»Reispuder«) zuriefen, um darauf aufmerksam zu machen, dass er sich mit Reispuder schminkte, um seine Haut künstlich aufzuhellen, galt als Kristallisations- punkt für einen Wandel in den sportlichen »Rasse«-Beziehungen.16 In den letzten Jahren kam es um die gängige Interpretation des Umgangs mit dem Buch Mário Filhos zu einer Debatte unter Fußballhistorikern und Sportwissenschaftlern in Brasilien. Der Sportwissenschaftler Antônio Soares ging soweit, in Frage zu stellen, ob es sich bei den Exklusionsme- chanismen in den 1920er-Jahren in Rio de Janeiro überhaupt um Formen von Rassismus gehandelt habe und es nicht vielmehr darum gegangen sei, 14 Vgl. G ORDON , Cesar Jr., História social dos negros no futebol brasileiro, in: Pesquisa de Campo , 1995, Nr. 2, S. 71-90; LEITELOPES, A vitória do futebol. 15 Ausnahmen bilden hier vor allem die Arbeiten von Gilmar Mascarenhas, der Exklusion und Inklusion nach »Rasse« in Porto Alegre herausgearbeitet hat und dabei auch fundamentale Unterschiede im Vergleich zu Rio de Janeiro durch die sich unterscheidenden ethnischen Relationen in Südbrasilien feststellte: Vgl. MASCARENHAS, O futebol da »canela preta«. 16 Vgl. L EITE L OPES , A vitória do futebol, S. 70; P EREIRA , Footballmania , S. 119. 125 »Rasse« 125 dass der Fußball seine aristokratische und amateurhafte Basis zu verlieren drohte.17 Dabei erfolgten die Debatten um Exklusion und Inklusion afro-brasilia- nischer Spieler auch im Kontext anderer Ereignisse und vor allem auch in der Sportpresse. Die Historiografie hat diese Debatten und diskursiven rassistischen Konstruktionen noch zu wenig beachtet. Bisher stand außer- dem weitestgehend Rio de Janeiro im Mittelpunkt historischer Arbeiten zum Zusammenhang von Rassismus und Fußball in der Zeit vor 1930. Deshalb werden im Folgenden verstärkt auch Debatten in der Sportpresse in São Paulo untersucht. Der in sozialer Ausgrenzung schon implizierte Rassismus ist charakte- ristisch für den frühen Fußball. Die überwiegende Zahl der Autoren sugge- riert, im Grunde habe es sich um soziale Exklusion im Sinne des »racial escape hatch« gehandelt, dem zufolge in Brasilien eine größere soziale Mobilität als zum Beispiel in den USA bestand und Afro-Brasilianer über das Aneignen bestimmter sozialer Eigenschaften dem »Schwarzsein« ent- kommen und sozial aufsteigen könnten.18Damit wird Rassismus zu einem ökonomisch begründeten, historisch vorübergehenden Prozess sozialer Exklusion.19Die Autoren, die Rassismus und die Konstruktion der Katego- rie »Rasse« im Fußball untersuchten, schließen sich auf diese Weise, ob bewusst oder unbewusst, einer der beiden in Brasilien entstandenen Schu- len zur Untersuchung von »Rasse«-Beziehungen an, die der Soziologe Edward Telles voneinander historisch unterscheidet.20Entweder sie bezie- hen sich auf die Arbeiten von Gilberto Freyre und argumentieren kultura- listisch, die Entstehung eines nationalen Fußballstils nehme Elemente der unterschiedlichen »Rassen« ineinander auf und vereine diese, so dass dar- aus etwas Neues und spezifisch Brasilianisches entstehe. Oder sie rekurrie- ren auf die Erklärung von Rassismus als Problem, das vor allem auf sozio- ökonomischer Ungleichheit beruhe in Rückgriff auf die von der UNESCO 17 Vgl. S OARES , O Racismo no futebol do Rio de Janeiro. Siehe vor allem auch seine grundlegende Kritik an der bisherigen Geschichtsschreibung zu Rassismus im brasilia- nischen Fußball: DERS., Futebol brasileiro e sociedade. 18 Zum »racial escape hatch« (»rassischer Notausgang«): W INANT , Howard, Rethinking Race in Brazil, in: Journal of Latin American Studies 24, 1992, Nr. 1, S. 173-192, hier 177 f. 19 Ebd. 20 Vgl. T ELLES , Edward, Racismo à brasileira: uma nova perspectiva sociológica , Rio de Janeiro 2003, S. 20; Vgl. hierzu auch: GUIMARÃES, António Sérgio Alfredo, Preconceito de cor e racismo no Brasil, in: Revista de Antropologia 47, 2004, Nr. 1, S. 1-43. 126 126 »Rasse« beauftragten Studien der 1950er-Jahre um Florestan Fernandes, die zum ersten Mal den Mythos der »Rassendemokratie« in Frage stellten.21Auf die entstandenen Studien zu Rassismus im Fußball lässt sich Winants kritische Anmerkung aus den 1990er-Jahren zu Studien zu »Rasse« in Brasilien übertragen, dass sie trotz ihrer bemerkenswerten Stärken, […] an einer Reihe von schwä- chenden Problemen [litten], darunter eine Missachtung der diskursiven und kulturellen Dimensionen von Rasse, ein übertriebener Glaube an die Allmacht von Eliten, was rassische Verwaltung betrifft, und eine Ten- denz, die Spannungen und Konflikte herunterzuspielen, die mit brasilia- nischen rassischen Dynamiken einhergehen.22 Dies hängt mit dem spezifischen brasilianischen Rassismus zusammen, der keine ausdrücklichen Exklusionsmechanismen kennt, wie dies zum Bei- spiel in den USA der Fall sei.23In den USA, so haben die vergleichenden Rassismus-Studien festgehalten, entschied die Herkunft darüber, ob jemand als »schwarz« oder »weiß« gegolten habe, während in Brasilien Benehmen, Erziehung und Reichtum ausschlaggebend für seine Zuordnung gewesen seien.24 Ein Großteil der entstandenen Studien zur Entstehung des Rassismus in Brasilien erklärt ihn im Vergleich zum Rassismus in den USA.25Erst in den letzten Jahren haben Autoren ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass ver- gleichende Perspektiven in Bezug auf die historische Entstehung von Rassismus auch zu problematischen Schlussfolgerungen und Ergebnissen führen könnten, da Vergleiche immer von geschlossenen räumlichen und diskursiven Einheiten ausgingen, in denen zum Beispiel rassistische Exklu- sion von vor allem nationalen Akteuren verhandelt werde. So hat zum Beispiel Micol Seigel in einer transnational angelegten Studie darauf hin- gewiesen, wie afro-brasilianische Eliten über Rassismus und Anti-Rassis- 21 Vgl. T ELLES , Racismo à brasileira , S. 20; F ERNANDES , Florestan, O Negro no mundo dos brancos , São Paulo 1972. Als Überblick zu Freyre und Fernandes auch: ANDREWS, Negros e brancos , S. 24-34. 22 W INANT , Rethinking Race in Brazil, S. 183. 23 Vgl. hierzu F RY , A persistência da raça , S. 212 f.; S KIDMORE , Thomas E., Black into White: Race and Nationality in Brazilian Thought , Durham/London 1993, S. 55 f. 24 Vgl. S KIDMORE , Black into White , S. 56. Skidmore macht für die Besonderheit in Brasilien verantwortlich, dass dort schon vor der Abolition viele »schwarze« Männer frei waren und außerdem bis zu der einsetzenden Massenimmigration aus Europa und später Asien »Weiße« auch im Zentrum und im Süden Brasiliens in der Minderheit gewesen seien: Vgl. ebd., S. 56. 25 Vgl. ebd., S. 209. 127 »Rasse« 127 mus in einem grenzüberschreitenden Austausch diskutierten.26Sie verdeut- licht am Beispiel der afro-brasilianischen Gemeinschaft in São Paulo in den 1920er-Jahren, wie diese im Prozess der Emanzipation und der Bewusst- machung rassistischer Exklusion stark mit Bezügen auf die USA arbeitete. Seigel argumentiert: Notions of national racial ideologies of the United States and Brazil get nation wrong and race wrong, and they get the specifics wrong too. That is, the perfectly opposed guiding myths of racial purity in the United States and racial harmony in Brazil reference social systems that have an awful lot in common.27 Angehörige der afro-brasilianischen Gemeinschaften in Städten der beiden Länder hätten sich in Räumen imaginiert, die größer oder kleiner als der Nationalstaat gewesen seien und dabei Bezug auf soziale Identitäten in anderen Räumen genommen.28Afro-Brasilianer und Afro-Amerikaner hätten selbst Vergleiche angestellt, zu diesem Zeitpunkt wäre ihnen die Vergleichsperspektive schon hinderlich gewesen für das Verständnis von Rassismus beim jeweils anderen. Sie hätten zwar Rassismus im jeweils anderen Raum durchaus wahrgenommen, doch zugleich gebrauchten sie auch das Beispiel des anderen als positive Abgrenzung für ihren eigenen Kampf gegen Rassismus und übersahen dabei bestimmte Formen der Aus- grenzung.29 Auch im Fußball spielten die transnationalen Bezüge eine Rolle, sie sind den im »nationalen Container« verhafteten und vergleichenden Studien bisher entgangen. Diese Studien haben zwar wertvolle Einsichten geschaf- fen, auf welche Weise institutionelle Exklusionsmechanismen von Verbän- den und Klubs eingerichtet wurden. Sie betrachteten diese Mechanismen bislang jedoch zu stark teleologisch rückwärtsgewandt aus einer Auflösung rassistischer Exklusion in den 1930er-Jahren unter Vargas und auch zu späteren Zeitpunkten. Wie Filho und andere später argumentierten, habe die Popularisierung und Professionalisierung und die dadurch entstehende ökonomische Angleichung im Fußball die rassistische Exklusion aufgelöst bzw. ihr ihre Schärfe genommen. So äußert zum Beispiel Leite Lopes, 26 Vgl. S EIGEL , Micol, Uneven Encounters: Making Race and Nation in Brazil and the United States , Durham u.a. 2009. Seigel bezieht sich in ihrer Studie stark auf die Ansätze jüngster Diaspora-Studien. 27 Ebd., S. xii. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 237. 128 128 »Rasse« Filho habe in der Professionalisierung eine Implementierung eines regu- lierten, auf klaren Wettbewerbsregeln basierenden Fußballs gesehen. Profi- Fußball habe durch die Popularität und durch die gleichmachenden Krite- rien Fußballer ökonomisch von Klubs und vom gesellschaftlichen Druck unabhängig gemacht. Auch das habe zu einer »Nationalisierung« des Fuß- balls beigetragen.30 Die Erklärung rassistischer Exklusion aus nationaler Perspektive ge- schieht – wie gesagt – teleologisch rückwärtsgewandt vom Endpunkt der »Nationalisierung« des Fußballs in den 1930er-Jahren aus, an dem sich rassistische Ungleichheit auflöste. Außer Acht gelassen wird dabei, dass die Konstruktionen und Zuschreibungen von »rassischen« Eigenschaften gerade im Fußball in einem größeren Rahmen als dem nationalen stattfan- den. Entsprechend bot gerade er Bezugspunkte, anhand derer »rassische« Identität in einem transnationalen Rahmen ausgemacht werden konnte. Ein Subjekt dieser Aushandlung ist der über den Sport materialisierte Körper des »schwarzen Athleten«, wie es der Kultursoziologe Ben Carrington darstellt.31Carringtons Analyse dreht die Argumentation um, die den meis- ten sporthistorischen Studien in Bezug auf Exklusionsmechanismen nach »Rasse«, Klasse und Geschlecht zu Grunde liegt. Ihm zufolge gingen diese Studien fälschlicherweise davon aus, im Sport herrsche Gleichheit oder er stelle Gleichheit her und Exklusionen oder Ungleichheiten seien Ausnahmeerscheinungen.32Er glaubt, es sei »nützlich, Sport als ein rassi- sches Projekt zu denken [… Hervorh. im Original].«33Das gilt auch für Brasilien. Afro-brasilianische Fußballspieler, wie die Mitglieder des Klubs Vasco da Gama, stellte die Literatur als begabt dar, weil sie »schwarz« waren. Ihr Aufstieg, so lautet eine immer noch verbreitete Ansicht, habe zur Entstehung eines neuen, spezifisch brasilianischen Fußballstils geführt, dessen bester Ausdruck die Bewegung der brasilianischen Ginga sei. Bezeichnend hierfür ist die Gegenüberstellung eines dionysischen und eines appolinischen Fußballstils, wie ihn Gilberto Freyre in seinem Vor- wort zu der Ausgabe von Mário Filhos Buch von 1947 vornimmt. Er ver- glich den afro-brasilianischen Spieler Domingos da Guia, einen Fußballstar 30 L EITE L OPES , A vitória do futebol, S. 75. 31 Vgl. C ARRINGTON , Race, Sport and Politics , S. 76-82. Carrington spricht von ei- nem »Sporting Black Atlantic« und führt die dortige Präsenz »schwarzer Athleten« vor allem auf ihre Präsenz im Film zurück: Vgl. ebd., S. 82-88. 32 Ebd., S. 65. 33 Ebd. 129 »Rasse« 129 der 1930er-Jahre, in einer Gegenüberstellung apollinischer und dionysi- scher Werte mit dem brasilianischen Schriftsteller Machado de Assis. Ob- wohl beide in ihrer Kunst stark europäisch geprägt seien, so Freyre, könne ein Beobachter mit Sicherheit in den Wurzeln der beiden ein wenig Samba, ein wenig bahianische Verspieltheit und sogar etwas pernambucanische capoeiragem sowie malandragem aus Rio finden, die ihnen brasiliani- sche Authentizität geben. Mit diesen Residuen hat sich der brasilianische Fußball von seinem wohlgeordneten britischen Ideal entfernt, um zu dem Tanz voller irrationaler Überraschungen und dionysischer Vielfalt zu werden, der er heute ist.34 Rezipienten der Sportpresse und Anhänger suburbaner Klubs betrachteten Afro-Brasilianer schon im Jahr 1918 als selbstverständlichen Teil brasilia- nischer Geschichte: Sie hätten einen wichtigen Beitrag zur Nationswerdung geleistet und sollten deshalb auch Fußball spielen. Die Debatte, in der diese Auffassung zu finden ist, wird weiter unten ausführlicher behandelt. Zwei markante Punkte sind herauszustellen: Erstens verstanden Rezipienten der Sportpresse Fußball schon 1918 als das nationale Spiel und zweitens hierarchisierten sie die Kategorie »Rasse« gegenüber der nationalen Zuge- hörigkeit. Das hieß in ihren Augen, Afro-Brasilianer sollten Fußball spielen dürfen, weil sie Brasilianer waren und nicht obwohl sie »negros« waren. Brasilianische Eliten setzten sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit ihrer nationalen Identität, Brasiliens nationalem Selbstverständnis und den Beziehungen zwischen den von ihnen angenommenen unterscheidbaren »Rassen« und ihrer »Mischung« auseinander. Gerade die in Brasilien statt- gefundene miscigenação sahen sie, informiert durch europäische Rasse- theorien, im ausgehenden 19. Jahrhundert als problematisch an. Anders als in den USA existierte in Brasilien keine bi-»rassische« Einteilung der Gesellschaft. Im Gegenteil: Es gab schon seit dem 19. Jahrhundert, Thomas E. Skidmore zufolge, eine stabile Schicht von »libertos« und armen »Wei- ßen« zwischen Sklaven und Herren. Zu ihr gehörten auch Nachkommen aus sexuellen Beziehungen zwischen »Weißen« und »Schwarzen«.35 34 F REYRE , Gilberto, Prefácio à 1ª Edição, O negro no futebol brasileiro, in: F ILHO , O negro no futebol brasileiro , S. 24-26, hier 25. 35 Vgl. S KIDMORE , Black into White , S. 38-77. Das war in den USA nicht anders, auch in den Südstaaten gab es trotz Ächtung und Verboten sexuelle Kontakte zwischen Sklavinnen und »weißen« Herren, jedoch ging die Elite mit ihren Nachkommen anders um. Sie ordneten sie der Gruppe der »Schwarzen« zu und schloss sie von Privilegien 130 130 »Rasse« Durch die spezifische Ausgangslage in Brasilien bei Ankunft und in der Hochzeit der europäischen »Rassentheorien« im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts fanden Intellektuelle und Wissenschaftler zu neuen Interpre- tationen der aus europäischer Sicht degenerativen miscigenação .36Eine populäre Annahme war bald, durch die Mischung mit »weißen« Nordeuro- päern sei eine Aufhellung, ein embranquecimento , der gesamten Bevölke- rung möglich, die auf diese Weise langfristig »weiß« werde.37Hinzu kam in den 1920er-Jahren der Glaube an die Beeinflussung vererbbarer Eigen- schaften innerhalb einer Generation durch sozialpolitische und medizini- sche Maßnahmen.38 In den 1930er-Jahren entwickelte sich aus diesem spezifischen Umgang mit »Rasse« in Brasilien die Ansicht, gerade die Mischung sei positiv. Gilberto Freyre als prominentester und am nachhaltigsten wirkender Ideengeber arbeitete in diesem Sinne die Idee der democracia racial her- aus, die den »Mestizen« oder den »Mulatten« zur »Ikone« der brasiliani- schen Nation gemacht habe.39Die Idee der aus »Rassenmischung« entstehenden »brasilidade« beinhaltete die Vorstellung, in ihr würden sich alle zuvor unterschiedenen »Rassen« aufheben und etwas Übergeordnetes, Neues, Besseres könnte daraus entstehen. Sérgio Costa weist darauf hin, dass diese Vorstellung im Grunde aber immer noch eine rassistische Komponente enthielt, da sie weiterhin die Idee eines embranquecimento und eine Geringschätzung eines Bevölkerungsteils beinhaltete, der als und Zugang zu politischen Ämtern, Bildung und allen anderen staatsbürgerlichen Privi- legien aus: Ebd., S. 69 ff. 36 Vgl. ebd. Aus Sicht der europäischen »Rassentheorien« standen Nachkommen aus sexuellen Kontakten zwischen »Weißen« und »Schwarzen« auf der untersten »rassi- schen« Hierarchiestufe, so galten sie als unfruchtbar und »degeneriert«. In den USA führte diese Überzeugung nahezu zu einer Furcht vor »Rassenmischung« (in Brasilien: miscigenação ). Sie sahen Vertreter der Rassentheorien als irreparables Problem für die Entwicklung einer Bevölkerung und damit der Nation an, die damit unweigerlich dem Untergang geweiht sei: Vgl. ebd., S. 53 ff. 37 »Embranquecimento« (»Aufweißung«) bezeichnet, Skidmore zufolge, eine bei bra- silianischen Eliten zwischen 1889 und 1914 akzeptierte Theorie, der zufolge »Weiße« als »Rasse« anderen »Rassen« überlegen seien. Zudem würde die schwarze Bevölkerung zahlenmäßig abnehmen und miscigenação könne die Bevölkerung aufhellen und damit einer angenommenen »Degeneration«, die als Idee aus den »Rassentheorien« des 19. Jahrhunderts stammte, entgegengewirkt werden. Die Förde- rung europäischer Immigration stand ganz im Zeichen dieser Theorie: Ebd., S. 64-69. 38 Vgl. D ÁVILA , Diploma de brancura , S. 55. Vgl. auch Kapitel 1.3 der vorliegenden Arbeit. 39 S CHWARCZ , Lilia, Gilberto Freyre: adaptação, mestiçagem, trópicos e privacidade em Novo Mundo nos trópicos, in: Joshua LUND/Malcolm MCNEE(Hg.), Gilberto Freyre e os estudos latino-americanos , Pittsburgh 2006, S. 305-334, hier 311 ff. 131 »Rasse« 131 »schwarze Rasse« definiert wird und in den anderen durch Mischung auf- gehen sollte.40 Sport sahen Intellektuelle und Wissenschaftler im Zuge der Begeisterung für Eugenik als Instrument zur Heilung und Rettung schwacher, kranker und in der Entwicklung »rückständiger« Teile der Bevölkerung an. Ende der 1920er-Jahre kamen Journalisten obendrein zu der Ansicht, es ent- wickle sich ein spezifischer brasilianischer Fußballstil, der auf die »Ras- senmischung« zurückzuführen sei. Mário Filho vertrat diese Idee in seinem Werk »O Negro no futebol brasileiro«.41Der Fußball biete zudem Afro- Brasilianern soziale Aufstiegsmöglichkeiten, ökonomische Ungleichheit könne überwunden werden. Nicht umsonst nennt der Sporthistoriker Bernardo Buarque de Hollanda das Werk Mário Filhos, in Anspielung an Gilberto Freyres berühmt gewordenes Buch von 1933, das »Casa Grande e Senzala« der Fußballgeschichte.42 Elitäre Fußballanhänger erwarteten von afro-brasilianischen Spielern in der Zeit vor 1930 die Übernahme »weißer« Eigenschaften und Verhaltens- weisen, soweit Wissenschaftler, Erzieher und Politiker Fußball als ein Mittel des embranquecimento sahen. Sporadisch existierte auch in den 1920er-Jahren schon das Denken, als afro-brasilianisch angesehene Eigen- schaften, die also »rassisch« determiniert seien, könnten den Fußball berei- chern und sollten in einen nationalen Spielstil integriert werden, was dann revidiert wurde, wenn solche Spieler durch ein Fehlverhalten, also durch Verstöße gegen geltende Regeln, Missachtung kodifizierter Verhaltenswei- sen oder einfach durch Erfolglosigkeit »auffielen«.43 40 C OSTA , Sérgio, A construção sociológica da raça no Brasil, in: Estudos Afro- Asiáticos 24, 2002, Nr. 1, S. 35-62, hier 43 f. 41 Vgl. F ILHO , O Negro no futebol , S. 129-228 42 H OLLANDA , O descobrimento do futebol , S. 149. 43 Dies war zum Beispiel noch 1950 der Fall, als Brasilien nach längerer Zeit wieder an der Weltmeisterschaft teilnahm, die in diesem Jahr im eigenen Land ausgerichtet wurde. Die Öffentlichkeit bereitete sich auf einen Titelgewinn der brasilianischen Elf vor, im Team waren mehrere afro-brasilianische Spieler. Als Brasilien im Endspiel gegen Uruguay eine Niederlage erlitt, war das, so beschreibt es die Forschungsliteratur, ein nationales Trauma, das kurzfristig alle Erwartungen an den davor so enthusiastisch gefeierten brasilianischen, kreolischen Stil enttäuschte und nun zu einer erneuten Infragestellung der brasilianischen miscigenação führte, da der afro-brasilianische Torwart Barbosa und der Spieler Bigode für die Niederlage verantwortlich gemacht wurden: ANTUNES, »Com brasileiro, não há quem possa!«, S. 39; KOLLER, Christian/BRÄNDLE, Fabian, Goal!: Kultur- und Sozialgeschichte des modernen Fussballs , Zürich 2002, S. 122-125; MOURA, Gisella de Araujo, O Rio corre para o Maracanã , Rio de Janeiro 1998, S. 144-147. Filho berücksichtigte den hier zu Tage 132 132 »Rasse« Die Herausstellung als »typisch« angesehener afro-brasilianischer Ei- genschaften markierte eine veränderte Wahrnehmung von Afro-Brasilia- nern über den Sport insgesamt und auch des Beitrags Brasiliens zur diskur- siven und transnationalen Konstruktion des »schwarzen Athleten«. Wie Carrington zeigt, wandelten sich Anfang des 20. Jahrhunderts durch den Sport als transnationales Phänomen körperliche »rassische« Vorstellungen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, in der Hochzeit des Imperialismus, hätten noch Vorstellungen von der nicht nur intellektuellen, sondern auch physischen Überlegenheit des »weißen« Mannes dominiert, während zu- gleich in diesem Diskurs »Schwarze« effeminiert worden seien. Das Bild vom »schwarzen« Körper habe sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewan- delt: Diesem hätten »weiße« Athleten, Journalisten und Sporttrainer Eigenschaften wie übernatürliche Wesenszüge, besondere körperliche Eignung für Athletismus und Sport, Animalität und Ursprünglichkeit zugeschrieben und auf diese Weise »Rasse« körperlich materialisiert.44 Zugleich allerdings hätten sich »Weiße« weiterhin als diejenigen gesehen, die durch rationale Trainingsmethoden, durch eine Überlegenheit in Intel- lekt und Wissen als einzige in der Lage seien, den »schwarzen Athleten« zu trainieren und auszubilden.45 2.2. R ASSISTISCHE E XKLUSIONEN UND P OPULARISIERUNG IN R IO DE J ANEIRO UND S ÃO P AULO Seit 1913 führten Elitevereine in São Paulo eine Debatte, ob sich der Elite- verband für andere soziale Schichten öffnen sollte. Kern des Konflikts war der Eintritt des nicht-elitären Klubs Clube Atlético Ypiranga in die LPF im Jahr 1913. Das veranlasste einige der alteingesessenen und elitären Mit- glieder, wie den C. A. Paulistano, die Associação Atlética Palmeiras und den Klub Mackenzie aus der LPF auszutreten und einen eigenen Sportver- band zu gründen, die Associação Paulista de Sports Athleticos .46Sie woll- ten dort ihre bisherige elitäre und exklusive Vereinskultur fortsetzen, die tretenden Rassismus, indem er einer späteren Ausgabe von O negro no futebol brasileiro zwei Kapitel hinzufügte: SOARES, Futebol brasileiro e sociedade, S. 147. 44 Vgl. C ARRINGTON , Race, Sport and Politics , S. 66-82. Siehe auch: K EYS , Globalizing Sport , S. 81. 45 C ARRINGTON , Race, Sport and Politics , S. 81. 46 Vgl. »Associação Paulista de Sports Athleticos«, OESP , 30.4.1913, in: Album »1913«, CAP; FRANCOJÚNIOR, A dança dos deuses , S. 66-67; Hilário gibt als Sezessionsjahr 1911 an, dies stimmt jedoch nicht mit den Quellen überein, die Spaltung ereignete sich erst 1913. 133 »Rasse« 133 auf dem Habitusideal des sportsman fußte. Gleich im ersten Spiel der neu geschaffenen Liga sollte der Einsatz von Polizisten »Ausschreitungen« vermeiden und »den Eintritt von Personen verhindern, die für unangemes- sen befunden werden.«47 Die Aufspaltung in zwei Verbände währte bis 1917 und die Sportpresse deutete sie allgemein als Ausdruck einer nachhaltigen Krise des Fußballs in São Paulo. Ein anderer Antagonismus beendete dann 1917 die Spaltung. São Paulo und Rio de Janeiro setzten sich zunehmend über die Führungs- rolle im nationalen Fußball auseinander. Die Vertreter der großen lokalen Sportverbände beanspruchten jeweils den Hauptsitz eines nationalen Sport- oder Fußballverbandes und die Anerkennung durch internationale Sport- verbände, wie durch die FIFA und das IOC.48Um diesen Anspruch durchzusetzen, war ein geschlossenes Auftreten nur eines Verbandes aus São Paulo förderlich. Außerdem war es auf Dauer organisatorisch nicht möglich, zwei Meisterschaften auszutragen – die Vereine konnten das Publikum nicht für zwei Stadtmeisterschaften in einem Jahr begeistern. Die 1912 und 1913 in die LPF aufgestiegenen populären Klubs hatten eine besonders große Anhängerschaft, vor allem aus Arbeitern, wie beispiels- weise der Fußballklub Corinthians.49Den Eliteklubs wurde diese Anhänger- schaft immer wichtiger, da sie zunehmend kommerziell orientiert waren und die Spiele an den Wochenenden Einnahmequellen darstellten.50 1917 vereinigten sich beide Ligen wieder unter dem Namen und mit den Statuten der neueren APSA. Im Gegenzug übernahmen sie die Abteilungen des älteren Verbandes LPF. Kurz darauf gab sich der Verband den brasilianischen Namen Associação Paulista de Esportes Atléticos (APEA). In der APEA waren nun auch Klubs aus den Arbeitervierteln São Paulos organisiert.51Sie befanden sich zwar zum Großteil in der zweiten oder dritten Liga des Verbandes, aber der Verband bildete die soziale Heteroge- nität des Fußballs in São Paulo nun besser ab. Eine ganz ähnliche Entwicklung nahm die institutionelle Festschreibung der Popularisierung des Fußballs in Rio de Janeiro, allerdings einige Jahre später. Die elitären großen Klubs im lokalen Fußballverband Liga Metro- 47 Vgl. »Associação Paulista de Sports Athleticos. Campeonato de 1913«, OESP , 11.5.1913, in: Album »1913«, CAP. 48 Vgl. hierzu Kapitel 3.1.3 der vorliegenden Arbeit. 49 Vgl. N EGREIROS , Resistência e rendição. 50 Vgl. B OTELHO , Da geral à tribuna, S. 326-330; F RANCO J ÚNIOR , A dança dos deuses , S. 67. 51 Vgl. S ILVA , Sobre o negro no futebol brasileiro, S. 305. 134 134 »Rasse« politana strebten im Jahr 1923 eine Reform der Statuten und damit der Zugangsmöglichkeiten kleinerer, finanziell schlecht ausgerüsteter Klubs an. Sie waren bestrebt, ihre hegemoniale Machtposition innerhalb des Ver- bandes aufrechtzuerhalten und zu stärken. Im Hintergrund dieses Bemü- hens stand, dass seit circa 1917 kleinere Klubs durch erfolgreiche Trainingssysteme die Dominanz der großen Vereine herausforderten und nun zunehmend auch Tribut für diese Erfolge in den Sportverbänden for- derten.52Die Eliteklubs schlugen eine restriktivere Zusammensetzung des Vorstandes des Verbandes vor und forderten außerdem, in die erste Liga sollten nur solche Vereine aufsteigen können, die noch andere Sportarten vertraten. Die großen Eliteklubs waren nicht nur auf Fußball spezialisiert und damit im Vorteil, die Reformvorschläge waren entsprechend ein »Machtprojekt der großen Klubs«.53Nachdem die kleineren Vereine die Vorschläge blockiert hatten, traten die großen aus Protest aus und gründe- ten den Verband Associação Metropolitana de Esportes Athléticos (AMEA). Die AMEA, so stellte sich schon bald heraus, war weiterhin die dominierende Stadtliga, zu der auch alle anderen Klubs gehören wollten, da sie über die beste Sportinfrastruktur und finanzielle Ausstattung verfügte. In dem Sezessionskonflikt ging es vor allem aber um den Klub Vasco da Gama, der zur portugiesischen Immigrantengemeinde Rio de Janeiros ge- hörte und der im Jahre 1923 die lokalen Meisterschaften gewann und damit in die erste Liga aufstieg. Vasco da Gama wies laut Leite Lopes ein neues Internat-ähnliches Trainingssystem auf. Er argumentiert, der Klub habe durch seine Zusammensetzung aus vor allem afro-brasilianischen Vorort- Bewohnern Rio de Janeiros den Fußball proletarisiert. Weil die aus dem lokalen Handel stammenden Klubleiter Fußball als lohnende Investition betrachteten und utilitaristische Werte einführten, forderten sie die alten Elite-Klubs zusätzlich heraus. Letztere gaben in dieser Zeit noch vor, aus reiner Spielfreude Sport zu treiben.54 52 Vgl. P EREIRA , Footballmania , S. 112-134. 53 S ILVA , Sobre o negro no futebol brasileiro, S. 305. 54 L EITE L OPES , Classe, etnicidade e cor, S. 134 f. Den Einzug utilitaristischer Werte diskutierte die Sportpresse sehr breit. Dabei standen Leiter aller Vereine in der Kritik, sich finanziell am Fußball bereichern zu wollen und dafür insgeheim das für diesen Zweck nützliche System des Halb-Profitums zu fördern, in dem Vereine keine arbeits- rechtlichen Pflichten gegenüber den Spielern übernehmen mussten, die hingegen ganz der Willkür der Klubs ausgesetzt waren und deren Förderung einzig von ihrem Erfolg abhing: Vgl. »Futebol. Dinheiro Haja! O Interesse monetario no futebol. A questão é de bom actores ou de bons...futebolistas«, A Gazeta , 29.12.1921. 135 »Rasse« 135 In den Jahren 1923/1924 sieht Leite Lopes zwei Formen der Exklusion in Rio de Janeiro: Zum einen auf infrastruktureller Ebene, da Vasco da Gama lange kein Stadion besaß. Auf dieses Ausschlusskriterium reagierte der reiche Klub im Jahr 1927 mit dem Bau eines Stadions für 40.000 Men- schen.55In diesem Exklusionsmechanismus lag ihm zufolge also auch ein Anreiz für eine weitere Popularisierung des Sports, da mit dem Stadionbau noch mehr Menschen zuschauen konnten. Zum anderen gab es eine morali- sche Exklusion: Der Verband prüfte die Spieler durch einen »Schulbil- dungstest« (»teste de escolaridade«) auf ihre Schreibfähigkeit und eine Überprüfungskommission (»commissão de syndicancia«), bestehend aus Angehörigen der Elitevereine und Journalisten, überprüfte ihre Arbeits- stelle, um auszuschließen, dass sie Fußballprofis und nur auf dem Papier bei einer Firma angestellt wären.56 Leite Lopes unterscheidet die Exklusionsversuche und die dabei ver- wendeten Kategorien in São Paulo und Rio de Janeiro. Er kommt zu dem Schluss, in Rio de Janeiro sei es dabei stärker um die Kategorie der »Rasse« gegangen, während in São Paulo »Klasse« im Vordergrund ge- standen habe. In Rio de Janeiro wandte sich die Exklusion gegen die im Klub Vasco da Gama spielenden afro-brasilianischen Spieler, die durch die geltenden Verbandsregeln in die erste Liga aufgestiegen wären. Diese These führt Leite Lopes auf Mário Filho zurück, der wiederum in dem Konflikt in den Jahren 1923/1924 um den Klub Vasco da Gama den Ras- sismus im Fußball während der Ersten Republik gebündelt sieht.57In São Paulo hingegen habe sich die Exklusion zwar auch implizit gegen »jogadores de côr« gewandt, vor allem aber auch gegen italienische und spanische Immigranten, gegen Arbeiter aus den Vororten der Stadt.58 Zu einem anderen Urteil kommt George Reid Andrews, der darlegt, Afro-Brasilianer seien in der Ersten Republik aus jeglichen Freizeitver- einen der »Weißen« ausgegrenzt worden und hätten deshalb alternative Vereine gegründet. Er führt diese dezidierte Segregation auch für Sportver- eine an.59 55 Siehe auch Kapitel 1.5, S. 109 der vorliegenden Arbeit. 56 Vgl. L EITE L OPES , Classe, etnicidade e cor. In der Überprüfungskommission war auch ein Journalist der Zeitung Correio da Manhã vertreten: Vgl. ebd. 57 Vgl. F ILHO , O negro no futebol brasileiro , S. 120-177 (vor allem im Kapitel: A revolta do preto ). 58 L EITE L OPES , Classe, etnicidade e cor, S. 139 f. 59 A NDREWS , Negros e brancos , S. 218-228, insbesondere S. 222. Die Quellenbasis Andrews‘ für diesen Aspekt ist allerdings äußerst dünn, er bezieht sich ausschließlich auf Zeitungsartikel, die nach 1930, teilweise in den 1980er-Jahren, erschienen sind. 136 136 »Rasse« Es ist wichtig, an dieser Stelle noch einmal die in Kapitel 1 dargestellten klassenbezogenen Bedeutungszuweisungen, Disziplinierungsversuche und Vereinnahmungen über den Fußball, die Hygieniker seit den 1910er-Jahren vornahmen, abzugrenzen von den in diesen oftmals enthaltenen, an anderer Stelle aber auch explizit geäußerten, rassistischen und »Rasse«-bezogenen Exklusionsmechanismen und Vereinnahmungen.Es soll hier deutlich wer- den, dass rassistische Exklusion über den Fußball nicht immer mit sozialer Exklusion deckungsgleich war, dass rassistische Exklusion nicht allein soziale Beweggründe hatte. Das würde im Umkehrschluss nämlich weiter- hin die These unterstützen, dass der Fußball einen Weg für sozialen Auf- stieg ebnete, auf dem eine Überwindung von Rassismus möglich sei. Hier soll vielmehr auf die Subtilität und Spezifizität von »rassischen« und rassistischen Diskursen über den Fußball hingearbeitet werden. Erstens wird deutlich, dass über den Fußball soziokulturelle Wertvorgaben als Ansprüche geäußert wurden, unter deren Einhaltung eine Inklusion mehr oder weniger »geduldet« wurde und die einem, auch transnational formu- lierten, Ideal eines sportsman entsprachen. Zweitens zeigt sich, dass Aus- handlungen »rassischer« Identität und von Rassismus über den Fußballdis- kurs in einen transnationalen »Rasse«-diskurs eingebettet waren. Das ermöglichte eine grenzüberschreitende Verhandlung und auch Offenlegung von Rassismus, zudem waren »schwarze Athleten« über die transnationale Presse erstmals in einer als positiv wahrgenommen gesellschaftlichen Rolle sichtbar.60Doch wurde dadurch auch ein körperlich bestimmtes Bild eines »schwarzen Athleten« von Brasilien aus mitdefiniert. Die Presse beklagte Ende der 1910er und zu Beginn der 1920er Jahre den Wandel des torcedor (»Fan«) vom eleganten sportsman zum emotional unbeherrschten und gewaltbereiten Anhänger, der die Regeln des Spiels nicht beherrsche. Von diesem Wandel zeugen auch Karikaturen. Die Popu- larisierung als Veränderung des torcedor (Bild 5), der nun in zerrissener Kleidung, mit einem Knüppel statt Gehstock in der einen und einer Schusswaffe in der anderen Hand zu allem bereit schien, wurde hier als Wandel der »rassischen« Zusammensetzung der Zuschauer und Spieler illustriert. In ihren Zeichnungen verbanden Karikaturisten »Schwarzsein« mit Kriminalität und Gewalt und grenzten dagegen sportsmen als »weiß« ab. 60 Vgl. K EYS , Globalizing Sport , S. 13-14. 137 »Rasse« 137 Bild 5: Der Wandel des Publikums: Die Karikatur macht die zunehmende Gewaltbereitschaft des Fußballpublikums zum Thema, sie illustriert sie als »rassisches« Problem. Quelle: »Torcida«, Sport Illustrado , Nr. 31, 3.5.1921, S. 6. 61 Zugleich wurden, wie schon weiter oben ausgeführt, in den 1920er-Jahren Sportklubs und Verbände zunehmend als ein Netzwerk eingeschätzt, über das sich leicht alle Teile der Bevölkerung für hygienische und erzieherische Maßnahmen erreichen ließen und ebenjene Gewalt und damit in Verbin- dung gebrachte Charakterisierungen, wie »Müßiggang« und eine allge- meine »Dekadenz«, angegangen werden könnten. Auch erhielt Sport eine patriotische Einschätzung und diese legte auch nahe, Afro-Brasilianer nicht mehr von dem Projekt der einen raça brasileira auszuschließen. Wenn Brasilien durch den Sport zum »gigantische[n] Eldorado« und zum »Heili- gen Land« werden sollte, wie es ein Autor festhielt, dann gelte es in erster Linie, die »Klasse von unnützen und effeminierten Jungen« zu schmälern. Dieses gewandelte Körperbild in Kombination mit sozialreformerischen Ideen schloss prinzipiell niemanden mehr von der angenommenen morali- sierenden Kraft des Sports aus.62 Die Vergleiche zu England verwiesen auf eine als vorbildlich geltende Erziehung und Durchdringung der englischen Gesellschaft durch Sport. 61 »So war ich… Und dann wurde ich so…« 62 Jonh (sic!) Brow, »Lutemos pelo sport«, SSOI , 21.5.1921. 138 138 »Rasse« Auslandskorrespondenten sahen sie als unmittelbare Ursache für eine rela- tive Gewaltlosigkeit bei den Ligaspielen in England. Nicht per se nahmen die Hygieniker soziale Heterogenität als Ursache für Gewalt und »Deka- denz« an: Dass in England schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Einteilung in eine Amateurliga und eine professionelle Liga existierte und Fußball dort ein Arbeitersport war, war in Brasilien bekannt. Das Problem sahen sie vielmehr in der »rassischen« Zusammensetzung der brasiliani- schen Bevölkerung. Als Lösung sei eine Sporterziehung ähnlich wie die in England einzuführen, dann gäbe es auch in Brasilien weniger Gewalt bei den Spielen, sowohl die Spieler als auch das Publikum verhielten sich dann »zivilisierter«. Denselben Vergleich stellten die Journalisten und Experten auch mit den USA, Frankreich, Belgien, mit Argentinien und Uruguay her.63 Nachdem im Mai 1919 die Brasilianer das Campeonato Sul-Americano in Rio de Janeiro gewonnen hatten, gab sich der brasilianische Dichter Menotti Del Picchia hoffnungsvoll, dass auch Brasilien den Weg dieser Vorbilder beschreiten könne. In einem triumphierenden, emphatischen Text lobte der nationalistische und später der Modernismus-Bewegung São Paulos angehörende Dichter den Fußball als eugenisches Instrument schlechthin. Wie Joffre und andere Journalisten sprach er bezeichnender- weise von einer einzigen »Rasse«. Damit entsprach er dem Zeitgeist, keine sich voneinander unterscheidenden »Rassen« zu differenzieren: Der Fußball, brutal und episch, war der Eugenisator der Rasse. Und des- halb, und aus einem viel subtileren Grund, als der emotionale Applaus des Kampfes hergibt, sollte dem virilisierenden Sport applaudiert wer- den. Es ist das Geheimnis des Triumphes einer Nationalität, ein Volk von Starken zu sein. Die ›Yankees‹ haben verstanden, dass dies die Formel des Weltsieges ist. Zum Glück beginnt Brasilien dies zu verste- hen. Jeca Tatu […] setzt seine übereinandergeschlagenen Beine in Be- wegung und kommt vom Feld herunter. Langsam erweitern sich seine genötigten Muskeln, die Brust, keuchend, wölbt sich […]. Der Fußballer Jeca Tatu ist die Wiedergeburt des Vaterlandes. 64 Jeca Tatu , der stilisierte Hinterlandbewohner aus dem 1918 erschienenen Roman des Schriftstellers Monteiro Lobato, tauchte in dem Diskurs um die 63 Vgl. Picchia, Menotti Del, »A Nossa Victoria«, A Gazeta , 30.5.1919; Vgl. »A Olympiada de Anvers. A Participação dos Sportsmen Brasileiros, Chilenos, Argentinos e Italianos«, A Gazeta , 8.1.1920. 64 Picchia, Menotti Del, »A Nossa Victoria«, A Gazeta , 30.5.1919. 139 »Rasse« 139 »Zivilisierung« des Sportes wiederholt auf. Ihn stellten die Autoren dem Idealtypus des »weißen« und »zivilisierten« sportsman gegenüber, als Prototyp des noch nicht vom Sportenthusiasmus erfassten Hinterlandbe- wohners Brasiliens und als ein Resultat der miscigenação , so Fátima Antunes.65In einer späteren Ausgabe seines Buches habe Lobato ihn als durch gezielte Hygieneprogramme veränderbaren und entwicklungsfähigen Menschen dargestellt.66 Doch nicht nur Intellektuelle und Politiker maßen dem Sport eine so hohe Bedeutung zu. Die sozialreformerische Botschaft kam auch bei Sportenthusiasten im verzweigten Vereinsnetz und in den suburbanen Klubs an. Das zeigen die Zuschriften, die die Sportteile der Tageszeitungen und Zeitschriften in den 1920er-Jahren erhielten. Hier äußerten sich Leser, wer Brasilien nach außen bei Sportveranstaltungen repräsentieren sollte. Sie debattierten hier auch über die »rassische« Repräsentation Brasiliens und über Rassismus im Fußball. 2.3. R EZEPTION DER D ISKURSE : D IE H IERARCHISIERUNG VON »R ASSE « UND N ATION Die Sportberichterstattung begriff in den 1910er- und 1920er-Jahren im Kontext der Hygiene-Bewegung Spiele nicht nur als sportliche Ereignisse, ihre Aufgabe sah sie als weit darüber hinausgehend: Regelmäßig erschie- nen Berichte über den Zusammenhang von Hygiene und Sport, zwischen Sport und Erziehung und ab dem Ersten Weltkrieg auch zwischen Krieg und Sport. Fotos von Spielsituationen umrahmten Darreichungen zur Tech- nik des Spiels. Spielergebnisse und Spielberichte waren eingebettet in historische Abhandlungen zu seiner Herkunft, in Interviews mit Spielern, in Kommentare von internationalen Korrespondenten oder in meinungsorien- tierte Leitartikel. Von ursprünglich wenigen Spalten dehnte sich die Be- richterstattung in den Tageszeitungen auf eine ganze Seite aus.67 65 A NTUNES , »Com brasileiro, não há quem possa!«, S. 33; Vgl. Leopoldo Sant’Anna, »O Momento«, A Gazeta , 20.3.1920. Menotti Del Picchia verfasste, wahrscheinlich in Reaktion auf Lobatos »Urupês«, das Gedicht »Juca Mulato«: Vgl. PICCHIA, Menotti Del, Juca Mulato , São Paulo 1965. Siehe zur Begeisterung del Picchias für den Fußball auch: HOLLANDA, Bernardo Borges Buarque de, Gols de Letra, in: Nossa História 1, abr. 2004, Nr. 6, S. 45-49, hier 47. 66 Vgl. A NTUNES , »Com brasileiro, não há quem possa!«, S. 22-28 ; B ORGES , »Puffy, Ugly, Slothful and Inert«, S. 250 f. 67 Vgl. H OLLANDA , O descobrimento do futebol , insbes. S. 144-149; B OTELHO , Da geral à tribuna, S. 328-330; BRUHNS, Futebol, carnaval e capoeira , S. 62. 140 140 »Rasse« Die Ausdifferenzierung der Sportberichterstattung seit Mitte der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts umfasste auch Berichte über kleinere Klubs aus der 2. Liga und Spiele in den Arbeitervierteln. Und an die Zeitungen, so ist den Quellen zu entnehmen, schrieben zunehmend Leser, um sich zu strittigen Themen zu Wort zu melden. In den meisten Fällen äußerten sie sich in dieser entstehenden Öffentlichkeit zu Aufstellungen von Mann- schaften für anstehende Lokalderbys oder überregionale und internationale Begegnungen. Sie nahmen ein Team als eine Auswahl von Personen wahr, die eine größere, als zusammengehörig gedachte Gruppe, wie die Stadt, Region oder Nation, repräsentieren sollte. Entsprechend viel Konflikt- und Diskussionspotenzial bot die Mannschaftsaufstellung für Journalisten und Leser in einer Zeit, als in Brasilien die Fragen nach dem »Wer sind wir?« und »Wer wollen wir sein?« hohe Bedeutung hatte. Die Leserbriefdebatten zeigen, wie sich Rezipienten dieser seit der Mitte der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts umfangreichen und diversifizierten Presse in diese Diskurse zur Repräsentation von Identität einschrieben, sie weiterführten oder ihnen eine neue Richtung gaben. Eine Debatte im Jahr 1918 über die Zulassung afro-brasilianischer Spie- ler des suburbanen Klubs Argentino zur 2. Liga des lokalen Fußballverban- des APEA in São Paulo verdeutlicht, wie Leser der Sportseiten und An- hänger von nicht-elitären Fußballklubs »Rasse« und »brasilidade« miteinander verbanden und wie sie »Rasse« und Nation hierarchisierten. Die Leser lassen sich drei Gruppen zuordnen: Wenige waren Anti- Rassisten, die eine kategorische Unterscheidung zwischen »Schwarzen« und »Weißen« vollständig ablehnten und nicht mehr zwischen verschiede- nen »Rassen« unterschieden, sondern alle als Brasilianer und eine »Rasse« ansahen; einige vertraten die embranquecimento -Theorie, die ebenfalls von einer einzigen brasilianischen »Rasse« ausging. Jedoch banden sie die Zugehörigkeit an soziokulturelle Bedingungen, die Afro-Brasilianer erfül- len sollten, um Teil dieser Einheit zu werden. Die dritte Gruppe forderte, Afro-Brasilianer von »Weißen« zu segregieren. In den 1910er-Jahren forderte der Fußballverein Argentino die Systema- tik der bis dahin bestehenden »rassischen« und sozialen Exklusion im Lokalverband heraus. Der Klub, der 1918 sein zehnjähriges Jubiläum feier- te, bestand vornehmlich aus »Arbeiterjungen«, wie dem kurzen Bericht über dieses Ereignis zu entnehmen ist.68Über die Zeitspanne von zehn Jahren, so geht aus dem Bericht hervor, konnte er sich nur erhalten, weil 68 Vgl. »O anniversário do Argentino Football Club«, A Gazeta , 22.11.918. 141 »Rasse« 141 einige »vornehme Personen« ihn finanziell unterstützen;69so der ehemalige Fußballspieler und Ehrenvorsitzende des Klubs, Luiz Pannain, der gleich- zeitig Ehrenvorsitzender in 47 weiteren Fußballvereinen, in 13 Tanzklubs und Mitglied des C. A. Paulistano, des Internacional und Palestra Itália war.70Pannain stammte aus der Paulistaner Elite und gehörte zur ersten Generation Paulistaner Fußballspieler. 1905 begann er seine Karriere im Sport Club Idéal und spielte dann für mehrere Eliteklubs der LPF in São Paulo und später in Buenos Aires für den Verein Estudiantes. Im Jahr 1918 gehörte er schon zu den »Veteranen« des Paulistaner Fußballs.71 Pereira zufolge befanden sich in den suburbanen Klubs in Rio de Janeiro immer einige Männer mit lokaler Reputation im Vorstand, um den Verei- nen zum Beispiel vor der Polizei mehr Legitimität zu geben, die kleine Fußballklubs, wie in Kapitel 1 ausgeführt, kriminalisierte.72Das galt vermutlich auch für die clubes de várzea in São Paulo. Jedenfalls ist klar, dass auch das Bestehen des Vereins Argentino an die Förderung durch wohlmeinende Sportmäzene gebunden war. Selbstverständlich profitierten beide Seiten davon, der Klub und der Förderer. Für Letzteren bedeutete die Mitgliedschaft in möglichst vielen Vereinen Anerkennung und mitunter auch Unterstützung bei Wahlen zu politischen Ämtern, so Pereira.73 Wie andere Arbeiterklubs spielte der Argentino eine wichtige Rolle für die Entdeckung und Ausbildung talentierter Fußballspieler in den várzeas , die dann später in Eliteklubs wechselten. Wahrscheinlich verdienten auch einige seiner Spieler mit dem Fußball ihren Unterhalt. Leider befänden sich, so schrieb der Sportjournalist zum Ende seines Artikels, Mannschaf- ten des Klubs derzeit »im Niedergang«, das sei »gewissen Gesellschaften unseres Vorortes geschuldet, die keine Scham haben und nicht die ›Gesetze des Amateurtums‹ kennen.«74 Aus dem Bericht anlässlich des Jubiläums 1918 selbst geht nicht hervor, welche Personen mit der Bezeichnung »gewisse Gesellschaften« gemeint waren und damit für den Abstieg verantwortlich gemacht wurden. Doch legt eine wenige Monate vorher entstandene Leserbriefdebatte nahe, dass dies vor allem afro-brasilianische Spieler waren. Auf den Sportseiten von A 69 Ebd. 70 Vgl. ebd.; »Campeões e Veteranos VII Dr. Luiz Alberto Pannain«, A Gazeta , 19.4.1918. 71 Vgl. »Campeões e Veteranos VII Dr. Luiz Alberto Pannain«, A Gazeta , 19.4.1918. 72Vgl. PEREIRA, Footballmania , S. 246-257. 73 Vgl. ebd. 74 »O anniversario do Argentino Football Club«, A Gazeta , 22.11.1918. 142 142 »Rasse« Gazeta hatten mehrere Leser und Besucher der Spiele des Argentino heftig über den moralischen Zustand des Klubs diskutiert – die Debatte drehte sich um den geplanten Aufstieg des Klubs in die 2. Liga des lokalen Verbandes und die Präsenz afro-brasilianischer Spieler in den Mannschaf- ten des Klubs. Die Leser brachten den Niedergang des Fußballs und die Präsenz afro-brasilianischer Spieler in einen Zusammenhang: Die Multiethnizität lokaler Vorortklubs und die Popularisierung des Fußballs bei nicht-elitären Bevölkerungsteilen mündete in eine Debatte über Inklu- sion und Exklusion afro-brasilianischer Fußballspieler. Die Leserbriefauseinandersetzung ist aus zwei Gründen wichtig für die Beantwortung der übergeordneten Fragestellung dieser Arbeit: Erstens bezogen sich die Leser in ihrer Wahrnehmung von Rassismus auf andere Länder und zeigten ein Bewusstsein für den Fußball als eine kulturelle Praxis in einem über die Nation hinausgehenden globalen Zusammenhang. Zweitens wurde eine Debatte um »rassische« Identität geführt, in der Per- sonen zu Wort kamen, deren Meinung ansonsten in den Quellen nicht vor- zufinden ist. Sie ist ein seltenes Dokument historischer Rezeptions- geschichte für den lokalen Fußball in São Paulo aus dieser Zeit. In der Debatte bündeln sich Meinungen für und gegen die Inklusion afro- brasilianischer Spieler in Fußballklubs in São Paulo und, allgemeiner, zum Umgang der lokalen Gesellschaft mit ihrer Multiethnizität. Nicht klar ist, ob und wie die Betroffenen, also afro-brasilianische Spieler selbst, diese Diskriminierung wahrnahmen. Die Leser, die hier zu Wort kamen, waren jedenfalls Teil einer alphabetisierten Schicht, die regelmäßig die Tages- zeitung und den Sportteil las, die aber auch Fußballspiele in den Paulistaner Vororten besuchte.75 Die Debatte umfasste insgesamt siebzehn Leserbriefe, die A Gazeta an neun Tagen zwischen März und Mai 1918 veröffentlichte und die an diesen Tagen einen großen Teil der tagesaktuellen Sportnachrichten ausmachten. Die meisten Leserbriefe kommentierte die Redaktion einführend. Auf diese Weise machte sie deutlich, dass sie rassistische Exklusion im Fußball nicht billigte.76 75 Im Jahr 1920 waren laut June E. Hahner 64,5% der männlichen und 52,1% der weiblichen Bevölkerung von São Paulo alphabetisiert: Vgl. HAHNER, Poverty and Politics , S. 90. Spezifisch zur Sportpublizistik siehe: BOTELHO, Da geral à tribuna, S. 323. 76 Die Zeitung A Gazeta stellte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen mit O Estado de São Paulo in São Paulo eine der bedeutendsten Tageszeitungen mit einem eigenen Sportteil dar: RIBEIRO, Os donos do espectáculo , S. 26. 143 »Rasse« 143 Den Disput selbst löste der Brief eines Lesers im März 1918 aus. Er schrieb, er sei »regelmäßiger Besucher« von Spielen der 2. Liga und habe die Spiele der APEA im Stadion des Parque Antârctica besucht. Dort sah er zu seiner Überraschung, »ein antretendes Team mit nicht weniger als sieben schwarzen Spielern.«77Die Spieler seien zwar »vornehm« gewesen, jedoch habe er den Statuten der APEA entnommen, dass »farbige Spieler nicht an ihr angeschlossenen Mannschaften teilnehmen können.« Er argu- mentierte weiter: Wenn die APEA die Aufnahme eines Teams mit »schwarzen« Spielern in die 2. Liga gewährte, so bestünde sie in Kürze nur noch aus Mannschaften mit afro-brasilianischen Spielern. Der Verband verstoße damit gegen seine Regeln und würdige sich selbst herab. Der Leser war für eine Segregation in Fußballklubs: Zwar seien »wir Weißen nicht besser […] als einige Schwarze«, es habe aber »immer eine gewisse Distinktion zwischen Schwarzen und Weißen« gegeben. Tatsächlich knüpften lokale Elitevereine hohe Anforderungen an die Aufnahme von Mitgliedern. Der erste Lokalverband São Paulos LPF verbot die Teilnahme von »professionellen Spielern oder Spielern, die keine gute Erziehung oder einen rechtschaffenen Beruf haben, sowie solche von zweifelhafter Reputation.«78Obwohl schwammig, waren die von den Klubs verwendeten Termini und Kategorien der Exklusion im historischen Kontext relativ eindeutig gegen bestimmte Personengruppen gerichtet. Wie schon weiter oben dargestellt, drückte sich in der pejorativen Bezeichnung »vagabundo« (»Herumtreiber«) die seit dem 19. Jahrhundert bei brasiliani- schen Eliten verbreitete ideologia da vadiagem aus.79Deshalb, und bestärkt durch den Sozialdarwinismus und die kursierenden »Rassentheorien«, förderten die Paulistaner Eliten die europäische Immigration.80Die ange- führten negativen Eigenschaften dienten als Erklärung für die Rückstän- digkeit ganzer Regionen und Landstriche.81 Auch in Rio de Janeiro unterschieden Sportklubs zwischen »vornehmen« und »nicht-vornehmen« Personen. Entsprechend führten die ersten Fuß- ballklubs in ihren Klauseln einen Absatz ein, die Mitglieder sollten einer 77 Vgl. »Os Players de Cor na A.P. de Sports Athleticos«, A Gazeta , 21.3.1918. 78 »Liga Paulista de Football«, 26.5.1915, Sociedade Civil nº 452, APESP. 79 Vgl. A NDREWS , Black and White Workers, S. 495; Vgl. auch: S KIDMORE , Black into White , S. 64. 80 Vgl. ebd. 81 Vgl. A NDREWS , Black and White Workers, S. 495; B ORGES , »Puffy, Ugly, Slothful and Inert«; GREENFIELD, Gerald Michael, The Great Drought and Elite Discourse in Imperial Brazil, in: HAHR 27, 1992, Nr. 3, S. 375-400. 144 144 »Rasse« nicht-manuellen Arbeit nachgehen.82Die »rassische« Ausgrenzung erfolgte also nicht ausdrücklich, sondern indem die Klubs bestimmte Tätigkeiten und Verhaltensweisen mit »Rasse« verbanden. Einzig der lokale Verband Liga Metropolitana in Rio de Janeiro schloss im Jahr 1907 ausdrücklich Afro-Brasilianer über die Statuten aus, zumindest von den Spielen in der ersten Liga.83Die These, es habe einen weniger starken Rassismus im frühen Fußball in São Paulo gegeben, ist vermutlich deshalb entstanden, weil es in Rio de Janeiro im Gegensatz zu São Paulo von 1907 bis 1915 eine explizite Exklusion von Afro-Brasilianern aus einem Verband gab, während sie in São Paulo indirekt über soziale Ausgrenzung erfolgte.84 Der genannte Brief löste eine hitzige Debatte aus, in der sich Fußballan- hänger der Spiele der 2. Liga, Luiz Pannain und die Zeitungsredaktion äußerten. Die Leser waren verunsichert, ob die Statuten die Aufnahme afro-brasilianischer Spieler verboten. Einer der Leser war dieser Meinung, fragte jedoch auch: »Hat ein brasilianischer schwarzer Brasilianer, Sohn von Brasilianern, nicht das Recht zu wählen, ein öffentliches Amt auszu- üben, Senator etc. zu sein? Ich glaube schon.«85Folglich dürfe ein über staatsbürgerliche Rechte definierter Brasilianer auch an offiziellen Fußball- spielen teilnehmen. Afro-Brasilianer hätten dazu sogar mehr Recht als nicht-brasilianische Fußballspieler, denn [w]enn an offiziellen Spielen ausländische Spieler teilnehmen können, ohne auch nur naturalisiert zu sein, dann, glaube ich, hat ein Brasilianer (auch wenn er schwarz ist, von schwarzer Farbe, aber weiß in seinen Handlungen) mehr Recht dazu. [...] In Uruguay, wo, es ist unvermeidlich dies zu bekennen, der Sport entwickelter ist als in unseren Breiten, ist 82 Vgl. P EREIRA , Footballmania , S. 62 f. (für den Klub Botafogo) und 66 (für den Lokalverband Liga Metropolitana ). Um diese Klauseln zu umgehen, gründeten Arbeiter eigene Klubs in den Vororten: Vgl. hierzu ebd. und Kapitel 1.3 und 1.5 der vorliegen- den Arbeit. 83 P EREIRA , Footballmania , S. 66. 84 Vgl. ebd., S. 66-115. 85 »Os players de côr nos jogos da A.P.S. A. - Considerações sensatas de um leitor da ›Gazeta‹«, A Gazeta , 23.3.1918. Es ist im Übrigen bemerkenswert, dass bis in die 1920er-Jahre hinein anscheinend, so legen es Auswertungen des Historikers Jerry Dávila nahe, aus ärmeren Verhältnissen stammende Afro-Brasilianer zum Beispiel als Lehrer an Primarschulen sehr stark präsent waren, während ihre Präsenz im Zuge einer sozialpolitisch gedachten Eugenik in den 1940er stark abnahm: Vgl. DÁVILA, Diploma de brancura , S. 149-162. 145 »Rasse« 145 die Aufnahme schwarzer Spieler erlaubt. Als Beispiel dient uns der her- vorragende Gradín (el negrito), der unserem Publikum wohlbekannt ist.86 Der Leser nahm eine Abstufung vor zwischen Afro-Brasilianern und Immigranten oder importierten Spielern aus Argentinien und Uruguay, die dank eines internationalen Transfersystems zu der Zeit schon in Paulistaner Vereinen vertreten waren. Als Vorbild diente das als fortschrittlich bewer- tete Uruguay, wo afro-uruguayische Spieler in der Nationalmannschaft spielten. Die Aufnahme afro-brasilianischer Spieler, so der Leser weiter, bedeute einen Vorteil für die Mannschaften, es gäbe in Brasilien einige »Romanos und Orlandos«, womit er sich auf zwei weitere erfolgreiche afro-uruguayische Spieler bezog, die die bestehenden Teams verstärken könnten. Isabelino Gradín, Ángel Romano und Orlando spielten beim Campeonato Sul-Americano 1917 in der uruguayischen Nationalmann- schaft und waren auch in Rio de Janeiro und São Paulo durch die Fußball- internationalisierung in Südamerika bekannt geworden.87Die an ihrem Beispiel geführte anti-rassistische Argumentation dieses Lesers, seine Befürwortung einer Inklusion afro-brasilianischer Spieler in lokale Mann- schaften macht deutlich: Lokale Fußballenthusiasten begriffen den Fußball als eine Möglichkeit, Anti-Rassismus transnational zu diskutieren. Die Bezüge auf Uruguay als ein Land, in dem keine »rassischen« Vorurteile bestünden – ob das nun der Wahrheit entsprach oder nicht – dienten dem Leser dazu, lokalen Rassismus zu benennen und anzugreifen.88Sportjour- nalisten bezogen sich, wie der Leser hier, auf Uruguay immer als Land, das in sportlicher Entwicklung der »zivilisierten Welt« zugehörte – ein Status, den Brasilien noch erreichen wollte. Der Leser verband die beiden Diskurse »Zivilisiertheit« und Abwesen- heit von preconceito de côr (wörtlich: »Farbvorurteil«) und definierte Anti- Rassismus als eine Eigenschaft sportlich »zivilisierter Länder«. Er nahm nicht wahr, dass in Uruguay die Inklusion afro-uruguayischer Spieler nicht gleichbedeutend war mit Abwesenheit rassistischer Diskriminierung. Arti- kel aus uruguayischen Zeitungen belegen das Gegenteil: Journalisten schrieben Spielern, wie Isabelino Gradín und José Leandro Andrade, spezifische Eigenschaften zu und trugen damit zu einer »rassischen« Kon- 86 »Os players de côr nos jogos da A.P.S. A. - Considerações sensatas de um leitor da ›Gazeta‹«, A Gazeta , 23.3.1918. 87 Vgl. P EREIRA , Footballmania , S. 174. 88 Zu Rassismus gegen Afro-Uruguayer in Uruguay: Vgl. A NDREWS , George Reid, Blackness in the White Nation: A History of Afro-Uruguay , Chapel Hill, 2010. 146 146 »Rasse« struktion des »schwarzen Athleten« im Sinne Carringtons bei.89Auch die brasilianischen Zeitungen waren teilweise sehr eindeutig in der Zuschrei- bung von Eigenschaften, die »rassisch« determiniert seien, an afro- uruguayische Spieler und übernahmen die pejorativen Bezeichnungen aus der uruguayischen Presse, wie zum Beispiel »el negrito« [»Das Negerlein«] für Gradín oder »a maravilha negra« [»das schwarze Wunder«] für Andrade.90 Ein weiterer Leser mit dem Namen Faria ordnete den Fußball und die Kategorie »Rasse« in einen Weltkontext ein. Unabhängig vom Inhalt der Statuten hätten »Schwarze« als Brasilianer das Recht, an einem Fußball- turnier teilzunehmen, wie dies in der ganzen Welt der Fall sei.91Fußball, der als global verbreiteter Sport empfunden wurde, bot scheinbar eine Möglichkeit zu vergleichen, wie in anderen Ländern mit »rassischer« Differenz umgegangen wurde. Hier drückt sich ein Empfinden für Globa- lität aus, das die Sportpresse durch ihre Vergleichsmöglichkeiten förderte. Zugleich drückten die Leser aber auch aus, dass sie ethnische Differenz, Multiethnizität und Fragen nach »rassischer« Identität im Verhältnis zu nationaler Identität als spezifisch brasilianisches Problem wahrnahmen.92 Die Inklusion von Afro-Brasilianern in Fußballklubs der Elite geschah zu einem Zeitpunkt, als der bereits ausgeführte Diskurswandel in der Frage 89 Vgl. etwa »Las Langostas de Gradín y los sillones de los consejeros«, El Gráfico Nr. 498, 19.1.1929. 90 Vgl. »Campeões Uruguayos«, Vida Sportiva , Anno II, Nr. 62, 2.11.1918; »Gradín«, Vida Sportiva , 16.8.1919, Nr 103; Vida Sportiva , Nr. 105, 30.8.1919, »Uma torcida negra«, O Imparcial , S. 3, 7.5.1919; »Manteiga estrangeira«, SSOI , Nr. 10, 7.5.1921. 91 Vgl. »Ainda sobre a questão que está sendo debatida nesta folha, por alguns dos nossos leitores, relativamente à inclusão de players de côr em clubs que concorreram às vagas abertas na 2ª. divisão da A. P. de S.A., recebemos as seguintes cartas, pró e contra:«, A Gazeta , 1.4.1918. 92 Natürlich betraf die Frage nach Inklusion und Multiethnizität im Fußball nicht Brasilien alleine. Vor allem in Ländern mit einem »bi-rassischen« Gesellschaftssystem, wie Südafrika und USA, spielte Sport für die Materialisierung von »Rasse«-Kategorien eine große Rolle und die Frage nach Inklusion des »schwarzen« Bevölkerungsteils wurde dort immer wieder aufgeworfen, weil »schwarze« Athleten besonders erfolgreich waren bzw. als solche konstruiert wurden. In anderen außereuropäischen Regionen hatte Sport eine hohe Bedeutung im Kontext kolonialer Herrschaft und Machtstrukturen. Die Machthaber nutzten Sport zur Verbreitung kolonialer Werte und Ordnung, Sport wurde aber auch bedeutend für anti-kolonialen Widerstand und subalterne Formen des Aus- drucks: Vgl. für Afrika: ALEGI, Peter, African Soccerscapes: How a Continent Changed the World's Game , London 2010; DOMINGOS, Nuno, Football and Colonialism, Domi- nation and Approbiation: The Mozambican Case, in: Soccer & Society 8, 2007, Nr. 4, S. 478-494. Vgl. auch: CARRINGTON, Race, Sport and Politics . 147 »Rasse« 147 der »Rassenbeziehungen« bei brasilianischen und lateinamerikanischen Eliten insgesamt stattfand. Auch wenn die 1920er-Jahre noch sehr stark von der Idee des embranquecimento und der eugenischen Beseitigung gewisser, einer »Rasse« zugeschriebenen Eigenschaften bestimmt waren, bestätigen internationale Erfolge schon in dieser Zeit eine Stilbildung, die sich auf eine »Rassenmischung« zurückführen ließ.93Es ist anzunehmen, dass diese vermeintlich determinierten Eigenschaften gar nicht verloren gehen sollten. Denn je erfolgreicher Brasilien dank afro-brasilianischer Sportler im internationalen Sport war, um so mehr hoben Eliten auf Eigen- schaften ab, die vermeintlich »rassisch« determiniert waren, wie eine be- sondere »Beweglichkeit« und »Animalität« afro-lateinamerikanischer Männer.94 Die meisten Leser der Auseinandersetzung allerdings erwarteten ein embranquecimento als Zugangsvoraussetzung zum Fußball: Sportlichkeit definierten sie als »weißes« Handeln. Über die Aneignung dieses »weißen« Habitus war eine Zugehörigkeit zu einer Sportgemeinschaft möglich, die ihre Mitglieder nicht mehr nach »rassischen«, sondern nach sozialen Kategorien auswählte. Auch der Redakteur der Zeitung A Gazeta befand, im Sport »darf es keine Vorurteile gegen die Hautfarbe, noch die Rasse oder die sozialen Verhältnisse« geben.95Von den Spielern zu erwarten seien allerdings »gute Erziehung, Anstand, Respekt gegenüber der Autori- tät, gegenüber allen letztlich.«96Auch in dieser Äußerung war angelegt, dass zum Sport nur Personen mit zuvor als »weiß« und elitär definierten Eigenschaften Zugang hätten. Dies bestätigte expliziter der Leser Archimedes Pereira dos Santos: Er argumentierte, »weiße« Spieler würden nicht »schwarz«, wenn sie mit »schwarzen« Spielern zusammen spielten. Die Spieler, auf die sich die anderen Briefe bezögen, seien wohlerzogen und Angehörige der »hohen Gesellschaft«, zu der er selbst gehöre, schätzten sie: »Ihr einziger Mangel ist, dass sie schwarz sind.« Auch er definierte »schwarz« als eine veränder- liche Kategorie, die Hautfarbe als ein Kontinuum. Auch dos Santos sah einen Zusammenhang zwischen sozialem Status und Hautfarbe. So habe es in der nicht mehr existierenden Eliteliga LPF durchaus »schwarze Spieler« gegeben, doch habe sich niemand beschwert, da sie reich waren. 93 Zum embranquecimento : Vgl. S KIDMORE , Black into White , S. 64-69. 94 Siehe Kapitel 4.1.2 und 4.2.1. 95 »Os players de côr«, A Gazeta , 25.3.1918. 96 Ebd. 148 148 »Rasse« Der Leser Faria hingegen, der weiter oben definierten Gruppe von Anti- Rassisten zuzurechnen, entlarvte genau diese Art des Rassismus im Pau- listaner Fußball. Er konstatierte, es gäbe eine Verbindung von Reichtum und Aufstiegsmöglichkeiten. Die Diskriminierung von Afro-Brasilianern beruhe auf sozialen Kategorien. Er führte dies auf eine lokale gesellschaft- liche Situation zurück – in São Paulo regierten Luxus und Eitelkeit. Die afro-brasilianischen Spieler hingegen seien »armes Arbeitervolk« und die Elite grenze sie sozial aus.97Anders sei dies in Rio de Janeiro, wo es in dem Lokalverband Liga Metropolitana Spieler gebe, die so akzeptiert würden, »als seien sie Söhne reicher Familien und weißer Hautfarbe […]«. Insgesamt hob Faria hervor, die Teilnahme in São Paulo hänge von Reich- tum und sozialem Status und weniger von der Hautfarbe ab. Deutlich wird an den Äußerungen auch erneut, wie sehr Sport als Disziplinierungs- und Moralisierungsinstrument gesehen wurde gegenüber Personen, denen brasilianische Eliten im Sinne der ideologia da vadiagem Undiszipliniertheit und Verantwortungslosigkeit zuschrieben. Einen ähnlichen in diesen Diskurs einzuordnenden Fall von Rassismus kommentierte die Sportpresse in Rio de Janeiro und São Paulo im Novem- ber 1918. Angeblich hatte für ein interregionales Spiel in der 2. Liga ein Klub aus Campinas in São Paulo einige afro-brasilianische Spieler nicht aufgestellt, »weil diese nicht mit ›heller Haut‹ geboren wurden«, wie die Zeitschrift Vida Sportiva auseinandersetzte. Der Autor Fradique Mendes zitierte die Kritik des Paulistaner Estadinho und kommentierte: Diese Sache, die Mannschaft nicht ›färben‹ zu wollen, ist ein banales Vorurteil. Wie bei der Auswahl, die die Liga Metropolitana repräsen- tierte, in der der Kapitän Monteiro, ohne Zweifel der beste Mann des Carioca-Teams, nicht gerade von der Farbe des Tagesanbruchs ist, was ihn nicht daran hindert, ein überaus vornehmer Junge zu sein, der jeden Respekt verdient, so dass man ihn sogar zum Kapitän des Teams seiner Stadt ernannte. Ohne mal von den anderen Mitgliedern des Carioca- Teams zu sprechen. Wir stimmen völlig mit dem Estadinho überein, denn, vorausgesetzt das ›dunkle‹ Mitglied hat die notwendige sportliche Erziehung, so kann man ihm in einem demokratischen Land wie dem unseren nicht das Recht absprechen, die Einheit zu repräsentieren, der er 97 »Ainda sobre a questão que está sendo debatida nesta folha, por alguns dos nosso leitores, relativamente à inclusão de players de côr em clubs que concorreram às vagas abertas na 2ª. divisão da A.P. de S.A., recebemos as seguintes cartas, pró e contra:«, A Gazeta , 1.4.1918. 149 »Rasse« 149 angehört. Die Männer erkennen sich nicht auf Grund der Farbe an, son- dern auf Grund der Verhaltensweise.98 Auch hier wird deutlich, dass ein spezifischer Rassismus wirkte, der sich in der eigenen Wahrnehmung weniger auf die Hautfarbe bezog – entspre- chend war auch immer von preconceito de côr die Rede – als auf charakterliche Eigenschaften und sozialen Status. Darüberhinaus macht auch diese Quelle deutlich, wie sehr Fußballvereinen selbst die Funktion zugesprochen wurde, diese Eigenschaften zu unterrichten und somit sozia- len Aufstieg zu ermöglichen. Die Autoren setzten Fußballvereine mit allen anderen gesellschaftlichen und öffentlichen Institutionen gleich. Diese Ansicht vertrat auch Luiz Pannain als Ehrenvorsitzender des Ar- gentino: Die Statuten der APEA schlössen ihm zufolge afro-brasilianische Spieler nicht per se aus, sondern professionelle Spieler oder solche Spieler, die »keine gute Erziehung und keinen ehrlichen Beruf« hätten.99Später äußerte er erneut, »Rasse« dürfe keine Bedeutung im Sport haben, ebenso wenig Nationalität, Armut und Reichtum.100Aus diesem Grunde führe der Verband Untersuchungen durch und nähme schon eine Vorauswahl nach den oben genannten Kriterien vor. Es gebe demnach keinen Grund, diese Spieler nicht in die 2. Liga aufzunehmen. Um seine Argumentation zu stützen, führte er den Fall des italienischen Einwandererklubs Palestra Itália an, dem er selbst angehörte.101Auch gegen ihn hätten vor seiner Auf- nahme in den Lokalverband Vorurteile bestanden und er sei nun einer der erfolgreichsten Vereine in der Liga. Tatsächlich bestanden auf Seiten der Elitevereine anfangs Vorurteile ge- gen den Einwandererklub. Dass der Verband ihn trotzdem gerne aufnahm, lag, so argumentiert der Historiker Gregg Bocketti, an der starken »Euro- philie« der Paulistaner Elite in der Ersten Republik und vermutlich auch an dem eher elitären Profil des Vereins, der aus Angehörigen der italienischen Mittelschicht und Unternehmern bestand.102Auch für Pannain mag die soziale Herkunft von Spielern ausschlaggebend gewesen sein. 98 Mendes, Fradique, »Campinas não ›colorio‹ seu scratch e ... perdeu para o de São Paulo«, Vida Sportiva , 30.11.1918. 99 »Os players de côr«, A Gazeta , 25.3.1918. 100 Vgl. »Football. Os players de côr«, A Gazeta , 2.4.1918. 101 »Os players de côr«, A Gazeta , 25.3.1918. Im August 1914 gründeten italienische Immigranten und Söhne italienischer Einwanderer den Sportverein Palestra Itália, ein Jahr später wurde er in den Lokalverband aufgenommen, Vgl. »Palestra Italia: Socie- dade Palestra Italia«, 15.12.1914, Sociedade Civil nº 440 A, APESP. 102 B OCKETTI , Italian Immigrants, S. 282 f. Siehe auch A RAÚJO , Imigração e futebol , S. 131-143; LEITELOPES, Classe, etnicidade e cor, S. 141 f. Bocketti meint, der 150 150 »Rasse« Ebenso bezog sich Pannain positiv auf Argentinien, Uruguay und Rio de Janeiro, wo es üblich sei, afro-lateinamerikanische Spieler in der ersten Liga spielen zu lassen. Im Vergleich zwischen Rio de Janeiro und São Paulo kam er zu dem Schluss, Rassismus im Fußball spiele in Rio de Janeiro eine geringere Rolle. Wie er, nahmen mehrere Leser die Debatte zum Anlass, auch innerhalb Brasiliens Vergleiche anzustellen – hier zwischen Rio de Janeiro und São Paulo. Einer bemerkte, selbst in Rio habe die Eliteliga einen Spieler nicht aufgenommen, der zwar kein »Hemetério Lopes«103gewesen sei, der aber »weit davon entfernt [war] mit einem rei- nen Sohn des edlen Albion verwechselt zu werden.«104 Bis hierher widerlegt der Verlauf der Leserbriefdebatte die Annahme, in São Paulo habe rassistische Exklusion von Afro-Brasilianern eine geringere Rolle gespielt als ethnische Exklusion von Immigranten.105Sie zeigt ein differenzierteres Bild: Selbst im futebol de várzea waren rassistische Vorurteile weit verbreitet. Elitenangehörige, aber auch Fußballenthusiasten, die vermutlich nicht zur lokalen Oberschicht gehörten, sahen Fußballver- eine als eine gesellschaftliche Institution, in der ein embranquecimento stattfinden könne.106Möglicherweise sahen auch Afro-Brasilianer Fußball als einen »Assimilationspfad« an, der sozialen Aufstieg brächte.107Damit hätten Fußballvereine eine ähnliche Funktion eingenommen wie andere afro-brasilianische Vereine und afro-brasilianische Medien dieser Zeit. Kim Butler sieht die zu dieser Zeit in São Paulo entstandenen Klubs und Zeitungen als Ort, an denen Afro-Brasilianer »etablierte soziokulturelle Standards« erlernten und sich aneigneten.108Auf das Verständnis der Ver- eine als »Assimilationspfad« verweisen auch Äußerungen afro-brasiliani- scher Spieler, wie zum Beispiel Manteigas , der weiter unten behandelt ebenfalls nach europäischem Vorbild gegründete Klub Corinthians habe eher aus Arbeitern aus den várzeas und Vororten São Paulos bestanden, die keine Europäer waren. 103 Es ist unklar, auf wen sich der Autor hier bezieht; vermutlich aber auf einen oder mehrere bekannte Afro-Brasilianer der Zeit der Ersten Republik, wie Hemetério dos Santos und Monteiro Lopes: Vgl. DANTAS, Carolina Vianna, Monteiro Lopes (1867- 1910), um »líder da raça negra« na capital da república, in: Afro-Ásia , 2010, Nr. 41, S. 167-209, hier 173, Fußnote 23. 104 »Football. Os players de côr«, A Gazeta , 26.3.1918. 105 Vgl. L EITE L OPES , Classe, etnicidade e cor. 106 Vgl. B UTLER , Freedoms Given , S. 82 f. Siehe zu afro-brasilianischen Klubgrün- dungen auch: ANDREWS, George Reid, Afro-Latin-America 1800-2000 , Oxford 2004, S. 126. 107 B UTLER , Freedoms Given , S. 96 . 108 Ebd. 151 »Rasse« 151 wird, oder auch Beispiele von afro-brasilianischen Klubgründungen in anderen Städten aus dieser Zeit, so in Porto Alegre.109 Wie stark Rassismus im lokalen Fußball São Paulos in der zweiten und auch ersten Liga verbreitet war, zeigt auch ein Brief des Lesers Jaques Cordovil. Er meinte, die Statuten schlössen keine Spieler aus, allerdings verursache »die Aufnahme dieser Spieler einen schlechten Eindruck in den wenigen Familien, die unsere Plätze frequentieren.«110Fans beleidigten afro-brasilianische Spieler wegen ihrer Hautfarbe mit Bezeichnungen wie »tisiu, macaco, tição«. »Macaco« (Affe), »tição« (Asche) und »tiziu« (Kohle) waren verbreitete pejorative Bezeichnungen afro-brasilianischer Menschen, die den changierenden Farbwahrnehmungen und Aushand- lungen von »Rasse«-Kategorien in Brasilien entsprachen.111 Der Leser Cordovil befürchtete, die Präsenz afro-brasilianischer Spieler könnte schlimmstenfalls Gewalt auslösen und zu einer Konfrontation zwi- schen »schwarzen« und »weißen« Fans führen, auch wenn die Spieler »vornehm« (»distinctos«) seien: »Und die schwarzen Fans? Diese, die selbstverständlich beleidigt sein werden angesichts der ›Freundlichkeiten‹, die man ihresgleichen an den Kopf wirft, werden Anlass geben, dass die Polizei aus ihrer gewohnten Starre ausbricht.«112Schon beim letzten Spiel zwischen Rio de Janeiro und São Paulo hätte das lokale Publikum in São Paulo die »schwarzen« Spieler der gegnerischen Mannschaft beschimpft, da diese aber glücklicherweise eine Niederlage erlitt, sei die Situation nicht eskaliert.113Cordovils Brief weist für die Zeit typische Argumentations- muster auf, wenn er den Afro-Brasilianern selbst die Schuld an ihrer Aus- grenzung und Diskriminierung gibt. Dieses Muster findet sich auch bei 109 Der Kulturgeograf Gilmar Mascarenhas schrieb diese Funktion den Fußballklubs in der in den 1920er-Jahren sehr stark »rassisch« segregierten Stadt Porto Alegre zu. Dort hätten sich aufstiegswillige »Mulatten«, die beruflich in Kontakt mit »Weißen« standen, in den von ihnen gegründeten Klubs einem embranquecimento unterworfen: Vgl. MASCARENHAS, O futebol da »canela preta«, S. 154. 110 »Os Players de Cor – Ainda a proposito dos players de côr que jogam nos clubs que concorrem aos logares creados na 2ª. Divisao da A. P. S.A. Recebemos a seguinte carta«, A Gazeta , 23.3.1918. 111 In der elitären Sportberichterstattung finden sich immer wieder ähnliche Bezeich- nungen, so beschimpfte zum Beispiel in einer Erzählung in der Zeitschrift Vida Sportiva die Menge eine afro-brasilianische Fußballanhängerin als »Macacão« (»Riesenaffe«), aus anderen Berichten ging hervor, wie Fans den Spielern der gegnerischen Mannschaft zuriefen: »Spiel doch mit den Schwarzen«: Vgl. »Futibó«, Vida Sportiva , Nr. 57, 21.9.1918, S. 1; »Público«, SSOI , 13.8.1921. 112 »Os players de cor«, A Gazeta , 23.3.1918. 113 Vgl. ebd. 152 152 »Rasse« afro-brasilianischen Eliten selbst, die sich ab 1915 in eigenen Zeitungen artikulierten, wie Kim Butler belegt. Darin gaben sie ihr zufolge sich selbst die Schuld an ihrer Ausgrenzung und individualisierten auf diese Weise das Problem. Als Lösung sollten sie »weiße« kulturelle Eigenschaften erlernen und versuchen, sozial aufzusteigen. Lange Zeit habe dieses Denken der Formierung einer afro-brasilianischen emanzipatorischen Bewegung entge- gengestanden.114 Neben den moralisierenden Appellen fanden sich in der Leserbriefde- batte auch Beispiele für eine Materialisierung von »Rasse« über den Fuß- ball. Eine Leserin schickte eine Zuschrift, in der sie ebenfalls den afro- brasilianischen Spielern selbst die Schuld an ihrer Ausgrenzung zuwies. Anstatt sich angegriffen zu fühlen, sollten die Spieler »de côr« bestimmte Verhaltensweisen vermeiden und »versuchen zu beweisen, dass sie die Fähigkeit besitzen, moralisch und sozial mit den erhabenen Veteranen der Paulicéa [verbreitete Bezeichnung für São Paulo, d. Verf.] mitzuhalten.«115 Von größerer Bedeutung sei aber, dass die Spieler »de côr« insgesamt »stärker und agiler« seien. »Weiße« Spieler fürchteten den Verlust ihres, in den Augen der Leserin, wohlverdienten Prestiges durch Niederlagen gegen die körperlich überlegenen »Schwarzen«. Die Leserin drückte hier determi- nistische Annahmen über eine besondere körperliche Verfassung »schwar- zer« Spieler aus, die einmal mehr illustrieren, dass es weit mehr als aus- schließlich sozio-ökonomisch begründete Vorurteile waren, die afro- brasilianischen Spielern im frühen brasilianischen Fußball begegneten. Ähnlich rassistisch sprach sich der Leser Amoroso Berga gegen die Auf- nahme afro-brasilianischer Spieler in die APEA aus. Er berief sich auf seine Erfahrungen während Spielen zwischen den Zweitligisten União Brasil und União Lapa und zwischen Argentino und dem italienischen Immigrantenklub Pró-Vercelli . Er habe dort Fußballanhänger »de côr« (»farbig«) gewalttätig und »bis unter die Zähne bewaffnet« erlebt. Die Polizei habe eingreifen müssen und die Spiele frühzeitig beendet. »Schwarze« fügten den Spielen Schaden zu, umso mehr da Frauen fern- blieben, die ansonsten immer zum »Glanz« der Sportfeste beigetragen hätten. Er habe kein Verständnis dafür, wie Pannain so emphatisch den Klub Argentino verteidigen könne, denn sein Zutritt zur zweiten Liga be- deute, dass auch »Nachkommen von Afrikanern oder gar afrikanische 114 B UTLER , Freedoms Given , S. 94. Vgl. auch A NDREWS , Negros e brancos , S. 203-218. 115 »Football. Os players de côr«, A Gazeta , 5.5.1918. 153 »Rasse« 153 Staatsbürger« in der ersten Liga spielen könnten.116Berga unterschied »Schwarze« von »Weißen« also auch über ihre Herkunft, sie waren nicht selbstverständlich brasilianischer Staatsangehörigkeit. Der Leser Brenno Brasiliense war in diesem Punkt ganz anderer Mei- nung: Er setzte in seinem Beitrag »Rasse« und »brasilidade« zueinander in Beziehung. Brasiliense, der sich schon öfter beschwert hatte, war empört über den Verlauf der Debatte: »[E]s müssen mit mir alle echten Brasilianer der Meinung sein«, dass es keinen Grund gebe, die »schwarze Rasse« herabzuwürdigen. Sie seien »schwarze Brasilianer«, alle gehörten zu einer Nation.117Er betonte ihren Beitrag in der Geschichte Brasiliens, die Nation gründe ihre Stärke unter anderem auf Heroen und »wahre Sterne, die von der schwarzen Rasse abstammen.«118Gleichzeitig argumentierte Brasiliense binär, indem er zwischen »uns«, den »Weißen«, und einer »demütigen Rasse« unterschied: »Lasst uns die wahren Brasilianer vereinen, mein lieber Redakteur, geben wir der unterworfenen Rasse einen starken Arm, die dieselben Rechte genießen wollen und sollen wie wir, rufen wir sie auf, damit sie mit uns auf den Sportplätzen ihre Muskeln trainieren und ihren Charakter veredeln […].«119Brasiliense sah die Möglichkeit, dass Afro- Brasilianer über den Sport ihrem historischen Erbe der Unterwerfung ent- kommen und später das Vaterland durch sportliche Leistung ehren könnten wie ein »Weißer«. Auch Pannain drückte seine nationalistische Auffassung von Sport und vor allem seinen Glauben an Sport als ein Mittel zur eugenischen Verbesse- rung der Bevölkerung Brasiliens aus. Sport sei eine unumstößliche Notwendigkeit, die das Land ohne Unterscheidung der Rasse beansprucht. Und der Fortschritt der Völker kann nicht er- reicht und nicht einmal vorgestellt werden ohne die Unterstützung der Kraft, die den Jungen in den Übungen ihrer Leibeserziehung militärische Disziplin gibt, denn genau von der Liebe und Brüderlichkeit dieser in 116 »Ainda sobre a questão que está sendo debatida nesta folha, por alguns dos nossos leitores, relativamente à inclusão de players de côr em clubs que concorreram às vagas abertas na 2ª. divisão da A. P. de S.A., recebemos as seguintes cartas, pró e contra:«, A Gazeta , 1.4.1918. 117 »Football. Os players de côr«, A Gazeta , 26.3.1918. Zwischen Cordovil und Brasiliense entstand ein regelrechter Streit, vermutlich kannten sich beide. In den Brie- fen meinte Cordovil Brasiliense als Elitevertreter zu entlarven, der vermutlich selbst »schwarze« Hausangestellte beschäftige, die ihn mit »›schwarzen‹ Ideen« beeinflusst haben könnten. 118 Ebd. 119 Ebd. 154 154 »Rasse« den Sportvereinen Eingeweihten hängt die Vergrößerung unserer Heimat ab.120 Pannain betrachtete Hautfarbe als sozial und charakterlich determiniert und damit veränderbar. Eine »Aufhellung« sei gezielt durch sportlichen Habitus herbeizuführen, durch die, wie er später in seinem Brief ausführte, Soziali- sierung in Sportvereinen. Sport könne zu einer Herausbildung eines homo- genen brasilianischen »Volkes«, ja einer »Rasse« führen. An dieser Stelle ist noch einmal darauf hinzuweisen, auf welche Weise der Erste Weltkrieg die Sichtweise der »Rassenfrage« bei brasilianischen Eliten wandelte, insbesondere der Kriegseintritt Brasiliens im Jahr 1917. Die Verbindung von Eugenik, Patriotismus und Wehrbereitschaft war kennzeichnend für eine Politik, die sich jetzt um generelle Mobilisierung und Ausbau und Stärkung des Militärs drehte.121Der Widerhall in den Sportzeitschriften war groß. Journalisten und Wissenschaftler priesen in Zeitschriften und Sportteilen der großen Tageszeitungen Sport als Mög- lichkeit der Regeneration und zugleich als Vorbereitung auf den Kriegs- dienst. Die elitäre, nationalpatriotische und frankophile Sportzeitschrift Vida Sportiva aus Rio de Janeiro zum Beispiel widmete eine ganze Serie der deutschen Vorbereitung des Ersten Weltkrieges durch Sport und veröf- fentlichte in den Kriegsjahren Hintergrundberichte zur sportlichen Vorbe- reitung der am Krieg teilnehmenden Nationen, vor allem aus England. Die Vida Sportiva forderte auch für Brasilien eine Mobilmachung durch flächendeckende Sportangebote und Wettbewerbe. Ihre Argumentation war von einem nationalpatriotischen Sprachgebrauch durchzogen.1221917 legten die Herausgeber der populären Zeitschrift A Cigarra eine eigene Sportzeit- schrift mit dem Titel A Cigarra Sportiva in São Paulo auf.123Die Redaktion 120 »Os players de côr«, A Gazeta , 2.4.1918. 121 Vgl. S KIDMORE , Black into White , S. 149-192; S TEPAN , » The Hour of Eugenics« , insbes. S. 73 ff. 122 Siehe die zahlreichen Übersetzungen von Berichten aus Frankreich über die sportliche Ausbildung der Bevölkerung in Europa: Daçay, Jean (übersetzt durch Azurita), »Das Olympiadas a Guerra. O musculo allemão e a anti-guerra. – O que aprendemos – Nosso dever futuro«, Nr. 27, 23.2.1918; und zum Beispiel die Serie über Fußball an der Front: Rozet, George (übersetzt durch Azurita T.A.), »O Foot-ball no front«, Vida Sportiva , Anno II, Nr. 28, 2.3.1918; Ders., »O Foot-ball no front«, Vida Sportiva , Anno II, Nr. 29, 9.3.1918; Vgl. auch die Serienveröffentlichung »Um allemão aos allemães« eines ehemaligen Redakteurs der Berliner Morgenpost, Dr. Hermann Rösemeier, der später nach Frankreich emigrierte und Pamphlete gegen den Krieg verfasste: »Um allemão aos allemães«, Vida Sportiva , 26.1.1918. 123 Vgl. M ARTINS , Revistas em revista , S. 347 f. 155 »Rasse« 155 stellte die Gründung der Zeitschrift in einen direkten Zusammenhang mit dem Kriegseintritt Brasiliens 1917, es sei der Moment für eine Zeitschrift, »deren Hauptmotiv es ist, die Leibeserziehung in allen Bereichen der menschlichen Aktivität zu bewerben, damit durch sie wagemutige und starke Generationen entstehen, die morgen die Nationswehr ausmachen müssen.«124Sie setzte sich für einen verpflichtenden Militärdienst ein, eine besondere Rolle, so die Redaktion, falle dem Sport als Vorbereitung der »Jungen unseres Hinterlandes« zu: »Die Leibeserziehung durch den Sport aller Arten ist die Präambel, die vorbereitende Wirkkraft der Kasernen- erziehung.« Hier setze die Zeitschrift an, es ginge darum, »starke Men- schen, von reichem Blut, mit Titanmuskeln« vorzubereiten.125 Die Katalysatorfunktion des Ersten Weltkrieges für die Popularisierung des Fußballs, die schon im ersten Kapitel dieser Arbeit thematisiert wurde, strahlte auch auf die Aushandlung »rassischer« Identität aus. In dem Zuge, in dem nun Eliten den Sport als Mittel zur Massenmobilisierung entdeck- ten, bezogen sie in ihre neue Vorstellung von Nation auch Afro-Brasilianer ein. Auf den Sportplätzen konnten Afro-Brasilianer, so suggerierten es die Artikel und auch die Leserbriefe, ihren Nutzen für die Nation sowohl erler- nen als auch unter Beweis stellen.126 Neben dem Ersten Weltkrieg gab es auch endogene Ursachen für die Aufwertung und Einbeziehung der Afro-Brasilianer in die Vorstellung von der brasilianischen Nation und in die Geschichtsschreibung. Der General- streik in São Paulo, in dem 1917 circa 50.000 Menschen ihre Arbeit nie- derlegten, führte zu einer »Entzauberung« europäischer Arbeitskraft und zu einer Hinwendung zu nationalen Arbeitskräften, also vor allem Afro- Brasilianern.127Zu einer Verbesserung ihrer Lage führte das nicht. Eine Solidarisierung der Arbeiter über Rassenschranken hinweg war unter ande- rem deshalb nicht möglich, weil Arbeitgeber Afro-Brasilianer, so Andrews, 124 »O Nosso Sucesso«, A Cigarra Sportiva , São Paulo, Nr. 2, 16.6.1917. 125 Ebd. 126 Die sich wandelnden Vorstellungen von »Rasse« im Verhältnis zu Nation bei brasilianischen Eliten werden auch in den Zensus deutlich, die die DGE ( Directoria Geral da Estatística ) zwischen 1890 und 1920 durchführte und in denen sie, so Mara Loveman, nach und nach in den Kategorisierungen die Vergangenheit der Sklaverei auslöschte und vor allem eine »aufgeweißte« Bevölkerung dokumentierte: LOVEMAN, Mara, The Race to Progress: Census Taking and Nation Making in Brazil, 1870-1920, in: HAHR 89, Aug. 2009, Nr. 3, S. 435-470. 127 Vgl. F AUSTO , Boris, Society and Politics, in: Leslie B ETHELL (Hg.), Brazil: Empire and Republic, 1822-1930 (The Cambridge History of Latin America), Cambridge 1889, S. 257-307, hier 288 f.; ANDREWS, Black and White Workers, S. 499-502. 156 156 »Rasse« als Streikbrecher einsetzten. Diese waren auch bereit, für einen noch gerin- geren Lohn zu arbeiten als Immigranten.128 Zurück zur Leserbriefdebatte: Caio de Oliveira e Sousa, der letzte Leser, der sich in dieser Debatte äußerte, verdeutlicht die Bandbreite an Haltungen zur rassistischen Ausgrenzung im lokalen Fußball. Seine Aussagen machen noch einmal klar, dass Auseinandersetzungen um nationale Identität in Bezug zu »rassischer« Identität Ende der 1910er-Jahre nicht ausschließlich Diskurse von Intellektuellen, Schriftstellern und Politikern waren, sondern von einem breiteren Publikum geführt wurden. Die Gewichtung des Briefes von Sousa zeigt auch, auf welcher Seite die Redaktion der Zeitung stand. Insgesamt zweieinhalb Spalten der Sportsektion nahm der Brief ein. Sousa erinnerte an die Beerdigung des Gründers der Republikanischen Partei von São Paulo, Francisco Glycerio, und an die Stimmungsmache gegen ihn in der Presse auf Grund seiner Hautfarbe. Glycerio gehörte als Kaffeepflan- zer, Anwalt und Politiker zur Paulistaner Oberschicht und war einer der wenigen »schwarzen« Eliteangehörigen Brasiliens.129Auf die historische miscigenação verweisend, meinte Sousa, ein »geborener Brasilianer« sei »mit Sicherheit […] ein Mestize«.130Zur Schärfung seiner Argumentation, mit der er den Rassismus Cordovils und der anderen Leser angriff, zitierte er außerdem in voller Länge ein Gedicht des radikalen Abolitionisten Luis Gama, das die zeitgenössische brasilianische Suche nach dem »Wer bin ich?«, so der Titel des Gedichts (»Quem sou eu? «), angesichts der vorherrschenden Multiethnizität zum Thema machte und zu dem Schluss fand, alle seien gleich.131 Insgesamt thematisierte die Presse seit 1915 im Zusammenhang mit der Popularisierung des Fußballs auch die neue »rassische« Zusammensetzung der Fußballklubs und charakterisierte sie als einen Prozess der »Nationali- sierung« und »Kreolisierung« des Fußballs.132Das spiegeln etliche Karikaturen wider, in denen Zeichner die Popularisierung zum Beispiel als Gegenüberstellung von »schwarzen« und »weißen« Spielern darstellten (Bild 6). 128 A NDREWS , Black and White Workers, S. 499-502. 129 Vgl. L OVE , São Paulo , S. 106-115. 130 »Os players de côr«, A Gazeta , 4.4.1918. 131 Vgl. ebd. Zu Luis Gama: L OVE , São Paulo , S. 104; S KIDMORE , Black into White , S. 17. 132 »Kreolisierung« wird hier im Sinne Eduardo Archettis als »Aneignung bestimmter Handlungsweisen, die ursprünglich mit einer anders definierten sozialen Gruppe assozi- iert worden waren« verstanden: ARCHETTI, Eduardo P., Argentinien, in: EISENBERG (Hg.), Fußball, soccer, calcio , S. 149-170, hier 152 f. 157 »Rasse« 157 Bild 6: »Ein nationaler Sieg«: Die »Nationalisierung« des Fußballs in den Augen der Sportpresse: Die Karikatur illustriert die Popularisierung und »Kreolisierung« des Fußballs durch ein Spiel portugiesischer Immigranten gegen Afro-Brasilianer. Quelle: »Uma Victoria Nacional«, Anno I, Nr. 2, Sports , 14.8.1915.133 Um die »Nationalisierung« des Spiels auszudrücken, ließ der Karikaturist die Spieler die englischen Termini so aussprechen, wie des Englischen nicht Mächtige sie anscheinend verstanden: Der «ground« wurde zum «grunde«, der «referee« zum «rifiri« und der sportsman zum »ixportima«. Auch 1919, nach dem Sieg der brasilianischen Mannschaft bei dem Campeonato Sul-Americano in Rio de Janeiro, berichtete die Presse über den angeblich besonders ausgeprägten Patriotismus der afro-brasilianischen Bevölkerung. In dem Artikel »Der Patriotismus des Negers« (»O patrio- tismo do Negro«) im Jahr 1921 führte der Autor der Zeitung Supplemento Sportivo D’O Imparcial aus Rio de Janeiro das Beispiel überaus patrioti- 133 »(Auszug aus einer Beschreibung des Spiels, unter Beibehaltung der offiziellen englischen Termini der Gegend) – der rosige Manduca [wahrscheinlich bezogen auf Spieler des Klubs Bangú, die zu dieser Zeit in der Sportpresse oft als »mulatinhos rosados« bezeichnet wurden, d. Verf.], centri-fôe [Center-forward] bringt das realisierte Spiel mit einem verdammten krique [Kick] zur Entscheidung, auf dem wunderbaren grunde [ground] der Alliança-Straße. Der Sieg geht an die alvi-negros [weiß-scharzen] des ›Pombarrola F.C.‹ gegen die equipio [equipe] der Portugiesen, Söhne von Herrn Custodio, dem Metzger. Als rifiri [referee] diente der kompetente ixportima [sports- man] Prinz, der an der Ecke sehr respektiert wird. 158 158 »Rasse« scher Vororteinwohner an, um sie angeblich unpatriotischen Paulistanos gegenüberzustellen. Er berichtete, nach einem Fußballspiel dem Gespräch zweier Arbeiter in der Straßenbahn gelauscht zu haben, einer von beiden sei »schwarz« gewesen. In Erinnerung an sein Erlebnis des brasilianischen Sieges habe dieser ausgerufen: »Es gibt, mein Freund, es gibt kein schö- neres und stärkeres Land als Brasilien!«134Der Autor war positiv überrascht von den patriotischen Äußerungen des afro-brasilianischen Arbeiters, was zeigt, dass die Einbeziehung von Afro-Brasilianern noch nicht selbstver- ständlich schien, ihr aber eine die Nation einigende Kraft zugesprochen wurde. Ähnlich dachten 1927 die Organisatoren eines Fußballpokalwettbewerbs in Erinnerung an die Abolition, der den Namen »Taça Isabel« erhielt. Der Staat São Paulo führte den Wettbewerb zwischen einem »weißen« und einem »schwarzen« Team der lokalen Liga ein, dessen Einnahmen teil- weise an afro-brasilianische Vereine, wie die »Associação dos Homens de Côr« (»Vereinigung der farbigen Männer«), gehen sollten.135Die Einrich- tung des Pokals, so berichtete O Estado de São Paulo , sei mit »einstimmi- gem Applaus der öffentlichen Meinung« begrüßt worden.136Das Turnier richteten die Veranstalter aus Protest gegen aktuelle rassistische Exklusion in bestimmten Sportarten aus: Das Motiv für die Sympathie, die die heute in dieser Hauptstadt durch die Vorsitzenden der Liga eingeführte Erinnerung gefunden hat, liegt nicht so sehr im Gefühl der Brasilianer, die im Grunde Distinktionen von Familie und Hautfarbe feindlich gegenüber stehen und die sich stärker nach dem Grad individuellen Verdienstes richten. Vielmehr bietet sich hier eine Chance, den wenigen Sportlern eine indirekte, aber scharfe und treffende Antwort zu geben, die vor allem bei Wassersporttreffen ver- sucht haben, eine hassenswerte Exklusivität herzustellen: Sie versuchten Regeln aufzustellen, die die an den Rand drängen, die versuchen, in un- serem Staat Rudersport zu betreiben und nicht das Glück haben, eine tadellose kaukasische Pigmentation zu besitzen… 134 »O patriotismo do Negro. Aos ›players‹ paulistas«, SSOI , 23.7.1921. 135 Vgl. »Uma taça offerecida pelo presidente do Estado«, OESP , 11.5.1927; »Futebol. A commemoração da Lei Aurea«, OESP , 12.5.1927; »Liga de Amadores de Futebol«, OESP , 8.5.1927. Zur feierlichen Begehung des 13. Mai siehe auch: ANDREWS, Negros e brancos , S. 333 f. 136 »Futebol. A commemoração da Lei Aurea«, OESP , 12.5.1927. 159 »Rasse« 159 Weiter hieß es in der Ankündigung des Wettbewerbs, die Liga kenne Ras- sismus nicht, doch trotzdem habe der heutige Wettkampf [...] eine außerordentliche Bedeutung, denn wenn sich in irgendeiner anderen Aktivität das verhasste Vorurteil nicht recht- fertigen lässt, dann darf es umso weniger im Sport toleriert werden, wo das farbige Element mehr als genügend Energie bewiesen hat, sei es im Athletismus oder Fußball, wo ein höherer Koeffizient von Negern be- steht.137 Bezeichnend in der binären Aufteilung war, dass die Organisatoren den afro-brasilianischen Spieler Arthur Friedenreich für das »weiße« Team auf- stellten. In der »weißen« Mannschaft befanden sich ausschließlich Spieler der offiziellen Erstligaauswahl des Verbandes aus den Eliteklubs, im »schwarzen« Team Spieler aus der 2. Liga und Spieler aus dem Landes- inneren São Paulos.138Auch individualisierte der Kommentator von O Estado de S ã o Paulo die Ausgrenzung ganz ähnlich wie einige der oben zitierten Leser: »Weiße« Hautfarbe galt ihm immer noch als tadellos, als Ideal. Auch hier materialisierte sich erst in der Gegenüberstellung von zwei Teams die Kategorie »Rasse« und erst auf diese Weise konnten die Au- toren auf körperliche Unterschiede aufmerksam machen, die hier zum Bei- spiel das Stereotyp untermauerten, Afro-Brasilianer seien besonders starke Spieler, denn das »schwarze« Team gewann in dem Jahr. Rassistische Exklusion und das Verhältnis von Nationalität zu »Rasse« spielte nicht nur im lokalen Fußball eine bedeutende Rolle. Wichtig war die Frage nach der ethnischen Repräsentation Brasiliens nach außen für Politi- ker und Eliten, die glaubten, Sport sei ein Zeichen für Ordnung und Fort- schritt und das Ausmaß der Sportverbreitung und Sportlichkeit der Bevöl- kerung ein Symptom für den Grad der »Zivilisation« eines Landes. Dieser Diskurs gewann erst mit der Häufung internationaler Sportveranstaltungen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine größere Bedeutung. Nicht nur politische und intellektuelle Eliten, auch lokale Sportenthusi- asten waren mit den sozialreformerischen Ideen der sportlichen »Regene- ration« der raça brasileira schon früh vertraut. Sie forderten, dieses Pro- gramm in Verbänden und kleinen Klubs durchzusetzen. Vorherrschend war dieses Thema dann zum Beispiel 1920 beim Besuch des belgischen Königs in Brasilien, dem zu Ehren lokale Sportfunktionäre Spiele organisierten, 137 Ebd. 138 Vgl. »Futebol. A commemoração da Lei Aurea. Combinado branco vs. combinado de homens de côr«, OESP , 14.5.1927. 160 160 »Rasse« dann bei den Campeonatos Sul-Americanos und auch bei dem Besuch des Paulistaner Klubs C. A. Paulistano in Europa 1925, wie später noch gezeigt wird. Diese Versuche, ein »weißes« und »zivilisiertes« Brasilien zu zeigen, kollidierten mit der Außenwahrnehmung eines multiethnischen Brasiliens. 2.4. »H ELDEN « UND »B ÖSEWICHTE « 139 : A FRO - BRASILIANISCHE S PIELER UND DIE A USHANDLUNG » RASSISCHER « I DENTITÄT Einige der berühmtesten brasilianischen Fußballspieler, die in der 1930er- Jahren auch im internationalen Fußball Aufmerksamkeit erlangten, hatten in Klubs wie dem Argentino ihre Karriere begonnen, so auch der Afro- Brasilianer Fausto dos Santos. Erster Höhepunkt seiner Karriere war die Teilnahme an der Weltmeisterschaft 1930 in Uruguay. Leite Lopes be- schreibt ihn als einen Spieler, noch gefangen in der Umbruchzeit zwischen Amateurfußball und Profitum.140Er konnte vom Spielen nicht leben und war außerdem mit kontinuierlicher rassistischer Ausgrenzung konfron- tiert.141Fausto begann 1926 bei Bangú A.C., wechselte später zu Vasco da Gama und blieb 1932 nach einer Tour des Vereins in Europa in Spanien, um ein Jahr später in die Schweiz zu gehen. Nach seiner Rückkehr 1933 nach Brasilien fand er nicht zu seinem bisherigen Erfolg zurück und starb 1939 verarmt an Tuberkulose.142Seine Entscheidung, ins Ausland zu gehen, habe prinzipiell damit zusammengehangen, dort mit dem Fußball Geld zu verdienen.143 Ähnlich war das Schicksal des afro-brasilianischen Spielers Arthur Friedenreich, der durch seine herausragende Teilnahme an dem Campeona- to Sul-Americano (Südamerikanische Meisterschaften) 1919 auch inter- national auffiel. Auch er wechselte mehrere Male den Verein, spielte aber immer in Eliteklubs. Friedenreich gilt für den hier bearbeiteten Zeitraum in der Sekundärliteratur als die populärste Figur des frühen brasilianischen Fußballs. Er war Sohn eines deutschen Immigranten, der Ende des 19. 139 Diese Bezeichnungen sind angelehnt an die von Fabian Brändle und Christian Koller herausgearbeitete Konstruktion von »Helden« und »Schurken« im Fußball: BRÄNDLEu.a., Goal! , S. 122-125. 140 L EITE L OPES , A vitória do futebol, S. 73 f. 141 Zum Beispiel 1930, als das Gerücht auftauchte die CBD stelle Fausto auf Grund seiner Hautfarbe nicht auf: Vgl. »Questão de Côr…«, A Gazeta , 27.5.1930. 142 Vgl. L EITE L OPES , A vitória do futebol, S. 73 f. 143 Vgl. ebd. Unklar ist die, häufig nicht rekonstruierbare, Biografie anderer Spieler, wie zum Beispiel des Afro-Brasilianers Bisôca aus São Paulo, der ebenso Ende der 1920er-Jahre herausragend spielte. 161 »Rasse« 161 Jahrhunderts nach São Paulo kam, und einer afro-brasilianischen Wäsche- rin. 1909 begann er das Fußballspiel beim Clube Atlético Ypiranga, bei dem er, bis auf einen kurzen Wechsel zum Eliteklub Mackenzie College, bis 1917 blieb. Dann wechselte er zum C. A. Paulistano, wo er eine internationale Karriere begann.144 Insgesamt besprach die Sportpresse Friedenreichs Leistungen äußerst positiv. Er galt zu Lebzeiten als einer der besten Fußballspieler. Am Ende seiner Karriere, Friedenreich war 31 Jahre alt, veranstaltete die lokale Amateurliga São Paulos LAF ihm zu Ehren ein Fest und erwies ihm ihre Anerkennung durch das Überreichen einer »bedeutenden Erinnerung« - vermutlich eines Geldgeschenks.145 Sein Ruhm verblasste allerdings schnell. Es lässt sich ein Vergleich zu den afro-brasilianischen Spielern nach der Fußballweltmeisterschaft 1950 ziehen, die nach der überraschenden und für Brasiliens Fußballanhänger schmerzhaften Niederlage noch über Jahre für die erlittene Schmach verantwortlich gemacht wurden. Die Spieler von 1950 waren allerdings Profis, Friedenreich offiziell Amateur. Doch auch von ihm erwarteten Publikum und Presse immer Erfolge, nicht zuletzt wegen der steigenden wirtschaftlichen Bedeutung des Fußballs. Die Ansprüche an ihn hingen auch mit seinem Status zusammen: Es ist davon auszugehen, dass er einer der vielen Halb-Profis war, die von ihren Klubs über eine fingierte Anstel- lung alimentiert wurden. Überhaupt brachte die Sportpresse den Status des Halb-Profis eher mit afro-brasilianischen Spielern in Verbindung. Schon in seinem Erfolgsjahr 1919 wandte sich die Sportpresse gegen Friedenreich. Mehrere Zeitungen verdächtigten ihn des Profitums, weil er zusammen mit zwei weiteren Spielern Geldzahlungen von der CBD für die Reise zum Campeonato Sul-Americano nach Rio de Janeiro erhalten hatte. Eigentlich hätte das Campeonato Sul-Americano im Jahr 1918 stattfinden sollen, fiel aber auf Grund des Ausbruchs der Pandemie der »Spanischen Grippe« im gleichen Jahr aus und die Organisatoren verlegten das Turnier auf 1919. Das bereits ausgezahlte Geld, mit dem die Spieler die Kosten wegen des langen Arbeitsausfalls 1918 decken sollten, zahlten sie nicht an die CBD zurück.146 144 »No Campo do Palmeiras. O festival da Laf em homenagem a Friedenreich«, OESP , 8.5.1927. 145 Ebd. 146 »Ainda o Caso Paulista«, Vida Sportiva , Nr. 72, 11.1.1919; »Rio- São Paulo. A.P. de Sports Athleticos, com altivez, devolveu hontem o officio malcreado que lhe havia enviado a Federação Brasileira. A Associação dispensou os seus representantes no Rio - 162 162 »Rasse« Erneut kam der Profi-Verdacht im Jahr 1923 auf. Die CBD stellte Friedenreich wiederholt für das Nationalteam für das Campeonato Sul- Americano in Rio de Janeiro auf. Weil eine dreimonatige Abwesenheit der Nationalspieler aus São Paulo notwendig war, zahlte die CBD eine Auf- wandsentschädigung für entstehende Einkommensausfälle. Friedenreich beschwerte sich in einem Interview mit der Zeitung Correio da Manhã , dass die CBD ihm nicht auch Kinobesuche und Ausflüge erstattet habe. Das empfand die Presse in Rio de Janeiro als Anmaßung: Die Jornal do Brasil meinte, dass »das berühmte Interview mit dem nicht weniger be- rühmten Mittelstürmer nicht mehr ist als eine Anhäufung von Lügen.«147 Friedenreich sei kein wahrer sportsman. Der schnelle Verdacht verdeutlicht, wie fragil der Ruhm der Amateur- spieler war und wie sehr sie den Launen der Presse ausgesetzt waren. Dar- über hinaus zeigt er auch einen latenten Rassismus, da die Urteile über ihn schnell zwischen einer Einordnung als »Held« und einem physisch deka- denten und zugleich auch unfairen Fußballer wechselten.148 Die Quellen legen nahe, dass Journalisten und Verbandsfunktionäre »schwarze« Spieler sehr viel schneller des illegalen Profitums verdächtig- ten als »weiße« Spieler, da sie die Hautfarbe mit dem sozialen Status ver- banden. Auch bei Friedenreich war das in bestimmten Momenten seiner Karriere der Fall. Ebenso tauchten einige Male Anfeindungen gegen ihn auf, in denen die Presse vorschnell ein Ende seiner Karriere beschloss und fragte, ob er sich körperlich »im Niedergang« befinde. Auch hier kann von einem rassistischen Hintergrund ausgegangen werden: Solange Spieler wie Friedenreich erfolgreich spielten, waren Presse und Leserschaft ihnen wohlgesonnen, wenn sie schlecht spielten, kam es schnell zu Anfeindungen und böswilligen Gerüchten.149 Friedenreich, Neco e Amilcar jogarão domingo, embora suspensos pela C. B. de D.T.«, A Gazeta , 20.12.1918. 147 Jornal do Brasil , 15.11.1922. 148 Vgl. etwa »Sports. O 3° Campeonato Brasileiro«, 16.9.1925, Gazeta de Notícias ; »Football, Com Vistas A' Directoria da Associãçao Paulista de Sports Athleticos. O Incidente Bartho-Friedenreich. Uma Grave Denuncia«, A Gazeta , 11.12.1919; »A Technica Carioca«, OESP , 2.1.1930. Vgl. zum Narrativ von »Helden« und »Bösewichten« im brasilianischen Fußball: COSTA, L. M., A trajetória da queda: as narrativas da derrota e os principais vilões da seleção brasileira em Copas do Mundo , unveröffentl. dissertação de doutorado, Faculdade de Letras, Universidade do Estado do Rio de Janeiro 2008. Zu Narrativen von »Helden« und »Schurken« allgemein: Vgl. BRÄNDLEu.a., Goal! , S. 122-125. 149 Ein Beispiel ist die Empörung über den Verdacht, der afro-brasilianische Spieler Epaminondas sei ein Profi: »Football. O Momento«, A Gazeta , 11.7.1919. 163 »Rasse« 163 Die Pressefotos zeigen Friedenreich meist als eleganten Gentleman , der einen Smoking trug und sich im sozialen Umfeld der Eliteklubs wohl zu fühlen schien. In der Sekundärliteratur ist er vor allem als Beispiel für einen der ersten Afro-Brasilianer zitiert worden, der es über den Fußball schaffte, in die Elite aufzusteigen, gerade weil er sich wie ein »Weißer« verhielt.150Die Presse idealisierte ihn als perfekten Spieler, vor allem nach dem Erfolg 1919. Er galt als jemand, der Krankheiten und Verletzungen schnell überwinden konnte, der sich dem körperlichen Verfall entgegen- stellte – er wies eine überdurchschnittlich lange Karriere auf – und der, ohne dass das explizit ausgesprochen wurde, das Ideal der miscigenação repräsentiere. Insgesamt ist es schwierig, eine Meinung oder Haltung von Friedenreich selbst zu diesen Dingen herauszulesen. Aus wenigen Interviews und aus einem 1933 veröffentlichten Vorwort zu einer Biografie eines anderen Fußballspielers wird deutlich, dass er sich für das Profitum im Fußball Brasiliens einsetzte und ein starkes Bewusstsein für die soziale Marginali- sierung von Fußballspielern aus den Arbeitervierteln und várzeas entwi- ckelt hatte. Nach dem Ende seiner Fußballerkarriere geriet er in Vergessen- heit. Für sein Auskommen im Alter war anscheinend kaum gesorgt.151 Die Sportpresse nahm afro-brasilianische Spieler hinsichtlich ihrer Haut- farbe höchst unterschiedlich wahr. Friedenreich, der schon am Beginn seiner Karriere in Eliteklubs spielte und den die Sportpresse in seinem Habitus auch als Eliteangehörigen wahrnahm, referenzierten Journalisten äußerst selten in »rassischen« Kategorien. Es ist durchaus möglich, dass sich der Verfasser einer der obigen Leserbriefe auf Spieler wie Friedenreich bezog, als er anführte, in dem ersten Lokalverband LPF habe es durchaus »jogadores de côr« gegeben, doch sie seien eben reich gewe- 150 C URI , Martin, Friedenreich. Das vergessene Fußballgenie , Göttingen 2009, S. 8. Martin Curi sieht in seiner nicht an ein akademisches Publikum gerichteten Biografie in Friedenreich einen »Revolutionär«, der als erster die »Rassenschranken« im Fußball überwunden habe, da in den Elitevereinen keine Afro-Brasilianer hätten spielen dürfen. 151 Vgl. »Com 1329 gols, êle não tinha nem casa«, OESP , 7.9.1969; »Esta janela esconde um rosto do passado«, OESP , 18.1.1969; »E quem se lembra do velho Fried?«, Quelle unbekannt, IMS, G IV b n° 414; CORRÊA, Grandezas e misérias , S. 15 und 122. In Todesanzeigen wurde außerdem berichtet, Friedenreich habe seit 1938, nach Beendi- gung seiner Fußballkarriere, bei der Companhia Antárctica als Vertreter ( inspector- viajante ) gearbeitet. Die fehlende legale Grundlage für eine Fußballkarriere habe dazu geführt, dass er relativ verarmt und in Abhängigkeit von Almosen seines ehemaligen Klubs starb: Vgl. »Artur Friedenreich morre aos 77 anos«, Folha de São Paulo , Sep- tember 1969, S. 31, »Friedenreich deixa uma bandeira«, OESP , 7.9.1969, S. 39. 164 164 »Rasse« sen. Eher nahmen ausländische Presseorgane Friedenreich als »Mulatten« wahr.152 Vorschnelle Urteile und latente Kriminalisierung erfuhr zum Beispiel auch der afro-brasilianische Spieler Epaminondas, der angeblich für ein Spiel einer Auswahl Rio de Janeiros im Juli 1919 gegen eine Auswahl São Paulos Geld verlangt habe.153Offensichtlicher war die Exklusion, die er zwei Jahre später erlitt: Epaminondas und andere Spieler schloss der Nationalverband 1921, wahrscheinlich auf Anordnung des brasilianischen Präsidenten Epitácio Pessoa, von der Teilnahme an den südamerikanischen Meisterschaften aus, nachdem zuvor die argentinische Presse afro- brasilianische Spieler als Affen karikiert hatte und die brasilianische Regie- rung ihr Projekt der Repräsentation eines »weißen« und »zivilisierten« Brasiliens gefährdet sah.154 Von der Teilnahme schloss die CBD 1921 auch den vielversprechenden und talentierten Spieler Antônio Muniz aus, der unter dem Spitznamen Manteiga bekannt war. In Rio de Janeiro sorgte im Jahr 1921 seine Auf- nahme in den Eliteklub América F.C. für Aufregung in der lokalen Presse. Muniz stammte aus dem Bundesstaat Bahia und hatte in Rio de Janeiro eine Ausbildung bei der Marine absolviert. Dort und in mehreren suburba- nen Klubs Rio de Janeiros spielte er Fußball und zeigte sich als äußerst talentiert. In dieser Zeit gewann er auch seinen Spitznamen Manteiga (Butter), den er laut eigener Aussage erhielt »auf Grund der Leichtigkeit […] nicht nur im Dribbling, sondern vor allem darin, den Körper zu ›kni- cken‹, um ihn vor den gewalttätigen ›Fouls‹ der Gegner zu schützen, für die ich immer das beliebteste Ziel war.«155 Mário Filho, und andere Autoren nach ihm, führte dieses zur Namensge- bung gewordene Verhalten bei afro-brasilianischen Spielern generell auf 152 Das war allerdings in der brasilianischen Sportpresse selten der Fall und nie benannten Journalisten Friedenreich so explizit unter »rassischer« Bezugnahme wie zum Beispiel den uruguayischen Spieler Isabelino Gradín als »das Negerlein« (»el negrito«) oder die Spieler des Fabrikklubs Bangú als »rosige Mulattchen« (»mulatinhos rosados«). Wenige Male, kennzeichneten Journalisten Friedenreich als »Schwarzen«, so 1927 in einem Artikel, der eine Zunahme »schwarzer« Spieler in São Paulos Erst- ligaklubs feststellte: »Os pretos no futebol paulista«, O Imparcial , zitiert nach: A Gazeta , 1.7.1927; und 1930 vor der Weltmeisterschaft, als sie ihn mit dem afro-brasi- lianischen Spieler Fausto verglichen, über den das Gerücht auftauchte, er sei auf Grund seiner Hautfarbe nicht für die Nationalauswahl aufgestellt worden: Vgl. »Questão de Côr...«, A Gazeta , 27.5.1930. 153 Sant’Anna, Leopoldo, »Football. O Momento«, A Gazeta , 11.7.1919. 154 Siehe hierzu Kapitel 4.1.2 der vorliegenden Arbeit, S. 251. 155 »Uma entrevista com o afamado player Muniz (Manteiga)«, SSOI , 2.4.1921. 165 »Rasse« 165 einen alltäglich erfahrbaren und körperlich umgesetzten Rassismus auf den Spielfeldern zurück. In dieser Zeit subtiler Ausgrenzung und erhöhter Aggressivität hätten afro-brasilianische Spieler ein äußerst defensives und deeskalierendes Spiel und die Verwandlung aggressiver Angriffe ins Spie- lerische erlernt. Daraus sei auch ein spezifischer Stil entstanden: Das fast tänzerische, leichte Spiel mit dem gekonnten Umspielen des Gegners, das den brasilianischen Fußball ausmache. Die Taktik des Ausweichens sei eine Reaktion auf rassistische Vorurteile und daraus hervorgehende Aggressionen gewesen.156Die Spieler hätten der Brutalität ausweichen und, wichtiger noch, Anhaltspunkte für negative Stereotypisierungen, wie besondere Aggressivität und Brutalität, und Konfrontationen vermeiden wollen.157 Später sei Manteiga , so erzählte er selbst in einem Interview, von einem Marinefunktionär zum Spiel in den Klub América F.C. eingeladen worden, er arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Handelsangestellter bei der Firma Cardoso & Cia . Zu vermuten ist jedoch, dass der Klub Manteiga als pro- fessionellen Spieler anheuerte und die Anstellung bei der Handelsfirma nur ein Alibi war.158 Die lokale Presse berichtete häufig über den neuen Spieler. Schon kurz nach dem ersten Spiel für seinen neuen Verein tauchten Gerüchte auf, Manteiga sei bestechlich. In dem Spiel gewann der América F.C. 5:3 ge- gen Fluminense F.C . Die Zeitung Supplemento Sportivo D’O Imparcial , berichtete daraufhin, von Manteiga selbst und einem weiteren Spieler erfahren zu haben, der gegnerische Spieler Lais habe ihn vorher darum gebeten, nicht mit aller Stärke zu spielen, im Gegenzug würde er eine finanzielle Belohnung erhalten.159Afro-brasilianische Spieler wie Manteiga wurden also besonders schnell mit dem Stigma versehen, zum Beispiel durch finanzielle Anreize beeinflussbar zu sein und darüber hinaus zu Falschaussagen zu neigen. Was im ersten Moment eher den Spieler Lais in ein schlechtes Licht stellte, traf bald vor allem Manteiga . Schon in der nächsten Ausgabe berichtete O Imparcial , diese Nachricht habe einen 156 Vgl. F ILHO , O negro , S. 72-126. Kritisch zu diesen Erklärungen der Entstehung eines brasilianischen Stils: SOARES, História e a invenção de tradições no futebol brasileiro, S. 135; DERS., Futebol brasileiro e sociedade, S. 145-162. 157 Vgl. F ILHO , O negro , S. 72-126; L EITE L OPES , A vitória do futebol, S. 70. 158 Vgl. »Uma entrevista com o afamado player Muniz (Manteiga)«; C ORRÊA , Grandezas e misérias , S. 24; Vgl. FILHO, O negro , S. 72-126. 159 Vgl. »Quizeram dar uma gorgeta ao Manteiga?«, SSOI , 23.4.1921; »Quizeram dar uma gorgeta ao Manteiga? Testemunhos de Raul Loureiro Filho e Gentil Monteiro«, SSOI , 30.4.1921. 166 166 »Rasse« kleinen Skandal verursacht, der Spieler Lais habe versucht, Manteiga mit einem vorgefertigten Brief zu einem Dementi zu bewegen. Manteiga unter- schrieb die Erklärung und Lais veröffentlichte sie in einer Abendausgabe von A Noite .160 Die Redaktion von O Imparcial war vor allem empört über den Wankel- mut Manteigas und warf ihm vor, aus Geltungssucht an die Presse herange- treten zu sein und es wie viele Spieler mit der Wahrheit, »in Sachen sagen und widerrufen«, nicht so genau zu nehmen.161Um nun Manteiga der Falschaussage zu überführen, lud die Redaktion zwei Zeugen, die mit ih- rem Ehrenwort bestätigten, dass Lais Manteiga das Angebot gemacht habe. Was auf den ersten Blick als eine für Manteiga positive Berichterstat- tung erscheint, war im Grunde eine rassistische Zuweisung von Eigen- schaften wie Wechselhaftigkeit, Neigung zur Lüge und Beeinflussbarkeit, von denen hier angenommen werden kann, dass sie als »rassisch« determi- niert galten. Unterstützend kamen weitere rassistische Diskriminierungs- muster hinzu, wie die Gegenüberstellung zweier »weißer« Zeugen, denen mehr Glauben geschenkt wurde und auch die indirekte Zuweisung von funktionalem Analphabetismus, da Manteiga den vorgefertigten Brief ohne zu lesen einfach unterschrieben habe. Schon in der Ausgabe zuvor erschien ein von Manteiga selbst verfasster Artikel, in dem er sein Debüt im Klub in dem Spiel América gegen Fluminense wiedergab. Er berichtete vor allem von seinem Versuch, sich möglichst wenig in den Vordergrund zu stellen, als Stürmer möglichst kein Einzelspiel zu entwickeln und den Ball rechtzeitig an einen freien Mitspie- ler abzugeben, um so ein Tor vorzubereiten. Vor allem durch die gegneri- schen Spieler Lais und Sylvio Lagreca habe er eine starke Manndeckung erlebt, er habe sich ihnen gegenüber verhalten »als wäre ich ein Offizier und hätte die beiden tricolores [bezieht sich auf die Spieler von Fluminense, d. Verf.] als Ordonnanzen.«162 Manteiga wiederholte bei der Gelegenheit, er habe in der Marine eine äußerst korrekte Spielweise erlernt, ohne Verstöße gegen Regeln. Wie um mögliche stereotype Zuweisungen vorwegzunehmen, sagte er, er sei ein »wohlerzogener und fleißiger Kerl und ein treuer Spieler im Umgang mit seinen Kollegen, immer bereit, blind 160 Vgl. »Quizeram dar uma gorgeta ao Manteiga? Testemunhos de Raul Loureiro Filho e Gentil Monteiro«, SSOI , 30.4.1921. 161 Ebd. 162 »O forward Muniz (Manteiga) conta como o America F. C. venceu o Fluminense por 5x3«, SSOI , Nr. 8, 23.4.1921. 167 »Rasse« 167 den Gesetzen zu folgen.«163 Manteiga verteidigte sich gegen mögliche Vor- würfe, nicht offensiv genug gespielt zu haben, erneut mit der ihm zuteil gewordenen Manndeckung. So habe er bei seinem Spieldebüt keine Möglichkeit gehabt, ein Tor zu schießen und nur Tore vorbereiten können. Er klagte in seinem Bericht, die Gegner würden einen »Krieg« gegen ihn führen, ihn besonders unnachgiebig und brutal decken und foulen.164 Manteiga glaubte nicht an einen Zusammenhang mit seiner Marine- erfahrung, denn »die Marine ist heute wie eine Armee, eine anständige Körperschaft, in der es sehr kultivierte und wohlerzogene Soldaten gibt.«165 Er führte als Beweis für die Anerkennung von Seeleuten ihre Aktivitäten in Rudervereinen und anderen Fußballvereinen an. Etwas anderes müsse also die Abneigung von Gegnern und sogar Mannschaftskollegen auslösen, er vermutete, es sei »die Frage der Hautfarbe«.166 Eine derartige, obgleich auch vorsichtige und defensive Benennung rassistischer Ausgrenzung im Fußball durch einen betroffenen Spieler selbst in einer Sportzeitung gab es bis dahin nicht. Darüber hinaus ist be- merkenswert, dass er die Situation in Brasilien mit der in den USA und in Uruguay verglich: »Die Vereinigten Staaten, die ›Neger‹ nicht tolerieren, schickten, wie jeder weiß, 1919 zu den Inter-Alliierten Spielen als ihren Repräsentanten im Weitsprung Sol Bluter [sic!], einen pechschwarzen Schwarzen der übrigens der Held des Wettkampfes war.«167Auch Uruguay »schließt aus seiner Mannschaft weder Gradín aus, weil er schwarz ist, noch Delgado, weil er Mulatte ist.«168Auch in Brasilien sei das nicht der Fall: »Gerade hier in Brasilien sind die vornehmsten Klubs auf dieselbe Weise vorgegangen. Ich habe jede Menge Mulatten gesehen, die in Mann- schaften von Paulistano, Fluminense, S. Christovão, Flamengo, Villa etc. auftraten.«169Auch in seinem Klub América habe es zuvor schon »›kleine Dunkelhäutige‹« gegeben und »nie war jemand gegen sie!«170Zum Schluss seiner Verteidigung und Anklage meinte Manteiga zu beiden möglichen, zur sozialen und rassistischen Form der Exklusion: »Dass ich von der Mari- 163 Ebd. 164 Ebd. Auch Filho berichtet von verstärkter Brutalität gegen afro-brasilianische Spieler: Vgl. FILHO, O negro , S. 109 f. 165 »O forward Muniz (Manteiga) conta como o América F. C. venceu o Fluminense por 5x3«, SSOI , Nr. 8, 23.4.1921. 166 Ebd. 167 Ebd. 168 Ebd. 169 Ebd. 170 Ebd. 168 168 »Rasse« ne bin, bringt mich nicht in Verruf und ich fühle mich sehr ehrenhaft damit und ›dunkel‹ bin ich nur deshalb geboren, weil man mich in der Stunde der Geburt nicht für das Weiße entscheiden ließ!«171 Spieler wie Manteiga , meist aus den Vororten der großen Städte stam- mend, stellten als erfolgreiche Sportler auch ein Identifikationsangebot für Angehörige derselben sozialen Schicht und andere Afro-Brasilianer dar. Das zeigen mehrere Karikaturen in O Imparcial Supplemento Sportivo , die immer dieselbe afro-brasilianische Hausangestellte darstellen, jeweils als Anhängerin populärer afro-brasilianischer und afro-amerikanischer Klubs und Spieler; so 1919 nach den Südamerikanischen Spielen als Anhängerin des Afro-Uruguayers Gradín und im Jahr 1921 als Anhängerin des in dem Jahr erfolgreichen Klubs Bangú A.C. und des Spielers Manteiga .172 171 Ebd. 172 Vgl. auch P EREIRA , Footballmania , S. 174 f. 169 »Rasse« 169 Bild 7: Der Fußballspieler Manteiga war eine Identifikationsfigur für viele Afro- Brasilianer. Zugleich drückte sich in seinem Spielstil die Idee des embranquecimento aus. Quelle: »Ahi ›manteiga‹ valente! Mostra que tú é de puro ›leite‹!«, SSOI , 13.8.1921. 173 Letztere Karikatur (Bild 7) nahm Bezug auf die Verwandlungskunst und Defensivhaltung Manteigas . Die Hausangestellte, die sich in den Karikatu- ren immer umgangssprachlich ausdrückte, rief Manteiga zu, er solle zei- gen, dass er »aus reinster Milch« sei.174In einer anderen Variante stellte der Karikaturist sie als Wahrsagerin dar, die ein Journalist in einem Vorort Rio de Janeiros aufsucht, um etwas über die Erfolge des Klubs Bangú zu erfah- ren.175 Bangú A.C. aus Rio de Janeiro war einer der wenigen Klubs, der in der Eliteliga Rio de Janeiros spielte und dessen Mannschaften zum großen Teil aus Afro-Brasilianern aus dem nördlichen Vorstädten Rio de Janeiros stammten. Die anderen Elite-Klubs akzeptierten ihn vermutlich von Anfang an, da ihn britische Techniker der Textilfabrik Companhia Progresso 173 »Los, tapferer ›manteiga‹! Zeig, dass Du aus reinster ›Milch‹ bist! « 174 »Ahi ›manteiga‹ valente! Mostra que tú é de puro ›leite‹!«, SSOI , 13.8.1921. 175 Vgl. »O Bangú A. C. ›tá bão memo‹! (Ouvindo uma preta mina cartomante)«, SSOI , 30.4.1921. 170 170 »Rasse« Industrial Bangú 1904 gründeten, die in dem Vorort Bangú angesiedelt war.176Leite Lopes meint, dass die Elitevereine den Klub Bangú im Gegen- satz zu Vasco da Gama nie als eine echte Bedrohung wahrnahmen, da er sie fußballerisch kaum herausforderte.177Der Klub führte als einer der ers- ten ein semi-professionelles Ausbildungssystem der Spieler ein und bildete talentierte Fußballer aus, die später in großen Klubs Karriere machten. So begannen die afro-brasilianischen Spieler Fausto (1926) und Domingos (1929) im Bangú ihre Karriere. Sie und der ebenfalls afro-brasilianische Spieler Jaguaré, der bei Vasco spielte, waren auch in der Presse fortgesetzt rassistischen Anfeindungen ausgesetzt, wie Karikaturen über ihn und bei- spielsweise die Bezeichnung als »hässlichster Mann der Welt« demon- strieren.178 Einige wenige afro-brasilianische Spieler widersetzten sich der Diskri- minierung und rassistischen Ausgrenzung oder benannten sie zumindest. Manteiga jedenfalls ist später, nach einer Reise des Klubs América nach Salvador de Bahia, nicht mehr mit seinem Verein nach Rio de Janeiro zurückgekehrt.179 Manteiga ging nicht aktiv gegen den Rassismus vor, son- dern fügte sich der Ausgrenzung. Er äußerte den Wunsch, seine Hautfarbe zu ändern. Er strebte nach Anerkennung durch seine Mannschaftskollegen, indem er sich anstrengte, besonders wenig aufzufallen und vermeintlich »weiße« Verhaltensweisen bis zur Übertreibung zu zeigen. 2.5. Z USAMMENFASSUNG Zusammenfassen lassen sich die Ergebnisse dieses Kapitels vor allem im Hinblick auf die Verhandlung »rassischer« Identitäten und von Rassismus im transnationalen Kontext. So sind an Manteigas Äußerungen seine Bezüge auf die USA und Uruguay herauszustellen. Deutlich wird hier die 176 Vgl. C ALDAS , O pontapé inicial , S. 29 ff. Folgende Gründer gibt ein Bericht an: Andrew Procter, John Stark, José Villas Boas, Thomas Donohoe, Clarence Hibbs, William French, William Procter, Martinho Dumiense, José Medeiros, José Soares, Frederich Jaques und Thomaz Hellowell: »Histórico do Bangu A.C.«, SSOI , 23.4.1921. 177 L EITE L OPES , A vitória do futebol, S. 69. Wenngleich 1921 Bangú als Anwärter auf den lokalen Meisterschaftstitel angeführt wurde: Vgl. »O Bangu A. C. é o provavel Campeão de 1921«, SSOI , 11.6.1921. 178 Vgl. »Paraiso dos Macacos«, Gazeta de Notícias , 8.6.1930, S. 7; Bild ohne Titel, Gazeta de Notícias , 15.6.1930, S. 5. 179 L EITE L OPES , A vitória do futebol, S. 70. Bei Eintritt in den Klub América seien, so Leite Lopes, allein neun Spieler aus der ersten und zweiten Liga des Klubs aus Pro- test gegen seine Aufnahme ausgetreten: Vgl. ebd. Siehe auch: SSOI , 26.3.1921. 171 »Rasse« 171 Möglichkeit, die der globalisierte Sport Betroffenen bot, Rassismen zu vergleichen und Beispiele aus anderen Ländern auch als Grundlage für eigene Emanzipationsforderungen zu nutzen. Afro-brasilianische Spieler waren über den Fußball, selbst wenn sie nie im Ausland spielten, zumindest diskursiv über die Presse in eine transnationale Sportgemeinschaft eingebunden. In kaum einem anderen kulturellen Bereich waren Afro- Brasilianer und Afro-Amerikaner schon in den 1920er-Jahren derart sichtbar wie im Sport. Die Presseberichterstattung von Boxwettkämpfen, von internationalen Sportgroßveranstaltungen wie den Olympischen Spielen und den Inter-Alliierten Spielen 1919, auf die sich Manteiga bezog, zeigtenAfro-AmerikaneralserfolgreicheRepräsentantenvon Sportnationen. In dieser Erfolgsrolle tauchten sie zuvor in der Presse nicht auf.180Ja, für Afro-Brasilianer gab es außerhalb des Sports kaum Möglich- keiten, sich gesellschaftlich erfolgreich zu positionieren. Durchaus exis- tierten afro-brasilianische Schriftsteller und Politiker, doch sie waren Elite- angehörige und die Presse bezog sich auf sie meistens nicht explizit als »Schwarze«. Anders war der Umgang der Presse mit Sportlern: Gerade im Kontext internationaler Erfolge nahmen Publikum, andere Spieler und Sportfunktio- näre sie als »Schwarze« wahr, dabei stellten sie Eigenschaften heraus, die »rassisch« determiniert seien und sie für den sportlichen Erfolg prädesti- nierten.181Die Sportpresse selbst nahm diese transnationalen Vergleiche vor und beteiligte sich an der Konstruktion des »schwarzen Athleten«. So ver- glich sie zum Beispiel Manteiga mit dem afro-uruguayischen Spieler Gradín, den O Imparcial als »ausländischen ›Manteiga‹« bezeichnete.182 Verdeutlicht hat diese veränderte Wahrnehmung die ausgewertete Leser- briefdebatte (Vgl. Kapitel 2.3). Sie zeigt, dass nicht nur intellektuelle Eliten und Sportjournalisten diskursiv »rassische« Identität verhandelten. Auch fußballenthusiastische Besucher von Spielen der zweiten lokalen Liga São Paulos, also Menschen aus der neu entstehenden urbanen Mittelschicht, waren an dem Fußballdiskurs beteiligt. Und auch sie nahmen Fußball in ihren Zuschriften als transnationales Phänomen wahr, indem sie auf Schicksale von Spielern afrikanischer Herkunft in anderen Ländern verwie- sen. Das zeigt einmal mehr, wie stark Fußball »Rasse« materialisierte und 180 Bilder von Afro-Amerikanern tauchten eher auf den Kriminalseiten der Zeitungen auf: Vgl. auch KEYS, Globalizing Sport , S. 13-14. 181 Vgl. ebd. 182 »›Manteiga‹ estrangeira«, SSOI , 7.5.1921. 172 172 »Rasse« wie auch brasilianische Fußballanhänger in den 1920er-Jahren Vorstellun- gen eines »schwarzen Athleten« mitkonstruierten. Die hier ausgewerteten Quellen widerlegen teilweise die Aussage George Reid Andrews‘, Afro-Brasilianer hätten sich in den 1920er-Jahren in eigenen Klubs zusammengeschlossen, da »weiße« Vereine sie völlig ausgeschlossen hätten. Andrews bezieht sich auf Quellen aus den 1930er- Jahren.183Sicher hat er nicht völlig Unrecht und tatsächlich führte der er- schwerte Zutritt zu »weißen« und vor allem Eliteklubs für Afro-Brasilianer zur Gründung eigener Klubs. Der Fall des Argentino zeigt aber, dass auch »weiße« und »schwarze« Brasilianer zusammen spielten und darüber hinaus Rassismus im Fußball schon 1918 verbreitet in der Presse mit sehr unterschiedlichen Positionen debattiert wurde. Diese Bezüge führten allerdings nicht automatisch zu einer Inklusion afro-brasilianischer Spieler. In diesem Sinne ist Fußball als moderner Sport keine kulturelle Praxis, die automatisch Gleichheit herstellt. Die Globalisie- rung des Fußballs zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutet nicht eine Uni- formierung von Werten im Sinne einer globalen Anpassung von transpa- renten Zugangsmöglichkeiten zu Fußballklubs oder insgesamt zur Welt des Fußballs. Vielmehr lässt sie sich als Entstehungsmoment neuer Möglich- keiten der Bezugnahmen und Vergleiche in einem von den Akteuren auch so wahrgenommenen transnationalen Sportraum beschreiben. In ihm ließen sich Vorstellungen von »Rasse«, darauf beruhende Diskriminierungen und sich ihnen entgegensetzende Anti-Rassismen verhandeln. Der Eintritt und die Sichtbarkeit afro-brasilianischer Spieler in diesem transnationalen Raum hat deshalb noch nicht die Auflösung rassistischer Vorurteile ihnen gegenüber herbeigeführt. Vielmehr diente der Fußball gesellschaftlichen Gruppen auch dazu, Vorstellungen von »Rasse« und Nation und Formen von rassistischer Ungleichheit und Diskriminierung zu produzieren und zu reproduzieren; das auch in einem transnationalen Kontext. Darüber hinaus verdeutlichen die Debatten der 1910er- und 1920er-Jahre in der Sportpresse, wie stark die Idee einer raça brasileira schon in den Köpfen der Menschen, auch einer Mittelklasse, verankert war. Die meisten Leser individualisierten die Schuld an Diskriminierung und Ausgrenzung und gaben sie den Benachteiligten selbst, denn prinzipiell, so ihre Meinung, eröffneten Brasilien und damit auch brasilianische Kultureinrichtungen ihnen die Möglichkeit der Teilhabe. Wenn Afro-Brasilianer sie nicht wahr- nähmen, liege das einzig an individuellen Problemen ihrerseits, an man- 183 A NDREWS , Negros e brancos , S. 221 f. Vgl. insbesondere S. 22, Fußnote 46 zu den von ihm verwendeten Quellen. 173 »Rasse« 173 gelnder Erziehung, Faulheit, Kriminalität – Phänomene, die ganz im Sinne der ideologia da vadiagem mit »Schwarzsein« verbunden wurden.184 Bemerkenswert ist dennoch: Nicht alle an der Debatte von 1918 beteiligten Leser nahmen an, es existiere in Brasilien kein preconceito de côr , einige nahmen durchaus Diskriminierung wahr. Allerdings sahen auch sie über- wiegend Fußballklubs als Möglichkeit des embranquecimento und damit auch als Chance des sozialen Aufstiegs an. Über die Unterscheidungen zwischen einem einerseits »guten«, andererseits »schlechten« afro- brasilianischen Athleten, gemessen an den Werten eines als »weiß« ange- nommenen sportsman , konstruierten auch sie einen spezifischen brasiliani- schen »schwarzen Athleten« mit. Dieser sollte dann später, ab den 1930er-Jahren, als Resultat der erfolgreichen brasilianischen miscigenação zum Idealbild des brasilianischen Fußballs werden und eine vermeintliche Überwindung rassistischer Diskriminierung und zugleich ebenso »Kreoli- sierung« des Fußballs verkörpern. Nicht zuletzt war das auch ein brasiliani- scher Beitrag zur Schaffung eines transnationalen »schwarzen Athleten« an sich. Auf dem Weg dahin waren afro-brasilianische Spieler einem enormen gesellschaftlichen Druck ausgesetzt, sich den Vorstellungen dieses spezi- fisch brasilianischen »schwarzen Athleten« anzupassen. Fußball diente dazu, in einer allen verständlichen, nahezu universalen Sprache Verhal- tensweisen zur Erreichung dieses Ideals nahezulegen. 184 Ebd., S. 209 ff. 174
175
3. REGION: DIE AUSGESTALTUNG REGIONALER BEZIEHUNGEN AUSGEHEND VON SÃO PAULO
Die beiden vorangegangenen Kapitel konzentrierten sich auf soziale und rassistische Exklusion und die Aushandlung sozialer und »rassischer« Identität über den Fußball. Deutlich wurde, welche Rolle der Fußball für die Konstruktion von Differenzen und deren Aushandlung spielte. Eine ähnliche Funktion nahm der Fußball im Untersuchungszeitraum für regio- nale Differenzierungen ein. Im Fokus der folgenden Überlegungen steht die regionale Rivalität im Fußball zwischen Rio de Janeiro und São Paulo, die seit den ersten Spiel- begegnungen zwischen Mannschaften beider Städte stark zunahm. Fußball- spieler, Sportjournalisten und Sportfunktionäre handelten diese Differenzen in einem transnationalen Kontext aus, das heißt, sie bezogen sich in der Konstruktion regionaler Identität auf Beispiele in anderen Ländern. Be- deutend waren vor allem internationale Spielbegegnungen, da durch sie regionale Überlegenheitsansprüche gerechtfertigt wurden. Fußball diente zu Beginn internationaler Sportbegegnungen als Vehikel, um vor allem Europa, aber auch Argentinien und Uruguay ein »weißes«, »zivilisiertes« und modernes Brasilien vorzuführen. Gerade Paulistaner Eliten waren an der Vermittlung dieses Eindrucks interessiert, stimmte es doch mit dem allgemeinen Bild überein, das sie in der Zeit der Ersten Republik von sich entwarfen.1 Der Erste Weltkrieg, wie schon weiter oben genauer ausgeführt, führte auch in Brasilien zu einer teilweisen Abwendung von Europa, die sich unter anderem in diversen Nationalisierungskampagnen und künstlerischen und intellektuellen Abnabelungsprojekten niederschlug. Weiterhin aber blieb Europa für brasilianische Eliten eine Blaupause. Selbst in der Suche nach eigenen Ausdrucksformen spielten europäische Konzepte eine be- deutende Rolle, allein schon weil das Fernziel eine brasilianische Nation war und das Konzept der Nation ein europäisches Konstrukt. In Brasilien haben Eliten auch nach dem Ersten Weltkrieg daran festgehalten, einen »Standard der ›Zivilisation‹« zu erreichen, der sie zu anerkannten und gleichwertigen Partnern im internationalen Gefüge machen würde.2 1 Vgl. F ERREIRA , A epopéia bandeirante ; W EINSTEIN , Racializing Regional Difference; DIES., Weiß, männlich, Mittelschicht. 2 Zum Begriff »Standard der ›Zivilisation‹«: Vgl. C ONRAD u.a., Introduction. Com- peting Visions of World Order, S. 6. Vgl. zu der fortgesetzten Orientierung nicht-west- licher Eliten an Europa nach dem Ersten Weltkrieg, selbst in der Formulierung alterna- tiver kultureller Programme: CONRAD, Sebastian, »Europa« aus der Sicht nichtwest- 176 176 Region Was auf den ersten Blick als ein nationales Projekt erscheint, interpre- tierten regionale Eliten durchaus unterschiedlich. Sie nutzten auch Fußball- begegnungen, um regionale Vorstellungen von der Nation Brasilien aus- zudrücken und um regionale Hierarchisierungen diskursiv zu festigen. Gerade Paulistaner Eliten suchten über den Fußball zu belegen, dass sie auf einer »zivilisatorisch« höheren Stufe als andere Regionen seien. Diese Sportart betrachteten sie als eine aus Europa stammende kulturelle Praxis, über die ein »Zivilisationsniveau« körperlich darstellbar sei. Der schon während des Ersten Weltkrieges zunehmende internationale Austausch im Fußball kam ihnen dabei gelegen. Auch die Kategorie »Rasse« spielte in der Konstruktion dieser regiona- len Differenzen eine bedeutende Rolle.3Das galt besonders für die Kon- struktion einer Paulistaner Identität, die hier als Teil der regionalen Bezie- hungen zwischen Rio de Janeiro und São Paulo im Vordergrund steht. So hat Barbara Weinstein in einer Studie zur Konstruktion der Paulista - Identität in den 1930er-Jahren im Kontext der »Konstitutionalistischen Revolution« von 1931/1932 herausgearbeitet, wie stark Paulistaner Eliten regionale Identität in »Rasse«-Kategorien ausdrückten und mit »Weißsein« verbanden. Diese Konstruktion, so Weinstein, war überaus nachhaltig, sie überdauerte die politische Zentralisierung durch Getúlio Vargas und lasse sich bis in die Gegenwart als Diskurs verfolgen. Selbst als die Anziehungs- kraft der Theorien des wissenschaftlichen Rassismus als Fundamente für Differenzierungen nachließen und andere Diskurse wie »Zivilisation«, Modernität und Fortschritt sie ersetzten, hätten Differenzwahrnehmungen weiterhin auf »Rasse« beruht.4 Cariocas und Paulistas traten in interregionalen oder interlokalen Derbys gegeneinander an, mit der Zunahme internationaler Spiele formierten sie zusammen auch Nationalmannschaften. Bis in die Mitte der 1920er-Jahre setzten sich diese Teams fast ausschließlich aus Spielern der beiden Städte zusammen. Zusammen sahen sich Paulistas und Cariocas als fortschrittlich und modern im Hinblick auf den Sport und den Fußball speziell. Sie ord- neten sich auf einer Zivilisationsskala ein, auf der die europäischen Fuß- ballnationen am oberen Ende standen, unmittelbar gefolgt von Argentinien licher Eliten, 1900–1930, in: Journal of Modern European History 4, 2006, S. 158-170, hier 168 f. Auch: SACHSENMAIER, Dominic, Searching for Alternatives to Western Modernity – Cross-Cultural Approaches in the Aftermath of the Great War, in: Journal of Modern European History 4, 2006, Nr. 2, S. 241-260, hier 243 ff. 3 Vgl. W EINSTEIN , Racializing Regional Difference, S. 238 ff. 4 W EINSTEIN , Racializing Regional Difference, S. 238-240. Zu einem ähnlichen Er- gebnis führt auch die Studie von Jerry Dávila: Vgl. DÁVILA, Diploma de brancura . 177 Region 177 und Uruguay, mit São Paulo und Rio de Janeiro in der Mitte. Am unteren Ende der Skala, weit abgehängt, standen andere Regionen Brasiliens, die Paulistaner Schriftsteller und Sportjournalisten als lernfähige, jedoch völlig rückständige Regionen hinsichtlich des Fußballspiels markierten.5 Mit der zunehmenden Konfrontation zwischen São Paulo und Rio de Janeiro im Zuge der Fußballinternationalisierung zu Beginn des 20. Jahr- hunderts markierten einflussreiche Paulistaner Sportjournalisten, Fußball- spieler und Funktionäre auch die Cariocas als rückständig und sprachen ihnen konstant ihre Legitimation als Vertreter des brasilianischen Fußballs nach außen ab. Was als »bairrismo«, also im zeitgenössischen Jargon als »lokalpatriotische« Rivalität begann, wandelte sich zu einer weitreichen- deren Auseinandersetzung. Vordergründig ging es in der Konfrontation um die Frage, welche der beiden Städte den brasilianischen Fußball besser repräsentierte, auch welche der beiden ihn in das brasilianische »Hinterland« tragen und so auf der nationalen Ebene als Vorbild dienen könne. Diese Konflikte fanden auf einer institutionellen und einer diskursi- ven Ebene statt, beide werden im Folgenden analysiert. Es handelte sich, so die These, um weit mehr als nur eine gewöhnliche regionale Fußballrivali- tät. Vielmehr spielte der Fußball eine Rolle in der Konstruktion regionaler Identitätsdiskurse, die, so Weinstein, bis heute Gültigkeit besitzen und die auf die Ursachen für regionale Ungleichheiten blicken lassen.6Diese Funk- tion des Fußballs ist bisher noch nicht ausführlicher betrachtet worden.7 5 Vgl. Sant’Anna, Leopoldo, »O football em São Paulo tem progredido notavel- mente«, A Gazeta , 26.4.1918; »O football no Amazonas. A temporada sportiva de 1920«, Vida Sportiva , Nr. 176, 8.1.1921; »Football. Notas Indigenas. A ›Liga Mogyana‹ - Para os Grandes Males, os Grandes Remedios, - A Eloquencia de Um Officio«, A Gazeta , 15.1.1920; »Football. O Dr. Ferreira Santos fala à ›Gazeta‹. O Progresso do Football no interior. O Novo Campo do Commercial«, A Gazeta , 25.2.1920; »No Hinterland…«, A Gazeta , 8.8.1930. 6 W EINSTEIN , Barbara, Developing Inequality. Presidential Address at the 122nd Meeting of the American Historical Association, Washington DC 2008, URL: <http:// www.historians.org/info/aha_history/weinstein.cfm#35> (abgerufen am: 9.9.2011). Weinstein mahnt, nicht fälschlicherweise davon auszugehen, die Diskurse hätten soziale und ökonomische Ungleichheit verursacht. Allerdings, so argumentiert sie weiter, könn- en Diskursuntersuchungen womöglich einen weiteren Blick auf ökonomische und soziale Ursachen für Ungleichheiten werfen. 7 In der existierenden historischen Literatur findet die Rivalität Erwähnung, jedoch hat kein Fußballhistoriker sie ausführlicher untersucht. Einzig Pereira weist darauf hin, dass sie von Zeitgenossen als Auseinandersetzung zwischen zwei »Rassen« gesehen wurde: PEREIRA, Footballmania , S. 159-164. 178 178 Region 3.1. R EGIONALISMEN UND REGIONALE I DENTITÄTEN IN DER E RSTEN R EPUBLIK Die Zeit der brasilianischen Ersten Republik (1889-1930) war mit der Ein- führung eines föderalen Systems durch die Verfassung von 1891 von star- ken Regionalismen und politischer und administrativer Dezentralisierung gekennzeichnet, im Gegensatz zur vorangegangenen Herrschaft Dom Pedros II. Obgleich hinsichtlich der politischen Kultur der herrschenden Klasse starke Kontinuitäten zum Kaiserreich bestanden, erlebten doch einige Regionen außergewöhnliche soziale, politische und wirtschaftliche Transformationen, die sich auch in der Interaktion zwischen nationaler und regionaler Ebene abbildeten. Am stärksten wandelte sich in dieser Hinsicht sicherlich der Staat São Paulo.8 Der im Fußball ausgedrückte und bestärkte Überlegenheitsdiskurs wird erst verständlich, wenn São Paulos außergewöhnliche Entwicklung von einer kleinen Provinzstadt Anfang des 19. Jahrhunderts zu einer wirt- schaftsstarken Metropole zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet und der historische Mythos dargelegt wird, der den rasanten Aufstieg histo- risch legitimieren sollte. Anfang des 16. Jahrhunderts war gerade São Paulo Ausgangspunkt portugiesischer imperialer Expansion.9Von dort zogen »abenteuerlustige Pioniere« in Expeditionen ( bandeiras ) westwärts in das Landesinnere auf der Suche nach Bodenschätzen und Indiosklaven. Histo- riker, Politiker und Schriftsteller konstruierten Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts eine Identität der Paulistas als Nachkommen dieser in ihren Augen vor allem abenteuerlustigen, risikofreudigen, unternehmeri- schen und »weißen« bandeirantes . Maßgeblich ging diese Traditionsbil- dung von Mitgliedern neu gegründeter akademischer Institute aus, wie der Academia Paulista das Letras (APL) und dem Instituto Histórico- Geográfico de São Paulo (IHGSP).10 8 Zu Regionalismen in der Ersten Republik Vgl. L OVE , Joseph LeRoy, Rio Grande do Sul and Brazilian Regionalism 1882-1930 , Stanford, Calif. 1971. Zum Wandel der politischen Herrscherklasse und Diskontinuitäten: Vgl. TOPIK, Steven, Brazil's Bourgeois Revolution?, in: The Americas 48, 1991, Nr. 2, S. 245-271. Eine neuere regionalpolitische Geschichte des Staates São Paulo in der Ersten Republik, die ver- schiedene Partizipationsstufen analysiert, bietet: WOODARD, A Place in Politics . Re- gionen waren in der Zeit der Ersten Republik in einem geopolitischen Verständnis deckungsgleich mit den föderalen Staaten, entsprechend ist auch hier mit Region ein Bundesstaat gemeint, zum Beispiel der Staat São Paulo: Vgl. LOVE, Rio Grande do Sul. 9LOVE, São Paulo , S. 4. 10 F ERREIRA , A epopéia bandeirante , S. 137-145. 179 Region 179 In den letzten Jahren haben Historiker und Historikerinnen diesen nach- haltigen Mythos zerlegt, der Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhun- derts als Erklärung für die ökonomische und kulturelle Überlegenheit der Paulistas diente.11In Wahrheit seien die bandeirantes brutale und rück- sichtslose Männer gewesen, die ihre Expeditionserfolge nur durch die Ver- sklavung Indigener erreichten und keineswegs »weiß« waren, sondern »gemischter«, sowohl europäischer als auch indigener Herkunft.12Wie Antônio C. Ferreira darlegt, stellten Historiker die »gemischte« Herkunft zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus schon als prägend für den bandeirante dar – in ihm vereinte sich ihnen zufolge die kriegerische Kraft eines »guten Wilden« ( bom selvagem ) und die Überlegenheit der Portugie- sen. Gleichwohl beruhten diese Konstruktionen auf willkürlichen und positivistischen Forschungen, die an einen romantisierenden »Indigenis- mus« des 19. Jahrhunderts angeschlossen hätten.13In der »rassischen« Konstruktion des Paulista sei dabei dem »weißen« Europäer die eigentliche zivilisatorische und vereinheitlichende Kraft in der Mischung zugesprochen worden.14 Erklärt werden sollte São Paulos rasanter Aufstieg: Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Ersten Republik entwickelte sich die Stadt São Paulo von einer Provinzstadt mit 31.385 Einwohnern im Jahr 1872 zum Zentrum des südöstlichen Kaffeeanbaus mit 579.033 Einwoh- nern im Jahr 1920.15Die geografische Lage der Provinz mit den Hoch- ebenen und dem dadurch für eine tropische Region außergewöhnlich milden Klima und einer besonders geeigneten Erde prädestinierten sie für die Kaffeeanpflanzung. Den Aufstieg unterstützte der beinahe gleichzeitige Niedergang der Zuckerwirtschaft im Nordosten. Die Stadt São Paulo zog schon seit der Gründung der Rechtsschule am Largo de São Francisco 11 Vgl. als Untersuchung zur Ausbeutung indigener Arbeitskraft durch die bandei- rantes : MONTEIRO, John Manuel, Negros da terra: índios e bandeirantes nas origens de São Paulo , 2. Aufl., São Paulo 1994. Eine neuere Monografie zur Konstruktion dieses Mythos im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist: FERREIRA, A epopéia bandeirante . 12 W OODARD , A Place in Politics , S. 23; L OVE , São Paulo , S. 5. 13 Ferreira weist nach, dass die Historiker des Instituto Geográfico e Histórico de São Paulo (IGHSP) und Mitglieder der Academia Paulista das Letras (APL), die maß- geblich diese historischen Abhandlungen schrieben, die Paulistas als Nachfahren von Indigenen, wie den Guinaná, Caingangue oder Maronomi konstruierten und dabei ei- nige Eigenschaften isolierten, um sie mit »Eigenschaften« der Portugiesen zu kombinie- ren: FERREIRA, A epopéia bandeirante , S. 137-145. 14 F ERREIRA , A epopéia bandeirante , S. 137 ff. 15 L OVE , São Paulo , S. 26. 180 180 Region Anfang des 19. Jahrhunderts Eliten aus ganz Brasilien an, wie der Histori- ker James Woodard darlegt. Hier angelegt war ihm zufolge ein Zusammen- spiel von Unternehmertum, Kapital, Wissen und Sklaverei – hinzu sei der britische Einfluss im 19. Jahrhundert im Zuge des britischen »informal empire« gekommen – über das sich São Paulo noch vor der Abolition im Jahr 1888 zur Region der erfolgreichen Kaffeeplantagenwirtschaft entwickelt habe.16 Wirtschaftlich erfolgreiche regionale Eliten beteiligten sich am Sturz Pedros II. im Jahr 1889. Sie setzten im politischen Regionalismus der 1889 ausgerufenen Republik die ökonomischen Interessen im berühmten Bünd- nis »Kaffee mit Milch« mit den Eliten des Staates Minas Gerais politisch durch. Vor allem Paulistaner Kaffeepflanzer und Bankbesitzer konnten in der sogenannten Política dos Governadores ( Politik der Gouverneure ) ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen geltend machen, die São Paulos Wachstum noch beschleunigten.17Joseph Love zufolge habe zum einen dem Bundesstaat São Paulo durch die Dezentralisierung der Staats- einnahmen mehr Geld zur Verfügung gestanden und das einen schnelleren Übergang zu kapitalistischen Produktionsweisen ermöglicht. Zum anderen ließen Paulistaner Eliten auf der föderalen Ebene den anderen Staats- gouverneuren eine relative Autonomie in ihren Staaten und verlangten im Gegenzug Gefolgschaft bei der Wahl von Präsidenten und anderen wichti- gen Ämterbesetzungen auf Bundesebene. Vor allem durch die Steuer- autonomie habe die ökonomisch aufstrebende Paulistaner kapitalistische Klasse Einnahmen für ihr weiteres Wachstum geschaffen.18Jüngste Studien zeigen allerdings auch, dass politisches Handeln in São Paulo zur Zeit der Ersten Republik nicht ausschließlich in der Hand oligarchischer Eliten lag, sondern eine heterogene Gruppe daran partizipierte, die aus Angehörigen einer aufstrebenden Mittelschicht auch aus kleineren Städten des Bundesstaates bestand.19Diese Entwicklungen riefen selbstverständlich starke regionale Identifikationen hervor und verlangten gerade bei dieser Gruppe und den Eliten im Kontext der allgemeinen nationalen Identitätensuche im postabolitionistischen Brasilien zum Ende des 19. und 16 W OODARD , A Place in Politics , S. 24. 17 Vgl. L OVE , Rio Grande do Sul , S. 109-135; W EINSTEIN , Barbara, Brazilian Region- alism, in: Latin American Research Review 17, 1982, Nr. 2, S. 262-276. 18 L OVE , Rio Grande do Sul , S. 109-135. Vgl. auch: W EINSTEIN , Brazilian Region- alism. 19 Vgl. W OODARD , A Place in Politics . 181 Region 181 Beginn des 20. Jahrhunderts zugleich nach einer historischen Legiti- mation.20 Der aus dieser Sinnsuche hervorgehende bandeirantes -Mythos blendete die Tatsache aus, dass der anfängliche Boom in großen Teilen auf Sklave- rei, also auf einem Beitrag afrikanischer und afro-brasilianischer Arbeits- kraft beruhte, so Weinstein: Paulistaner Pflanzer hätten afrikanische Skla- ven als faul und eine auf Sklaverei beruhende Plantagenwirtschaft als rückständig betrachtet.21Daraus hervorgegangen sei die Unterstützung der Abolition und vor allem die von der Provinz São Paulo ab 1884 subventio- nierte Förderung europäischer Einwanderung. Ende des 19. Jahrhunderts kamen allen voran Italiener, dann Spanier und Portugiesen nach São Paulo. Sie ersetzten die Sklaven auf den Plantagen als sogenannte colonos. 22Wenn für die ehemaligen Sklaven in diesem neuen Arbeitssystem noch Platz war, wurden sie marginalisiert und konnten sich höchstens als camaradas (Aushelfer) oder caipiras (Tagelöhner) verdingen. Viele zogen in die Städte, wo sie als Teil der urbanen Unterschicht ebenso erschwerten Zugang zu Lohnarbeit hatten wie auf dem Land.23 Die Paulistas führten die massive industrielle Entwicklung und Moderni- sierung nach 1889 also auf ein besonderes kulturelles Erbe zurück, das sie oftmals auch mit »rassischen« Unterschieden erklärten, wie Weinstein darlegt. Das Erbe der Sklaverei und die explizite, auf pseudo- wissenschaftlichen »Rassentheorien« beruhende Förderung europäischer Einwanderung blendeten die Paulistas ihr zufolge aus dieser historischen Meistererzählung aus.24 Die Cariocas sahen sich in einer ähnlichen und ebenfalls historisch legitimierten Rolle als Hauptstadt und kulturelles Zentrum Brasiliens.25Rio de Janeiro erlebte als Hauptstadt einen aufwühlenden und politisch, sozial und ökonomisch schwierigen Übergang von der Monarchie in die Re- 20 W EINSTEIN , Racializing Regional Difference, S. 243 ff. 21 Ebd., S. 244; D IES ., Developing Inequality. 22 Eine Form der Lohnarbeit mit Recht auf Gewinnbeteiligung oder Landnutzungs- rechten: Vgl. WOODARD, A Place in Politics , S. 25; LOVE, São Paulo , S. 8-16. 23 Ebd. Zur Marginalisierung von ehemaligen Sklaven: Vgl. A NDREWS , Black and White Workers. Zum Leben der Immigranten auf dem Land in São Paulo: HOLLOWAY, Thomas H., Immigrants on the Land: Coffee and Society in São Paulo, 1886-1934 , Chapel Hill 1980. 24 W EINSTEIN , Racializing Regional Difference, S. 249-251. 25 Vgl. G OMES , Ângela Maria do Castro, Essa gente do Rio… os intelectuais cariocas e o modernismo, in: Revista Estudos Históricos 6, 1993, Nr. 11: Os Anos 20, S. 64-77; Siehe auch: CARVALHO, The Force of Tradition. 182 182 Region publik.26Auch Rio de Janeiro zog Immigranten aus Europa und aus anderen Regionen Brasiliens an und erlebte ein industrielles Wachstum und die Herausbildung einer Mittelschicht im Handel und im Dienstleistungssek- tor.27Doch die Intellektuellen und auch die neue Mittelschicht São Paulos sahen in ihrer Stadt eine Überwindung und eine Distanznahme von Symbo- len und Traditionen, die man vor allem in der alten Hauptstadt Rio de Janeiro wirkmächtig sah, die man teilweise noch mit der Monarchie ver- band, mit der Rolle staatsnaher Eliten und Bürokratie.28 São Paulo mit seinem wirtschaftlichen und urbanen Wachstum, das Rio de Janeiro übertraf, wurde und wird eine »Sonderrolle« in dieser Zeit zuge- sprochen.29Die folgenden Ausführungen sollen selbstverständlich nicht dazu dienen, den Diskurs einer Paulistaner Überlegenheit historisch zu legitimieren. Im Gegenteil, sie sollen zu seinem weiteren Verständnis bei- tragen, indem hier die Rolle des Fußballs für diesen Regionaldiskurs ver- deutlicht wird. 3.1.1. »Pioniergeist« und »Überlegenheit« São Paulos im Fußball Paulistaner Eliten drückten auch über den Fußball Differenzierungen aus oder konstruierten sie. Fußball war damit Teil des Paulistaner Überlegen- heitsdiskurses in der Ersten Republik. Seine Funktion ging jedoch weit darüber hinaus, São Paulo nur gegenüber anderen Regionen als überlegen und fortschrittlich zu kennzeichnen. Fußball ist im größeren Kontext der Suche brasilianischer Eliten nach einem Platz im Reigen der als »zivili- siert« geltenden Nationen zu sehen. Entsprechend repräsentierten die Pau- listas São Paulo nicht nur in interregionalen Spielen als überlegen, auch bei internationalen Spielen gaben sie die Region als Repräsentant ganz Brasili- ens aus. São Paulo gab sich als Avantgarde des Fußballs und zugleich als Stellvertreter der gesamten Nation. Teilweise fügten sich die Cariocas dem Diskurs der Paulistas und er- kannten eine spieltechnische und auch kulturell begründete Überlegenheit São Paulos im Fußball an. Das lag auch daran, dass Paulistas ihren An- spruch aus konkreten Erfolgen speisten, für die gerade das Auftreten auf internationalem Parkett – also bei internationalen Sportveranstaltungen – eine bedeutende Rolle spielte. 26 Vgl. C ARVALHO , Os bestializados , S. 15-41. 27 Vgl. O WENSBY , Intimate Ironies. 28 Vgl. G OMES , Essa gente do Rio...; F ERREIRA , A epopéia bandeirante ; W EINSTEIN , Weiß, männlich, Mittelschicht. 29 Vgl. W OODARD , A Place in Politics, S. 5 ff. 183 Region 183 Rio de Janeiro und São Paulo waren im Untersuchungszeitraum die Sportzentren Brasiliens, auch wenn sich der Fußball in beiden Städten unter unterschiedlichen Bedingungen verbreitete.30Die unterschiedliche Sportausbreitung hing stark mit der jeweils spezifischen geografischen Entwicklung der beiden Städte im 19. Jahrhundert zusammen und insge- samt mit unterschiedlichen Ausgangslagen. Rio de Janeiro war als Haupt- stadt im Kaiserreich seit der Unabhängigkeit Brasiliens 1822, vor allem unter Dom Pedro II., Experimentierfeld für Kulturformen und -praktiken aus Europa.31Diesen Status erreichte São Paulo erst circa 30-40 Jahre später, als im Zusammenhang mit der prosperierenden Kaffeeökonomie Kapital in die Stadt kam und schließlich mit der Industrialisierung und gesellschaftlichen Ausdifferenzierung Anfang des 20. Jahrhunderts.32 Trotzdem konstruierten Paulistas sich als Pioniere auf dem Gebiet des Fußballs.33Tatsächlich fand hier wahrscheinlich das erste Spiel nach den Regeln der englischen FA statt, hier gründeten Immigranten und Brasilia- ner die ersten Klubs und organisierten sich in einer Liga und hier veran- stalteten Klubs die ersten internationalen Spiele.34 In Rio de Janeiro hingegen erreichte der Fußball mit seinen Vermittlern eine Stadt, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts schon eine ausgeprägte Sportkultur aufwies und in der eine Oberschicht lebte, die schon seit der Regentschaft des portugiesischen Exilkönigs Dom João VI. vor der Unabhängigkeit Brasiliens, und später durch Dom Pedro II. fortgeführt, mit europäischen Kulturpraktiken vertraut war.35Vor allem Rudern und Pferde- rennen erfreuten sich großer Beliebtheit bei den lokalen Eliten. Die ersten großen Sportklubs, die später auch Fußball anboten, gründeten Vertreter dieser beiden Sportarten (Flamengo und Vasco da Gama), außerdem Schwimmer, Radrennfahrer (América, Botafogo und Fluminense) oder Cricketspieler (Payssandu Cricket Club).36Wie Melo argumentiert, war der 30 Vgl. Kapitel 1 der vorliegenden Arbeit. 31 Vgl. C ARVALHO , Brazil 1870-1914; N EEDELL , The Domestic Civilizing Mission. 32 M ELO , Cidade esportiva , S. 23 f. Siehe etwa zur Rolle des Sports in São Paulo in den 1920er-Jahren: SEVCENKO, Orfeu extático , insbes. S. 43-73. 33 Vgl. F IGUEIREDO , História do Foot-Ball . 34 Vgl. Hans Nobiling an Paulo Varzea, 15.8.1907, IMS; C ARDIM , Resumo histórico da vida esportiva . 35 Vgl. N EEDELL , The Domestic Civilizing Mission; D ERS ., A Tropical Belle Epoque: Elite Culture and Society in Turn-of-the-Century Rio de Janeiro , New Rochelle u.a. 1987, S. 52-115. 36 Vgl. M ASCARENHAS , Gilmar de Jesus, O lugar e as redes: futebol e modernidade na cidade do Rio de Janeiro, in: Glaucio José MAROFON(Hg.), Estudos de geografia 184 184 Region Grund für die lokal spezifische Ausprägung einer vielseitigen Sportkultur unter anderem die geografische Lage Rio de Janeiros am Wasser.37Das prädestinierte die Stadt gerade für Formen des Wassersports. Es gab noch keine Hinweise darauf, dass Fußball einmal den Rang dieser Sportarten ablösen sollte.38 Auch die Reformen des Architekten Pereira Passos Anfang des 20. Jahr- hunderts, mit denen Rio de Janeiro nach dem Vorbild der Haussmannschen Reformen in Paris in eine Belle-Époque-Stadt umgestaltet werden sollte, führten zur Anlage weiterer für den Sport nutzbarer urbaner Räume. Die Sportkultur knüpfte, so Gilmar Mascarenhas, an das schon Dagewesene an.39Als der Fußball nach Rio de Janeiro kam, gab es also im Sinne Markovits u.a. schon eine »Sphäre etablierter institutioneller Interessen«.40 In São Paulo war die Sportentwicklung vergleichsweise noch jungfräu- lich und Immigranten und brasilianische Eliten hatten es einfacher, den Fußball dort schnell als wichtigste Sportart zu etablieren.41Der deutsche Immigrant Hans Nobiling, der 1897 nach São Paulo gekommen war, be- richtete 1907, »der hauptsächlich unter den Engländern und ihren Söhnen praktizierte Sport [sei] fast ausschließlich das Cricket-Spiel« gewesen. Auch in der deutschen Kolonie sei das Interesse für den Fußball gering gewesen, denn »niemand hatte dieses Spiel im Heimatland praktiziert. Gymnastik ja, aber Fußball spielen wollte niemand lernen […].«42Aller- dings berichtete Nobiling auch, er habe schnell interessierte Mitspieler aus den anderen (vor allem italienischen) Immigrantengemeinden gefunden, die das Spiel aus ihrer Heimat schon kannten. Die ersten Gegner waren brasilianische Schüler der Elite-Schule Mackenzie College, unter denen der Lehrer Augusto Shaw Begeisterung für Sport verbreitete. Shaw war 1898 aus den USA zurückgekehrt, von wo er vor allem Rugby und »bola ao cesto« (Basketball) mitbrachte, doch die Schüler interessierten sich stärker fluminense , Rio de Janeiro 2001, S. 127-142; Vgl. zu Rio de Janeiro als Sportstadt ab Mitte des 19. Jahrhunderts: MELO, Cidade esportiva . 37 M ELO , Cidade esportiva . Die ersten Sportzeitschriften, die Angehörige der Ober- schicht schon Ende des 19. Jahrhunderts gründeten, erwähnten Fußball mit keinem Wort und er war völlig nebensächlich. Sie deckten Pferderennen und Ruderregatten ab: Vgl. DERS., S. 190 f. 38 M ASCARENHAS , O lugar e as redes, S. 136 f. 39 Ebd. 40 M ARKOVITS u. a., Mapping Sports Space, S. 1471. 41 Vgl. M ASCARENHAS , Gilmar de Jesus, São Paulo: a cidade e o futebol, in: Educa- ción Física y Deportes , Revista Digital 8, 2007, Nr. 46, URL: http://www.efdeportes. com/Revista Digital (abgerufen am: 15.2.2012). 42 Hans Nobiling an Paulo Varzea, 15.8.1907, IMS, S. 2 f. 185 Region 185 für den Fußball, den sie bei einigen Spielen der britischen Klubs der Stadt gesehen hatten.43 In keiner anderen brasilianischen Stadt etablierte sich der Fußball so schnell. Nachdem er in der ersten Phase auf Elitevereine von Brasilianern (Mackenzie College, C. A. Paulistano) und Immigranten (S. C. Germânia, Internacional) beschränkt blieb, spielten ihn vor allem Arbeiter auf den Straßen, in den Arbeitervierteln, an Eisenbahnstrecken entlang, in Fabriken und an den bereits erwähnten Flussufern.44 Eine der ökonomisch bedeutendsten Familien São Paulos bot mit dem Velodrom, der zum ersten Fußballstadion São Paulos umfunktionierten Radrennhalle, die räumlichen Voraussetzungen für den frühen Fußball- boom. Die Prados waren Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die wichtigsten Förderer des Sports in São Paulo.45Mehrere Familienmitglie- der, so Antônio Prado, Plínio Prado und Martinho da Silva Prado, waren 1900 an der Gründung des Vereins C. A. Paulistano beteiligt, der später eine herausragende Rolle in der Verbreitung der über den Fußball konstru- ierten regionalen Identität spielen sollte. Vor allem Antônio Prado Júnior verkörperte den Pioniergeist des bandeirante -Mythos und erhielt für diese Rolle lokal große Anerkennung.46 Schon vor dem Ersten Weltkrieg fanden erste internationale Spielbegegnungen mit südamerikanischen und europäischen Mannschaften in beiden Städten statt. Mit seinem Ende nahmen diese Begegnungen zu. Im Hintergrund standen verbesserte Reisemöglichkeiten und außerdem gewannen Gegenüberstellungen nationaler Mannschaften im politischen Klima der Zwischenkriegszeit eine neue, politische Dimension.47Vor dem 43 C ARDIM , Resumo histórico da vida esportiva , S. 1. 44 Vgl. Kapitel 1.5, S. 91 der vorliegenden Arbeit. Zu den Fabrikklubs und der Ver- breitung entlang der Eisenbahnstrecken: ANTUNES, Futebol nas fábricas; BROWN/LANCI, A Transnational Investigation of Football. Ähnlich verlief auch die Ausbreitung in Buenos Aires, wie Frydenberg herausgearbeitet hat: Vgl. FRYDENBERG, Julio David, El espacio urbano y el inicio de la práctica masiva del fútbol. Buenos Aires 1900-1920, in: Boletín del Instituto Histórico de la Ciudad de Buenos Aires VIII, 1995, Nr. 14, S. 35- 48, hier 39 ff. 45 Vgl. zur Rolle der Prados im Aufstieg São Paulos insgesamt: L EVI , The Prados of São Paulo , 1987. Zur Rolle im Sport: »O Circuito de Itapecerica - Berço do Automobilismo Paulista«, OESP , 28.11.1952, CPJ Pacote 32 40, Pasta »Notas para o livro ›História dos Esportes em São Paulo‹«, SpUEB; Brief P. Luis, 14.4.1945, CPJ Pacote 32 40, Pasta »Notas para o livro ›História dos Esportes em São Paulo‹«. 46 Vgl. Kapitel 4.2, S. 276. 47 Vgl. A RNAUD , Pierre/James R IORDAN (Hg.), Sport and International Politics , Lon- don 1998. Zu den Reisemöglichkeiten: LANFRANCHIu. a., Moving with the Ball . 186 186 Region Ersten Weltkrieg hatten europäische Mannschaften vor allem als Lehr- meister der eigenen Stilentwicklung gedient. Sich an ihnen zu messen bedeutete von ihnen zu lernen. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs dien- ten die Begegnungen aber auch dazu, eigene Stärken festzustellen und zu beweisen und eigene Aneignungsformen zu demonstrieren. In welcher Form dies zugleich der Demonstration regionaler Stärke diente, soll auf den folgenden Seiten deutlich werden. 3.1.2. Internationale Lehrmeister Schon im Jahr 1914 wandelte sich ein zuvor ausgedrücktes Unterlegen- heitsgefühl Brasiliens bei internationalen Spielen: Die Vereine Fluminense F.C. und Payssandu aus Rio de Janeiro luden gemeinsam den englischen Profi-Klub Exeter City ein, der sich auf einer Tour durch Südamerika befand. Im Stadion von Fluminense fanden drei Spiele statt, einmal gegen eine Mannschaft aus in Rio de Janeiro ansässigen Briten, dann gegen eine lokale Carioca-Auswahl und gegen eine nationale Auswahl aus Spielern der beiden Städte Rio de Janeiro und São Paulo.48 Im Gegensatz zu den bis dahin bespielten britischen Klubs war Exeter City kein Amateurverein, sondern ein englischer Profiverein. Die Sport- presse erwartete eine Niederlage der Amateure aus Brasilien, denn wie ein Journalist in der Zeitung O Paiz argumentierte, verfügten die Spieler von Exeter City nicht nur über professionelle Erfahrung, hinzu komme auch, dass sie über die Kenntnisse der Regeln hinaus physisch äußerst stark seien und vom »jogo violento« (»gewaltvollen Spiel«) Gebrauch machen wür- den. Das hätten auch die schon ausgetragenen Spiele in Argentinien ge- zeigt, betonte der Autor. Den Profis fehle jedoch »Gewandtheit und Kühn- heit«, Eigenschaften, über die die Amateure aus Brasilien ihm zufolge verfügten. Trotz des zu erwartenden Erfolgs der Engländer bezeichnete die Sportpresse in ihren Vorberichten den englischen Klub nicht mehr wie zuvor internationale Teams nur als Vorbild und Lehrmeister. Im Gegenteil: In den detail- und auch kenntnisreicher gewordenen Analysen verbarg sich auch Kritik und eine positive Gegenüberstellung des Spiels der Brasilianer, in denen die Kritiker zum Beispiel die oben genannten Eigenschaften der »Gewandtheit und Kühnheit« herausstellten.49 48 »O Exeter City no Rio de Janeiro – O primeiro match na Capital da Republica«, OESP , 18.7.1914. Vgl. auch MASON, Passion of the People? , S. 21; PEREIRA, Foot- ballmania , S. 140 f. 49 »Football. O Exeter City Club de proffissionaes da liga sul de Inglaterra chegou hontem a esta capital, onda [sic!] disputará tres sensacionaes matches, contra os scrat- 187 Region 187 Dabei endeten die ersten beiden von drei Spielen erwartungsgemäß und das Team von Exeter City ging jeweils als Sieger hervor. Diese Logik kehrte sich mit dem dritten Spiel am 21.7.1914 um. Es war das erste Mal, dass eine »nationale« Auswahl von Spielern aus Rio de Janeiro und São Paulo gegen ein ausländisches Team antrat. Das Stadion des Klub Fluminense in der Rua Guanabara war mit 5.000 Besuchern bis auf den letzten Platz belegt, und, so der Autor des Spielberichtes am nächsten Tag in Correio da Manhã , nicht einer der Zuschauer habe mit einem Sieg der nationalen Auswahl über die englischen Profis gerechnet.50Entsprechend groß war der Enthusiasmus der Zuschauer im Stadion und auf den Straßen nach dem sensationellen 2:0-Sieg. Die Sportpresse beider Städte sah in dem Erfolg einen Triumph patriotischer Geschlossenheit und Einheit der beiden Sportzentren Rio de Janeiro und São Paulo.51 Und nun änderte sich erst recht der Ton der Berichterstattung: Vor der Ankunft und nach dem ersten Spiel beschrieb die Presse die Spieler von Exeter City in einem bewundernden und eher unterwürfigen Tonfall. Im Verlauf der Turniere kritisierte sie sie offen für ihr äußerst brutales Spiel, wie schon nach dem zweiten Spiel deutlich wurde: In der zweiten Halbzeit war das Spiel vor allem ein Kampf von Amateu- ren der Foot-Ball Association gegen eine Gruppe von starken Männern, die seit langem in der professionellen Ausübung eines Spiels geübt sind, das mit dem der Football Association identisch ist und in dem allerdings alle möglichen Arten schändlicher ›Tricks‹ erlaubt sind.52 Der Schiedsrichter, so urteilte ein Journalist in der Tageszeitung Correio da Manhã , habe im dritten Spiel gegen die Nationalauswahl über viele ches dos inglezes, brazileiros e cariocas – São Paulo escusou-se de fornecer seus joga- dores para a formação dos scratches – Retrospecto dos matches do Exeter na Argentina – Biographia de seus pleyers [sic!]«, O Paiz , 18.7.1914, S. 5.; »O Exeter vence ao scratch carioca por 5x3«, O Paiz , 20.7.1914. 50 »Um grande acontecimento sportivo. Os brasileiros derrotam brilhantemente os afamados profissionaes do Exeter City, marcando dois bellos ›goals‹ a zero«, Correio da Manhã , 22.7.1914, S. 3. Das geht auch aus dem Spielbericht über das vorange- gangene Spiel von Exeter City gegen eine Auswahl aus cariocas hervor: »O Exeter City vence com serias difficuldade os ›scratch‹ carioca pelo score de 5 a 3«, Correio da Manhã , 20.7.1914, S. 8. 51 »A grande prova internacional contra o Exeter City«, Correio da Manhã, 25.7.1914; »O ›match‹ do Rio com os inglezes«, A Gazeta , Nr. 2531, 23.7.1914, S. 1. 52 »O Exeter vence ao scratch carioca por 5x3«, O Paiz , 20.7.1914. Vgl. auch: »O Exeter no Rio – Os profissionaes inglezes batem os cariocas por 5 a 3«, OESP , 21.7.1914. 188 188 Region schwere Fouls der englischen Spieler hinweggesehen, insgesamt hätten die Gegner äußerst unfair gespielt.53 Auch die Paulistaner A Gazeta beschrieb das Spiel gegen den Profi-Klub im Nachhinein als äußerst brutal. Mehrere Spieler, so der Mittelfeldspieler Sylvio Lagreca, wurden verletzt, es kam zu Tumulten auf dem Spielfeld, weil die Engländer das Spiel aus Unzufriedenheit mit einer Schiedsrichter- entscheidung unterbrachen.54Auch Jahre später erinnerten sich Spieler besonders an diese Begegnung, beschrieben den Sieg der brasilianischen Mannschaft als hart erkämpften Triumph und hoben hervor, wie die Men- schen auf den Straßen in Rio de Janeiro die Spieler auf Grund des überra- schenden Sieges als Helden feierten.55 Die Presse stellte zugleich heraus, der Vergleich mit einem brutalen und starken ausländischen Team habe den brasilianischen Fußball vereint. Den Sieg interpretierte sie auch als Triumph über regionalistische Differenzen und Auseinandersetzungen. Es war Konsens in der Sportpresse, dass ein Team mit Spielern aus beiden Städten schon eine nationale Auswahl reprä- sentiere. Dass vier Spieler aus São Paulo teilnahmen, sah die Sportpresse als bedeutende Annäherung zwischen den beiden Bundesstaaten Rio de Janeiro und São Paulo in der brasilianischen Föderation. Die in der Organi- sation des nationalen Sportes bestehenden Rivalitäten und Konflikte könn- ten überwunden werden. Auch die beim Publikum entstehenden patrioti- schen Gefühle bei internationalen Spielen könnten dazu beitragen, eine Einheit zu schaffen. Das projizierte die Zeitung Correio da Manhã schon vor dem Spiel in das Vorhaben hinein, eine brasilianische Auswahl zu- sammenzustellen: Die Bedeutung dieses Vorhabens, das zu Ende gebracht werden soll, kann nicht geleugnet werden. Es repräsentiert eine weitere Verbindung in den wirklich freundschaftlichen Beziehungen der beiden Institutionen, eine Verbindung, die sich in der Einheit der gemeinsamen Interessen und Ideale der beiden sich schnell entwickelnden Staaten der brasiliani- schen Föderation widerspiegelt. Es repräsentiert eine weitere Eroberung auf dem Weg, die übertriebenen Einflüsse des Lokalpatriotismus 53 »Um grande acontecimento sportivo. Os brasileiros derrotam brilhantemente os afamados profissionaes do Exeter City, marcando dois bellos ›goals‹ a zero«, Correio da Manhã , 22.7.1914, S. 3. 54 »O ›match‹ do Rio com os inglezes«, A Gazeta , Nr. 2531, 23.7.1914, S. 1. 55 »Campeões e Veteranos III Francisco do Nascimento Pinto. A scisão na Liga Paulista - O Smocking influiu no Campeonato Sul-Americano de 1916 - Os torcedores sulinos sao justiceiros- Um aviador que não vóa… - ›Os brasileiros‹«, A Gazeta , 15.3.1928. 189 Region 189 [bairrismo] zwischen uns auszuräumen und unseren Mannschaften einen brasilianischen Charakter zu verleihen, nicht als lokale Organisationen, Cariocas oder Paulistas, die sich um die besten oder schlechtesten Er- gebnisse des ›score‹ in internationalen Kämpfen messen wollen, sondern als Repräsentanten der Kräfte Brasiliens. Paulistas und Cariocas werden brüderlich in einer Gruppe vereint sein, über der der Geist des Patriotis- mus schwebt, die einer Körperschaft des Sportes untergeordnet ist, trotz der lokalen Parteilichkeiten.56 Paulistas und Cariocas fühlten sich in diesem Moment über den Enthusias- mus für ihre gemeinsame Mannschaft miteinander verbunden. Das Ideal der alle Rivalitäten überwindenden patriotischen Einheit durch ein gemein- sames sportliches Vorhaben konnte jedoch nur kurzfristig über die Fixie- rung auf einen gemeinsamen Gegner erreicht werden. Zugleich hatten internationale Spiele, organisiert durch lokale Klubs oder Ligen und abgehalten in örtlichen Stadien, eine weitaus größere Be- deutung für die lokale Sportgemeinschaft als zum Beispiel ein internatio- nales Spiel, das in der entfernten Nachbarstadt stattfand. Zumindest geht dies aus der Art und Weise hervor, wie die Presse ein solches Ereignis abdeckte – sie maß einem lokalen internationalen Sportereignis mehr Auf- merksamkeit bei. Während die Sportpresse in Rio de Janeiro noch den ersten Triumph einer »nationalen« Auswahl über ein ausländisches Team feierte, bereitete in São Paulo die lokale Liga APSA den Empfang einer italienischen Nationalauswahl, zusammengestellt vom italienischen Fuß- ballverband, für Anfang August 1914 vor. Die mit der APSA rivalisierende lokale Liga LPF lud fast zeitgleich den italienischen Klub Torino F.C. ein.57 Beide italienischen Amateurteams sollten gegen verschiedene lokale Eliteklubs spielen. Die Vorbereitungen und die Begegnungen selbst nah- men in der Sportpresse einen weitaus größeren Platz ein als die Spiele gegen Exeter City in Rio de Janeiro. Der Besuch von Fußballern aus dem Land, aus dem ein Großteil der europäischen Einwanderer in São Paulo stammte, war eben von größerem Interesse. 56 »Foot-Ball. A Proxima Vinda do ›Exeter City‹. Os paulistas formarão comnosco os ›teams‹ de brasileiros e de inglezes?«, Correio da Manhã , 11.7.1914, S. 6. 57 »Foot-Ball. A Proxima Chegada dos Foot-Ballers Italianos a São Paulo – O Programma das Festas que a A.P.S.A. prepara aos seus hospedes – ›Garden-Party‹ e Picnic – Hockey – Os ›scratches‹ paulistas«, OESP , 29.7.1914, S. 8; »Italia vs. Brasil«, Gazeta de Notícias , 2.8.1914. 190 190 Region Die Sache war lokalen Eliten sogar so wichtig, dass die APSA die Reise der »squadra rappresentativa nazionale« mit 20.000 ital. Lira unterstützte.58 Nach mehreren erfolglosen Versuchen war der Besuch das Ergebnis direk- ter Verhandlungen zwischen Vertretern der Lokalligen und italienischen Fußballfunktionären und Politikern. So waren an der Vermittlung auf italie- nischer Seite der italienische Generalkonsul in São Paulo, Pietro Baroli, der italienische Parlamentsabgeordnete und Vorsitzende des italienischen Fuß- ballverbandes, Carlo Montu, und der italienische Nationaltrainer und ehe- malige Fußballspieler Giuseppe Milano beteiligt. Auf Paulistaner Seite standen die Vorsitzenden der APSA und Mitglieder der Elite-Klubs Paulistano, Internacional und Palmeiras, Almeida Prado, Mário Cardim, Luiz Fonseca, Henrique Vanordem und Enrico Misasi. Anlässlich der Spiele organisierten die Veranstalter mehrere private und staatliche Emp- fänge. Dazu luden sie den Vizepräsidenten des Staates von São Paulo, die Sekretäre für Justiz und Landwirtschaft, für Inneres, Finanzen, den Bürger- meister von São Paulo, die Mitglieder des Abgeordnetenhauses der Stadt und des Staates und den Präsidenten des Justizgerichtes, den italienischen Konsul und weitere wichtige politische Persönlichkeiten ein.59 São Paulo hatte in den vorangegangen Jahren eine hohe Zuwanderung aus Italien, von den Einwanderern hatten einige inzwischen hohe Posten in Wirtschaft und Politik besetzt und damit einen nicht zu unterschätzenden Anteil am Wandel São Paulos zum wirtschaftlichen Zentrum Brasiliens.60 Die Bedeutung des ersten Spiels gegen ein nicht-britisches, europäisches Team – auch außerhalb der italienischen Community – drückte ein Journa- list der Zeitung O Estado de São Paulo aus, der im ersten Teil seines Arti- kels den Fortschritt São Paulos mit der Entwicklung der Leibesertüchtigung in São Paulo in Verbindung brachte. Gerade der internationale Austausch und die Besuche ausländischer Vereine leisteten hier einen wichtigen Beitrag. Ausdrücklich führte er São Paulos Überlegenheit auf eine spezi- fische Offenheit, Metropolitanität und vor allem auf den internationalen Austausch São Paulos zurück: 58 »Matches internacionaes – Italia versus Brasil«, OESP , 19.7.1914. 59 Vgl »Os Foot-ballers italianos em São Paulo - Convites – Os festejos«, OESP , 31.7.1914. 60 Vgl. C ARELLI , Mario, Carcamanos e comendadores: os italianos de São Paulo: da realidade à ficção, 1919-1930 , São Paulo 1985, S. 22-26; HOLLOWAY, Immigrants on the Land , S. 35-69. Zur Bedeutung des Fußballs für die Aushandlung ethnischer Identität der italienischen Immigranten-Community in São Paulo siehe etwa: ARAÚJO, Imigração e futebol ; BOCKETTI, Italian Immigrants. 191 Region 191 Ein erreichter Fortschritt São Paulos ist es, trotz zeitweiser Schwächen in Sachen Leibeserziehung immer weiter voranzukommen. […] Wir wurden schon einige Male durch Besuche von englischen, argentini- schen und uruguayischen Teams geehrt und jedes Mal vergewissern wir uns stärker, welchen Beitrag diese sportlichen Kämpfe leisten, sowohl zu unserem Fortschritt im Sport an sich als auch zu den heilsamen Fol- gen, die sich für die existierenden Beziehungen zwischen den in diesen Kämpfen repräsentierten Nationalitäten ergeben. 61 Und er betonte diesen Überlegenheitsanspruch São Paulos und knüpfte an den Diskurs des embranquecimento an, indem er von der Paulistaner Bevölkerung als raça sprach und hier den Beitrag europäischer Einwande- rung hervorhob: Von den Ländern, die am ehesten unsere Sympathien verdienen, über- trifft mit Sicherheit keines Italien, die Nation aus der zu uns mit der Energie und dem Geschick seiner Söhne die größten Beiträge zu unserer ökonomischen Entwicklung kamen. […] São Paulo applaudiert den jun- gen Italienern und Repräsentanten der gemeinsamen Traditionen unserer Rasse, und dem Neuen Italien, aus dem mit den Kenntnissen seiner mächtigen Mentalität und mit der Arbeit seiner Söhne so viele Bestand- teile des Friedens, des Fortschritts und der Freundschaft nach Brasilien kamen. Die Presse und auch die Organisatoren sprachen den Sportereignissen eine Integrationswirkung für die große italienische Community in São Paulo zu. Die Spiele symbolisierten in den Augen des obigen Betrachters, dass das fortschrittliche, moderne São Paulo der Gegenwart ohne den Beitrag der Italiener nicht denkbar war. Die Besuche und die Spiele gegen die italienische squadra und gegen den Verein Torino F.C. organisierten die jeweiligen Veranstalter wie Staatsakte. Eine offizielle Empfangsdelegation des Lokalverbandes be- grüßte die italienische Reisedelegation der squadra im Hafen von Rio de Janeiro. Neben den Spielen organisierte sie Ausflüge, zum Beispiel zu verschiedenen Kaffeeplantagen in Rio Claro und Piracicaba und zum Elekt- rizitätswerk der Firma Central Electric Rio Claro .62Ähnlich waren der 61 »Football. Os italianos em São Paulo«, OESP , 2.8.1914. 62 Vgl. »Os Foot-ballers italianos em São Paulo - Convites – Os festejos«, OESP , 31.7.1914. 192 192 Region Empfang und die Gestaltung des Aufenthaltes für den Torino F.C.63Es galt, São Paulo als aufsteigendes Wirtschaftszentrum zu zeigen. Die Orga- nisatoren vermittelten, dass der wirtschaftliche Erfolg São Paulos das Resultat einer erfolgreichen Einwanderungspolitik sei und betonten damit zugleich, wie stark São Paulos Werdegang zur Stadt des Fortschritts im Selbstverständnis lokaler Eliten auf dem Beitrag italienischer Einwanderer beruhte. Dass die Besuche tatsächlich eine Integrationswirkung für die italieni- sche Community in São Paulo hatten, zeigte sich vor allem in ihren Nach- wirkungen: Einige Mitglieder gründeten kurz darauf den italienischen Klub Società Sportiva Palestra Italia, der zu einem der wichtigsten Vereine São Paulos aufstieg.64Wie aus den Statuten hervorgeht, maßen die Gründer der ethnischen Herkunft, einer allen Italienern unabhängig von der regionalen Herkunft gemeinsamen »italianidade«, hohe Bedeutung zu. Zugleich for- mulierten sie die Absicht, über den Fußball Italiener und Nachkommen italienischer Einwanderer in São Paulo in die »Mehrheitsgesellschaft« zu integrieren: Der Palestra ITALIA [Hervorh. im Original] hat weder politischen noch religiösen Charakter, und auch wenn er beabsichtigt, den Geist der italianidade hoch zu halten, der in seinem eigenen Namen liegt und ein Ziel seiner Gründung ist, hat er doch kein nationalistisches Anliegen, sondern versucht nur, die italienische Abstammung am Leben und die Verehrung der Heimat der Herkunft geeint mit der Liebe und dem Res- pekt für die adoptierte Heimat zu erhalten.65 In Artikel 2 der Statuten formulierten sie als Hauptziel des Klubs, »seine Mitarbeit an allen Initiativen des Lebens der Stadt zu bekunden, die als Ziel haben, die Leibeserziehung der Jugend zu entwickeln und zu verbessern und so auf dem sportlichen Gebiet zur Einheit zwischen Italienern und Brasilianern beizutragen […]«.66Leibesertüchtigung und Sport erwähnten die Statuten als besondere Möglichkeit, ja als Sprachersatz, um Italiener und Brasilianer einander näherzubringen, um Italiener in Brasilien zu integ- 63 Vgl. »Foot-ball. Os italianos em São Paulo – Visitas aos Membros do governo e ao prefeito Municipal – a taça ›Sindaco‹ de Torino - visitas«, OESP , 8.8.1914, »Foot-ball. Liga Paulista de Foot-ball – Os italianos em São Paulo«, OESP , 22.8.1914. 64 Vgl. F IGUEIREDO , História do Foot-Ball , S. 95 f.; Vgl. A RAÚJO , Imigração e futebol . 65 Statuten des Vereins Palestra Italia, »Sociedade Palestra Italia«, 15.12.1914, Sociedade Civil nº 440 A, Artikel 3, APESP. 66 Ebd., Artikel 2. 193 Region 193 rieren und um überhaupt unter den Italienern in São Paulo einen Sinn für eine gemeinsame ethnische Herkunft zu erzeugen.67Die italienische Gemeinschaft in São Paulo war seit dem Beginn ihrer massenhaften Einwanderung laut Gregg Bocketti sehr heterogen, es hätten zahlreiche Vereine und Zeitungen existiert. Sie habe keine starke gemeinsame ethni- sche Identität aufgewiesen. Ein Klub wie Palestra Itália wollte hier anset- zen: Er wollte den Klub in die Mehrheitsgesellschaft integrieren und zu- gleich eine gemeinsame Ethnizität fördern.68 Der Historiker Gregg Bocketti hat die Genealogie des Vereins Palestra Itália im frühen brasilianischen Fußball als einen Fall der Konstruktion ethnischer Identität italienischer Immigranten in Brasilien und damit als Beziehung zwischen brasilianischer und italienischer Identität interpre- tiert.69Es ist aber hervorzuheben, dass die Konstruktion einer brasilianisch- italienischen Identität von der Seite Paulistaner Eliten als Beitrag zu einer brasilianischen Identität unter Paulistaner Vorzeichen interpretiert wurde, die auch dazu dienen konnte, den Überlegenheitsanspruch der Paulistas in Brasilien zu zementieren. Internationale Fußballbegegnungen haben nicht automatisch nationale Einheit bestärkt, auch wenn sie mit diesem Ziel veranstaltet wurden. Sie konnten gerade auch divergierende Interpretationen des Nationalen und regionale Überlegenheitsansprüche freilegen und forcieren. Es zeigt sich, dass der internationale Fußball nicht nur dazu diente, nationale Differen- zierungen zu bestärken, er beförderte auch regionale Unterscheidungen in- nerhalb einer Nation. Aus ihm bezogen Paulistaner Sporteliten ihr Überle- genheitsgefühl gegenüber anderen Räumen in Brasilien, das in ihren Augen auf dem spezifischen Beitrag europäischer Einwanderer und auf Begeg- nungen brasilianischer Fußballer mit europäischen Mannschaften beruhte, die andere Staaten und Städte so nicht aufweisen konnten. Das gipfelte in dem Anspruch, für ganz Brasilien ein Ausstrahlungszentrum für Fußball- kultur zu sein. 3.1.3. Rio de Janeiros administrative Überlegenheit: Die Gründung der CBD Die regionale Rivalität zwischen Rio de Janeiro und São Paulo und der Überlegenheitsanspruch São Paulos bildete sich auch in der Herausbildung eines nationalen Sportverbandes ab. Hier hatte die Fußballinternationalisie- 67 B OCKETTI , Italian Immigrants, S. 283-288. 68 Ebd., S. 285. 69 Ebd. 194 194 Region rung tatsächlich eine vereinheitlichende Wirkung. Diese bedurfte in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts der Einrichtung unabhängi- ger, unparteiischer Organe, die die Regeln bei internationalen Wettbewer- ben überwachen und interpretieren konnten, so Eisenberg. Vereinsvor- sitzende europäischer Klubs gründeten 1904 die FIFA mit dem Ziel die nationalen Fußballverbände zu integrieren und zukünftig einen internatio- nalen Wettbewerb zu etablieren.70Von Beginn an funktionierte die FIFA nach dem Prinzip »ein Land, eine Stimme«, sie setzte bald den National- staat als globalen Normalfall staatlicher Organisation voraus.71Unter die- sem Motto griff sie, so legt Eisenberg dar, direkt in sportpolitische Belange der Mitgliedsländer ein, in denen konkurrierende Sportverbände existierten, und übte so eine uniformierende Kraft aus.72Die Tendenz zur Vereinheitli- chung der transnationalen Organisationsbildung wurde auch in den Bestre- bungen der Schaffung eines nationalen Sportverbandes in Brasilien deut- lich. Die Einrichtung übergeordneter Regulationsinstitutionen im internatio- nalen Fußball hatte Regionalisierungseffekte. Gerade der Erste Weltkrieg, durch den die internationalen Sportbeziehungen in Europa kurzfristig un- terbrochen waren, verstärkte diese Tendenz. In mehreren Regionen auf der Welt entstanden regionale Sportverbände, die Funktionen supranationaler Regulation übernahmen und internationale Wettbewerbe ausrichteten, so in Mitteleuropa, aber auch in Südamerika.73 1916 wollten die Nationalverbände Argentiniens (gegründet 1893) und Uruguays (gegründet 1900) anlässlich der Unabhängigkeitsfeiern in Argen- tinien im gleichen Jahr eine südamerikanische Meisterschaft durchführen, organisiert durch einen südamerikanischen Regionalverband. Damit Brasi- lien teilnehmen könne, so führt Carlos Sarmento aus, verlangten sie die Bewerbung durch ein offizielles, die gesamte Nation repräsentierendes Team, vertreten durch einen nationalen Verband. In São Paulo und Rio de Janeiro hatten allerdings Sportfunktionäre jeweils eigene Verbände gegrün- det, mit der Absicht, den nationalen Sport nach außen zu repräsentieren.74 In São Paulo war es die LPF unter Mário Cardim, die 1915 den Fußball- 70 E ISENBERG , Der Weltfußballverband FIFA, S. 209-211; K EYS , Globalizing Sport , S. 50-51. Trotz ihres globalen Anspruchs blieb die FIFA bis nach dem Zweiten Weltkrieg eine europäische Organisation: Vgl. EISENBERG, Fußball als globales Phäno- men, S. 12. 71 E ISENBERG , Der Weltfußballverband FIFA, S. 222-227, insbesondere S. 223. 72 Vgl. ebd., S. 209-214; K EYS , Globalizing Sport , S. 43-56. 73 Vgl. E ISENBERG , Der Weltfußballverband FIFA. 74 S ARMENTO , A regra do jogo , S. 4-22. 195 Region 195 verband Federação Brasileira de Futebol (FBF) gründete. Cardim, der gute Kontakte zum argentinischen und uruguayischen Fußball hatte, erhielt bald die offizielle Anerkennung der Sportverbände in Argentinien und Uruguay und reichte ein Anerkennungsgesuch bei der FIFA ein.75 In Rio de Janeiro etablierte Álvaro Zamith, der Präsident des lokalen Sportverbandes Liga Metropolitana , die Federação Brasileira dos Esportes (FBE) und ein Nationales Olympisches Komitee. Unabhängig von Mário Cardim schickte auch dieser Verband ein Anerkennungsgesuch an die FIFA. Zamith konnte sich, so Sarmento, auf eine größere Unterstützung regionaler Sportfunktionäre aus anderen Staaten Brasiliens und des Paulistaner Lokalverbands APEA verlassen, der zu dieser Zeit mit der LPF konkurrierte. Zamith befürchtete jedoch, die FIFA könnte die FBF bevor- zugen, da die FIFA explizit nationale Verbände förderte, die ausschließlich die Sportart Fußball vertraten.76 Sarmento zufolge hatten beide Versuche jedoch keinen Erfolg, da die FIFA vermutlich wegen des Kriegsgeschehens nicht reagierte, möglicher- weise aber auch, um zu verstehen zu geben, dass die beiden regionalen Verbände sich erst einmal einig werden sollten. Trotz monatelanger Ver- suche vor allem Cardims, die FBE mit Hilfe argentinischer Unterstützung als alleinigen Verband zu positionieren, scheiterte er mit seiner Strategie, internationalen Druck auszuüben. Die argentinischen und uruguayischen Sportverbände drängten nun ebenfalls verstärkt, damit sich die regionalen Verbände untereinander einigten.77Weil die Teilnahme Brasiliens an dem Turnier 1916 auch für die brasilianische Regierung aus diplomatischer Sicht äußerst wichtig war, griff das Außenministerium ein und leitete die Verhandlungen zwischen den beiden Konkurrenten. Im Juni 1916 einigten sich die Sportfunktionäre der unterschiedlichen Parteien, verzichteten auf ihre regionalen Vorhaben und gründeten zusammen die Confederação Brasileira de Desportos (CBD). Kurz darauf folgte die Anerkennung durch Argentinien und Uruguay und die FIFA.78 Der Zusammenschluss befriedete die Rivalität keineswegs. Das lag da- ran, dass die Sportfunktionäre des Carioca-Sportverbandes stimmlich und personell die Oberhand in der CBD behielten und durch den Sitz in der 75 Ebd., S. 8. und 11-12. 76 Ebd. Zum Verhalten der FIFA in dieser Hinsicht siehe E ISENBERG , Der Weltfuß- ballverband FIFA. 77 Vgl. ausführliche Darstellung des Prozesses bei: S ARMENTO , A regra do jogo , S. 4-22. 78 Ebd., S. 4-22. 196 196 Region Hauptstadt zudem auch der Unterstützung der Regierung sicher waren. Währenddessen waren sich die Paulistas – ermutigt durch etliche interna- tionale Erfolge – immer sicherer, sie seien die wahren Repräsentanten des nationalen Fußballs, obwohl sie die Kontrolle über eine formelle Institution ihren Rivalen überlassen mussten. Mit der Einrichtung eines Campeonato Sul-Americano hatte die CBD jährlich nationale Mannschaften aufzustellen. Ihre Auswahl rief regelmäßig Konflikte zwischen den rivalisierenden lokalen Verbänden hervor, denn die CBD bevorzugte angeblich lokale Spieler gegenüber den Paulistas.79Der institutionelle Konflikt, der auf den ersten Blick als regionale Rivalität erscheint, entlud sich auch in den Folgejahren vor einem internationalen Hintergrund. 3.2. K ONKURRIERENDE REGIONALE I NSZENIERUNGEN Die Verhandlungen um die Gründung eines nationalen Sport- oder Fußball- verbandes verdeutlichen die uniformierende Kraft übergeordneter transna- tionaler Zusammenschlüsse im Sport für rivalisierende Organisationen auf nationaler Ebene, auf die Christiane Eisenberg mehrfach hingewiesen hat. Es existierte hingegen nicht nur eine »Interaktion zwischen sportlichem Internationalismus und Nationalismus«80, sondern auch zwischen sport- lichem Internationalismus und Regionalismus. Das demonstrieren die Aus- einandersetzungen zwischen Rio de Janeiro und São Paulo um sportliche Inszenierungen81der Nation vor einem internationalen Publikum, wie vor dem belgischen König Albert im Jahr 1920 (Kapitel 3.2.1) und im Kontext der regionalen Olympischen Spiele oder die Diskussionen um die Feiern des Centenário de Independência 1922 (Kapitel 3.2.2), für die auch Sport bzw. Fußball eine Rolle spielen sollten. Dafür spricht auch ein insgesamt durch Paulistas aus Fußballerfolgen abgeleitetes regionales und »rassi- sches« Menschenbild (Kapitel 3.2.3). 79 Vgl. ebd; P EREIRA , Footballmania , S. 137-150. 80 E ISENBERG , The Rise of Internationalism in Sport, S. 402. 81 Der Begriff der Inszenierung wird hier im Sinne jüngster historischer Performanzstudien verwendet. Auch die hier thematisierten Inszenierungen sind meines Erachtens Beispiele, »die verdeutlichen, dass sich moderne, vermeintlich sprach- und textbasierte Gesellschaften in hohem Maße in Performances, Aufführungen, Inszenie- rungen und Ritualen verständigen, sich in derartigen Akten ihrer selbst versichern und ihre Wertordnungen schaffen«: MARTSCHUKAT/PATZOLD, Geschichtswissenschaft und »performative turn«, S. 2. 197 Region 197 3.2.1. Die Inszenierung der Nation als Konflikt zwischen Rio de Janeiro und São Paulo 35.000 Zuschauer versammelten sich am 26. September 1920 zu einem Fußballspiel im Stadion des Elite-Fußballklubs Fluminense F.C. in Rio de Janeiro. Die Zeitungen berichteten von einem Spiel mit nie da gewesener Bedeutung – und das, obwohl nur zwei lokale Mannschaften gegeneinander antraten. Einen solchen Publikumsandrang erlebten in dieser Zeit normaler- weise nur internationale Spiele. Die Begegnung rief ein besonderes Interesse hervor, weil es sich um den wichtigsten zeremoniellen Teil der Sportfeste handelte, die die Stadt zu Ehren des belgischen Königspaares veranstaltete. König Albert und seine Frau Elisabeth befanden sich seit dem 19. September zu einem mehrwöchi- gen Staatsbesuch in Brasilien. Er war im Jahr 1920 für die brasilianische Regierung eines der herausragenden öffentlichen Ereignisse: Für kurze Zeit blickte Europa auf die Hauptstadt der brasilianischen Nation.82Mehrere Monate zuvor hatte sie begonnen, alle möglichen Vorkehrungen zu treffen, ein möglichst ansprechendes Bild der Stadt zu zeigen: Gebäude waren saniert, Straßen gepflastert, elektrisches Licht installiert worden. Dabei profitierte vor allem die sowieso schon privilegierte Südzone der Stadt von den Reformen.83 Der Autor eines Leitartikels auf der Titelseite der Zeitung O Paiz be- schrieb eindrücklich die Bedeutung der im Rahmen des Besuches organi- sierten Sportfeste und verwies auf die Funktion des Fußballstadions als Ort einer patriotischen Inszenierung vor dem belgischen Königspaar. Er stellte eine historische Kontinuität zu dem Campeonato Sul-Americano von 1919 in Rio de Janeiro her und stufte das aktuelle Spiel als nationale Tradition ein, in der eine Geschichte nationaler sportlicher Ereignisse fortgesetzt werde, die schon vor dem Königsbesuch begonnen habe: 82 Vgl. »Foot-Ball. A Grande Parada Sportiva de Amanha em Homenagem ao Rei Alberto da Belgica. O Match de foot-ball entre os scratches norte e sul – Os preparativos em torno da revista sportiva – Outras notas«, O Paiz , 25.9.1920; »A Apotheose Sportiva de Hoje em Homenagem a S.S.M.M. os Reis da Belgica. O Brasil de amanhã desfilará hoje diante dos soberanos da Belgica - O Rei Alberto dará o ›kick- off‹ no match entre os ›scratches‹ Norte e Sul - Outras Notas«, O Paiz , 26.9.1920; »A Imponente Parada Sportiva em Homenagem a S.S.M.M. os Reis da Belgica. A Victoria do scratch Sul pelo score de 4x1 – Outras notas«, O Paiz , 27.9.1920. Für eine ausführli- che Beschreibung des Besuches als Fußballereignis: Vgl. Pereira, S. 154-157. 83 Vgl. C AULFIELD , Sueann, Em defesa da honra: moralidade, modernidade e nação no Rio de Janeiro (1918-1940) , Campinas 2005, S. 112-115. 198 198 Region Das Stadion, das Theater herrlicher Nachmittage der Emotionen gewe- sen ist und in dem schon einige Male der sportliche Name Brasiliens im Spiel war, wie im vergangenen Jahr anlässlich des Wettstreits der Süd- amerikanischen Meisterschaft, wird heute zu klein sein, um das hinein- strömende Publikum zu fassen, das dort ein ums andere Mal unseren sportsmen seine Wertschätzung und Ehrung bekundet. Es sind ohrenbetäubende Bekundungen, die von den Zuschauerrängen und von anderen Teilen kommen, in einem Regen von Applaus und Jubel. Und indem wir dieses Ereignis aufzeichnen, das wohl ohne Übertreibung als atemberaubend eingeschätzt werden kann mit der Sicherheit, dass es weniger ein Fest als vielmehr eine sportliche Apotheose zu Ehren der belgischen Regierenden ist, nutzen wir die Gelegenheit, um einige Grußworte an die Geehrten zu senden, die Gäste der brasilianischen Volkes sind […].84 Am Austragungsort war zu Ehren des belgischen Königs eine Parade von Athleten verschiedener Vereine der Stadt geplant und danach das erwähnte Fußballspiel zwischen zwei lokalen Teams. Die Zeitung O Paiz beschrieb die Bedeutung dieses Ereignisses und drückte darin vor allem die herausra- gende Möglichkeit aus, ein junges und modernes Brasilien zu inszenieren: Keine Gelegenheit ist so geeignet für eine Vorführung dessen, was wir repräsentieren, als stattlicher Ausdruck dessen, was wir sind, wie der Sport; dessen was wir darstellen, wie die Leibeserziehung; des Talentes und der Energie einer Rasse, die unerschrocken auf ihre Bestimmung ei- nes triumphalen Ziels zuschreitet, das noch kaum entworfen ist, das blü- hend und vielversprechend ist, wie die so sympathische und edle Idee der Athletikparade am Sonntag, in Ehre der jugendlichen und helden- haften Energie des großen Athletenkönigs, der der belgische Souverän ist, der uns nun mit seinem Besuch ehrt.85 Das brasilianische Volk, wie es dort vorgeführt werden sollte, war vor allem männlich, jung und gesund. Es war ein Zukunftsprojekt, für dessen Realisierung der Sport eine herausragende Rolle spielen sollte. 84 »A Apotheose Sportiva de Hoje em Homenagem a S.S.M.M. os Reis da Belgica. O Brasil de amanhã desfilará hoje diante dos soberanos da Belgica - O Rei Alberto dará o ›kick-off‹ no match entre os ›scratches‹ Norte e Sul - Outras Notas«, O Paiz , 26.9.1920. 85 »Football. A grande parada sportiva em homenagem ao Rei Alberto. O match de foot-ball entre os scratches norte e sul – Os preparativos em torno da revista sportiva – Outras notas«, O Paiz , 21.9.1920. 199 Region 199 Jung, gesund und heldenhaft war auch das Bild vom belgischen König. Ihn verehrten brasilianische Organisatoren und die Sportpresse als sportsman und Soldatenkönig, der unter anderem durch die Aufwertung sportlicher Erziehung erreicht habe, dass sich Belgien im Ersten Weltkrieg den imperialen Mächten widersetzt hatte und moralisch unbeschädigt aus ihm hervorgegangen war.86Im Gegensatz zu dem gewandelten Blick auf andere europäische Länder, die nun als schwach, ja als schuldig und barba- risch wahrgenommen wurden, erkannten brasilianische Eliten Belgiens Sonderrolle als Märtyrer an, benachteiligt in den Reparationsverhandlun- gen der Großmächte.87Die brasilianische Regierung wollte ihm ein Brasi- lien zeigen, das diese Werte ebenfalls schuf und lebte. Diese Sichtweise entsprach einem neuen, mit dem Ersten Weltkrieg ge- wandelten europäischen Sportverständnis, wie es auch schon Pierre de Coubertin zu dieser Zeit formuliert hatte, der Sport als verantwortlich für den militärischen Sieg der Briten, Franzosen und der USA ansah.88Diese Wertschätzung des Sports zur Erhebung des brasilianischen Volkes drückte auch der oben zitierte Autor aus: Der belgische König würde begeistert sein »angesichts des anmutigen Aufmarschs einer unermesslichen Menge männlicher und gestählter Adonisse, welche die Athleten dieser brasili- anischen Rasse sind und die nun mit der energetischen und gesunden Kenntnis sportlicher Übungen aus der Starre der physischen Dekadenz erwacht.«89 Vor diesem Hintergrund ist auch die genau durchdachte Repräsentation von Athleten zu sehen: Verschiedene lokale Vereine aus Rio de Janeiro 86 Auch Susann Caulfield verweist darauf, dass das belgische Königspaar als modern, elegant, sportlich und vor allem moralisch unversehrt gesehen wurde. Brasiliens Autoritäten wollten vermitteln, dass auch Brasilien diese Werte verkörpere: CAULFIELD, Em defesa da honra , S. 115 f. und 126 f. Der junge König Albert wurde im Zuge der Verteidigung Belgiens gegen die deutschen Besatzer und der Wahrung politischer Neutralität bis September 1918 als Symbol für »Mut und Ehre, Heldentum und Martyrium« von der belgischen Bevölkerung verehrt, da er mit den Soldaten an der Front blieb: YPERSELE, Laurence von, Belgien im »Grande Guerre«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 29-30, 2004, S. 21-29, hier 21 ff. und 28. 87 Vgl. zu Belgiens Konstruktion als Märtyrer: Y PERSELE , Belgien im ›Grande Guerre‹, S. 29. Zu dem veränderten Blick nicht-westlicher Eliten, hier vor allem asiati- scher und afrikanischer, auf Europa im Zuge des Ersten Weltkrieges siehe zum Beispiel: ADAS, Michael, Contested Hegemony: The Great War and the Afro-Asian Assault on the Civilizing Mission Ideology, in: Journal of World History 15, 2004, Nr. 1, S. 31-63. 88EISENBERG, The Rise of Internationalism, S. 398 f. 89 »Football. A grande parada sportiva em homenagem ao Rei Alberto. O match de foot-ball entre os scratches norte e sul – Os preparativos em torno da revista sportiva – Outras notas«, O Paiz , 21.9.1920. 200 200 Region wählten aus ihren Mannschaften Sportler aus, die in einer vorgeschriebenen Reihenfolge ihre Vereinsfahnen schwenkend das Stadion betraten. Die Eliteklubs Fluminense, Flamengo, Botafogo und América stellten dabei eine viel größere Anzahl von Athleten für die Parade als die kleineren nicht-elitären Klubs.90 Auch die Mannschaften für das im Rahmen der Feiern stattfindende Fußballspiel waren hierarchisch in eine Nord- und eine Süd-Mannschaft aufgeteilt. Im Südteam befanden sich Spieler der Elitevereine aus der rei- chen Südzone der Stadt, aus den Klubs Fluminense, Botafogo und Flamengo. Im Nordteam waren Fußballer aus den suburbanen und ärmeren Nordklubs aufgestellt, so aus den Vereinen América, Villa Isabel, Andahary. Bezeichnenderweise traten die Spieler des Südteams in Trikots in den Farben Belgiens an, die Spieler des Nordteams in Trikots in den Farben des lokalen Sportverbandes.91 Die Organisatoren nutzten die Sportveranstaltungen, um vor dem belgi- schen Königspaar mit einem als repräsentativ vorgestellten Teil der Bevöl- kerung Werte wie Jugend, Männlichkeit und Gesundheit als Eigenschaften aller Brasilianer zu postulieren. Durch die soziale Hierarchisierung in der Nord-Süd-Teambildung verbanden sie sie aber eher mit einer elitären, weißen Jugend.92 Wie zur Bestätigung der in der Parade und in der Spielaufstellung schon abgebildeten Überlegenheit der elitären Athleten gewann dann auch das Südteam scheinbar ohne größere Mühe gegen ein bemühtes, aber schwa- ches Team aus dem Norden.93Der belgische König, so hieß es in der Sport- presse, sei beeindruckt gewesen von dieser Präsenz und Inszenierung sportlicher Männlichkeit und Jugend durch die Bewohner Rio de Janeiros. An den darauffolgenden Tagen folgten Veranstaltungen mit weiteren Sportarten, doch stand der Fußball als sein Lieblingssport während des Aufenthaltes des Königs im Vordergrund.94 Die Organisatoren bedienten sich mit der Sportveranstaltung eines schon erprobten Gestaltungsmittels, das sich seit 1916 in den jährlich stattfin- 90 P EREIRA , Footballmania , S. 167. 91 Vgl. »Football. A grande parada sportiva em homenagem ao Rei Alberto. O match de foot-ball entre os scratches norte e sul – Os preparativos em torno da revista sportiva – Outras notas«, O Paiz , 21.9.1920. 92 Vgl. ebd. 93 Vgl. »A Imponente Parada Sportiva em Homenagem a S.S.M.M. os Reis da Belgica. A Victoria do scratch Sul pelo score de 4x1 – Outras notas«, O Paiz , 27.9.1920. 94 Vgl. ebd. 201 Region 201 denden Campeonatos Sul-Americanos behauptet hatte. Fußballspiele, so meint der Historiker Christian Koller, hätten nach dem Ersten Weltkrieg den Status von Monarchenbesuchen abgelöst. In ihrer Ritualisierung hätten sie zwischen den anwesenden Zuschauern Beziehungen hergestellt und Identifikationsmomente kreiert.95Interessant ist, dass hier Monarchen- besuch und Fußballspiel vereint wurden und darüber den Zuschauern ein ideales Bild von sich selbst als Nation und Gesellschaft vermittelt werden sollte. In Europa waren internationale Sportveranstaltungen nach der Unterbre- chung durch den Ersten Weltkrieg wieder aufgenommen worden. Hatten sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zur Hochzeit des Imperialismus, wie Lia Paradis aufzeigt, noch als Demonstrationen von imperialen An- sprüchen und imperialer Männlichkeit in einem darwinistischen Sinne gedient, so wurden sie jetzt von den »Sportnationen«96in den auflebenden Internationalismus eingeschrieben und auch als diplomatische Möglich- keiten der Völkerverständigung und des friedlichen Wettkampfes gesehen.97 Eindeutig allerdings politisierten Regierungen den Sport und setzten teilweise die Konflikte der Kriegsschauplätze in den Stadien fort.98 Der Besuch des belgischen Königs stand unter diesen Vorzeichen des auflebenden Internationalismus. Er galt als Anerkennung der Rolle Bel- giens im Ersten Weltkrieg, für Brasilien bedeutete er vor allem aber Auf- merksamkeit durch Europa. Die Veranstaltung war auch ein auf die Zu- kunft projiziertes Bild, ein Projekt nach europäischen Maßstäben, in dem zum Ausdruck gebracht wurde, wie sich das ideale Brasilien zusammen- 95 K OLLER , Christian, Einleitung: Europäischer Fußball im Zeitalter der Katastro- phen, in: DERS., u.a. (Hg.), Fussball zwischen den Kriegen , S. 1-21, hier 7 f. 96 Der Begriff der »Sportnation« ist der Studie von Barbara Keys zu Entwicklung des internationalen Sports im Kontext der Globalisierung in den 1920er- und 1930er-Jahren entnommen. Mit diesem Begriff bezeichnet sie eben genau dieses Konzept einer Nation, für die Sport eine erstrangige Rolle als Diplomatieersatz im Internationalismus der Zwischenkriegszeit einnimmt. Sie bezieht sich mit dem Konzept auf die USA. Dieses Konzept kann erweitert auch auf andere Nationen mit denselben Ansprüchen angewendet werden: Vgl. KEYS, Globalizing Sport , S. 22 und 90-114. 97 P ARADIS , Lia, Manly Displays: Exhibitions and the Revival of the Olympic Games, in: The International Journal of the History of Sport 27, 2010, Nr. 16, S. 2710-2730, hier 2720. Vgl. auch: ARNAUD, Pierre, Sport – a means of national representation , in: DERS. u.a. (Hg.), Sport and International Politics , S. 3-13, hier 3 . 98 Vgl. A RNAUD , Pierre, Sport and International Relations before 1918, in: D ERS . u.a. (Hg.), Sport and International Politics , S. 14-30, hier 25-27; KEYS, Globalizing Sport , S. 24-35; KOLLER, Einleitung, S. 6-8. Auch die brasilianische Sportpresse reflektierte das: »O governo e o sport«, SSOI , Nr. 2, 12.3.1921, S. 5. 202 202 Region setzte.99Für die verschiedenen an der Organisation des Besuches beteiligten Einrichtungen ging es der Historikerin Sueann Caulfield zufolge um nichts weniger als »die Ehre Brasiliens – und damit um die nationale Kraft und Unabhängigkeit […]. Der Besuch würde Brasilien die Möglichkeit geben, seinen Status als Großmacht zu zeigen, die der Anerkennung und sogar der Bewunderung der belgischen Könige würdig sei.«100 Die Veranstalter nutzten das Sportfest dazu, Brasiliens Bevölkerung als harmonische »rassische« Einheit zu inszenieren. Das Brasilien von morgen würde durch seine sportliche Jugend verkörpert, so der Autor eines Artikels in der Zeitung O Paiz : [E]s ist das Brasilien von morgen, stolz, mit weiter Brust und jung, das in seinem Körper und in seinen ausgebildeten Armen und Muskeln das schlanke Profil gesunder Robustheit zeigt, das vor den Hoheiten des großen Belgiens vorüberzieht, das seinen Majestäten darlegt, dass wir ein Volk in unbestreitbarer sportlicher Entwicklung sind und dass der Sport unter uns schon zu einem Idol, ja wenn nicht sogar zu einer Reli- gion geworden ist […].101 Die Präsentation der Nation vor dem belgischen Königspaar als eine har- monische und organische Einheit, wie die Journalisten betonten, wider- sprach der gleichzeitig vorgenommenen sozialen Hierarchisierung in der Parade und in der Einteilung der Mannschaften. Diese Logik nationaler Einheit und Harmonie kontrastierte auch mit der Auseinandersetzung um den nationalen Vertretungsanspruch zwischen São Paulo und Rio de Janeiro, den Sportler und Sportfunktionäre in den lokalen Verbänden der beiden Städte im ersten Jahresdrittel über die Sportpresse austrugen.102Die Organisatoren der Sportzeremonien zu Ehren des Königs beanspruchten, ganz Brasilien und seine nationale Entwicklung im Sport zu vertreten. Die Repräsentation war eine Auslegung des Außenbildes Brasiliens durch Eli- ten aus Rio de Janeiro. Nach dem Aufenthalt in Rio de Janeiro besuchte das belgische Königs- paar auch São Paulo. Auch in der Paulistaner Tagespresse fand eine rege Diskussion darüber statt, was der belgische König sehen bzw. nicht sehen 99 P EREIRA , Footballmania , S. 167. 100 C AULFIELD , Em defesa da honra , S. 115. 101 »A Apotheose Sportiva de Hoje em Homenagem a S.S.M.M. os Reis da Belgica«, O Paiz , 26.9.1920. 102 Vgl. »Football Rio – São Paulo. O Reatamento das relações entre os dois grandes centros sportivos – A Memoravel reunião de hontem, na Federação do Remo«, Correio da Manhã , 14.3.1920, in: Album »1920«, FFC; PEREIRA, Footballmania , S. 162. 203 Region 203 sollte. A Gazeta rief die Leser unter der Losung »Damit König Albert es sehen kann« dazu auf, ihr zu berichten, welche Orte in der Stadt dem belgi- schen Königspaar keinesfalls gezeigt werden sollten und erhielt daraufhin zahlreiche Zuschriften, die sie abdruckte und in denen die Leser Reform- vorschläge machten bzw. die Reformuntätigkeit der öffentlichen Hand anprangerten.103 Die rege Debatte in der Zeitung zeigt, wie wichtig auch den Lesern die angemessene Repräsentation São Paulos war, weshalb auch sie überlegten, bestimmte Orte der Stadt und die darin in ihren Augen vorhandenen sozia- len Missstände zu verstecken.104Das entsprach der Maxime der Paulistaner Regierung, die schon einen guten Monat vor der Ankunft des Königspaares über eine geeignete, ausreichend luxuriöse Unterkunft diskutierte, die sei- nen gehobenen Ansprüchen gerecht werden könnte.105 Die Sportredaktion von A Gazeta schlug die Veranstaltung eines Fuß- ballspiels zu Ehren des als s portsman verehrten belgischen Königs vor. Dezidiert nahmen die Initiatoren dabei Bezug auf das Athletikfest und Fußballspiel zu seinen Ehren in Rio de Janeiro. Der Autor meinte: Die Cariocas sind schwach, was es jetzt noch schwerer macht für sie, ist die Abwesenheit ihrer besten Elemente. Ist also nicht São Paulo (jetzt noch mehr als zuvor) der legitime Repräsentant des Heimatfußballs? Be- sitzt es nicht die Voraussetzungen, um einen wundervollen Kampf zu re- alisieren?106 103 »O que o Rei Alberto não deve ver em São Paulo. A collaboração dos leitores d’›A Gazeta‹«, A Gazeta , 16.9.1920; »O que o Rei Alberto não deve ver em São Paulo. A collaboração dos leitores d’›A Gazeta‹«, A Gazeta , 4.10.1920; »O que o Rei Alberto não deve ver«, A Gazeta , 5.10.1920. 104 Parallelen zu heute sind vorhanden. Gerade im Kontext internationaler Sportveranstaltungen taucht die Motivation zu einer »Verschönerung« und damit einhergehenden vorübergehenden kosmetischen Verdeckung sozialer Missstände, die sich räumlich ausdrücken, immer wieder auf. Das beklagten Menschenrechtsorganisati- onen auch bei den Vorbereitungen der Pan-Amerikanischen Spiele 2007 in Rio de Janeiro, die von gewaltvollen Operationen der Militärpolizei in einigen Favelas Rio de Janeiros, vor allem im Complexo do Alemão, begleitet waren und von der Kriminalisie- rung von Obdachlosen und Straßenkindern, die in Polizeiaktionen von den Straßen ge- holt wurden: Vgl. »Os mortos pan-americanos«, URL: <http://www.direitos.org.br/ index.php?option=com_content&task=view&id=3645&Itemid=2>(abgerufenam: 1.4.2012). 105 Vgl: »Onde vão ser hospedados em São Paulo os reis da Belgica«, A Gazeta , 3.9.1920. 106 »Futebol. Pró-Estadio. Para o Rei Alberto Ver. Collaboração dos Leitores«, A Gazeta , 27.9.1920. Das Sportfest sollte zudem dazu genutzt werden, um Spenden für den Bau eines Stadions in São Paulo zu sammeln: Vgl. ebd. 204 204 Region Die von den Cariocas getroffenen Maßnahmen, um dem König das Bild einer modernen und fortschrittlichen Hauptstadt zu zeigen, seien wir- kungslos, so die Paulistaner Sportpresse, da zeitgleich Brasilien in Europa und im südamerikanischen Ausland einen negativen Eindruck hinterlasse. Der Autor spielte auf die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Antwerpen an, einem in ihren Augen eher misslungenen Auftritt Brasiliens als starke und »zivilisierte« Nation, trotz eines Goldmedaillengewinns. Aus organisatorischen und finanziellen Gründen und wohl auch aus mangeln- dem Engagement und Interesse der Regierung war die Entsendung eines Fußballteams nach Belgien gescheitert. Die wenigen teilnehmenden Athle- ten anderer Sportarten mussten angeblich um finanzielle Unterstützung des IOC bitten. Die brasilianische Presse sah daraufhin das Bild eines unterentwickelten, rückständigen Landes repräsentiert, nicht eigenständig genug, die finanziellen Mittel für eine bescheidene Reisedelegation nach Europa aufzubringen.107 Den blamablen Auftritt der Delegation in Antwerpen und einen weiteren in Chile lastete die Paulistaner Presse dem fehlenden Organisationssinn des nationalen Sportverbandes mit Sitz in Rio de Janeiro an und definierte ihn damit als eine spezifische Eigenschaft der Cariocas. Er stand sinnbildlich für ihre Rückständigkeit, São Paulo hingegen grenzte sich über die sportli- che Inszenierung als modern und fortschrittlich gegen Rio de Janeiro ab.108 Im Hintergrund stand auch eine Auseinandersetzung um die Austragung des Pokalwettbewerbs der Taça Ioduran . Diesen Wettstreit hatten 1916 die lokalen Verbände APSA und Liga Metropolitana eingerichtet, darin traten die beiden Sieger der jährlichen Stadtmeisterschaften beider Städte gegen- einander an. 1920 kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Nachfolgeverband APEA und Liga Metropolitana , vor allem zwischen den Klubs Fluminense und Paulistano, darüber, welcher Verband den Wettbe- werb ausrichten sollte.109Als Druckmittel in der Auseinandersetzung stellte 107 Vgl. »Para Anvers… Por ›Mar‹! Para o Chile…Por ›Terra‹!«, O Paiz , 6.7.1920, S. 7. 108 »Futebol. As Embaixadas da Fome. As tristes odysséas das representações esportivas do Rio. Ao que nos sujeitam os cariocas«, A Gazeta , 9.9.1920; »Futebol. As embaixadas da fome. O Campeão da facada! Ao que nos sujeitam os cariocas«, A Gazeta , 14.9.1920. 109 Seit 1916 gab es den Pokalwettbewerb zwischen den beiden Klubs, die in São Paulo respektive Rio de Janeiro die Stadtmeisterschaften gewonnen hatten. Zwischen APEA und Liga Metropolitana kam es 1920 zu einem Konflikt über die Spielregeln und auch über die Transferregeln von Fußballspielern im Zusammenhang mit dem Wettbe- werb. Letztlich führten die Auseinandersetzungen zu einer Unterbrechung der Sportbe- ziehungen zwischen beiden Verbänden: Vgl. »Ainda a ›Ioduran‹«, SSOI , 14.5.1921; »O 205 Region 205 die APEA keine Spieler für das Nationalteam bereit, das zum Campeonato Sul-Americano des Jahres 1920 in Chile reisen sollte.110 Die Sportpresse Rio de Janeiros sah darin eine sich auch im Bereich des Sports manifestierende Mentalität des Alleingangs São Paulos und einen Verrat an einem Projekt nationaler Einheit, das gerade über den Sport umgesetzt werden sollte.111Sogar der auf Bitten der vermittelnden ACE unternommene Versuch des Präsidenten des Staates São Paulo, Washington Luís, die APEA von einer Beteiligung Paulistaner Spieler zu überzeugen, scheiterte Ende August 1920.112Auch der Klub Fluminense unternahm Beschwichtigungsversuche und sandte einen offenen Brief an die Liga Metropolitana , damit die Paulistas doch noch Spieler aufstellten. Darin hieß es, dem Klub sind »die nationalen Interessen und darüber hinaus die alte und traditionelle Freundschaft, die den Fluminense und den Paulistaner Sport, vor allem den Klub Paulistano, vereinen, […] wichtiger als der Sieg […] in einem sportlichen Wettkampf.«113 Bezeichnend ist auch die Äußerung einer Leserin und Fußballanhängerin zu der Auseinandersetzung in der Zeitung O Paiz . Sie fasste zusammen, wie sehr brasilianische Eliten internationalen Fußballmeisterschaften die Funktion der Schaffung eines nationalen Zusammenhaltes zuschrieben: Niemand kann mehr leugnen, was für die ganze Welt ein sportlicher Wettkampf bedeutet, vor allem die, die zwischen Athleten verschiedener Länder ausgetragen werden. Der Titel des Meisters […] wird begeistert von allen großen Völkern umkämpft, die so eine neue Hierarchie schaf- fen […], die weitere Gründe für Ruhm und Ehre sind.114 C. A. Paulistano e a ›Ioduran‹. Algumas palavras do sportsman Dr. Oswaldo Gomes, presidente da Metropolitana, sobre o caso«, O Paiz , 1.8.1920; »O ›caso‹ da taça ›Ioduran‹«, O Paiz , 5.8.1920. 110 Insgesamt beschränkte sich 1920 die nationale Repräsentation bei internationalen Spielen hauptsächlich noch auf Spieler aus den beiden Städten Rio de Janeiro und São Paulo, in geringerer Zahl nahmen auch Spieler aus Rio Grande do Sul teil. Die anderen Bundesstaaten jedoch waren in den Nationalteams nicht repräsentiert. Ein nationaler Wettbewerb wurde im Übrigen zum ersten Mal 1922 eingeführt. 111 Vgl. »Pondo os Pontos nos ii… A Liga Metropolitana ao publico e sportsmen brasileiros. A Questão da Taça ›Ioduran‹«, O Paiz , 20.8.1920, S. 6; »O ›caso‹ da taça Ioduran«, O Paiz , 5.8.1920. Vgl. »›Conceder a São Paulo para ceder ao Brasil‹«, O Paiz , 5.8.1920. 112 Vgl. »Para o Chile. La Comedia é finita…«, O Paiz , 24.8.1920; »São Paulo dará ou não jogadores para o Sul-Americano?«, Gazeta de Notícias , 21.8.1920; Vgl. »A Associação Paulista declara nada pode fazer«, Gazeta de Notícias , 21.8.1920. 113 »›Conceder a São Paulo para ceder ao Brasil‹«, O Paiz , 5.8.1920. 114 »Sejamos Brasileiros!…«, O Paiz , 21.8.1920, S. 6. 206 206 Region Sie schätzte das Verhalten der Paulistas als unpatriotisch ein; zumindest sei es bedauerlich, denn würden sich die Brasilianer in Chile geschlossen prä- sentieren »bestätigten wir von Neuem […] den sportlichen Wert unserer Heimat«. Gegen die geschlossene patriotische Repräsentation seien die Differenzen und Sorgen der Einzelstaaten eher unbedeutend: Was kümmert São Paulo? Was kümmert Rio? Erheben wir uns alle, um den Namen Brasiliens zu erhöhen, um unsere große Heimat zu verherrli- chen und zu rühmen! Und die Paulistas verwehren sich? Würden sie nicht denen Recht geben, die sagen, die Paulistas seien mehr Paulistas als Brasilianer?… Wie traurig das wäre!115 Die Paulistaner Verweigerungshaltung weckte bei den Cariocas Befürchtungen vor Sezessionsbestrebungen der Paulistas. Ein Journalist der Zeitung O Paiz aus Rio de Janeiro fasste zusammen, wie Eliten in Rio de Janeiro in dieser Zeit auf São Paulo schauten und die Region sogar als nicht mehr zu Brasilien dazugehörig betrachteten: Das sportliche São Paulo liegt außerhalb der Landkarte Brasiliens, es hat sich unabhängig erklärt und lebt nun unter der politischen Herrschaft der Stärke von Energielosen, die ihre besten Gefühle für eine unwürdige Sa- che hergeben, gegen die sportliche Glaubwürdigkeit Brasiliens vor den Nationen des südamerikanischen Kontinents, die in Valparaíso um den Titel des südamerikanischen Meisters kämpfen. 116 Doch die Appelle aus der Leserschaft und des Fußballklub Fluminense waren vergeblich. In Chile nahm eine Mannschaft teil, die fast ausschließ- lich aus Spielern aus Rio de Janeiro bestand. Nach einem erfolgreichen Start gegen Chile verlor sie im zweiten Spiel gegen Uruguay mit der gro- ßen Differenz von 0:6 und schied nach einem dritten Spiel gegen Argenti- nien früh aus dem Wettbewerb aus, den sie im Jahr zuvor noch im eigenen Land gewonnen hatte. Die Schuld gab die Sportpresse in Rio de Janeiro nun erst recht den Paulistas.117So schrieb ein Journalist der Gazeta de Notícias : »An dieser Niederlage sind aus fehlendem Patriotismus einzig die sportsmen Paulistas 115 Ebd. 116 Ebd. 117 »Campeonato Sul-Americano. Uruguayos 6 – Brasileiros 0«, O Paiz , 19.9.1920, in: Album »Internacionaes 1920«, FFC; »Campeonato Sul-Americano. Os Uruguayos venceram facilmente os Brasileiros por 6 x 0. O match de amanhã: Argentinos x Chilenos«, Gazeta de Notícias , 19.9.1920, S. 6. 207 Region 207 schuld, die ihre unabdingbare Unterstützung für die heimatliche Repräsen- tation verwehrten und so beabsichtigten, Brasilien gegenüber den anderen südamerikanischen Nationen bloßzustellen, die an dem Wettbewerb teil- nahmen.«118Er betonte, bei den internationalen Spielen gehe es nicht nur um den Wettbewerb und den Sieg, die internationalen Turniere dienten dazu, »auf diese Weise die Beziehungen zwischen den Republiken des Kontinentes immer weiter zu vertiefen, denn es wird auf dem Sportplatz nicht nur gekämpft, um zu gewinnen.«119Ein anderer Journalist drückte es so aus: Das sportliche São Paulo singt in diesen Stunden seine ›Aida‹ in einem Chor, der dort im Ausland widerhallen dürfte, nicht mit Applaus, son- dern mit einem Geschrei der Empörung angesichts der Erbärmlichkeit und Ambition derer, die sich geweigert haben, Spieler für die brasiliani- sche Repräsentation aufzustellen und die ihre regionalen Interessen über die Heimat gestellt haben, wo sie geboren sind, wo sie leben und wo sie ihre Rechte genießen. […] Aber der moralische Sieg, dieser ja, das ist unserer, einzig unserer, ob sie, die Paulistas ihn nun wollten oder nicht. Für die Niederlage der Brasilianer unsere Glückwünsche an das sportli- che São Paulo.120 Die Sportpresse in São Paulo sah das ähnlich. Nur dass sie der brasiliani- schen Auswahl nach der Niederlage erst recht den Anspruch streitig machte, ganz Brasilien beim Campeonato Sul-Americano repräsentiert zu haben, wie es ein Journalist in O Estado de São Paulo schrieb: Was für uns zählt, ist zu wissen, dass die Auswahl, die sich auf Grund des Werkes und der Gnade der Confederação Metropolitana jetzt in Chile befindet, nicht mal die mittlere Stärke des brasilianischen Fußballs repräsentiert, noch weniger seine stärkste Kraft, die sie repräsentieren sollte, ja müsste.121 Sogar eine körperliche und damit implizit »rassische« Überlegenheit drückte dieser Autor aus: Die »brasilianische« Auswahl hätte nicht noch schlechter gespielt, weil zumindest der Spieler Julio Kuntz Filho dabei war, 118 »Campeonato Sul-Americano. Os Uruguayos venceram facilmente os Brasileiros por 6 x 0. O match de amanhã: Argentinos x Chilenos«, Gazeta de Notícias , 19.9.1920, S. 6. 119 Ebd. 120 »Campeonato Sul-Americano. Uruguayos 6 – Brasileiros 0«, O Paiz , 19.9.1920, in: Album »Internacionaes 1920«, FFC. 121 »Uruguayos vs. Brasileiros«, OESP , 19.9.1920, S. 6. 208 208 Region der aus Rio Grande do Sul stammte.122Schon die Reise der Fußballdelega- tion nach Chile bewies in den Augen der Paulistas die Rückständigkeit der Sportorganisation Rio de Janeiros. Die Delegation musste in Argentinien den argentinischen Sportverband um finanzielle Unterstützung für die Weiterreise bitten.123Der nationale Sportverband hätte Brasilien mit dieser »Hungerbotschaft« vor den anderen Nationen blamiert.124 Tatsächlich entstanden Ende 1920 nach den Auseinandersetzungen um die Taça Ioduran und die Beteiligung beim Campeonato Sul-Americano in Chile Sezessionsvorhaben São Paulos. In der Sportpresse der Stadt erfolgte ein Aufruf, einen eigenständigen nationalen Fußballverband als Konkur- renz und Alternative zur CBD zu gründen, die Federação Brasileira de Futebol .125Der Autor dieses Aufrufes meinte, São Paulo solle sich nicht weiter Rio de Janeiro unterordnen, sondern mit der Gründung eines eigenen Verbandes der Stärke des Fußballs in São Paulo gerecht werden. Er be- gründete dies mit der Bekanntheit der Fußballer São Paulos über nationale Grenzen hinaus: Wir sind zweifellos die Hauptstadt des brasilianischen Fußballs. Unsere Meister haben schon kontinentale Bekanntheit erreicht. In den Ländern Amerikas spricht man mehr über Fußballer aus São Paulo als aus Brasi- lien. Und deshalb wären wir frei und ungehindert, um besser den Namen unseres Landes zu ehren, wenn wir einen Verband organisieren würden. Gewinne ein Team aus São Paulo im Ausland, sei das für die Repräsenta- tion der gesamten Nation allemal besser, als wenn ein nationales Team im Ausland verliere: »Es ist immer vorzuziehen, dass ein regional triumphie- rendes Team die Farben einer Nation ehrt, als dass ein schwaches Natio- nalteam unseren Sport da draußen demoralisiert.«126 Die Position São Paulos wird noch einmal anlässlich des Congresso de Futebol (Fußballkongress) deutlich, den die nationalen Fußballverbände Argentiniens, Brasiliens und Paraguays im September und Oktober 1921 in Buenos Aires im Rahmen des gerade stattfindenden Campeonato Sul- 122 Ebd. 123 »As embaixadas da Fome. As tristes odysséas das representações esportivas do Rio. Ao que nos sujeitam os cariocas«, A Gazeta , 9.9.1920; »Futebol. As embaixadas da fome. O Campeão da facada! Ao que nos sujeitam os cariocas«, A Gazeta , 14.9.1920. 124 Ebd.; Vgl. M AZZONI , História do futebol , S. 155-157. 125 Vgl. »Fundemos a Federação Brasileira de Futebol«, A Gazeta , 4.9.1920, S. 2. 126 Ebd. 209 Region 209 Americano desselben Jahres abhielten.127Die Teilnehmer berieten über die jüngsten Sezessionsbestrebungen im Fußballverband Argentiniens und deren Auswirkungen auf die Zusammensetzung und Entscheidungen des übergeordneten Regionalverbandes, der einen der beiden argentinischen Verbände als Vertretung des argentinischen Fußballs anerkennen musste.128 Ein Journalist von A Gazeta appellierte an die Sportfunktionäre São Paulos, sich politisch als Gegenmacht zu dem in Rio de Janeiro ansässigen Natio- nalverband CBD auf dem Kongress zu etablieren. Brasilien hatte sich, vertreten durch die CBD und die Liga Metropolitana aus Rio de Janeiro, zuvor auf die Position des argentinischen Verbandes Federação Argentina eingeschworen. A Gazeta plädierte dafür, São Paulo solle die Situation nutzen, sich ebenfalls als Vertretung brasilianischer Anliegen zu präsen- tieren und auf die Seite Chiles und Uruguays sowie des zweiten argentini- schen Verbandes, Associação de Amadores , zu stellen. In einem Bericht über den Kongress heißt es: Wie man sieht, ist das Ereignis geeignet, damit São Paulo endlich in Er- scheinung tritt, um Partei zu ergreifen für die Dissidenten, die in Süd- amerika die größte sportliche Kraft darstellen. […] Es ist notwendig, dass die Paulistas sich ihrer Devise erinnern, die sie zu Anführern weiht, nicht zu Geführten.129 Der Autor spielte auf den Satz »non ducor, duco« (»Ich werde nicht geführt, ich führe«) an, den Paulistaner Intellektuelle und Eliten in der Ersten Republik zum Leitmotiv Paulistaner Überlegenheitsdenkens mach- ten.130São Paulo solle aus dem Schatten der CBD und der Liga Metropo- litana heraustreten und entsprechend seiner sportlichen Überlegenheit 127 Leider liegen keine Kongressberichte vor, da die Archive der Confederación Sulamericana de Fútbol im Rahmen meiner Feldforschungen nicht zugänglich waren. Die vorliegenden Informationen stammen aus den Presseberichten in den brasiliani- schen Zeitungen. 128 Vgl. zu der Sezession in Argentinien auch den Artikel: »Importantes Considerações sobre a Scisão Do Football Argentino. Perspectiva que offerece a Vida das Entidades em Pugna. Convite aos Dirigentes Paulistas que não devera’ ter Exito«, A Gazeta , 7.11.1919. 129 Vgl. »A dissidencia no futebol sul-americano. São Paulo precisa pronunciar-se«, A Gazeta , 7.10.1921. Ein weiteres Beispiel für die Ansicht, dass São Paulo das sportliche Gravitationszentrum Brasiliens sei, ist ein ganzseitiger Artikel, der die sportlichen Erfolge des Jahres 1921 in São Paulo in A Gazeta zusammenfasst: »O Balanço Final«, A Gazeta, 30.12.1921. 130 Vgl. F ERREIRA , A epopéia bandeirante , S. 110. 210 210 Region Macht im internationalen Fußball ausüben.131In den Augen der Paulistas war die CBD eine Organisation, die von der lokalen Liga Metropolitana dominiert wurde, was sich schon alleine daran zeige, dass meistens die Liga Metropolitana ihre Präsidenten stellte und aus Sicht der Paulistas Politik zum Vorteil der in Rio de Janeiro ansässigen Fußballklubs betreibe.132 Wie stark Paulistas sich im Zuge dieser Auseinandersetzungen als über- legen und »zivilisierter« konstruierten und dies mit einem bandeirante - Geist in Verbindung setzten, führt auch die Dichtung eines Marsches eini- ger Fußballfans des Paulistaner Klubs C. A. Paulistano nach den Auseinandersetzungen 1920 vor Augen. Dem Text zufolge speisten die Paulistas ihren Überlegenheitsanspruch auch aus ihrem Beitrag am Sieg der Brasilianer im Campeonato Sul-Americano von 1919, das in Rio de Janeiro stattfand. Sie führten ihn auf einen kriegerischen Geist der Paulistas zu- rück. Der Sieg von 1919 ist in der Forschung als Moment der Entstehung patriotischer nationaler Gefühle in allen Bevölkerungsschichten interpre- tiert worden.133Hier, in der Auslegung der Dichter, wie auch in dem zuvor dokumentierten Zweifel an dem rechtmäßigen Präsentationsmonopol bei einem europäischen Monarchenbesuch in Rio de Janeiro, zeigt sich, wie heterogen solche über Fußballerfolge zum Ausdruck gebrachten Gefühle sein konnten. Die Dichter sahen São Paulo selbstverständlich als »Zivilisa- tionsbringer«: Gegrüßt seien die Meister Wahre, glorreiche Südamerikaner Im Jahr, in dem die Paulistas bewirkten, dass Brasilien einen Namen in den Zeitschriften bekam wagemutige Paulistas Immer Krieger, sie haben niemals versagt, In Chile, wo wir nicht hinfuhren Da blieb der Meisterschaftstitel. Brasilien verlor seinen Namen Das diente der Hauptstadt als Lektion 131 Vgl. »A dissidência no futebol sul-americano. São Paulo precisa pronunciar-se«, A Gazeta , 7.10.1921. 132 Vgl. »O Esporte Nacional. Foi eleito o novo Presidente da Confederação Metropolitana«, A Gazeta , Januar 1922 (Genaues Datum unbekannt). 133 P EREIRA , Footballmania , S. 136 f. 211 Region 211 Der Meistertitel von 19 ist unserer [Anm. der Übersetzerin: in Bezug auf den Meistertitel Brasiliens im Campeonato Sul-Americano von 1919] Paulistas Helden und Meister São Paulo, der große Name Der Paulista ist das Bollwerk der Nation Alles für alles, aber zuerst São Paulo Welches die Zivilisation schenkt […]. 134 Die Auseinandersetzungen von 1920 um die Beteiligung am jährlich statt- findenden Campeonato Sul-Americano wiederholten sich im Folgejahr. Dieses Mal verschärfte sich der Streit um einen rassistischen Aspekt. Er- neut stellte die APEA keine Paulistaner Spieler bereit. Außerdem schloss die CBD unter ihrem neuen Präsidenten Macedo Soares einige afro- brasilianische Spieler suburbaner Klubs von Rio de Janeiro aus der Natio- nalmannschaft aus, so die Spieler Manteiga von América und Epaminondas von São Christóvão, und stellte zweitklassige Spieler auf.135Vermutlich war das eine Direktive des brasilianischen Präsidenten Epitácio Pessoa als Reaktion auf diffamierende, rassistische Artikel in der argentinischen und uruguayischen Presse nach dem Campeonato von 1919.136 Die Paulistaner Presse empörte sich über den offiziellen Rassismus des Nationalverbandes. Hier interagierten der Diskurs über rassistische Exklu- sion im Fußball und Regionalismus: Doch anders als sonst, stellte sich São Paulo nicht als »weiß« im Gegensatz zu einem »schwarzen« und »deka- denten« Rio de Janeiro dar, sondern als »modern«, weil in São Paulo eben kein preconceito de côr existiere.137Selbstverständlich war diese abgren- zende Darstellung der Paulistas reine Rhetorik, denn in São Paulos lokalem Fußball existierte sehr wohl Rassismus (Vgl. Kapitel 2.3). Doch die Empö- rung passte gut in die regionalistisch abgrenzende Selbstdarstellung. 134 »O Football Paulista. Cantado com a musica da Marcha Brasil. Aos jogadores. Por F. Magalhães e R. Theodoro Sampaio«, 30.10.1920, Notícias do Club Athletico Paulistano 1920, S. 1-2, CAP. 135 Vgl. »E‘ boa!«, A Gazeta , 23.9.1921; »Rumo á Farra! A partida dos aleijões«, A Gazeta , 20.9.1921; »Tem a palavra os proprios cariocas…«, A Gazeta , 22.9.1921. 136 »O jornalista argentino Antonio Palacios Zinos está publicando, em Buenos Aires, uma série de artigos desaforados«, A Gazeta , 4.7.1919; »De Montevideo. Como nos julgam lá fóra- Varella center-forward! - Alguns jogadores argentinos e uruguayos ›juran que ni por todo el oro del mundo‹ virão mais ao Brasil«, A Gazeta , 23.7.1919. Vgl. hierzu Kapitel 4.1.2, S. 246 der vorliegenden Arbeit. 137 Vgl. »Tem a palavra os proprios cariocas…«, A Gazeta , 22.9.1921; »O Seleccionado Brasileiro. Os elementos de cor como indesejaveis!«, OESP , 18.9.1921. 212 212 Region Die eben referierten Auseinandersetzungen zeigen die Bedeutung der sportlichen Inszenierung sowohl für Cariocas als auch Paulistas. Paulistaner Eliten drückten mit ihrer Haltung in den unterschiedlichen Auseinandersetzungen aus, sie wünschten Brasilien nach ihrer Machart darzustellen und die Ansprüche Rio de Janeiros stünden konträr zu den Paulistaner Idealen ökonomischen Fortschritts und Modernität. Fußball war ein weiteres Instrument, eine brasilianische Identität unter Paulistaner Vor- zeichen zu konstruieren, zu vermitteln und körperlich darzustellen. Paulistaner Sportler und Sportfunktionäre versuchten auch, die Überlegen- heitsansprüche historisch zu legitimieren. Auch hier dienten Sportfeste als Möglichkeit, diese Ansprüche nach außen und innen zu inszenieren. 3.2.2. Das Centenário de Independência als Sportfest und als Weltausstellung 1922 beging Brasilien in seiner Hauptstadt Rio de Janeiro das Centenário da Independência (Feiern der 100-jährigen Unabhängigkeit) im Rahmen einer internationalen Weltausstellung. Die Organisatoren, die Regierung und die politischen und wirtschaftlichen Eliten wollten hier Brasiliens ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung und Modernität nach außen darstellen. Gleichzeitig bot die Weltausstellung, die dem Typus der europäischen und US-amerikanischen Weltausstellungen nachempfunden war, auch die Möglichkeit, nach innen ein harmonisches, einheitliches und fortschrittliches Brasilien zu vermitteln. Als eine der Ersten hat sich die Historikerin Marly Motta da Silva aus- führlich mit der Bedeutung des Centenário da Independência befasst. In der Typologie der Weltausstellungen, die 1851 in London begannen, war die brasilianische von 1922 ihr zufolge eine der letzten, die noch ein Ge- samtbild eines gesellschaftlichen Zustandes entwerfen wollte und die nicht auf bestimmte Technologien oder Wirtschaftszweige spezialisiert war, wie für die Weltausstellungen ab 1928 üblich.138Durch die Symbolsprache, die 138 M OTTA , Marly da Silva, »Ante-sala do paraíso«, »vale de luzes«, »bazar de maravilhas« - a Exposição Internacional do Centenário da Independência (Rio de Janeiro - 1922), CPDOC Rio de Janeiro 1992, URL: <http://biblioteca.digital.fgv.br /dspace/bitstream/handle/10438/6763/1033.pdf?sequence=1>(abgerufenam 1.12.2010), S. 6. Siehe allgemeine Literatur zu Weltausstellungen: FINDLING, John E. Encyclopedia of World’s Fairs and Expositions , Rev. ed., Jefferson, NC u. a. 2008; FEY, Ingrid E., Zwischen Zivilisation und Barbarei: Lateinamerika auf den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts, in: Eckhardt FUCHS(Hg.), Weltausstellungen im 19. Jahrhundert, in: Comparativ , Jg. 9. H.5/6, Leipzig 1999, S. 15-28; GEPPERT, Alexander C.T, Fleeting Cities, Basingstoke u. a. 2010; KAISER, Wolfram, Die Welt im Dorf. Weltausstellungen 213 Region 213 Klassifizierungen und die Organisationsform der Weltausstellungen, so Motta, kam es zu einem konzentrierten Austausch und einer Verhandlung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen und regionalen Gruppen dar- über, was Brasiliens nationale Identität sei.139 Die pompösen Feiern, die am 7. September, dem eigentlichen Festdatum der Unabhängigkeit, begannen und fast ein Jahr, bis zum 24. Juli 1923, andauerten,140fielen in ein politisches und wirtschaftliches Krisenjahr, in dem in Brasilien gesellschaftliche und regionale Konflikte aufbrachen. In den 1920er-Jahren brachten Angehörige aller sozialen Klassen in Brasilien ihre Unzufriedenheit mit dem politischen System der »Republik, die keine war«141in verschiedenen Bewegungen zum Ausdruck.142Im Jahr 1922 schienen sich diese Fragen und Sorgen zu bündeln. So kam es am 5. Juli in Rio de Janeiro zu einem eintägigen Aufstand von jungen Offizieren der mittleren Heeresebene ( Revolta Tenentista ), als Folge des Präsidentschafts- wahlkampfes zwischen dem Kandidaten aus Rio de Janeiro Nilo Peçanha und dem später siegreichen Kandidaten der São Paulo-Minas Gerais-Achse Artur Bernardes, die eine umfassendere politische Mobilisierung einläutete. Auch durch die gerade gegründete Kommunistische Partei und die Semana de Arte Moderna traten divergierende Vorstellungen und Ideen über die Zukunft Brasiliens zu Tage.143In einer zunehmend durch Massenmedien bestimmten Öffentlichkeit und angesichts einer immer komplexer wer- denden gesellschaftlichen Realität gab es nun eine Reihe von Wegen, sie auszudrücken.144 von London 1851 bis Hannover 2000, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 22-23, 2000, S. 3-10. 139 M OTTA , Marly da Silva, A nação faz cem anos: a questão nacional no centenário da independência , Rio de Janeiro 1992. 140 M OTTA , »Ante-sala do paraíso«, S. 7. 141 C ARVALHO , Os bestializados . 142 Auch schon vorher hatte es Aufstände und Massenmobilisierungen gegeben, wie den Generalstreik von 1917 oder die »Revolta da Vacina« von 1904, aber in den 1920er-Jahren verdichteten sich gesellschaftliche Bewegungen als Ausdruck der Unzu- friedenheit. Zur Revolta da Vacina: Vgl. MEADE, »Civilizing« Rio , S. 103-120. 143 Vgl. F AUSTO , Boris, A revolução de 1930: historiografia e história , São Paulo 1970; FERREIRA, Marieta de Moraes/PINTO, Surama Conde Sá, A Crise dos anos 1920 e a Revolução de 1930, in: Lucilia de Almeida Neves DELGADO/Jorge FERREIRA(Hg.), O Brasil Republicano I. O tempo do liberalismo excludente – da Proclamação da Repú- blica à Revolução de 1930 , Rio de Janeiro 2010, S. 387-415, hier 393-403; WOODARD, A Place in Politics , S. 108. 144 F ERREIRA , A epopéia bandeirante , S. 267 ff. Siehe auch: V ELLOSO , Mônica Pimenta, A brasilidade verde-amarela: nacionalismo e regionalismo paulista, in: Estudos históricos 11, 1993, S. 89-112. 214 214 Region Bei Ferreira heißt es, dass Intellektuelle und Künstler in São Paulo in der Semana de Arte Moderna Zweifel am bisherigen, konservativen, an Europa orientierten Modernisierungsweg Brasiliens geäußert und populärkulturelle Ausdrucksformen, regionale Traditionen und brasilianische Ursprüng- lichkeit betont hätten. Doch auch sie bezogen sich weiterhin auf aus Europa stammende Konzepte und Ideen, Leitbild war letztlich weiterhin ein euro- päisches Modernekonzept, so Ferreira. Gerade die wichtigsten Vertreter der regionalen Modernebewegung São Paulos hätten die ungleichen sozialen Gruppen in eine neue Erzählung Paulistaner Identitätskonstruktion geführt, um sie erneut an die Spitze der brasilianischen Nation zu setzen.145 Angesichts der Krise diskutierte die Presse Nutzen und Schaden der Ausrichtung eines finanziell und organisatorisch aufwändigen Projektes einer Weltausstellung. Dies vor allem, weil damit so umstrittene Vorhaben wie die Zerstörung von Wohnvierteln armer Bevölkerungsschichten ver- bunden waren, an deren Stelle die Regierung Ausstellungspavillons bauen wollte.146Für die Bewohner Rio de Janeiros zeigte sich am Beispiel dieses Eingriffs, dass die brasilianische Regierung nationale Einheit und Harmo- nie auf Kosten armer Bevölkerungsschichten inszenieren wollte. Das ge- schönte Bild verdeckte die dem Ideal der Harmonie und Einheit widerspre- chenden sozialen Missstände und Konflikte hinter einer euphemistischen Ausstellungsästhetik. Aus Sicht der Organisatoren sollte das erst recht ihre Fähigkeit zeigen, ein derart imposantes Vorhaben einer Weltausstellung zu organisieren.147Das zu vermittelnde Bild sollte möglichst homogen und eindeutig sein und, so Motta, nicht durch Zweifler oder regionalistische Gegendiskurse angekratzt werden.148 Entsprechend war die Auseinandersetzung, die seit Ende 1921 zwischen den Sportzentren São Paulo und Rio de Janeiro geführt wurde, nichts weni- ger als eine Ablehnung der Art und Weise, wie die Organisatoren und damit Rio de Janeiro die Nation nach außen repräsentierten. Verzweifelt klingt da der Appell eines Journalisten aus Rio de Janeiro, die beiden Zen- tren mögen für eine gemeinsame Sache ihren Zwist vergessen und sich an den Gründungsmoment einer einigenden Nation erinnern: Im Namen des Sports richten wir einen großen Appell an die Sportfunktionäre beider Städte, damit […] sie sich gleich zum Besten 145 F ERREIRA , A epopéia bandeirante , S. 268 f. 146 M OTTA , »Ante-sala do paraíso«, S. 8. 147 Ebd. 148 Ebd., S. 13 f. 215 Region 215 einer angemessenen Jahrhundertgedenkfeier unserer Unabhängigkeit zu- sammenschließen, damit wir den befreundeten Ländern, die mit uns zu diesem Ereignis gekommen sind, zeigen können, dass wir auf dem sportlichen Feld die Waffen strecken und dass wir wahrlich ein einziges Volk, ein Wille und ein Einziges und Unteilbares sind. […] Wir sollten uns an die glorreichen Zeiten des kolonialen Brasiliens erinnern, in de- nen wir eine Unabhängigkeit herbeisehnten, die uns endlich alle vereint, als Volk und als Nation. Damals waren São Paulo und Rio gleichermaßen durch dasselbe Gefühl vereint, in einer gemeinsamen Bewegung. Eine brüderliche Umarmung besiegelte und garantierte die Umsetzung eines so edlen gemeinsamen Ideals! […] Wenn wir keine Brüder sind, welche Unabhängigkeit, wel- che Ruhmestaten, welche unerhörten Opfer werden wir Cariocas und Paulistas zusammen beim baldigen Centenário feiern? 149 Im Rahmen der Feiern sollten natürlich Sportveranstaltungen stattfinden und besonders geeignet schien der Fußball, um den Besuchern das geeinte Brasilien vorzuführen. Er war ja zu diesem Zeitpunkt schon eine Massen- attraktion und gehörte auch international zu den erfolgreichsten Sportarten. Er eignete sich nicht nur am Besten, soziale und nationale Harmonie nach außen zu zeigen, mit seiner Hilfe konnten diese Ideale auch im Land selbst ganz unterschiedlichen sozialen und gesellschaftlichen Gruppen vermittelt werden. Sportveranstaltungen bei Weltausstellungen waren freilich nicht neu. Im Gegenteil, hatten sich doch die Olympischen Spiele aus dem Schatten der Weltausstellungen gelöst und zu eigenständigen Großveranstaltungen ent- wickelt, wie Lia Paradis aufzeigt. Sie zogen ein großes Publikum an und erfüllten die Funktion der Inszenierung nationaler Zugehörigkeit und natio- naler Symbole anders und womöglich auch zeitgemäßer als die Weltaus- stellungen, die eher einem spezialisierten Publikum vorbehalten blieben.150 Jedenfalls verbanden die Organisatoren bei den Jahrhundertfeiern der brasilianischen Unabhängigkeit im Jahr 1922 beide Phänomene noch mit- einander, Sport und Weltausstellung.151Als wichtiger Teil der Festakte zu 149 »Football«, Esporte Illustrado , Nr. 22, 1.1.1921. 150 P ARADIS , Manly Displays, S. 2726. 151 Lamartine DaCosta weist auf die zentrale Rolle des Sports bei den Unabhängig- keitsfeiern hin: Vgl. DACOSTA, Lamartine P., The IOC and Latin American Olympics- 1922, Rio de Janeiro, in: Olympic Studies , Rio de Janeiro 2001, S. 95-100, URL: <http://www.atlasesportebrasil.org.br/textos/158.pdf>, (abgerufen am: 28.3.2011). 216 216 Region den Unabhängigkeitsfeiern waren die Unabhängigkeitsspiele ( Jogos de Independência ) geplant, während derer sich Athleten in unterschiedlichen Disziplinen aneinander messen sollten. Die zweite Sportgroßveranstaltung im Festjahr waren die Südamerikanischen Fußballmeisterschaften ( Campeonatos Sul-Americanos ), die zum zweiten Mal, nach dem Erfolg im Jahr 1919, in Rio de Janeiro stattfinden sollten. Sie waren zwar nicht un- mittelbar der Weltausstellung angegliedert, da sie aber in denselben Zeit- raum fielen und die Fußballer in denselben Unterkünften wie die Athleten der Unabhängigkeitsspiele untergebracht waren, entstand für das Publikum in Rio de Janeiro der Eindruck, sie seien Teil der Weltausstellung.152 Aus der Sicht der Organisatoren war der Sportpavillon der eigentliche Dreh- und Angelpunkt des Ausstellungskonzeptes. Den Sportveranstaltun- gen schrieben sie damit eine Aufgabe zu, die die anderen Ausstellungsteile nicht erfüllen konnten, nämlich die Bevölkerung zu mobilisieren, indem Dinge nicht nur ausgestellt, sondern körperlich erfahrbar gemacht wur- den.153Die Funktion des Sportpavillons beschrieben die Organisatoren so: [S]ein Erfolg ist unweigerlich an die Feierlichkeiten des 7. Septembers gebunden und von ihm hängt zum großen Teil der größere Fortschritt des nationalen sportlichen Lebens ab, nicht nur, weil er im Schoße der Kinder und der Jugend Freude daran weckt, sondern wegen der Wer- bung für die Ideen, die er unter Alten und Jungen erweckt in einer Zeit, in der die größten Sorgen der Wissenschaft und der Politik die Prinzi- pien der Eugenik und des Männlichkeitskultes sind.154 Die Auseinandersetzung um die »richtige« und die »falsche« Repräsenta- tion, die in der Presse einerseits als Konflikt zwischen der CBD und den Klubs, andererseits auch als bestehender regionaler Zwist zwischen Rio de Janeiro und São Paulo geführt wurde, vermittelte am Vorabend der Unab- hängigkeitsfeiern ein weitaus weniger harmonisches Bild von Brasilien, als es die Veranstalter nach außen zeichnen wollten. Weiterhin existierte der 152 In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass in Südamerika von Beginn an internationale Spiele an nationalen Feiertagen veranstaltet wurden und oft- mals die Pokale oder Medaillen nach diesen Feiertagen benannt wurden. Sportveran- staltungen wurden also in den Kontext nationaler Erinnerung gebracht, die Sportler so auch zu nationalen Helden stilisierte, um sie auf diese Weise in eine Art Ahnenreihe mit anderen Nationalhelden zu bringen. 153 Hierbei beziehe ich mich auch auf die Argumentation von Lia Paradis: Vgl. PARADIS, Manly Displays, 2725 f. 154 »A Exposição de 1922, Orgão da Commissão Organizadora«, Nos. 3-4, Setembro, MCMXXII, Archiv des F.F. C. 217 Region 217 Streit zwischen beiden Städten bzw. deren Verbänden über die angemes- sene Berücksichtigung von Spielern aus beiden Lagern. Obgleich die anderen Sportorganisationen, die Verbände für einzelne Sportarten, die lokalen Sportverbände in São Paulo und die einzelnen Klubs, die Entscheidungsbefugnis der CBD beargwöhnten, waren sie letzt- lich doch von ihr abhängig. Ihr oblag es, über die Entsendung von Athleten zu internationalen Wettkämpfen zu entscheiden, weil sie bei den überge- ordneten internationalen Sportverbänden als Vertretung Brasiliens aner- kannt war.155Die Sportakteure der institutionell untergeordneten Ebenen mussten sich fügen, denn die CBD war auch die Organisation, die mit direkter Unterstützung durch die brasilianische Regierung Reisen von Athleten zu den internationalen Sportveranstaltungen finanzieren konnte – außer in den Fällen, in denen Klubs eigenständig und privat finanzierte Reisen unternahmen.156Vor diesem Hintergrund überraschte es einen Sport- journalisten von A Gazeta , dass trotzdem die Anliegen São Paulos ernst genommen wurden und nun Antônio Prado Júnior in die Vorbereitungs- kommission für die Olympischen Spiele und die Centenário -Feste einbe- zogen werden sollte.157 Anfang Januar 1921 erwartete die Presse mit Spannung die Ankunft ei- ner Delegation des IOC, die die Bereitschaft und den Stand der Vorberei- tungen in Rio de Janeiro für die Ausrichtung regionaler Olympischer Spiele überprüfen sollte.158Die Kommission leitete Jess T. Hopkins, der Sekretär 155 Vgl. N ETO -W ACKER , Marcia de Franceschi/W ACKER , Christian, Brazil goes Olympic: Historical Fragments from Brazil and the Olympic Movement until 1936 , Kassel 2010. 156 Wie zum Beispiel 1925 bei der Europa-Tournee des C. A. Paulistano, die der Klubvorsitzende Antônio Prado Júnior finanzierte: Vgl. hierzu Kapitel 4.2 dieser Arbeit, S. 276. 157 Vgl. »Ainda Continuamos na Lista negra… A’ ultima hora e’ aquella choradeira«, A Gazeta , 25.11.1921. 158 Vgl. T ORRES , Jogos Olímpicos Latino-Americanos; D A C OSTA , The IOC and Latin American Olympics-1922. Die Bedeutungsaufwertung von Sport zu einem zentralen Bestandteil einer modernen Gesellschaft führte schon 1921 zu der Diskussion, ob die Athletikmeisterschaften zu Regionalen Olympischen Spielen auszubauen seien. Die Idee kam ursprünglich vom IOC, so der Historiker Cesar Torres, mit dem Ziel, die olympische Idee auch in Südamerika zu verbreiten, nachdem sie sich in Europa und den USA schon durchgesetzt hatte. Die Idee, in Brasilien im Zusammenhang mit den Jahr- hundertfeiern zur Unabhängigkeit ( Centenário de Independência ) regionale Olympische Spiele abzuhalten, ist ihm zufolge nicht alleine als unidirektionale, europäische Diffusionslogik durch das IOC zu erklären. Eher sei ihre Entstehung aus einem Zusammenwirken verschiedener Akteure in einem zu diesem Zeitpunkt schon stark internationalisierten Sportumfeld zu verstehen. Auf der einen Seite stand dabei das IOC; auf der anderen Seite die Associação Cristã dos Moços (ACM – Christlicher Verein 218 218 Region der Abteilung für Leibeserziehung der Federação Sul-Americana da ACM (Südamerikanischer Verband der ACM).159Erst nach einer positiven Beur- teilung und vor allem einer offiziellen Förderung durch die brasilianische Regierung könnten die Sportfeste zu Regionalen Olympischen Spielen aus- gebaut und vom IOC unterstützt werden.160 Hopkins habe negativ über die Fortschritte in der Vorbereitung durch die CBD berichtet, so legt Cesar Torres dar. Für die Paulistas sei das eine Be- stätigung gewesen, dass die Cariocas ungeeignet seien, die große Aufgabe der Realisierung regionaler Olympischer Spiele umzusetzen. Zudem hätten die CBD und die Liga Metropolitana nicht sich selbst, sondern den Gut- achter des IOC für die Mängel der Vorbereitung verantwortlich gemacht.161 A Gazeta zitierte in ihren Berichten auch einen Sportler aus Rio de Janeiro, der über ein Gerücht zu berichten wusste, Hopkins sei von Uruguay ge- kauft worden, damit die Spiele auf Grund der schlechten Berichte an Uru- guay vergeben würden.162 Voraussetzung für die Erlaubnis durch das IOC zur Umwandlung der Athletikmeisterschaften in regionale Olympische Spiele und damit zu einer offiziellen Schirmherrschaft durch das IOC war die Unterstützung des Vorhabens durch die Regierung, so Torres.163Neben organisatorischer Unterstützung ging es dabei natürlich auch um finanzielle Hilfe. Beides bei der Regierung einzuholen, war der Auftrag der CBD. Allerdings ließ sie Junger Männer), ebenso mit dem Wunsch nach universaler Verbreitung des Sports und ihrer eigenen Ideale unter der männlichen urbanen Bevölkerung: Vgl. TORRES, Cesar R., The Latin American »Olympic Explosion« of the 1920s: Causes and Consequences, in: The International Journal of the History of Sport 23, 2006, Nr. 7, S. 1088-1111, hier 1089-1092; DERS., Jogos Olímpicos Latino-Americanos de 1922 – Rio de Janeiro, in: DACOSTA, Lamartine P. (Hg.), Atlas do Esporte no Brasil , Rio de Janeiro 2006, URL:<http://www.atlasesportebrasil.org.br/textos/158.pdf>,(abgerufenam: 28.3.2011). Wie Marcia de Franceschi Neto-Wacker schreibt, gab es in Brasilien schon seit 1914 ein Nationales Olympisches Komitee, das jedoch nicht als eigenständige Institution neben der von der Regierung gegründeten Confederação Brasileira de Des- portos in Erscheinung trat: Vgl. NETO-WACKER, Brasilien und die Olympische Bewe- gung. 159 Vgl. T ORRES , Jogos Olímpicos Latino-Americanos; D A C OSTA , The IOC and Latin American Olympics-1922. 160 Vgl. T ORRES , The Latin American »Olympic Explosion«. 161 Ebd. 162 Vgl. »Futebol. E’ a tal cousa… São infalliveis… As cabeças de turco«, A Gazeta , Januar 1922 (genaues Datum unbekannt). 163 T ORRES , The Latin American »Olympic Explosion«, S. 1094. 219 Region 219 zwei vom IOC gesetzte Fristen verstreichen, da die Regierung, im Jahr 1922 in finanziellen Schwierigkeiten, keine Zusagen machte.164 Auf Grund der zeitweisen Ausweglosigkeit der Situation schickten die CBD und die Liga Metropolitana eine Abordnung nach São Paulo. Die bat den lokalen Paulistaner Sportverband APEA um Hilfe zur Realisierung der regionalen Olympischen Spiele. Für einen Journalisten von A Gazeta war dies ein Beweis dafür, dass Rio de Janeiro letztlich auf São Paulo bei der Verwirklichung eines internationalen Sportprojektes angewiesen sei. Er appellierte an die Paulistas als Patrioten, diese Hilfe zu gewähren, denn »es geht darum, die Kräfte des brasilianischen Sportes für die große Feier im September zu sammeln.« Würde São Paulo nicht helfen, so schade dies dem Image Brasiliens insgesamt – er erinnerte an die wenig rühmlichen Beteiligungen Brasiliens an internationalen Sportereignissen in Chile 1921 und Antwerpen 1920.165Denn, so der Autor, »diese beiden Vorfälle bewei- sen den Spruch, dass der Carioca ein Gigant ist, wenn er mit dem Paulista zusammen ist – alleine jedoch nichts zählt.« Gerade jetzt, wo die guten Beziehungen zwischen den beiden Städten wieder hergestellt seien, sollten sich die Paulistas wie Brüder verhalten, doch dürfe diese Hilfe nicht ver- wechselt werden »mit Unterwerfung, Feigheit und Schüchternheit«.166 Schon hier nutzte ein Journalist den Begriff »Giganten«, um vordergrün- dig die Cariocas, in Wahrheit aber die Paulistas, zu charakterisieren und die gängige Selbsteinschätzung Letzterer auszudrücken, Brasilien habe ohne São Paulo keine Chance in der Welt. Die Konstruktion der Paulistas als »raça de gigantes« nahm der Historiker Alfredo Ellis Jr. in seinem gleich- namigen Buch von 1926 auf und bezog sich damit auf eine Einschätzung des französischen Reisenden Saint-Hilaire aus dem 19. Jahrhundert.167 Im Februar 1922 galten die Paulistas in der Tat als Rettungsanker für die Durchführung der regionalen Olympischen Spiele: Um das endgültige Scheitern des großen Sportereignisses zu verhindern, wurde beschlossen, einen Teil der Sportveranstaltungen in São Paulo abzuhalten. Das Ein- geständnis des Scheiterns – die Cariocas mussten auf die Paulistas zurück- 164 Ebd. 165 Vgl. »Embaixador dos Cariocas«, A Gazeta , 7.2.1922. Wie weiter oben beschrie- ben, hatte die Paulistaner Presse die mangelhafte organisatorische Vorbereitung und vor allem unzulängliche finanzielle Ausstattung der Reisedelegationen nach Antwerpen und Chile den Cariocas angelastet und diese als schlechtes öffentliches Image für ganz Brasilien beschrieben. 166 Ebd. Vgl. auch: »Ainda Continuamos na Lista negra… A’ ultima hora e’ aquella choradeira«, A Gazeta , 25.11.1921. 167 F ERREIRA , A epopéia bandeirante , S. 139. 220 220 Region kommen – deutete die Paulistaner Presse erneut so: »Und schon wieder muss sich Rio von der Überlegenheit unseres Sportes überzeugen. Und, ganz ehrlich, für die Herren aus der Hauptstadt der Republik, die davon leben uns anzugreifen, dürfte das nicht besonders angenehm sein […].«168 Erst nachdem der Präsident des Staates São Paulo, Washington Luís, zur Enttäuschung der Cariocas eine finanzielle Unterstützung abgelehnt hatte, griff die ACM ein, um die nationale Regierung letztlich noch zur Unter- stützung zu bewegen.169Die Ablehnung deutete die Presse in Rio de Janeiro erneut als fehlendes patriotisches Engagement für das nationale Projekt der lateinamerikanischen Olympischen Spiele.170Auf der anderen Seite hielten einige Cariocas es für unpatriotisch, São Paulo als Austragungsort zu be- rücksichtigen, weil es nicht die Hauptstadt war. Diese Auseinandersetzung spiegelte sich auch in dem Anspruch der Paulistas wieder, die »nationale« Unabhängigkeit anders und unabhängig von den Cariocas durch die Veranstaltung eigener Sportfeste zu begehen. A Gazeta führte eine Initiative an, ein eigenes Campeonato de Independência zu veranstalten. Zu diesem Zweck schlug die Zeitung die Umbenennung der jährlich stattfindenden Meisterschaften zwischen den lokalen Fußball- klubs ( Campeonato da Cidade ) in Campeonato de Centenário (Meister- schaften der Jahrhundertfeiern) vor. Der Ideengeber der Initiative gab als Grund die besondere Rolle an, die São Paulo im Prozess der Unabhängigkeit gespielt habe, und implizierte damit, dass er diese Rolle in den nationalen Unabhängigkeitsfeiern von 1922 in Rio de Janeiro nicht ausreichend berücksichtigt und gewürdigt sah: São Paulo spielte eine äußerst relevante, überlegene Rolle im Verlauf der politischen Ereignisse, die als Epilog die Emanzipation unserer star- ken und jungen Nationalität hatten. Das heutige São Paulo stellt die hei- lige Erinnerung an ein São Paulo anderer Zeiten in den Vordergrund. Es steht in der Pflicht, in jeglicher Form die großartige Tat zu feiern, die ih- ren Höhepunkt an den Ufern des Ypiranga nahe unserer schönen Haupt- stadt hatte. Das haben alle Paulistas verstanden. Literaten, Industrielle, Künstler, Händler, Bauern, Studenten, Professoren, das Volk – nur der Fußball der Stadt São Paulo, hoher Ausdruck der physischen Stärke ei- 168 »A Confederação-Metropolitana, em ultimo recurso, appella para São Paulo. Nada como um dia depois do outro…«, A Gazeta , 9.2.1922. 169 Vgl. T ORRES , Jogos Olímpicos Latino-Americanos. 170 Vgl. »A Confederação-Metropolitana, em ultimo Recurso, appella para São Paulo«, A Gazeta , 9.2.1922; »Que gente ma’… Continua a catilinaria da imprensa do Rio contra o esporte paulista«, A Gazeta , 27.2.1922. 221 Region 221 ner Rasse, bleibt der erinnernden Bewegung fern, trägt auf eine beschei- dene Weise zu der grandiosen Feier bei, obgleich er das auf eine bril- lante Art und Weise könnte.171 Im Zuge dieser Hervorhebung der Überlegenheit São Paulos im Unabhän- gigkeitsprozess und in der nationalen Geschichte überhaupt schob er den Beitrag anderer Staaten und Bewohner anderer Regionen völlig zur Seite. Die Aufzählung der Protagonisten umfasste weder Immigranten noch ehe- malige Sklaven. Paulistas, die er hier sogar als »Rasse« bezeichnete, grenzte der Autor von den Bewohnern anderer Regionen damit auch biologisch ab. Aus die- ser nun auch »rassisch« begründeten Überlegenheit leiteten die Paulistas ihre Führungsrolle im nationalen Sport ab. Sie erhoben nicht nur den An- spruch, Sitz des nationalen Sportverbandes zu werden, sondern stellten den Sport in den Dienst eines patriotischen und nationalen Zukunftsprojektes, das von denen angeführt werden sollte, die sich in besonderer Weise histo- risch bewiesen hätten.172 Das Campeonato de Centenário kam letztlich nicht zustande. Doch seine Befürworter griffen in ihrem Diskurs auf, was die Organisatoren der Paulistaner, vom Staat São Paulo finanzierten, allgemeinen Unabhängig- keitsfeier als Grundbotschaft vermittelten: Auf den Feiern referierten Red- ner und Politiker ebenfalls eine Reinterpretation der Geschichte Brasiliens von São Paulo aus und entwickelten die Hypothese, aus dem Paulistaner Schoß sei eine neue »Rasse« entstanden.173Das Campeonato de Centenário hätte sich gut in den Plan der Organisatoren eingefügt, den Ausdrucksfor- men verschiedener sozialer Gruppen in der Stadt durch aufgeführte Spekta- kel gerecht zu werden und die Feste selbst zum »Moment der Neugründung der Ursprünge« von São Paulo zu machen.174 Die Auseinandersetzungen um die Realisierung der Sportfeste im Rah- men des Centenário drückten aus, was auf einer allgemeineren politischen Ebene schon länger ein Streitpunkt war und im Jahr 1922 unter anderem in der Revolta Tenentista zum Ausdruck kam: Die Cariocas sahen durch die Hegemonie der Staaten Minas Gerais und São Paulo ihre politischen 171 »O Campeonato do Centenario«, A Gazeta , 20.4.1922. 172 Auch der Bau eines Stadions auf einem Grundstück, das der Klub C. A. Paulistano erworben hatte, sollte dazu dienen »auf unsere Art die erste Unabhängigkeitsfeier zu begehen.« In: »Futebol. O C. A. Paulistano vai reconstruir o seu campo. Um Estadio em São Paulo«, A Gazeta , 2.2.1922. 173 Vgl. F ERREIRA , A epopéia bandeirante , S. 273-276. 174 Ebd., S. 271. 222 222 Region Interessen nicht gewahrt. Der Staat São Paulo hingegen, als wirtschaftlich stärkste Kraft des Landes und mit seiner modernen, industrialisierten, kosmopolitischen Stadt im Zentrum, sah sich als rechtmäßige Vertretung ganz Brasiliens und forderte deshalb eine angemessene Repräsentation – auch im Sport. 3.2.3. São Paulo als Ausstrahlungszentrum Insgesamt war das Jahr 1922 ein dichtes Jahr in Bezug auf Sportereignisse. Im Jahr des Centenário veranstaltete die CBD neben den regionalen Olympischen Spielen und dem Campeonato Sul-Americano ein weiteres Campeonato Brasileiro (Brasilianische Meisterschaft), an dem auch Mann- schaften außerhalb der Süd-Ost-Achse teilnahmen. Sie fand in mehreren Städten statt und insgesamt traten sieben Auswahlmannschaften aus mehre- ren Bundesstaaten gegeneinander an. Vertreten waren Minas Gerais, Rio Grande do Sul und Paraná, eine Mannschaft aus dem Hauptstadtdistrikt Rio de Janeiro, eine für den Bundesstaat Rio de Janeiro und eine Auswahl São Paulos. Aus dem Norden sollten ursprünglich Pará, Pernambuco und Bahia teilnehmen, jedoch sagten die beiden ersten Bundesstaaten ab und nur Bahia entsandte eine Mannschaft.175 Der Ausgang des Turniers blieb lange offen und zwischenzeitlich er- schien sogar die Auswahl aus Bahia als aussichtsreicher Kandidat auf den Titelgewinn. Letztlich setze sich jedoch São Paulo im Endspiel gegen den größten Rivalen Rio de Janeiro durch. Auch diesen Titelgewinn ordneten die Paulistas in die Erinnerung an die Unabhängigkeit ein und sahen ihn als Beweis für die sportliche Hegemonie São Paulos, wie die folgenden Passa- gen aus einem Artikel in A Gazeta am Tag nach dem siegreichen Spiel verdeutlichten: »Paulistas, absolute Meister Brasiliens, tatsächlich mit Recht und Gerechtigkeit. Das große Treffen von gestern bewies die Paulistaner Hegemonie im nationalen Fußball.«176Weiterhin fuhr der Autor fort: Mit dem gestrigen Sieg sind die Paulistas definitiv die geweihten Meis- ter Brasiliens, Meister des Centenário, begabte Meister des Fußballs. Ohne auch nur ein brasilianisches Spiel zu verlieren, haben sie alle ihre 175 Erst im Jahr darauf schafften es auch diese beiden Staaten teilzunehmen und die CBD ordnete den Wettbewerb als ersten offiziellen Nationalpokalwettbewerb ein: Vgl. Sant’Anna, Supremacia, S. 76-85. 176 »Paulistas, campeões absolutos do Brasil, de facto, de direito, de justiça. O grande encontro de hontem confirmou a hegemonia paulista no futebol nacional. Cariocas (1) Paulistas (4)«, A Gazeta 14.8.1922. 223 Region 223 Gegner besiegt und überragten im Treffen von gestern mit ihrem vor- züglichen Prestige im nationalen Sport. Die heldenhaften Verteidiger der Paulistaner Farben wussten ihre Pflicht zu erfüllen und verdienen Applaus. 177 Der Autor stellte die Stadt São Paulo als ausstrahlendes Zentrum Brasili- ens, ja sogar Südamerikas dar. Die Entwicklung des Fußballs in anderen Gegenden sei auf São Paulo zurückzuführen. Denn, so die Einschätzung, selbst ein Sieg der Cariocas, den ein Teil der Paulistaner Bevölkerung angesichts der vorher eingeschätzten Stärke des Teams erwartet habe, beweist nur, dass der brasilianische Fußball sich an mehreren Punkten des Landes gleichzeitig entwickelt und diese Tatsache ehrt São Paulo, das der Meister des britischen Spiels in Brasilien war und ist und sich zu einem der bemerkenswertesten Zentren des Fußballs auf dem süd- amerikanischen Kontinent entwickelt.178 Auch am nächsten Tag, in einer »abschließenden Bilanz« des Wettbewerbs, hieß es, der Sieg habe gezeigt, dass »unsere Rasen die wahre Schule des brasilianischen Fußballs sind.«179 Die Presse in São Paulo feierte die Paulistas auch wegen ihrer Siege ge- gen eine tschechoslowakische und eine spanische Mannschaft im Jahr 1922. Beide galten als Vertreter besten europäischen Fußballs, da sie bei den Olympischen Spielen in Antwerpen sehr gut abgeschnitten hatten. Die Paulistas siegten sogar mit einer nur mittelmäßigen Auswahl.180Nach dem 2:1-Sieg gegen die Spanier äußerte sich der Sportredakteur von A Gazeta , Leopoldo Sant’Anna, in seiner Kolumne »Ecos…« zu dem Spiel und stellte den Sieg in Beziehung zur politischen Machtposition São Paulos: Wir sind in der Politik, im Handel, der Industrie und der Kunst zum füh- renden Staat geworden. Unser Wille wird im nationalen Rahmen res- pektiert. Unsere Repräsentanten im Parlament, wo sich die Stimmen von 21 Staaten erheben, wissen, wie sie ihre Ideen durchbringen können, wie 177 Ebd. 178 Ebd. 179 »Primeiro Campeonato Brasileiro de Futebol. Balanço final do grande concurso do anno do Centenario«, 17.8.1922, A Gazeta . Vgl. auch »Os paulistas reaffirmam que de facto, de direto e de justiça são os campeões do Brasil. Os eternos campeões das eternas victorias moraes soffreram hontem mais duas derrotas«, A Gazeta , 28.8.1922. 180 »Futebol. Hespanhoes (1) Paulistas (2). Mais uma vez São Paulo reaffirma a sua hegemonia no futebol patrio«, A Gazeta , 11.9.1922. 224 224 Region sie ihre Gedanken und all ihre Pläne gewinnen lassen können. Wir sind eine politische Kraft. Wir beugen uns nicht. Daraus leitete er auch São Paulos sportliche Überlegenheit ab, bemängelte jedoch, dass sich diese nicht in einer sportpolitisch angemessenen Reprä- sentation ausdrücke: Der Paulistaner Sport verdient, wegen all dem, nicht den Namen paulista. Er repräsentiert in seinen Außenbeziehungen nicht den Glanz der bandeirantes. Er widerlegt unsere Geschichte. Er fordert unsere Po- litik heraus. Er ist wie ein Stier, der seine Kraft nicht kennt, großartig, herkulesartig. Das ist das paradoxe Bild eines Tigers, der kriecht wie ein Schoßhund. Und dann zu sagen wir seien die größte Sportkultur des Landes!181 Sant'Anna grenzte über die Betonung einer Tradition der bandeirantes immer wieder die Paulistas gegenüber Bewohnern anderer Regionen ab. Er war in den Jahren 1915 bis 1930 der führende Sportjournalist bei der Tageszeitung A Gazeta. 182Neben seiner sportjournalistischen Tätigkeit veröffentlichte er mehrere Monografien zum Fußball in São Paulo, in de- nen er ebenfalls São Paulos Sportentwicklung an dem Partner und Wider- sacher Rio de Janeiro maß.183So lobte er 1920 Washington Luís‘ Einsatz für den Sport und plädierte insbesondere für die Stärkung der Eigenschaf- ten der bandeirantes in einer zukünftig sich entwickelnden brasilianischen »Rasse«: Ehre gebühre dem, der danach strebt, die bandeirantes in unserer Rasse von heute wiedererweckt zu sehen, aber die modernisierten bandeirantes, bei denen zur Muskelstrenge und moralischen Energie auch die Schön- heiten der intellektuellen Kultur hinzukommen und die wirklich groß sein sollen in ihrer Kraft und durch ihren Geist.184 Die Ausbildung einer brasilianischen »Rasse« unter Paulistaner Vorzeichen war eine typische Idee reformerischer Paulistaner Eliten in der Ersten Re- 181 »Ecos«, A Gazeta , 13.9.1922. 182 M AZZONI , História do futebol , Vorwort/Prolog, ohne Seitenzahl. Vgl. auch MAZZONI, Almanaque Esportivo 1928 , S. 290-291. Dort bezeichnet ihn Thomaz Mazzoni als einen der bedeutendsten Sportjournalisten São Paulos, der auch über São Paulo hinaus beträchtlichen Einfluss besessen habe: Vgl. ebd. 183 Vgl. S ANT 'A NNA , Supremacia . 184 »Do Sport«, A Gazeta , 30.1.1920. 225 Region 225 publik.185Sant’Anna sprach deshalb auch von dem Zukunftsprojekt einer raça brasileira , das sich durch sozialpolitische Maßnahmen realisieren lasse und hob den Idealtyp des bandeirante hervor.186 Die Wiederholung der Genealogie der Paulistas als Nachfahren der über- legenen bandeirantes war nicht nur kulturell, sondern implizierte oftmals auch eine biologische Überlegenheit. Zumindest, wie Weinstein deutlich macht, war dieser kulturelle Überlegenheitsdiskurs später äußerst an- schlussfähig für einen eher biologischen Rassismus, der Bewohner anderer Staaten diskriminierte.187 Dies geschah auch in Figueiredos »Geschichte des Fußballs in São Paulo«.188In seiner Einleitung verglich Figueiredo die Jugend São Paulos vor 1890 mit der Jugend in den 1920er-Jahren. Er beschrieb die Erstere als eine hybride Mischung junger Männer aus allen Provinzen Brasiliens, die von Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts nach São Paulo kamen. Sie hätten ein übersteigertes Interesse für Literatur und Poesie gezeigt. In einer darauffolgenden Phase hätte die Jugend einen den Paulistas innewohnen- den praktischen Sinn wiederentdeckt, den auch Figueiredo auf die Tradi- tion der bandeirantes zurückführt: Die höheren Schulen São Paulos, nachdem diese Phase der Literatur und Kunst vorbei ist, sind wie ›erloschene Vulkane‹. Nachdem die Liebe zu den Romanen und Gedichten vorbei war, kam der praktische Sinn auf, der ebenso zu einer Übertreibung gebracht wurde […]. Aber es ist ange- bracht zu betonen, dass in den verschiedenen Phasen unserer Geschichte sich die Paulistas nie allzu sehr mit den Geisteswissenschaften beschäf- tigt haben, sie haben es immer bevorzugt, sich den mutigen Unterneh- mungen hinzugeben, sich der Unerschrockenheit und dem Mut zu wid- men. Man solle sich erst einmal die Schaffung der Grenzen ansehen, die das Hinterland unserer Heimat verwüstet haben.189 Figueiredos und Sant'Annas Geschichten des Paulistaner Fußballs lassen sich einem Literaturkanon zurechnen, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Mythos der bandeirantes konstruieren half und der auch an Ge- schichts- und Literaturinstituten entstand. Historiker und Schriftsteller 185 Vgl. W EINSTEIN , Racializing Regional Difference. 186 Siehe zu den bandeirantes ausführlicher Kapitel 3.1, S. 178, zur raça brasileira Kapitel 1.3, S. 70 dieser Arbeit. 187 W EINSTEIN , Racializing Regional Difference, S. 255. 188 Vgl. F IGUEIREDO , História do Foot-Ball , S. 39-45, 80 f. und 177 f. 189 Ebd., S. 4. 226 226 Region rüsteten die Paulistas mit Charakterzügen aus, die sie als Pioniere des Fort- schritts und als Selfmademen auswiesen und die gleichsam als Vorbild des brasilianischen Menschen gelten sollten.190 Figueiredo gab das Jahr 1890 als den Beginn einer neuen Phase an: Die Jugend habe begonnen, sich für Sport und Leibesertüchtigungen im Allgemeinen zu interessieren. Er setzte sich für die Formung eines neuen Menschen ein, der idealerweise physische Stärke und geistiges Vermögen in sich vereine. Bisher sei dies unausgeglichen und eine der beiden Eigen- schaften zu stark betont worden, was er auf eine Neigung des Brasilianers zur Übertreibung zurückführt. Gerade in São Paulo hätten die Eliten zu sehr ein physisches Menschenbild idealisiert, das im Zusammenhang mit der Tradition der bandeirantes entstanden sei, da für die Entdeckung von Land und Bodenschätzen muskulöse Athleten gebraucht wurden. Idealer- weise aber, so Figueiredo, komme es bei der Formation eines neuen, idea- len brasilianischen Menschen zu einer Kombination physischer und geisti- ger Tätigkeiten, so wie auch schon im antiken Griechenland:191 Griechenland wies, bevor es seinen Zenit erreichte, keineswegs diesen perfekten Typus auf, athletisch, attisch und kultiviert, den Hellenen des 5. Jahrhunderts; der Athletismus kommt von den Dorern und die Kultur aus Athen: Aus der Fusion der beiden Rassen ging die Perfektion der Griechen hervor – eine Perfektion, die alle modernen Völker versuchen zu erreichen. Wer weiß, ob diese gegensätzlichen Tendenzen, des Athle- tismus und der Literatur, aus der aktuellen Jugend irgendwann einen Typ von Brasilianer entstehen lassen, der in irgendeiner Weise diesen Men- schen ähnelt, die die Xerxes und Darius besiegt haben und die über die Jahrhunderte die Modelle der anderen Völker waren? 192 Wenn Figueiredo auf die Paulistaner Entwicklung des Sports abhob, die sich von der in anderen Landesteilen unterscheide, dann ist das auch im Kontext der regionalistischen Identitätskonstruktion des Paulistaner Selfmademan zu sehen: Der sportsman als Idealtypus, der leistungsbezo- gene Wettkämpfe ausficht, der sich aus eigener Kraft gegen Wettbewerber durchzusetzen versucht, passte zu dem regional seit Ende des 19. Jahrhun- 190 Vgl. F ERREIRA , A epopéia bandeirante ; W EINSTEIN , Racializing Regional Difference; Vgl. hierzu auch Kapitel 1, S. 175 dieser Arbeit. 191 Auch in seiner Autobiografie Memórias de um jornalista stellt Figueiredo die Griechen als fortschrittlich und zivilisiert dar, an deren Beispiel sich heute Erziehungs- modelle orientieren sollten: Vgl. FIGUEIREDO, Antônio, Memórias de um jornalista , São Paulo 1933, S. 53. 192 F IGUEIREDO , História do Foot-Ball , S. 6. 227 Region 227 derts propagierten Idealtypus des Paulistaner »Entrepreneur« und, zu einem späteren Zeitpunkt, auch zu den idealisierten Eigenschaften einer »Paulistaner Mittelschicht«, wie sie Barbara Weinstein jüngst herausarbei- tete, und die eine besondere Zugehörigkeit zu einer »transnationalen Moderne« für sich reklamierte.193 Der besondere Erfolg im und die Beherrschung der modernen Regeln des transnationalen Fußballs konnten hier als weiterer Ausdruck einer besonders ausgereiften modernen und urbanen Mittelschicht geltend ge- macht werden. Dies in starker Abgrenzung zu anderen Regionen Brasiliens, die aus ihrer Sicht weder über eine Mittelschicht noch über eine ausge- prägte »westliche« Fußballkultur verfügten. Gerade über den Fußball konnte deutlich gemacht werden, dass man im Selbstverständnis einer modernen – und transnationalen – Paulista -Identität, auf Herkunft beruhen- de Privilegien ablehnte und einzig auf Leistung beruhende Belohnungen gelten ließ. Ein Ideal, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts nichts besser verkörperte als der moderne Sport und mithin der Fußball mit seinen ange- nommenen transparenten, effizienten, klaren und universalen Regeln. Das bedeutet, ein transnationales Phänomen wie der Fußball diente als Diskurs für diese Wertekonflikte, zugleich wurde er selbst auch eingesetzt sowohl von einer traditionellen Elite als auch von einer eher der Mittelschicht entstammenden Elite, um nicht als Mittelschicht verstandene Bevölke- rungsgruppen und Regionen in eine »transnationale Moderne« im Sinne Weinsteins einzuführen. Die Paulistas beanspruchten dabei nicht nur für sich, dies innerhalb ihrer Stadt oder ihres Staates für bestimmte Bevölke- rungsgruppen zu leisten, sondern darüber hinaus auch das gesamte Land, ausgehend von São Paulo, für diesen Weg zu gewinnen. Fußball mit seiner so hohen Verbreitungsmöglichkeit über Vereine und Ligen, die Presse und informelle Spiele, durch sein Begeisterungspotential wurde dabei schnell als geeigneter als jedwede andere kulturelle Praxis oder Einrichtung mit Sendungsfunktion, wie beispielsweise Schulen, betrachtet. Interessant war nun noch, dass sich über den Fußball die Durchsetzung der »Moderne« in Brasilien, vor allem São Paulo, wieder nach außen kommunizieren ließ. Auch von dieser Möglichkeit wurde in den 1920er-Jahren Gebrauch ge- macht. Wie stark die Paulistas ihre regionale Überlegenheit im Fußball mit einer allgemeineren kulturellen Überlegenheit gleichsetzten, verdeutlichte eine Karikatur vom 26.9.1922 in A Gazeta (Bild 8). Zur Erklärung der brasilianischen Flagge verband der Karikaturist die Farben und Symbole 193 Vgl. W EINSTEIN , Weiß, männlich, Mittelschicht. 228 228 Region mit brasilianischen zeitgenössischen Phänomenen. Die nationale Flagge selbst zeigte die Karikatur nur umrisshaft, auf den beiden Zeichnungen war sie von der Paulistaner Flagge verdeckt. Mit der Erklärung der Symbole machte sich der Karikaturist zudem über Hinterland-Bewohner lustig und parodierte Probleme wie Krankheit und Armut. Im Gegenzug stellte die Karikatur São Paulo als reich und als Metropole des Kaffeehandels dar. Gleich das erste Bild zeigte São Paulo als Stadt mit seiner beschleunigten Modernisierung: Die abgeholzten Wälder symbolisierten das rasante ur- bane Wachstum. Das siebte Bild symbolisierte den Globus auf der brasilia- nischen Flagge als Zeichen für die Überlegenheit São Paulos im Fußball. São Paulo fühlte sich für das Wohlergehen der gesamten Nation verant- wortlich. Bild 8: »Der Globus repräsentiert die Überlegenheit São Paulos auf den Fußballplät- zen«: Mit diesem Bildtitel drückte die Paulistaner Presse das Paulistaner Überlegenheitsgefühl und den Vertretungsanspruch für ganz Brasiliens auch symbolisch aus. Quelle: »Semana dos symbolos da Nação«, A Gazeta , 26.9.1922.194 3.3. Z USAMMENFASSUNG Die Auseinandersetzungen zwischen São Paulo und Rio de Janeiro, die sich anlässlich der sportlichen Inszenierung des Centenário verdichteten, sind nicht ausschließlich in einem nationalen Zusammenhang zu verstehen und 194 1. »Das Grün stellt die atemberaubende Vegetation vor den Abholzungen dar.«; 2. »In den gelben Stücken scheint es eine Anspielung auf den Rest des nationalen Reichtums zu geben.«; 3. »In den schwarzen und weißen Streifen liegt viel Bedeutung: der Reichtum des Hauses von Rodovalho, das Trachom, die ›Bändchen‹ usw. [Das Trachom ist eine in den Tropen verbreitete und durch Bakterien verursachte Augen- entzündung, die zu Blindheit führen kann. Die weiteren Anspielungen sind allenfalls im Kontext der Zeit verständlich, d. Verf.].«; 4. »Die Sterne erinnern an die Staaten, die Schläge und die Wirkungen des Fußflohs [südamerikanischer Parasit, d. Verf.].«; 5. »Der Tabakzweig: Der Genuss der Brasilianer aller Größen«; 6. »Die Kaffeepflanze: der Wohlstand der Patrioten, die oben und unten bei dem großen Produkt mitspielen.«; 7. »Der Globus repräsentiert die Überlegenheit São Paulos auf den Fußballplätzen.« 229 Region 229 einzuordnen. Sie fanden erst in einem transnationalen Rahmen eine Aus- drucksform, als Konflikte um nationale und regionale Repräsentation und in der körperlichen Inszenierung im Spektakel. Erst internationale Spiele boten hierfür Ausdrucksmöglichkeiten. Zudem zeigen diese Konflikte, wie das Politische in den Fußballraum hineinspielte, gerade weil sich durch die Bedeutungszunahme des Sports nach dem Ersten Weltkrieg politische An- sprüche anders und besser ausdrücken ließen als im engen politischen Rah- men der Diplomatie. Die Diskussionen um die Ausrichtung der Sportveranstaltungen anläss- lich des Monarchenbesuches, der Teilnahme an den Olympischen Spielen in Antwerpen und an den Campeonatos Sul-Americanos sowie der Feiern zum Jahrestag der Unabhängigkeit demonstrieren, welche nationalen Werte Sportfunktionäre, Journalisten und politische Eliten zeigen wollten: den männlichen, »weißen« und jungen Brasilianer und ein »zivilisiertes«, kräftiges und modernes Land. Mit der Bedeutung, die Sport vor allem nach dem Ersten Weltkrieg im globalen Kontext als eine Möglichkeit der Inszenierung nationaler Stärke erlangte, spielte dieses Potenzial für regionale Eliten eine herausragende Rolle, um Vorstellungen von regionaler Identität zu festigen. Fußball diente nicht nur als Ausdrucksmöglichkeit sowieso schon vorhandener Differen- zen oder deren Zuschreibungen, er war eine Möglichkeit, diese Zuschrei- bungen zu festigen und zu materialisieren. Dies betraf diskursive, textliche Ausdrücke und körperliche Materialisierungen, wie zum Beispiel die Athletikparade vor dem belgischen König. Die hier dargelegte lang andauernde Rivalität zeigt allerdings, dass Fuß- ballspiele nicht einfach nur schon vorhandene ökonomische, kulturelle und soziale Differenzierungen abbildeten und darauf zurückgriffen. Sport diente Paulistaner Eliten in ganz entscheidendem Maße dazu, eine eigene Identität eines modernen, »zivilisierten« und »weißen« Staates zu erklären, dessen Einwohner sich sogar »rassisch« von allen anderen unterschieden, die dazu berufen seien, alle anderen anzuführen und die letztlich Brasilien ausmachten. Die Betonung der bandeirantes -Tradition bei Figueiredo, Sant’Anna und anderen Journalisten und Sportlern zeigt, wie stark der Ausdruck regionaler Differenzen von der Konstruktion gegensätzlicher Körperbilder begleitet war.195 Im folgenden 4. Kapitel wird im letzten Teil darauf noch einmal zurück- zukommen und zu zeigen sein, in welchem Maße die Paulistas die Vor- 195 Zum Ausdruck gesellschaftlichen Wandels und identitärer Vorstellungen in Körpergegensätzen: Vgl. COWAN/SICKS, Technik, Krieg und Medien. 230 230 Region stellungen einer brasilianischen Identität unter Paulistaner Vorzeichen in Europa vermittelten.
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4. NATION: NATIONALE REPRÄSENTATION UND SELBSTINSZENIERUNG
Er [der Fußball, d. Verf.] ist eine Propaganda für den aktuellen Moment, wird dies aber noch stärker für die Zukunft sein, wenn die Jugend von heute die Regierungen und die Welt von morgen bestimmt. Schon jetzt wissen unsere Brüder aus Paris sicherlich, dass zum Beispiel das ›pays de la bas‹ nicht nur von Indios bewohnt wird. Dass hier eine neue Rasse im Entstehen ist, die die physischen Qualitäten der alten europäischen Rassen ersetzen kann. Ganz Brasilien erlebt außerdem einen großen Moment beruhigender stärkender patriotischer Emotion und hat dabei die unvergleichliche Ehre, Europa erneut vor sich ergeben zu sehen, wie das alte Lied aus den Zeiten Santos Dumonts sagte. Allein das stellt einen unschätzbaren Gewinn für unsere bekümmerten Herzen dar, die ermüdet von Pessimismus und moralischen Betrübnissen sind. Ruhm also den Brasilianern aus São Paulo, wir können auch sagen, der Heimat des Kaffees, um sich der Propaganda zu bedienen, die ohne offizielle Hilfe einen großen, unschätzbaren Verdienst für die Größe unserer Heimat erbringen.1 Obwohl in dem vorangestellten Textausschnitt der Fußball wörtlich nicht vorkommt, spricht der Autor anlässlich der Reise des ersten brasilianischen Fußballklubs nach Europa im Jahr 1925 ausschließlich über ihn. Mitte der 1920er-Jahre war der brasilianische Fußball längst keine Nachahmung europäischer Spieltechnik mehr. Brasilianische Fußballspieler hatten in zahlreichen Siegen gegen südamerikanische und auch europäische Mann- schaften mit einem ihnen eigenen Stil demonstrieren können, dass sie von den Vorbildern unabhängig geworden waren und das Spiel »kreolisiert« hatten.2Der Autor vermittelt zudem, Sport habe sich in den 1920er-Jahren zu einem bedeutungsvollen Mittel diplomatischer Beziehungen, nationaler Selbstinszenierung, Herstellung von Differenz und Aushandlung von Iden- tität entwickelt. Auf dem amerikanischen Kontinent nutzten nach dem Ersten Weltkrieg vor allem die USA Sport als ein Mittel, um eine amerikanische nationale Kultur und amerikanische Identität ethnischer Gleichheit zu imaginieren und zu propagieren. Darauf verweist Mark Dyreson, der hierfür vor allem 1 »E'cos da victoria do Paulistano. O que diz a imprensa carioca«, O Esporte , nach: A Gazeta , 20.3.1925. 2 Zur Definition von »Kreolisierung« siehe S. 156 der vorliegenden Arbeit. 232 232 Nation die Inter-Allied Games im Jahr 1919 und die Einrichtung eines Publicity Department für Sportpropaganda in den USA im selben Jahr als Mark- steine betrachtet.3Er argumentiert, andere Länder hätten diese Form der Propaganda bereitwillig übernommen, nur die inhaltliche Ausgestaltung und die Zielsetzung konnten unterschiedlich sein. So nutzten Nationen den Sport, um sich zum Beispiel gegen US-amerikanische Kolonialisierung zu wehren. Als Beispiel nennt Dyreson Uruguay und die Bedeutung der Olympischen Siege des uruguayischen Fußballteams 1924 und 1928 in Europa für die nationale Identität des Landes.4Für Dyreson belegt das Beispiel, dass Sport in der Moderne eher als »Makler nationaler Interessen« fungierte denn als »ein Instrument zur Konstruktion irgendeiner Art von transnationaler globaler Gesellschaft.«5 Waren die ersten fußballerischen Kontakte bis 1914 zwischen Europa und Brasilien und zwischen Südamerika und Brasilien noch sporadisch, spontan und weitestgehend unpolitisch und privat initiiert, so wandelte sich der Fußball zunehmend zu einem Hilfsmittel der Diplomatie: Fußball ge- langte nach dem Ersten Weltkrieg in den Fokus von Regierungen und überbot in den Augen einiger die Möglichkeiten traditioneller Diplomatie.6 Für verschiedene staatliche und nicht-staatliche Akteure, alle Elitenan- gehörige, wurde er zu einer neuen Form diplomatischen Austausches. Es geht hier weniger darum, die Auswirkungen des Fußballs auf zwischenstaatliche Beziehungen zu analysieren. Vielmehr wird die Suche nach brasilianischer Identität über den Fußball im Kontext transnationaler Austauschbeziehungen in zwei Dimensionen untersucht: Im ersten Teil in einer regionalen Dimension, indem die Süd-Süd-Beziehungen, also die Beziehungen Brasiliens zu seinen Nachbarländern Argentinien und Uru- guay, betrachtet werden. In einem zweiten Teil wird die europäisch- brasilianische Dimension dargestellt. Die Interdependenzen zwischen Inter- nationalisierung des brasilianischen Fußballs und Nationalisierungs- tendenzen sollen erkennbar werden. Die Konstruktion und Vorstellung 3 Vgl. D YRESON , Globalizing, S. 100 ff. Vgl. zur Rolle des Sports für die Verbreitung US-amerikanischer kultureller Werte auch: KEYS, Globalizing Sport ; DIES., Spreading Peace, Democracy, and Coca-Cola®: Sport and American Cultural Expansion in the 1930s, in: Diplomatic History 28, April 2004, Nr. 2, S. 165-196. 4 D YRESON , Globalizing, S. 102. 5 Ebd., S. 95. 6 Vgl. A RNAUD u. a. (Hg.), Sport and International Politics ; B ECK , Scoring for Britain ; KEYS, Globalizing Sport ; POLLEY, Martin, The Amateur Ideal and British Sports Diplomacy, 1900-1945, in: Sport in History 6, Nr. 13, S. 440-467; RIORDANu.a. (Hg.), The International Politics of Sport . 233 Nation 233 nationaler Identitäten und ihre Repräsentation durch staatliche und nicht- staatliche Akteure geraten nicht aus dem Blickfeld, nur werden sie aus einer transnationalen Perspektive betrachtet. Welche Möglichkeiten boten internationale Fußballbegegnungen für die Konstruktion von Differenzen entlang nationaler Grenzen? Und bot der Fußball Möglichkeiten zur Kon- struktion alternativer Identitätsentwürfe? Nahmen die handelnden Akteure über die Internationalisierung des Fußballs neue Formen der Abgrenzung und Differenzierung vor, so zum Beispiel einer gemeinsamen Identität der südamerikanischen Länder gegenüber Europa? Führte der internationale Fußballaustausch zu Differenzierungen, die im Sinne Dyresons darauf schließen lassen, der Fußball habe vorrangig der Konstruktion nationaler Identität gedient? Dabei ist zu klären, welche weiteren Identitätsentwürfe im Spiel waren und möglicherweise über internationale Fußballbegegnungen ausgehandelt wurden. Der Blick richtet sich mit diesem Vorgehen auf internationale Begegnungen, die beispielhaft für diese Entwicklungen waren, auf die darin hervortretenden staatlichen und nicht-staatlichen Akteure und auf diskursive Konstruktionen von Identitäten in der Sportpresse. Der Sieg der uruguayischen Nationalmannschaft über die europäischen Mannschaften bei den Olympischen Spielen in Paris im Jahr 1924 hatte international gleichzeitig Bewunderung und Erstaunen hervorgerufen. Den Pressevertretern und Spielanalysten, Sportanhängern und Fußballvereinen in Europa führte er spätestens jetzt vor Augen, dass die moderne Sportart Fußball über ihre Ursprungsregion hinaus populär geworden war und in anderen Weltregionen ebenso erfolgreich praktiziert wurde.7Zwar hatten schon zuvor europäische Mannschaften den südamerikanischen Kontinent besucht und waren gegen dortige Mannschaften und Klubs angetreten,8 allerdings verschaffte das Länder und Kontinente umspannende Ereignis der Olympischen Spiele dem Sieg der Uruguayer eine größere Aufmerk- samkeit und eine höhere Relevanz. Der Olympiasieg 1924 wurde quasi im Herkunftskontinent des Fußballs errungen und von da an galten die Uru- guayer als »Weltmeister« in dieser Disziplin. Die Olympischen Spiele in Paris 1924 waren kein alle europäische Län- der umfassendes harmonisches und unpolitisches Sportereignis. Entgegen 7 M ASON , Passion of the people? , S. 30-32. 8 Im Jahr 1910 und 1913 spielte der englische Amateurklub Corinthian F.C. in Rio de Janeiro und São Paulo. Im Jahr 1914 besuchte der englische Profi-Klub Exeter City Südamerika: Vgl. ebd. S. 19-26; MAZZONI, História do futebol , S. 78 ff. und 99 f. Vgl. hierzu auch Kapitel 3.1.2 der vorliegenden Arbeit. 234 234 Nation den pazifistischen Ambitionen des Begründers der neuzeitlichen Olympi- schen Spiele, Pierre de Coubertin, spiegelte sich in den Spielen 1924 die Lage der internationalen politischen Beziehungen seit dem Ende des Ersten Weltkrieges wieder.9Deutschland war, wie auch schon 1920 in Antwerpen, von der Teilnahme ausgeschlossen. Davon war auch die 1904 gegründete FIFA trotz ihrer ebenfalls unpolitischen Ambitionen direkt betroffen: Die vier britischen Nationalverbände traten aus Protest gegen den Verbleib der Kriegsverlierer Österreich-Ungarn und Deutschland in der FIFA aus dem Verband aus.10Sie weigerten sich nicht nur, Länderspiele gegen Mann- schaften der Mittelmächte auszutragen, sondern ebenso gegen Länder, die gegen die Mittelmächte angetreten waren oder in Zukunft antreten wür- den.11 Es ist inzwischen in verschiedenen Studien herausgestellt worden, wel- che Rolle Fußball für die diplomatischen Beziehungen zwischen einzelnen Ländern und zwischen Regionen spielte.12Daher liegt die These nahe, eine transnationale Sportgemeinschaft habe sich im Ersten Weltkrieg angesichts des »nationalistic outbursts«13und einer quantitativen Abnahme von Nichtregierungsorganisationen aufgelöst.14Der Erste Weltkrieg bedeutete zwar eine kurzfristige, aber nicht vollständige Unterbrechung transnatio- naler Beziehungen und in der Zwischenkriegszeit wurden alte Beziehungen wieder aufgenommen. Teilweise kam es sogar zu einer Verdichtung trans- nationaler Kontakte: Die Einbeziehung in das Kriegsgeschehen und das gemeinsame Schicksal habe bei verschiedenen transnationalen Akteuren 9 G UTTMANN , Allen, The Olympics: A History of the Modern Games , Illinois 2002, S. 28; KEYS, Globalizing Sport , S. 34. 10 Großbritannien war durch insgesamt vier eigenständige Verbände, entgegen der Regel der FIFA »one nation, one vote«, vertreten. Schottland, Wales, Irland und Eng- land unterhielten jeweils einen eigenständigen Verband und somit galten auch die Spiele zwischen Klubs dieser Verbände als internationale Spielbegegnungen: EISENBERGu. a. (Hg.), FIFA 1904-2004 , S. 66; LANFRANCHIu. a., Moving with the Ball , S. 38-39; MURRAY, Bill, FIFA, in: James RIORDAN/Arnd KRÜGER(Hg.), The Interna- tional Politics of Sport in the Twentieth Century , London u. a. 1999, S. 28-47, hier 30 ff. 11 B ECK , Peter, Scoring for Britain: International Football and International Politics , 1900-1939, London 1999, S. 81-83; HÜSER, Dietmar, Neutralitätsdiskurs und Politi- sierungstrends im Zeitalter des Massensports – Die FIFA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: BOUVIER, Beatrix (Hg.), Zur Sozial- und Kulturgeschichte des Fußballs , Trier 2006, S. 37-58, hier 42. 12 Vgl. A RNAUD u. a. (Hg.), Sport and International Politics ; B ECK , Scoring for Britain ; KEYS, Globalizing Sport ; POLLEY, The Amateur Ideal; RIORDANu.a. (Hg.), The International Politics of Sport . 13 G EYER , The Mechanics of Internationalism, S. 6. 14 Vgl. B OLI u.a., Constructing World Culture, S. 22 f. 235 Nation 235 eher noch den Willen nach internationaler Zusammenarbeit bestärkt.15Die Idee des liberalen Internationalismus des 19. Jahrhunderts, Freihandel und die Implementierung international geltender Regelsysteme könnten Kon- flikte verhindern, wurde zwar enttäuscht, aber nicht widerlegt.16Dafür sprechen zum Beispiel die Herausbildung von Organisationen wie dem Völkerbund und eine allgemeine, wenn auch nur vorübergehende Euphorie, durch internationale Abkommen eine neue Nachkriegsordnung zu schaffen, in der Völker bald selbstbestimmt über ihr Schicksal entscheiden könnten.17 Auch Sportfunktionäre machten sich die Idee befriedender Wirkung für nationale Konflikte seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu eigen. Die Ausrichtung internationaler Sportwettkämpfe nahm aber vor allem nach dem Ersten Weltkrieg zu, Sportler reisten öfter zu internationalen Spielen und wurden Teil einer transnationalen Sportelite. Eine speziali- sierte Sportpresse funktionierte zu großem Teil auf der Basis transnatio- naler Kontakte der Journalisten und Redaktionen.18Internationale Sport- organisationen, so die FIFA und das IOC, erhöhten langsam aber stetig ihren Einfluss und weiteten ihren Machtbereich aus; sie führten Regeln und Vorstellungen ein, denen sich nationale Akteure fügten, wenn sie zu dem Netzwerk dieser kosmopolitischen Nichtregierungsorganisationen dazu gehören wollten.19 Trotzdem nahm durch die Internationalisierung des Sportes und die Her- ausbildung transnationaler Netzwerke die Bedeutung des nationalen Zu- sammenhangs für die teilnehmenden Akteure nicht ab. Die Bezüge auf die Nation blieben, im Grunde blieben sie der Nation, die auch einen sinnstif- tenden Ordnungszusammenhang bildete, verhaftet, ja, die Nationalisierung nahm in diesem Prozess sogar zu. Es ist deshalb eher von einer Gleichzei- tigkeit einer globaler werdenden Bewegung und einer Nationalisierung zu sprechen, weil sich die Akteure in diesem globalen Rahmen voneinander 15 I RIYE , Global Community , S. 19. 16 Ebd.; G EYER , The Mechanics of Internationalism, S. 4. 17 Vgl. zu der Einschätzung des »Wilsonian Moments« aus Sicht anti-kolonialer Bewegungen: MANELA, Erez, Die Morgenröte einer neuen Ära: Der »Wilsonsche Augenblick« und die Transformation der kolonialen Ordnung der Welt, 1917-1920, in: Sebastian CONRADu.a. (Hg.), Globalgeschichte , S. 282-312. 18 K EYS , Globalizing Sport , S. 28; E ISENBERG , Christiane, Fußball als globales Phänomen, S. 11. Für Brasilien sind schon seit 1906 internationale, transatlantische Spielbegegnungen dokumentiert. Das erste ausländische Team zu Besuch in Brasilien war eine Mannschaft aus Südafrika, die 1906 durch Südamerika tourte und gegen eine Auswahl in São Paulo antrat: Vgl. FIGUEIREDO, História do Foot-ball; MASON, Passion of the People? 19 Vgl. Eisenberg, Der Weltfußballverband FIFA. 236 236 Nation abgrenzten und die internationalen Organisationen als Zusammenfassung nationaler Verbände angelegt waren. Sportler, die an dieser globalen Be- wegung teilnahmen und zu internationalen Spielen reisten, wurden immer stärker mit ihrem nationalen Herkunftsland verknüpft. Beide Aspekte, Transnationalisierung und Nationalisierung, trugen und bedingten sich gegenseitig.20 In Südamerika war Fußball noch kein selbstverständlicher Teil der Außenbeziehungen. Das politische Interesse an diesem Sport war noch nicht so groß, dass sich dies in einer politischen Institutionalisierung wie in der Gründung von Sportministerien niedergeschlagen hätte. Der Schrift- steller Henrique Pongetti kritisierte das mangelnde Interesse der brasiliani- schen Regierung am Sport in der Zeitung Diário de Bahia angesichts der friedensstiftenden Wirkung internationaler Fußballkontakte zwischen Süd- amerika und Europa in den 1920er-Jahren wie folgt: Kein Propagandabüro wird Uruguay diesen Dienst erweisen können, wie es die elf Männer getan haben, die in Paris der Welt einen Schrei der Verblüffung entlockten. […] Selbst der Schwarze Andrade besiegte die epidermischen Vorurteile und trat in diese Apotheose der Weißen ein, ohne dass jemand größere Einwände äußerte. […] Als wären sie [die Fußballspieler, d. Verf.] ›Straßenhändler‹ unserer Vorzüge für den äuße- ren Nutzen, die mit den Füßen das machen, was viele unserer Diploma- ten mit den Köpfen nicht erreichen. […] In den USA ist der Sportler Sol- dat des Sternenbanners, und niemand verzeiht ihm eine unpatriotische Desertion […]. 21 Pongettis Artikel gab, ausgehend von dem Sieg der Uruguayer bei den Olympischen Spielen 1924, dem Fußballspiel eine Bedeutung, die in zwei Richtungen geht: Zum einen schlug er internationale Fußballbeziehungen und im weiteren Sinne alle Sportbeziehungen als Ersatzmöglichkeit für traditionelle Diplomatie vor. Er führte die USA und, hier nicht zitiert, Finnland als Beispiele an. Dort hätten der Sport und mit ihm die Sportler inzwischen den Charakter eines Heeres für die Staatsmacht, womit er also die Aufgabe des Sports als patriotischen Dienst am Staat verstand. Die Außendarstellung eines Landes wurde Pongetti zufolge maßgeblich über körperliche Repräsentationen geleistet, die Nation drücke sich über den 20 K EYS , Globalizing Sport , S. 29 und 43. 21 Pongetti, Henrique, »Futebol. O Governo e o Esporte. As virtudes do futebol para uso externo – Os Paulistas são os eternos offuscadores de nosso brilho internacional«, Nachdruck aus Diário da Bahia , A Gazeta , 9.1.1925. 237 Nation 237 Sportler aus. Entsprechend biete der Sport die Möglichkeit, die »Vergötte- rung« weißer Sportler aufzulösen, indem sich die südamerikanischen Nati- onen über den Sport zu ihrer multiethnischen, vor allem afro-amerikani- schen Bevölkerung, bekennen könnten. Beispielhaft führte Pongetti den Afro-Uruguayer José Leandro Andrade und den Afro-Brasilianer Arthur Friedenreich an. Überdies schrieb der Schriftsteller dem Fußball eine emanzipatorische Wirkung nach innen zu: Fußball war für ihn ein Mittel, auf die »Massen« Einfluss zu nehmen und sie über sportliche Symbole zu einen und zu lenken.22 In Brasilien hatte sich das Interesse an Fußball in den 1920er-Jahren und vor allem seit dem Ersten Weltkrieg gewandelt. Wirtschaftliche und politi- sche Anliegen rückten in den Mittelpunkt. Sie lösten sportliche Interessen nicht ab, allerdings waren sie von diesen nicht mehr genuin zu trennen, auch nicht bei den aristokratischen und elitären Vertretern des Amateurge- dankens, zu deren obersten Prinzipien der Gedanke des Sporttreibens ohne materielle Interessen gehörte.23 Die Begegnungen zwischen Europäern und Südamerikanern bzw. zwi- schen Argentiniern, Brasilianern und Uruguayern auf den Fußballplätzen führten zu identitären Zuweisungen und Aushandlungen durch die Spieler und die Presse. Diese Akteure verhandelten auf dem Spielfeld und außer- halb von ihm über ihre Identität und nutzten die Symbolsprache des mo- dernen Sports, um sich selbst darzustellen. Welche Identitätsentwürfe dabei verhandelt wurden, wird in den folgenden beiden Unterkapiteln deutlich. 4.1. B RASILIEN IN S ÜDAMERIKA : I DENTITÄTSSUCHE UND D IFFERENZIERUNG ÜBER DEN F UßBALL Als der US-amerikanische Außenminister Elihu Root im Jahre 1906 zur Panamerikanischen Konferenz in Rio de Janeiro anreiste, begrüßten ihn der Außenminister Barão do Rio Branco und Joaquim Nabuco, der brasi- lianische Botschafter in den Vereinigten Staaten und Vorsitzende der Konferenz, mit einem pompösen Zeremoniell. Neben den traditionellen diplomatischen Gepflogenheiten, die zu einem Empfang dieser Art ge- hörten, wie Banketten, Diners, Musikkonzerten und Stadtrundfahrten, organisierten hochrangige Sportfunktionäre der beiden Städte São Paulo und Rio de Janeiro auch Sportveranstaltungen. Während in Rio de Janeiro einige Sportler im Baseball gegen Mitglieder der US-amerikanischen 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. auch Kapitel 1 der vorliegenden Arbeit. 238 238 Nation Delegation antraten, organisierte der Staat von São Paulo unter Leitung von Antônio Prado Júnior ein »panamerikanisches Fußballspiel« zwischen Spielern der Eliteklubs Botafogo (Rio de Janeiro) und Mackenzie College (São Paulo). Elihu Root sah in dem Fußballspiel den Ausdruck von Werten, die auch für Brasiliens Zukunft bedeutend seien: May the generous emulation of this courteous and gentlemanly game which you have been playing be a symbol of activity in the commercial, industrial and social life of the country; above all, may it be a symbol of your lives as patriots, as citizens of Brazil. Let the best man ever win. Let activity and skill and pluck ever have their just rewards. Do for your country always as you have done for your rival teams in this game of football. Do always your best, and do it always with temper and kindly feeling, whatever be the game.24 Er übermittelte den Brasilianern eine Botschaft, die er auch in den USA zu dieser Zeit zur Priorität machte: Sport sei erste Wahl, um patriotische Bür- ger zu erziehen.25Die allgemein gehaltene Ansprache enthielt die Bot- schaft, Fußball sei nicht einfach nur ein privates Vergnügen eleganter sportsmen , er habe eine darüber hinausgehende politische Funktion für eine Gesellschaft. Indem die brasilianischen Organisatoren ein Sportfest veran- stalteten, trafen sie den Zeitgeist. Es diente als eine symbolische Sprache der Verständigung: Die US-amerikanische Delegation verstand seine Re- geln und die Symbolik, und so konnte selbstverständlich ein Fußballspiel in ein Festprogramm für den ersten Besuch eines US-amerikanischen Außen- ministers aufgenommen werden. In dieser frühen Phase schon diente Fuß- ball auch als eine Form diplomatischer Kommunikation. Trotzdem schien das Fußballspiel als Demonstration nationaler Stärke nicht auszureichen, um Brasilien gemäß den außenpolitischen Ambitionen Rio Brancos als ebenbürtigen Partner der USA vorzustellen. Rio Branco befürchtete, Root könne bei seiner folgenden Station in Buenos Aires schnell feststellen, dass Argentinien ein im Vergleich zu Brasilien reicheres und fortschrittlicheres Land sei.26Tatsächlich zementierte die Ausrichtung der Panamerikanischen Konferenz in Rio de Janeiro, so Joseph Smith, eher 24 R OOT , Elihu, Speech of Mr. Root. On Presenting a Football Trophy, São Paulo, August 4, 1906, in: BACON, Robert (Hg.), Latin America and the United States: Addresses by Elihu Root , Cambridge 1917, S. 40. 25 P OPE , Patriotic Games , S. 121. 26 S MITH , Joseph, Unequal Giants: Diplomatic Relations Between the United States and Brazil, 1889-1930 , Pittsburgh, Pa. 1991, S. 62-67. 239 Nation 239 nicht die ersehnte besondere Partnerschaft zwischen den USA und Brasi- lien und Brasilien konnte sich hier nicht als anerkannte regionale Groß- macht hervortun. Die Ausrichtung der Panamerikanischen Konferenz in Brasilien ist in der Historiografie eher als Ausgangspunkt weiterer Schwierigkeiten zum einen zwischen den USA und Brasilien, zum anderen zwischen Brasilien und den anderen südamerikanischen Ländern interpre- tiert worden.27Jedenfalls demonstriert der Versuch, über Baseball und Fußball die USA von Brasiliens »Zivilisationsstatus« zu überzeugen, dass staatliche, hier die des Staates São Paulo, und nicht-staatliche Akteure, hier Sportfunktionäre, Sport schon äußerst früh als diplomatische Instrumente nutzten. 4.1.1. Vorläufer und erste Kontakte Von Anfang an bewunderten Brasilianer den argentinischen und uruguay- ischen Fußball als entwickelter und als genuin europäisch. In den beiden südlichen Nachbarländern war der Fußball nach den Regeln der englischen Football Association schon in den 1860er-Jahren angekommen und hatte sich im globalen Vergleich teilweise sogar früher als auf dem europäischen Kontinent etabliert.28Brasiliens erste Fußballklubs und -spieler maßen sich daher über Spiele gegen Mannschaften der Nachbarstaaten im übertragenen Sinne immer auch an Europa. Dies war zum Beispiel 1908 noch der Fall, als zum ersten Mal eine argentinische Mannschaft nach Brasilien reiste und dort auf verschiedene Mannschaften in den Städten Rio de Janeiro und São Paulo traf. In insgesamt sechs Spielen traten verschiedene lokale Mannschaften gegen die Argentinier an.29Diese spielten dem Urteil der Presse zufolge einen 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. A RCHETTI , Argentinien; D ERS , Masculinities: Football, Polo and the Tango in Argentina , New York/Oxford 1999, insbes. S. 75 f. Zu einem Vergleich zwischen der Entwicklung des Fußballs in Argentinien, Brasilien und Uruguay: Vgl. GAFFNEY, Temples of the Earthbound Gods , S. 9-13. 29 »ARGENTINOS E BRASILEIROS. Partidas de foot-ball. VICTORIA DOS ARGENTINOS [Majuskeln im Original]«, Gazeta de Noticias , 6.7.1908; »ARGENTINOS E BRASILEIROS. OS ›MATCHS‹ DE ›FOOT-BALL‹ [Majuskeln im Original]«, Gazeta de Noticias , 9.7.1908, S. 5; »O ultimo ›match‹ internacional. ENTRE ARGENTINOS E O ›SCRATCH‹ DA LIGA. Victoria definitiva dos argentinos. O SERVIÇO DE REPORTAGEM DA ›GAZETA‹ [Majuskeln im Origi- nal]«, Gazeta de Notícias , 13.7.1908, S. 1. Das erste Spiel der Argentinier war gegen eine Auswahl aus »in São Paulo wohnenden Ausländern«, das zweite gegen eine Auswahl aus »in São Paulo lebenden Brasilianern«, das dritte gegen eine Auswahl von Fußballspielern aus verschiedenen Klubs Rio de Janeiros, das vierte gegen eine 240 240 Nation perfekten britischen Stil. Das Team bestand aus Spielern mit britischen Wurzeln, wie sich an deren Namen ablesen lässt. Ein Journalist betonte: [Es] setzt sich aus eleganten Jugendlichen zusammen, unter denen Ange- stellte des Großhandels aus Buenos Aires und Studenten der höheren Schulen zu finden sind. Die Herren W. A. Campbell, G.A. Scholefield, J.D. Brown, A. L.L. Morgan, R. Lennie, G.G. Brown, und F.S. Dickin- son sind Handelsangestellte; die Herren R. S. Malbran, M.A. Susan und C.C. Brown sind Medizinstudenten, und Herr E. A. Brown ist Ingenieur- student. Und Chef des brillanten Kreises ist Herr C. C. Brown.30 Bedeutend waren die Spiele nicht nur als Möglichkeit für die lokalen Fuß- baller, sich an erfahreneren Spielern zu messen, sie weckten auch eine besonders große Aufmerksamkeit bei weiten Kreisen der städtischen Be- völkerung.31In Rio de Janeiro fragten Leser vorab bei den Zeitungen per Brief und sogar per Telefon an, ob der Zugang zum Stadion auch garantiert sei, so groß war der erwartete Andrang.32Während der kurzen Dauer eines der Spiele gegen die Carioca-Auswahl in Rio de Janeiro, so ein Artikel in der Gazeta de Noticias , sei auf den Straßen nichts anderes mehr diskutiert worden. Der Reporter, der die Stimmen der Straße in Rio de Janeiro ein- fing, meinte, in ihrem patriotischen Überschwang seien die Anhänger plötzlich so gar nicht mehr überzeugt von der Siegesgewissheit der Argen- tinier gewesen.33Die Gazeta de Noticias richtete in Rio de Janeiro für die Übertragung einen »serviço de bolletins« (»Mitteilungsservice«) ein, mit dem die Ergebnisse quasi in Echtzeit aus dem Stadion in die Redaktion Auswahl aus »in Brasilien lebenden Ausländern«, das fünfte gegen eine weitere Auswahl aus Cariocas und das sechste gegen den Klub Internacional aus São Paulo. 30 »O 2° match internacional. Entre argentinos e o team do Fluminense. Victoria dos Argentinos. O serviço de reportagem da ›Gazeta‹«, Gazeta de Notícias , 12.7.1908. Die Mannschaft, zusammengestellt aus Elite-Angehörigen aus Buenos Aires, bildete damit nicht den inzwischen sozial schon sehr heterogenen Fußball in Argentinien ab. Das zeigt auch, dass sich die transnationalen Kontakte des Fußballs zwischen Argentinien und Brasilien zu Beginn auf Eliten beschränkten. Vgl. zum argentinischen Fußball in diesem Zeitraum: FRYDENBERG, El espacio urbano; DERS., Prácticas y valores. 31 Siehe auch Pereiras Einschätzung der Spiele von 1908 als einen frühen Moment der Entstehung eines Patriotismus in allen sozialen Schichten der städtischen Bevölke- rung: PEREIRA, Footballmania , S. 106 f. 32 »Uma partida sensacional«, Gazeta de Notícias , 10.7.1908; »Argentinos e Brasileiros. Partidas de foot-ball. Victoria dos Argentinos«, Gazeta de Notícias , 6.7.1908; »FOOT BALL. Argentinos versus brasileiros«, Gazeta de Notícias , 26.6.1908. 33 »Um Escandalo. O resultado do foot-ball internacional. A ideia de um grupo«, Gazeta de Noticias , 10.7.1908 241 Nation 241 übertragen wurden, die sie dann außen für alle sichtbar anschlug. Ihre Reporter berichteten, zu dem Spiel der Argentinier gegen eine Mannschaft aus dem lokalen Verband sei ein Publikum von 10.000 Menschen anwesend gewesen. Trotz eines hoffnungsvollen Spielverlaufs in der ersten Halbzeit unterlagen die Brasilianer dem Gegner. Die Presse lobte das sportlich faire Verhalten, mit dem die Brasilianer diese Niederlage hingenommen hätten. Anwesend war auch der Außenminister Barão do Rio Branco, der den Siegern Medaillen überreichte, der Bürgermeister der Stadt, der Sondergesandte Argentiniens Julio Fernández und hohe Per- sönlichkeiten des Militärs.34 Das Spiel gegen Argentinien war das erste internationale Spiel in Rio de Janeiro – für die Paulistanos war es das zweite Mal, dass ein ausländisches Team in der Stadt geweilt hatte. An der Presseberichterstattung, am Umfang und an der Häufigkeit der Berichte über diese Begegnungen ist erkennbar, dass sie einen anderen Stellenwert und eine andere Wirkung hatten als das erste internationale Spiel gegen Südafrika 1906 in São Paulo. Der von der Gazeta de Noticias eingerichtete »serviço de bolletins« brachte den Fußballinteressierten, die nicht das Stadion besuchen konnten, auf moderne Weise die Spiele nahe. Der Presseservice, so schrieb eine Zeitung, wurde zum Ausdruck der fieberhaften Schnelligkeit des urbanen Lebens: »[S]chnell, rasend, […] ehrt das Bulletin die Gewalt des modernen Lebens.« Der Autor des Artikels betonte, dass nun die Zuschauer genauso schnell wie der Redakteur über den aktuellen Spielstand informiert werden konnten. Die Zeitung hatte auch einen Telefondienst eingerichtet und junge Damen informierten Anrufer über den Spielstand. Das Spiel konnte nun fast an ein großes Publikum in einem größeren Gebiet der Stadt übertragen werden. Die Nutzung des Telefons zeigt, wie sehr Fußball ein urbanes Phänomen war, das auch mit der Einführung und Nutzung neuer Technologien durch eine neu entstehende urbane Schicht verbunden war. Die Spiele waren der Rahmen für Zusammentreffen wirtschaftlicher und politischer Eliten, die im obigen Zitat einzeln und namentlich aufgeführt wurden, aber sie waren im Jahr 1908 auch erste sportliche Spektakel für ein größeres Publikum. Sie griffen damit über die Begrenztheit einer eingeweihten sozialen Gruppe hinaus und unterschieden sich damit signifikant von Spielen Ende des 19. Jahrhunderts und in den ersten fünf Jahren des 20. Jahrhunderts, als nur 34 Vgl. »O ultimo ›match‹ internacional entre Argentinos e o ›scratch‹ da Liga. Victo- ria definitiva dos argentinos. O serviço de Reportagem da ›Gazeta‹«, Gazeta de Notícias , 13.7.1908. 242 242 Nation wenige Zuschauer teilnahmen. Das Moderne lag nicht nur in der Demonstration und dem Messen körperlicher Stärke und fußballerischen Könnens zwischen zwei Gegnern in einem geregelten und zeitlich limitier- ten Rahmen, es drückt sich aus in den Formen der Übertragung und Ver- mittlung, in der Art und Weise der Inszenierung. Das war erst durch die Sportpresse möglich, sie setzte die Spiele als patriotische Ereignisse in Szene, sie ermöglichte es Menschen unterschiedlicher Herkunft an ihnen teilzunehmen, unabhängig von ihrem sozialen Status. Die Presse stellte die Organisationsform des sportlichen Spektakels auch in eine Kontinuitätslinie mit historischen Wettkämpfen im antiken Grie- chenland. Damit schlossen die Berichterstatter an die aus der olympischen Bewegung kommende Idee an, Sport und sportliche Spektakel seien keine Erfindungen der Neuzeit, sondern Traditionen aus der Antike, über die sich Gesellschaften schon immer kulturell organisiert und inszeniert hätten und die vor allem ihren »Zivilisationsgrad« und ihre Fähigkeit zur Selbstorgani- sation zeigen sollten.35Durch dieses zeitliche Kontinuum und die Entbin- dung aus einer räumlichen Spezifik wurde es seiner Einzigartigkeit entho- ben. Mit seinen universal gültigen Organisationsprinzipien hätte es so auch in anderen Teilen der Welt stattfinden können. Auch hier liegt eine Globa- lität von Sportereignissen zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründet. Was hier widersprüchlich erscheint, hatte Sinn: Die Journalisten und die Sportredakteure der neuen Tagespresse nutzten neueste Technologien und zugleich konstruierten sie die Geschehnisse als historisch tradiert. Sport als zivilisatorisches Medium war damit modern und traditionell zugleich. Durch die neue Form der Berichterstattung sollten patriotische Gefühle und Identifikationen mit der Mannschaft in allen Teilen der Bevölkerung ge- weckt werden – das Fußballspiel stilisierten sie zu einem nationalen Ereig- nis.36Welche patriotischen Gefühle so ein Spiel erzeugte, zeigt der Bericht eines Reporters: Er schrieb, nach der Niederlage riefen in einem Café die dort anwesenden Männer dazu auf, Lotteriescheine zu kaufen, um eine Rückrunde zur Revanche in Buenos Aires zu finanzieren.37 Obwohl die Spiele im Jahr 1908 noch als »kluge Annäherung zwischen zwei Ländern, ohne Diplomatie« gesehen wurden, hatten sie auch etwas von einem Staatsakt.38Minutiös bereiteten Organisationskomitees den 35 K EYS , Globalizing Sport , S. 31. 36 P EREIRA , Footballmania , S. 107. 37 Vgl. »Um Escandalo. O resultado do foot-ball internacional. A ideia de um grupo«, Gazeta de Notícias , 10.7.1908. 38 »Argentinos e Brasileiros«, Gazeta de Notícias , 9.7.1908. 243 Nation 243 Empfang der argentinischen Mannschaft im Hafen von Rio de Janeiro vor, so gab es eine eigens eingerichtete Propagandakommission, in der angese- hene lokale Sportfunktionäre zusammen arbeiteten. Zeichen des diplomati- schen Ranges war die bereits erwähnte Teilnahme des Außenministers Barão do Rio Branco und anderer hochrangiger Persönlichkeiten.39 Ein Journalist der Zeitung Correio da Manhã aus Rio de Janeiro bewer- tete die Spiele 1908 gegen Argentinien als Beginn des wahren Football Association -Stils.40Zu Beginn sei der Fußball in Brasilien, »nur ein Ent- wurf« gewesen: Das Spiel war sehr persönlich, es ging nicht darum, dass ein bestimmter Klub gewinnt. Was man machte, war den Ball zum nächsten Tor zu bringen und zu schießen, fast immer derselbe Fußballer, der im Übrigen der Bekannteste war und von dem man den wahrscheinlichen Sieg er- wartete.41 Im weiteren Verlauf des Artikels befand der Autor, ausschließlich der Fluminense F.C. spiele den wahren Fußball, der nicht auf dem »jogo pessoal« (»persönlichen Spiel«), sondern auf Dribblings und Pässen be- ruhe. Er sprach dem Fußball unter allen Sportarten eine besondere Qualität zu, denn er kräftigt physisch und moralisch und nur der in der Tat intelligente Mann kann ein guter Fußballer sein. F. Wellington hat den Sieg von Waterloo auf die Qualität seiner Soldaten als Fußballer zurückgeführt, da sie es schon gewohnt waren, auf den Feldern ihrer Universitäten zu gewinnen… und als gute Latinos sollten wir damit aufhören, uns über das Klima und andere Kindereien zu beschweren und dafür Sportarten wie den Fußball achten, denn die können uns nur Vorteile und nur große bringen.42 39 »Uma partida sensacional. Argentinos contra brasileiros. Um match de foot-ball. Victoria do team argentino. O publico acompanha com emoção a partida. O serviço de boletins da ›Gazeta‹«, Gazeta de Notícias , 10.7.1908; »O ultimo ›match‹ internacional entre Argentinos e o ›scratch‹ da Liga, Gazeta de Notícias , 13.7.1908. 40 Die Sportpresse bezog sich unter dem Begriff Football Association nicht nur auf den englischen Fußballverband, sondern bezeichnete so auch den englischen Stil, Fußball zu spielen. 41 »A famosa ›equipe‹ Corinthians está no Rio. Aqui realizará ella sensacionaes ›matchs‹ amanhã e nos dias 26 e 28«, Correio da Manhã , 23.8.1910. 42 Ebd. Das Jahr, in dem der Autor zu diesem Urteil kam, war erneut von einem bedeutenden internationalen Fußballereignis in Brasilien geprägt. Der Klub Fluminense F.C. aus Rio de Janeiro lud den englischen Klub Corinthian F.C. ein. Dieser spielte dort 244 244 Nation Der Journalist Joaquim Vianna nahm die Spiele gegen die Argentinier zum Anlass, um den Lesern auf der Titelseite der Gazeta de Notícias die Be- deutung des Fußballs zu verdeutlichen. Vianna begann bei den Briten und betonte die Rolle, die die sportliche Ausbildung für den Sieg Englands gegen Napoleon gehabt habe, denn der Fußball sei »eine gute Schule der Disziplin, die uns am meisten fehlt.« Auch den Stand der sportlichen Ent- wicklung in Frankreich beschrieb er, wo es inzwischen zu einer Diversifi- zierung des Sports in Klubs gekommen sei, so dass 1905 »die Anzahl die- ser Vereine 800 erreicht hat, mit 60.000 Mitgliedern!« Ähnlich äußerte er sich über Argentinien, wo der »Fußball, der dort nicht nur in Buenos Aires (so wie das Rugby oder der Association [Fußball nach den Regeln der englischen FA, d. Verf.]), sondern in fast allen Provinzen gespielt wird, eine der Sportarten ist, die die größte Popularität unter den Argentiniern erlangt hat.« Aus diesem Grund sei die große Aufmerksamkeit, die die Spiele gegen die Argentinier ausgelöst hätten, verständlich und von der Presse nun noch weiter zu unterstützen und am Leben zu halten, denn der Sport ist eines der Mittel sozialer Erneuerung, das wir besitzen. Hof- fen wir, dass er ein wenig eine Bevölkerung wiederbelebt, von der ein Teil, glücklicherweise ein kleiner, der nicht daran gewöhnt ist, be- stimmte Formen sozialer Männlichkeit zu befolgen, der edlen Erfüllung patriotischer Pflichten entfliehen wollte und damit auf das Militärlos rea- gieren wollte. So nähert er sich dem chinesischen Quietismus an, der nur diesem asiatischen Volk zu Eigen ist, das einen so offensichtlichen Zer- fall aufweist.43 Vianna verfolgte mit seiner rassistischen Fürsprache für den Sport ein konkretes Anliegen. 1908 setzte der Präsident Hermes da Fonseca ein »lei do sorteio« (wörtlich: Losgesetz) durch, mit dem Militärrekruten durch Los ausgewählt würden und auf diese Weise auch Männer der Elite und Mittel- klasse für die Armee rekrutiert werden sollten.44Durch diese Sichtweise gegen den Klub und mehrere Auswahlteams. Erneut wurde angesichts dieses Besuches der Stil der Engländer als dem brasilianischen überlegen beurteilt. 43 V IANNA , Joaquim, »FOOT-BALL. ›Foi nos campos do football que os inglezes aprenderam a ganhar as batalhas de Waterloo‹«, Gazeta de Notícias , 27.7.1908. 44 Vgl. P INHEIRO , Paulo Sérgio u. a., O Brasil republicano, v. 9: sociedade e institui- ções (1889-1930) , 8. Aufl., Rio de Janeiro 2006, S. 209 ff. Pinheiro et al. zufolge ist das Gesetz erst 1916 wirksam geworden, erst in diesem Jahr wurde ein Großteil der Soldaten per Los ausgewählt. Dies war Folge einer Kampagne der »jovens turcos« und des Schriftstellers Olavo Bilac, der sich für eine zivile Armee einsetzte, und der vergrößerten Aufmerksamkeit bezüglich der Wehrhaftigkeit der Gesellschaft durch den Ersten Weltkrieg. 245 Nation 245 von Sport als Vorbereitung auf den Militärdienst und damit als patriotische und zivile Pflicht entwarf Vianna ein Männlichkeitsbild, das sportliche Ausbildung unbedingt einbezog. Hier knüpfte er an einen Diskurs aus der transnationalen Sportbewegung an – schon Pierre de Coubertin hatte den modernen Sport aus ganz ähnlichen Gründen in Frankreich propagiert, in Großbritannien war es das Ideal des heldischen Soldaten, der, so Lia Paradis, an den Grenzen des Empire die Nation verteidigt.45 Der Artikel zeigt die starke Ausrichtung von Journalisten, Klubvorsit- zenden und Spielern an ausländischen Vorbildern. Diese Vorbilder suchten sie selbstverständlich im Ursprungsland des Fußballs, in Großbritannien, aber auch in Frankreich, seit jeher Vorbild kulturellen Wirkens und Schaf- fens für brasilianische Eliten, und in Argentinien und Uruguay. Sie erschu- fen damit eine Skala sportlicher »Zivilisation«, auf der sie diese Länder weit oben einordneten, während Brasilien in der Mitte und asiatische Län- der, wie China, unten rangierten.46Dass in Brasilien überhaupt Sport getrie- ben wurde, war in den Augen dieses Journalisten ein Schritt auf dem Weg in die richtige Richtung hin zu einer »zivilisierten« Nation. Die Kontakte zu den Brasilien umgebenden Fußballnationen sollten gleichsam diese Entwicklung vorbereiten und beschleunigen und die Beziehungen zu den beiden Nationen Argentinien und Uruguay auf diplomatischem Wege ver- bessern.47 45 P ARADIS , Manly Displays, S. 2711-2716. 46 Vgl. »O desporto encarado como meio de civilização. Das Philippinas os americanos puderam, graças aos exercicios physicos, fazer desapparecer os costumes sanguinarios dos ›caçadores de Cabeças‹«, SSOI , Nr. 73, 22.7.1922; »Os sports no Oriente«, Vida Sportiva , Nr. 71, 4.1.1919, S. 23. Jürgen Osterhammel meint, dass das Verständnis der »zivilisierten Welt« Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts kaum räumlich festlag, es sei eher darum gegangen, anderen zu zeigen, dass man dazu gehöre. Die »zivilisierte Welt« sei eher eine Kategorie internationaler Hierarchisierung gewesen: OSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt , S. 143 f. und 1172-1188. 47 Dieses Motiv taucht explizit immer wieder in der Fußballberichterstattung über internationale Spiele auf. Vgl. zum Beispiel die Berichterstattung in der Zeitung Gazeta de Notícias im Januar 1917 anlässlich des Besuches des uruguayischen Klubs Dublin F. C. in Rio de Janeiro und São Paulo, bei dem besonders das Motiv der »confraternidad« [Verbrüderung] zwischen den beiden Nationen in den Vordergrund gestellt wurde: »Gazeta dos Sports. FOOTBALL. O combinado uruguayo venceu o team to Botafogo F. C. por cinco goals a um. O que foi o match - A assistencia - Outras notas«, Gazeta de Notícias , 1.1.1917; »FOOTBALL: Os uruguayos no Rio«, Gazeta de Notícias , 2.1.1917; »Football. Os uruguayos e as suas impressões do Rio de Janeiro«, Gazeta de Notícias , 11.1.1917; »Gazeta dos Sports. O Football no Uruguay. A divisão dos clubes por classes«, Gazeta de Notícias , 12.1.1917; »Ecos da visita dos uruguayos ao Rio de Janeiro«, Gazeta de Notícias , 18.1.1917. 246 246 Nation Aus diesem Grunde etablierten Politiker wenige Jahre nach den privat organisierten Spielen gegen eine argentinische Auswahl feststehende bila- terale Turniere, die sie nach Politikern benannten, die Pokale gespendet hatten; so die 1914 vom argentinischen Präsidenten eingeführte und nach ihm benannte »Taça Julio Roca« (Julio-Roca-Pokal) zwischen Argentinien und Brasilien.48Vor allem sollte aber die Einrichtung eines Campeonato Sul-Americano im Jahr 1916 diese Entwicklung voranbringen. Die Initia- tive kam aus Argentinien, das 1916 die Hundertjahrfeiern seiner Unabhän- gigkeit beging und dazu ein Fußballturnier einberief. Lauro Müller, der Außenminister Brasiliens, war damit beauftragt, das Land über einen natio- nalen Verband und eine Nationalmannschaft auf dem Turnier in Erschei- nung treten zu lassen – keine leichte Aufgabe angesichts der unklaren Zu- ständigkeitsverhältnisse zwischen Rio de Janeiro und São Paulo in Bezug auf die offizielle nationale Repräsentation des brasilianischen Sportes.49Für Brasilien war es von höchster nationaler Bedeutung, dass die Reprä- sentationsverhältnisse zum Zeitpunkt des Turniers geklärt sein müssten, denn es ging hier auch darum, hinsichtlich der Nutzung modernster diplo- matischer Mittel gegenüber den südamerikanischen Ländern nicht ins Hin- tertreffen zu geraten.50 Lauro Müller trat als Vermittler zwischen den zerstrittenen lokalen Verbänden auf und gerade noch rechtzeitig begab sich eine brasilianische Auswahl Mitte des Jahres nach Buenos Aires. Auch für den Kongress eines in diesem Kontext gegründeten südamerikanischen Regionalverbandes zum Jahresende 1916 konnte eine brasilianische Delegation zusammengestellt werden, hier wurde der Nationalverband CBD als offizielle Repräsentation Brasiliens anerkannt.51 4.1.2. Die diplomatische Herausforderung der Campeonatos Sul- Americanos in den 1920er-Jahren In den 1920er-Jahren wurden allerdings die hoffnungsvollen Ambitionen der kosmopolitisch denkenden »Erfinder« des südamerikanischen Turniers enttäuscht. In Brasilien geriet der im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts begonnene Austausch über den internationalen Fußball in eine Krise. Die CBD gelangte zu der Ansicht, internationale Spiele führten nicht immer zu der erhofften »Verbrüderung« und »Annäherung« der südamerikanischen 48 S ARMENTO , A regra do jogo , S. 13 f. 49 Vgl. ebd., S. 1-12. Siehe auch Kapitel 3.1.3 der vorliegenden Arbeit. 50 Ebd., S. 12. 51 Ebd., S. 14 ff. 247 Nation 247 Länder, wie es sich zum Beispiel das Außenministerium noch 1916 unter Lauro Müller gewünscht hatte, als es die Teilnahme Brasiliens am ersten südamerikanischen Wettbewerb massiv unterstützte. Einen ersten Anlass, den sportlichen Internationalismus in der Region Südamerika in Frage zu stellen, bot eine Art Karikaturenstreit um die Dar- stellung der Brasilianer in uruguayischen Zeitungen im Jahr 1919, der aufflammte, kurz nachdem Brasilien in Rio de Janeiro das Campeonato Sul-Americano ausgerichtet hatte und der sich über Jahre hinziehen sollte. Das Turnier von 1919 war ein praktischer Test für die brasilianischen Sportfunktionäre, denn für eine kurze Zeit war die gesamte Aufmerksam- keit der regionalen internationalen Gemeinschaft auf die Stadt Rio de Ja- neiro gerichtet. Laut Pereira hatte das Campeonato von 1919 einen un- gleich höheren Wirkungsgrad über die Stadtgrenzen Rio de Janeiros hinaus als das internationale Spiel gegen Argentinien von 1908 und weckte den Patriotismus Angehöriger unterschiedlichster sozialer Klassen.52 Vor dem Turnier war Uruguay der eindeutige Favorit auf den Titel. Bald schon zeigte sich Brasilien als erfolgreicher und das Ideal brüderlicher Annäherung rückte mit dieser für Uruguay ungünstigen Wendung im Tur- nierverlauf in den Hintergrund. Nationalistische Töne dominierten nun das Turnier, fanatische Menschen aus allen sozialen Schichten gingen in Rio de Janeiro auf die Straße und bekundeten in Demonstrationen patriotische Gefühle.53In der uruguayischen Presse tauchten Beschuldigungen gegen die brasilianischen Organisatoren auf, sie hätten versucht, die uruguayische Delegation zu vergiften, die im Hotel Nice in Rio de Janeiro untergebracht war.54Dieses Gerücht gewann an Glaubwürdigkeit, als ein Mitglied der uruguayischen Delegation, der junge Ersatztorhüter Roberto Chery, wäh- rend des Aufenthaltes plötzlich an den Folgen einer akuten Blinddarment- zündung starb.55 Der Sieg des brasilianischen Teams gegen Uruguay im Finale in der Hauptstadt verstärkte den Patriotismus von Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten, selbst über die Stadtgrenzen von Rio de Janeiro hin- aus.56Die negative Berichterstattung über Brasiliens Gastfreundschaft, die vor allem Werte in Frage stellte, die Politiker und Sportoffizielle des Lan- des so gerne nach außen präsentieren wollten, also »Zivilisiertheit« und 52 P EREIRA , Footballmania , S. 136 f. 53 Ebd. 54 Vgl. »E'cos do Campeonato Sul-Americano«, A Gazeta , 5.6.1919. 55 Ohne Titel, Vida Sportiva , Nr. 93, 6.7.1919, S. 2. 56 Vgl. »A Nossa Victoria«, A Gazeta , 30.5.1919; P EREIRA , Footballmania , S. 136 f. 248 248 Nation Gentleman -haftes Verhalten, stachelte ihn nur weiter an. Selbst in der Hafenstadt Santos im Bundesstaat São Paulo riefen junge Männer zu einer patriotischen Protestveranstaltung auf dem Largo do Rosário auf, die die Polizei im letzten Moment verhinderte.57Die Presse zeigte Verständnis für die jungen Männer und kritisierte die Unterdrückung dieser »patriotischen Gefühle« durch die Polizei.58 Unterdessen tauchte in A Gazeta ein Interview mit dem brasilianischen Fußballspieler Adolpho Nery auf. Er befand sich in Montevideo, als die Spielergebnisse bekannt gegeben wurden und berichtete, die brasilianische Gemeinde in Montevideo sei von Uruguayern beleidigt worden. Die uru- guayische Presse hätte die Brasilianer zudem als »macaquitos« (»kleine Affen«) beschimpft und argentinische und uruguayische Zeitungen zitierten Spieler beider Länder, die äußerten, nie mehr auch nur einen Fuß auf brasi- lianischen Boden setzen zu wollen.59 Mit der Bezeichnung der brasilianischen Spieler als »macaquitos« zog die uruguayische Presse eine imaginäre ethnische Grenze zwischen den beiden Ländern. Berichte über mangelnde Gastfreundschaft leitete sie aus diesem ethnischen Anderssein ab. Damit wiederholte sie gängige Vorur- teile eines dekadenten, unorganisierten und rückständigen Brasiliens. Ähn- liche Bilder tauchten auch auf, wenn argentinische und uruguayische Fußballspieler zu ihren Eindrücken von Brasilien befragt wurden und dabei in eher positiv erscheinenden Beschreibungen Rio de Janeiros überbor- dende, aber wilde und unzivilisierte Natur hervorhoben.60Der argentinische Journalist Alfredo Palácio Zino berichtete in der uruguayischen Zeitung La Crítica , die Fußballspiele des Campeonato hätten nur gezeigt, dass die 57 Vgl. »Notas de Sport. Argentina - Brasil. Ainda o Famigerado Palácio. O protesto dos Santistas«, nach A Tribuna , in: A Gazeta , 7.7.1919. 58 Ebd. 59 »E'cos do Campeonato Sul-Americano«, A Gazeta , 5.6.1919. 60 Ebd. Die argentinischen und uruguayischen Fußballspieler, in Interviews durch die brasilianische Sportpresse nach ihren Eindrücken von Brasilien befragt, differenzierten Rio de Janeiro allerdings von São Paulo. São Paulo war demzufolge modern, technisiert und damit dort alles Wilde »unter Kontrolle gebracht«, während Rio de Janeiro als abundant, wild, farbenfroh und auch die Menschen als fröhlich und laut beschrieben wurden: Vgl. ebd.; »Campeonato Sul-Americano. As opiniões alheias. Rodolpho Maran e Roberto Felices entrevistados no Rio pelo enviado especial da ›Gazeta‹«, A Gazeta , 16.5.1919; »Campeonato Sul-Americano. A chegada das delegações«, Gazeta de Notícias, 4.5.1919; »Os jornalistas chilenos na ›Gazeta‹», A Gazeta de Notícias, 6.5.1919. Siehe auch die Rede des Präsidenten des südamerikanischen Fußballverbandes, Hector Gomez, in der er auch auf die gemeinsame »hispanische« Herkunft der Argentinier und Uruguayer hinwies: »O 3° congresso Sul-Americano de Football«, O Paiz , 9.5.1919. 249 Nation 249 legendäre Rivalität zwischen Portugiesen und Spaniern sich kontinuier- lich zwischen diesen beiden Ländern Amerikas zeigt. Nichts brachten die Reisen von Roca und Campos Salles, die Arbeiten von Lauro Müller und die Besuche der Intellektuellen. […] Wir sind mit der Überzeugung zurückgekehrt, dass unsere wahren Brüder die Uruguayer sind und dass, ungeachtet der vergangenen Differenzen, wir Chile näher sind als Brasi- lien […].61 Diese Äußerungen mussten die Brasilianer empfindlich treffen, denn sie schlossen an Vorurteile an, die seit dem 19. Jahrhundert in Argentinien und in geringerem Maße auch in Uruguay gegenüber Brasilien aufgebaut wur- den. Sie verfestigten sich Anfang des 20. Jahrhunderts in den diplomati- schen Beziehungen zwischen Argentinien und Brasilien, als Brasilien auf internationalen Konferenzen, wie auf den Friedenskonferenzen in Den Haag 1907, als rechtmäßiger Vertreter lateinamerikanischer Interessen auftrat. Es sah sich dazu auf Grund seiner Größe und seines Bevölkerungs- reichtums berechtigt. Dort stellte Brasilien mit Aufrüstungsplänen, vor allem der Marine, Grenzausweitungen im Acregebiet und dem eher einsei- tigen Wunsch nach partnerschaftlicher Annäherung an die USA die argen- tinische Hegemonie auf dem südlichen Kontinent in Frage.62Die Argen- tinier entwarfen das Bild eines rückständigen Brasiliens, das den hispano- amerikanischen Ländern durch seine »Rassenmischung« fremd und unter- legen sei. Dagegen hoben sie das Bild eines durch die Kolonisierungs- geschichte zusammengehörenden hispanischen Lateinamerikas ab, mit Argentinien und Uruguay im Zentrum.63Zino schloss mit seinen Kommen- taren an diese historische Grenzziehung an, indem er Argentinien, Chile und Uruguay als Einheit und Brasilien als isoliert darstellte. Ein Jahr später, 1920, fand das IV. Campeonato Sul-Americano in Chile statt. Die Nationalmannschaft, ausschließlich aus Spielern Rio de Janeiros bestehend, reiste über Argentinien an. Sie war nicht mit genügend finanzi- ellen Mitteln ausgestattet und musste aus diesem Grund in Buenos Aires einen Kredit vom argentinischen Fußballverband, der Asociación del Fútbol Argentino , aufnehmen, um die Weiterfahrt nach Chile zu finanzie- 61 Moura, Genesio de Almeida, »Notas de Sport. Argentina - Brasil. Ainda o Famigerado Palacio. O protesto dos Santistas«, A Gazeta , 7.7.1919. 62 G ARCIA , Eugênio Vargas, Entre América e Europa: a política externa brasileira na década de 1920 , Brasília 2006, S. 428 und 440-458; SMITH, Unequal Giants , S. 62-63. 63 Vgl. G ARCIA , Entre América e Europa , S. 426-440; S MITH , Unequal Giants , S. 63. 250 250 Nation ren.64Die argentinische Regierung stellte einen Zug bereit, um das brasilianische Team nach Santiago de Chile zu befördern. Zino verfasste erneut einen negativen Bericht über die Brasilianer, der, so der Eindruck des brasilianischen Botschafters in Montevideo, Luis Guimarães Filho, »eine gerechtfertigte Revolte im Herzen der brasilianischen Kolonie provo- zierte, die an die Direktoren und Redakteure dieser Zeitung eine große Zahl an hasserfüllten Telegrammen und Protestbriefen schickte.«65Er kam des- halb und auf Grund der Ereignisse im Jahr 1919 zu der Ansicht, es sei besser, internationale Spiele abzuschaffen, denn »die umsichtige und ge- duldige Arbeit der Diplomatie fällt in sich zusammen wie ein Kartenhaus angesichts des Sturmes an Hass, den die größere oder kleinere Zahl an Toren, bekanntgegeben durch den Schiedsrichter, im Gemüt der Massen auslöst.« Die Schuld daran gab er vor allem der Presse, die das Publikum aufstacheln würde: Der Fußball scheint sich in den einzigen Richter über den Frieden dieses Kontinentes verwandelt zu haben, die Presse lässt sich durch seine Einzelheiten verzücken, greift ohne Skrupel die ausländischen Gewinner an, ersinnt Argumente für die nationalen Verlierer und, ohne die Trag- weite einer solchen Haltung zu ermessen, feuert sie aufrührerisch ihre Millionen von Lesern gegen die aktuellen Meister an. 66 Er fügte hinzu: Würden die Spieler die Beleidigungen persönlich nehmen und rechtlich dagegen vorgehen wollen, dann könnten sich daraus ernst- hafte Konsequenzen für die diplomatischen Beziehungen zwischen Argen- tinien und Brasilien ergeben, denn »die ergriffenen Repressalien in Rio de Janeiro gegen die Gesandtschaft und das Konsulat der Argentinischen Republik wären unmittelbar.«67 64 Vgl. »As embaixadas da fome. O campeão da facada! A que nos sujeitam os cariocas«, A Gazeta , 14.9.1920. Vgl. zu der Repräsentation Brasiliens beim Campeonato Sul-Americano in Chile auch Kapitel 3 dieser Arbeit. Zum Kredit und seiner Höhe siehe den Bericht von Präsident Macedo Soares Anfang 1922, der die Rückzahlung des Kredites Ende 1921 in Höhe von 21.607,75 US$ angewiesen hatte: »A administração Macedo Soares na C.B.D. Os serios problemas resolvidos – A situação financeira – Relaçõs officiaes – O Brazil sportivo no continente sul-americano – Solução de dissidios internos – Preparativos para as festas«, Nr. 46, SSOI , 14.1.1922. Vgl. auch: »O relatorio apresentado pelo Sr. Celio de Barros à Confederação B. de Desportos e relativo à delegação brazileira ao 4. Campeonato Sul-Americano de football«, Nr. 43, SSOI , 24.12.1921. 65 Luis Guimarães Filho an J.M. de Azevedo Marques (Ministro ME), 8.10.1920, Pasta 223/2/12 Montevideo Ofícios 1920 (Agosto) 1921 (Dez), RjBHI. 66 Ebd. 67 Ebd. 251 Nation 251 Konsequenzen aus dieser Warnung ergaben sich unmittelbar im darauf- folgenden Jahr 1921. Das V. Campeonato Sul-Americano fand in Buenos Aires statt. Die CBD stellte erneut kurzfristig und unter erheblichen organi- satorischen und finanziellen Schwierigkeiten eine Nationalauswahl zu- sammen. Die Absage der Paulistas, Spieler bereit zu stellen, erschwerte die Auswahl.68Durch den Anfang 1921 neu gewählten Präsidenten der CBD, Macedo Soares, einen angesehenen Sportfunktionär aus Rio de Janeiro, Parlamentsabgeordneter für die Partei des Präsidentschaftskandidaten Nilo Peçanha und Geschäftsführer der Tageszeitung O Imparcial , besaß die CBD enge Verbindungen zu brasilianischen Regierungskreisen.69Tatsäch- lich finanzierte die Regierung unter dem Präsidenten Epitácio Pessoa die Reise mit 50:000$000 réis .70Im Gegenzug nahm Pessoa Einfluss auf die Mannschaftsaufstellung für die Spiele. Schließlich, so schrieb die Zeitung O Imparcial ganz im Sinne der Politik von Macedo Soares, ging es bei den Spielen 1921 darum, Brasilien »durch die Elite unserer ›sportmen‹ [sic!]« zu repräsentieren, also nicht nur »von technischer Seite, sondern vor allem von der sozialen Seite.«71Das war die Lehre, die die Sportoffiziellen aus den vorangegangenen Campeonatos und den sie begleitenden diplomati- schen Unannehmlichkeiten gezogen hatten. In den Vordergrund sollte wieder das Gründungsparadigma der südamerikanischen Spiele treten, besonders wahrzunehmen seien sie, so O Imparcial , als »großartige Mög- lichkeit, um eine ehrliche und sehr notwendige Freundschaft zwischen den beiden großen Ländern Südamerikas zu festigen.«72 Da nun die Repräsentation Brasiliens durch eine soziale Elite vorging und die sportliche Eignung in den Hintergrund trat, war eine Rechtferti- gung vorhanden, einige talentierte Spieler in diesem Jahr nicht für die Nationalmannschaft auszuwählen. So seien zum Beispiel »Nicolino, Braulio und Coutinho, […] Muniz, des America F.C., […] Gilberto, Machado (des Andahary), Gonçalo (des Palmeiras), De Maria, Epaminondas und Martins (des São Christóvão) und viele andere« nicht aufgestellt worden, da Pessoa gefordert habe, dass »keine ›Schwarzen‹ in die brasilianische Auswahl aufgenommen würden«, wie die Zeitung 68 Ausführlicher zu diesem Konflikt: Siehe Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Arbeit. 69 Vgl. »O novo presidente da Confederação Brasileira de Desportos«, Nr. 5, SSOI , 2.4.1921. 70 Vgl. »A administração Macedo Soares na C.B.D«, Nr. 46, SSOI , 14.1.1922. 71 »O proximo Campeonato Sul-Americano«, SSOI , 11.6.1921. 72 »A acção desenvolvida pela Delegação Brazileira ao 4° Campeonato de football Sul-Americano. A recepção do povo argentino à embaixada sportiva brasileira«, SSOI , 19.11.1921. 252 252 Nation Correio da Manhã empört berichtete.73 O Imparcial lobte die tadellose Repräsentation Brasiliens durch die Delegation und machte sich in einer Karikatur über die ausgeschlossenen afro-brasilianischen Spieler lustig (Bild 9). Andere Zeitschriften und Zeitungen empörten sich über den offen- kundigen Rassismus. Die Paulistaner A Gazeta schloss sich dem Tenor eines Artikels einer Zeitung in Rio de Janeiro an, die »das unpassende, unanständige, anti-soziale und rückständige Vorurteil der Farbe« anpran- gerte. Gerade in einer brasilianischen Mannschaft müsse die ethnische Zusammensetzung Brasiliens adäquat abgebildet sein, so argumentierte der Autor, denn »[i]n einem Land wie unserem, in dem der Einfluss des schwarzen Menschen, der aus afrikanischen Gegenden zur Formung unse- rer Nationalität kam, und sein Beitrag zur Formung unseres ethnischen Typs groß waren, können die Schwarzen nicht mit Herabwürdigung behan- delt werden.«74Die Karikatur aus O Imparcial hingegen zeigte zehn am Ufer des Rio de la Plata sitzende und liegende afro-brasilianische Fußball- spieler. Der Untertitel vermittelte ironisch, ihnen sei nun die Möglichkeit des embranquecimento durch das Baden im »Silberfluss« (Rio de la Plata) genommen.75 73 »O seleccionado brasileiro. Os elementos ›de côr‹ como indesejaveis!«, Correio da Manhã , nach: OESP , 18.9.1921. 74 »O tal combinado ›brasileiro‹ que nos vae envergonhar na Argentina. Descabido preconceito de cor«, A Gazeta , 19.9.1921. 75 Vgl. zur Theorie des embranquecimento im Kontext des Fußballs auch Kapitel 2.1 der vorliegenden Arbeit. 253 Nation 253 Bild 9: Der nationale Sportverband schloss 1921 afro-brasilianische Spieler von der Mitnahme zu einem internationalen Turnier aus. Der Karikaturist stellte sie in rassisti- scher Weise dar, frustriert am Ufer des Rio de la Plata sitzend und liegend. Quelle: »Os players pretos e mulatos, que não embarcaram: Justamente quando podiamos ›tomar um banho de prata‹ … barram-nos do scratch!…«, SSOI , 1.10.1921.76 Auch 1922, anlässlich des Campeonato Sul-Americano im Rahmen des Centenário in Rio de Janeiro setzte sich der Konflikt fort. Die Uruguayer schieden frühzeitig aus dem Turnier aus und beklagten im Nachhinein, der brasilianische Schiedsrichter habe sich parteiisch in ihrem Spiel gegen Paraguay verhalten. Auch diesmal erstattete Guimarães Filho dem brasilia- nischen Außenminister Bericht, nachdem uruguayische Zeitungen erneut negativ über die Brasilianer schrieben. Er sah sich in seiner schon 1920 geäußerten Meinung über internationale Sportveranstaltungen bestätigt und legte seinem Brief mehrere Zeitungsartikel aus den Zeitungen La Plata , La Razón , El País und El Día bei. Der gemeinsame Tenor der Presseschau war, die Brasilianer seien schlechte Gastgeber, der Empfang und die Un- terbringung der Spieler desaströs.77Dabei wurde auch in Brasilien selbst die 76 »Die schwarzen und mulattischen Spieler, die nicht an Bord gingen: Jetzt wo wir ein ›Silberbad hätten nehmen können‹ … sperren sie uns für die Mannschaft …« 77 Vgl. Luis Guimarães Filho an J.M. de Azevedo Marques (Ministro ME), 8.10.1920, Pasta 223/2/12 Montevideo Ofícios 1920 (Agosto) 1921 (Dez), RjBHI. 254 254 Nation Organisation als unsorgfältig und die Unterbringung als unwürdig darge- stellt. Sant'Anna nutzte hingegen die Gelegenheit, um in A Gazeta die argentinischen und uruguayischen Sportler zu diffamieren.78Er sprach von ihnen als Horde wilder Barbaren, die Rio de Janeiro heimgesucht hätten, und suchte so wiederum Brasilien gegenüber den südlichen Nachbarn als geordnetes, »zivilisiertes« Land abzugrenzen.79 Einige Tage später folgte ein weiterer Brief der brasilianischen Botschaft in Uruguay mit einem Artikel aus der uruguayischen Zeitung El Telégrafo , der Gewinn des Pokals durch die Brasilianer sei angesichts der schlechten Ausrichtung der Spiele nicht gerechtfertigt.80Der brasilianische Botschafter Guimarães Filho bestärkte darin seinen im ersten Brief formulierten Appell, internationale Fußballspiele abzuschaffen, denn sie wecken die Leidenschaft der Massen, lassen sie ihre Vernunft verlieren und provozieren Unruhen, die nicht immer leicht einzudämmen sind. Für die vorsichtige und patriotische Arbeit der Diplomatie, deren Ziel es ist, die amerikanischen Nationen durch ökonomischen, intellektuellen und kommerziellen Austausch anzunähern, sind diese Explosionen des Has- ses, die immer wieder durch Fußballspektakel in Rio de Janeiro, Montevideo und Buenos Aires oder Santiago provoziert werden, äußerst gefährlich.81 Tatsächlich führten die Auseinandersetzungen 1922 zu einer Unterbre- chung der brasilianisch-uruguayischen Fußballbeziehungen, die sich auch in den folgenden Jahren nicht ernsthaft verbessern sollten.82Das Bild Brasiliens als schlechter Gastgeber griff weit über die Region des Cono Sur hinaus. So tauchte auch in Mexiko ein Bericht auf, Brasilien gehe sogar so weit, seine Gegner zu vergiften, um den Wettbewerb zu gewinnen.83In 78 Vgl. »Os Sports no Centenario. As impressões de um jornalista uruguayo. O Congresso Sul-Americano de Box encerrou-se ante-hontem«, Correio da Manhã , 26.9.1922, in: Album »Campeonato Sul Americano e Olympiadas de 1922. Realizados no Brasil. Campeões Brasileiros«, FFC. 79 »Semana das Missões Esportivas«, A Gazeta , 3.10.1922; »A estadia dos athletas Sul-Americanos no Rio. Factos escandalosos verificados no Instituto Ferreira Vianna onde estavam alojados«, A Gazeta , 3.10.1922/Fortsetzung 4.10.1922. 80 Vgl. Luis Guimarães Filho an J. M. de Azevedo Marques, 20.10.1922, 223/3/1 Montevideo 1922 (jan) 1923 (jun), RjBHI. 81 Luis Guimarães Filho an J. M. de Azevedo Marques, 14.10.1922. 82 Vgl. S ARMENTO , A regra do jogo , S. 28-37. 83 »Ainda o Sul-Americano de 1922. Um Diplomata mexicano manda dizer a um jornal de seu paiz cousas edificantes! Para vencermos, envenenámos e matámos!!!«, A Gazeta , 23.1.1922. 255 Nation 255 diesem Zusammenhang erschienen auch immer wieder Karikaturen der brasilianischen Spieler, die diese phänotypisch überzeichneten und als »negros« darstellten. Leopoldo Sant’Anna, der als verantwortlicher Sportredakteur für die Zeitung Gazeta noch 1921 gegen das preconceito de côr bei der Auswahl der Spieler angeschrieben hatte, beklagte sich 1925 darüber, dass Brasilien in der argentinischen Zeitung El Telégrafo in einer Karikatur diffamiert würde, in dem man es durch zwei Afro-Brasilianer repräsentiere.84Zuvor hatten sich brasilianische Spieler beschwert, die Größe der von den Argen- tiniern verwendeten Fußbälle entspräche nicht den internationalen Normen. Diesen Streit karikierte die argentinische Presse. Die brasilianische Presse wiederum beurteilte dies als Übertreibung, ja als Fehleinschätzung der tatsächlichen »rassischen« Zusammensetzung der brasilianischen Bevölke- rung (Bild 10). Sant’Anna meinte, der »Witz an sich interessiert uns nicht. Zu zensieren ist, dass die Menschen aus der Nachbarrepublik immer noch dieselbe Vorstellung wie ehemals haben, indem sie die Brasilianer durch zwei Schwarze darstellen!«85Auch andere Journalisten argumentierten, die Repräsentation durch zwei Afro-Brasilianer sei überholt, zum einen weil die Spiele die Argentinier inzwischen eines Besseren belehrt haben müss- ten und zum anderen, weil sich die Mannschaften und auch die mitreisen- den Delegationen zum großen Teil aus Angehörigen der Elite des Landes und folglich nicht aus Afro-Brasilianern zusammensetze.86In seiner Empö- rung über die Karikaturen kritisierte Sant’Anna, die Zeitung habe zuerst den Spieler Arthur Friedenreich als besten der Welt gelobt und dann Brasi- lien durch »Schwarze«dargestellt. Auch hier bestätigt sich, dass die Sportpresse Friedenreich je nach An- lass als »weiß« oder als Ergebnis brasilianischer »Rassenmischung« wahr- nahm, das sich keiner »Rasse« mehr zuordnen lasse. Es wurde allgemein als Fehleinschätzung gewertet, Brasilien als Land mit einem großen Anteil »schwarzer« Bevölkerung darzustellen. Das drückte den Wunsch der brasi- lianischen Presse aus, Brasilien als »aufgeweißte« Nation über den Sport zu vermitteln. Die Wahrnehmung Brasiliens durch andere als Land mit einem großen Anteil »schwarzer« Menschen kontrastierte mit dem Wunschbild der brasilianischen Sportpresse. 84 Vgl. »Um caricaturista maroto«, A Gazeta , 15.12.1925, S. 4. Vgl. auch, Sant’Anna, Leopoldo, »Cartas da Argentina«, A Gazeta , 26.12.1925. 85 »O Sul Americano. A Pilheria Argentina…«, A Gazeta , 19.12.1925. 86 »Um caricaturista maroto«, A Gazeta , 15.12.1925. 256 256 Nation Bild 10: Brasilien in der argentinischen Presse: Die Karikatur zweier afro-brasiliani- scher Fußballspieler aus der argentinischen Presse, die mit einem argentinischen Spieler über die Größe des Fußballs verhandeln, rief in der brasilianischen Presse Empörung hervor. Quelle: »O Sul Americano. A Pilheria Argentina …«, A Gazeta , 19.12.1925.87 Auch an anderer Stelle bezeichneten Journalisten die Darstellung der Brasi- lianer als »negros« als Verunglimpfung, ja als Missverständnis, auch als Ausdruck eines Hangs zur Übertreibung bei den »Platinos«. Ihnen fehle eine Unterscheidung zwischen Farbnuancen, wie ein Autor meinte: »Nuancen existieren dort nicht. Entweder ist er weiß oder er ist schwarz […].« Derselbe Autor betonte, die Brasilianer seien »generell braun«.88In 87 »Das südamerikanische [Fußballturnier]. Der argentinische Scherz …« Mann (2. v. l.): »Der Schlag, den ich Dir versetze, weil Du eine Schwätzerin bist und eine lose Zunge hast!« Frau (1. v. l.): »Ich schwöre Dir, Schwarzer, ich nicht weiß, wovon Du sprichst.« Mann (2. v. r.): »Der Ball der Argentinier ist sehr schwer … Er ist nicht internatio- nal …!« Mann (3. v. l.): »Mensch, dieser Lahme kann durch blickdichte Körper hindurchsehen. Phänomenal!« 88 »Cousas do Prata. Por que para os sulinos somos negros«, A Gazeta , 27.1.1926, S. 4. Vgl. auch: SOUZA, O Brasil entra em campo! , S. 32-36. 257 Nation 257 den Zeitungen tauchte im Zusammenhang mit der phänotypischen Über- zeichnung in den Karikaturen immer wieder die Äußerung auf, die Dar- stellung der Brasilianer als »negros« sei unzulässig, die Beobachter hätten nicht richtig hingeschaut. Das war nicht das Brasilien, wie man es von außen wahrgenommen haben wollte.89Es ist anzunehmen, dass sie mit ihrer Empörung über rassistische Zuschreibungen ihrer Kollegen in Argentinien und Uruguay ihre eigenen Vorurteile überdeckten. Sie implizierten zwar immer wieder, in Brasilien existiere kein preconceito de côr , zugleich legten sie aber Wert darauf, dass das Land nicht als »schwarz« wahrgenommen würde, sondern als Land der »Rassenmischung«. Der Begriff der democracia racial tauchte hier noch nicht auf – dieser wurde erst in den 1930er-Jahren, so die Anthropologin Lilia Schwarcz, von Arthur Ramos und dann vor allem Gilberto Freyre geprägt.90Gleichwohl lässt sich an den Reaktionen der Brasilianer deutlich ablesen, wie sich die in den 1930er-Jahren ausprägende Idee der »kulturellen Mestizierung«91, also in diesem Falle des »Braunseins« als Form der Mischung, hier schon formte und über den Fußball recht breit vermittelt werden konnte. Guimarães Filho bezog sich mit seiner Warnung vor internationalen Spielen auf das ernüchternde Ergebnis mehrerer Jahre versuchter sportli- cher Annäherung zwischen den südamerikanischen Fußballnationen, die 1916 mit der Einrichtung eines regionalen Fußballverbandes institutionali- siert worden war. Die Annäherung trat in den Hintergrund, je größer die Spiele und je populärer der Fußball wurde und Ausschreitungen am Rande der Spiele durch einen immer stärker ausgeprägten Fanatismus bei den Zuschauern nicht zu vermeiden waren. Bei den noch überschaubaren Spie- len vor 1916 im Rahmen der bilateralen Pokalwettbewerbe war das Publi- kum kleiner und bestand aus vornehmlich mit dem Amateurkodex vertrau- ten Zuschauern aus dem Umfeld der Eliteklubs, das vorgab, sich den Gegnern gegenüber fair zu verhalten.92 89 Vgl. »Cousas do Prata. Por que para os sulinos somos negros«, A Gazeta , 27.1.1926, S. 4. 90 Schwarcz, Lilia, Gilberto Freyre: adaptação, mestiçagem, trópicos e privacidade em Novo Mundo nos trópicos, in: Lund, Joshua, Malcolm McNee: Gilberto Freyre e os estudos latino-americanos, Pittsburgh 2006, S. 305-334, hier 311. 91 Ebd., S. 316. 92 Vgl. zum Amateurethos Kapitel 1 dieser Arbeit. Siehe die Darstellung der bila- teralen Turniere zwischen Argentinien und Brasilien im Jahr 1914 im Rahmen der Copa Roca in den Briefen von José de Paula Rodrigues Alves und dem brasilianischen Außenminister Lauro Müller: J.P.R. Alves an Lauro Muller, Buenos Aires, 23.9.1914, 31201 a 31234; Lata 1344, 5406341, RjBHI; J.P.R. Alves an Lauro Muller, Buenos Aires, 29.9.1914, 31201 a 31234; Lata 1344, 5406341, RjBHI. 258 258 Nation Auch die begleitend zu den Campeonatos stattfindenden Konferenzen der Confederação Sul-Americana de Futebol bildeten schon bestehende Konfliktlinien zwischen den beteiligten Staaten ab. Hinzu kamen Abspal- tungen kleinerer Verbände von den Nationalverbänden in den Teilnehmer- ländern, die für Unruhe sorgten, zum Beispiel zu unklaren Mitgliedsver- hältnissen beim Stimmrecht. Dies war in den 1920er-Jahren in den Nationalligen in Argentinien, Brasilien und Chile der Fall und es er- schwerte den Nationalverbänden eine konstante Vertretung der nationalen Anliegen im Sport in den übergeordneten internationalen Gremien. In Bra- silien entstand die Befürchtung, von den anderen Nationen auf Grund der schwelenden Konflikte gerade zwischen São Paulo und Rio de Janeiro nicht ernst genommen zu werden. Das belastete noch stärker die schwieri- gen Beziehungen zwischen Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay, die um die Hegemonie in der Region konkurrierten. Konstant war hier auch der Eindruck Brasiliens, systematisch isoliert und durch argentinische Pro- paganda als rückständige Region dargestellt zu werden.93Zugleich ordnete sich Brasilien selbst, zusammen mit Chile und Paraguay, sportlich als rück- ständig ein, als Land, das sich immer noch an den Vorbildern Argentinien und Uruguay zu orientieren habe.94 Tatsächlich schienen die Überlegungen des Außenministeriums nicht ohne Konsequenzen zu sein. Am 23.10.1925 erschien in A Gazeta unter der Unterüberschrift »Die Unannehmlichkeiten des jährlichen Sul-Americano« ein Bericht über eine Initiative Mario Pollos, des Vorsitzenden des lokalen Fußballverbandes Liga Metropolitana und Sekretärs des Eliteklubs Fluminense F.C. Er hatte schon 1921 vorgeschlagen, den Abstand zwi- schen den Turnieren von einem auf vier Jahre zu verlängern, ähnlich den Olympischen Spielen. Als Grund nannte er die immer größer werdende Anzahl an Spielen und Turnieren, die zu Lasten der Entwicklung der Leibeserziehung gehe, die eher von nationalen als internationalen Turnieren profitiere. Zudem leiste der lange Arbeitsausfall der Spieler, die offiziell alle Amateure waren, dem »professionalismo mascarado« (dem verdeckten Professionalismus) Vorschub, der ein weiteres Problem der brasilianischen Lokalligen in den 1920er-Jahren darstellte. Doch das 93 Vgl. G ARCIA , Entre América e Europa , insbes. S. 193-274 und 426-440; H ILTON , Stanley E., Brazil and the Post-Versailles World: Elite Images and Foreign Policy Strategy, 1919-1929, in: Journal of Latin American Studies 12, Nov. 1980, Nr. 2, S. 341-364. 94 »Futebol E... Tourada Lições«, A Estampa Esportiva , in: Album 1922, Vol. II., CAP; »De onde menos se espera... O Uruguay nas ultimas Olympiadas«, Gazeta de Notícias , 13.10.1925. 259 Nation 259 wichtigste Argument gegen internationale Spiele lag für ihn in diesen selbst begründet, denn so sehr man ihre Auswüchse abzumildern sucht, sind [sie] unbestritten Quelle für Streit und Beleidigungen. Sie sind weit davon entfernt, ihr eigentliches Ziel zu erreichen: die Annäherung zwischen den Völkern. Die Fragen der Heimat, der Fahne, sind immer heikel. So sehr man auch darauf hinzuwirken versucht, dass Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay und Chile nicht auf dem Spielfeld repräsentiert werden, son- dern die sportlichen Institutionen dieser Länder. Tatsache ist, dass wäh- rend der südamerikanischen Turniere weder die Idee der Nationalität noch die groben, schmähenden Auseinandersetzungen des Publikums wegzudenken sind.95 Auch der Paulistaner Parlamentsabgeordnete Carlos Gárcia trat für ein Verbot der internationalen Spiele ein und stellte kurz nach dem Campeonato Sul-Americano in Rio de Janeiro 1922 einen entsprechenden Antrag im Parlament.96Anlass war auch für dieses Projekt die konfliktbehaftete Austragung des Turniers in Rio de Janeiro 1922 mit den nationalchauvinistischen Ausschreitungen der Fans, die die brasilianisch- uruguayischen Beziehungen belasteten. Weitere hohe Persönlichkeiten des Sports stellten sich hinter dieses Vorhaben, so der Vorsitzende des Ver- bands der Sportjournalisten in Rio de Janeiro, Neto Machado, der in einem Interview erklärte: [D]ie Beleidigungen jeglicher Art, die unsere Landsleute durch die Ausländer erleiden mussten, waren so groß, so groß ist der Unterschied in Erziehung und sozialer Position, der zwischen ihnen und uns existiert, so gefährdet sehe ich die Zukunft, was die guten Beziehungen zwischen den beiden Ländern des Kontinents angeht, die sogar durch die Inbrunst und den Wahn des Fußballs zunichte gemacht werden können, dass ich ab sofort eine radikale Präventionsmaßnahme bevorzuge anstelle von unliebsamen Reparaturen und Anpassungen in der Zukunft.97 Machado führte seine Rede gegen die ausländischen Spiele weiter aus, mit dem Tenor, die Brasilianer seien in ihrem Verhalten das Gegenteil der 95 »O Sul Americano«, A Gazeta , 23.10.1925, S. 4. 96 »O projecto Carlos Garcia«, A Gazeta , 4.10.1922; »Futebolophobia. Ainda o projecto-monstro do sr. Carlos Garcia«, A Gazeta , 6.10.1922. 97 »O projecto Carlos Garcia«, A Gazeta , 4.10.1922. 260 260 Nation ungerechten, brutalen und unfairen Spieler der anderen Teilnehmerländer und fragte rhetorisch: Haben Sie die Brutalität der chilenischen Spieler gesehen, die gleich im ersten Spiel mehrere unserer Spieler herausgeworfen haben? Haben Sie die unrühmliche Parteilichkeit der Schiedsrichter Villarino und Ladzon gesehen, die uns zwei sichere Siege raubten? Haben Sie die Vorgehens- weise der Argentinier gesehen, die zum Eingreifen der öffentlichen Auf- sicht zwangen? Haben Sie die fehlende Disziplin der Paraguayer gese- hen, die das Kampffeld vor dem Ablauf eines ehrlich ausgefochtenen Kampfes verließen? Haben Sie die niederträchtigen und furchtbaren An- griffe der Presse in Montevideo auf unsere Sportler gelesen? Wenn Sie das alles gesehen haben, dann werden sie mir Recht geben.98 Machado kehrte die Anschuldigungen und Zuweisungen um, die die brasi- lianischen Sportler seit 1919 von der argentinischen und uruguayischen Presse erfahren hatten, und grenzte nun Argentinien, Chile und Uruguay als rückständig und »unzivilisiert« von Brasilien ab. Zwar nahm das Parlament Garcias Vorschlag nicht an, jedoch brach die CBD die Beziehungen zum uruguayischen Sportverband im Jahr 1922 für einen unbestimmten Zeitraum ab, das Verhältnis zwischen beiden Fußballnationen war dadurch nachhaltig belastet.99 Auch eine Rückkehr der Brasilianer und erneute Teilnahme an den Süd- amerikanischen Meisterschaften im Jahr 1925 bestätigte in den Augen der Brasilianer nur die vorangegangenen Erfahrungen. Beim Endspiel Brasilien gegen Argentinien entstand, nachdem Friedenreich den argentinischen Spieler Muttis gefoult hatte, ein Handgemenge mehrerer Spieler, das erst mit dem Eingreifen der Polizei endete.100 Auch auf dem parallel zum Turnier stattfindenden Kongress des süd- amerikanischen Verbandes kam es zu Meinungsverschiedenheiten über die Ausrichtungsorte und die zeitlichen Abstände der Meisterschaften. Festge- legt wurde die Ausrichtung des nächsten Turniers 1927 in Rio de Janeiro. Doch schon kurz nach dem Ende des Kongresses legte die chilenische Delegation Beschwerde ein wegen Unregelmäßigkeiten bei der Abstim- mung und die Entscheidung wurde rückgängig gemacht.101Daraufhin 98 Ebd. 99 S ARMENTO , A regra do jogo , S. 32 ff. 100 Vgl. S ANT ’A NNA , Leopoldo, »Cartas da Argentina«, A Gazeta , 4.1.1926. 101 Vgl. »Não teremos o Sul-Americano de 1927, no Rio?«, A Gazeta , 8.1.1926; »Não teremos o Sul-Americano de 1927, no Rio?«, A Gazeta , 11.1.1926; »O momento 261 Nation 261 organisierte der Verband ein außerordentliches Treffen der Teilnehmer, in Abwesenheit der Brasilianer. Erneut sahen sich die Brasilianer bestätigt, von dem südamerikanischen Verband herabgewürdigt und nicht ernst ge- nommen zu werden. Ein Journalist meinte: Seitdem wir die Entscheidung getroffen haben, zu dem Südamerikani- schen Fußballverband dazuzugehören, können wir den Widerwillen der anderen südamerikanischen Nationen erfahren, den sie gegenüber der strahlenden und immer glorreichen Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien zeigen. Jedesmal wenn sich eine Gelegenheit zur Rück- sichtslosigkeit ergab, ergriffen sie diese. Die, die sich als unsere Freunde ausgeben wollen, aber uns ständig im Zweifel ob dieser Freundschaft lassen, die zwar ausgesprochen ist, uns aber nicht überzeugen kann.102 Als Konsequenz aus den Vorfällen erklärte die CBD ihren endgültigen Austritt aus dem südamerikanischen Verband, während sie zugleich die Anbindung an die FIFA beibehielt. Nun war Brasilien regional völlig iso- liert. Der fußballerische Internationalismus in der Region Südamerika verlagerte sich in den darauffolgenden Jahren stark auf die Initiative priva- ter Akteure. Einzelne Vereine luden argentinische oder uruguayische Mannschaften ein und hielten so den internationalen Spielbetrieb am Le- ben. In São Paulo, wo seit 1925 zwei lokale Ligen miteinander konkurrier- ten, hielt die konservative und elitäre Amateurliga LAF den Spielbetrieb mit der ebenso sich stärker auf das Amateurprinzip berufenden und konser- vativen Liga Amateurs in Argentinien aufrecht, indem sie eine Reise einer Auswahl dieser Liga nach São Paulo und Rio de Janeiro finanzierte.103 Beide Verbände einte die Ablehnung des Profitums im Fußball, beide wa- ren aus Abspaltungen von Eliteklubs entstanden, beide hatten die lokal radikaleren Maßnahmen gegen Regelverstöße gefordert und beide wollten im Fußball die Werte des Amateurethos stärken. Die LAF stand damit der internacional. Brasileiros versus Amateuristas e associonistas«, A Gazeta , 21.1.1926; »Ainda o caso da escolha do Rio para o Sul-Americano de 1927«, A Gazeta , 29.1.1926; »A reunião extraordinaria do Congresso Sul-Americano de futebol«, A Gazeta , 26.2.1926; »O Brasil prestes a deixar a Confederação Sul-Americana de Futebol?«, A Gazeta , 28.4.1926. 102 »O Brasil prestes a deixar a Confederação Sul-Americana de Futebol?«, A Gazeta , 28.4.1926. 103 Vgl. »O que disse, no Rio, o dr. Mario Cardim«, A Gazeta , 16.11.1926; »O que foi, para os paulistas, o anno esportivo de 1926«, A Gazeta , 4.1.1927; »Mais uma victoria dos argentinos!«, A Gazeta, 29.11.1926. 262 262 Nation argentinischen Amateurs viel näher als dem lokalen Paulistaner Verband APEA, der eine sukzessive Professionalisierung durchaus tolerierte und der vor allem sozial offener und inklusiver war als die LAF. Diese Identifika- tion ist auch ein Beispiel dafür, dass im transnationalen Sportraum Konfliktlinien nicht automatisch entlang nationaler Grenzen verliefen. Obwohl die Sportpresse erheblich daran beteiligt war, den Austritt Bra- siliens aus dem südamerikanischen Sportverband vorzubereiten, bemän- gelte sie schon kurz nach diesem Schritt, Brasilien könnte durch seine Isolation sportlich abgehängt werden. Zwar führte die Rivalität mit argenti- nischen und uruguayischen Mannschaften zu Unannehmlichkeiten und diplomatischen Konflikten, sie brachten aber zugleich Brasiliens sportliche Entwicklung voran, so war der Tenor. Am 1.6.1928 verglich ein Autor des Sports Magazine anhand einer Statistik die Internationalität des Fußballs südamerikanischer und europäischer Nationalmannschaften. Brasilien tauchte in der Statistik nicht auf. Der Autor gab als Grund vor allem die unharmonischen Beziehungen zu den Nachbarländern an. Auch er legte Brasiliens sportliche Isolation als Rückständigkeit aus, indem er auf Europa als Vorbild verwies: Dass in Europa so viele internationale Spiele stattfin- den würden, war für ihn selbstverständlich, schließlich »haben sie dort mehr Erleichterungen. Die Distanz zwischen den Ländern ist klein, die Zivilisation ist viel größer.«104 Die vorläufig gescheiterten fußballerischen Beziehungen führten jedoch nicht zu einer gänzlichen Abwendung brasilianischer Fußballer von den südlichen Nachbarn. Es existierten Debatten über einen sich herausbilden- den lateinischen Stil, beflügelt durch die Erfolge der südlichen Nachbarn im internationalen Fußball.105Zunehmend entstand auch ein Bewusstsein für einen eigenen, brasilianischen Stil, der sich von einem angelsächsischen Stil positiv abgrenzen ließ, der aber auch von dem argentinischen und uruguayischen zu differenzieren war. Für die Herausbildung eines eigenen Stils bedeutend war das seit 1922 jährlich stattfindende nationale Turnier des Campeonato Brasileiro . Immer siegten hier Paulistas oder Cariocas, die durch jahrelange internationale Erfahrung besser trainiert und deshalb den Mannschaften der anderen Staaten Brasiliens überlegen waren.106 104 Sports Magazine , 1.6.1928. Vgl. auch: »Se não fosse a política da C.B.D.«, A Gazeta , 3.7.1927. 105 Siehe hierzu auch Kapitel 4.2.1 der vorliegenden Arbeit. 106 So zum Beispiel im Campeonato Brasileiro 1926: Vgl. »Paulistas, 13 x Bahianos, 1«, A Gazeta , 25.10.1926. Im Endspiel siegten die Paulistas und sahen damit ihre selbstverständliche Überlegenheit bestätigt: »Paulistas, campeões de 1926!«, A Gazeta , 8.11.1926. Vgl. auch Kapitel 3.2.3 der vorliegenden Arbeit. 263 Nation 263 Schon im Laufe der südamerikanischen Turniere hatten Vertreter nationalpatriotischer, konservativer Sportmedien die Position vertreten, dass Brasilien in Südamerika eine außerordentliche Position einnehme und zur sportlichen Avantgarde zähle. Insgesamt jedoch führten die internatio- nale Isolation, die leeren Kassen des nationalen Verbandes und die deshalb noch schwache Position der Brasilianer im internationalen Spielbetrieb zu einer Verunsicherung. Dafür steht zum Beispiel auch, dass Journalisten sich in Interviews mit europäischen Korrespondenten, Spielern oder Trai- nern immer wieder über den Bekanntheitsgrad des brasilianischen Fußballs im Ausland informierten und zur Kenntnis nehmen mussten, dass dort vor allem Uruguay wahrgenommen wurde und Brasilien, trotz der Tournee eines brasilianischen Klubs im Jahr 1925, dort nicht zu den großen Fuß- ballnationen zählte.107Das war auch die schmerzliche Feststellung eines Journalisten im Jahr 1928. Der brasilianische Sportverband teilte relativ kurzfristig mit, wegen unzureichender finanzieller Unterstützung durch die Regierung kein brasilianisches Fußballteam zu den Olympischen Spielen in Amsterdam schicken zu können, immerhin das wichtigste internationale Turnier für den Fußball der Zeit. Der Journalist von A Gazeta meinte des- halb: Das geringe Prestige, das wir schon erlangt haben, geht völlig den Bach herunter. Verstärkt wird in den südamerikanischen Kreisen dieser Sturm aus Bosheiten gegen ›los macaquitos‹ [›die kleinen Affen‹]. Die nächste Olympiade findet in den USA statt. Wenn man sich die exzellente Figur anschaut, die die uruguayischen und argentinischen Delegationen in den internationalen Turnieren machen, im fortwähren- den und fruchtbaren Kontakt mit den Kernländern des europäischen Sportes, dann ist es gut möglich, dass sie bald schon beginnen, sich für eine dieser bemerkenswerten und begeisternden Versammlungen der ganzen Welt in Montevideo oder Buenos Aires einzusetzen und letztlich eine abzuhalten. Diese Metropolen werden in großem Glanz dastehen und sich mit renommierten Athleten füllen… Nur das sportliche Brasilien, ohne Prestige und ohne Kraft, ohne Namen und ohne Unterstützungen, mit seinem närrischen Aussehen, hockend wie Jeca Tatu, schaut von weitem zu, verkommt in seiner Rückständig- keit, ohne Lust und Energie, ohne Ressourcen und durch die Auflösung 107 »Melhor do Mundo mas… Italiano!«, A Gazeta , 21.5.1930. 264 264 Nation angegriffen, während es die Parade dieser wunderbaren kollektiven Konzentration bewundert […]. 108 Es war, als sähe der Autor hier die Entscheidung für die Ausrichtung der Weltmeisterschaft durch Uruguay im Jahr 1930 und der Olympischen Spiele von 1932 durch die USA in Los Angeles voraus. Für die sportliche Isolation Brasiliens in den 1920er-Jahren machte man konkret Einzelpersönlichkeiten verantwortlich, so den Präsidenten der CBD, Oscar Costa, und den Leiter der letzten Delegation zu den Südameri- kanischen Spielen, Renato Pacheco. Ganz allgemein führte die Presse sie auf eine Rückständigkeit und teils sogar »Degeneration« in der nationalen sportlichen Entwicklung zurück. Sie meinten, nur internationaler sport- licher Austausch führe dazu, sportlich gleichauf mit den »zivilisierten Na- tionen« zu bleiben. Gerade der internationale Wettkampf rege die Ausbil- dung eigener nationaler Stile an. Die Brasilianer wollten sich weiterhin dem weltumspannenden Netzwerk des Fußballs zugehörig fühlen und nicht zu den Ländern gehören, die als ein weißer Fleck auf der Weltkarte markiert waren, als noch nicht von der sportlichen »Zivilisation« erfasst. Die Argumente der Fußballinternational- isten entsprachen einer tiefsitzenden Angst, die aus den diplomatischen Erfahrungen des Jahrzehnts kam, als Brasilien vor allem mit seiner Euro- paorientierung bei den Vereinten Nationen gescheitert war. Wie eine Ab- bildung aus A Gazeta von 1927 zeigt (Bild 11), nahmen Journalisten die Welt auch in sportlicher Hinsicht als in zwei Hälften aufgeteilt wahr: in die durch die »zivilisierende« Kraft des Fußballs erfassten Länder und die Außenseiter – das waren der Großteil der Länder auf dem afrikanischen Kontinent und in Asien. Das spricht für eine Wahrnehmung der Fußballverbreitung als den Glo- bus umfassende Bewegung, ja als Globalisierungsprozess, in dem es aber eben auch territoriale Grenzen und »Löcher in den Netzen« gab.109Maßstab dafür war die Zugehörigkeit zur FIFA, die als globale Organisation und zugleich Verwalterin dieser Diffusion gesehen wurde. Weiß markiert waren die Länder, die nicht zur FIFA gehörten, ansonsten spüre man, so der Autor »in allen Ecken dieser großen leuchtenden Sphäre, zu der wir gehören, den Einfluss des Fußballs.«110 108 »Mais uma vez nossos futebolistas verão as Olympiadas… por um óculo«, A Gazeta , 23.3.1928, S. 6. 109 O STERHAMMEL /P ETERSSON , Geschichte der Globalisierung , S. 41. 110 »A influencia do futebol em todo orbe«, A Gazeta , 18.11.1926. 265 Nation 265 Bild 11: »Der Einfluss des Fußballs auf dem ganzen Globus«: Die Weltkarte teilte die Welt in zwei Hälften, je nach dem, wer von der »zivilisatorischen« Fußballdiffusion erfasst war bzw. nicht. Quelle: »A influencia do futebol em todo orbe«, A Gazeta , 18.11.1926. 4.1.3. Zwischen südamerikanischem Selbstbewusstsein und Europaorientierung: Die Beteiligung Brasiliens an der Weltmeisterschaft 1930 Im Jahr 1929 hatte Uruguay auf dem Kongress der FIFA in Barcelona entgegen ursprünglicher Planungen des Weltverbandes die Zusage als Gastgeberland für die Ausrichtung der Ersten Weltmeisterschaft erhalten. Ursprünglich wollte die eurozentrische FIFA den Titel an ein europäisches Land vergeben. Auch sollte das Turnier nach dem K.-o.-System durchge- führt werden.111Die Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 änderte die Pläne der FIFA und die meisten europäischen Länder zogen ihre Bewerbung als Gastgeberland zurück, während sich Uruguay und Argentinien gemeinsam für den Standort Uruguay einsetzten. Das Land war wirtschaftlich von der Krise unberührt und konnte den teilnehmenden Ländern die Reise finanzie- ren. Außerdem besaß es durch die Fußballerfolge spätestens seit den Olympischen Spielen 1928 internationale Reputation als Fußballnation.112 111 Vgl. E ISENBERG u. a. (Hg.), FIFA 1904-2004 , S. 100-108; Vgl. auch »›Federation Internacional Football Association‹«, Rio Sportivo , 25.5.1930. 112 Vgl. E ISENBERG u. a. (Hg.), FIFA 1904-2004 , S. 100-108. 266 266 Nation In Brasilien sah man dies nicht anders, die brasilianische Presse erkannte ehrfürchtig die Stellung Uruguays an, trotz der offiziellen Isolation des brasilianischen Fußballverbandes innerhalb des südamerikanischen Ver- bandes und den Konflikten mit Uruguay in den vorangegangenen Jahren. Auch Anfang 1930 zeichnete sich mit dem Näherrücken der Anmeldefrist für die teilnehmenden Nationalmannschaften ab, dass der Großteil der europäischen Nationen kein Team nach Uruguay senden würde. Die brasi- lianische Sportpresse solidarisierte sich weitestgehend mit Argentinien und Uruguay in der Empörung über die europäische Zurückhaltung. Die südamerikanische Presse interpretierte sie einhellig als Boykott der Veran- staltung, umso mehr ginge es darum, das Turnier als »ein Fest südamerika- nischer Verbrüderung« zu betrachten.113So vermutete ein Journalist hinter der spanischen Absage Anfang Februar 1930 – einem Land, das seit Ende der 1920er-Jahre zu einem der erfolgreichsten Fußballländer Europas ge- hörte –, die Spanier hätten »die absolute Sicherheit, dass sie durch die Reise in das kleine südamerikanische Land ihr Prestige als Fußballer ver- lieren.« Denn in Südamerika, so der Autor weiter, sei »die Praxis des Fuß- balls auf einem Level angelangt, wie es in anderen Nationen der alten Welt noch nicht erreicht wurde.«114Auch das Fernbleiben der holländischen Delegation verurteilte die Presse als unsportlich, Uruguay habe schließlich bei den letzten Olympischen Spielen in Amsterdam ein »großes Scheitern« des Turniers vermieden.115Gerade die Spiele der Uruguayer seien finanziell sehr erfolgreich gewesen und insbesondere die letzten beiden Spiele zwi- schen Argentinien und Uruguay »schufen größere Einnahmen als alle Spiele zusammen.«116 Letztlich nahmen aus Europa Belgien, Jugoslawien, Frankreich und Rumänien teil.117Die vorausgegangenen Verhandlungen mit Europa beglei- tete die brasilianische Presse eng und urteilte auch hier wieder in südameri- kanischer Solidarität. Im Zuge der Berichterstattung sorgte insbesondere ein Interview mit dem uruguayischen Nationalspieler Nasazzi für Aufse- hen, der die Absage des Großteils der europäischen Mannschaften als verdiente Strafe für die uruguayischen Organisatoren betrachtete. Er argu- 113 A LBUQUERQE , Tenorio de, »Confraternização Sportiva Sul-Americana«, Rio Sportivo , 25.5.1930. 114 »A‘ margem do Campeonato Mundial«, A Gazeta , 6.2.1930. 115 »Campeonato Mundial de Football. O comparecimento da Yugo-Slavia – A Belgica está com um quadro poderosíssimo – Nasazzi e Arispe no seleccionado uruguayo«, Rio Sportivo , 16.5.1930. 116 Ebd. 117 Vgl. E ISENBERG u.a. (Hg.), FIFA 1904-2004 , S. 100-108. 267 Nation 267 mentierte, die Europäer würden von den Uruguayern zu Unrecht umworben und besser behandelt: Uruguay kam für die Reisekosten der anreisenden Mannschaften auf, dafür müssten in Uruguay selbst wichtige Lokalspiele ausfallen, während zugleich uruguayische Mannschaften bei Europa-Reisen keinen finanziellen Ausgleich erhalten hätten.118Das sah auch die brasiliani- sche Presse so, sie meinte ganz allgemein, das Turnier könne auf die euro- päischen Mitbewerber ebenso gut verzichten, sie stellten keine sportlich- technische Bereicherung dar.119 Insgesamt beherrschte die Debatte um die geringe Begeisterung der europäischen Länder die Angst, der universale Anspruch der FIFA könne im Zuge der Ausrichtung der ersten Weltmeisterschaft auf dem Spiel ste- hen. Anlass gab eine Tendenz zur Bildung regionaler Einheiten und Meisterschaften in der FIFA-Gemeinschaft, weil zum Beispiel bei der FIFA-Konferenz im Juni 1930 in Budapest die Einrichtung eines westeuro- päischen Wettbewerbs und eines westeuropäischen Verbandes wichtigster Tagesordnungspunkt war.120Auch Argentinien, Chile und Uruguay dis- kutierten auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen darüber, das Tur- nier in einen panamerikanischen Wettbewerb zu verwandeln und sich entsprechend zu organisieren, da sich vor allem südamerikanische Länder, dazu Mexiko und die Vereinigten Staaten als Teilnehmer angemeldet hat- ten.121Es gab also so etwas wie die Herausbildung eines regionalen Bewusstseins, das der Fußball fördert. Dieses war gleichwohl fragil. Brasilien befand sich hier sportpolitisch in Bedrängnis, denn durch seine Isolation vom südamerikanischen Verband im Jahr 1925 und die direkte Anbindung an die FIFA hatte es einen anderen Status als die südamerikani- schen Länder, die über den Regionalverband der FIFA assoziiert waren.122 Entsprechend schrieb Sant’Anna angesichts der Boykottforderungen Argentiniens und Uruguays, Brasilien solle sich einem Austritt aus der FIFA und der Gründung einer panamerikanischen Assoziation nicht an- schließen, denn dies wäre »eine bezeichnende Herabwürdigung der 118 »Campeonato Mundial de Football«, Rio Sportivo , 24.4.1930. 119 Vgl. »Campeonato Mundial de Football. A Polonia não concorrerá e a Austria já está propensa a mandar o seu quadro a Montevidéo – Como se fala na organisação do quadro nacional«, Rio Sportivo , 26.1.1930. 120 Vgl. »Está prestes a fracassar o campeonato mundial«, A Gazeta , 7.3.1930; »O Pan-Europeu!«, A Gazeta , 14.3.1920; Ohne Titel, 29.5.1930, A Gazeta . 121 Vgl. »Pan-Americanismo! O Uruguay quer separar-se da FIFA e organizar uma entidade só para os americanos«, A Gazeta , 13.3.1930; »A não concorrencia dos paizes euopeus ao Campeonato Mundial«, Rio Sportivo , 27.3.1930. 122 Vgl. ebd. 268 268 Nation FIFA.«123Schließlich könne Brasilien »als guter Südamerikaner und Nach- bar, ohne der FIFA gegenüber undiszipliniert aufzutreten, mit Uruguay solidarisch sein.«124Der Autor schlug vor, diese Solidarität dadurch zu zeigen, dass Brasilien Länder boykottiere, die sich nicht für die Weltmeis- terschaft eingeschrieben hätten.125 Als sich abzeichnete, dass das Turnier den Status der Weltmeisterschaft behalten würde, meinte er, in Südamerika läge das neue und zukünftige Zentrum der globalen Fußballentwicklung. In der Zurückhaltung der Europäer drücke sich weniger eine Geringschätzung aus, als vielmehr die Angst vor der Stärke der Südamerikaner und einem dadurch entstehenden Prestigeverlust, denn es sei »bewiesen, dass Europa, inklusive der ›fürch- terlichen Engländer‹, die Südamerikaner fürchten. Sie trauen sich nicht her- zukommen, um gegen uns in der Sportart anzutreten, in der sie einst Könige waren!«126Uruguay als Titelverteidiger und nun auch noch Aus- richter repräsentierte eine Gewichtsverlagerung im internationalen Fußball, die den europäischen Nationen auch hier ihre Schwäche vorführte. Ins- gesamt erschien ganz Amerika als Vertreter eines frischen, jungen und von Europa unterscheidbaren Stils: »Wie man sieht, wird die Weltmeisterschaft zwischen Amerikanern ausgetragen, die letztlich die wahren Meister des Universums in dieser Sportart sind.«127 Auch andere Sportmedien nahmen diese Position zu der Auseinanderset- zung zwischen der FIFA, den europäischen Mitgliedsländern und Uruguay ein. Mit diesem Konflikt ging eine neue Wertschätzung eines spezifischen südamerikanischen Fußballs einher, auch Brasilien rechnete sich selbstver- ständlich dazu. Ein Journalist von O Estado de São Paulo führte aus, die Uruguayer seien mit ihrem Anliegen, die Weltmeisterschaft auszutragen, in Europa eher auf Ablehnung, bisweilen Feindseligkeit gestoßen und er fragte weiter, ob möglicherweise die Tourneen der Argentinier, Brasilianer und Uruguayer im Jahr 1925 kontraproduktiv für die Bekanntmachung des südamerikanischen Fußballs gewesen seien. Der Autor führte dies auf überkommene Differenzierungen und Einschätzungen der Europäer zurück, die sich mit dem Ersten Weltkrieg verändert hätten, denn 123 »O momento internacional«, A Gazeta , 15.3.1930. Vgl. auch: »A‘ margem de um absurdo«, A Gazeta , 28.3.1930. 124 »O momento internacional«, A Gazeta , 15.3.1930. 125 Vgl. ebd. 126 »O campeonato mundial«, A Gazeta , 20.2.1930. 127 »O campeonato do mundo«, A Gazeta , 11.4.1930. 269 Nation 269 Europa hat sich trotz der Schäden durch den Großen Krieg noch nicht davon überzeugen können, dass sein Moment des Abstiegs gekommen ist, der laut Philosophen unvermeidlich ist. Die Südamerikaner werden auf diese Weise als halb-barbarische Völker eingeschätzt, gut dazu ge- eignet, um in die Wälder einzudringen, aber ungeeignet, um die westli- che Zivilisation zu begleiten. Siehe beispielsweise was sie uns letztes Jahr sagten, als ausländische Sportler ein paar Spiele in São Paulo und Rio de Janeiro spielten. Einige italienische Journalisten gaben zu verste- hen, wir seien wahrhaftige Kaffer! Sind sie ehrlich, diese Kritiker? Das ist schwer zu beurteilen. Jedenfalls haben wir das Recht, uns zu verteidi- gen in Fällen, in denen wir gezwungen sind, auf internationalen Spielen aufzutauchen.128 Die Abwesenheit europäischer Mannschaften und die geringschätzigen Äußerungen des FIFA-Generalsekretärs Delaunay über Uruguay als Austragungsort verschärften diese Konfliktlinie noch. Delaunay äußerte in einem in der brasilianischen Presse abgedruckten Interview an eine spani- sche Zeitung, Uruguay sei aus »Höflichkeit« ausgewählt worden, weil das Land die Feste zur 100-jährigen Unabhängigkeit feiere. Keiner der Dele- gierten des Kongresses in Barcelona hätte »ernsthaft an die Reise« der Teilnehmerländer gedacht.129In diesem Interview führte Delaunay aus, wie die Idee einer Weltmeisterschaft als eigenständiges Turnier gegenüber den Olympischen Spielen zustande gekommen sei und dass er diese in Uruguay nicht umgesetzt sehe. Das IOC ließ keine Profi-Spieler zu, die in einigen der erfolgreichsten Fußballnationen Ende der 1920er-Jahre, so in Italien und Spanien, jedoch schon üblich waren. Die FIFA verständigte sich über einen neuen Amateur- kodex und wollte zudem durch das K.-o.-System die Länder an den Spiel- einnahmen stärker beteiligen, da so die erfolgreichsten Mannschaften ent- sprechend hohe Gewinne erzielen und sich das Turnier auch für Profis lohnen würde. Entgegen der Empfehlungen der FIFA führte Uruguay je- doch kein K.-o.-System ein, alle Spiele fanden zentral in Montevideo statt, es konnten nicht parallel in mehreren Städten Gruppenspiele ausgetragen werden.130 128 »Futebol. O Campeonato Mundial«, OESP, 12.3.1930. 129 »›Federation Internacional Football Association‹«, Rio Sportivo , 25.5.1930. 130 Vgl. »›Federation Internacional Football Association‹«, Rio Sportivo , 25.5.1930; EISENBERGu. a., FIFA 1904-2004 , S. 100-108; HÜSER, Neutralitätsdiskurs und Politisie- rungstrends, S. 48 f.; Hinzu kamen Schwierigkeiten in der zeitigen Vorbereitung des Turniers in Uruguay, so wurde das Centenário -Stadion nicht rechtzeitig zum Turnierbe- 270 270 Nation Die überaus hohe Wertschätzung eines eigenen höherwertigen Fußballs durch die brasilianische Presse im Angesicht der Weltmeisterschaft und der Konflikte mit Europa hielt jedoch nicht lange an, im Unterschied zur Selbsteinschätzung der Argentinier und Uruguayer.131Brasilianische Journalisten und Sportler waren verunsichert. Das lag erstens an dem jahre- langen Fernbleiben offizieller Nationalmannschaften von den südamerika- nischen Meisterschaften. Zweitens zog kurz vor der Abreise der brasilianischen Nationalauswahl nach Uruguay der Paulistaner Lokalver- band seine Spieler zurück und Brasilien nahm mit einer schwachen, nahezu untrainierten Mannschaft teil.132Die andauernden Auseinandersetzungen zwischen São Paulo und Rio de Janeiro schwächten seit Beginn der 1920er- Jahre konstant Brasiliens nationale Repräsentation bei ausländischen Spie- len.133Gleich in der Vorrunde schied Brasilien gegen Jugoslawien und Bolivien aus.134Die Presse verfolgte das Turnier weiter und konzentrierte sich auf die Teilnehmer Argentinien und Uruguay. Der Gesamtsieg Uru- guays löste auch in der brasilianischen Presse Enthusiasmus aus und erneut wurde die Ablösung Europas durch etwas Neues, Frisches gefeiert und Uruguay als Avantgarde einer neuen sportlichen »Zivilisation« gepriesen.135 ginn fertiggestellt, die ersten Spiele mussten an zwei anderen Spielstätten ausgetragen werden: Vgl. HÜSER, Neutralitätsdiskurs, S. 49; SCHULZE-MARMELING, Dietrich/DAHL- KAMP, Hubert, Die Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaft 1930-2006 , Göttingen 2004, S. 22-41. 131 Ein Hinweis auf ein argentinisches und uruguayisches Selbstbewusstsein gegen- über dem europäischen Fußball ist die Idee, einen panamerikanischen Verband zu grün- den, der der Überlegenheit des südamerikanischen Fußballs Ausdruck verleihe. Dieses Anliegen wurde transnational über die Sportmedien debattiert und spricht in Teilen zumindest für einen rudimentär vorhandenen Pan-Amerikanismus in Argentinien und Uruguay. Vgl. »A derrota do combinado brasileiro no campeonato mundial. A Confederação Pan-Americana de Football. Especial para a ›Gazeta de Noticias‹ por José Antonelli da Associação Argentina de Amadores«, Gazeta de Notícias , 6.8.1930. 132 Vgl. »Parece que a Apea queimou-se com a C.B.D. por varias notas da ›Gazeta de Noticias‹«, Gazeta de Noticias , 13.6.1930; »Recusando mandar seus jogadores para o Rio onde deveriam treinar para o Campeonato Mundial, São Paulo sportivo declara sua independência«, Gazeta de Noticias , 14.6.1930; »Campeonato Mundial e a Situação dos Brasileiros para o grande torneio«, Gazeta de Notícias , 17.6.1930. 133 Vgl. hierzu Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit. 134 »Os Brasileiros foram vencidos pelos Yugoslavos!«, Gazeta de Notícias , 15.7.1930; »O Sr. Pindaro organisou um scratch, propositadamente, para sair vencido da cancha de Montevideu, porém a rapaziada carioca sairá vencedora!«, Gazeta de Notícias , 20.7.1930. 135 Vgl. »Ao redor de uma bola«, OESP , 10.8.1930. 271 Nation 271 Bild 12: Die Karikatur illustriert die in Südamerika gepriesene Überlegenheit über Europa, ironisiert aber zugleich Brasiliens unauffälligen Auftritt bei der Weltmeister- schaft, durch den Brasilien zwischen »den Fronten« blieb. Der Untertitel lautete ent- sprechend: »Es geht doch nichts über eine Niederlage in der Weltmeisterschaft, wenn man internationale Sympathien gewinnen will…«. Quelle: »A Bola Internacional«, A Careta , 26.7.1930. Letztlich hatten mehrere brasilianische Klubs, auch aus São Paulo, die Möglichkeit, sich doch noch an den WM-Teilnehmern zu messen, da einige der Mannschaften, wie die Auswahlen Jugoslawiens, Frankreichs und Nordamerikas, auf ihrer Rückreise in Brasilien Halt machten. Sie traten gegen brasilianische Vereine an und unterlagen.136Bei dem Spiel des Klubs Vasco da Gama gegen Jugoslawien kam die Presse zu dem Urteil, die Bra- silianer spielten, wie die Südamerikaner überhaupt, einen den Europäern überlegenen Stil, den Jugoslawen fehle »unsere Gewandtheit und unser Ungestüm«.137 136 Vgl. »O quadro yugoslavo, vencido, ante-hontem, pelos cariocas, se bem que não seja um team fraco, não é adversario para legitimas selecções cariocas, paulistas ou nacionaes«, Gazeta de Notícias , 12.8.1930. 137 »A brilhante rehabilitação dos nossos, jogando com os seus vencedores de Montevidéu«, Gazeta de Notícias , 12.8.1930. 272 272 Nation Zeitgleich zur Weltmeisterschaft spielte der argentinische Klub Huracán einige Begegnungen in Brasilien. Im letzten Spiel gegen eine Auswahl aus Carioca-Spielern im Stadion des Klub Vasco da Gama kam es zum Eklat: Die argentinischen Spieler verließen nach einem Foul des afro-brasiliani- schen Spielers Fausto frühzeitig das Spielfeld – das Spiel wurde abgebro- chen.138Die Haltung der Argentinier und ihre noch nach ihrer Rückkehr geäußerten Schuldzuweisungen gegen die Schiedsrichter und gegen organi- satorische Missstände gaben der brasilianischen Presse Anlass, sich erneut als sportlich fair und besser erzogen gegenüber Argentinien abzugrenzen. Die Presse verglich sie zum Beispiel mit den gewaltvollen Paulistaner clubes de várzea .139 Diese Berichte passten auch zu dem Stimmungsbild, das die Weltmeisterschaft insgesamt bei den diplomatischen Vertretungen Brasili- ens in Argentinien und Uruguay hinterlassen hatte. Die Vertretung in Uru- guay unter dem Botschafter Hélio Lobo beobachtete die Vorbereitungen auf die Feste zum Centenário und die Weltmeisterschaft in Montevideo genau und berichtete regelmäßig im Laufe des Jahres 1930 dem brasiliani- schen Außenministerium unter Octávio Mangabeira darüber, der wiederum mit dem Vorsitzenden der CBD, Renato Pacheco, Kontakt hielt.140Lobo schrieb am 6. August an Mangabeira in einem sechsseitigen Brief mit einer 138 »Segundo previamos, os argentinos pregaram uma surpresa aos cariocas… Sahindo do campo antes da terminação do jogo. ›Mais vale prevenir que remediar‹«, Gazeta de Notícias , 5.8.1930. 139 Vgl. »O Chôro Argentino«, A Gazeta , 22.8.1930; »O que dizem de nosso futebol além-Prata«, 27.8.1930. 140 Vgl. Hélio Lobo an Octávio Mangabeira, Montevideo, 26.2.1930, 640.6341(44) Football Uruguai 17.677, RjBHI; Telegramm von Hélio Lobo an Secretaria do Estado das Relações Exteriores, Montevideo, 7.4.1930, 640.6341(44) Football Uruguai 17.677, RjBHI; Hélio Lobo an bras. Außenministerium, Montevideo, 14.4.1930, 640.6341(44) Football Uruguai 17.677, RjBHI; Hélio Lobo an Octávio Mangabeira, Montevideo, 2.5.1930, 640.6341(44) Football Uruguai 17.677, RjBHI; Octávio Mangabeira an Renato Pacheco (CBD), Rio de Janeiro, 22.5.1930, 640.6341(44) Football Uruguai 17.677, RjBHI; Hélio Lobo an Octávio Mangabeira, Montevideo, 1.6.1930, 640.6341(44) Football Uruguai 17.677, RjBHI; Octávio Mangabeira an Renato Pacheco (CBD), Rio de Janeiro, 9.6.1930, 640.6341(44) Football Uruguai 17.677, RjBHI; Telegramm von Hélio Lobo an Octávio Mangabeira, Montevideo, 26.7.1930, 640.6341(44) Football Uruguai 17.677, RjBHI; Telegramm von Hélio Lobo an Mangabeira, Montevideo, 4.8.1930, 640.6341(44) Football Uruguai 17.677, RjBHI; Hélio Lobo an Octávio Mangabeira, 6.8.1930, 640.6341(44) Football Uruguai 17.677, RjBHI. Der Telegrammaustausch zwischen Renato Pacheco (CBD) und Octávio Mangabeira respektive Hélio Lobo und Octávio Mangabeira von Anfang 1930 legt sogar nahe, dass es Lobo war, der über den Wiedereintritt der Brasilianer in den süd- amerikanischen Verband entschied: Siehe vor allem die oben nachgewiesenen Briefe aus Montevideo, 20.2.1930, 26.2.1930 und 28.2.1930, RjBHI. 273 Nation 273 angehängten Dokumentation von Zeitungsartikeln über den Verlauf der Weltmeisterschaft in Uruguay. Er bezog sich insbesondere auf die Aus- schreitungen, zu denen es zwischen argentinischen und uruguayischen Fans nach dem Sieg der Uruguayer gekommen war. Die Ausschreitungen hätten erst nach der Rückkehr der besiegten Argentinier nach Buenos Aires einge- setzt, als aufgebrachte Menschen das uruguayische Konsulat mit Steinen bewarfen. Vor allem habe aber die Presse beider Länder mit nationalchauvinistischen Beiträgen die Stimmung angeheizt, nachdem der argentinische Verband die Beziehungen zum uruguayischen Pendant abge- brochen hätte.141Lobo schloss sich den Pressestimmen an, die nun wieder eine Abschaffung internationaler Spiele forderten. Die Beteiligung Brasili- ens sei, so Lobo, sowieso ausschließlich gerechtfertigt »durch das Centenário in Gegenseitigkeit zu Uruguays Verhalten 1922. Wir konnten unsere Pflicht als Nachbarn erfüllen, wir wussten zu spielen und zu verlie- ren.«142 Auch aus Buenos Aires erhielt der Außenminister Mangabeira einen dreiseitigen Brief, der die Beziehungen zwischen Argentinien und Uruguay nach den Ausschreitungen beurteilte.143Darin berichtete der brasilianische Botschafter in Buenos Aires ausführlich über die Reaktionen der argentini- schen und uruguayischen Zuschauer auf den Straßen: Die in Montevideo abgelaufenen Szenen, wahrhaft deliriös, gaben leider Anlass für entlarvende Manifestationen eines Mangels an Kultur, die unmittelbar in Buenos Aires Widerhall fanden, wo sich populäre Kundgebungen organisierten, die ihrerseits wiederum der Ausdehnung von wenig lobenswerten Gefühlen Raum gaben und die zeigten, zu was die Ausschreitungen der Massen führen können, angestiftet durch einen falsch verstandenen nationalistischen Geist.144 Schon zuvor hatten die Botschafter die Abhaltung des internationalen Wett- bewerbs mit Zurückhaltung beobachtet und vor allem dann reagiert, wenn in der argentinischen oder uruguayischen Presse negative Berichte über das jeweils andere Land auftauchten, die die diplomatische Arbeit zwischen den Ländern in Frage stellen würde. Hélio Lobo hatte auch Stellung ge- 141 Vgl. Hélio Lobo an Mangabeira, Montevideo, 6.8.1930, 640.6341(44) Football Uruguai 17.677, RjBHI. 142 Ebd. 143 Vgl. Gesandtschaft in Buenos Aires an Octávio Mangabeira, Buenos Aires, 11.8.1930, 640.6341(44) Football Uruguai 17.677, RjBHI. 144 Ebd. 274 274 Nation nommen zu der Frage, ob sich Brasilien dann noch an dem Wettbewerb be- teiligen solle, wenn sich die amerikanischen Länder von der FIFA lösen würden. Er empfahl hier die Solidarität mit Uruguay im Hinblick auf die Festlichkeiten zum Centenário und riet davon ab, aus »Unterordnung unter die FIFA« fernzubleiben, »denn das öffentliche Gefühl würde in dieser Stunde fast Schaden nehmen im Versuch, mit Europa abzurechnen.«145Er wies auf die Bedeutung des Fußballs in Uruguay hin, die sich daran ablesen lasse, dass der »Präsident der Leibeskommission ein ehemaliger Präsident der Republik und der des uruguayischen Fußballverbandes ein Senator« sei.146An anderer Stelle sagte er, »dass der Fußball hier [in Uruguay] eine tiefgehende Bewegung im Volk freisetzt.«147 Die beigefügten Zeitungsartikel zu den diplomatischen Berichten und entsprechende Beiträge zu dem Thema in der brasilianischen Sportpresse geben Aufschluss darüber, wie die Südamerikaner die Beziehungen zwi- schen der FIFA und dem südamerikanischen Verband und den Status und die Macht der FIFA einschätzten. Selbst moderatere Presseorgane, die zu diesem Zeitpunkt gegen eine Loslösung der südamerikanischen Nationen von der FIFA votierten, hielten fest, die südamerikanischen Mitgliedslän- der hätten kaum Stimmengewicht und würden in dem Verband mit univer- salem Vertretungsanspruch kaum wahrgenommen – sie klagten über den Eurozentrismus des Verbands, nicht wörtlich, aber doch sinngemäß. Dies schrieben sie selbstkritisch auch einem fehlenden Sinn für Organisation in Südamerika zu. Die einzelnen Länder würden oftmals von Personen ver- treten, die von Fußball kaum Ahnung hätten.148Ein Journalist von O Estado de São Paulo schätzte die Rolle der FIFA anders ein. Im Zuge der Konflikte um die Beteiligung der Paulistas in der Nationalmannschaft mutmaßte er, derlei Probleme würden künftig nicht mehr auf nationaler Ebene gelöst, wenn die FIFA sich als supranationale Institution etabliere: Der Fußball ist so wichtig, dass er auch schon seine internationale Poli- tik hat. Nicht mehr lange und es wird ein internationales öffentliches und privates Recht entworfen, um die zwischen den Ligen, Klubs und Fuß- ballern aufgeworfenen Fragen zu regulieren. Die Federation in Amster- 145 Hélio Lobo an Octávio Mangabeira, Montevideo, 14.4.1930, 640.6341(44) Foot- ball Uruguai 17.677, RjBHI. 146 Ebd. 147 Hélio Lobo an Octávio Mangabeira, Montevideo, 26.2.1930, 640.6341(44) Foot- ball Uruguai 17.677, RjBHI. 148 Vgl. Anhang zu Brief von Hélio Lobo an Octávio Mangabeira, Montevideo, 14.4.1930, 640.6341(44) Football Uruguai 17.677, RjBHI. 275 Nation 275 dam, mit etwas gutem Willen, verwandelt sich so alsbald in eine Art Obersten Gerichtshof mit letzter Instanz. 149 Mit der Einführung international geltenden Rechtes entwickle sich die FIFA zu einer supranationalen Instanz, an die die nationalen Verbände Zuständigkeiten für regionale Konflikte abgeben würden. Dieser Fortschritt sorge für die Beilegung von Konflikten.150 Diese Einschätzung teilten brasilianische Diplomaten 1930 noch nicht. In ihren Augen ging es bei Konflikten zwischen Fußballgegnern unmittel- bar um zwischenstaatliche Beziehungen und somit auch nationale Interes- sen. Hélio Lobo stellte einen möglichen Sieg der Brasilianer bei der Weltmeisterschaft hinter alle anderen Interessen, die die Beziehungen zwischen den drei Ländern betrafen. Das zeigten die Reaktionen auf das Turnierergebnis: Lobo war eher froh, dass Brasilien durch seine schwache Leistung so früh ausgeschieden war. Die sensiblen Beobachtungen durch die diplomatische Vertretung in Uruguay unter Lobo beschränkten sich nicht auf Stellungnahmen, es handelte sich um konkrete Einflussnahme. Sie zeugen von der engen Ver- knüpfung zwischen dem brasilianischen Nationalverband als nicht-staatli- cher Organisation und staatlichen Organen, hier dem Außenministerium. Das, so geht es aus der vorliegenden Korrespondenz hervor, entschied darüber, ob Brasilien an der Weltmeisterschaft teilnahm. An anderer Stelle wird auch deutlich, dass das Außenministerium verfügte, Brasilien solle nicht in den südamerikanischen Verband zurückkehren.151Die gezielte Steuerung der internationalen Beziehungen im Fußball war demzufolge eine nicht unbedeutende Aufgabe brasilianischer Außenpolitik. Dennoch war die Form, wie das Außenministerium in Erscheinung trat, oft eher korrigierender Art und nicht mit den sportpolitischen Propagandaeinrich- tungen in anderen Ländern vergleichbar.152 149 »Futebol. Assumptos Internacionaes. A obra do despeito«, OESP , 14.8.1930, S. 6. 150Ebd. 151 Vgl. Hélio Lobo an Octávio Mangabeira, Montevideo, 26.2.1930, 640.6341(44) Football Uruguai 17.677, RjBHI. Auch an anderer Stelle wird deutlich, dass Fußball nicht mehr das primäre Mittel zur Annäherung zwischen Brasilien und Uruguay sein sollte, wie aus einem Interview zwischen Américo Netto, dem Sportredakteur von O Estado de São Paulo , mit der uruguayischen Zeitung El Diário zu den brasilianisch- uruguayischen Beziehungen hervorgeht, vgl. »Aproximação Brasileiro-Uruguaya. Uma entrevista do dr. Americo R. Netto a ›El Diario‹ de Montevideu - Como desenvolver o intercambio intellectual e esportivo entre os dois paizes amigos«, OESP , 23.8.1930. 152 Gerade Diktaturen entdeckten in den 1930er-Jahren den Sport als ein Mittel, kulturelle Werte zu verbreiten: KEYS, Spreading Peace, S. 168. Vgl. zur Einrichtung 276 276 Nation Die Ausführungen in diesem Kapitel zeigen die Begrenztheit der Solida- rität und Identifikation mit den anderen südamerikanischen Ländern im Fußball, die seit den ersten Spielen zwischen Klubs der Länder Argenti- nien, Brasilien und Uruguay beschworen wurde. Je stärker die Internatio- nalisierung des Fußballs in der Region voranschritt und je populärer der Fußball in den drei Ländern wurde, um so schwieriger wurde es für die brasilianischen Ausrichter von internationalen Spielen, die gezielten Vor- stellungen von ethnischer Homogenität, »Weißsein«, nationaler Harmonie und »zivilisiertem« Verhalten zu vermitteln. Dass diese Bilder nicht durch- gesetzt werden konnten, führte zu einem Rückzug aus dem regionalen Fußball, den maßgeblich der nationale Fußballverband und das Außen- ministerium herbeiführten. Letzteres sah internationale Spiele zunehmend als massiven Störfaktor für die internationalen Beziehungen Brasiliens mit den südamerikanischen Nachbarn. Das sahen nicht-staatliche Akteure anders und einige internationale Spiele in den 1920er-Jahren beruhten deshalb auf privater Initiative. Als herausragendes internationales und privat finanziertes Sportereignis erweist sich die erste Reise eines brasilianischen Vereins nach Europa im Jahr 1925, die im Folgenden behandelt wird. Dieser Teil führt noch einmal alle Stränge dieser Studie zusammen, denn die Reise war zugleich eine Inszenierung der brasilianischen Nation in einer regionalistischen Lesart und eine Form transnationaler Aushandlung ethnischer und »rassischer« Identität. 4.2. »K ICK -D IPLOMATIE « 153 – B RASILIANISCHER F UßBALL IN E UROPA Am 15.3.1925 fanden sich um die 20.000 Fußballanhänger im Pariser Buffallo-Stadion ein, um das in der französischen Presse ausgiebig ange- priesene Spiel der französischen Nationalmannschaft gegen den brasilia- nischen Klub C. A. Paulistano zu sehen. Dieser befand sich auf einer Euro- pa-Tournee. Das Spiel wurde als Länderspiel inszeniert: Beide Mann- schaften betraten hintereinander das Spielfeld, ein Militärorchester spielte dazu die Marseillaise und die Nationalhymne Brasiliens. Auf der Tribüne hatten sich unter anderem der Präsident der internationalen eines Sportministeriums in Frankreich: A RNAUD , Pierre, French Sport and the Emergence of Authoritarian Regimes, 1919-1939, in: DERS. u.a. (Hg.), Sport and International Politics , S. 114-146. 153 Der Ausdruck geht zurück auf einen Artikel von Ismael Cordovil, »Diplomacia do chute« (»Kick-Diplomatie«), A Gazeta , 21.3.1925. 277 Nation 277 Fußballorganisation FIFA, Jules Rimet, und der Präsident des Bundesstaa- tes São Paulo, Washington Luís, eingefunden.154In gespannter Erwartung sah die französische Presse diesem Spiel entgegen. Es diente als Vorberei- tung auf ein anstehendes Freundschaftsspiel zwischen Frankreich und Ita- lien und es war das Debüt dreier nordafrikanischer Fußballspieler – Manzanerès, Liminana und Bardot. Vor dem Spieltag wurde in der franzö- sischen Presse diskutiert, wie sich diese Spieler in der Nationalmannschaft machen würden – nach dem Spiel war die Kritik an der Zusammenstellung der Mannschaft insgesamt negativ. Noch vor der Halbzeit stand es 3:2 für die Brasilianer, die vor allem durch ihren schnellen Angriff die Franzosen in die Defensive zwangen. Auch die Stürmer Friedenreich und Araken Patusca schossen in der zwei- ten Halbzeit jeweils noch ein Tor und insgesamt entschieden die Paulistas das Spiel mit 7:2 für sich.155Die Reaktionen in der französischen und in der brasilianischen Presse auf die Überlegenheit der Brasilianer waren frene- tisch, mit diesem Ergebnis hatte der brasilianische Klub die Erwartungen aus der Heimat und die der Franzosen noch übertroffen. Auch in den fol- genden sechs Spielen gegen verschiedene lokale Klubs in Frankreich konnte der C. A. Paulistano seinen Siegeszug fortsetzen, den nur eine Niederlage in Sète unterbrach. Auch von brasilianischer Seite waren die Erwartungen an die Tournee in Europa hoch, die ursprünglich nach England, Belgien, Holland, Schweiz, Italien, Deutschland, Spanien und Portugal führen sollte.156Die Reise stellte eine Reaktion auf beträchtliche Erfolge anderer lateinamerikanischer Län- derauswahlen und Mannschaften dar, die mit dem überraschenden Sieg Uruguays bei den Olympischen Spielen 1924 in Paris begonnen hatten. Sportfunktionäre befanden, Brasilien solle nicht außen vor bleiben, vor allem da brasilianische Spieler bei den internationalen regionalen Spielen in Südamerika unter den Erfolgreichsten waren, jedoch auf Grund finanzi- eller und organisatorischer Einschränkungen bisher noch nicht bei interna- tionalen Sportveranstaltungen außerhalb Südamerikas reüssieren konnten. 154 Vgl. den Spielbericht »France-Brésil«, Presse , 16.3.1925, in: Album »Excursão à Europa, Vol. II, 1925«, CAP. 155 Vgl. »Contre l’équipe de France les Bresiliens ont réussi un score impressionnant«, Echo des Sports , 16.3.1925; »L’équipe de France fait une honnête sortie«, L’Auto , 16.3.1925; »Une mauvaise performance de la sélection française«, L’Intransigeant , 17.3.1925, alle in: Album »Excursão à Europa, Vol. II, 1925«, CAP. 156 »Sononcie, Au Bresil. Des nouvelles du Bresil. Les preparatifs de depart de l'equipe de football que l'on verra matcher à Paris lemois prochain«, Aéro-Sports , 26.2.1925, in: Album »Excursão à Europa, Vol II., 1925«, CAP. 278 278 Nation Die Sportpresse hatte das immer wieder als symptomatisch für Brasiliens »Rückständigkeit« in sportlicher Hinsicht ausgelegt. Die erste Reise eines brasilianischen Klubs nach Europa im Frühjahr 1925 beruhte entsprechend auf einer Privatinitiative. Der Eliteklub C. A. Paulistano aus São Paulo gehörte in den 1920er-Jahren zu einem der erfolg- reichsten Vereine in Südamerika und hatte seit den 1910er-Jahren bereits etliche ausländische Klubs bespielt und besiegt. Der Präsident des Vereins, Antônio Prado Júnior, initiierte die Reise Ende 1924 und Anfang 1925, womit sie finanziell auf eine andere Grundlage gestellt wurde als eine durch den Sportverband geführte Reise. Die Ausgaben beliefen sich Presseinformationen zufolge auf circa 300.000 Franc, die mit den bei den Spielen zu erwartenden Einnahmen verrechnet wurden.157Ziel des Vorha- bens war, das fußballerische Können Brasiliens auch in Europa unter Be- weis zu stellen und gegen die besten Mannschaften des Kontinents und damit der Herkunftsregion des Fußballs anzutreten. Dass Frankreich dabei an erster Stelle stand, mag auf den ersten Blick verwundern, denn der französische Fußball galt in den Zwischenkriegsjah- ren bei Weitem nicht als der Beste in Europa. Frankreich war nicht primär eine Nation von Fußballenthusiasten, im Vergleich zu Ländern wie zum Beispiel Deutschland, Ungarn, Österreich und Spanien.158Die Reise, zu- nächst nach Paris und danach in die Schweiz und nach Portugal, hatte fol- gende Gründe: Nachdem im Jahr 1924 die Olympischen Spiele in Paris stattgefunden hatten, hatte das französische Publikum, mit dem Sieg der Uruguayer, einen ersten Eindruck vom lateinamerikanischen Fußball er- halten. Nun wollten die Brasilianer ebenso am gleichen Ort nicht nur gegen die Franzosen antreten, sondern einem ähnlichen Publikum beweisen, dass auch sie zur Weltklasse im internationalen Fußball gehörten. Auch der argentinische Klub Boca Juniors und der uruguayische Klub Nacional tourten gerade durch Europa. Angedacht wurde eine direkte Begegnung zwischen Brasilianern und Uruguayern in Frankreich, die jedoch auf Grund 157 Vgl. »Excursão do C. A. Paulistano á Europa - ultimos preparativos - organisação de uma propaganda patriotica - outras notas», OESP , 8.2.1925, in: Album »1925, Vol. I«, CAP; Henri Delaunay ( Fédération Française de Football Association ) an Antônio Prado Júnior, 27.1.1925; Henri Delaunay ( Fédération Française de Football Association ) an Antônio Prado Júnior, 7.2.1925, in: Album »Excursão à Europa, Vol. II, 1925«, CAP. 158 Vgl. L ANFRANCHI , Frankreich und Italien, S. 52 und 56 f. »Porque o futebol francez está em declinio, Cléo de Galsan«, A Gazeta , 6.2.1925. 279 Nation 279 der hohen Einnahmeforderungen der Uruguayer nicht zustande kam.159 Zudem stellte Paris das Zentrum der kontinentalen Internationalisierungs- bestrebungen im Fußball dar, hier war 1904 die FIFA gegründet worden und der aktuelle FIFA-Präsident, Jules Rimet, war auch Präsident des französischen Fußballverbandes.160 Noch gewichtiger waren die persönlichen Verbindungen, die der Klub- präsident Antônio Prado Júnior zu der aristokratischen, europäischen Sportelite besaß. Einer der wirtschaftlich und politisch bedeutendsten Fa- milien São Paulos entstammend, gehörte Prado Júnior zu einer Elite, die sich traditionell nach französischer Kultur ausrichtete. Er selbst hatte mit seiner Familie etliche Jahre in Paris verbracht.161In Prado Júniors Interesse an Sport drückten sich vor allem französische Einflüsse aus, so war er mit den brasilianischen Flugpionieren Alberto Santos Dumont und Edu Chaves befreundet bzw. verwandt, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Paris leb- ten.162Schon in den 1920er-Jahren, davon ist auszugehen, verfügte er über Kontakte zu den Gründern der Olympischen Bewegung in Brasilien. 1935 sollte er sogar Vorsitzender des Nationalen Olympischen Komitees Brasili- ens werden.163Prado Júnior gehörte zu einer äußerst transnational ausgerichteten und agierenden Elite von Sportfunktionären. Damit ist auch zu begründen, warum die Schweiz das zweite Land war, das die Paulistas 1925 besuchten. Von dort hatte der brasilianische Botschafter, Raul do Rio Branco, 1914 auf Einladung Pierre de Coubertins den Anschluss Brasiliens 159 Vgl. »O Paulistano na Europa. O Glorioso quer, mas os uruguayos se esquivam«, A Gazeta , 20. 3.1925; »Futebol. O falado desafio do Paulistano aos uruguayos. Ainda um Commentario de ›L'Auto‹ - Ponhamos Pontos nos ii«, A Gazeta , 23.4.1925. 160 Möglich ist auch eine Nähe in Bezug auf internationale sportpolitische Belange zwischen dem Vorsitzenden des Paulistaner Fußballvereins und den Franzosen, da sie, wie er, das Profitum ablehnten. Dies war die Position der USFSA vor dem Ersten Welt- krieg, Vgl. EISENBERGu.a. (Hg.), FIFA 1904-2004 , S. 62. Mitte der 1920er-Jahre setzte sich das Profitum aber international weiter durch und auch Jules Rimet stimmte schon 1926 der Einführung einer Profi-Liga in Frankreich zu: Vgl. »O profissionalismo ganha terreno. Em Paris estão organizando uma turma de profissionaes«, A Gazeta , 7.7.1926. 161LEVI, The Prados of São Paulo , 1987. 162 N ETO -W ACKER u.a., Brazil goes Olympic , S. 74-81; »Antônio Prado Júnior: O Presidente«, in: Club Athletico Paulistano: um clube que cresceu com a cidade , São Paulo 1970, S. 136. 163 Vgl. Comitê Internacional Olympico an Secretaria de Estado das Relações Exteriores (Embaixador Dr. José Carlos de Macedo Soares), 540,631 Jogos Olympicos 29.576, 15.8.1935, RjBHI; NETO-WACKERu. a., Brazil goes Olympic , S. 95-103. 280 280 Nation an die Olympische Bewegung angeschoben.164Prado Júnior hatte sich schon 1924 für die Teilnahme einer brasilianischen Delegation an den Olympischen Spielen eingesetzt, auch für die Teilnahme einer Fußballmannschaft. Als die brasilianische Regierung ihre finanzielle Unterstützung kurzfristig absagte, sprang Prado Júnior als privater Financier ein und machte die Reise einer kleinen Delegation möglich, allerdings ohne eine Fußballmannschaft.165 Im Januar 1925 hielt sich Prado Júnior mit seiner Familie in Paris auf. Dort nahm er unter anderem Kontakt zum Generalsekretär des französi- schen Fußballverbandes, Henri Delaunay, auf und verabredete mit ihm mehrere Spielbegegnungen gegen die französische Nationalmannschaft, den Klub Stade Français und Mannschaften aus Sète, Bordeaux, Nizza und Straßburg.166Wie O Estado de São Paulo berichtete war es nicht leicht, europäische Institutionen davon zu überzeugen, die Verantwortung für die Präsentation einer brasilianischen Mannschaft vor einem großen Publikum zu übernehmen und vor allem einer einfachen Gruppe, die eine isolierte Einrichtung repräsentiert. Nicht einmal nach dem Sieg der Uruguayer bei den Olympischen Spielen wäre diese Auf- gabe eine der einfachsten, denn nicht nur für die Europäer, sondern generell ist Südamerika eine Art nebulöse Geografie, in der sich die ein- zelnen Länder nicht sehr gut unterscheiden lassen. Vor allem in diesem Fall, wo es sich um eine Gruppe handelt, die keine nationale Einrichtung repräsentiert, sondern eine Mannschaft aus einer dort wenig bekannten Provinz. 167 164 Vgl. N ETO -W ACKER u. a., Brazil goes Olympic , S. 81-84; Raul do Rio Branco an Antônio Prado Júnior, 20.3.1925; Antônio Prado Júnior an Raul do Rio Branco, 23.3.1925, in: Album »Excursão à Europa, Vol. II, 1925«, CAP. 165 Vgl. N ETO -W ACKER u. a., Brazil goes Olympic , S. 115-118. 166 Vgl. Paul Albanel an Henri Delaunay, 12.1.1925; Stade Français an Antônio Prado Júnior, 14.1.1925; Stade Français an Antônio Prado Júnior, 16.1.1925; Henri Delaunay (FFFA) an Antônio Prado Júnior, 27.1.1925; Henri Delaunay (FFFA) an Antônio Prado Júnior, 6.2.1925; Henri Delaunay (FFFA) an Antônio Prado Júnior, 7.2.1925; Henri Delaunay (FFFA) an Antônio Prado Júnior, 11.2.1925; Henri Delaunay (FFFA) an Antônio Prado Júnior, 25.2.1925, alle in: Album »Excursão à Europa, Vol. II, 1925«, CAP. Schon 1923 hatte Prado eine Reise nach Europa unternommen, in deren Verlauf er besonders die Entwicklung des Sports in Europa beobachtete, das geht aus einem Interview hervor: »Uma importante entrevista. Opiniões do sr. Prado Júnior sobre o esporte europeu e nacional«, OESP , 21.8.1923, in: Album 1923, Vol. II, S. 191-205, CAP. 167 »O C. A. Paulistano na Europa«, OESP , 21.1.1925, in: Album »1925, Vol. I«, S. 1, CAP. 281 Nation 281 Weil die Reise dazu diene, Brasilien territorial bekannt zu machen, so argumentierte der Journalist weiter, sei sie von einer Bedeutung, die über ein reines Fußballspiel hinausgehe und bedürfe einer besonderen Vorbe- reitung: Es ist notwendig, dass diese Exkursion nicht nur wie ein reiner Sportausflug angegangen wird, dessen technischen Resultate oder Form zweitrangig sind. – Wie gut der Paulistano auch vorbereitet sein mag, er trifft auf Einrichtungen, die eine viel höhere Disziplin und die auf dem anderen Kontinent eine größere Tradition besitzen. – Außerdem nehmen unsere Repräsentanten nach Europa nicht nur ihren Namen mit, sondern das Gewicht des sportlichen Prestiges Brasiliens. – Das gibt der Reise einen patriotischen Charakter […].168 Seiner Argumentation zufolge hatten die Organisatoren der Reise Interesse daran, spezifische brasilianische Charakteristika herauszustellen, die das Land unterscheidbar machten von anderen südamerikanischen Nationen, vor allem von dem Olympiasieger Uruguay. Womit hätten diese besser herausgestellt werden können als durch Fußball, einem Sport, der inzwi- schen unterscheidbare Stilbildungen zuließ und der zugleich durch seine Universalität so viele Menschen begeisterte, dass über ihn ein großes Publi- kum überzeugt werden konnte und nicht nur wenige Diplomaten, wie bei traditionellen diplomatischen Kontakten?169Die Reise sahen Journalisten entsprechend als beste Umsetzung einer »diplomacia de chute« (»Kick- Diplomatie«).170Auch der schon einmal zitierte Schriftsteller Henrique Pongetti war von dieser Kraft des Fußballs überzeugt und empfahl ihn Anfang 1925 entsprechend als modernes internationales Verständigungs- mittel: Bisher haben unsere Regierungen dem Sport nicht viel Bedeutung zuge- sprochen. Sie duldeten, dass bei den jüngsten Olympischen Spielen eine Horde unsere Schmerzen erhöhte, die für den letzten Platz vorbestimmt war. […] Wir – die von Rhetorik kranken Latinos – haben bislang die moderne Bedeutung der körperlichen Kraft noch nicht begriffen. […] Unsere Staatsmänner sollten die kurze Hose, das Wollhemd anziehen 168 Ebd. 169 »Araken e Souza Dantas. Algumas Ligeiras Reflexões sobre Futebol e Diploma- cia«, A Gazeta , 17.3.1925; »E'cos da victoria do Paulistano«, A Gazeta , 20.3.1925; Cordovil, Ismael, »Diplomacia do chute«, A Gazeta , 21.3.1925. 170 Cordovil, Ismael, »Diplomacia do chute«, A Gazeta , 21.3.1925. 282 282 Nation und dem Ball den Anstoß geben, der noch nicht voll aufgepumpt zu sein scheint […].171 Dabei bezogen sich die Vorzüge des Sports als Propagandamittel nicht nur auf diplomatische Beziehungen, sondern auch auf die Aushandlung inter- nationaler wirtschaftlicher Verträge und generell auf die Kontakte zwi- schen den Staaten. Es herrschte in der dominierenden Sportpresse die Mei- nung, ein Fußballspieler könne »[m]it einem Tritt oder einem Schuss […] in der heutigen Zeit mehr umsetzen als eines dieser Ministerien in einem Arbeitsjahr.«172 Prado Júnior sah seine Aufgabe vor allem darin, Vertrauen zu den fran- zösischen Vertretern aufzubauen, sie von der sportlichen Qualität des Paulistano zu überzeugen, obwohl der Besuch sich für die Franzosen finan- ziell nicht lohnen würde, denn es waren keine hohen Einnahmen durch die Spiele zu erwarten. Auf brasilianischer Seite befürchtete man, die Franzo- sen könnten den Klub nicht für geeignet halten, weder in sportlicher noch sozial-repräsentativer Hinsicht. Zugleich äußerte Prado Júnior aber auch selbstbewusst, in Brasilien habe sich seit der Ankunft des Fußballs aus Europa ein eigener Stil entwickelt, es gelte nun, diesen in Europa vorzufüh- ren. Entsprechend ausgedehnt war die Reise ursprünglich auch angelegt, so wollte Prado Júnior den Klub in Deutschland, Großbritannien, Spanien und Portugal vorführen – entsprechende Verhandlungen fanden statt.173 Prado Júnior beschrieb den spezifischen Stil in einem Interview für die französische Presse. Die brasilianischen Spieler, so wird er im Interview wiedergegeben, seien viel schneller als die Uruguayer. Er sagte uns auch, dass die Brasilianer, deren Fähigkeiten denen der französischen Spieler ähnelten, auf eine Art 171 Pongetti, Henrique, »Futebol. O Governo e o Esporte. As virtudes do futebol para uso externo - Os Paulistas são os eternos offuscadores de nosso brilho internacional«, Nachdruck aus: Diario da Bahia , in: A Gazeta , 9.1.1925. 172 Cordovil, Ismael, »Diplomacia do chute«, A Gazeta , 21.3.1925. 173 Vgl. »O C. A. Paulistano na Europa«, OESP , 21.1.1925, in: Album »1925, Vol. I«, S. 1, CAP; »O Paulistano em Paris«, A Gazeta , 26.3.1925; Correa, Virieto, »A Europa curvada ante o Brasil… Da violencia britannica à agilidade brasileira - Como o dr. Antônio Prado Júnior encara o successo do Paulistano na Europa«, Diário da Noite , 24.11.1925, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. Zu den Finanzen: Henri Delaunay ( Fédération Française de Football Association ) an Antônio Prado Júnior, 27.1.1925, in: Album »Excursão à Europa, Vol. II, 1925«, CAP; Hanot, Gabriel, »Les Footballeurs Sud-Américains en France«, L'Intransigeant , 6.2.1925; »Les Brasiliens de São Paulo joueront à Paris contre l'équipe de France«, Echo des Sports , 11.2.1925. 283 Nation 283 und Weise spielten, die unserer völlig entgegengesetzt sei und noch weiter entfernt von der englischen. Herr Prado bestand sehr darauf, uns zu sagen, dass seine Spieler außergewöhnliche Dribbler seien und dass man ihnen sogar vorwerfen könnte, es mit dem Dribbeln zu übertreiben. Die Brasilianer fürchten, auf unseren feuchten und schweren Plätzen verunsichert zu sein. Denn zu Hause sie sind es gewohnt, zwar auf Rasenplätzen, aber eben auf sehr trockenen Rasenplätzen zu spielen. 174 Prado Juniór beschrieb seine Fußballmannschaft zum einen mit großem Selbstbewusstsein, zum anderen drückte er gleichzeitig Unterlegenheits- gefühle aus. Entsprechend sahen die Mitglieder der Delegation die Reise als eine Mission, auf der sie nicht nur São Paulo, sondern ganz Brasilien vertreten und in Europa bekannt machen würden. Diese Rolle wurde dem Klub nicht nur von Paulistaner, sondern auch von Sportinstitutionen, Klubs und Ligen aus ganz Südamerika zugesprochen, wie Quellen zeigen.175 Dieses Selbstverständnis rührte auch daher, dass die Paulistaner Eliten – wie bereits ausführlich in Kapitel 3 dargestellt – seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine regional-nationale Identitätskonstruktion vorgenommen hatten, in der sie ganz Brasilien mit der Region São Paulo identifizierten und andere Regionen als rückständig abwerteten und degradierten – São Paulo war demzufolge Brasilien.176Widerlegt werden sollten Bilder eines »anderen« Brasilien, die in Europa noch vorherrschten, also eines barbari- schen, unzivilisierten und durch Plantagenwirtschaft und Kolonialherr- schaft bestimmten Landes. Die Paulistas wollten eine Gegenidentität ent- werfen. Die Befürchtung, dies könne nicht gelingen, wurde während der Reise immer wieder von der heimischen Presse in São Paulo und den Rei- senden selbst geäußert. Darüber hinaus verstanden die Paulistas ihre Reise als ein nationales Projekt, das auch nach innen kohäsiv wirken sollte. So erwarteten sie von 174 »Football. Les bresiliens a Paris«, Auto , 4.3.1925, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. 175 Das geht aus unzähligen Zuschriften, wie Glückwünsche, von Klubs hervor, so des uruguayischen Vereins Peñarol, die in einem der Alben zur Exkursion gesammelt sind: Album »Excursão à Europa«, Vol. I, 1925, CAP. 176 Vgl. Antônio Prado Júnior an Confederación Sudamericana de Football, Paris, 4.4.1925; »Todo un acontecimiento para el football brasileno constituyo la partida del C. A. Paulistano para Europa«, El Imparcial, Pagina de los Deportes , Montevideo, 13.3.1925, S. 6. Beides in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP; Zur Konstruktion einer regionalen Paulistaner Identität gegenüber den anderen Bundesstaa- ten über den Fußball, insbesondere Rio de Janeiro: Vgl. Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit. 284 284 Nation den Bewohnern der anderen Bundesstaaten Identifikation mit dem patrioti- schen Unternehmen. Das zeigt die Reaktion der Delegation auf die Verab- schiedung durch die Bevölkerung in den verschiedenen Häfen Brasiliens, in denen sie mit ihrem Schiff Zeelandia anlegte. Vor der Atlantiküberque- rung gab es mehrere Zwischenstopps in brasilianischen Küstenstädten, so in Rio de Janeiro, Bahia und Recife. In Rio de Janeiro und Bahia begrüßte die Reisenden noch eine begeisterte Menschenmenge, in Recife jedoch, berichtete ein Mitglied der Reisedelegation in einem Eintrag in sein Reise- tagebuch, zeigte sich am Kai eine kompakte Menge und anfangs nahmen wir an, diese sei unseretwegen gekommen. Doch nichts dergleichen. Es war, als seien wir keine Brasilianer, als würden wir nicht das Heimatland verlassen, um es im Ausland zu repräsentieren. Wir wussten schon von der Unhöflichkeit in Bezug auf die athletische Delegation von 1924 [die zu den Olympi- schen Spielen in Paris reiste, d. Verf.], die nicht aufgesucht wurde, der nicht einmal ein Zeichen von Interesse oder Sympathie entgegenge- bracht wurde. Wir gingen jedoch davon aus, es habe sich um fehlende Informationen gehandelt, da die Athletendelegation mit absichtsvoller Diskretion nach Europa reiste. 177 Der Reisetagebuchschreiber war empört, dass »man dem Paulistano, dessen Abreise aus São Paulo nach Europa seit Monaten angekündigt und kommentiert wird, mit so einer Vergesslichkeit begegnen würde, die in diesem Fall ein unaussprechliches Fehlen von Höflichkeit, ja von Patrio- tismus bedeutet.«178Die lokale Bevölkerung interessierte sich stärker für eine parallel stattfindende Flugschau als für die Reise eines Paulistaner Fußballklubs nach Europa.179 Das Beispiel demonstriert die Begrenztheit der Globalität internationaler Sportereignisse, hier war ein internationales Fußballtreffen und damit ein sich herausbildender transnationaler Sportraum nicht selbstverständlich Teil der Raumvorstellung, ja der »mental map« der Bewohner der Stadt Recife.180Zugleich konstruierten hier Fußballer aus São Paulo räumliche 177 »Atravessando o Atlantico, E'cos da viagem a bordo do Zeelandia – Em Pernam- buco – Fernando de Noronha – Em pleno mar…«, A Gazeta , 23.3.1925. 178 Ebd. 179 Vgl. ebd. 180 Vgl. zur Verwendung des Begriffs der »mental map« in der Geschichtswissen- schaft den Literaturbericht von Frithjof Benjamin Schenk: SCHENK, Fritjhof Benjamin, Mental Maps. Die Konstruktion von geografischen Räumen in Europa seit der Aufklä- rung, in: Geschichte und Gesellschaft 28, 2002, Nr. 3, S. 493-514. Vgl. auch: 285 Nation 285 Hierarchien, in denen sie die Bevölkerung aus dem Nordosten als »unpatriotisch« markierten, weil sie den Machtanspruch und den daraus resultierenden Vertretungsanspruch São Paulos anscheinend nicht akzep- tierten, ja, nicht einmal wahrnahmen. Sie als »unpatriotisch« zu bezeichnen war gleichbedeutend mit »anders« und sogar minderwertig. Dies wird an anderer Stelle in dem Reisetagebuchbericht deutlich, in dem der Autor sich bei der Abreise herablassend und in Stereotypen über die Region und ihre Bewohner äußerte. Die Paulistaner Reisedelegation habe ausschließlich halsabschneiderische Obstverkäufer im Hafen angetroffen, die die Paulistas beschwindeln wollten. Bestätigt sah der Autor angesichts der Begegnung ein altes Sprichwort, »dass in Pernambuco nur die Pernambucaner bleiben, die weder Energie noch Ideen haben, denn die Besten sind immer außer- halb«; er merkte auch an, nur den Pernambucanern hätte es einfallen kön- nen, auf der paradiesischen Insel Fernando de Noronha, die vor dem Staat Pernambuco liegt, ein Gefängnis zu bauen.181Recife im Bundesstaat Pernambuco gehörte zu einer Region, die heute geografisch zum Nordosten gerechnet wird – eine regionale Einheit, die Eliten anderer Regionen Brasi- liens und auch Ausländer in Reiseberichten geohistorisch als unterentwi- ckelt, arm, auch als politisch eher despotisch und korrupt diskursiv kon- struierten.182 Diese Episode und die gesamte Selbstwahrnehmung der Paulistas im Zuge der Reise 1925 untermauert die These, dass Repräsentation über den Fußball Machtansprüche abbildete, sie zementierte und dabei half, räumli- che Hierarchien diskursiv weiter festzuschreiben, die freilich in anderen Bereichen schon vorgenommen worden waren. Fußball als globalisiertes Spiel war nicht frei von asymmetrischen Machtbeziehungen und er über- wand sie auch nicht, vielmehr wurde er in ihre Aushandlung einbezogen und für sie genutzt. O STERHAMMEL , Die Verwandlung der Welt , S. 143-154; D ERS , Die Wiederkehr des Raumes: Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie, in: NPL 43, 1998, Nr. 3, S. 374-375. 181 Vgl. »Atravessando o Atlantico«. 182 Vgl. ebd.; B ARTELT , Dawid Danilo, Kosten der Modernisierung. Der Sertão des brasilianischen Nordostens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: zwischen Homogenisierung und Diskurs, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 38, 2001, S. 327-351; WEINSTEIN, Racializing Regional Difference, S. 245 ff. 286 286 Nation 4.2.1. Identitäre Aushandlungen im Kontext des transnationalen Fußballaustausches der 1920er-Jahre: »Rasse«, Ethnizität und Latinité Wie aber konnte die Darstellung eines modernen, fortschrittlichen, »zivili- sierten« und »weißen« Brasiliens über den Fußball in Europa gelingen? Schließlich waren einige der berühmtesten Spieler des brasilianischen Fußballs Afro-Brasilianer. Einer von ihnen, Arthur Friedenreich, war bei der Reise dabei. Die Haltung zu dieser Frage war äußerst widersprüchlich und immer abhängig von der Außenperspektive, also den Äußerungen und Zuweisungen durch ausländische Beobachter, hier vor allem die Franzosen. Zum einen drückte sich in brasilianischen Pressekommentaren ein Selbstbewusstsein aus, den Europäern zu zeigen, Fußball werde nicht ausschließlich von »weißen« Männern ausgeübt, zum anderen zeigten sich die Paulistas gekränkt, wenn sie die Beschreibungen des Teams auf die ethnische Zusammensetzung »reduziert« sahen. Insgesamt war aber die ethnische Identität eine wichtige Komponente des Gesamtbildes, das die Paulistas vermittelten, und die Reaktionen hierauf sehr sensibel. Noch im Januar 1925 hatte die brasilianische Presse die Reisen südamerikanischer Fußballklubs nach Europa als Durchbrechung der im Fußball existierenden Dominanz »weißer« Männer gelobt.183Das uruguayi- sche Team habe 1924 die Vorstellung vom Fußball als einem von »Wei- ßen« dominierten Sport abgelöst, vor allem durch die Afro-Uruguayer José Leandro Andrade und Ángel Romano, die in Europa zu international gefeierten Fußballstars wurden.184Auch in Brasilien waren afro-amerika- nische Spieler schon seit 1919, als das Campeonato Sul-Americano in Rio de Janeiro stattfand, internationale Berühmtheiten.185Mit ihnen identifizier- ten sich vor allen Dingen Menschen aus unterprivilegierten sozialen 183 Pongetti, Henrique, »Futebol. O Governo e o Esporte. As virtudes do futebol para uso externo - Os Paulistas são os eternos offuscadores de nosso brilho internacional«, Nachdruck aus Diario da Bahia , A Gazeta , 9.1.1925. 184 Unterdessen wurde zum Beispiel in der argentinischen Sportpresse in dieser Zeit, in Lateinamerikas größter Sportzeitung »El Gráfico«, daran gezweifelt, ob Andrade tatsächlich auf Grundlage seines fußballerischen Talentes zu dieser Berühmtheit gewor- den sei und nicht eben gerade wegen seiner Hautfarbe und den dadurch ausgelösten Exotismus, Vgl. »El olimpico Leandro Andrade, de maravilla negra a profesor de fútbol«, El Gráfico , Nr. 499, 26.1.1929, FFC. 185 Vgl. ein Interview mit dem Spieler Ángel Romano: »Commentario geral sobre o Grande Encontro Chilenos Brasileiros«, A Gazeta , 12.5.1919. Romano wurde schon 1917 in Rio de Janeiro und São Paulo bei seinem Auftritt mit dem uruguayischen Klub Dublin F.C. berühmt: Vgl. »Gazeta dos Sports. Football. Os combinados brasileiro e uruguay empataram por 0x0. Ferreira e Romano acclamados pela multidão«, Gazeta de Notícias , 8.1.1917. 287 Nation 287 Schichten und afrikanischer Herkunft grenzüberschreitend und damit trans- national, so 1919 zum Beispiel mit dem afro-uruguayischen Spieler Gradín.186 Wie sensibel dieses Thema ethnischer Repräsentation aufgefasst und behandelt wurde, zeigt eine Begebenheit einige Jahre später. Andrade sollte 1925 erneut mit dem uruguayischen Klub Nacional nach Europa reisen. Die argentinische Presse meldete, der uruguayische Klub Nacional habe wegen seiner Hautfarbe davon absehen wollen, Andrade für die Reise aufzu- stellen. Nur durch Intervention des die Reise finanzierenden Unternehmers San Martín sei er schließlich doch noch aufgestellt worden, da Andrade ein Publikumsmagnet sei. A Gazeta bemerkte kritisch, dass Andrade […] nicht mit seinem Klub als Berühmtheit [fährt], sondern als Lockvogel für schmutzige Gewinne der Unternehmer, welche einfach nur das finanzielle Ergebnis der sportlichen Reise sehen und vergessen, wie der Sport eigentlich betrieben werden sollte: Um seiner selbst wil- len.187 Weiter urteilte die Zeitung, das »Rassenvorurteil hat im fraglichen Fall weiterhin seinen wichtigen Anteil. Das Beispiel kommt jedoch aus dem Norden.«188Als Beispiel aus dem Norden führte sie die USA an, dort existiere ein falsches, doppelbödiges Demokratieverständnis, in Wahrheit herrschten dort kolonialzeitliche Machtbeziehungen zwischen den »Rassen«, wie sie in Brasilien längst überwunden seien. Gerade im brasili- anischen Sport drücke sich dies aus, das sportliche Gleichheitsprinzip werde hier nicht aufgebrochen durch Ungleichheitsbeziehungen nach »rassischen« Unterschieden und es stehe auch über kommerziellen Profit- interessen: »Indem sie den Sport kaum für das monetäre Interesse betrei- ben, vernachlässigen sie den Idealismus, der in ihm existiert wie in allen politischen, sozialen Unternehmungen, ein Idealismus, der glücklicher- weise in Brasilien immer essenziell und zutiefst human war.«189Die uruguayischen Sportambitionen setzten die Brasilianer gleich mit einer nordamerikanischen Profitgier. Diese positive Abgrenzung eines humaneren Wertesystems gegenüber dem utilitaristischen Nordamerika oder der gesamten angelsächsischen 186 P EREIRA , Footballmania , S. 172. Vgl. auch Kapitel 2.3 und 2.4 der vorliegenden Arbeit. 187 »O Futebol e o Preconceito da Côr«, A Gazeta , 16.2.1925. 188 Ebd. 189 Ebd. 288 288 Nation Welt war eine verbreitete Sichtweise in intellektuellen konservativen Krei- sen Brasiliens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.190Hier konstruierte die brasilianische Sportpresse einen Rassismus nach Nützlichkeitserwägungen, in dem sie den Nordamerikanern vorwarf, afro-amerikanische Sportler als Gewinnbringer aufzustellen. Auch zeigt sich wieder, wie stark Sport zur Vermittlung und Differenzierung von Werten genutzt wurde, die sich schließlich in Sportlern materialisieren sollten. Dieser Vergleich ging ver- mutlich weniger auf afro-amerikanische Fußballspieler als auf den Umgang mit berühmten Sportlern anderer Sportarten in den USA zurück, denn US- amerikanischer Fußball war in der Welt kaum präsent und auch kein multi-ethnischer Sport.191Profi-Sportler, wie der Baseball-Spieler Babe Ruth und der Zehn- und Fünfkämpfer, Baseball- und American Football- Spieler Jim Thorpe, die in Brasilien in den 1920er-Jahren schon bekannt geworden waren, führte die brasilianische Presse an anderer Stelle als Exempel für einen US-amerikanischen sportlichen Utilitarismus an.192Mit diesem Vergleich grenzten sich die Brasilianer positiv als »rassisch ge- mischtes« Land von Ländern ab, in denen noch ein, hier als rückständig dargestelltes, preconceito de côr die Machtbeziehungen zwischen den »Rassen« dominiere und die nicht die aus Sicht der Brasilianer »positiven« Wirkungen des embranquecimento kannten. Andrade fungierte als Aushängeschild eines »Rassenschranken« überwindenden internationalen Fußballs südamerikanischer Spielart, als dessen Avantgarde sich die Brasi- lianer hier selbst definierten. Die Selbstdarstellung als »rassisch gemischtes« Land ging trotzdem ein- her mit im Kontext des Olympiaauftritts der Uruguayer und der Reise der Paulistas von 1925 immer wieder auftauchenden »rassisch«-kulturellen Zuweisungen und Darstellungen afro-brasilianischer und afro-amerikani- scher Spieler. José Leandro Andrade zum Beispiel stellte der Journalist 190 Vgl. analog zur Wahrnehmung US-amerikanischer Profi-Sportler in Lateiname- rika, hier in Chile, als Vertreter eines utilitaristischen Yankee-Lebensstils: RINKE, Stefan, Begegnungen mit dem Yankee: Nordamerikanisierung und soziokultureller Wandel in Chile (1898-1990) , Köln u. a. 2004, S. 188-195. Für Perzeptionen der »Yankee«-Kultur in Lateinamerika allgemein: DERS., Grenzwahrnehmungen – Grenz- überschreitungen: Selbst- und Fremdbilder in der Geschichte der Beziehungen zwischen den Amerikas, in: Marianne BRAIG(Hg.), Grenzen der MachtMacht der Grenzen: Lateinamerika im globalen Kontext , Frankfurt am Main 2005, S. 207-238, hier 220-224; Für den Fall Brasilien: Vgl. OLIVEIRA, A questão nacional , S. 105-109. 191 Vgl. zur Exzeptionalität der Entwicklung des Fußballs in den USA im globalen Vergleich: Vgl. MARKOVITSu.a, Offside . 192 »Sports. E preciso ter habilidade para se tirar proveito financeiro dos sports«, Gazeta de Noticias , 3.12.1925. 289 Nation 289 Thomaz Mazzoni noch im Sportalmanach von 1928 als »das schwarze Wunder des Olympischen Turniers von Paris« in einer phänotypisch überzeichnenden Karikatur als »Wundermenschen« dar, der mit sechs Beinen spielte (Bild 13). Bild 13: Darstellung des uruguayischen Fußballspielers José Leandro Andrade als Wundermensch im Sportalmanach von Thomaz Mazzoni von 1928. Quelle: »Andrade. A maravilha negra do torneio olympico de Paris«, in: Mazzoni, Almanaque Esportivo, S. 37. 193 Das war eine sich in den 1920er-Jahren wiederholende rassistische Darstel- lungsform »schwarzer« Sportler, die als Besitzer übernatürlicher und animalischer Kräfte, ja, als nicht »der Norm« entsprechend überzeichnet wurden. Derlei Analogien tauchten auch im Umfeld der Reise von 1925 und vor allem nach den fußballerischen Erfolgen des afro-brasilianischen Spielers Arthur Friedenreich immer wieder auf.194Die französische Presse ernannte Friedenreich zum »König des Fußballs«. Die Abbildung seines Fußes in den Zeitungen und der wiederholte Verweis auf besondere kör- perliche Merkmale, die in Verbindung zu einer angeblich biologisch-kultu- rellen Disposition für sportliche Höchstleistungen gebracht wurden, sind in 193 »Andrade, das schwarze Wunder des olympischen Turniers von Paris« 194 Vgl. zu den Zuschreibungen: C ARRINGTON , Race, Sport and Politics , S. 76-82. Vgl. auch die ausführlichere Analyse zu dem Verhältnis von »Rasse« und Sport in Kapitel 2 der vorliegenden Arbeit. 290 290 Nation demselben Kontext zu sehen. Bereitwillig nahm die brasilianische Presse die Bezeichnung Friedenreichs als »Tigre« (Tiger) des Fußballs auf, in den darauffolgenden Jahren erinnerte sie mit diesem Titel immer wieder an ihn.195 Die Wahrnehmung auf französischer Seite war indes so: Französische Journalisten berichteten begeistert von dem Spiel der brasilianischen Mannschaft im März 1925 und verglichen sie in nahezu allen Artikeln mit Uruguay während der Olympischen Spiele 1924 und mit dem ebenfalls gerade durch Europa tourenden Klub Nacional. Maurice Pfefferkorn, Journalist der französischen Sportzeitung »Echo des Sports«, wies Prado Júnior auf eine besondere Erwartungshaltung der Franzosen hin, da der Klub nicht nur gegen Frankreich, sondern gegen das Renommee der Uru- guayer spielen würde. Auch die französische Presse betonte einen eigenen brasilianischen Stil: »[D]ie Brasilianer sind zarter, gewandter und sie halten sich weniger mit dem Ball auf als die Uruguayer. Ihre durchschnittliche Statur ist erhabener als die ihrer südlichen Nachbarn, obwohl sie magerer und rassischer sind.«196Der Autor verglich das Spiel der Brasilianer mit einem Tanz, die Brasilianer spielten nicht geometrisch und mechanisch, sehr gegensätzlich zum britischen Stil.197 Der renommierte Paulistaner Sportjournalist Américo Netto begleitete die Reise und fasste die Unterschiede zwischen Brasilianern und Franzosen im Fußball in einem umfassenden Bericht zusammen. Während er am An- fang dieser Bewertung negativ über die Ausstattung französischer Fußball- klubs und die Auswahlkriterien der Spieler berichtete, kam er später zu dem Schluss, die Franzosen erlebten keinen Fortschritt im Fußball, denn sie »ahmen zu sehr die Engländer nach in dem, was ihr Spiel an Offensicht- lichstem und Verständlichstem zu bieten hat, ohne dabei aber die realen Ziele und Prozesse zu durchschauen, die sie leiten.« Erst mit den uruguay- ischen und brasilianischen Besuchen in Frankreich bemerkten sie, dass »es ein anderes, dem britischen sogar gegensätzliches Spiel geben kann und das mit Erfolg.«198Insbesondere durch die Dominanz des Rugby in Frankreich würden die Franzosen zu brutal vorgehen, auch behauptete er, sie hätten mehrmals die internationalen Regelvorgaben bei der Bemessung der Spiel- 195 Die Paulistas veranlasste dies dazu, ihm nach der Rückreise des Teams eine Statue in Form eines Tigers zu überreichen. 196 »Os jornaes de Paris e os brasileiros«, A Gazeta , 2.4.1925. 197 Vgl. ebd. 198 »O Futeból Francez e o Brazileiro. As differenças mais accentuadas«, Album Homenagem ao glorioso Club-Athletico Paulistano , in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. 291 Nation 291 felder falsch ausgelegt. Auch körperlich stünden die französischen Spieler den brasilianischen nach und das sei auch auf ethnische Gründe zurückzuführen: Ein bisschen wegen der Auswahl und ein wenig auch wegen der Frage der Rasse, sind die französischen Spieler weniger schnell als die brasili- anischen. Außer dass sie nicht so schnell sind, fehlt ihnen auch noch die Leichtigkeit zu ›improvisieren‹, in Momenten überraschende Kombina- tionen zu arrangieren.199 All diese Aussagen schreiben einen brasilianischen Fußballstil fest, der sich auf die ethnische Zusammensetzung des Klubs und der brasilianischen Bevölkerung insgesamt zurückführen ließe. Trotzdem war den Paulistas letztlich daran gelegen, den Eindruck eines »weißen« Brasiliens zu vermitteln – die Berichte der Franzosen über die multiethnische Zusammensetzung der Mannschaft bewerteten sie negativ; auch die Aufregung der heimischen Presse über einen im Fußball geäußer- ten Rassismus in Uruguay trat hier völlig in den Hintergrund. Die französi- sche Presse berichtete, das Paulistaner Team habe in seinen Reihen Mulatten und Mestizen. Es gibt eine Mischung der selt- samsten Rassen: So ist der Mittelstürmer Arthur Fridenreich [sic!] Sohn eines Deutschen und einer Negerin! Er ist übrigens der beste Spieler der Mannschaft. Lopés ist ein indianischer Mestize. Man hat ihm den Spitz- namen Guarang gegeben, was der Name eines autochthonen Stammes ist.200 Die Darstellung eines multiethnischen Brasiliens und eines Fußballteams bestehend aus »mulatos e mestiços«, dessen Spieler Äthiopiern ähnelten, wie die französische Presse an anderer Stelle berichtete, war nicht er- wünscht. Das zeigen die empörten Repliken auf Berichte, die den brasilia- nischen Stil als übernatürlich beschrieben und in denen die französische Presse den Sieg als Resultat der Anwendung von ein wenig »feitiçaria« (»Zauberei«) darstellte.201Eine Zeitung fragte, ob 199 Ebd. 200 G. De Lafreté, »L'équipe brésilienne rencontrera demain à Buffalo l'équipe francaise«, 14.3.1925, Echo des Paris , in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. 201 Cleo de Galsán, »Os jornaes de Paris e os brasileiros. Um termo de Comparação - Porque os Brasileiros estão em Paris - Mulatos e Mestiços - Canções nostálgicas - Outras Notas«, A Gazeta , 2.4.1925; »Abalisões opiniadas (Dos criticos parisienses)«, D. Quixote , 13.5.1925, in: Album 1925, Vol I, CAP. 292 292 Nation die Franzosen, nachdem sie uns als Mestizen einschätzen, auch glauben machen wollen, unsere Spieler seien ›Götzenpriester?…‹ Oder ist es ein- fach nur die fehlende Gewohnheit der sportlichen und sozialen Höflich- keit, die sich hier bei den erz-zivilisierten Völkern aus der Heimat von Landrú bemerkbar macht? 202 Aus dieser Replik sprach die Einschätzung einer eigenen »zivilisatori- schen« Überlegenheit, da die Brasilianer den Fußball besser beherrschten und auch Werte wie Höflichkeit und Fairness besaßen. Aus diesem Grund folgte hier auch die Erinnerung an den Pariser Massenmörder Landrú aus der Zeit des Ersten Weltkrieges.203Auch zeigt sich erneut der Wunsch der Paulistas, aufzuschließen zu einer »transnationalen Sportgemeinschaft« als einer modernen Wertegemeinschaft und eine Angst, aus diesem erlesenen Kreis ausgegrenzt zu werden. Zugleich stellt aber die Reise der Paulistas einen Versuch dar, diesen Kreis zu erweitern und seine Grenzen aufzulo- ckern mit Körperbildern und Spielstilen, die als anders und neu wahrge- nommen wurden. Auf den ersten Blick erscheint es widersprüchlich, dass die Paulistas zum einen als »weiß« erscheinen wollten, wenn sie zum anderen über den Fußballstil auf eine eigene kulturelle Identität rekurrierten, die im Grunde Bezug nahm auf multiethnische Einflüsse. Bei einer genaueren Analyse ist jedoch erkennbar, dass die Paulistas Multiethnizität in den Vordergrund stellten, wenn ihre fußballerische Stärke und Überlegenheit dargestellt werden sollte. Äußerte sich andersherum die französische Presse abfällig und rassistisch über die »Rassenmischung« in der Paulistaner Mannschaft, dann reagierten die Paulistas sensibel und empfanden die Darstellung als Beleidigung. Sie versuchten dann sogar mit einer ähnlichen Argumenta- tionslogik den »Zivilisationsstandard« der Franzosen in Frage zu stellen. Das Gefühl einer kulturellen Überlegenheit stellte sich vor allem erst ein, als Erfolge eintraten, die die Franzosen anerkannten. 202 »Abalisões opiniadas (Dos criticos parisienses)«, D. Quixote , 13.5.1925. 203 Der Autor dieses Artikels bezog sich auf Landrú, einen Massenmörder, der zur Zeit des Ersten Weltkriegs in Paris sein Unwesen trieb. Auf diese Weise hinterfragte er den Zivilisationsstand der Franzosen und erwiderte die Kritik mit einem ähnlichen Argument. 293 Nation 293 Bild 14: Multiethnizität auf beiden Seiten des Atlantiks: Die brasilianische Presse zeigte sich belustigt, dass die Franzosen drei nordafrikanische Spieler einsetzte, um gegen die brasilianische Mannschaft anzutreten. Quelle: »Como na Grande Guerra. Para suntar a marcha triumphal do Paulistano na Europa, será preciso appellar para as colonias«, A Gazeta , 17.4.1925. 204 Hier setzte auch der Verweis der Paulistaner Sportpresse an, auch die fran- zösische Nationalmannschaft, die gegen Brasilien spielte, sei multiethnisch zusammengesetzt. Die Franzosen hatten im Spiel drei Algerier eingesetzt, einer von ihnen, Manzanerès, machte die französische Presse später als Sündenbock für die Niederlage aus.205Die Paulistaner Presse stichelte, die Franzosen müssten auf ihre Kolonien zurückgreifen, um gegen die starken Brasilianer anzutreten (Vgl. Bild 14).206 Die Formulierung nationaler brasilianischer Identität durch die Paulistas, die in Folge dieses Fußballkontaktes eintrat, wurde also immer noch inner- halb des von Europa vorgegebenen universalistischen Werterahmens von 204 »Wie im Weltkrieg. Um den Triumphmarsch des Paulistano in Europa aufzu- halten, wird es notwendig sein, die Kolonien anzurufen.« 205 Vgl. Pfefferkorn, Maurice, »Commentaire sur la guerre des goals«, Echo des Sports , 17.3.1925, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. Auch die brasilianische Sportpresse übernahm diese Darstellung und bezeichnete Manzanerès ausdrücklich als »Sündenbock« für die Niederlage des französischen Teams: »O ›Paulistano‹ no Estadio de Buffalo (Paris), em 15-3-1925 - 7 a 2«, São Paulo Sportivo, Edição Extra Illustrada , April 1925, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. 206 »Como na Grande Guerra«, A Gazeta , 17.4.1925. 294 294 Nation »Zivilisation« formuliert. Zugleich jedoch äußerten sich auch Zweifel an diesen Vorgaben und an dem Zivilisationsanspruch der Europäer. Dennoch wollten die Paulistas sich weiterhin an Europa über europäische Maßstäbe messen. In den letzten Jahren hat es erste, noch diffuse Ansätze zu einer Erfor- schung von anti-imperialistischen Gruppierungen von Lateinamerikanern im Paris der Zwischenkriegszeit gegeben, die sich hier im Exil zusammen- fanden und von hier aus auch nationale Identitätsentwürfe formulierten, die sie ethnisch-kulturell begründeten.207Auch Studien zur Reise von afro- brasilianischen Musikern, wie der Samba-Gruppe Oito Batutas , in den 1920er-Jahren, belegen die Bedeutung transnationaler Kontakte und Bezugnahmen für die Aushandlung »rassischer« und nationaler Identität.208 Es ist nicht erwiesen oder nachweisbar, dass die Mitglieder der Paulistaner Delegation zu diesen Gruppen in Verbindung standen und hier ein Aus- tausch stattfand oder dass dieser Personenkreis auf die Fußballerfolge der Brasilianer Bezug nahm.209Trotzdem lässt sich die Reise des Klub Paulistano hier einordnen. Der transatlantische Dialog, den brasilianische mit französischen Sportlern über Ethnizität, nationale Identität und kulturell spezifische Fußballstile führten, war ein bedeutender Beitrag für eine späte- re selbstbewusstere Abgrenzung brasilianischer Eliten von Europa. Der Fußball spielte hier eine herausragende Rolle, da er, mehr noch als Musik, populär war und sich mit ihm identitäre Vorstellungen breit vermitteln ließen. Der Autor Fradique Mendes beispielsweise schätzte in A Gazeta die Reise als »sehr viel effizienter als andere Propagandaformen« ein, gerade 207 Vgl. A RRIOLA , Arturo Taracena, Latin Americans in Paris in the 1920s: The Anti- Imperialist Struggle of the General Association of Latin American Students, 1925-1933, in: Ingrid Elizabeth FEY/ Karen RACINE(Hg.), Strange Pilgrimages: Exile, Travel, and National Identity in Latin America, 1800-1990s , Wilmington, Del. 2000, S. 131-146. 208 Vgl. S EIGEL , Uneven Encounters ; S HAW , Lisa, Afro-Brazilian Popular Culture in Paris in 1922: Transatlantic Dialogues and the Racialized Performance of Brazilian National Identity, in: Atlantic Studies: Literary, Cultural and Historical Perspectives 8, 2011, Nr. 4, S. 393-409. Ich danke Michael Goebel für den Hinweis auf Shaws Aufsatz. 209 In den Zeitungen in Paris wurde Notiz von einem Essen der Paulistaner Kolonie in Paris zu Ehren Prados genommen, zu dem der brasilianische Botschafter Souza Dantas eingeladen und an dem unter anderem Oswald de Andrade teilgenommen hatte, vgl. Ohne Titel, Excelsior , 9.3.1925, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. Oswald de Andrade war nur einer von mehreren brasilianischen Intellektuellen und Kulturschaffenden, die sich in den 1920er-Jahren in Paris aufhielten, das in dieser Zeit zu einem transnationalen Treffpunkt von Anhängern der brasilianischen Moderne- Bewegung geworden war: Vgl. SEIGEL, Uneven Encounters , S. 113. Siehe auch: FERREIRA, Antonio Celso, Um eldorado errante: São Paulo na ficção histórica de Oswald de Andrade , São Paulo 1996. 295 Nation 295 Arthur Friedenreich habe Brasilien besser vertreten als alle kulturellen Botschafter Brasiliens zuvor, als Santos Dumont, der Diplomat Ruy Barbosa, der Maxixe-Tänzer Duque und der Komponist Heitor Villa Lobos.210Ihm zufolge vermittelten populärkulturelle Phänomene – der Tanz und der Fußball – viel eher einen Eindruck von Brasilien als die Vor- führung geistiger oder technologischer Errungenschaften. Auch durch diese Aussagen wurde der Fußball als körperliche Aktivität als »typisch« brasilianisch verortet und nicht mehr in direkter Weise aus seiner europäi- schen Herkunft erklärt. Nicht nur wegen der multiethnischen Teilnahme afro-brasilianischer und nordafrikanischer Spieler wurden die Spiele in Europa zu Schauplätzen identitärer Aushandlungen. Schon vor den ersten Spielen in Frankreich, die die Europa-Tournee des Paulistano einleiteten, hatte es die Ankündigung in der französischen und brasilianischen Presse gegeben, der französische Fußballverband wolle eine »coupe des pays latins« organisieren, der Auswahlmannschaften Frankreichs, Italiens, Spaniens und der Länder Argentinien, Brasilien und Uruguay, aus denen sich jeweils ein Klub auf Tournee in Europa befand, zusammenbrachte. Dieser Pokalwettbewerb kam zwar letztlich nicht zustande, doch in diesem Zusammenhang äußerten sich die französische und die brasilianische Presse über das Identitätskon- zept der Latinité und daraus abzuleitenden Gemeinsamkeiten zwischen Franzosen und Brasilianern. So erhoffte sich der französische Journalist Maurice Pfefferkorn durch ihn eine Kenntnis des »Wert[es] des Fußballs aus Ländern lateinischen Blutes«.211Der Pokalwettbewerb sei zwar nicht von derselben hohen Bedeutung wie die Olympischen Spiele, allerdings fänden sich hier Länder zusammen, die einen ethnisch-kulturell gemeinsa- men Ursprung hätten. Die Organisation eines solchen Wettbewerbs und die Erkenntnis über die Existenz eines lateinischen Fußballstils zeige, so Pfefferkorn, dass die universellen Fußballregeln regionale und kulturelle Unterschiede keineswegs einebneten, also nicht automatisch eine unifor- 210 Mendes, Fradique, »De Santos Dumont a Friedenreich«, A Gazeta , 22.5.1925. Einige südamerikanische Fußballer blieben nach den Reisen in den 1920er-Jahren in Paris, um hier zum Beispiel Teil einer transnationalen Musikbewegung zu werden, die später Einfluss auf die Konstruktion nationaler Musikstile wie des Samba hatte: Vgl. LANFRANCHIu.a., Moving with the Ball , S. 1-6 und 69; SEIGEL, Uneven Encounters , S. 67-136. Heute ist Fußball unbestritten eine Möglichkeit, ethnische Identität transna- tional zu verhandeln, siehe beispielsweise: KUMMELS, Ingrid, Adíos soccer, here comes fútbol!: La transnacionalización de comunidades deportivas mexicanas en los Estados Unidos, in: Iberoamericana 7, 2007, Nr. 27, S. 101-116 211 Pfefferkorn, Maurice, »La Coupe de football des Pays latins«, Echo des Sports , 18.3.1925, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. 296 296 Nation mierende Wirkung hätten: »Es ist nicht logisch zu behaupten, dass der Fußball insoweit eine Disziplin ist, als dass er Personen gegensätzlichster Schattierungen dazu zwingt, sich an seine Regeln zu halten.« Hingegen, so Pfefferkorn, sei »[d]er Charakter der Völker […] derart betont, dass man nicht davon ausgehen kann, dass er der Art und Weise, in der dieser Sport ausgeübt wird, nicht eine besondere Prägung verleihe.« Vielmehr sei der lateinische Fußball selbst voller Nuancen.212 Pfefferkorn hielt die Entwicklung spezifischer Stile entlang kulturell- ethnischer und klimatischer Grenzen für möglich. Er schlug deshalb vor, die geplante »coupe des pays latins« dazu zu nutzen, Aufschluss über diese Stile zu gewinnen: Ein Wettkampf, der es uns möglich macht, seine großen Linien aufzu- zeigen im Vergleich zum britischen, skandinavischen oder mitteleuropäischen Fußball, verdient daher die Aufmerksamkeit der Sportler auf Grund seines philosophischen Charakters. Beim derzeitigen Organisationszustand des internationalen Fußballs ist es unmöglich, eine jährliche Weltmeisterschaft in diesem Sport zu haben. Die Olympischen Spiele gestatten uns nur alle vier Jahre, diesen Meister zu ermitteln. Und wir sehen keinen Weg, dies zu ändern, solange die Luftfahrt die Entfernungen nicht erheblich reduziert hat und zur allgemeinen Ge- wohnheit geworden sein wird.213 Ein Pokalwettbewerb der romanischen Völker könne zeigen, wie sich diese Stile voneinander unterscheiden. Pfefferkorn sah darin sogar eine philoso- phische Frage, da es um kulturell-ethnische Spezifitäten und Differenzie- rungen gehe, die zu dieser Zeit vorerst nur auf dem Level kleinerer Organisationseinheiten geprüft werden könnten mangels eines universalen internationalen Wettbewerbs, für den gerade französische Sportpolitiker schon eintraten, namentlich Jules Rimet und Henri Delaunay.214Diskussio- nen um die Existenz eines spezifisch lateinischen Spielstils hatte in Frank- reich schon der Sieg der Uruguayer bei den Olympischen Spielen 1924 ausgelöst, diese Diskussionen wurden in Brasilien reflektiert. So hatte Ende 1924 der ehemalige Trainer der französischen Nationalmannschaft, Lucien Gamblin, das uruguayische Spiel mit dem französischen verglichen und war zu dem Schluss gekommen, dass »die spezielle Methode, die nur den 212 Ebd. 213 Pfefferkorn, Maurice, »La Coupe de football des Pays latins«. 214 Zu den Vorhaben Rimets und Delaunays, einen universalen Wettbewerb einzurichten: Vgl. EISENBERGu.a. (Hg.), FIFA 1904-2004 . 297 Nation 297 lateinischen Rassen zu eigen ist, von zwei Ländern praktiziert wurde, die wenige Beziehungen mit diesen Rassen aufweisen. Ich möchte von der Schweiz und Holland sprechen.«215Während Gamblin also 1924 keine nach kulturell oder ethnischen Grenzen unterscheidbare Spielstile erkennen wollte, änderte sich diese Einschätzung durch das Kennenlernen auch des argentinischen und brasilianischen Fußballs. Beide Autoren bezogen Brasilien in ein französisches Konzept einer Latinité mit ein, begründet war dies 1924 noch damit, dass die Uruguayer »Nachkommen von Spaniern, Italienern und einigen Franzosen« seien. Im Falle des brasilianischen Teams jedoch, das die Presse zugleich als multiethnisch mit afro-brasilianischen und indigenen Spielern wahrnahm, lag die Einbeziehung in dieses Konzept vermutlich eher daran, dass sich die Brasilianer elegant kleideten, vorbildlich verhielten und auf dem Feld als »wohlerzogene Sportler und außerdem [als] perfekte ›gentlemen‹« galten.216Auf außerhalb der Spielfelder stattfindenden Treffen zwischen den Klubvertretern und brasilianischen und französischen diplomatischen Persönlichkeiten stellte man die jahrzehntelangen kulturpolitischen Bezie- hungen zwischen Brasilien und Frankreich in den Vordergrund und betonte die allgemeine Affinität der Brasilianer zu französischer Kultur und Spra- che.217 Die positive Konstruktion einer lateinischen Ethnizität, in die Südameri- kaner mit einbezogen werden konnten, hatte also einerseits mit ihrer Ein- wanderungsgeschichte zu tun, andererseits damit, dass sie Fußball spielten und so ein als europäische »Erfindung« geltendes Kulturgut in Perfektion ausübten.218Wie sehr Letzteres das Bild der Franzosen von Südamerika 215 Cleo de Galsan, »A supremacia do ataque. O pretenso Futebol latino… Jogamos a’escosseza«, A Gazeta , 23.12.1924. 216 »E’cos do Paulistano na Europa. Os esportistas brasileiros segundo um grande medico francez. De uma carta de Junqueira«, A Gazeta , 9.6.1925, S. 4. 217 »Après le triomphant Uruguay voici le prestigieux Brésil!«, Titel der Zeitung unbekannt, genaues Datum unbekannt; Mathey, Max, »Football. Le match France- Bresil«, Paris Soir , 14.3.1925. Beide in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. 218 Der Begriff der Latinité im europäisch-lateinamerikanischen Zusammenhang ist keineswegs neu und so scheint seine Verwendung in Verbindung mit dieser Reise auf den ersten Blick wenig überraschend. Die Konstruktion eines »lateinischen« Amerika südlich von und in Abgrenzung zu Nordamerika sowie insgesamt gegen eine angenommene globale »angelsächsische« Dominanz stammte aus außenpolitischen Konzepten unter Napoleon III. und wurde später auch in Südamerika selbst gegen eine Dominanz Nordamerikas im Falle der Intervention in Mexiko verwendet, wie der Historiker Frank Ibold darlegt. Während der Begriff jedoch in Südamerika weiterhin Auftrieb gehabt habe und positiv konnotiert gewesen sei, geschah in Frankreich nach 298 298 Nation beeinflussen konnte, zeigt auch eine Einschätzung des französischen Au- tors Maurice de Waleffe. Er betonte, der Sieg Brasiliens habe »unsere Konzeption von Südamerika verändert, wo faule Pflanzer, in einer von einer ›negresse‹ geschaukelten Hängematte träge im Schatten der Palmen liegen und rauchen.« Auch betonte er den Gegensatz der brasilianischen zu den nord- und mitteleuropäischen Spielern, indem er angenommene lateini- sche Eigenschaften kulturell und ethnisch essenzialisierte: Es reicht, den Kontrast einer Mannschaft aus Skandinavien oder Eng- lands zu evozieren, um zu fühlen, dass die Latinität kein Traum ist. […] Sie [die Paulistaner Spieler] sind Athleten, aber lateinische Athleten, also hitzköpfig. So dass die Spiele zwischen São Paulo und Rio unterbrochen werden müssen, derart ist die Leidenschaft, die Spieler und Zuschauer haben und die fast zu kleinen Bürgerkriegen führt. 219 Dabei fasste er Argentinien, Chile, Uruguay und Südbrasilien als eine Re- gion zusammen und grenzte sie von den restlichen Ländern und Regionen Lateinamerikas ab, darunter auch Nordbrasilien: Aber mit Uruguay, Argentinien und Chile ist der Wetteifer konstant. Diese drei Länder und der Süden Brasiliens bilden zusammen das, was man das kalte Amerika nennen kann, wo sich das Boxen und der Fuß- ball, männliche Sportarten, zu den Sportarten des heißen Amerikas ge- sellen, die der Tanz und die Liebe sind.220 Die Einordnung Südamerikas und Brasiliens in ein europäische und süd- amerikanische Länder umfassendes Konzept der Latinité zeigt, dass Fußballbegegnungen identitäre Differenzierungen und Konzepte hervorrie- fen, die sich nicht allein nach nationaler Zugehörigkeit richteten. Hier lagen sie in der Herstellung einer Gemeinsamkeit einer lateinischen Herkunft, mit der zugleich eine Abgrenzung gegen eine angelsächsische und mittelameri- 1870/71 das Gegenteil und Latinité sei mit Dekadenz und Schwäche in Verbindung gebracht und fortan nur noch kulturell, jedoch nicht mehr politisch verwendet worden. Die Assoziierung mit Europa und die Gleichsetzung über gemeinsame Werte sei aber weiterhin beibehalten worden: IBOLD, Frank, Die Erfindung Lateinamerikas: Die Idee der Latinité im Frankreich des 19. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf die Eigen- wahrnehmung des südlichen Amerika, in: Hans-Joachim KÖNIG/Stefan RINKE(Hg.), Transatlantische Perzeptionen. Lateinamerika – USA – Europa in Geschichte und Gegenwart , Stuttgart 1998, S. 77-98, hier 82-97. Siehe auch: MIGNOLO, Walter D., The Idea of Latin America , Oxford 2005. 219 Waleffe, Maurice de, »L'Amerique Chaude et Froide«, Paris-Midi , 18.3.1925, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. 220 Ebd. 299 Nation 299 kanische Ethnizität vorgenommen wurde. Das obige Zitat macht auch deutlich, wie stark sich Vorstellungen von identitärer Zugehörigkeit durch neue Formen des Austausches, wie hier des Fußballs, in einem transnatio- nalen Raum verändern, aber auch manifestieren konnten. Es spielt eine bedeutende Rolle, dass dies über den Fußball geschah, eine körperliche Praxis, die diese identitären Erfindungen und Konstruktionen erst materialisierte. Insofern erfüllte sich die Erwartung der Brasilianer, der Austausch über den Fußball und vor allem seine Repräsentation wirke besser als zum Beispiel traditionelle diplomatische Beziehungen oder die Reisen Einzelner. Fußball wurde hier als Instrument zur »Zivilisierung« vorgestellt, durch das die Paulistas ihre koloniale Rückständigkeit über- wunden und sich modernisiert hätten. Darüber hinaus zollte die Abgrenzung eines lateinischen Fußballraumes bzw. lateinischer Fußballnationen auch den sportpolitischen Entwicklungen der Zwischenkriegszeit in Europa Rechnung, allen voran der britischen »splendid isolation«, die in den 1920er-Jahren begonnen hatte und bis 1930 dauerte und genau mit der Zeit zusammenfiel, als sowohl südamerikanische Teams als auch spanische und mitteleuropäische Fußballmannschaften äußerst erfolgreich waren.221Die englische FA verlor in sportpolitischer Hinsicht durch die Popularisierung des Fußballs seit dem Ersten Weltkrieg und durch die Konkurrenzsituation mit der FIFA, die immer mehr Mitglie- der gewann, zunehmend an Deutungshoheit über den internationalen Fuß- ball. Ein Umstand, der zusammen mit Auseinandersetzungen zwischen den Siegermächten des Ersten Weltkrieges und den neutralen Staaten über die Behandlung der Mittelmächte im internationalen Spielverkehr zu mehrmaligen Austritten der Briten aus der FIFA und einer Isolationshal- tung führten.222Die Erfolge der Fußballer aus anderen Teilen Europas und der Welt zeigten, dass sich dieser Sport zunehmend unabhängig von briti- schen Vorgaben und Vorbildern auf der Grundlage eigener Stile und Inter- pretationen des Spiels entwickelte. Das Identitätskonzept der Latinité war eine Abgrenzung zu einem angelsächsischen Spielstil. Die Franzosen versuchten, sich auf diesem Weg den sportlich erfolgreichen Lateinamerikanern gleichzustellen. Tatsächlich dienten die Reisen der drei südamerikanischen Mannschaften nach Europa den Europäern, insbesondere den Franzosen, als Lehrstunde, sie erwarteten, 221 Vgl. L ANFRANCHI u.a., Moving with the Ball, S. 69-71; G IULIANOTTI , Richard, Football: A Sociology of the Global Game , Cambridge 1999, S. 24 ff. 222 Vgl. als Überblick über diese Zeit: E ISENBERG u.a. (Hg.), FIFA 1904-2004 , S. 66-74; Ausführlicher: Vgl. BECK, Scoring for Britain . 300 300 Nation dass »sie uns gute Lektionen geben sollen, von denen wir in absehbarer Zeit profitieren wollen, damit wir in einem Zustand sind, um Turin am 22. März zu besiegen […].«223Die Verwendung des Begriffes der Latinité in diesem Kontext weist also eine neue und überraschende Komponente auf, da nun nicht mehr von Südamerikanern eine Identifikation mit Frankreich gesucht wird, sondern umgekehrt von den Franzosen mit den Südamerika- nern. 4.2.2. Interessen im Spiel An die Fußballbegegnung waren nicht nur rein sportliche Interessen ge- knüpft. Wie oben gezeigt wurde, ging es darüber hinaus um die Verhand- lung von Identitätskonzepten und die Repräsentation eines »zivilisierten« und entwickelten Brasiliens. Die Paulistaner Reisedelegation sah sich als rechtmäßiger Vertreter der Entwicklung Brasiliens im Bereich des Sports und wollte offenkundig für diese Rolle auch in Brasilien anerkannt werden. Dabei kehrte sie Merkmale Paulistaner Identität in den Vordergrund, die zugleich für ganz Brasilien und mithin für eine nationale Identität stehen sollten. Brasilien sollte kulturell und wirtschaftlich mit Europa gleichauf sein und über eine gesunde, trainierte Jugend verfügen, über die alle diese Werte körperlich ausgedrückt werden konnten. Zu der umfassenderen Repräsentation einer nationalen Identität mit Paulistaner Anstrich passte auch, dass der »Vorstand des Club Athletico Paulistano dafür gesorgt hat, einen Propagandaservice einzurichten für diese Institution und für die sportliche Entwicklung des Staates und Brasiliens«, wie ein Journalist von O Estado de São Paulo enthusiastisch über die von der lokalen Sportpresse eng begleiteten Reisevorbereitungen berichtete. Er schrieb, dass als Ergänzung zu dieser Arbeit […] auch ein Propagandaservice unserer sozialen und ökonomischen Entwicklung eingerichtet [wurde], um den brasilianischen Fortschritt in verschiedenen Aktivitätszweigen vorzufüh- ren. Das war eine exzellente Idee, die der Exkursion des Paulistano ei- nen patriotischen Wert verleiht. Diese Arbeit besteht nicht nur aus einer großen Anzahl von Fotografien, Handzetteln in Französisch und Englisch, die durch das Landwirtschaftsministerium bereitgestellt wur- 223 »Os brasileiros em Paris. Um treino inesperado do Paulistano com os uruguayos. A decadencia do futebol na França«, A Gazeta , 5.3.1925. Vgl. auch zur Überlegenheit der Brasilianer: »Os Sul-Americanos na Europa. Opinião de um famoso jogador hespanhol«, A Gazeta , 4.3.1925. 301 Nation 301 den, sondern auch aus circa 10.000 Metern Film von den Einrichtungen des Klubs, der Stadt São Paulo und verschiedenen Orten Brasiliens.224 Auch die Reisedelegation des Klubs selbst sollte São Paulo als aufsteigen- des Wirtschaftszentrum Brasiliens vorstellen und tatsächlich setzte sie sich zu einem großen Teil aus Unternehmern, Studenten und Ausübenden freier Berufe zusammen – Angehörige einer Wirtschafts- und Bildungselite.225 Neben dem Leiter und Financier der Reise, Antônio Prado Júnior, Geschäftsführer mehrerer von seinem Vater Antônio Prado gegründeter kapitalkräftiger Wirtschaftsunternehmen (darunter die Pacheco Chaves Company) und einer der größten Kaffeepflanzer des Bundesstaates São Paulo, waren unter den Reisenden auch der Industrielle Julio Kuntz Filho, der Aluminiumerzeugnisse vertrieb, und der Kaffeepflanzer und -händler Clodoaldo Caldeira. Weiterhin mehrere Studenten klassischer liberaler Fächer, wie die Studenten des Mackenzie College Araken Patuska und Luiz Lopes de Andrade und die Jurastudenten J. Seabra und Ernesto Pujol Filho. Auch gehörten Angestellte zu den Reisenden, so zum Beispiel der Bankmitarbeiter Mario Andrada e Silva, der Ford-Angestellte Mauricio Vilela und der Angestellte des Agrarministeriums Epaminondas Motta, dessen Mitreise sicherlich verantwortlich dafür war, dass Werbematerial des Agrarministeriums mitgenommen wurde. Auch den afro-brasiliani- schen Spieler Arthur Friedenreich gab man als Mitarbeiter des Innenministeriums São Paulos aus, doch ist fraglich, inwieweit er tatsäch- lich diesen Beruf in Vollzeit ausübte und nicht in Wahrheit ein Fußballprofi war.226Dass die Spieler ihre beruflichen Verpflichtungen eine so lange Zeit ruhen lassen konnten, lag zum einen an dem Prestige des Elite-Klubs und des Unternehmens, das es ihnen erlaubte, die Reise vor den Arbeitgebern zu rechtfertigen; zum anderen daran, dass sie privat die finanziellen Mittel besaßen, um eine mehrwöchige Überseereise in Kauf nehmen zu können. Wenige Tage nach dem erfolgreichen Beginn der Reise fasste A Gazeta die mit dem Aufenthalt in Europa verbundenen diplomatischen Aufträge in einer Karikatur zusammen (Bild 15). Sie macht deutlich, wie stark die Reise mit aktuellen wirtschaftspolitischen Belangen in Zusammenhang gebracht wurde. Sie habe dazu gedient, für Brasilien als Exportland für Kaffee und Gummi zu werben; sie sei womöglich auch genutzt worden, um 224 »Excursão do C. A. Paulistano á Europa - ultimos preparativos - organisação de uma propaganda patriotica - outras notas«, 8.2.1925, OESP , in: Album 1925, Vol. I, CAP. 225 Vgl. ebd. 226 Vgl. Kapitel 2.4 der vorliegenden Arbeit. 302 302 Nation in Europa neue Kredite für die Finanzierung von Brasiliens Kaffeevalori- sierungsprogramm auszuhandeln. Entsprechend beendete der Karikaturist die Reihe mit dem brasilianischen Botschafter Souza Dantas, der Frank- reich mit gepackten Koffern verlässt, als Zeichen dafür, dass traditionelle Diplomatie angesichts der Erfolge eines Fußballteams überflüssig gewor- den sei.227Damit ist womöglich ein weiterer Grund genannt, warum Prado Júnior die Reise finanzierte, er war als Kaffee-Exporteur von der Refinan- zierungs- und Valorisierungskrise im Kaffeehandel der 1920er-Jahre be- troffen. Die Beziehungen zu Frankreich möglichst freundschaftlich zu führen und zudem Brasilien für französische Investoren und den französi- schen Konsumentenmarkt als besonders attraktiv darzustellen war sein Anliegen. Bild 15: Diplomatieersatz?: Der Fußball wird hier als überzeugende Alternative zu traditioneller Diplomatie dargestellt. Entsprechend kann der brasilianische Botschafter in Paris, Souza Dantas, seine Koffer packen. Quelle: »Semana de Movimento Diploma- tico«, A Gazeta , 24.3.1925.228 Zu diesem Schluss kam auch die Paulistaner Presse. Der Journalist der hu- moristischen Wochenzeitschrift O Badalo meinte, er sei der erste gewesen, 227 Seit der Preiskrise von 1906 lagerte der brasilianische Staat in einem Valori- sierungsprogramm überschüssige Kaffee-Ernten in Lagern der größten Kaffeeab- nehmer, vor allem den USA, um preispolitisch der Abwertung des Kaffeepreises auf dem Weltmarkt entgegenzuwirken. Diese Politik finanzierte er in großem Maße mit britischen und US-amerikanischen Staatsanleihen. 1926 ging unter der Regierung Bernardes, in einer Phase einpendelnder Nachfrage, die institutionalisierte Kaffeepreis- valorisierung von der föderalen Ebene an den Staat São Paulo über: Vgl. DEAN, Warren, Economy, in: Leslie BETHELL(Hg.), Brazil: Empire and Republic, 1822-1930 , New Rochelle u.a. 1989, S. 217-256, hier 230 f.; HOLLOWAY, Thomas H., The Brazilian Coffee Valorization of 1906: Regional Politics and Economic Dependence, Madison, Wis. 1975; LOVE, São Paulo , S. 248-255; TOPIK, Steven C., State Interventionism in a Liberal Regime: Brazil, 1889-1930, in: HAHR 60, Nov. 1980, Nr. 4, S. 593-616. 228 »1. Unsere Geschäfte in Frankreich«; »2. Besuche unserer Gesandtschaft«; »3.15. November in Paris«; »4. Unser Kredit«; »5. Unser Kaffee«; »6. Unser Gummi«; »7. Souza Dantas mit gepackten Koffern«. 303 Nation 303 der »in dieser Zeitschrift sagte, dass der nationale Fußtritt im Ausland unser Ansehen, unsere Börsennotierung und unseren Namen, die gewöhn- lich von der Indifferenz der ultra-super-zivilisierten Völkern vernachlässigt werden, anheben würde.« Während der brasilianische Unterhändler »Dr. Viçoso Jardim, der in die Vereinigten Staaten aufbrach, um eine Anleihe zu erhalten, es nicht einmal in das Wartezimmer der Yankee-Staatsbank schaffte, haben die Paulistaner Stürmer ein durchschlagendes Tor von 30 Yard geschossen, die weitere zig Millionen Dollar bedeuten.«229 Der Journalist verglich die Bedeutung der Paulistaner Fußballmission für wirtschaftliche Interessen mit Sportwettkämpfen anderer lateinamerika- nischer Sportler, so dem argentinischen Boxer Luis Ángel Firpo, der angeblich »den platinischen Kredit erhöhte, nachdem er über die Journa- listen in New York die 84 Kilo Fleisch des Champions Dempsey geworfen hatte.«230Ebenso der chilenische Boxer Quintin Romero, der »auf dem schmerzhaften Weg durch die Heimat des Uncle Sam das kleine Chile so populär gemacht hat wie das ›china-town‹ der amerikanischen Vorstädte«, und der finnische Läufer Paavo Nurmi, der aus »einem fast imaginären und komplett vergessenen Land« ein auf der ganzen Welt bewundertes Land gemacht habe.231Obgleich sich die beiden lateinamerikanischen Boxhelden gegen ihre US-amerikanischen Kontrahenten letztlich nicht durchsetzen konnten, sprach die brasilianische Presse ihnen zu, ihrem Land einen ausgesprochen wichtigen Dienst als Werbefiguren erwiesen zu haben.232 Entsprechend nannte er die brasilianischen Spieler »pés de ouro« (»Gold- füße«), die »das Problem des internationalen Ansehens lösten. Küssen wir sie stolz: Erinnern wir uns daran, dass es mit den Füßen ist, wie man jede Initiative startet.«233Auch eine andere humoristische Zeitschrift, diesmal aus Rio de Janeiro, verglich die »elf Botschafter der Kraft eines Landes« mit der Delegation des Diplomaten Melo Franco, die Brasilien beim Völ- kerbund vertrat und die von dem Projekt, Brasilien einen dauerhaften Sitz bei dieser Institution zu verschaffen, »untröstlich, traurig« zurückgekehrt 229 Forte, António, »Pés de Ouro…«, O Badalo. Semanario Illustrado, de Critica e Humorismo , 22.5.1925, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. 230 Ebd. 231 Ebd. 232 Vgl. zu der Bedeutung der Boxkämpfe Firpos und Quintin Romeros für die Ausbildung eines an den USA orientierten chilenischen Nationalbewusstseins bei einem jugendlichen Massenpublikum: RINKE, Begegnungen mit dem Yankee , S. 181-195; DERS, Cultura de masas , S. 21 ff. und 54-58. 233 Forte, António, »Pés de Ouro…«. 304 304 Nation sei.234Auch hier waren also Hoffnungen mit den Fußballerfolgen verknüpft, sie könnten für Brasiliens Anliegen nützlich sein, permanentes Mitglied im Völkerbund zu werden. In der Angelegenheit waren die Bemühungen der diplomatischen Delegation Melo Francos noch 1925 im Gange. Trotz der Zusammenstellung der Reisedelegation aus überwiegend Angehörigen der Elite São Paulos gab es auch Zweifel an der Repräsenta- tivität dieser Delegation für São Paulo, denn »einige Gegner des Sport bedauern, dass wir in einer kultivierten Umgebung, wie der pariserischen, keine Erfolge verzeichnen würden«, da die Spieler nicht elitär seien und Fußball eben ein populärer Sport.235Doch, so der Autor dieses Artikels, »nichts ist ungerechter als diese Meinung: Die Jungen des Clube Athletico Paulistano sind legitime Repräsentanten unserer Elite, des Handels, der Industrie und des Geistes, die den Sport mit Freude praktizieren, anstatt für sich das Recht zu reklamieren, in der Kontemplation des Lebens zu vege- tieren.«236Auch Prado Júnior berichtete nach der Rückkehr in einem Inter- view, der erste Eindruck, den die Spieler auf die Franzosen gemacht habe, sei eher zweifelhaft gewesen, denn als sie diese schwächlichen, kleinen, mageren und nervösen Jungen sa- hen, konnten sie nicht glauben, dass sie das meistern könnten. Auch in Frankreich ist der Fußball ein Kraftspiel. Keiner glaubte, dass die Jungen des Paulistano Spieler seien. Alle Leute rümpften über sie die Nase.237 Dieses Bild änderte sich nach dem ersten Spiel gegen die französische Nationalmannschaft und fortan wurde den brasilianischen Spielern eine be- sondere Aufmerksamkeit zuteil. Um sie scharten sich Diplomaten und die Präsidenten der besuchten Staaten, man betonte die langjährigen brasilia- nisch-französischen Beziehungen und vor allem auch die Beteiligung Bra- 234 »Aleguá!«, D. Quixote , Rio de Janeiro, 13.5.1925, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. Zu den Verhandlungen über einen permanenten Sitz Brasiliens im Völkerbund: Vgl. BUENO, Clodoaldo, Política externa da Primeira República: os anos de apogeu (de 1902 a 1918) , São Paulo 2003; GARCIA, Entre América e Europa , S. 246-274; HILTON, Brazil and the Post-Versailles World, S. 353; SMITH, Unequal Giants , S. 167-182. Die brasilianische Verhandlungsdelegation um den Sitz im Völkerbund erlebte 1924/25 einen ersten Rückschlag, als plötzlich doch Deutschland bekannt gab, in die Liga eintreten zu wollen. Brasilien wurde daraufhin nur für einen der nicht-permanenten Sitze wiedergewählt und setzte alles daran, weiter zu verhandeln: Vgl. GARCIA, Entre América e Europa , S. 360-375. 235 »O Paulistano em Paris«, A Gazeta , 26.3.1925. 236 Ebd. 237 C ORREA , »A Europa curvada ante o Brasil… 305 Nation 305 siliens am Ersten Weltkrieg, wie Prado Júnior ausführlich dem Interviewer berichtete: Wir durchquerten die europäischen Städte mit großem Prestige. Die französische und schweizerische Regierung waren unübertrefflich in ihren Würdigungen. Wie man weiß, gaben die französischen Klubs ei- nen Preiserlass von 50% bei der Eisenbahn. Auf Grund einer Ausnahme- genehmigung für die Brasilianer bekamen wir 25% Nachlass. Von allen Sportdelegationen, die sich derzeit in Europa befinden, den Uruguayern, Argentiniern, Neuseeländern etc., waren wir die einzige, die von der Universität von Bordeaux empfangen wurde, der ältesten der Welt. Beim zweiten Spiel in Paris hat der Vertreter der französischen Regierung, der Untersekretär der Marine, in einem Umtrunk für unsere Spieler eine Rede gehalten, in der er an die Beteiligung der Brasilianer im Ersten Weltkrieg erinnerte. In Straßburg wurden wir offiziell vom Bürgermeis- ter im Rathaus und vom Militärgouverneur der Region empfangen, die uns einen Süßigkeitentisch anboten und mit Champagner auf uns anstie- ßen. In Paris hat der Leiter des französischen Fußballverbandes, der der Leiter der FIFA ist, uns ein Mittagessen spendiert. Nur wir kamen in Vorzug dieser Höflichkeit. In der Schweiz hat zum ersten Mal der Präsi- dent einem Fußballspiel beigewohnt. Das war, als die Brasilianer spiel- ten. Das Festessen, das unser Minister unseren Spielern gab, führte der Präsident. Nach dem Festessen bat der oberste Schweizer Staatsanwalt darum, dass die Jungs vom Paulistano brasilianische Liedchen singen. Das wurde dann auch mit großem Erfolg gemacht. Darauf rief der Präsi- dent dazu auf, dass die Schweizer Nationallieder singen. Eine wunder- bare Nacht! Auf dem ganzen Gebiet der Schweizerischen Eidgenossen- schaft hatten wir Sonderzüge für uns bereitstehen, die die Schweizer Regierung für uns reserviert hat.238 Tatsächlich hatte die Reise etwas von einem Staatsbesuch, die Delegation legte einen Kranz am Grabmal des unbekannten Soldaten am Triumph- bogen nieder, Bankette und Empfänge mit den Botschaftern der besuchten Länder wurden organisiert, in Frankreich trafen die Spieler auf Souza Dantas und in der Schweiz auf Raul do Rio Branco.239Entsprechend, näm- lich als Staatsbesuch, bewertete auch die französische Presse die Reise und 238 Ebd. 239 Hanot, Gabriel, »Demain le grand match France-Brésil. Les rivaux des Urguayens font leurs début à Paris«, Intransigeant , 15.3.1925, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. 306 306 Nation Prado Júnior sah sich dazu verpflichtet, zu betonen, die Reise finanziere er privat und nicht die brasilianische Regierung und die Spieler seien Ama- teure und erwarteten keinen finanziellen Gewinn.240Über das reine Sport- vergnügen hinaus ginge es um Höheres, wie »den sozialen Austausch zwi- schen Sportlern von befreundeten Nationen und um das Interesse einer wirkungsvollen Propaganda für unsere Heimat in den Ländern der Alten Welt«, wie der Klubpräsident angesichts der geplanten Begegnung mit der italienischen Nationalmannschaft in Turin äußerte, die dann aber nicht zustande kam.241Über diese »höheren Ziele« versuchten sich die Brasilianer auch von der uruguayischen Mannschaft und ihren Intentionen abzugren- zen, denen man mehrfach vor allem ein finanzielles Interesse an ihrer Reise unterstellte, während das der Paulistas ganz im Bereich Völkerverständi- gung und Begegnung läge. Das Beispiel des Klubpräsidenten Antônio Prado Júnior verweist auf die wichtige Rolle, die Einzelpersönlichkeiten für die Sportverbreitung und den Sportaustausch spielten. Als Vertreter einer lokalen Elite und eines lokalen Klubs repräsentierte er nach außen in erster Linie lokale Belange. Auf einer zweiten Ebene allerdings auch nationale Interessen, da er als Botschafter des brasilianischen Sports nach Europa fuhr.242Er trat aber auch als Vertre- ter südamerikanischer Interessen auf, als den ihn uruguayische und argenti- nische Journalisten, Fußballklubs und der regionale Fußballverband sa- hen.243 Die Wahrnehmung des Fußballklubs in Europa und in Südamerika war jedoch eindeutig: Er galt als Vertreter Brasiliens mit einer klaren patrioti- schen Mission. Prado Júnior selbst sprach über die Eindrücke, die die Mannschaft des Paulistano hatte, als sie gegen eine französische Auswahl- mannschaft im Pariser Buffalo-Stadium am 15. März 1925 antrat: »Sie waren sich der Verantwortung, die auf ihren Schultern lastete, bewusst. Sie wussten, dass nicht sie im Spiel waren, sondern der Name ihres Landes.«244 240 Vgl. Antônio Prado Júnior an Redakteur von L'Auto, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. 241 »O Paulistano na Europa. Esta' assentado o Encontro com a Esquadra Nacional Italiana - Para os Brasileiros a Parte Financeira e' Questao Secundaria«, A Gazeta , 26.3.1925. 242 Vgl. Antônio Prado Júnior an Confederação Brasileira de Desportos, 6.4.1925, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP; Vgl. »Todo un acontecimiento para el football brasileño constituyo la partida del C. A. Paulistano para Europa«, El Imparcial , Montevideo, 13.3.1925, S. 6, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. 243 Vgl. Antônio Prado Júnior an Confederación Sud-Americana de Football, 4.4.1925, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. 244 Correa, »A Europa curvada ante o Brasil«. 307 Nation 307 Prado Júnior sah seine Fußballer unter einem Vergleichsdruck stehend, da sie nicht ausschließlich die Stärke des Vereins beweisen mussten, sondern darüber hinaus die Stärke des gesamten Landes. Diese Rolle teilten auch die brasilianische Presse und andere Sportvereine in Brasilien. Das beweist der Empfang der Spieler in Rio de Janeiro und später im Hafen von Santos. Auch wenn der Klub seine Reise auf Grund von Streitigkeiten in São Paulos Lokalverband früher abbrechen musste und auf der Rückfahrt nur noch Zeit für einen kurzen Zwischenhalt in Portugal übrig war, sahen ande- re brasilianische Fußballklubs und Sportjournalisten die Mission in der »Alten Welt« als erfüllt an.245 In Rio de Janeiro empfing den Klub eine begeisterte Menschenmenge im Hafen und auf der Avenida Rio Branco, Marinesoldaten überreichten einen Blumenstrauß, die Schüler der Eliteschule Colégio Dom Pedro II einen Pokal und der nationale Sportverband CBD organisierte ein Bankett im Klubhaus des Fluminense F.C. Auch der argentinische Boxer Luiz Firpo begrüßte die Mitglieder der Delegation, die wie er auf den Sportplätzen im Ausland Südamerikas neue Stärke bewiesen hatten.246 Nach der Rückkehr war der Paulistano entsprechend zum Maßstab des nationalen Fußballs geworden, Spiele gegen andere brasilianische Klubs vergegenwärtigten das. Die anderen traten nun gegen eine Mannschaft an, die seit der Europa-Reise zu einem der besten Fußballklubs der Welt gehör- te und die die französische Presse zu »Königen des Fußballs« ernannt hatte.247Prado Júnior fasste die Errungenschaft des Paulistano in Europa in seinem Interview nach der Rückkehr noch einmal zusammen: Wie man weiß, ist der Fußball eine englische Erfindung. Der Engländer jedoch hat das Spiel mit allen klassischen Regeln und allen technischen Vorschriften erschaffen und hat es so nach Amerika gebracht. Aber Südamerika, mit seinem heißen Klima, abgetrennt durch den Äquator 245 Vgl. »Paulistas e Cariocas«, Fon Fon , 18.4.1925; »C. A. Paulistano«, Universal , Rio de Janeiro, 13.5.1925, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. Zu den Streitigkeiten: Vgl. Album II, Excursão C. A. Paulistano 1925, CAP. Ursprünglich waren Besuche in Dänemark, der Tschechoslowakei, Deutschland, Holland und Großbritannien geplant. Aus den Dokumenten im Klub geht hervor, dass Prado Júnior auch mit Sportverbänden aus diesen Ländern verhandelt hat, so dem Hamburger Sportverein: Vgl. Hamburger Sportverein an Antônio Prado Júnior, 31.3.1925, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. 246 »C. A. Paulistano«, Universal , Rio de Janeiro, 13.5.1925, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. 247 Vgl. »Les Brésiliens rois du football«, Journal , 18.3.1925, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. 308 308 Nation und durch den Wendekreis des Steinbocks, ist ein fantasievoller Konti- nent. In unseren Köpfen muss alles eine Veränderung erleben, und eine Veränderung auferlegt durch unsere fantasievollen Ausbrüche. Nachdem wir den Fußball aus den Händen der Engländer erhalten haben, haben wir ihn, ohne uns viel daraus zu machen, tiefgreifend verändert. Statt ei- nes Kraftspiels, das er in der Hand des britischen Volkes und in ganz Europa war und ist, haben wir ihn in ein Spiel der Gewandtheit verwan- delt. […] Das war genau die Veränderung, die dieses Jahr in Europa wahres Erstaunen hervorrief, eine wahre Faszination für unsere Lands- leute. Was den Europäer am meisten verblüfft hat, war die Flexibilität, die Elastizität oder besser die Schnelligkeit der Bewegungen unserer Spieler. Europa hat so eine Neuheit im Fußball nie gesehen. Wie man weiß, hat der brasilianische Spieler alle ›Kontrolle‹ des Balls, er be- herrscht den Ball, er ist Besitzer des Balls, macht mit ihm, was er will. In Europa war das völlig neu, und wie neu, wie beeindruckend. 248 Gerade aus diesen Zeilen spricht eine zeitgenössische Lesart der europä- isch-brasilianischen Kulturbeziehungen, die stark an die Manifeste der Moderne-Bewegung erinnern, in denen das Europäische »einverleibt« und durch brasilianische Eigenschaften, wie Fantasie, auch in Rückgriff auf »rassische« Vorzüge verwandelt und angepasst werden sollte. Es ist bemer- kenswert, dass diese Assoziationen auch im Rahmen der Reise eines Fußballklubs auftauchten und der Fußball hier als Ausdruck einer erfolg- reichen Realisierung dieser fantasievollen Anverwandlung gefeiert wird.249 Die Ehrung des Paulistano in Brasilien gipfelte im Vorschlag, ein Ehren- denkmal im Viertel Jardim América zu errichten, wo sich der Klub befin- det. Im Artikel, der den Entwurf beschrieb, betonte der Autor, mit der Reise habe der Paulistano den »unternehmerischen Geist« und »rassische Tugenden« bewiesen.250Nicht deutlich wird, ob der Autor damit ganz 248 Correa, »A Europa curvada ante o Brasil...«. 249 Auch Oswald de Andrade lobte die Reise des Paulistano explizit in dieser Hin- sicht: PEREIRA, Footballmania , S. 303. 250 »Club Athletico Paulistano. Um Monumento Commemorativo. As Victorias esportivas na Europa«, Originalquelle unbekannt, Artikel in: Album 1925, Vol. III, CAP. Der Entwurf griff ikonografisch auf europäische Denkmalkonstruktionen zurück und sollte die Werte »Höflichkeit, Disziplin und Bürgersinn« (»Cavalheirismo, Disciplina e Civismo«) repräsentieren: Vgl. »CAP. ›Cavalheirismo, Disciplina e Civismo‹«, Terra e Mar , Mai 1925, in: Album »Excursão à Europa«, Vol. II, 1925, CAP. Das Denkmal wurde tatsächlich erbaut und befindet sich heute in unmittelbarer Nähe des Geländes des Klubs auf der Praça Dionísio de Carvalho: Vgl. ANTUNES, Fátima Martin Rodrigues Ferreira, Um monumento aos Reis do Futebol , in: Informativo 309 Nation 309 Brasilien oder die Paulistas meint, doch gerade in dem »unternehmerischen Geist« betonte er die als für Paulistaner typisch angesehenen Eigenschaften des bandeirante . Der Autor wies weiter auf die politische Funktion der Reise hin, die auch in dem Monument sichtbar werden sollte. Zum Ausdruck kommt hier also noch einmal, wie sehr die Reise eine Inszenierung einer nationalen brasilianischen Identität unter Paulistaner Vorzeichen war und wie sehr diese Identitätsvorstellung auch »rassische« Unterschiede beinhaltete.251 Während dieser Reise nach Europa erfuhr die Idee eines Brasilien und der Brasilianer als Produkt von »Rassenmischung« und hybrider Kultur bei den europäischen Eliten die Anerkennung, die brasilianische Intellektuelle seit dem 19. Jahrhundert anstrebten. Die Vorstellung einer »brasilidade« konnte positiv dargestellt werden und zum Ausdruck kommen. Die Schil- derung der Reise des Paulistano sollte die in dieser Arbeit angesprochenen Dimensionen von Identitätsaushandlungen über den Fußball synthetisieren. 4.3. Z USAMMENFASSUNG Das Kapitel leistet einen Beitrag zu der Formulierung von Nationalismen lateinamerikanischer Eliten in der Zwischenkriegszeit, die in der globalhis- torischen Literatur überwiegend als Periode des Rückgangs transnationaler Austauschbeziehungen und Kontakte betrachtet wird.252So kann aber bestä- tigt werden, dass dies für den Bereich des internationalen Sportes und seine Diffusion nicht zutraf. Wie verschiedene Forscher an anderer Stelle anmerkten, ist für bestimmte Gruppen eine Ausformulierung und Schär- fung von Nationalismen in der Zwischenkriegszeit gerade über ihren Rück- halt in transnationalen Netzwerken erst möglich geworden.253Erst Reisen und Exilaufenthalte, transnationale Bezugnahmen und Rückkopplungen boten den Hintergrund, um sich voneinander abzugrenzen.254 Arquivo Histórico Municipal 1, São Paulo Mai/Juni 2006, Nr. 6, URL: <http://www.arquiamigos.org.br/info/info06/index.html> (abgerufen am: 25.4.2009). 251 Vgl. W EINSTEIN , Racializing Regional Difference. 252 G OEBEL , Michael , Globalization and Nationalism in Latin America, c. 1750-1950, in: New Global Studies 3, 2009, Iss. 3, Art. 4, hier 15 f.; GEYER, The Mechanics of Internationalism, S. 6. 253 Vgl. für den Sport Keys grundlegende Arbeit: K EYS , Globalizing Sport , S. 35-43. 254Vgl. GOEBEL, Globalization and Nationalism in Latin America, S. 16-19. Siehe auch die Arbeit von Sebastian Conrad zur Bedeutung transnationaler Interaktionen für die Herausbildung deutschen Nationalismus im Kaiserreich: CONRAD, Sebastian, Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich , München 2006. Aus der Sicht 310 310 Nation Das galt vor allem für die Ausformulierung ethnisch-kultureller und regionaler Identitäten, hier einer nationalen Identität unter Paulistaner Vor- zeichen. Mit der Aushandlung waren im engeren Sinne Fußballspieler, Sportfunktionäre und auch staatliche Akteure, wie Diplomaten, befasst. Aber auch das Publikum hatte über die transnationale Presse von »zu Hause« aus Zugang zu den Fußballereignissen und Diskursen. Am Anfang des Kapitels wurde gefragt, inwieweit Fußball Mittel diplo- matischer Beziehungen wurde und staatliche Akteure Interesse an ihm äußerten. Es konnte gezeigt werden, dass staatliche Stellen seit Beginn internationaler Fußballbegegnungen seinen Wert als diplomatisches Mittel erkannten. Dabei war die Haltung der Regierung und der eng mit ihr verbundenen CBD eher passiv. Maßgebliche Kontakte und Austausch- beziehungen gingen auf private Akteure zurück, zum Beispiel Klub- vorsitzende als Financiers und Organisatoren, wie die Finanzierung der brasilianischen Beteiligung an den Olympischen Spielen, den Campeonatos Sul-Americanos , zahlreicher internationaler Klubbegegnungen und vor allem der Reise des C. A. Paulistano nach Europa zeigte. Erst als in den 1920er-Jahren Konflikte zwischen den Fußballnationen umfänglicher und vor allem in der Sportpresse ausgetragen wurden, griffen staatliche Akteure reaktiv ein. Gerade in der Presseberichterstattung bildeten sich Ansätze eines globa- len Bewusstseins heraus: Die Rolle der FIFA als Instanz, die in regionale und nationale Konflikte eingriff, wurde zunehmend anerkannt. Fußball- spieler und Fußballfans wurden so momenthaft als Teil einer weltumspan- nenden Bewegung wahrgenommen, die kulturelle Werte über eine gemein- same Sprache vermittelte.255Die Zuschauer der Spiele und Leser der Presse setzten sich dadurch ständig mit eigenen identitären Werten auseinander. Diese Bedeutung erkannte zum Beispiel das Außenministerium, weil es gerade die internationale Sportpresse als Seismographen für politische Stimmungen und Denkweisen ansah. Diese Ausstrahlungskraft des Fußballs schätzten staatliche Akteure und die Sportpresse als einflussreich auf die Beziehungen zwischen Argenti- US-amerikanischer Geschichtsschreibung ist hier grundlegend: T HELEN , David, The Nation and Beyond: Transnational Perspectives on United States History, in: The Journal of American History 86, 1999, Nr. 3, S. 965-975. Siehe auch theoretisch zur Bedeutung des »Fremden« für Selbstbilder: LÖSCH, Klaus, Begriff und Phänomen der Transdifferenz: Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte, in: ALLOLIO-NÄCKE, Lars (Hg.), Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdiffe- renz , Frankfurt am Main u.a. 2005, S. 26-49. 255 Vgl. zu diesem Verständnis des Sports: G UTTMANN , Games and Empires , S. 188. 311 Nation 311 nien, Brasilien und Uruguay ein. Zu Beginn der internationalen Fußball- beziehungen zwischen den Ländern sollte Fußball als Mittel zur Annähe- rung und Verbrüderung dienen, schnell wurde er vor allem zu einer Mess- latte von Stimmungslagen in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Inner- halb des organisatorischen Rahmens der FIFA und über internationale Spielbegegnungen formierte sich in Ansätzen auch ein Bewusstsein für die Zusammengehörigkeit der südamerikanischen Länder aus, vor allem gegenüber Europa. Im Hintergrund standen vermehrte Erfahrungen des Austausches im internationalen Fußball und ein erstarkendes Selbst- bewusstsein im Hinblick auf eigene Stilentwicklungen, im weiteren Sinne aber auch die politisch-kulturelle Emanzipation intellektueller südamerika- nischer Eliten von Europa nach dem Ersten Weltkrieg. Der Fußball bot eine Gelegenheit, gerade diese kulturelle und identitäre Differenzierung Süd- amerikas von Europa auszudrücken. Das zeigte sich vor allem im Rahmen der Erfolge südamerikanischer Fußballmannschaften in Europa. Die Reise des C. A. Paulistano sollte neben der Überlegenheit eines brasilianischen auch die des südamerikanischen Fußballs insgesamt beweisen. Nationalchauvinistische Ausschreitungen und rassistische und abwer- tende Darstellungen des jeweils Anderen in der Sportpresse der beteiligten Länder seit den Campeonatos Sul-Americanos von 1919 konterkarierten allerdings die Betonung südamerikanischer Gemeinsamkeiten. Brasiliens Sportfunktionäre isolierten sich in der Folge sogar aus dem regionalen Fußball. Die vielschichtigen Abgrenzungen durchkreuzten die Betonung von Übereinstimmungen und die Herausbildung von so etwas wie einer langfristig gemeinsamen »Pan-Identität« südamerikanischer Nationen über den Fußball. Auf brasilianischer Seite stand für die CBD und die brasiliani- sche Regierung im Vordergrund, als »zivilisierte« und »weiße« Nation anerkannt zu werden. Ein selbstbewusstes Auftreten hinsichtlich der Multiethnizität der brasilianischen Bevölkerung zeigten die Regierungs- vertreter und hohe Sportfunktionäre nur gelegentlich und wenn, dann im- mer in Abhängigkeit von der Außenbewertung. Allerdings boten die Ausgrenzungen afro-brasilianischer Spieler aus Nationalmannschaften und die rassistischen Darstellungen in der argentinischen und uruguayischen Presse Gelegenheit für die Verhandlung »rassischer« Identität in Brasilien und auch außerhalb. Das war auch 1925 der Fall: Die Reisedelegation des C. A. Paulistano unter Leitung von Antônio Prado Júnior nutzte die Fußballbegegnungen in Europa zur Darstellung eines fortschrittlichen und modernen Brasilien. Die Wahrnehmungen des erfolgreichen Spielstils der brasilianischen Spieler als 312 312 Nation Resultat brasilianischer »Rassenmischung« durch die französische Presse und die Vereinnahmung des südamerikanischen Stils für ein kulturell- ethnisches Konzept der Latinité zeigen, wie sehr Fußball als transnationales Phänomen dazu diente, nationale, regionale, »rassische« und ethnische Identitäten zu verhandeln. Nach den Erfolgen traten die Paulistas selbstbewusster auf und sahen so- gar eine auch ethnisch-kulturell begründete Überlegenheit Brasiliens über Europa bewiesen. Zugleich ist deutlich geworden, dass dieses äußerst fra- gile Selbstbewusstsein erst durch die Anerkennung durch Europa entstand, dass also eine transnationale Interaktion und Verhandlung über brasiliani- sche Identität eine Differenzierung und Abgrenzung bedingte. Die Paulistas suchten zudem eine »brasilidade« mit Spielern zu bewerben, die dem Modernisierungskonzept der Nation entsprachen. Einer Nation, die hier durch São Paulo verkörpert wurde, mit Fußball als global verbreiteter Ausdrucksform.
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SCHLUSSBETRACHTUNG: BRASILIEN ALS TEIL EINER TRANSNATIONALEN SPORTGEMEINSCHAFT
Heute gilt Fußball als der globale Sport schlechthin, der Menschen aus verschiedenen Weltregionen begeistert und sie für kurze Momente zusammenbringt. Konstatiert wird, kaum ein anderes kulturelles Phänomen bringe so hohe gleichzeitige Begeisterung hervor wie der Fußball.1Tatsäch- lich demonstrieren die wachsenden Einschaltquoten in nahezu allen Weltteilen zu wichtigen internationalen Spielen, wie zu den Fußballweltmeisterschaften 2010 in Südafrika und zuletzt in Brasilien 2014, eine gleichzeitige globale Aufmerksamkeit wie bei keinem anderen kulturellen Ereignis. Nicht mehr nur aus den heute anerkannt traditionellen Fußballregionen Europa und Lateinamerika, auch aus Nordamerika, Australien und Asien schalten Menschen zu, wenn Spiele der English Premier League, der europäischen Champions League oder der FIFA- Weltmeisterschaft über Fernsehen oder Internet übertragen werden.2 Fußball bietet Menschen – Sportlern und Zuschauern – mit seinen universalen Regeln und Techniken einen gemeinsamen Erfahrungsraum, der sie zeitweise von lokalen und nationalen Sichtweisen entkoppelt. Trotzdem verlieren vor diesem Hintergrund nationale, regionale und lokale Bezüge nicht ihre Wirkung. Fußball ist nicht so »eigenweltlich«, dass in seiner Sphäre nicht politische Ansprüche, Machtasymmetrien und soziale Konflikte zu Tage treten würden.3Im Gegenteil, obwohl seine Funktionäre immer wieder betonen, über den Sport seien politische Konflikte nicht lösbar, werden politische Themen, wie Menschenrechtsfragen, über den Umweg des Sports angesprochen.4 1 E ISENBERG , Fußball als globales Phänomen. 2 Zu den Einschaltquoten: Ebd., S. 7. Siehe auch: »Armchair supporters«, The Economist online , 9.2.2010, URL: <http://www.economist.com/node/15491106> (abgerufen am: 17.8.2014); »Viewer Track 2010 FIFA Worldcup«, Initiative Innovations Mediaagentur, URL: <http://de.slideshare.net/mediapiac/viewer-track- 2010-fifa-world-cup> (abgerufen am: 17.8.2014); »TV-Zuschauerzahlen der ersten FIFA-WM-Spiele brechen Rekorde«, URL: <http://de.fifa.com/worldcup/news/y= 2014/m=6/news=tv-zuschauerzahlen-der-ersten-fifa-wm-spiele-brechen-rekorde-23781 05.html> (abgerufen am: 17.8.2014); Vgl. »A game of two halves«, The Economist , 7.6.2014. 3 Vgl. E ISENBERG , Der Weltfußballverband FIFA, S. 227-230. 4 Siehe beispielsweise die Bedenken gegen die EM-Ausrichtung in der Ukraine im Jahr 2012: Vgl. »Bundeskanzlerin erwägt EM-Boykott«, Zeit online , URL: <http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012-04/merkel-ukraine-em> (abgerufen am: 30.4.2012); zuletzt die nationalen Protestbewegungen im Vorfeld der FIFA-Welt- meisterschaft in Brasilien 2014, die u. a. dem deutschen Nachrichtenmagazin Der Spie- 314 314 Schlussbetrachtung Neben den Zuschauerzahlen scheint ein weiterer Aspekt auf die Globa- lität des heutigen modernen Sports hinzuweisen, glaubt man einer 2012, also zwischen den FIFA-Weltmeisterschaftsturnieren in Südafrika (2010) und in Brasilien (2014), erschienenen Reportage in The New York Times. Ihre Hauptaussage war, in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts würde eine neue Stufe der Globalität des Sports erreicht, da die größten globalen Sportereignisse von den Auswahlkomitees der internationalen Sportver- bände nun an sogenannte »aufstrebende Länder« in Asien, dem Mittleren Osten und Lateinamerika vergeben würden. Bemerkenswert erschien dem Autor auch die »bisher beispiellose, unmittelbar aufeinander folgende« Ausrichtung sowohl der Fußball-Weltmeisterschaft (2014) als auch der Olympischen Spielen (2016) in Brasilien.5In Zukunft, so der Tenor der Reportage, müssten sich die »entwickelten« und traditionellen Sportländer neue Gedanken über ein attraktives Marketing machen, um bei Ausschrei- bungen noch mit den »neuen« Ländern mithalten zu können. Im Gegensatz zu ihnen sei das »Image«, um es im Marketingjargon auszudrücken, von Städten wie London schon profiliert. Daran ändere ein Großereignis kaum etwas, während große Sportereignisse Städte oder Regionen in »Schwellen- ländern« neu definieren könnten. Als Beleg zitierte der Autor einen Marketingexperten, der Rio de Janeiros Bewerbung für die Olympischen Spiele 2016 beraten hatte. Was dieser zur Auswirkung der Olympischen Spiele auf die Entwicklung und Profilierung Brasiliens äußerte, erinnert an Erwartungen, die brasilianische Sportfunktionäre schon in den 1920er- Jahren an Sportgroßereignisse richteten: [T]he impact upon Brazil will be major in terms of Brazil stepping up on the world stage and the world community discovering Brazil. They don’t really know a lot about it, so in that sense Brazil has far more to gain than if you were just going back to a country or city that is fairly well known. Die Reportage vernachlässigt weitestgehend einen historischen Rückblick. Der hätte sie vielleicht zu den Anfängen des modernen internationalen Sports geführt und zwei Dinge aufgedeckt, die dem Autor womöglich einen gel zu einem unheilverkündenden Bericht über die Austragung durch das Land Anlass gab: Vgl. Der Spiegel , Nr. 20, 12.5.2014. 5 »Big Sporting Events Find New Frontiers«, The New York Times , U.S. Edition, 24.4.2012, URL: <http://www.nytimes.com/2012/04/25/sports/25iht-srbosclarey25. html?pagewanted=all&module=Search&mabReward=relbias%3Ar> (abgerufen am: 15.8.2014). 315 Schlussbetrachtung 315 anderen Blick auf die vermeintlich neuartige »Globalität« heutiger Sportgroßereignisse gegeben hätten. Erstens waren Sportgroßereignisse in der Vergangenheit nicht so ein- deutig auf die »westliche Welt« beschränkt, wie die Reportage suggeriert: so fand 1930 die erste Fußballweltmeisterschaft in Uruguay statt, im Jahr 1950 wurde sie erneut an ein lateinamerikanisches Land, Brasilien, verge- ben. Auch wenn sich darüber streiten lässt, ob Uruguay damals nicht auch als Teil der »westlichen Welt« angesehen wurde, der damalige Gastgeber lag zumindest im eurozentrischen Weltverständnis der europäischen FIFA- Sportfunktionäre eindeutig »außerhalb«.6Vielmehr versprach man sich von der Teilnahme, sich dieser »westlichen« Welt bekannt zu machen und als ihr zugehörig wahrgenommen zu werden. Hier ausgewertete Quellen zeigen, dass Globalität – als momenthaft wahrgenommene Gleichzeitigkeit und Überwindung von Zeit- und Raumdistanzen – auch im sportlichen Brasilien im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts schon empfunden wurde; jedoch in einem Verständnis, das »global« mit »westlich« und »zivilisiert« gleichsetzte. Brasilien taucht früh im »globalen« Weltbild des Fußballs auf. Zugleich ist mit der Teilnahme am internationalen Fußballgeschehen früh die Hoffnung verknüpft, sich mit dem eigenen »Entwicklungsstandard« be- kannt zu machen. Brasilien ist demnach kein »unbekanntes Terrain« aus sportlicher Sicht, vielmehr spielt das Land seit den Anfängen des Fußballs im internationalen Sport ein bedeutende Rolle, wie auch die vorliegende Arbeit unterstreicht, und ist zudem schon früh mit einem ausgeprägten und eigenen Stil identifi- ziert worden. Nicht erst jetzt wird Brasilien die Möglichkeit gegeben, sich über Sportgroßveranstaltungen zu profilieren. Diese Annahme blendet die frühe Einbeziehung und Rolle Brasiliens in der internationalen Sportwelt aus. Das betrifft sowohl die 1920er-Jahre, die in dieser Arbeit im Vorder- grund stehen, als auch die Ausrichtung der Weltmeisterschaft in Brasilien im Jahr 1950, die als vormaliger Höhepunkt und dann, mit der Niederlage, als Tiefpunkt der brasilianischen Fußballentwicklung und Fußballaneig- nung bewertet wurde. 1950 war es Anliegen der Regierung, eine junge, kohäsive und starke Nation zu demonstrieren, die mit dem brasilianischen Fußballstil, so formuliert es der Anthropologe Leite Lopes, nach außen eine »in hohem Maße verbesserte Version eines britischen Produktes [zeigen wollte] – das heißt, ein Beispiel für Importsubstitution par excellence.«7 Bedeutsam ist, dass die beabsichtigte Darstellung nicht nur nach außen, 6 Vgl. Kapitel 4.1 der vorliegenden Arbeit. 7 L EITE Lopes, Transformations in National Identity, S. 76. 316 316 Schlussbetrachtung sondern vor allen Dingen auch nach innen funktionieren sollte. Wie gezeigt wurde, ist dieses Anliegen einer homogenen Außen- und Innendarstellung aber nicht erst mit Vargas hervorgetreten. In einer noch diffusen, weniger inklusiven und massenhaften Form existierte es schon weit vorher, schon in den 1920er-Jahren mit den südamerikanischen Turnieren, der Reise des Klubs C. A. Paulistano nach Europa und letztlich der Weltmeisterschaft in Uruguay im Jahr 1930. Zweitens ist das Narrativ der transformativen Kraft von Sportgroßveran- staltungen für die Modernisierung und Bekanntmachung einer Nation auf internationaler Ebene nicht derart neu. Schon früh äußerten auch brasilia- nische Sportfunktionäre ähnliche Hoffnungen. Nicht nur das, sie gestalteten auf der Grundlage dieser Erwartungshaltung die internationalen Sportbezie- hungen mit. Die Idee, einer »world community«, wie es in der oben zitier- ten Reportage heißt, Stärke zu beweisen, machte Sportgroßveranstaltungen damit auch zu geeigneten Ereignissen, um diskursiv Identitäten zu verhan- deln. Die oben zitierte Reportage zeigt, dass sich das bis heute nicht geän- dert hat. Die vorliegende Studie schlägt am Beispiel des Fußballs in Brasilien eine Erzählweise für die historische Globalisierung des modernen Sports vor, die die frühe Einbindung Brasiliens in den internationalen Fußball mit berücksichtigt; die Globalisierung nicht gleichsetzt mit Uniformierung und Aufschluss zu einem Standard, sondern in erster Linie als Verdichtung von Kontakten und Austauschmöglichkeiten begreift. Diese Verdichtung ließ eine Diskussion dieses Standards zu und konnte auch Differenzierungen, Ungleichheiten und Ausschlüsse hervorbringen. Es lohnt sich noch einmal, drei für diese Entwicklung ausschlaggebende Prozesse zusammenzufassen: Erstens die global zu beobachtende Populari- sierung dieses Sports im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Auch in Brasilien spielten immer mehr Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten Fußball oder wurden begeisterte Zuschauer, wie im ersten Kapi- tel ausgeführt. Zweitens nahmen vor allem in der Zwischenkriegszeit inter- nationale Sportgroßveranstaltungen in der Häufigkeit und an Bedeutung zu. Neben besseren Transportbedingungen lag das an einem größeren Interesse von Regierungen und nicht-staatlichen Akteuren an Fußballspielen als Mittel der Diplomatie. Drittens hing seine Popularisierung eng mit der Entstehung einer transnational agierenden Sportpresse zusammen. Sie verband durch ihre Bezüge auf Fußballereignisse in anderen Sportnationen Menschen über die Nation hinausgehend miteinander – durch Interviews mit international berühmten Sportlern, durch Vergleiche zwischen sportli- 317 Schlussbetrachtung 317 chen Rekorden und Fußballstilen, durch die Übersetzungen von Regeln und Handreichungen. Es war vor allem die Presse, die einen Rahmen für Identi- tätsverhandlungen bot. Also ist deutlich geworden, wie sehr Fußball als transnationales Phänomen in Brasilien schon in seinen Anfängen Menschen über die Nation hinausgehend miteinander verband und der Aushandlung unterschiedlicher Identitätsvorstellungen diente. Auch brasilianische Fußballspieler, Sportfunktionäre, Sportjournalisten und Zuschauer waren über die Sportpresse im hier untersuchten Zeitraum zwischen 1894 und 1930 anhaltend in eine transnationale Sportgemein- schaft diskursiv eingebunden. Sie traten dabei nicht als reine Empfänger eines »fremden« Kulturproduktes auf, sondern nahmen auch eine gestalte- rische Rolle ein. Damit bestärkt die vorliegende Studie insgesamt einen transnationalen Blick auf die Entstehung und Entwicklung eines heute so selbstverständlich als global angesehenen Kulturproduktes. In der folgenden Zusammenfassung der Ergebnisse der vorliegenden Studie werden vor allem Querverbindungen zwischen den drei im Vorder- grund stehenden Untersuchungsdimensionen aufgezeigt. Sie zeigen, dass der Fußball als transnationales Phänomen Identitätsaushandlungen auf unterschiedlichen Ebenen beförderte und diese über die nationale Ebene hinausgingen oder unterhalb dieser lagen. In den hier untersuchten Dimen- sionen identitärer Aushandlung – »Rasse«, Region und Nation – wird je- weils die Bedeutung gerade der transnationalen Bezüge der Sportpresse deutlich. Vorstellungen von Nation, Region und »Rasse« als Selbstverge- wisserungen ergaben erst durch Verhandlungen in einem transnationalen Kontext Sinn. Mit diesem Ergebnis leistet die Studie einen Beitrag zu einer transnationalen Sportgeschichte als Kulturgeschichte. Auf diese Einord- nung gehe ich später noch näher ein. Fußball kam nicht einfach in einem einseitigen Transferprozess von Europa nach Brasilien. Während des gesamten untersuchten Zeitraumes gab es konstant wechselseitige Bezugnahmen. Das war das zentrale Ergebnis des ersten Kapitels. Es zeigt, wie sich Eliten und Angehörige einer neu entste- henden urbanen Mittelschicht in Rio de Janeiro und São Paulo den Fußball und über ihn das ursprünglich aristokratische Ideal des Amateursportlers aneigneten. Viele der Sportpioniere waren als Journalisten, Erzieher oder politische Amtsträger an Schaltstellen der Gesellschaft tätig. Ideell, beruf- lich und ökonomisch profitierten sie selbst von der Verbreitung und Popularisierung des Fußballs. Aber seine Diffusion ist nicht alleine mit einem ökonomischen Interesse dieser Akteure zu erklären: Es ging von Anfang an in den neu gegründeten brasilianischen Sportvereinen nicht 318 318 Schlussbetrachtung einfach nur um Sporttreiben ohne weiteres materielles Interesse. Die brasilianischen Sportpioniere der Eliteklubs legten zwar ein aristokratisches und äußerst exklusives Klubverständnis zu Grunde, zugleich sollten die Vereine aber auch gesellschaftliche Erziehungsaufgaben wahrnehmen. Ihre Begründer bedachten sie mit einer Schlüsselfunktion für die Ausbildung und charakterliche Schulung junger Männer der Elite, die sich an Werten wie fair play , »kollektivem Denken«, »Höflichkeit« orientierte. Es fand eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit europäischem Fuß- ball als Teil einer transnationalen Sportkultur statt. Seine Ursprünge führ- ten sportbegeisterte Autoren und Journalisten zwar genuin auf England als »Ursprungsland« zurück, sie orientierten sich aber auch an französischen Texten,verbandenmodernenSportmitUS-amerikanischem »Zivilisationserfolg« und sogar mit griechischen Traditionen. In einem weiteren Sinne sahen sie modernen Sport als Ausdruck der »zivilisierten Welt«.8Das machen die Veröffentlichungen und Unterweisungen für Fußballspieler deutlich, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erschienen. Auf der anderen Seite dieser Vereinnahmungen standen etliche Vereine und Klubs, die Arbeiter und einfache Angestellte in den Vorstädten gründe- ten und die sich den Fußball anders aneigneten. Die gegensätzlichen Sport- auffassungen und Aneignungen spiegelten sich in der Sportpresse im Dekadenzdiskurs wider, der vor allem in den 1920er-Jahren stark zunahm. In São Paulo charakterisierten elitäre Sportler und Journalisten den Fußball der kleinen, eher unorganisierten clubes de várzea als gewaltvoll und stell- ten dies in einen Zusammenhang mit einem Niedergang der ehedem elitä- ren Sportart. Dafür verantwortlich machten sie das veränderte soziale Profil der Ausübenden und Zuschauer, die sich den Fußball unter Missachtung der Werte einer »guten sportlichen Erziehung« angeeignet hätten und von einem organisierten Vereinswesen wenig wüssten. Viele Sportpioniere, Politiker und Reformer sahen die Popularisierung und »Nationalisierung« des Fußballs als Chance. Gerade über das inzwi- schen weitgespannte Vereins- und Verbandsnetzwerk ließe sich, so äußer- ten Sozialreformer und Politiker in den 1920er-Jahren, Werte einer »zivilisierten« Nation vermitteln und möglichst viele Menschen erziehen. Für diese Sichtweise sprechen die zunehmenden Veröffentlichungen von pädagogisch angelegten Erklärungen und Übersetzungen von Fußballre- geln. Auch die Aufnahme von Fußball in politische Programme zur abrasileiramento der Bevölkerung und zur Schlichtung von sozialen Kon- 8 Für den europäischen Zusammenhang siehe auch: T AYLOR , Global Players? 319 Schlussbetrachtung 319 flikten zeugen davon. Über den Fußball konnten mehr Menschen erreicht werden, so äußerten Reformer, als über das in der Ersten Republik noch weitestgehend defizitäre Schulsystem. Im Fußball und seinen vielfältigen Aneignungen drückten sich urbane gesellschaftliche Veränderungen und Ausdifferenzierungen aus. Zugleich war er eine Möglichkeit, mit den sich wandelnden Beziehungen zwischen sozialen Gruppen im urbanen Raum umzugehen. Im Hintergrund stand auch ein sich veränderndes Verständnis von »Rassenbeziehungen« in den 1920er-Jahren: Die Bevölkerung könnte den Idealen einer modernisierten und industrialisierten Gesellschaft durch sozialreformerische Methoden angepasst werden und Sport schien sich dazu besonders zu eignen. Brasilianische Sportfunktionäre und Reformer stellten den Fußball in den Dienst einer sozialreformerischen Nationali- sierungskampagne, in der es in Ansätzen auch schon um die Schaffung einer raça brasileira ging. Als Zwischenergebnis lässt sich schon für das erste Kapitel festhalten, wie stark die sozialreformerischen Vereinnahmun- gen des Fußballs in Brasilien in einer Auseinandersetzung mit transnatio- nalen Ideen stattfanden, wenn die Presse hier beispielsweise auf europäi- sche Sportkultur verwies. Fußball hatte in den Augen der oben genannten Akteure auch eine herausragende Bedeutung für eine abrasileiramento einer multiethnischen Gesellschaft. Er wurde in die Aushandlung von Rassismus und »rassischer Identität« einbezogen. Dies ist Gegenstand des zweiten Kapitels. Als Leser einer Tageszeitung im Jahr 1918 über die Aufnahme afro- brasilianischer Spieler in Vereine der zweiten Liga von São Paulo debattierten, kamen zum ersten Mal auch Anhänger der clubes de várzea zu Wort. Einige äußerten sich explizit gegen rassistische Diskriminierung, der überwiegende Teil sah im Fußball ein Instrument zur Vermittlung des herrschenden embranquecimento -Ideals. Hintergrund dieser Debatte bildete auch hier das Ideal einer raça brasileira . In sie sollten nun auch Afro- Brasilianer eingeschlossen werden. Die Leserbriefschreiber sahen afro- brasilianische Sportler selbstverständlich als Teil der nationalen Geschichte Brasiliens und grenzten sie zum Teil positiv gegen europäische Immigran- ten ab. Auch in den Fußball, der in der Presse in dieser Zeit als nationale historische Tradition »erfunden« wurde, sollten Afro-Brasilianer zuneh- mend einbezogen werden, so die Erwartung. Die Debatte zeigt, dass Be- sucher von Vorort-Spielen ganz selbstverständlich Diskurse der einen raça brasileira rezipierten und verhandelten. Die Auseinandersetzungen be- schränkten sich nicht auf Eliten und auch nicht auf afro-brasilianische 320 320 Schlussbetrachtung Aktivisten. Es schien weithin akzeptiert, Fußball als Möglichkeit des embranquecimento , aber auch des sozialen Aufstiegs von Afro-Brasilianern anzusehen. Über die Sportpresse und im Kontext internationaler Sportwettbewerbe traten Leser und Besucher von Fußballspielen in einen transnationalen Dialog über »rassische« Identität. Bedeutend war die Sportpresse in dieser Funktion gerade für Angehörige einer neuen urbanen Mittelschicht. Ihren teilweise anti-rassistischen Argumenten gegen die Exklusion von afro- brasilianischen Fußballspielern lagen transnationale Bezugnahmen zu Grunde. Hier spielten auch andere südamerikanische Länder, in denen schon mehrere afro-lateinamerikanische Spieler in Nationalmannschaften aufgetreten waren, eine bedeutende Rolle. Es ist nicht zu unterschätzen, dass erst die Presse und die transnationalen Bezugnahmen über den global populären Sport diese Diskurse ermöglichten und hier ein Forum für die Diskussion von rassistischer Diskriminierung und Ungleichheiten entstand, an dem plötzlich Akteure teilnehmen konnten, die zuvor nicht sichtbar gewesen waren. Diese Funktion des Fußballs zur Benennung rassistischer Ungleichheit wurde auch in den Folgekapiteln immer wieder deutlich.9 Es waren nur wenige Afro-Brasilianer, denen der Fußball tatsächlich einen sozialen Aufstieg ermöglichte. In jedem Fall waren sie in Brasilien und im internationalen Sportkontext immer mit Ausgrenzungen und Rassismus konfrontiert. Es konnte gezeigt werden, dass über den Fußball, wie über andere kulturelle Phänomene dieser Zeit auch, die Schuld an rassistischer Ausgrenzung häufig den Afro-Brasilianer selbst gegeben wurde.10Das war dann der Fall, wenn angenommen wurde, sie wollten sich dem embranquecimento -Ideal nicht unterordnen. Über den Fußball betei- ligten sich Brasilianer insgesamt nicht nur an der Produktion eines »schwarzen Athleten«11im globalen Sinne, sondern sie produzierten auch Vorstellungen eines spezifisch brasilianischen »schwarzen Athleten« im Sinne einer gemischten raça brasileira . Die Aneignung von Fußball für Projekte nationaler Erneuerung und Moralisierung ist in einem transnationalen Rahmen zu denken. Auch wenn es nationale Vorhaben waren, konnten sie erst vor dem Hintergrund eines transnationalen Austauschs von Ideen, Körperbildern und der Interaktion von Sportlern einen Sinn ergeben. Denn die hier debattierenden Fußballan- hänger und Rezipienten einer transnational agierenden Presse nahmen an 9 Vgl. auch Kapitel 4 der vorliegenden Studie. 10 B UTLER , Freedoms Given , S. 94. 11 C ARRINGTON , Race, Sport and Politics , S. 76-82. 321 Schlussbetrachtung 321 einem über nationale Grenzen hinausgehenden Dialog teil. Freilich besei- tigte die globale Verbreitung des Fußballs nicht den Rassismus. Aber sie konnte ihn an die Oberfläche bringen und für ein weiteres Publikum, ur- bane Zeitungsleser und betroffene »schwarze« Sportler selbst, verhandelbar machen. Der transnationale Sport bot vor allem durch die sinnstiftende Funktion der Sportpresse einem urbanen Massenpublikum eine neue kultu- relle Ausdrucksform, über die es auch Forderungen stellen oder Missstände benennen konnte. Diese konnten auch konträr zu politischen oder staatli- chen Zielen oder einem Elitediskurs stehen. Auch das zeigen die Debatten um die Inklusion von afro-brasilianischen Fußballspielern im Jahr 1918. Fußball diente als »Interdiskurs«, um die Vorstellungen sozialreforme- risch denkender Sportfunktionäre weitreichend akzeptabel zu machen. Ihre Ideen, die dann eine größere politisch zentralisierte und forcierte Umset- zung unter Vargas in den 1930er-Jahren erlebten, hatten schon 1918 eine hohe Resonanz. Das Konstrukt einer raça brasileira , das Afro-Brasilianer selbstverständlich mit einbezog, war dann in der Vargas-Zeit anschlussfä- hig für das Konzept eines »neuen brasilianischen Menschen«.12Der über den Fußball vermittelte Diskurs war grundlegend für die weitere Vermitt- lung des Mythos der brasilianischen »Rassendemokratie«. Im Vergleich zu anderen Sportnationen ließ sich zudem das Konzept der raça brasileira als brasilianische Besonderheit zur Abgrenzung gegenüber anderen verwen- den. Rassistische Exklusion und das Verhältnis von Nation zu »Rasse« spiel- ten nicht nur im lokalen Fußball eine bedeutende Rolle. Wichtig war die Frage nach der ethnischen Repräsentation Brasiliens nach außen für Politi- ker und Eliten, die glaubten, über den Sport ließe sich auch der Grad der »Zivilisation« eines Landes ausdrücken. Dieser Diskurs wurde vor allem bedeutender, als nach dem Ende des Ersten Weltkriegs internationale Sportveranstaltungen zunahmen. Die transnationale Dialog- und Vermittlungsfunktion des Fußballs spielte auch eine Rolle für die Aushandlung regionaler Identitäten. Fußball eignete sich im stark regionalisierten Brasilien der Ersten Republik nicht nur dazu, nationale Harmonie und Einheit zu stiften und nach außen zu 12 J ACKSON , The New Brazilian Man. Für das Konzept des »neuen brasilianischen Menschen« unter Vargas siehe DÁVILA, Diploma de brancura , S. 47-93. Zum Fußball und Sport unter Vargas siehe: AGOSTINO, Vencer ou morrer; DRUMOND, Nações em jogo ; MANHÃES, Política de esportes no Brasil ; NEGREIROS, A nação entra em campo ; DERS, Futebol nos anos 1930 e 1940; PEREIRA, Footballmania , S. 303-345; SOUZA, O Brasil entra em campo! ; TEIXEIRA, Roberto Sander, Anos 40: viagem à década sem copa , Rio de Janeiro 2004. 322 322 Schlussbetrachtung inszenieren. Durch Fußball konnten regionale Überlegenheitsansprüche dargestellt, manifestiert und bestärkt werden. Internationale Spiele boten dafür eine gute Gelegenheit. So nutzten Paulistaner Sportfunktionäre und Fußballspieler das regelmäßige Messen an internationalen Gegnern, deren Gesellschaften als das Ideal Paulistaner Strebens galten, um sich als fortschrittlicher, moderner, »zivilisierter« als Rio de Janeiro und andere Regionen Brasiliens darzustellen, wie in Kapitel 3 deutlich wurde. Das ist herauszustellen: Die Paulistaner Sinnproduktionen über den Fuß- ball fanden vor allem im Vergleich zu Rio de Janeiro statt. Die Auseinan- dersetzungen zwischen Rio de Janeiro und São Paulo hingen mit der unterschiedlichen Sportentwicklung in beiden Regionen zusammen. São Paulo sah sich gegenüber Rio de Janeiro und anderen Regionen als Zen- trum der Fußballentwicklung Brasiliens. Die Paulistas führten das auf ihre Pionierrolle in internationalen Fußballbegegnungen zurück. Rio de Janeiro hingegen war als Hauptstadt Brasiliens administrativer Mittelpunkt des nationalen Fußballs. Diese Positionen machten sich beide Regionen kon- stant streitig, in einer Weise, die weit über eine im Fußball übliche inter- regionale Rivalität hinausging. Hier bildeten sich politische Auseinander- setzungen ab. Doch wird auch hier deutlich, dass Fußball nicht nur poli- tische Prozesse reflektiert, sondern selbst diskursive Kräfte freisetzte und eben selbst politisch war. Fußball war für Paulistaner Eliten ein zentrales Mittel, Bilder eines anderen, kulturell und sogar »rassisch« unterlegenen Rio de Janeiro zu konstruieren. Letzteres geschah über den bandeirante -Mythos, den Journalisten und Sportler in der Fußballberichterstattung immer wieder heraufbeschworen und auf den die Paulistas ihre fußballerischen Erfolge zurückführten. Diese Bilder waren durch die Verstärkungskraft der Presse sehr wirksam und nachhaltig. Regionale Differenzierungen materialisierten sich hier, auch körperlich. Gerade internationale Fußballerfolge bestätigten in den Augen Paulistaner Journalisten und Sportler den Mythos des bandeirante als Selfmademan , als perfektes Vorbild für eine zukünftige raça brasileira . Die Paulistas nahmen São Paulo als Ausstrahlungszentrum für die Diffusion des Fußballs innerhalb Brasiliens wahr, da sie immer schon stärker im Kontakt zu »zivilisierten« Sportnationen gestanden hätten. Paulistaner Sportfunktionäre erfanden den Fußball zudem als Teil einer Geschichte dieser Region und betonten über ihn eine historische Sonder- rolle São Paulos. In einer Zeit, als Paulistaner Eliten dabei waren, eine nationale Identität unter Paulistaner Vorzeichen an Geschichtsinstituten zu 323 Schlussbetrachtung 323 erfinden, konnte auch der Fußball dabei helfen, vermeintliche historische Traditionen körperlich darzustellen und sie zu inszenieren. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass Fußball keinesfalls wie von selbst »Chancengleichheit« herstellt.13Vielmehr bildet er Machtasymmetrien ab, ja er trägt sogar dazu bei, diese zu verstärken. Die Globalisierung des Sports ist nicht als Modernisierungsprozess zu denken, durch den, im Sinne Roberto DaMattas, automatisch Demokratie oder soziale Harmonie ent- stehe.14Die Rede von einer Diffusion des Sports als Möglichkeit, »Chancengleichheit« herzustellen, entspringt der Annahme, Fußball habe sich im Zuge einer Modernisierung in der Welt ausgebreitet. Dies entsprach auch der Auffassung der hier untersuchten historischen Akteure, also der Sportfunktionäre, Journalisten und auch Sportler, die zum Beispiel São Paulo gerade auf Grund seiner »Pionierrolle« im Fußball als moderner und »zivilisierter« einschätzten. Wie in Kapitel 4 verdeutlicht, interagierten »Rasse« und Region im Fußballspiel miteinander in der Aushandlung und Inszenierung nationaler Identitäten. Die Macht dieses Spiels zur Inszenierung kollektiver Identitä- ten erkannten in Brasilien Regierungen, Regierungsvertreter und nicht- staatliche Akteure gleichermaßen. Das ist Thema des letzten Kapitels. Es lohnt sich, noch einmal etwas zur Periodisierung des hier analysierten Zeitraumes zu äußern: Der Erste Weltkrieg brachte für die Region Südamerika eine Regionalisierung in der Sportinternationalisierung – lo- kale Sportfunktionäre richteten ihren Blick stark auf die Nachbarländer Argentinien und Uruguay und auf die Region Südamerika insgesamt. Schon zuvor hatten staatliche und nicht-staatliche Akteure den Fußball als Mittel der Diplomatie erkannt. Mit der Popularisierung und Politisierung des Fußballs im Zuge des Ersten Weltkriegs bekam dieser Gedanke aller- dings mehr Bedeutung. Die kosmopolitischen und friedensbringenden Ansinnen, die Sportfunk- tionäre in den 1910er-Jahren antrieben und sie zur Gründung eines regio- nalen Verbandes und regionaler Wettbewerbe zusammenführten, gerieten jedoch schnell ins Hintertreffen. Die Wirkmacht auf ein Massenpublikum, vor allem durch die den Sport immer stärker fokussierende Presse, diskreditierte ihn in den Augen von Diplomaten und Politikern als Mittel 13 Diese Argumentation ist an Carrington angelehnt: Vgl. C ARRINGTON , Race, Sport and Politics , S. 65 f. 14 D A M ATTA , Roberto, Esporte na sociedade: um ensaio sobre o futebol brasileiro, in: Ders. u. a. (Hg.), Universo de Futebol , Rio de Janeiro 1982, S. 35-40; DERS., »O futebol é a maior escola de democracia«; SUSSEKIND, Futebol em dois tempos , S. 91-95. 324 324 Schlussbetrachtung der Annäherung. Sie warnten vor die internationalen Beziehungen in der Region belastenden nationalchauvinistischen Ausbrüchen im Publikum. Das dadurch entstehende Bild könnte im Widerspruch zu dem eines »zivili- sierten« Brasilien stehen. Vor allem sahen sie die Presse als prinzipiellen Katalysator für diese Ausbrüche. Die transnational agierende Presse schien in den Erzählungen über Ereignisse, die selbst transnational waren, eher als unkalkulierbares Risiko für die internationalen Beziehungen. Doch nicht alle Sportfunktionäre und Sportler kamen zu dieser negativen Einschätzung der Rolle des Fußballs für die Ausgestaltung internationaler Beziehungen. Gerade private Akteure förderten Fußballbegegnungen als Formen diplomatischer Annäherung. Sie überzeugte die Botschaft, die Europäer und US-Amerikaner über den modernen Sport in den 1920er- Jahren zunehmend aussendeten: Er könne Völker zusammenbringen und darüber hinaus politische und selbst wirtschaftliche Anliegen an ein großes Publikum vermitteln. Allerdings schlug sich diese Anerkennung nicht in einer Institutionalisierung in Brasilien nieder, es handelte sich mehr um sporadische und vor allem private Zuwendungen. Uruguay diente als Vorbild für eine Nutzung des Fußballs zur Außendar- stellung. Der außerordentliche und überraschende Erfolg der uruguayischen Nationalmannschaft bei den Olympischen Spielen 1924 kam dem Beginn einer neuen Zeitrechnung gleich, die eine bedeutendere Rolle Südamerikas im internationalen Fußball ankündigen sollte. Es ist hervorzuheben, dass gerade nicht-staatliche Akteure die Ausstrahlungskraft des Fußballs als Mittel der Diplomatie nicht nur erkannten, sondern auch nutzten. Blickt man auf die Internationalisierung des Sports in den 1920er-Jahren nicht nur aus dem beengten Sichtfeld internationaler Organisationen und staatlicher Akteure, dann werden bereits in diesem Zeitraum bemerkenswerte politi- sche Kräfte und Motive für seine weitere Internationalisierung in den 1930er-Jahren freigelegt und darüber hinaus wird das Narrativ einer in den 1920er-Jahren ausnahmslos europäisch dominierten Sportinternationalisie- rung in Frage gestellt. Die durch Fehleinschätzungen, finanzielle und sportliche Rückschritte und auch Eitelkeiten entstandene Isolation Brasiliens in den südamerikani- schen Fußballbeziehungen löste sich selbst 1930 nicht auf, als die Weltmeisterschaft nach Südamerika kam. Auch hier legten Botschafter und Vertreter des Nationalverbandes Wert darauf, eine neutrale Haltung im Konflikt zwischen den Europäern auf der einen und Argentiniern und Uru- guayern auf der anderen Seite einzunehmen, als es im Zuge des Fernblei- bens einiger europäischer Nationalmannschaften zu Boykottforderungen in 325 Schlussbetrachtung 325 Südamerika kam. In der Sportpresse gab es eine andere Meinung: Hier plädierten einige Journalisten für eine verstärkte Internationalisierung und gegen die Isolationshaltung Brasiliens im internationalen Fußball. Sie wa- ren der Meinung, internationale Fußballspiele förderten die Entwicklung des nationalen Spiels. Das spiegelte sich auch in der Rezeption des uruguayischen Olympiaerfolges von 1924. In allen Varianten jedoch zeigt sich eines: Brasilianische Fußballakteure suchten eine Abgrenzung von Europa sowie von Argentinien und Uruguay gleichermaßen. Zugleich aber blieb die Anerkennung des brasilianischen Fußballs durch die wichtigsten Fußballnationen beider Regionen von hoher Bedeutung, um überhaupt ein eigenes Selbstbewusstsein auszubilden. Auch auf einer Europareise 1925 stand die Vermittlung eines fortschritt- lichen, modernen, ökonomisch starken Brasiliens im Vordergrund, symbo- lisiert durch einen neuen brasilianischen Fußballstil. Französische Sportme- dien grenzten ihn positiv vor allem gegen Uruguay ab und führten ihn auch auf ethnische Merkmale zurück. Im Grunde aber diente die Reise der Ver- handlung unterschiedlicher Identitätsvorstellungen auf beiden Seiten des Atlantiks: Erstens der einer spezifischen brasilianischen »Rassenmi- schung«, die in den Augen der zeitgenössischen Betrachter zu eben dieser Ausprägung des eigenen Stils geführt hatte und die erst über die Aner- kennung der Europäer in Brasilien selbstbewusst geschätzt wurde. Zweitens über Latinité und einen lateinischen Fußballstil, über den sich französische Sportfunktionäre und -journalisten mit den nun gerühmten Brasilianern (und auch Argentiniern und Uruguayern) zu solidarisieren und von den britischen »Erfindern« des Sports abzugrenzen suchten. Es schien, als ob nun nicht mehr die Europäer den besten Fußball spiel- ten. Brasilianer, so der Tenor der Rezeption, beherrschten sehr viel besser ein originär europäisches Spiel. Paradoxerweise diente der brasilianische Fußballstil aber nicht nur zur Betonung von Differenz oder gar Überlegen- heit. Die Paulistas nutzten ihn zugleich – als gemeinsame Ausdrucksform – um Annäherungsversuche zu unternehmen. Fußball konnte helfen, so die Idee, sich in zwischenstaatlichen politischen Beziehungen mehr Anerken- nung zu verschaffen. Tatsächlich warb die brasilianische Fußballtruppe in Frankreich und der Schweiz auf der Ebene einer diplomatischen Delegation für Brasilien als gleichwertigen Partner in den internationalen Beziehun- gen. Im vielschichtigen Prozess der Differenzierung und Annäherung entwi- ckelte sich ein brasilianisches Selbstbewusstsein, das aber nie ohne die vor- malige Anerkennung durch die Europäer auszukommen schien. Begrenzt 326 326 Schlussbetrachtung kann auch davon gesprochen werden, dass die während der Reise verhan- delten Körperbilder auch die Wahrnehmung in Brasilien veränderten. Die positive Anerkennung des Fußballs als südamerikanisch und gar als genuin brasilianisch, als Ausdruck einer brasilianischen »Rassenmischung«, führte zu einem höheren Selbstbewusstsein in Bezug auf die Multiethnizität Brasiliens. Die Begegnungen sind wichtige Momente transnationaler Aus- handlung von nationalen und »rassischen« Identitäten. Insgesamt lässt sich die Globalisierung des Fußballs aus brasilianischer Perspektive vor allem über die Rolle der transnational agierenden Sport- presse zusammenfassen: In den beiden wichtigsten Sportzentren Brasiliens, São Paulo und Rio de Janeiro, bestand eine interdependente Entwicklung zwischen einer immer differenzierter werdenden und transnational agieren- den Sportpresse und der Entwicklung des Fußballs zum beliebtesten Sport und zum Instrument identitärer Aushandlungen. Erst die Presse vermochte es, wenn auch nur für kurze Augenblicke, Menschen das Gefühl zu geben, Teil einer globalen Bewegung zu sein, über den Fußball vor allem mit der »zivilisierten Welt« verbunden oder sogar mit ihr gleichauf zu sein. Sicherlich kann nicht von der Entstehung einer »transnationalen Öffent- lichkeit« gesprochen werden, wie sie Kaelble u. a. definieren.15Dafür waren die Verbindungen und Kontakte nicht dauerhaft genug, die Reichweite der Presse auch zu begrenzt. Gleichwohl zeigte sich bei Journalisten und Rezipienten in Ansätzen ein Bewusstsein für die Globalität des Fußballs.16 Beispielhaft ist die Wahrnehmung der FIFA als transnationale Dach- organisation, der man zutraute, regionale Konflikte lösen zu können. Oder wenn Presserezipienten in Brasilien im Vergleich zu anderen »Sport- nationen« die zunehmende Gewalt im Fußball und die Exklusion afrikanischstämmiger Spieler aus Fußballvereinen diskutierten. Die Trans- nationalität des Fußballs und der Presse waren wechselseitig bedingt. Sich über den Fußball einer »zivilisierten« Welt zugehörig zu fühlen, das galt für den Sport allgemein. Er teilte die Welt in »zivilisierte« und »nicht- zivilisierte« Länder, in solche, die von ihm erfasst oder nicht erfasst waren. Das machten Berichte in der Presse immer wieder deutlich, so in der Erfas- sung der Welt-Regionen in Mitgliederlisten der FIFA und in Berichten über 15 K AELBLE u.a., Zur Entwicklung transnationaler Öffentlichkeiten und Identitäten. 16 Auch wenn deren Intensität und Ausmaß aus heutiger Sicht episodenhaften Charakter haben: CONRAD, Sebastian/SACHSENMAIER, Dominic, Introduction. Compe- ting Visions of World Order: Global Moments and Movements, 1880s-1930s, in: Sebastian CONRAD(Hg.), Competing Visions of World Order. Global moments and movements 1830s-1930s , New York 2007, S. 1-27, hier 12 f. 327 Schlussbetrachtung 327 die Durchdringung der Welt durch verschiedene Sportarten. Teile Brasili- ens, vor allen Dingen São Paulo, gehörten in den Augen der Sportpresse und von elitären Sportfunktionären zu dieser »zivilisierten« Welt und konnten sich über den Sport immer wieder als dazugehörig beweisen. Galt vor dem Ersten Weltkrieg Europa im Fußball noch als unumstritte- nes Vorbild für seine Ausübung und vor allem als überlegen, so gerieten internationale Fußballveranstaltungen danach zu einer Ausdrucksform für nationale Besonderheiten und Stärke. Anstatt eigene Stilbildungen in einer möglichst originalgetreuen Nachahmung eines britischen oder europäi- schen Fußballstils ablegen zu wollen, kehrte sich die Beziehung um: Nun ging es darum, über den Fußball als »brasilianisierte« Sportart nationale Eigenheiten zu demonstrieren. Das verstärkte sich mit einer Regionalisierung des internationalen Fuß- balls während des Ersten Weltkriegs17und einer zunehmenden Internatio- nalisierung des Fußballs nach seinem Ende. Hinweise auf europäische Ursprünge wurden von der brasilianischen Sportpresse fast als Beleidigung aufgefasst, nun betonte man eine größtmögliche Differenz zwischen dem brasilianischen und europäischen Fußball. Fußball galt inzwischen als »nationalisiert«, als brasilianisches Kulturgut. Die Erfolge südameri- kanischer Nationalmannschaften bei den Olympischen Spielen in Europa und von Vereinen, die auf Europa-Tourneen gegen europäische Klubs sieg- ten,18bewiesen seine erfolgreiche Aneignung und sogar Überlegenheit. Als Maßstab dafür galt aber für brasilianische Eliten weiterhin das lobende Wort Europas. Bei aller Betonung von Besonderheiten und Differenzierungen, blieb diese Orientierung an Europa leitend. Sportler und Sportfunktionäre aus Rio de Janeiro und São Paulo legten während der gesamten hier untersuch- ten Zeitspanne großen Wert auf eine Anerkennung des brasilianischen Fußballs durch argentinische, uruguayische und europäische Sportler und die ausländische Sportpresse. Wer gegen sie angetreten war, von ihnen Lehrstunden erhalten hatte, sogar gegen sie gesiegt hatte, wurde ehrfürchtig bewundert und galt als überlegen. Man maß sich an ihm, sobald aber ge- siegt wurde, suchte man nach Abgrenzung. Die Studie stellt nicht per se die europäische Dominanz des internatio- nalen Fußballs in Frage, die freilich über 1930 hinausreichte. Sie zeigt aber mit Blick auf die diskursiven transnationalen Bezüge ein vielschichtiges Zusammenspiel und eine wechselvolle Beziehungsgeschichte zwischen den 17 Vgl. Kapitel 4.1 der vorliegenden Studie. 18 Vgl. Kapitel 4.2 der vorliegenden Studie. 328 328 Schlussbetrachtung beiden Regionen auf, in der auch Südamerikaner eine gestalterische Rolle spielten. Sie schafften es zumindest punktuell, die europäische Dominanz im internationalen Sport in Frage zu stellen. Fußball war und ist nicht einfach ein global verbreitetes Kulturprodukt, über das sich nationale Identitäten zum Ausdruck bringen ließen. Die sehr unterschiedlichen Vereinnahmungen regionaler Eliten, von einer reformeri- schen Mittelschicht, von Arbeitern und Afro-Brasilianern, verdeutlichen, dass er dazu beitrug, unterschiedliche Identitätsvorstellungen zu formulie- ren, sie körperlich auszudrücken und gegeneinander abzugrenzen. Identi- täten wurden hier als erst in der Interaktion und in Aushandlungen konstruierte Sinnzusammenhänge und als »Praxis der Differenz« verstanden.19 Die Arbeit erweitert in zwei Punkten die Historiografie des Fußballs in Brasilien – aus nationaler und transnationaler Perspektive. Brasilianische Sportpioniere und reformerische Mittelschichtangehörige betrachteten den Fußball als ein »Zivilisierungsinstrument« für die brasilianische Bevölke- rung, die im Zuge eines sozialreformerischen Denkens auch über diesen Sport erzogen, in die Gesellschaft integriert und sogar alphabetisiert wer- den sollte. Auch wenn diese Projekte oftmals wenig konkret waren und die Umsetzung eines nationsweiten Programms sportlicher Erziehung erst unter Vargas erfolgte, so ist der diskursive Wandel in der Ersten Republik für die spätere Entwicklung und Vereinnahmung des Fußballs unter Vargas nicht zu unterschätzen. Denn bereits hier erfolgte eine starke Politisierung, die sich nicht institutionell niederschlug. Hier boten sich Vargas sowohl personell als auch diskursiv Anknüpfungspunkte.20 Sport und die mit seiner globalen Verbreitung entstehende transnationale Sportgemeinschaft spielte schon viel früher als in den 1930er-Jahren eine entscheidende Rolle für die Ausgestaltung von Identitäten. Die vorliegende Arbeit zeigt am Beispiel Brasiliens, wie konfliktreich diese Aushandlungen waren. Unterschiedliche Ansprüche auf Interpretationen nationaler Identität traten hervor und Machtbeziehungen und -asymmetrien bildeten sich ab. Es war aber nicht genuin nationale Identität, die über den Fußball bestärkt wurde. Das belegen gerade die Beispiele der Aushandlung »rassischer« und »regionaler« Identitäten über den Fußball. 19 A SSMANN , Aleida/F RIESE , Heidrun, Einleitung, in: D IES . (Hg.), Identitäten (Erinnerung, Geschichte, Identität, 3) , Frankfurt am Main 1998, S. 11-23, hier 23. 20 Zu den Anknüpfungspunkten: Vgl. M ANHÃES , Política de esportes no Brasil ; PEREIRA, Footballmania , S. 303-345. 329 Schlussbetrachtung 329 Insofern geht die Studie über bisherige Forschungsansätze hinaus und erweitert die brasilianische Fußballhistoriografie um eine transnationale Perspektive. Wie Dyreson feststellt, wäre es übereilt, den globalisierten Sport als Weltsprache anzusehen, der automatisch Kosmopolitismus her- vorbrächte. Dyreson meint aber, die Globalisierung mache es möglich, nationale Identität durch den Sport als globales Phänomen auszudrücken. Sport als Ausdrucksform, so Dyreson, würde zum globalen Phänomen, je- doch lösten sich durch ihn nationale Grenzen nicht auf.21Die Historikerin Barbara Keys kommt in ihrer grundlegenden Studie zur Globalisierung des Sports in den 1930er-Jahren in dieser Hinsicht zu einem differenzierteren Ergebnis. Ihrer Meinung nach bildete sich mit der Internationalisierung des Sports seit der Zwischenkriegszeit eine internationale Gemeinschaft heraus, die entscheidenden Einfluss auf die Ausgestaltung nationaler Identitäten hatte. Sie gelangt zu der Überzeugung, dass die Entstehung nationaler Identitäten nicht nur von innen heraus verstanden werden könne.22Die vorliegende Studie schließt an die Thesen Dyresons und Keys an, geht aber darüber hinaus: Sie zeigt, dass diese Annahmen zu stereotyp sind und zu kurz greifen. Vielmehr diente der Sport ganz unterschiedlichen Identitäts- konstruktionen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Dyreson über- sieht, dass nationale Identität nicht einfach schon vorhanden war und gleichsam selbstverständlich auf internationalen Sportveranstaltungen inszeniert und aufgeführt wurde. Die Studie zeigt: Es wäre zu vereinfacht, anzunehmen, Sport habe ent- weder Differenzen aufgehoben oder überwunden, sei es hinsichtlich Rassis- men, regionaler Ungleichheiten oder nationaler Differenzierungen. Auf der anderen Seite wäre es zu vereinfachend davon auszugehen, Fußball in seiner Verbreitung hätte ausschließlich dem globalen Vergleich nationaler Stärke gedient. In diesem hier aufgespannten Feld sind Differenzierungen vorzunehmen. In der vorliegenden Studie geschieht das anhand von drei Dimensionen, die zeigen, dass die Globalisierung des Fußballs standardi- sierend, aber auch differenzierend wirken konnte und dass diese Differenzierungen Machtasymmetrien abbildeten, sie sogar verstärken und hervorbringen konnten. Die transnationale Sportpresse hatte daran in ihrer Funktion als Medium der »Sinnstiftung« des Sports einen entscheidenden Anteil. Die Arbeit leistet auch einen Beitrag zur Beziehungsgeschichte zwischen Brasilien und Europa und zu den Süd-Süd-Beziehungen in Südamerika. 21 D YRESON , Globalizing the Nation-Making Process, S. 93. 22 Keys, Globalizing Sport , S. 189. 330 330 Schlussbetrachtung Fußball war nicht einfach eine Sphäre, in der sich die politischen und kultu- rellen Beziehungen zwischen den Regionen abbildeten. Er war für sich selbst bedeutend für die Beziehungen in seinen vielseitigen Funktionen, die über ihn als simples Spiel hinausgehen. Zusammenfassend sollte der Ein- fluss südamerikanischer Akteure in der sich Anfang des 20. Jahrhunderts herausbildenden transnationalen Sportgemeinschaft nicht unterschätzt werden. Gerade in den diskursiven Auseinandersetzungen in der Presse und während internationaler Begegnungen gestalteten südamerikanische Ak- teure in den 1920er-Jahren die internationalen Sportbeziehungen mit – und zwar zu einem Zeitpunkt, als die Position der FIFA und des IOC in den internationalen Sportbeziehungen noch schwach war.23Die zu Beginn zitierten Aussagen zur heutigen Globalität des Sports missachten die Geschichte der internationalen Sportbeziehungen, an denen immer schon Akteure aus nicht-europäischen Regionen teilnahmen und diese gar aktiv mitgestalteten. 23 K EYS , Globalizing Sport , S. 43.
331
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
I. A RCHIVALIEN Arquivo Municipal Washington Luís, São Paulo Nachlass Armando Prado, Caixa 1, Subsérie »Esportes« und Caixa 3, Grupo: Particular XIX, Armando Prado, Grupo: Atividade Profissional Arquivo Nacional, Rio de Janeiro Polizeiakten GIFI 6 C 367 (»Sociedades Carnavalescas durante o anno de 1912«) GIFI 6 C 365 GIFI 6 C 368 GIFI C 432 Série Justiça IJ6 597 Série Justiça IJ6 645 (Sociedades-Clubs-Grupos etc. 1918) Nachlass von Afonso Vasconselos Varzea, codigo do fundo: IW Arquivo Público do Estado de São Paulo, São Paulo Sociedade Civil nº 440 A Sociedade Civil nº 452 Biblioteca Histórica do Itamaraty (Ministério das Relações Exteriores), Rio de Janeiro Nummerierte Bände mit Korrespondenz zwischen brasilianischem Außenministe- rium und Botschaft in Buenos Aires Nummerierte Bände mit Korrespondenz zwischen brasilianischem Außenministe- rium und Botschaft in Montevideo 640.6341(44) Football Uruguai 17.677 540.631 Jogos Olympicos 29.576 Clube Atlético Paulistano, São Paulo Album 1901-1904 Album 1920 Album 1922, Vol. I-III Alben 1923, Vol. I-II Alben »Excursão à Europa«, 1925, Vol. I-II Alben 1925, Vol. I-III »Atas da Diretoria«, 1916-1927 Club Athletico Paulistano: um clube que cresceu com a cidade , São Paulo 1970 332 332 Quellen- und Literaturverzeichnis Esporte Clube Pinheiros, Centro de Memória, São Paulo 25 Jahre Sport Club Germania, 1899-1924 30 Jahre Sport-Club Germania. São Paulo, 7. September 1899-1929 Esporte Clube Pinheiros , Albúm do Centenário, 1899-1999 Sport-Club Germania, São Paulo, Satzungen. Angenommen in der General- Versammlung vom 10. Dezember 1904, São Paulo 1905 Fluminense Football Club, Rio de Janeiro Album »Campeonato Sul-Americano e Olympiadas de 1922. Realizados no Brasil. Campeões Brasileiros« Alben »Internacionaes«, 1912, 1914 und 1916-1922 Alben »F. F.C.«, 1902-1925 (10 Vol.) Album »Centenário de Independência«, 1922 Album, 3° Campeonato Sul-Americano »A Exposição de 1922, Orgão da Commissão Organizadora«, Nos 3-4, Setembro, MCMXXII IXe Olympiade Amsterdam 1928, Rapport Officiel Instituto de Estudos Brasileiros, São Paulo CPJ Pacote 32 29, Pasta: »Notas para o livro ›História dos Esportes em São Paulo‹« CPJ Pacote 32 40, Pasta »Notas para o livro ›História dos Esportes em São Paulo‹« Instituto Martius Staden, São Paulo G IV f, n° 10/2 G IV, n° 19/137 G IV f, n° 19/18 II. 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353
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
S PORTINSTITUTIONEN ACE Associação dos Chronistas Esportivos (Verband der Sportjournalisten) ACM Associação Cristã dos Moços AMEA Associação Metropolitana de Esportes Athléticos, Rio de Janeiro (ab 1924) APSA Associação Paulista de Sports Athléticos, São Paulo (1913- 1936 [ab 1917: APEA=Associação Paulista de Esportes Atléticos]) CBD Confederação Brasileira de Desportes FA Football Association FFFA Fédération Française de Football Association FIFA Fédération Internationale de Football Association IOC International Olympic Comittee LAF Liga dos Amadores de Futebol, São Paulo (1926-1929) Liga Metropolitana Liga Metropolitana de Sports Athléticos, Rio de Janeiro (ab 1905) LPF Liga Paulista de Football, São Paulo (1901-1917) YMCA Young Men's Christian Association Z EITUNGEN UND Z EITSCHRIFTEN OESP O Estado de São Paulo, São Paulo SSOI Supplemento Sportivo D’O Imparcial, Rio de Janeiro HAHR Hispanic American Historical Review NPL Neue Politische Literatur A RCHIVE CAP Clube Atlético Paulistano, São Paulo FFC Fluminense Football Club, Rio de Janeiro ECP Esporte Clube Pinheiros, São Paulo IMS Instituto Martius Staden, São Paulo APESP Arquivo Público do Estado de São Paulo RjBHI Biblioteca Histórica do Itamaraty (Ministério das Relações Exteriores), Rio de Janeiro SpUEB Instituto de Estudos Brasileiros, Universidade de São Paulo 354
355
ORTS-, PERSONEN- UND SACHREGISTER
A Alliança Foot-Ball Club, Rio de Janeiro 93 Amateurethos 28, 39, 45, 54–70, 87, 90, 110, 118, 257, 261 »Nationalisierung« in Brasilien 63– 70 Haltung der FIFA zum Amateurethos 58, 111 Haltung des IOC zum Amateurethos 58, 111 im globalen Kontext 55–63 América, Fußballklub Rio de Janeiro 200 Amsterdam 13, 275 Olympische Spiele 15, 90, 263, 266 Andahary, Fußballklub Rio de Janeiro 200 Andrada e Silva, Mario 301 Andrade, José Leandro, afro- uruguayischer Fußballspieler 145, 236–37, 286–89 Andrade, Luiz Lopes de 301 Andrade, Oswald de 294, 308 Antwerpen (Olympische Spiele) 204, 219, 223, 229, 234 Argentinien 11, 39, 46, 59, 69, 75–76, 85, 109, 138, 145, 150, 175, 176, 186, 194–95, 204–11, 232, 238, 239– 64, 270, 272–76 Argentino, São Paulo 140–42, 149, 152, 160, 172 Asociación del Fútbol Argentino 249 Associação Athletica do Rio, Rio de Janeiro 93 Associação Atlética Palmeiras 132 Associação de Amadores , Argentinien 209 Associação dos Chronistas Esportivos 73, 87, 106, 205 Associação Metropolitana de Esportes Athléticos 134 Associação Paulista de Esportes Atléticos 85, 89, 94, 96, 100, 133, 140, 143, 149, 152, 195, 204, 219, 262 Associação Paulista de Sports Athléticos 90, 96, 133, 189, 190 Associação Portuguesa de Desportos, São Paulo 94 Azevedo, Fernando de 72–73, 75 B Bangú Athletic Club 52, 53, 90, 124, 157, 164, 168–70 Barão do Rio Branco (José Maria da Silva Paranhos Júnior) 241, 243 Barbosa, Ruy 295 Baroli, Pietro 190 Basketball 184 Belgien 138, 197–204, 266, 277 Bilac, Olavo 121, 244 Boca Juniors 278 Bolivien 270 Bordeaux 280, 305 356 356 Orts-, Personen- und Sachregister Botafogo 52, 93, 144, 183, 200, 238 Buenos Aires 76, 141, 185, 208, 238, 240, 242, 244, 246, 249–51, 254, 263, 273 C C.A. Paulistano 40, 41, 47, 67–68, 114, 132, 141, 160, 161, 167, 185, 190, 204–5, 210 Europareise des C.A. Paulistano 276–312 Caldeira, Clodoaldo 301 Campeonato Sul-Americano 46, 160, 196, 201, 229, 310 Campeonato von 1916 246 Campeonato von 1917 145 Campeonato von 1918 88 Campeonato von 1919 138, 157, 160–61, 197, 247, 286, 311 Campeonato von 1920 205, 207–11, 249 Campeonato von 1921 251 Campeonato von 1922 216, 222, 253, 259 Campeonato von 1923 162 Cardim, Mário 72, 75–79, 183, 185, 190, 194, 195, 261 Chaves, Edu 279 Chile 204–10, 219, 249, 258–60, 267, 298, 303–4 Club Nacional de Football 69, 278, 287, 290 Clube Atlético Ypiranga, São Paulo 94, 132, 161 clubes de várzea siehe futebol de várzea Coelho Netto, Henrique 85, 88 Commercio Foot-Ball Club, Rio de Janeiro 93 Companhia Progresso Industrial Bangú 53, 170 Confederação Brasileira de Desportos 73, 111–13, 160, 161, 162, 164, 193, 195–96, 208–11, 216–19, 222, 246, 251, 260–61, 264, 272, 307, 310–11 Congresso de Futebol von 1921 208 Corinthian F.C., Großbritannien 95, 233, 243 Corrêa, Floriano Peixoto 90, 113–16 Costa, Oscar 264 Coubertin, Pierre de 26, 58, 66, 199, 234, 245, 279 Cox, Oscar 51–52 Crespi Football Club, São Paulo 94 Cricket 183 D Delaunay, Henri 269, 280, 296 Deutschland 32, 114, 234, 277, 278, 282, 307 Dom João VI. 183 Dom Pedro II. 178, 183 E E.C. Pinheiros 41 embranquecimento 46, 122, 130–32, 140, 147, 150, 151, 169, 173, 191, 252, 288, 319–20 357 Orts-, Personen- und Sachregister 357 Epaminondas, afro-brasilianischer Fußballspieler, Nachname unbekannt 164, 211, 251 Erster Weltkrieg 13, 15, 25, 36, 55, 58, 63, 65, 80, 82, 107–9, 118, 121, 139, 154–56, 159, 175, 176, 185, 194, 199–202, 229, 231–32, 233–37, 244, 268, 279, 292, 299, 305, 311, 321, 323, 327 Estudiantes, Buenos Aires 141 Exeter City 55, 69, 186–89, 233 F Fausto, vollständiger Name Fausto dos Santos 272 Federação Argentina 209 Federação Brasileira de Futebol 195, 208 Federação Brasileira dos Esportes 195 Fédération Française de Football Association 278, 282 Fédération Internationale de Football Association 13–16, 26–27, 42, 44, 58, 109, 111–13, 119, 133, 193–96, 234–35, 261, 264–65, 267–69, 274– 75, 277, 279, 299, 305, 310, 311, 313, 314–15, 326, 330 Figueiredo, Antônio 64–66, 70, 73, 75, 83, 225–26, 229 Filho, Mário 33, 34, 116, 122–24, 131, 135, 164, 333 Flamengo 167, 183, 200 Fluminense F. C. 41, 68, 73, 88, 109, 113, 115, 124, 165–68, 183, 186–87, 197, 200, 204–6, 243, 258, 307 Fonseca, Luiz 190 Football Association 13, 15, 26, 44, 50, 51, 55, 58, 75, 115, 183, 187, 239, 243–44, 299 Frankreich 35, 47, 70, 83, 138, 154, 244–45, 266, 271, 276–309, 276, 325 Freyre, Gilberto 123, 125, 128, 130, 131, 257 Friedenreich, Arthur 34, 49, 94, 159, 160–64, 237, 255, 260, 277, 286, 289, 295, 301 Fußballweltmeisterschaft Brasilien 1950 131, 161, 315 Brasilien 2014 313 Südafrika 2010 313 Uruguay 1930 15, 160, 264, 265–76, 316 futebol de várzea 91–109, 150 G Germania, Hamburger Sportklub 51, 114 globales Bewusstsein 13, 15, 142, 310, 326 Globalisierung 15–16, 19–26, 60, 172, 201, 264, 316, 323, 326, 329–30 Gradín, Isabelino, afro-uruguayischer Fußballspieler 145–46, 164, 167–68, 287 Großbritannien 16–17, 19, 32, 51–58, 69–70, 80, 103, 109, 116, 234, 245, 282, 307 England 50–58, 83, 114–15, 137, 154, 244, 277, 298 Guia, Domingos Antônio da 128 358 358 Orts-, Personen- und Sachregister Guimarães Filho, Luis 250, 253–54, 257 H Huracán 272 I Inter-Alliierte Spiele 1919 65, 167, 171, 232 Internacional Football Club, Rio de Janeiro 93 International Olympic Comittee 26, 58, 109, 111–13, 133, 204, 217–19, 235, 269, 330 Italien 30, 80, 95, 97, 135, 149, 152, 181, 184, 189–93, 269, 277, 295, 297, 306 J Jugoslawien 266, 270, 271 K Kuntz Filho, Julio 207, 301 L Lagreca, Sylvio 69 Latinité 262, 295–300, 312, 325 Líbero, Casper 27, 40 Liga dos Amadores de Futebol 161, 261 Liga Metropolitana 52, 87, 92, 134, 144, 148–49, 195, 204–5, 208–10, 218, 219, 258 Liga Paulista de Football 52, 79, 105, 132–33, 141, 143, 147, 163, 189, 195 Lima Barreto, Afonso Henriques de 83–84, 89 Lima Sobrinho, Alexandre Barbosa 85–90 Lobo, Hélio 272–75 London 57, 100, 212, 314 London Bank 50 Luís, Washington 76, 104, 107, 205, 220, 224, 277 M Machado de Assis, Joaquim Maria 129 Mackenzie College 52, 64, 114, 132, 161, 184, 185, 238, 301 Mangabeira, Octávio 272–75 Mangueira, Rio de Janeiro 104 Manteiga , Fußballspieler, realer Name Muniz, Antônio 146, 164–71, 211, 251 Mendonça, Carlos Süssekind de 83–90 Mendonça, Marcos 67 Mexiko 254 Milano, Giuseppe 190 Miller, Charles 51–52 Misasi, Enrico 190 miscigenação 129, 130, 131, 139, 156, 163, 173 Montevideo 13, 15, 68, 76, 211, 248– 50, 254, 260, 263, 269, 272–75, 283, 306, 331 Montu, Carlo 190 Motta, Epaminondas 301 Müller, Lauro 246, 247, 249, 257 N Nabuco, Joaquim 237 New York 100, 303 Nizza 280 O Olympische Spiele 359 Orts-, Personen- und Sachregister 359 regionale von 1922 in Lateinamerika 217–19 von 1920 in Antwerpen 204, 219, 223, 229, 234 von 1924 in Paris 15, 232–34, 236, 277, 278, 280, 324–25 von 1928 in Amsterdam 15, 90, 263, 266 von 1932 in Los Angeles 264 Orlando, uruguayischer Fußballspieler, gesamter Name unbekannt 145 Österreich 278 P Pacheco Chaves Company 301 Pacheco, Renato 264, 272 Palestra Itália 79–80, 94, 141, 149, 193 Paris 26, 100, 102, 184, 231, 236, 276– 80, 284, 289, 292–95, 302, 304–7 Olympische Spiele 232–34, 236, 278, 324, 325 Patuska, Araken 301 Payssandu Cricket Club 52, 183 Peñarol 283 Pfefferkorn, Maurice 290, 295–97 Pferderennen 70, 183, 184 Picchia, Menotti Del 138–39 Portugal 47, 277–78, 282, 307 Prado, Almeida 190 Prado, Antônio 61, 301 Prado, Antônio Júnior 61–62, 67, 75, 185, 217, 238, 278–83, 290, 301–9, 311 Profi-Fußball 109–17 Professionalisierung 61, 83, 123, 127, 262 Professionalismus 82, 258 Pró-Vercelli, São Paulo 152 Pujol, Ernesto Filho 301 R Radrennfahren 183, 185 Rassismus 120–73, 319–21 Rassismus im Fußball und Mário Filho 122–32 Rassistische Exklusionen in Fußballklubs, Rio de Janeiro und São Paulo 132–39 und »Rasse«-Diskurse im Fußball 139–60 und afro-brasilianische Spieler 160– 73, 252, 288 und regionale Identität in São Paulo 176, 211, 225, 291 Riachuelo Foot-Ball Club, Rio de Janeiro 93 Rimet, Jules 277, 279, 296 Rio Branco, Barão do (José Maria da Silva Paranhos Júnior) 237–39 Rio Branco, Raul Paranhos do 279, 305 Romano, Ángel, uruguayischer Fußballspieler 68, 145, 286 Root, Elihu 237 Rudern 183 Rugby 51, 184, 244, 290 Rumänien 266 Ruth, Babe 288 360 360 Orts-, Personen- und Sachregister S S.C. Corinthians, São Paulo 94, 95, 133, 150 S.C. Germânia 41, 51, 52, 79, 80, 114 Sant’Anna, Leopoldo 75, 89, 97, 224– 26, 229, 254–55, 267 Santiago de Chile 250, 254 Santos 248, 307 Santos Dumont, Alberto 231, 279, 295 Santos, Fausto dos 160 São Christóvão 211, 251 São Paulo Athlétic 51, 114 São Paulo da Floresta 94 São Paulo Railway 50 São Paulo Railway Cricket Club 51 Schweiz 47, 160, 277–80, 297, 305, 325 Sète 280 South Africa F. C., São Paulo 95 Souza Dantas, Luís Martins de 281, 294, 302, 305 Spanien 89, 160, 269, 277, 278, 282, 295 Sport Club Amazonas, Rio de Janeiro 93 Sport Club Idéal, São Paulo 141 sportsman 39, 49–70, 77, 87, 105, 133, 136, 139, 157, 162, 173, 198, 199, 203, 205, 206, 226, 238 Stade Français 280 Straßburg 280, 305 Südafrika 146, 235, 241, 313, 314 T Taça Ioduran 204 Taça Julio Roca 246 Terra Nova Foot-Ball Club, Rio de Janeiro 93 Thorpe, Jim 288 Torino F.C. 189–93 Transnational 24, 39, 236 Transnationale Geschichte 24–26, 24, 32, 39 Transnationale Organisationen 26, 27, 194 Transnationalität 15, 27, 83, 326 U Ungarn 278 União Brasil, São Paulo 152 União Lapa, São Paulo 152 Uruguay 13, 15, 39, 46–47, 68, 69, 75– 77, 108, 109, 138, 145–46, 150, 160, 167–68, 170–71, 175, 177, 191, 194, 195, 204–11, 218, 232–76, 276–309, 311, 315–16, 323–25 USA 32, 42, 64–65, 72, 83, 116, 118, 125–27, 129, 138, 167, 170, 184, 199, 231, 236, 237–39, 249, 263–64, 287–88 V Vanordem, Henrique 190 Vargas, Getúlio 16, 35–37, 45, 53, 77, 117–18, 123, 127, 176, 316, 321, 328 Varzea, Afonso 58, 115–17 Varzea, Paulo 75, 90, 115 Vasco da Gama 98, 104, 109, 110, 124, 128, 134–35, 160, 170, 183, 134–35 Vereinte Nationen 264 Vilela, Mauricio 301 361 Orts-, Personen- und Sachregister 361 Villa Isabel, Rio de Janeiro 200 Villa Lobos, Heitor 295 W Waleffe, Maurice de 298 Y Young Men's Christian Association 65, 217 Z Zamith, Álvaro 195 Zino, Alfredo Palácio 248 Zivilisierung 24, 46, 56, 70, 78, 93, 139, 299