OATbyCO


: Regieren an der Peripherie

Regieren an der Peripherie

Amerika zwischen Kolonien und unabhängigen Republiken

Inhalt

7 STEFAN RINKE / LASSE HÖLCK / MÓNIKA CONTRERAS SAIZ \n

REGIEREN IN DEN GRENZREGIONEN LATEINAMERIKAS ZWISCHEN KOLONIE UND REPUBLIK: EINE EINLEITUNG

Begrenzte Staatlichkeit ist eine Konstante in der Geschichte Lateinamerikas von der Kolonialzeit bis in die Gegenwart. Ob Spanier und Portugiesen die für sie neue Welt unter sich aufteilten, ohne zu wissen, um was es sich dabei genau handelte, oder ob manche Staaten ihr nationales Territorium auf Landkarten stolz präsentierten, ohne dass sie es tatsächlich noch - oder schon – kontrollierten, stets klafften Anspruch und Wirklichkeit von Herrschaft in der Region weit auseinander. Das galt auch für die Umbruchszeit von 1750-1850 mit ihren kolonialen und ab 1826 postkolonialen Konstellationen. Durch die Schwäche der spanischen und portugiesischen Krone, die insbesondere in den vielfältigen internationalen Verwicklungen und Kriegen der napoleonischen Ära deutlich wurde, sowie durch die ohnehin nur unzureichende Durchdringung und Beherrschung weiter Teile des amerikanischen Hinterlands, der so genannten Grenzgebiete, bestanden externe und interne Herrschaftsdefizite, die dann zum einen die Unabhängigkeitsrevolutionen verursachten, sie zum anderen aber auch entscheidend prägten und ihre Ergebnisse mitbestimmten. 1 Eine effektive Herrschaft war daher in weiten Gebieten der iberischen Kolonialreiche nicht vorhanden. Die Fähigkeit, politische Entscheidungen in den Kolonien durchzusetzen, war nur phasenweise und räumlich punktuell so stark, dass man von einem herrschaftlichen Gewaltmonopol sprechen kann. Bei der Untersuchung dieser Grenzgebiete ist es deshalb angebracht, von der Perspektive auf den Staat als „Produzenten der Vorstellungen und Realität befestigter und verwalteter Landesgrenzen“ 2 abzurücken und gleichzeitig die 1 Stefan Rinke: Revolutionen in Lateinamerika: Wege in die Unabhängigkeit, 1760-1830. München 2010. 2 Hans Medick: Grenzziehungen und die Herstellung des politisch ‐ sozialen Raumes. Zur Begriffsgeschichte und politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der Frühen Neuzeit. In: Richard Faber (Hrsg.): Literatur der Grenze – Theorie der Grenze. Würzburg 1995, S. 211‐224. 8 8 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz Grenzregionen als Räume wechselseitiger ethnischer und kultureller Begegnung und Durchdringung zu beschreiben, wie es die jüngsten Studien zur Frontier fordern. 3 Im Vergleich mit den Kerngebieten kolonialer und später nationaler Verwaltungen, etwa dem Hochtal von Mexiko oder dem zentralen Andenraum, zeichneten sich diese Randgebiete durch einen kontinuierlich hohen Gewaltpegel aus, der sich durch die gesamte Kolonialzeit und bis ans Ende des 19. Jahrhundert zog. 4 Am Beispiel Brasiliens konnte jüngst gezeigt werden, dass die ethnischen Gegensätze sich unter anderem in unvereinbaren Konzepten der Territorialisierung manifestieren und eine der Hauptursachen für die Entstehung gewalttätiger Konflikte in kulturell heterogenen Grenzregionen darstellten. 5 Die Wahrnehmung der unabhängigen indigenen Bevölkerung an den Rändern des beanspruchten brasilianischen Herrschaftsgebietes wandelte sich dabei paradoxerweise von ihrer Rolle als „Grenzwächter“ gegenüber anderen Kolonialmächten hin zu einer Bedrohung für die Unverletzlichkeit der Nationalgrenzen. 6 Die Kontrolle der (indigenen) Grenzbevölkerungen wurde somit graduell zu einer immer bedeutenderen Aufgabe, die sich die Regierungen stellten und sie nach Möglichkeiten einer Einbeziehung dieser Gruppen suchen ließ. David J. Weber hat zuletzt das „aufgeklärte“ Verhältnis des bourbonischen Spanien zur indigenen Bevölkerung in den Grenzregionen des iberischen Überseereiches untersucht und dabei festgestellt, dass das alte Bild einer spanischen Kolonialmacht, die im Gegensatz zu England und Frankreich nicht auf Handelsbeziehungen und Allianzen, sondern allein auf Massenkonversion und territoriale Eroberung setzte, nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. 7 Seit Beginn 3 Michael Riekenberg: Zum Konzept des Grenzlandes In: Markus Bieswanger (Hrsg.): Abgrenzen oder Entgrenzen. Zur Produktivität von Grenzen, Frankfurt am Main 2003, S. 131- 147. 4 Wolfgang Gabbert: Koloniale und Post-Koloniale Gewalt: Die indigene Bevölkerung Lateinamerikas. 1492-1870. In: Friedrich Edelmayer, Bernd Hausberger, Barbara Potthast (Hrsg.): Lateinamerika 1492 - 1850/70. Wien 2005, S. 79–95. 5 Hal Langfur: The forbidden lands: colonial identity, frontier violence, and the persistence of Brazil's Eastern Indians, 1750 – 1830. Stanford 2006; Aracy Lopes da Silva Aracy: Dois Séculos e Meio de História Xavante. In: Cunha, Manuela Carneiro da; Salzano, Francisco M. (Hrsg.): História dos índios no Brasil. São Paulo 2006, S. 357–378.2006; Mary Karasch: Interethnic Conflict and Resistance on the Brazilian Frontier. In: Donna J. Guy und Thomas E. Sheridan (Hrsg.): Contested Ground: Comparative Frontiers on the Northern and Southern Edges of the Spanish Empire. Tucson 1998, S.115-134. 6 Manuela Carneiro da Cunha: Introdução a uma história indígena. In: Manuela Carneiro da Cunha und Salzano, Francisco M. Salzano (Hrsg.): História dos índios no Brasil. São Paulo 2006, S. 9–24, hier S. 17. 7 David J. Weber: Bárbaros: Spaniards and Their Savages in the Age of Enlightenment. London 2005. 9 Einleitung 9 der Regentschaft Karl III. (1759-1788) beabsichtigte die spanische Krone mit den so genannten bourbonischen Reformen eine effektivere Verwaltung der Kolonien zu erreichen. Diejenigen Körperschaften, die staatliche Funktionen ausübten und damit dem administrativen Ideal eines „aufgeklärten Absolutismus“ im Wege standen, sollten aufgelöst oder zumindest geschwächt werden. Die spektakulärste Maßnahme der spanischen Krone stellte in diesem Zusammenhang die Ausweisung des Jesuitenordens aus den spanischen Besitzungen im Jahre 1767 dar. Davon waren auch die Missionen in Sonora und in der Mapuche-Region im Süden Chiles betroffen, Regionen, die aufgrund des hartnäckigen Widerstands der dort lebenden indigenen Bevölkerung als Paradebeispiel der Grenze gelten. Das entstandene Machtvakuum schuf eine völlig veränderte politische Situation in den Regionen und machte eine Suche nach neuen Formen des Regierens notwendig. Um Regierungsformen in kulturell heterogenen Grenzregionen methodisch zu erfassen, bietet es sich an, die jüngsten Ergebnisse der politikwissenschaftlichen Governance- Debatte für die historische Forschung fruchtbar zu machen. Das Governance- Konzept fokussiert das „Gesamt aller nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte“, worunter Mechanismen gemeinschaftlicher Selbstregulierung und verschiedene Formen eines Zusammenwirkens staatlicher und nicht- staatlicher Akteure ebenso zu fassen sind wie das hoheitliche Handeln von staatlichen Akteuren selbst. 8 Da dieses Konzept vor allem für die Analyse von Regierungsprozessen in den OECD- Ländern entwickelt wurde, hat sich eine daran anschließende Forschung der Aufgabe gewidmet, speziell nach dessen Übertragbarkeit auf „Räume begrenzter Staatlichkeit“ zu fragen. 9 Die ersten Ergebnisse dieser Debatte verfeinerten die Definition der Regierungsprozesse als „institutionalisierte Modi der sozialen Handlungskoordination, die auf die Herstellung und Implementierung kollektiv verbindlicher Regelungen bzw. auf die Bereitstellung kollektiver Güter für eine bestimmte soziale Gruppe abzielen“. 10 Mit dieser Definition rückt die Untersuchung der Regierungsprozesse von einer Konzentration auf den Staat als Hauptakteur weiter ab und bietet ein 8 Renate Mayntz: Governance im modernen Staat. In: Arthur Benz (Hrsg.): Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen. Wiesbaden 2004, S. 65-76. 9 Thomas Risse: Regieren in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Zur „Reisefähigkeit“ des Governance-Konzeptes, SFB-Governance Working Paper Series, Nr. 5, DFG Sonderforschungsbereich 700, Berlin April 2007. 10 Sonderforschungsbereich 700: Grundbegriffe der Governanceforschung, SFB- Governance Working Paper Series, Nr. 8, DFG Sonderforschungsbereich 700, Berlin Juni 2009. 10 10 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz heuristisches Werkzeug an, um die komplexen Akteurskonstellationen kolonialer und frührepublikanischer Regierungsweisen an den Grenzgebieten Lateinamerikas zu erfassen. 11 Sie ermöglicht zudem, die notwendigen Aushandlungsprozesse, die ein Zusammenleben im kulturell heterogenen Raum mit sich bringt, als Alternativen zu Herrschaftsverhältnissen zu betrachten, die eine Unterordnung der „beherrschten“ Bevölkerung voraussetzen. Der Begriff des „Regierens“ wird damit seiner hierarchischen Konnotation entkleidet und soll in diesem Band als ein Vorgang verstanden werden, über den möglichen Konflikten vorgebeugt, bestehende Konflikte gelöst und damit ein Zusammenleben im kulturell heterogenen Raum ermöglicht werden kann. Mit dem Schwerpunkt auf die Legitimitätsdefizite lateinamerikanischer Regierungen in ihren peripheren Gebieten soll in diesem Band durch eine Untersuchung der Bedeutung kultureller Heterogenität dieser Regionen, in denen hoheitliches Handeln seitens der Zentralregierung als Fremdherrschaft wahrgenommen und meist abgelehnt wurde, sowie des Systembruchs zwischen kolonialer und republikanischer Regierungsweise ein Beitrag zu dieser Debatte geleistet werden. Dabei wird der Tatsache Rechnung getragen, dass auch die Analyse von Übergangs- Phasen nicht ohne Berücksichtigung ihrer historischen Ausgangslagen geleistet werden kann und schließlich ebenso danach zu fragen ist, welche langfristigen Bedeutungen diese für die weitere historische Entwicklung haben. Die Beiträge dieses Bandes decken daher einen breiten zeitlichen Rahmen ab, beginnend mit den nahezu zeitlosen Umweltbedingungen, die als physische Basis das menschliche Miteinander bedingen (Cynthia Radding) und dem frühen Prozess der Kolonisierung, die von der Kontaktaufnahme zwischen den autochthonen Gesellschaften und den Vertretern der Kolonialmacht geprägt sind (Lasse Hölck). Die Bourbonischen Reformen stellen für sich genommen bereits eine Transition innerhalb des kolonialen Regierungssystems dar, wenngleich sich diese auf die Regierungsprogramme und - weisen beschränkten. Die politischen Reformmaßnahmen der französischen Dynastie auf dem spanischen Thron riefen ebenso den Widerstand der kreolischen wie der indigenen Eliten in den kolonialen Kernzonen Lateinamerikas hervor, da sie deren politische Mittlerrolle zwischen Krone und Kolonialbevölkerung durch die Schaffung neuer, direkt der Krone unterstehender Beamter (Intendanten) zu umgehen 11 Für eine Anwendung des Governance- Konzeptes auf die Regierungsweisen im Kontext der französischen und britischen Kolonien siehe: Dominik Nagl, Marion Stange 2009: Staatlichkeit und Governance im Zeitalter der europäischen Expansion. SFB-Governance Working Paper Series, Nr. 19, DFG-Sonderforschungsbereich 700, Berlin, Februar. 11 Einleitung 11 trachteten 12 Tributpflichtige indigene Gemeinschaften hatten zudem höhere und teils neue Steuerabgaben zu leisten, was sie in Opposition zu den Agenten des politischen Wandels brachte. 13 Der Versuch der Krone, die Kolonien enger an das Mutterland zu binden, wurde damit paradoxerweise zu einer Ursache der folgenden Unabhängigkeitsbewegung. Die Bourbonischen Reformen brachten ebenfalls neue Regierungsmaximen in die Grenzregion des südlichen Chile, ein Themenkomplex, der im Beitrag von Mónika Contreras in diesem Band behandelt wird. Die Loslösung vom „Mutterland“ sorgte für einen konstitutionellen Bruch in den lateinamerikanischen Ländern. Waren bislang der spanische König und die königlichen Beamten die Referenz gewesen, mit der das Regieren auf lokaler Ebene gerechtfertigt wurde, suchte man nun nach Formen, Governance „von unten“ her, d. h. durch die Mobilisierung der mehrheitlich indigenen und mestizischen Bevölkerung, zu rechtfertigen. Unter der Oberfläche neuer republikanischer Staatlichkeit, die von europäischen und nordamerikanischen Vorbildern inspiriert und insbesondere durch die regelmäßige Durchführung von Wahlen gekennzeichnet war 14 , blieben jedoch alte Partizipationsformen erhalten oder bildeten sich in Vermischung mit neuen zu hybriden Formen heraus. 15 Auch in den Grenzregionen versuchten lokale Potentaten zunehmend, die Unterstützung indigener und anderer Bevölkerungsgruppen für ihre politischen Programme zu gewinnen, die zuvor nicht an den Regierungsprozessen beteiligt worden waren. Die durch den Systembruch der Unabhängigkeit entstehenden Konflikte zwischen den Mapuche und der Republik Chile werden in dem Beitrag von Jorge Pinto analysiert. Das Konfliktpotential, das der Spagat zwischen Beibehaltung eingeübter sozialer Kooperationsformen der Kolonialzeit und der Einführung neuer, republikanischer Repräsentationsformen barg, beschränkte sich mithin nicht nur auf das Verhältnis zwischen den verschiedenen Ethnien, die die neu entstandenen Staaten bewohnten. Der 12 Nancy Marguerite Farriss: Maya society under colonial rule: the collective enterprise of survival. Princeton 1984, S. 356-366; Luis M. Glave: The "Republic of Indians" in Revolt (c. 1680-1780). In: Frank Salomon und Stuart B. Schwartz (Hrsg.): The Cambridge history of the native peoples of the Americas. Cambridge 1999, S. 541 sowie S. 552-554. 13 Murdo J. MacLeod: Mesoamerica since the Spanish Invasion: An Overview. In: Richard W. Adams und Murdo J. MacLeod (Hrsg.): The Cambridge History of the Native Peoples of the Americas. Bd. II, Teil 2. Cambridge 2000, S. 21 14 Antonio Annino (Hrsg.): Historia de las Elecciones en Iberoamerica, s° XIX. Buenos Aires 1995. 15 Ein Beispiel für hybride Formen sind etwa die mexikanischen pronunciamientos , die militärische Kooperationen mit plebiszitären Partizipationsformen verbanden. 12 12 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz Beitrag von Joaquin Fernandez macht darauf aufmerksam, dass die Aushandlung von Konsens über institutionalisierte Repräsentationsformen auch in überwiegend mestizischen Siedlungszentren für sozialen Sprengstoff sorgen konnte. Die kulturellen Gegensätze innerhalb der Territorien lateinamerikanischer Staaten blieben jedoch über das gesamte 19. Jahrhundert und darüber hinaus ein Brennpunkt, an dem sich die gewalttätigsten Konflikte der lateinamerikanischen Geschichte entzündeten. Ein Beispiel dafür sind etwa die Kastenkriege im mexikanischen Yucatan. In dem abschließenden Beitrag von Justo Flores wird aufgezeigt, dass die Durchsetzung staatlicher Regierungsprogramme im postrevolutionären Mexiko auf ganz ähnliche Schwierigkeiten stieß wie zur Zeit der kolonialen und frührepublikanischen Regierungen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes nähern sich dieser Problematik aus unterschiedlichen Blickwinkeln an. Gemeinsam ist ihnen der vergleichende mikrohistorische Blick, der die Mechanismen der Einbeziehung und deren kulturelle Voraussetzungen auf lokaler Ebene analysiert und dabei insbesondere auch nach dem Einfluss der Vorstellungen lokaler bzw. indigener Bevölkerungsteile von politischer Partizipation fragen. Zu den zentralen Fragestellungen, die die Autorinnen und Autoren dieses Bandes im Folgenden ansprechen, zählen: Welche Probleme ergaben sich beim Regieren in einem kulturell heterogenen Raum? Welche Akteure agierten auf regionaler Ebene, um die Vorgaben der Regierungen umzusetzen? Welche Mechanismen der Einbeziehung wurden aus der Kolonialzeit übernommen und welche waren wirklich „neu“? Welche Unterschiede und Entsprechungen ergeben sich aus einem Vergleich Mexikos mit Chile? Welche Rolle spielten transnationale Akteure und Kulturtransfer? Im Anschluss werden zunächst aus einer vergleichenden Perspektive einige Thesen hierzu formuliert, die sich auf die empirische Forschung vor Ort stützen. In der Kolonialzeit und nach der Unabhängigkeit stellte die Rekrutierung von indigenen Hilfstruppen für Expeditionen oder Festungsbesatzungen eine wichtige Form der Vergemeinschaftung von Spaniern und autochthoner Bevölkerung dar. 16 Auch während der Unabhängigkeitskriege wurden Allianzen mit den indigenen Gruppen gesucht, die oft für die Seite der königstreuen Truppen Stellung bezogen, da sie eine Veränderung ihrer kolonialzeitlichen 16 Cynthia Radding: Wandering Peoples: Colonialism, Ethnic Spaces, and Ecological Frontiers in Northwestern Mexico, 1700-1850. London 1997; Andrea Ruíz- Esquide: Los Indios Amigos en la frontera Araucana. Santiago 1993; Langfur 2006; Henry Dobyns: Military Transculturation of Northern Piman Indians, 1782-1821. In: Ethnohistory 19/4 (1972), S. 323-343. 13 Einleitung 13 Sonderrechte ablehnten. 17 Die Ergebnisse unserer Forschung zeigen, dass die militärische Kooperation einen der häufigsten Governance -Modi darstellt, mit dem über ethnische Grenzen hinweg die Regelung kollektiver Sachverhalte – etwa die Herstellung von Sicherheit – erreicht werden sollten. Die Dominanz militärischer Kooperation als Mechanismus der Einbeziehung wurde dabei einerseits durch die meist konfliktreichen interethnischen Beziehungen, andererseits aber auch durch die funktionale Äquivalenz militärischer Führung in den komparativ untersuchten indigenen und nicht- indigenen Gesellschaften bedingt. 18 Die Effektivität und Dauerhaftigkeit der Einbeziehung über personelle Bündnisse mit indigenen (Gewalt-) Akteuren variierte jedoch stark nach der sozialen Organisation und Subsistenzwirtschaftsweise der jeweiligen Ethnie. Sesshafte, agrikulturelle Gruppen konnten so über einen längeren Zeitraum einbezogen werden. Bei Jäger- und Sammlergruppen gelang diese Form der Integration nur für kurze Zeiträume, da ihre soziale Organisation keinen übergeordneten Anführer vorsah, dessen Autorität auch in Friedenszeiten erhalten blieb. Die Mobilisierung über militärische Akteure blieb ungeachtet dieser Varianz ihrer Effektivität auch nach der Unabhängigkeit ein wesentlicher Mechanismus der Einbeziehung indigener Gemeinschaften in die politischen Prozesse. Im postkolonialen Mexiko suchten beispielsweise Caudillos ihre Herrschaftsambitionen über so genannte pronunciamientos durch eine breite Unterstützung seitens der Bevölkerung zu rechtfertigen. 19 In Sonora bemühten sich die politischen Anführer des zentralistischen Lagers erfolgreich um die Gefolgschaft indigener Kollektive und konnten so einen Vorteil in den Auseinandersetzungen mit den Föderalisten erringen. 20 Einen Sonderfall stellen die Kooperationen mit den Comanche in der nordamerikanischen Prärie dar. Diese Jäger- und Sammlergruppe erlebte nach 17 Edward Holland Spicer: Cycles of Conquest. The impact of Spain, Mexico und the United States on the Indians of the Southwest, 1533-1960. Tucson 1962; Jorge Pinto: De la Inclusión a la Exclusión. La Formación del Estado, la nación y el pueblo mapuche. Santiago de Chile 2000 und in diesem Band. 18 Lasse Hölck: Los Seris Tiburones y el gobierno de Sonora. Dos casos de inclusión jurídica, 1773 y 1831. In: Regiones Periféricas y Estados nacionales. Sonderausgabe der Zeitschrift Península (CEPHCIS-UNAM), Mérida 2010, Hrsg. v. Arturo Taracena (im Druck). 19 Alfredo Avila: En nombre de la nación. La formación del gobierno representativo en México (1808-1824). México 2001; Annino 1995; Will Fowler: Mexico in the Age of Proposals, 1821–1853. Contributions in Latin American Studies, Nummer 12. Westport, Greenwood 1998. 20 Stuart F. Voss: On the periphery of nineteenth century Mexico: Sonora and Sinaloa, 1810- 1877. Tucson 1982, S. 99. 14 14 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz der kulturellen Adaption des Pferdes im frühen achtzehnten Jahrhundert einen spektakulären Aufstieg als regionale Kriegs- und Wirtschaftsmacht, die es ihr jahrzehntelang ermöglichte, den benachbarten Kolonialimperien sowie deren republikanischen Nachfolgern, den USA und Mexiko, eigene Bedingungen für friedliche Beziehungen zu diktieren. Die Dezimierung der Bisonherden durch übermäßige Ausbeutung, landschaftliche Veränderungen und, später, gezielte Ausrottung durch angloamerikanische Jäger besiegelten Mitte des 19. Jahrhunderts das Ende des Comanche „Imperiums“ 21 und verweisen auf die historische Wirkmächtigkeit kultureller Landschaften innerhalb des von Cynthia Radding in diesem Band vorgestellten Konzeptes der sozialen Ökologie. Neben dem Militär gehörten Missionare und Händler zu den wichtigsten lokalen Akteuren, die in Grenzgebieten für eine Einbeziehung der indigenen Bevölkerungen sorgen konnten und auf deren Zusammenarbeit man aufgrund des Fehlens staatlicher Akteure angewiesen war. 22 Die jüngsten Forschungsergebnisse zeigen, dass auch die Herstellung von Sicherheit und Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, in den meisten Fällen handelte es sich um die „Beruhigung“ aufständischer indigener Gruppen, nach der Unabhängigkeit wie zur Kolonialzeit vorwiegend an Missionare delegiert wurde, ohne dass jedoch diesen gegenüber Instrumente der Zwangsverpflichtung eingesetzt werden konnten. 23 Diese Form der Kontaktaufnahme funktionierte mehrheitlich bei den christianisierten indigenen Gruppen, die eine spirituelle Betreuung auch direkt vom Staat einforderten und in denen die Gottesleute einen erheblichen Einfluss ausüben konnten. 24 In den Tiefländern Venezuelas, Boliviens, Brasiliens, Ecuadors und Peru brachte die Unabhängigkeit aber zunächst eine Auflösung vieler Missionen mit sich und verschaffte den dortigen indigenen Gruppen eine Phase der Erholung und erhöhter Autonomie bis zur Mitte des 19. 21 Pekka Hämäläinen: The Comanche Empire. New Haven 2008. 22 Leonardo León Solís: Maloqueros y conchavadores: en araucanía y las pampas, 1700- 1800. Temuco 1991; Carlos Mayo: Estancia y sociedad en la Pampa, 1740-1820. Buenos Aires 1996; Thomas Edward Sheridan: Spanish Borderlands Sourcebook . Bd. 20: The Franciscan missions of northern Mexico. New York, London 1991; Jorge Pinto (u.a.): Misioneros en la araucanía, 1600-1900. Bogotá 1990; Jorge Silva Riquer und Antonio Escobar Ohmstede (Hrsg.): Mercados indígenas en México, Chile y Argentina, Siglos XVIII – XIX. México D.F. 2000. 23 Peter F. Guardino: „El carácter tumultuoso de esta gente“. Los tumultos y la Legitimidad en los pueblos oaxaqueños, 1768- 1853. In: Brian Connaughton (Hrsg. ):Poder y Legitimidad en México en el Siglo XIX. Instituciones y cultura política. México 2003, S. 181- 205. 24 Evelyn Hu de Hart: Missionaries, Miners and Indians: Spanish Contact with the Yaqui Nation of Northwestern Spain 1533-1820. Tucson 1981. 15 Einleitung 15 Jahrhunderts, in der sie viele Gebiete wieder besetzen konnten, die sie während der Kolonialzeit verloren hatten. 25 Die Bedeutung wirtschaftlicher Beziehungen im Zusammenhang mit Herrschaftsverhältnissen zwischen den expandierenden europäischen Kolonialmächten und der einheimischen Bevölkerung ist zum einen in den transformierenden Kräften begründet, die diese auf die indigenen Gemeinschaften ausübten. 26 Andererseits bot aber etwa die extensive Viehzucht, für die sich insbesondere die peripheren Grenzregionen in Nordmexiko und der südamerikanischen Pampa eigneten, ein wichtiges Austauschgut zwischen Indigenen und Mestizengesellschaft. In der Araukania etwa stellte die Kombination aus Viehzucht, -raub und -handel eine bedeutende Interaktionsform zwischen den Mapuchegruppen mit ihren spanischen und später chilenischen bzw. argentinischen Nachbarn dar. 27 Als nach der „Pazifizierung“ der Araukania im späten 19. Jahrhundert der Möglichkeit, Handel mit der argentinischen Andenseite zu betreiben, ein Ende gesetzt wurde, zwang diese Durchsetzung des territorialstaatlichen Hoheitsanspruches der benachbarten Republiken die indigenen Gruppen, sich fortan dem Bodenbau zu widmen. In seinem Beitrag für diesen Band verweist Jorge Pinto auf den dabei statt findenden Wandel in der sozioökonomischen Struktur des Kollektivs, der von den Mapuche selbst angezeigt wurde. Die Aneignung von Rindern und Pferden geschah in vielen Fällen über berittene Raubzüge. Allerdings etablierte sich in diesen Regionen im Laufe der Kolonialzeit auch ein ritualisierter Rücktausch des lebenden Beutegutes, der vielfältige Möglichkeiten für weitere Abmachungen eröffnete, wie etwa militärische Kooperationen gegen gemeinsame Feinde oder den Austausch von Gefangenen. 28 Letztere wurden, wenn sie nicht als Pfand für Verhandlungen dienten, von indigenen wie christlichen Grenzbevölkerungen über fiktive Verwandtschaften in die eigene Gesellschaft integriert, um den Bevölkerungsverlust durch Konflikte und Sklavenhandel zu kompensieren 29 , und entwickelten sich oftmals zu „Grenzgängern“, die zwischen den Kulturen vermittelten. Die enge Verquickung wirtschaftlichen Austausches mit weiteren 25 Jonathan Hill: Indigenous Peoples and the Rise of Independent Nation-States in Lowland South America. In: Salomon/Schwartz 1999, S. 704-764. 26 Eric Wolf: Europe and the People without History. Berkeley 1982. 27 Leon Solís 1991. 28 Sara Ortelli: Trama de una guerra conveniente: Nueva Vizcaya y la sombre de los apaches (1748 - 1790). México D.F. 2007. 29 James Brooks: Captives & cousins. Slavery, kinship, and community in the Southwest borderlands. Chapel Hill 2003. 16 16 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz Politikfeldern, etwa der Bildungspolitik, geht aus dem Beitrag von Justo Flores in diesem Band hervor. Wirtschaftliche Austauschbeziehungen zwischen den Boden bebauenden indigenen Gemeinschaften und der Mestizengesellschaft waren aber oftmals wie in Sonora überwiegend von negativen Externalitäten geprägt. Alkoholhandel und Ausbeutungsverhältnisse bestimmten dort die ökonomische Integration der indigenen Gemeinschaften 30 und sind als Bad Governance anzusehen. Im Bereich des Handels ist die Frage nach den normativen Standards von „Gutem Regieren“ ( Good Governance) besonders problematisch: was den städtischen („weißen“) Bewohnern und den Händlern nützte, gereichte den indigenen Gemeinschaften zumeist zum Nachteil. Allgemein galten materielle Anreize, so genannte agasajos oder kleine Geschenke, als Erfolg versprechendes Instrument, um unabhängige indigene Gruppen zu einem regelmäßigen Warenaustausch zu bewegen und damit Kontaktforen zu errichten, über die Kontrolle ausgeübt werden konnte. Nicht selten dienten die Suchtmittel Tabak oder Alkohol dazu, nomadisierende Gruppen zu „locken“. Mit diesem Vorgehen verband man die langfristige Erwartung, dass sich die indigene Bevölkerung durch den dauerhaften Kontakt von alleine akkulturieren würde. Die Einbeziehung verschiedener Apachengruppen etwa gelang auf diese Weise über einen längeren Zeitraum und eröffnete den Festungskommandanten, die im Kontakt mit den jeweiligen Anführern standen, breite Verhandlungsspielräume, um die Absichten der kolonialen bzw. republikanischen Regierung - wie die Unterrichtung in landwirtschaftlichen Methoden oder die Alphabetisierung einiger Individuen - zu erreichen. 31 Im südlichen Chile hatte sich seit dem 17. Jahrhundert ein parlamento genanntes Verhandlungssystem etabliert, mit dem Streitigkeiten zwischen den indigenen Gruppen und spanischen/mestizischen Siedlern beigelegt werden konnten und bei dem die Übergabe von „Geschenken“ an die indigenen Gemeinschaften ein zentrales Element darstellte. 32 Der rituelle Charakter dieser Zusammenkünfte verweist auf den Ursprung der parlamentos in einer Kultur oraler Tradierung, während durch die schriftliche Fixierung der getroffenen Abkommen in Vertragsform dem spanischen Verständnis von 30 Spicer 1962; Edward Holland Spicer1980: The Yaquis. A Cultural History. Tucson 1980. 31 William B. Griffen: Apaches at war and peace: The Janos presidio 1750- 1858. Albuquerque 1988. 32 José Bengoa 2004: La Memoria Olvidada. Historia de los Pueblos Indígenas de Chile. Santiago de Chile 2004; José Manuel Zavala: Les Indiens Mapuche Du Chili. Dynamiques Inter-ethnique et Stratégies de Résistance, XVIIIe Siécle. Paris 2000. 17 Einleitung 17 Rechtmäßigkeit Genüge getan wurde. Auch in republikanischer Zeit wurde diese Zeremonie beibehalten, um zu einem Kompromiss zwischen Chilenen und Mapuche zu gelangen. 33 Nach der Unabhängigkeit ging aufgrund finanzieller Schwierigkeiten der Nachschub an solchen „Geschenken“ zwar stark zurück, die Erwartungshaltung einer Anpassung der indigenen Bevölkerung blieb jedoch bestehen. Die Änderungen bezüglich normativer Standards von „Gutem Regieren“ im Übergang von der Kolonialzeit zur unabhängigen Republik sind unseren Forschungsergebnissen nach äußerst ambivalent. Die Erwartung eines linearen Prozesses quasi automatischer Anpassung an die „westliche“ Lebensweise durch die Vorbildfunktion der „Zivilisierten“ und Nachahmung seitens der Autochthonen („Wilden“) zieht sich als Leitmotiv durch die gesamte Missions- und Kolonialgeschichte. Nach der Unabhängigkeit orientierte sich diese Erwartungshaltung um, und galt nun überwiegend dem Erfolg einer gezielten „Umerziehung“ der als rückständig wahrgenommenen indigenen Bevölkerung und unteren sozialen Schichten. Die rhetorische Polarisierung zwischen der „Zivilisation der Weißen“ und der „Barbarei der Wilden“ erreichte in Chile besondere Ausmaße und trug wesentlich zur Eskalation der Beziehungen zwischen Mapuche und Staat bei, wie der Beitrag von Jorge Pinto in diesem Band zeigt. Justo Flores macht in seinem Beitrag darauf aufmerksam, dass diese Polarisierung noch im den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das politische Handeln der Obrigkeit beeinflussten. Das Erziehungswesen galt im Anschluss an den Systembruch der Unabhängigkeit als wichtigstes Instrument zur Vermittlung neuer politischer Kultur und „Allheilmittel“ für die Probleme der jungen Republiken. 34 Bildung wurde zudem in den Verfassungen der jungen Republiken zum Hauptkriterium für eine Beteiligung an den politischen Prozessen der Republik festgeschrieben: wählen durfte nur, wer Lesen und Schreiben konnte. 35 Die Frage nach der Partizipation indigener Gemeinschaften (und der unvermögenden Bevölkerungsschichten im Allgemeinen) ist also eng mit der Bereitstellung von Bildungsmöglichkeiten verbunden. Eine solche Bildungsoffensive war aber bereits ein wichtiges Mittel der bourbonischen Reformen gewesen. Die 33 Pablo Marimán Quemenado Pablo 2002: Parlamento y Territorio Mapuche. Concepción 2002; Pinto und Contreras in diesem Band. 34 Anne Staples (Hrsg.): Educar: Panacea de una nueva nación. México 1985. 35 Pilar Gonzalbo Aizpuru (Hrsg.): Educación rural e indígena en Iberoamérica. México 1996; Luis Valencia Avaria: Los Anales de la República. Santiago 1986; Hilda Sabato Hilda (Hrsg.): Ciudadanía política y formación de las naciones: Perspectivas históricas de América Latina. México 1999. 18 18 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz Errichtung von Grundschulen in den indigenen Gemeinden sollte dabei vor allem einer Castellanización der indigenen Bevölkerung Vorschub leisten und eine sprachliche Homogenisierung des Kolonialreiches herbeiführen. 36 Die Versuche, in den indigenen Gemeinden Schulen einzurichten, scheiterten allerdings häufig, wie in Sonora, an der Finanzierung, oder wurden, wie in der Araukania, von den indigenen Gemeinschaften zur Verfestigung ihrer ethnischen Identität gegenüber der dominanten Mestizengesellschaft umfunktioniert. Der Beitrag von Bildung zur Legitimierung der republikanischen Regierungen ist in diesen Grenzregionen daher eher als kontraproduktiv zu bewerten. 37 Allgemein förderte eine wie in Chile vom Staat zentral gesteuerte Einsetzung externer Verwaltungsbeamter deren Rekurs auf Bildung zur eigenen Legitimierung und garantierte deren Unabhängigkeit von lokalen Machtstrukturen, die sich ihrerseits überwiegend auf familiäre Netzwerke stützten und daher auf andere Legitimationsmechanismen zurückgreifen konnten. 38 Insbesondere die Geschichte des Erziehungswesens zeigt, dass die Prozesse politischer Integration über lange Zeiträume betrachtet werden müssen. Die Vorstellung, innerhalb weniger Jahre eine neue Form der Legitimierung einzuführen, erwies sich als nicht realisierbar. Die Analyse postkolonialer Schulpolitik in den Räumen kultureller Heterogenität offenbart dabei ebenfalls die „Bildungsoffensive“ der Republiken als Herrschaftsinstrument, mit dem ein umfassender kultureller Wandel der indigenen Gemeinschaften forciert und ausdrücklich ihre Verwertbarkeit für die nationale Wirtschaft gesichert werden sollte. Wie der Beitrag von Justo Miguel Flores Escalante in diesem Band zeigt, lassen sich an den Maximen dieser Regierungsweise auch hundert Jahre nach der Unabhängigkeit keine wesentlichen Änderungen feststellen. Schon während der Unabhängigkeitskriege in Lateinamerika zeigte sich, dass eine neue Form von Governance , die diskursive Steuerung durch Printmedien, zukünftig mehr Gewicht erhalten würde. Die umherziehenden Armeen der Unabhängigkeitskriege führten Handpressen mit sich, deren Drucke die Rezeption ihrer Erfolge (oder nur scheinbaren Erfolge) erheblich 36 Dorothea Tanck de Estrada: Pueblos de indios y educación en el México colonial, 1751- 1821. México 1999. 37 Mónika Contreras und Lasse Hölck: Educating Barbaros: Educational Policies on the Latin American Frontiers between colonies and independent republics (Araucania, Southern Chile /Sonora, Mexico). In Paedagogica Historica: International Journal of the History of Education (2010), (im Druck). 38 Ebd. 19 Einleitung 19 beeinflussten. 39 Die Möglichkeiten der Vervielfältigung von Sprache/Schrift nahmen in Lateinamerika nach der Unabhängigkeit in den städtischen Zentren rasch zu 40 und veränderten die Mechanismen zur Mobilisierung der Bevölkerung. 41 Die Bedeutung, die von Seiten der intellektuellen Eliten der Verbreitung gedruckter Informationen für die „moralische Erhebung der in Unkenntnis gehaltenen“ Bevölkerung beigemessen wurde, erhellt sich aus zahlreichen Zeitungsbeiträgen der Zeit und wurde auch zur Rechtfertigung des politischen Wandels selbst herangezogen. Jorge Pintos Beitrag in diesem Band zeigt aber, dass die Steuerung der öffentlichen Meinung durch Strukturierung des politischen Diskurses in der Presse heftig umstritten war und die schwelenden Konflikte zwischen Indigenen und Chilenen schließlich in einen regelrechten Krieg ausufern ließen. Die Anpassung der indigenen Bevölkerungen in den Grenzregionen der lateinamerikanischen Staaten sollte auch durch eine gezielt geförderte Mestizisierung oder Kolonisierung der Grenzregionen mit europäischen Siedlern beschleunigt werden. 42 Nach der Unabhängigkeit ins Land geholte Siedler aus Europa und Nordamerika sollten für einen transkulturierenden Einfluss auf die indigene Bevölkerung sorgen und die als brach liegend betrachteten Gebiete für die nationale Wirtschaft fruchtbar machen. Tatsächlich gerieten sie aber häufig in (bewaffneten) Konflikt mit der lokalen Regierung oder den indigenen Gruppen, bzw. ergriffen Partei in den Auseinandersetzungen politischer Gruppierungen. 43 Hinsichtlich der übergreifenden Fragestellung nach dem Einfluss transnationaler Netzwerke auf die Staatsbildung in Lateinamerika muss also vorläufig festgestellt werden, dass externe Akteure und transnationale Diskurse – etwa die allgegenwärtige Fortschrittsrhetorik - in den hier betrachteten Grenzregionen häufiger die Ursache von Problemen waren, anstatt zu ihrer Lösung beizutragen. Zudem stellte sich bald heraus, dass die in Europa erdachten Prinzipien republikanischer Regierungsweise von den politischen Eliten Lateinamerikas zwar auf ihre beanspruchten Herrschaftsgebiete meist unmodifiziert übertragen 39 Rebecca Earle: Rumours of War: Civil Conflict in Nineteenth-Century Latin America. London 2000; Eugenia Roldán Vera 2003: The british book trade and Spanish American Independence: education and transmission in transcontinental perspective. Ashgate 2003. 40 Francois-Xavier Guerra: Modernidad e independencias. Madrid 1992 41 Ivan Jaksiç (Hrsg.) 2002: Political power of the word: press and oratory in nineteenth- century Latin America. London 2002. 42 Vgl. etwa die zeitgenössische Schrift von Zuñiga, Ignacio: Rapida ojeada al Estado de Sonora. Hermosillo 1985 (México 1835), S. 100-101. 43 Delia González de Reufels2003: Siedler und Filibuster in Sonora: eine mexikanische Region im Interesse ausländischer Abenteurer und Mächte (1821 - 1860). Köln 2003. 20 20 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz wurden, dort aber auf gänzlich andere Voraussetzungen stießen. In seinem Beitrag zu diesem Band weist Lasse Hölck darauf hin, dass die Sozialisierung in Räumen kultureller Heterogenität notwendigerweise nicht einheitlich, sondern in jeweils von eigenen Traditionen geleiteten Gesellschaften stattfindet, so dass auch die Vorstellungen von rechtmäßiger Herrschaft entsprechend vielfältige Ausprägungen erhalten, bzw. Herrschaft als solche schlicht abgelehnt wird. Versuche, gemeinsame Traditionen sozialer Kooperation zu etablieren, hat es daher schon seit der frühesten Kolonialzeit gegeben. 44 Diese fruchteten nachhaltig aber vorwiegend bei der nicht- indigenen Bevölkerung 45 und halfen nach der Unabhängigkeit, die Konflikte zwischen staatlichen Akteuren und lokalen Gesellschaftsgruppen über von beiden Seiten anerkannte Institutionen zu kanalisieren, wie der Beitrag von Joaquin Fernández in diesem Band zeigt. In den indigenen Gemeinschaften waren hingegen andere Traditionen sozialer Kooperation in den Mentalitäten verankert, die von den weißen Eliten nicht verstanden oder schlicht abgelehnt wurden. Diese Unterschiede politischer Kultur erschwerten die Kommunikation in Räumen kultureller Heterogenität und verkomplizierten den Versuch, kollektive Repräsentationsformen zu vereinheitlichen und für die Intentionen der Regierung zu instrumentalisieren. Die Einführung kollektiver Repräsentationsformen nach spanischem Vorbild war seit Anbeginn der Eroberung Amerikas eine der Hauptvorgaben des kolonialen Staates. Insbesondere die „egalitären“ Gesellschaften in den marginalen Zonen sollten über die Schaffung stabiler Führungsstrukturen regierbar gemacht werden 46 , und man erwartete, dass künstlich eingeführte soziale Schichtungen den von den Spaniern eingesetzten Anführern die nötige Autorität zukommen lassen würden, um die Anweisungen von staatlichen Akteuren in den indigenen Gemeinschaften durchzusetzen. Gouverneure, Missionare, Militärs und Beamte bemühten sich beispielsweise um eine finanziell-materielle Unterstützung derjenigen indigenen Kontaktleute, die sie als Anführer innerhalb der ethnischen Gruppen etablieren wollten. Die Beiträge von Lasse Hölck und Mónika Contreras in diesem Band zeigen jedoch unter Verweis auf die sozialen Dynamiken innerhalb der betreffenden indigenen Gruppen die Grenzen bzw. negativen Folgen dieser Regierungsweise auf. Ihre 44 A.J.R. Russell-Wood: Ambivalent Authorities: The African and Afro-Brazilian Contribution to Local Governance in Colonial Brazil. In: The Americas 57 (2000b), S. 13-36. 45 Cheryl English Martin: Governance and Society in Colonial Mexico: Chihuahua in the Eighteenth Century. Stanford 1996; Russell-Wood: Government and Governance of European Empires, 1450-1800. 2 Bde. Ashgate 2000a. 46 Juan Carlos Garavaglia (1999): The Crises and Transformations of Invaded Societies: The La Plata Basin (1535-1650). In: Salomon/Schwartz 1999, S. 1-58. 21 Einleitung 21 unmittelbaren Auswirkungen auf die zumeist „flachen“ Hierarchien der indigenen Gesellschaften Sonoras riefen etwa einen kommunalen Widerstand gegen materiell begünstigte Personen hervor und zwangen diese Anführer zu einem Verzicht oder einer Umverteilung ihres extern erworbenen „Reichtums“, um die Anerkennung und das Vertrauen ihrer Anhänger aufrechtzuerhalten. Die beabsichtigte, artifizielle Schichtung der Gesellschaft wurde damit neutralisiert. In der Araukania führte die materielle Unterstützung zwar zu einer Verstetigung der Autorität derart begünstigter caciques , verursachte aber auch eine Konkurrenz dieser Anführer um die Anerkennung als „mächtige war leader “ seitens der staatlichen Akteure durch Demonstration der eigenen Stärke, was die Verhandlungen verkomplizierte und sich negativ auf die Sicherheitslage auswirkte. In beiden Fallstudien erwiesen sich zudem soziale Kontakte mit der Siedlergesellschaft oftmals als kontraproduktiv und bewirkten eine De- Legitimierung der auserwählten Verbindungsleute in ihren eigenen Gemeinschaften. Enge Verbindungen mit der in ihrer Legitimität grundsätzlich infrage gestellten, aber dennoch die Herrschaft beanspruchenden Bevölkerungsgruppe der „Weißen“ waren oftmals verpönt. Die Versuche des Staates, auch in die personelle Besetzung regionaler Verwaltungsinstitutionen einzugreifen, trafen ebenfalls auf den Widerstand kreolischer Eliten und konnten sogar separatistische Bewegungen mit verursachen, wie Joaquin Fernandez am Beispiel der Bergbauvereinigungen des chilenischen Copiapó in diesem Band darlegt. Durch die Beachtung solcher Dynamiken sollen im vorliegenden Band subalterne Akteure vor Ort zum Sprechen gebracht und der Einfluss indigener und transnationaler Diskurse auf die Mechanismen der Einbeziehung auf lokaler Ebene untersucht werden. Die Untersuchung transnationaler Netzwerke als Makrostruktur eines globalen Kulturtransfers wird für eine mikrohistorische Analyse der regionalen Ebene praktikabel gemacht, deren kulturelle Besonderheiten durch ethnologische und ethnohistorische Methoden zu erfassen sind. Die Beiträge von Jorge Pinto und Lasse Hölck zeigen etwa, dass uninformierte Vorannahmen bezüglich der Indigenen sowie das eurozentrische Überlegenheitsgefühl einerseits Denkblockaden hervorriefen, die die Applikation alternativer Governance- Formen verhinderten, andererseits die interethnischen Beziehungen bis hin zu einem Grad radikalisieren konnten, an dem eine friedliche Beilegung von Konflikten nicht mehr möglich schien. Eine weitere in den Beiträgen zu diesem Band häufig verwendete Methode ist der historische Vergleich. Mit dem Vergleich auf den ersten Blick ähnlicher Vorgänge sollen Gemeinsamkeiten und Unterschiede festgestellt, beschrieben und soweit wie möglich erklärt werden. Unter Beachtung wechselseitiger Einflüsse ermöglicht der Vergleich das Erkennen von Unterschieden, das 22 22 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz Schließen von Quellenlücken durch Analogieschlüsse und das Erschließen neuer Forschungsfragen. 47 Die komparatistische Methode zeigt damit eine Möglichkeit auf, wie mittels mikrohistorischer Studien die Prozesse auf der Makroebene zu verstehen sind. 48 Eine Möglichkeit, vergleichende historische Forschung umzusetzen, erläutert Cynthia Radding in ihrem Beitrag anhand des Konzeptes der sozialen Ökologie. Ausgangspunkte sind regionale Fallstudien aus Mexiko und Chile, die bedeutende Ähnlichkeiten als Räume begrenzter Staatlichkeit aufweisen. Dazu gehören v. a. die ethnischen Gegensätze und die Lage an den Randgebieten der Kolonie bzw. Republiken. Mexiko steht für ein traditionelles Zentrum iberischer Kolonialherrschaft in Amerika und gleichzeitig für einen durch den parallelen Aufstand der Unterschichten gekennzeichneten besonders gelagerten Verlauf der Unabhängigkeitsbewegung sowie durch eine höchst krisenhafte, dennoch aber die staatliche Einheit im Wesentlichen bewahrende frührepublikanische Entwicklung. Im Gegensatz dazu steht das eher periphere Chile für eine Entwicklung hin zu relativer politischer Stabilität. Die Untersuchung von Governance - Formen wird durch diese konträren Merkmale befruchtet. In ihrem Beitrag für diesen Band erinnert uns Cynthia Radding daran, dass Regierungsweisen, zumal in ihrer historischen Entwicklung, nicht ohne Berücksichtigung der topographischen und klimatischen Besonderheiten der Räume, in denen sie sich ausprägten, verstanden werden können. Die indigenen Bevölkerungsgruppen, die diese Räume bewohnten, hatten sich teils seit Jahrhunderten in ihnen eingerichtet, und nicht zuletzt in ihrer Anpassung an die Umweltbedingungen je eigene Kulturen hervorgebracht, die die Vorstellungen von sozialem Verhalten entscheidend mitprägten. So fragt sie hinsichtlich der verschiedenen Ethnien unter anderem: Mit welcher Autorität ergriffen sie Besitz von Land und den natürlichen Ressourcen, wie Flüssen, Wäldern, Höhlen und Hügeln, um diese als Verteidigungspunkte oder rituelle Stätten zu gestalten? Die Bedeutung dieser Frage ergibt sich aus der Erkenntnis, dass die spanische Kolonialmacht ihre Herrschaftsansprüche vorwiegend territorial verstand und damit einem Grundsatz folgte, der von den vorspanischen Kulturen Lateinamerikas nur eingeschränkt geteilt wurde. Herrschaft, wenn sie als solche 47 Thomas Welskopp: Stolpersteine auf dem Königsweg: Methodenkritische Anmerkungen zum internationalen Vergleich in der Gesellschaftsgeschichte. In: Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995), S. 339-367; Magnus Mörner: Comparative Approaches to Latin American History. In: Latin American Research Review 17/3 (1982), S. 55-89. 48 Thomas Hall: The Rio de la Plata and the Greater Southwest. A view from the world- system Theory. In: Donna J. Guy und Thomas E. Sheridan (Hrsg.): Contested Ground: Comparative Frontiers on the Northern and Southern Edges of the Spanish Empire. Tucson 1998, S. 150- 166. 23 Einleitung 23 von vorspanischen Kulturen beansprucht wurde, definierte sich über die Verbindung zwischen Individuen oder Kollektiven, die meist ethnisch konstituiert waren, während die Grenzen des jeweiligen Territoriums oder Herrschaftsraumes undefiniert blieben. Als Analysekonzept schlägt die Autorin daher die soziale Ökologie vor, die erstens die Beziehung zwischen der Natur und verschiedenen sozialen Gruppen (Indigenen und Mestizen) betont, und zweitens die Konflikte hervorhebt, die bezüglich der Machtausübung und dem Zugang zu Ressourcen zwischen den beiden Gruppen entstehen. Die Entstehung kultureller Landschaften als Forschungsgegenstand der sozialen Ökologie verweist dabei auf die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur und bietet ein Werkzeug, die historische Entwicklung in zeitlicher wie räumlicher Dimension zu untersuchen. Als Beispiel besonderer Ausprägung dieser Verbindungen bietet die Autorin einen Vergleich der über Arbeitsteilung und soziales Prestige definierten Unterschiede zwischen den Geschlechtern an, die ihrerseits Auswirkungen auf die Aneignung der natürlichen Ressourcen haben und somit auch die Machtstrukturen prägten. Anhand ihrer Fallbeispiele Sonora und Chiquitos, beides Grenzgebiete der späteren Republiken Mexiko bzw. Bolivien, lassen sich so die unterschiedlichen Entwicklungen in beiden Regionen aufzeigen und, mithilfe eines aus der sozialen Ökologie gespeisten historischen Vergleichs, die widersprüchlichen Prozesse der Unabhängigkeitsbewegungen erklären. Der Beitrag von Lasse Hölck geht ebenfalls von den Wechselwirkungen zwischen Umwelteinflüssen und sozialem Miteinander aus, zieht seine theoretische Grundlage aber aus der politischen Anthropologie in Abgleichung mit den Anregungen der jüngsten Governance -Forschung. Untersucht werden die Interaktionen zwischen der spanischen Kolonialmacht und einer Jäger- und Sammlergruppe, den so genannten Seris, in Sonora. Anhand eines Vergleichs der Regierungsweisen hoheitlicher Steuerung über Sanktionen und den (oft unbewussten) Versuchen, Governance -Formen an die von den Seris als sozial anerkannten Verhaltensweisen anzupassen, analysiert der Autor die Effektivität vertikaler und horizontaler Handlungskoordinationen, mit denen die Agenten des Kolonialstaates die lose verbundenen Gruppierungen dieser Bevölkerungsgruppe politisch zu steuern versuchten. Dieses mikrohistorische Beispiel veranschaulicht gleichermaßen die Schwierigkeiten und Möglichkeiten eines Zusammenlebens im kulturell heterogenen Raum und zieht sein analytisches Potential aus einer Kontrastierung der streng hierarchischen Organisation kolonialstaatlicher Institutionen wie Militär und Mission mit den „egalitären“, in der Theorie auch als „staatsfeindlich“ bezeichneten Vergesellschaftungsformen von Wildbeutergruppen. Dabei bemüht er sich durch die Fokussierung auf das Vertrauen als Grundlage für anerkennungswürdige 24 24 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz Handlungskoordinationen innerhalb von Jäger- und Sammlergruppen als auch in interethnischen Beziehungen einen Beitrag zur Theoretisierung von Regieren im kulturell heterogenen Raum zu leisten, dessen Bedeutung über den zeitlichen Rahmen der Kolonie hinausweist. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Mónika Contreras in ihrem Artikel für diesen Band. Ihre akteurskonzentrierte Untersuchung interkultureller Kommunikation fokussiert die Rolle der indios amigos im spätkolonialen Süden Chiles. Sie geht dabei von einem konkreten Raum aus, den fuertes und plazas fuertes (Festungen und befestigte Dörfer), die das Grenzgebiet zwischen dem Generalkapitanat Chile und den unabhängigen Mapuche-Gruppen in der Araukania bildeten. Diese befestigten Siedlungen dienten als Begegnungsstätte zwischen Indigenen und den Agenten des Kolonialstaates, in denen mit Formen interkultureller Kommunikation, Handelsbeziehungen und Gastlichkeit, experimentiert wurde, um die „Freundschaft“ der indigenen Gruppen zu gewinnen. Auch zum militärischen Vorgehen gegen verfeindete Mapuche-Gruppen wurden hier Allianzen zwischen Spaniern und Indigenen geschlossen. Deutlich wird in diesem Beitrag die Mehrebenenproblematik von Regieren in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Anhand unterschiedlicher Leitprinzipien von lokalen Militärposten, Missionaren und den übergeordneten Befehlshabern des Generalkapitanats werden die Differenzen zwischen den Ebenen und lokalen Institutionen bezüglich friedlicher und militärischer Regierungsweisen herausgearbeitet und als ein wesentliches Problem bei der Herstellung von Sicherheit in dem gegebenen zeitlichen und räumlichen Rahmen erkannt. Die Institution der indios amigos bildet schließlich einen Governance -Modus, der auch nach der Unabhängigkeit Chiles beibehalten wurde und verweist auf die Kontinuität kolonialer Regierungsweisen in der frühen Republik Chile. Jorge Pinto widmet sich in seinem Beitrag der Reaktion indigener und staatlicher Akteure auf den Systembruch zwischen kolonialer und republikanischer Staatlichkeit in Chile. Die Modifizierung der etablierten Handelsbeziehungen nach der Unabhängigkeit traf auf Ablehnung bei den Kaziken der Mapuche, während die selbst gestellte Aufgabe der chilenischen Elite, einen homogenen Staat zu gründen, nicht mit der Existenz unabhängiger indigener Gruppen zusammenging. Die Wahrnehmung eines „Nachbarvolkes“ innerhalb des beanspruchten Staatsterritoriums der Republik führte im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer Radikalisierung des Diskurses, mit dem die Mapuche von einigen Vertretern der chilenischen Regierung beschrieben wurden. Der Autor zeichnet nach, wie Veränderungen der globalen Wirtschaftsstrukturen im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung das Land schließlich in eine Krise führten und die Aneignung von Ländereien der Indigenen als ein Ausweg aus der schlechten Wirtschaftslage propagiert wurde. Die Polarisierung des 25 Einleitung 25 Diskurses über diese Maßnahme in radikale Befürworter einer Eroberung des Mapuche-Landes und Gegner dieser offensiven Politik entschied sich auf höchster Ebene zu Gunsten ersterer und mündete in die militärische Besetzung der Araukania. Die vom Autor dargestellte Verflechtung globaler Fortschrittsdiskurse mit der Legitimationsrhetorik staatlicher Machthaber zeigt, wie eine zunächst nur verbal vorgenommene Radikalisierung interethnischer Beziehungen auf eine physische Konfrontation hinauslief, deren Gewalttätigkeit das Verhältnis zwischen Regierung und Mapuche bis heute belastet. Politische Rhetorik und politisches Handeln, so zeigt dieses historische Beispiel, bedingen einander und erfordern eine Untersuchung ihrer gegenseitigen Beeinflussungen. Joaquin Fernández beleuchtet den Auslöser dieser Konfrontation aus einem ganz anderen Blickwinkel. Die Wirtschaftskrise in Chile Mitte des 19. Jahrhunderts wirkte als Katalysator für die Radikalisierung lokaler Bergarbeiterkollektive, die sich gegen die zentralstaatliche Bevormundung erhoben. Die kollektive Repräsentation der Minenbesitzer im Norden Chiles hatte sich seit ihrer Einführung im Zuge der bourbonischen Reformen zu einer stabilen Institution lokaler Verwaltung entwickelt, die staatliche Aufgaben übernahm und regionale Belange gegenüber der zentralen Verwaltung artikulierte. Als sich staatliche Akteure Mitte des 19. Jahrhunderts bemühten, diese Institution zu infiltrieren, um sie kontrollieren zu können, formierte sich der Widerstand lokaler Eliten innerhalb dieser Organisation und führte schließlich zum offenen Bruch mit der Regierung in Santiago. Mit seiner minutiösen Darstellung institutionalisierter Regierungsweise kontrastiert der Artikel von Fernández die überwiegend improvisierten Formen staatlicher Einflussnahme in den kulturell heterogenen Grenzgebieten, anhand derer die besonderen Anforderungen deutlich werden, die eine Kommunikation zwischen den Kulturen mit sich bringt. Der Band schließt mit einem Beitrag von Justo Flores über die staatliche Bildungspolitik im semi-autonomen Gebiet der Maya von Quintana Roo zwischen 1928 und 1934. Darin analysiert der Autor die verschiedenen Widerstandsformen der einzelnen Maya- Gemeinden gegen die Gründung von staatlich geleiteten Landschulen in ihren Dörfern, die diese als Versuch einer Einmischung in ihre internen Angelegenheiten ablehnten. Der Beitrag zeigt zum einen die Kontinuität der in diesem Band fokussierten Regierungsweisen und ihres Konfliktpotentials in den peripheren Regionen Lateinamerikas, ungeachtet der Systembrüche, die zunächst die Unabhängigkeit oder etwa die Mexikanische Revolution mit sich brachten. Zum anderen verdeutlicht er die Problematik der Konsensfindung in einem heterokulturellen Raum: die kulturellen Unterschiede zwischen Maya und Mexikanern, wie etwa im Bereich der Sprache und der politischen Kultur, erlaubten es letzteren, subtile Widerstandsformen 26 26 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz anzuwenden, um ihre Ablehnung des Schulwesens zu äußern, die sich außerhalb der Verständnismöglichkeiten staatlicher Akteure entwickelten und eine Mobilisierung der Bevölkerung ermöglichten, ohne dass der Staat hätte eingreifen können. Die staatlichen Akteure, Beamte des Bildungsministeriums und Landlehrer, stellten dabei sowohl einen Teil des Problems dar als auch einen Teil seiner Lösung. Zum einen war die strikte Ablehnung indigener Kultur vonseiten einiger hoher Funktionäre hinderlich, um ein Übereinkommen mit den Gemeinden und ihren Vertretern bezüglich der Bildungsinhalte zu finden. Auch die Missbräuche, die seitens einiger Landlehrer in den Gemeinden begangen wurden, trugen zur Festigung des Widerstandes bei. Andererseits konnten Funktionäre und Landlehrer aber auch zu Verbindungsleuten werden, die die Anliegen der indigenen Gemeinschaften an die Staatsmacht vermittelten. Der Autor verweist schließlich auf die Kontinuität dieser Konflikte, die unter veränderten Umständen, bis heute das Verhältnis zwischen der Regierung und den indigenen Gemeinschaften beeinflussen. Aktuelle Konflikte der lokalen und nationalen Regierungen mit den Mapuche, den Maya oder auch den Seris von Sonora sowie zahlreicher anderer indigener Gruppen in Lateinamerika und weltweit lassen erkennen, dass die Problematik des Regierens im kulturell heterogenen Raum nicht etwa ein Thema vergangener Zeiten ist, sondern mit derselben Brisanz bis auf den heutigen Tag fortdauert. Dabei ist es notwendig, die tiefen Wurzeln der Konflikte herauszuarbeiten, um eine Wiederholung von Fehlern zu vermeiden und die Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens aufzuzeigen, die es gegeben hat und auch heute noch gibt. Der vorliegende Band soll einen kleinen Beitrag dazu leisten. Die Herausgeber danken den Autoren dieses Bandes und Privatdozent Dr. Nikolaus Böttcher für seine Kommentare. Ein besonderes Dankeschön geht außerdem an Annika Buchholz, Carla Russ und Mario Schenk für die Mühen bei der Herstellung des Sammelbandmanuskripts. Der Druck des Buches wurde mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglicht. 27 GOBERNAR EN LA PERIFERIA AMÉRICA LATINA ENTRE LA COLONIA Y LAS REPÚBLICAS INDEPENDIENTES RESUMEN DE LOS ARTÍCULOS El primer trabajo de este tomo es el ensayo de Cynthia Radding, en el propone, un enfoque analítico para la investigación de las áreas periféricas, que considere la utilización de los recursos del medio ambiente para discernir tanto las relaciones entre la naturaleza y los diferentes grupos sociales, como los conflictos que surgen entre ellos para acceder a los bienes naturales. En sus recientes investigaciones, la autora ha mostrado cómo los ecosistemas creados por los pueblos indígenas tuvieron un impacto importante en la diversidad de empresas e instituciones que desarrolló el poder colonial, y cómo a su vez, estos ecosistemas fueron transformados por la acción colonizadora, y añadieron nuevos ejes de cambio a los procesos ancestrales de creación y destrucción en la historia de la ecología humana. La era republicana continuaría esta transformación especialmente en las zonas fronterizas, en donde las luchas se entablaron por la consecución de territorios de cultivo y el dominio de áreas de pastoreo. Los siguientes dos trabajos se concentran espacialmente en la periferia norte y sur de México. Inicialmente Lasse Hölck a través de un análisis microhistórico de la sociedad de cazadores recolectores del noroeste de México autodenominados los Comcáac, pero llamados por los españoles seris, se pregunta ¿por qué las sociedades de cazadores recolectores han sido identificadas como anti-estatales y qué consecuencias tuvo esta característica para el proyecto colonizador? En su respuesta, el autor aborda el debate antropológico sobre el significado e instrumentalización de la consecución de recursos en sociedades no estatales y lo contextualiza con el análisis histórico de los primeros encuentros entre los seris y los europeos hasta finales del siglo XVII. La discusión antropológica facilita obtener una perspectiva indígena del significado que tenía el uso y la obtención de los recursos al interior de sociedades igualitarias, y explica por qué renunciar a la acumulación de bienes era indispensable para mantener el orden indígena social establecido. El análisis histórico, muestra por su parte, que los dos derroteros más importantes del 28 28 Zusammenfassungen der Artikel auf Spanisch programa político colonial dirigido a las sociedades indígenas periféricas: sedentarismo e instauración de una actividad agrícola, estaban lejos de comprender y coincidir con las necesidades e intereses de los seris. No obstante, como señala el autor, se presentaron espacios de negociación pacífica entre los seris y el poder colonial, en donde la confianza y la tolerancia fueron condiciones indispensables para llegar a la regulación de determinadas cuestiones en estos espacios periféricos. El trabajo de Justo Flores se desplaza a la frontera sur de México y se ocupa de analizar la resistencia que opusieron los mayas, herederos de la guerra de castas, cuando el gobierno mexicano quiso instaurar en su territorio escuelas rurales en el período de 1928 a 1934. Allí, en las selvas de la parte suroriental de la península de Yucatán, se refugiaron muchos de los mayas rebeldes y se mantuvieron autónomos del estado, hasta que en 1902 con la fundación de Quintana Roo, el gobierno central y federal empezó lentamente a “recuperar” el territorio. El objetivo de la institución escolar era integrar a la dinámica nacional a los mayas rebeldes, transformando sus costumbres a través de la difusión de valores republicanos y logrando su castellanización. El autor señala que desplazar a los mayas de las selvas de la región y con ello controlar la explotación del chicle, fueron también objetivos que mediante la instauración de la escuela persiguió el estado. A través de un análisis de los informes de los delegados de la secretaría de educación pública, se analiza el papel que jugaron los caciques y los maestros rurales en el establecimiento de la escuela y responde cuáles fueron los mecanismos que utilizaron los mayas para resistirse y rechazarla, y por qué el establecimiento de las escuelas rurales tuvo que ser negociado con los líderes indígenas. El autor concluye, que la resistencia de los mayas en contra de la escuela, transformó el tipo de escuela que inicialmente el estado quiso establecer. Los siguientes tres trabajos se concentran en los espacios periféricos de Chile. Inicialmente Mónika Contreras responde en su artículo ¿qué ocurría cuando los mecanismos de dominio colonial español que se emplearon exitosamente para someter y gobernar gran parte de la población indígena en América, no funcionaban con los indígenas en los espacios periféricos? Optando por una perspectiva microhistórica reconstruye un suceso acaecido en la frontera sur del reino de Chile a finales del siglo XVIII: la construcción de un camino terrestre que conectaría la ciudad de Valdivia con una salida al mar cercana a la isla de Chiloé en territorio indígena. Su propósito es mostrar, que observando cómo se solucionaban problemas de gobierno local, se caracteriza mucho mejor el papel que jugaron cada uno de los actores involucrados y se puede apreciar el ejercicio 29 Resumen de los artículos 29 del poder local y las prácticas que de ello se desprenden en la periferia. En su artículo la autora muestra, como la política de los Borbones, le apostó mucho más que en cualquier otro momento del periodo colonial al uso de mecanismos suaves de dominación. En este contexto la figura del “indio amigo” se consolidó como herramienta política estratégica en función de la administración local colonial. De igual forma estos actores tienen un punto de encuentro concreto en el espacio geográfico, un lugar en la periferia: Los fuertes y plazas fuertes. La cooperación de los indios amigos y la construcción de fuertes formaron parte de la estrategia para construir el camino entre Valdivia y Chiloé en territorio periférico y se muestran como mecanismos imprescindibles de la ocupación y dominio del territorio indígena del sur de Chile. El artículo de Jorge Pinto se relaciona también con la sociedad indígena del sur de Chile, hoy conocidos como mapuche y trata su integración en el proyecto republicano chileno. El punto de partida de su ensayo, es el análisis del proceso que convierte al indio mapuche en un referente simbólico, no sólo para inspirar y animar el movimiento independentista, sino para encarnar en los primeros años de la república el símbolo de la chilenidad. No obstante, si “lo mapuche” se incorporó y tuvo un espacio en el mito fundacional de la república chilena; por el lado del pueblo mapuche, ellos siguieron comportándose como súbditos del rey y el estado siguió tratando con ellos a través de las instituciones coloniales mediadoras creadas para ello. Toda esta situación cambiaría en la década del 50 del siglo XIX, a partir de este momento “todo el peso del estado se dejó sentir” y así se impuso sobre esta región el proyecto de país y nación elaborado por los grupos dirigentes que gobernaban Chile y Santiago. Analizando especialmente la prensa de Santiago y del sur de Chile, se explica de manera detallada, cómo se consolidó en Chile a mediados del siglo XIX un discurso anti-indigenista que floreció en toda América Latina y que en Chile justificó la agresión a los mapuche. Se trataba de un discurso que legitimó la ocupación militar del territorio mapuche. No obstante, había voces disidentes ante este discurso anti- indigenista. Actores reclutados de la población estudiantil y de la iglesia católica se opusieron a la ocupación por la fuerza del territorio y la iglesia criticó fuertemente el hecho de civilizar con las armas. El autor concluye que el proyecto modernizador de los positivistas del siglo XIX, quería un Chile sin indios, en donde era imposible lograrlo. Así lo recuerdan los censos poblacionales desde 1907 hasta el censo del año 2002, en donde se registró el pueblo mapuche separadamente del pueblo chileno. El último trabajo de este tomo nos lleva al norte de la periferia de Chile. Joaquín Fernández recrea en su artículo, cómo para el joven estado chileno 30 30 Zusammenfassungen der Artikel auf Spanisch lograr estabilidad política se convirtió en una condición indispensable para poder gobernar con legitimidad en la región de Copiapó. Desde un análisis microhistórico se examina el enfrentamiento entre los grupos corporativos fortalecidos a lo largo del período colonial y los nuevos actores del estado republicano enviados desde Santiago. El autor critica las corrientes historiográficas que han presentado el caso de Chile como una excepcionalidad en su rápida carrera para constituirse como república en el contexto latinoamericano y aporta nuevas evidencias que presentan con mayor claridad las dificultades que tuvo el estado chileno para constituirse como un estado soberano y con legitimidad en su territorio. El caso de estudio en Copiapó es una prueba de ello. Allí el grupo local con mayor poder eran los mineros, quienes a partir de las reformas borbónicas se organizaron en gremios y se les otorgó importantes atribuciones administrativas y judiciales. En 1830 hubo un nuevo auge de minería en la región y el estado republicano que no contaba con la estructura requerida para gobernar esta alejada región y administrar los beneficios de las minas, utilizó las mismas prácticas de los Borbones. Estos grupos consolidaron su poder local y se exacerbó una suerte de regionalismo cultural e identitario así como una forma de resistencia al poder ejecutivo para poder preservar mayores grados de autonomía política- administrativa. En la segunda mitad de 1850 cuando la minería decayó, las relaciones entre ellos y los representares del estado en Santiago se volvieron conflictivas. Las ideas políticas liberales del gremio minero chocaron con las del centro del país, así que en 1859 se levantaron en armas contra el gobierno de Santiago, y fue desde esta región, que se desencadenó una guerra civil que se extendería por todo el país. 31 CYNTHIA RADDING

RÄUME DER REGIERBARKEIT UND IDENTITÄT IN LATEINAMERIKA: PERSPEKTIVEN VON DER GRENZE

Eine Analyse der Regierbarkeit in den Grenzgebieten der hispano- amerikanischen Provinzen während der Übergangsphase von der Kolonie zur Republik bedarf einer Lektüre juristischer Texte und politischer Deklarationen unter Betrachtung der physischen und kulturellen Besonderheiten, welche die Grenzräume von den Zentren der lateinamerikanischen Republiken unterschieden. Die Herausgeber dieser Ausgabe betonen die Bedeutung kultureller Heterogenität und der Einführung eines republikanischen Diskurses für die Untersuchung der Regierungsweisen und politischen Konsensfindung in den Grenzgebieten, die es der indigenen Bevölkerung ermöglichen sollten, am Projekt der Nationenbildung mitzuwirken. Die Akteure, die dieses politische Projekt vorantreiben konnten – immer unter der Annahme einer schwachen Staatlichkeit – sind die lokalen Eliten sowie kulturelle Vermittler wie etwa der Klerus, das Militär und die Lehrerschaft. Unter der Voraussetzung kultureller Heterogenität ist es wichtig, diese Szenerie durch die individuellen und kollektiven Akteure zu vervollständigen, die direkt aus den indigenen Gemeinschaften selbst hervorgingen. Häufig durchliefen diese Akteure Prozesse, die von Subsistenzkrisen sowie tiefgreifenden Veränderungen in der Struktur der sozialen Netzwerke gezeichnet waren, welche die Gemeinschaften zusammenhielten und Verbindungen zwischen ihnen und der heterogenen Gesellschaft des Grenzgebietes etablierten. Die langwierigen und konfliktreichen Prozesse, die zur Entstehung der Republiken in den verschiedenen Regionen Lateinamerikas führten, erfordern eine Untersuchung unterschiedlicher Faktoren, die als politische aber auch als ethnohistorische, kulturelle und Umweltkriterien zu fassen sind. Die natürliche und kulturelle Umgebung, ebenso wie die physischen Räume und die kommunale Rechtsprechung öffnen vielfältige Dimensionen in der komplexen Geschichte der sich im Aufbau befindenden Republiken. Um den Untersuchungspfaden zu folgen, die die ethnologische und politische Geschichte mit der Umweltgeschichte verbinden, ist es erforderlich, die Bedeutungen des Begriffs “Ethnie” in unterschiedlichen Räumen und Zeiten zu betrachten. Ordnen sich die einzelnen Bevölkerungen ( pueblos ), beziehungsweise Stämme und Gruppen in gefestigten Verbänden, oder in 32 32 Cynthia Radding zerstreuten Feldlagern ( rancherías) an? Welche Voraussetzungen ließen loyale Verbindungen und gegenseitige Verpflichtungen zu oder förderten diese? Mit welcher Autorität ergriffen sie Besitz von Land und natürlichen Ressourcen wie Flüssen, Wäldern, Höhlen und Hügeln, um diese in Verteidigungspunkte oder rituelle Stätten zu verwandeln? Parallel zur ethnohistorischen Forschung und ihrem Basiskonzept der Ethnizität ist die Umwelt zu betrachten und die mit ihr verwobenen Konzepte “Kultur” und “Natur”. Diese müssen kritisch überprüft werden, um das Aufkommen ethnischer Gruppen an bestimmten Orten und die Entstehung kultureller Landschaften als das Werk menschlicher Gemeinschaften in einer physischen Umwelt historisch darstellen zu können. DIE HISTORIOGRAPHIE UND DIE VERGLEICHENDE HISTORIK Bei einem Projekt, das die politischen Prozesse unter der Voraussetzung kultureller Heterogenität in verschiedenen Regionen Lateinamerikas untersucht, bietet sich ein komparatistisches Vorgehen an. Die iberoamerikanische Historiographie ist von der weit zurückliegenden Vergangenheit bis zur heutigen Zeit durch eine Vielzahl von Themen geprägt, die eine vergleichende Untersuchung sinnvoll erscheinen lassen. Dazu zählen bekannte Themen wie die Domestizierung von Pflanzen (Kürbis, Mais, Bohne, Quinua, Maniok und Baumwolle, um nur einige zu nennen) in Mittelamerika und den Anden, die demographischen Muster der indigenen Bevölkerung in Nord- und Südamerika oder die Auswirkungen der Kolonialisierung auf die verschiedenen Regionen des amerikanischen Festlands und der Inseln, die von militärischen Gruppierungen und wirtschaftlichen Unternehmen aus Spanien, Portugal, Frankreich und England durchdrungen wurden. 1 In jüngster Zeit haben sich verschiedene kollektive Studien den konfliktreichen Beziehungen zwischen indigenen Gemeinschaften und dem Staat in Mexiko und Südamerika gewidmet und sich dabei auch mit familiären Beziehungen, Geschlechterfragen und Sexualität, sowie mit den unterschiedlichen Ausprägungen der Moderne befasst. 2 Was lernen wir aus den Überlegungen, die uns lehren, komparativ zu denken und die verschiedenen Zeitabschnitte, Länder und Bevölkerungen in 1 Stuart B. Schwartz (Hg.): Implicit Understandings. Observing, Reporting, and Reflecting on the Encounters between Europeans and Other Peoples in the Early Modern Era. Cambridge 1994. 2 Antonio Escobar Ohmstede, Romana Falcón, y Raymundo Buve (Hrsg.): Pueblos, comunidades y municipios frente a los proyectos modernizadores en América Latina, siglo XIX. Amsterdam 2002; Raúl J. Mandrini, Carlos D. Paz (Hrsg.): Las fronteras hispanocriollas del mundo indígena latinoamericano en los siglos XVIII-XIX. Un estudio comparativo. Buenos Aires 2003. 33 Räume der Regierbarkeit 33 einer Gegenüberstellung zu betrachten? Nach welchen Kriterien entscheiden wir, welche Vergleiche nützlich sein können und welche nicht? Mein eigenes Abenteuer vergleichender Geschichtswissenschaft entstand aus einem wachsenden Interesse an Südamerika, nachdem ich lange in Mexiko gelebt und mich intensiv mit der Geschichte des Nordwestens beschäftigt habe, die in die kontrastreichen und zuweilen dramatischen Landschaften der Wüste von Sonora und des Gebirges der westlichen Sierra Madre eingebettet ist. Ich entschied mich für die Gegend von Chiquitos, im östlichen Flachland Boliviens, die sich historisch genau wie Sonora als eine Provinz der Jesuitenmissionen in der Peripherie der zentralen Bergbaugebiete Lateinamerikas entwickelt hatte. Die dialogische Untersuchung von Natur und Geschichte gab mir dabei die Freiheit, oftmals bruchstückhafte Aussagen in Dokumenten, Ethnographien, historischen Erzählungen, Interviews und geographischen Beschreibungen einander gegenüberzustellen und sie unter dem Aspekt der Umweltgeschichte zu lesen. Durch einen Vergleich der Informationen, die aus Archivmaterial, aus Notizen früherer Interviews oder bei Besuchen der kolonialen Missionen und der heutigen Gemeinschaften in Sonora und Chiquitos mit Kollegen aus unterschiedlichen Fachrichtungen gesammelt wurden, näherte ich mich einer ganzheitlichen Geschichte der jeweiligen regionalen Prozesse an. Ein Vergleich bietet sich insbesondere in Bezug auf die jeweiligen strukturellen Verbindungen beider Regionen mit dem Kolonialreich über die institutionelle Geschichte der Missionen, hinsichtlich der sozialen und kulturellen Reproduktion der dort ansässigen indigenen Gemeinschaften und bezüglich ihrer relativen Distanz zu den administrativen Zentren des kolonialen Staates an. Die inhärenten Widersprüche, die der Prozess der Unabhängigkeit und die Bildung der Republiken aus dem alten Imperium mit sich brachten, werden anhand eines Vergleiches ebenfalls deutlich. 3 Der Versuch, die beiden Historien miteinander zu verknüpfen, birgt zwei Herausforderungen: die Untersuchung zweier Kolonien, die kulturell und ökologisch verschieden sind, aber innerhalb des hispanoamerikanischen Imperiums zusammenhingen, und das Ineinandergreifen der Umweltgeschichte mit der Kulturgeschichte. Das Projekt, aus dem das Buch Paisajes de Poder e Identidad hervorging, versucht einen Zwischenraum zwischen der globalen Geschichte des Imperialismus und der historischen Ethnographie der kolonisierten Bevölkerung zu öffnen. Ziel dieses Projektes ist es nicht, die beiden Fallstudien lediglich einander gegenüberzustellen, sondern Vergleiche und Kontraste innerhalb der soziokulturellen Zusammensetzung der 3 Cynthia Radding: Paisajes de poder e identidad. Fronteras imperiales en el desierto de Sonora y bosques de la Amazonía. Sucre, Bolivien 2005. 34 34 Cynthia Radding Gesellschaften, der wirtschaftlichen Grundlagen und der Kulturen dieser beiden Grenzgebiete des amerikanischen Kontinents zu entwickeln. UMWELTGESCHICHTE UND GESELLSCHAFTSGESCHICHTE In seiner Abhandlung über die verschiedenen europäischen und nordamerikanischen Traditionen im Zusammenhang mit der Umweltgeschichte wirft Joan Martínez-Alier einige wichtige Fragen auf: Handelt es sich bei der Umweltgeschichte um eine neue historiographische Besonderheit mit eigenem Wesen oder wird nur versucht, die gängige Sozial- und Wirtschaftsgeschichte mit ökologischen Fragestellungen zu erweitern, weil es modern ist? 4 Martínez- Alier beantwortet diese Fragen selbst mit den folgenden Feststellungen bezüglich des eindeutig humanen Charakters der Umweltgeschichte: „ [...] anstatt die Geschichte zu „naturalisieren“, wird vielmehr die Ökologie selbst durch ihre Einführung als Erklärungsfaktor in die Geschichtswissenschaft historisiert, allein schon weil die Humanökologie, also die Beziehung zwischen menschlichen Gesellschaften und Umwelt, nur verstanden werden kann, wenn wir die Geschichte der Menschen und ihrer Konflikte begreifen. Die Ökologie ist keine longue durée- Kulisse, sondern ein Teil unserer ökonomisch-ökologischen Geschichte.” 5 In meiner Forschung habe ich versucht, die Umwelt mit Hilfe zweier Grundkonzepte in die Geschichte der kolonialen Gesellschaften der Grenzregionen einzubeziehen: der sozialen Ökonomie und der kultivierten Landschaften. Das erste Konzept wurde im Zitat von Martínez-Alier bereits erläutert, da es erstens die Beziehung zwischen der Umwelt und den verschiedenen sozialen Gruppen (Indigenen und Mestizen) betont, und zweitens auf die Konflikte abhebt, die bezüglich Machtausübung und dem Zugang zu Ressourcen zwischen den beiden Gruppen entstehen. Die soziale Ökologie bietet uns damit ein Werkzeug mit dem die geschichtlichen Dimensionen anhand von Zeit und Raum untersucht werden können. Ihr Forschungsobjekt ist die Herstellung kultureller Landschaften, also von Landschaften, die von menschlichen Gemeinschaften geschaffen wurden, seien diese nun egalitär oder hierarchisch organisiert. Beide Konzepte sind hilfreich um zu erklären, wie verschiedene Gesellschaften auf geographische und klimatische Besonderheiten der Umwelt reagieren und gleichzeitig mit ihrer Kultur und Technologie die 4 Joan Martínez-Alier: Temas de historia económico-ecológica. In: Historia y ecología. Madrid 1993, S. 19 5 Ebenda, S.30, “[…] lejos de naturalizar la historia, la introducción de la ecología en la explicación de la historia humana historiza la ecología, ya que la ecología humana, es decir, las relaciones entre las sociedades humanas y la naturaleza, no se entiende si no entendemos la historia de los humanos y sus conflictos. La ecología no es ningún telón de fondo de longue durée , sino parte de nuestra historia“económico-ecológica.” 35 Räume der Regierbarkeit 35 Vegetation, den Lauf von Flüssen und die Gestalt der Erdoberfläche selbst durch ihre kollektive Arbeit verändern – oftmals durch Prozesse der Eroberung und Kriege. Während ich die Geschichte von Sonora und Chiquitos vergleichend untersuchte, begann ich, die traditionelle Vorstellung eines beständigen Fortschreitens imperialer Grenzen in die unbewohnten und nomadischen Räume kaum bekannter Gebiete zu hinterfragen. Im Gegensatz zu dieser Idee legt meine Interpretation der Geschichte der beiden Grenzgebiete den Schwerpunkt auf ein Vor- und Zurückschreiten verschiedener Gruppen und Schichten innerhalb eines unabgeschlossenen imperialen Projekts. Die Kolonialreiche und ihre Grenzen werden als Transaktions- und Verhandlungsnetzwerke, die sich friedlicher wie gewaltsamer Mittel bedienen, interpretiert. Daraus konstruiert sich eine Geschichte komplexer Prozesse, die in den von Menschenhand gestalteten Umwelten sowohl Grenzräume, als auch imperiale Räume entstehen lassen. DIE UMWELTGESCHICHTE Aus der Umweltgeschichte gingen einige wichtige Synthesen hervor, mit denen die Globalgeschichte über langfristige Periodisierungen und interkontinentale Vergleiche organisiert werden kann. Sowohl Historikern als auch fachfremden Lesern wird dadurch bewusst, wie bedeutend Umweltthematiken sind, um das Drama der Menschheit zu verstehen. Gleichzeitig wird die Epoche des Kolonialismus durch die Verbindung von Natur- und Kulturgeschichte in einen Kontext gebracht. Die umweltgeschichtlichen Untersuchungen konzentrieren sich mehr auf technologische Themen, wie den kollektiven Fortschritten in Anbaumethoden, Bewässerung und Viehzucht. Sie widmen sich den vielfältigen Siedlungsformen, der Demographie und Epidemiologie, sowie dem interkontinentalen Austausch von Flora und Fauna und eingeschleppten Krankheitserregern zu Beginn der Kolonialisierung. 6 Umwelthistoriker beschäftigen sich mit den Auswirkungen der kolonialen Eroberungen für die kolonisierten Völker und Länder, sowie mit der Entstehung der Umweltpolitik und deren Umsetzung in den europäischen Kolonien in Übersee. 7 6 Alfred Crosby: The Columbian Exchange: Biological and Cultural Consequences of 1492. Westport 1972; Alfred Crosby: Ecological Imperialism. The Biological Expansion of Europe, 900-1900. Cambridge 1986; William H. McNeil: Plagues y Peoples. New York 1998; Jared Diamond: Guns, Germs, y Steel. New York 1997. 7 Richard H. Grove: Green Imperialism. Colonial Expansion, Tropical Island Edens, and the origins of Environmentalism, 1600-1860. Cambridge 1995; Richard Drayton: Nature’s Government: science, imperial Britain, and the “Improvement” of the World”. New Haven 2000. 36 36 Cynthia Radding Ökologische Annäherungen an die Dokumentation des kolonialen Aufeinandertreffens positionieren diese Geschichten innerhalb der vielsträngigen Interaktionen zwischen den ungleichen Gesellschaften und den natürlichen Umgebungen, die von diesen in kulturelle Landschaften verwandelt wurden. 8 Klassische Autoren wie Carl Linnaeus, Thaddaeus Haenke und Alexander von Humboldt 9 – frühe Theoretiker der Ökologie – verstanden die Ökosysteme als Netzwerke natürlicher Kräfte, die sich durch die Ökonomie der Natur im Gleichgewicht hielten. Diese stabilen Konzepte einer Ökonomie der Natur wurden von Charles Darwins revolutionärer Theorie von der Entstehung der Arten durch natürliche Selektion herausgefordert. Ökologen der Moderne haben sich daher vermehrt für Konzepte der Veränderung und des Prozesses ausgesprochen, um damit den Wandel der Natur und die menschlichen Einflüsse auf die Umwelt zu betonen. 10 Ihr sowohl biologischer als auch sozialwissenschaftlicher Ansatz greift dabei einige der Grundsätze des Umweltmanagements und der Interdependenz von Ressourcenverwendung, der Reproduktion von Ökosystemen – etwa in tropischen Wäldern, Savannen oder 8 Zu den herausragendsten Forschungsbeiträgen über den amerikanischen Kontinent, die Umweltgeschichte mit einbeziehen, gehören: Warren Dean: With Broadax and Firebrand. The Destruction of the Brazilian Atlantic Rainforest. Berkeley 1995; Elinor G. K. Melville: A Plague of Sheep. The Environmental Consequences of the Conquest of Mexico.Cambridge 1994; William Cronon: Changes in the Land. Indians, Colonists, and the Ecology of New England.New York 1997; Richard White: The Roots of Dependency. Subsistence, Environment, and Social Change among the Choctaws, Pawnees, and Navajos.Lincoln 1983; Neil L. Whitehead: Ethnic Transformation and Historical Discontinuity in Native Amazonía and Guayana, 1500-1900. In: L'Homme XXXIII (2-4) 126-128 (1993), S. 185-305; James Schofield Saeger: The Chaco Mission Frontier. The Guaycuruan Experience. Tucson 2000; Jeremy Adelman: Frontier Development: Land, Labour, and Capital on the Wheatlands of Argentina and Canada, 1890-1914. New York 1994; Stephen Bell: Campanha Gaúcha, a Brazilian Ranching System, 1850-1920.Stanford 1998; Zephyr Lake Frank: Wealth Holding in Southeastern Brazil, 1815-60. In: Hispanic American Historical Review 85, 2 (2005), S. 223-257; Arij Ouweneel: Shadows Over Anahuac: An Ecological Interpretation of Crisis and Development in Central Mexico, 1730-1800. Albuquerque 1996; Arturo Warman: La historia de un bastardo: maíz y capitalismo. México 1988 (1995) [Corn & Capitalism. How a Botanical Bastard Grew to Global Dominance. (übersetzt von Nancy L. Westrate) Chapel Hill 2002]. 9 Carl von Linné [Linnaeus, 1707-1778]: The Oeconomy of Nature, 1749; Alexander von Humboldt: Personal narrative of travels to the equinoctial regions of the New Continent during the years 1799-1804. 7 Bd. Amsterdam, New York 1972; Donald Worster: Nature's Economy. A History of Ecological Ideas.Cambridge 1994, S.31-55. 10 Donald Worster: Nature's Economy. A History of Ecological Ideas. Cambridge 1994 , S. 388-433; Leslie A. Real, James H. Brown (Hrsg.): Foundations of Ecology. Chicago 1991; Robert Clinton Stauffer: Ecology in the Long Manuscript Version of Darwin's Origin of Species and Linnaeus' Oeconomy of Nature . In: Proceedings of the American Philosophical Society, 104, 2 (1960) S. 235-241. 37 Räume der Regierbarkeit 37 Schwemmgebieten –, Humandemographie und von Kolonisierungsmodellen auf. 11 Während des letzten Viertels des vergangenen Jahrhunderts wurde die Umweltgeschichte zu einer anerkannten und etablierten Unterdisziplin. Zu den herausragendsten Forschungen der U.S.-amerikanischen Historiographie gehören William Cronons Changes in the Land and Nature’s Metropolis sowie Richard Whites The Roots of Dependency und The Middle Ground 12 . White gelingt in seinem ersten Werk ein dreifacher Vergleich der Geschichte der Choctaw, Pawnee und Navajo, unter Einbringung grundlegender Themen wie Umwelt, Kultur und Wirtschaftspolitik. Im zweiten Buch vergleicht er die Konflikte verschiedener indigener Nationen mit den rivalisierenden Kolonialmächten Frankreich, Großbritannien und den USA vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Die Begriffe Dependenz und Middleground finden sich seitdem häufig wieder, obwohl sich keiner der beiden ohne weiteres auf einen bestimmten geschichtlichen Schauplatz übertragen lässt. Bei der Untersuchung der lateinamerikanischen Grenzgebiete haben verschiedene Wissenschaftler, die sich mit der Wirtschaftspolitik von Missionen und Unternehmen beschäftigten, hervorgehoben, dass sich der Grad der Angewiesenheit auf indigene Arbeit und Güterproduktion und die Konzentration des kolonialen Vorhabens auf die Anwendung von Zwangsmitteln und Verhandlungen zur Rekrutierung von indigener Arbeitskraft gegenseitig bedingten. 13 Diese Interdependenzen zeigen sich aber auch in der Nutzung sowohl iberischer als auch indigener Bewässerungsmethoden, in der Webkunst oder der Keramikherstellung, um nur drei Beispiele zu nennen, und im Zugang zu essentiellen Ressourcen wie Land und Wasser. 11 Arturo Escobar: Constructing Nature. Elements for a Poststructural Political Ecology. In: R. Peet, M. Watts (Hrsg.): Liberation Ecologies. Environment, Development, Social Movements. London 1996, S. 46-68. Escobar bietet eine kritische Auseinandersetzung mit der Thematik des Ökologiemanagements; vergleiche hierzu auch Germán Palacio, Astrid Ulloa (Hrsg.): Repensando la naturaleza. Encuentros y desencuentros disciplinarios en torno a lo ambiental. Leticia, Kolumbien 2002. 12 William Cronon: Changes in the Land. Indians, Colonists, and the Ecology of New England. New York 1997; William Cronon: A Place for Stories: Nature, History, and Narrative. In: William Cronon (Hrsg.): Uncommon Ground: Toward Reinventing Nature” New York 1995; Richard White: The Roots of Dependency. Subsistence, Environment, and Social Change among the Choctaws, Pawnees, and Navajos. Lincoln 1983; Richard White: The Middle Gound. Indians, Empires, and Republics in the Great Lakes Region, 1650-1815. Cambridge 1991. 13 Radding: Paisajes de Poder e Identidad, 2005; Susan M. Deeds: Defiance and Deference in Mexico’s Colonial North. Indians under Spanish Rule in Nueva Vizcaya. Austin 2003; David Block: Misison Culture on the Upper Amazon: Native Tradition, Jesuit Enterprise, and Secular Policy in Moxos, 1660-1880. Lincoln 1994. 38 38 Cynthia Radding Es ist kein Zufall, dass sich die Umweltgeschichte in den USA gleichermaßen mit dem widerständigen Vorrücken der westlichen Frontier als auch mit den Konfrontationen zwischen indigenen Völkern, europäischen und angloamerikanischen Kolonisatoren, sowie afroamerikanischen Sklaven und freien Farbigen beschäftigte. Vertreter der “New Western History” betonen dabei Genderthematiken und untersuchen hybride Gesellschaften, die im Grenzgebiet entstanden. 14 Robert Williams etwa antizipiert in Linking Arms Together eine alternative Sichtweise der multi-kulturellen Gesellschaften im Grenzgebiet, im Unterschied zu den Maximen US- amerikanischer Verfassungsgesetzgebung, und zeigt am Beispiel künstlerischer und repräsentativer Ausdrucksformen der Irokesen und Algonkin den Einfluss indigener Vorstellungen von Konsensbildung und Reziprozität auf die vertraglichen Abkommen. 15 Sylvia Rodríguez, Anthropologin aus New Mexico, veröffentlichte vor kurzem ein Buch, das mehr als zwanzig Jahre Forschungsarbeit vollendet. Sie beschäftigt sich darin mit dem komplizierten Prozess kollektiver Konsensbildung bezüglich der Wasserverteilung, einem zentralen Thema der Ökologie und Bewässerungskultur in New Mexico, sowie im gesamten neuspanischen Norden. 16 Jüngste Studien verweisen schließlich auch auf die Ausdehnung indigener Territorien an der Peripherie der Kolonialgebiete, wie dies bei den Irokesen und Komantschen im Norden und den Araukanern und Guaraní im Süden des amerikanischen Kontinents der Fall war, und zeigen, dass nicht die gesamte Geschichte der Eroberung zur Rückdrängung oder Vernichtung der indigenen Völker führte. 17 Die mexikanische Historiographie entschied sich bei der Sensibilisierung für Umweltthemen innerhalb der traditionellen, mesoamerikanischen Anthropologie für einen anderen Weg. Teresa Rojas Rabiela, Bernardo García Martínez, Elinor 14 Patricia Limerick: The Legacy of Conquest: The Unbroken Past of the American West. New York 1987; Juliana Barr: Peace Came in the Form of a Woman. Indians and Spaniards in the Texas Borderlands. Chapel Hill 2007; James F. Brooks: Captives and Cousins. Slavery, Kinship, and Community in the Southwest Borderlands. Chapel Hill 2002. 15 Robert A. Williams: Linking Arms Together: American Indian Treaty Visions of Law and Peace. 1600-1800. New York 1999. 16 Sylvia Rodríguez: Acequia. Santa Fe 2007. 17 Kristine L. Jones: Comparative Raiding Economies: North and South. In: Donna J. Guy, Thomas E. Sheridan (Hrsg.): Contested Ground. Comparative Frontiers on the Northern and the Southern Edges of the Spanish Empire. Tucson 1998, S. 97-114; Thomas D. Hall: The Río de la Plata and the Greater Southwest: A View from World System Theory. In: Guy/ Sheridan: Contested Ground, 1998, S. 150-166; James Saeger: The Chaco Mission Frontier. The Guaycurúa Experience. Tucson 2000; Pekka Hämäläinen: The Western Comanche Trade Center: Rethinking the Plains Indian Trade System. In: Western Historical Quarterly 29, 4, (1998), S. 483-513. 39 Räume der Regierbarkeit 39 Melville und Arij Ouweneel veranschaulichen die Konvergenz dieser Disziplinen in Bezug auf die ländliche Ökologie von bäuerlichen Haushalten und der Agrarlandschaft in Zentralmexiko. 18 Alfred Siemens und Andrew Sluyter haben mit ihren ausführlichen historischen und geographischen Studien über Sumpfgebiete und das Hochland von Veracruz ebenfalls zu dieser wissenschaftlichen Diskussion beigetragen. Ebenso Jonathan Amith, der eine differenzierte und detaillierte Kulturgeographie für das Zentralgebiet von Guerrero entwickelt hat. 19 William Doolittle und William Denevan haben geohistorische Arbeiten zu Nord-, beziehungsweise Südamerika veröffentlicht, die die Schaffung anthropogener Landschaften durch eine Vielzahl prähispanischer und kolonialer Bevölkerungen thematisieren. 20 Anthropologen und Ökologen, die zu dem ariden Gebiet des mexikanischen Nordwestens arbeiten, haben aufschlussreiche Interpretationsfelder zu den semi-nomadischen Kulturen der Bauern und Wildbeutergruppen in dieser abgelegenen Region Mesoamerikas eröffnet. 21 In Südamerika ist die Untersuchung „ökologischer Nischen“, mit denen die Überlebensstrategien der Bauern in den Anden generell erläutert werden, erhellend für die materiellen und kulturellen Verbindungen zwischen dem Hochland und der Tiefebenen in der vorspanischen Zeit und während des Vizekönigreichs. Die räumliche Ausprägung separater „Nischen“ in der 18 Teresa Rojas Rabiela (Hrsg.): Agricultura indígena: pasado y presente. Mexiko 1994; Bernardo García Martínez: Los pueblos de la sierra: el poder y el espacio entre los indios del norte de Puebla hasta 1700. Mexiko 1987; García Martínez (Hrsg.): Estudios sobre historia y ambiente en América Bd. 1. Mexiko 1999; Melville: A Plague of Sheep, 1994; Ouweneel: Shadows Over Anáhuac, 1996. 19 Alfred H. Siemens: A Favored Place: San Juan River Wetlands, Central Veracruz, A.D. 500 to the Present. Austin 1998; Andrew Sluyter: Colonialism and Landscape: Postcolonial Theory and Applications. Lanham 2002; Jonathan D. Amith: The Möbius Strip: A Spatial History of a Colonial Society in Guerrero, Mexico. Stanford 2005. 20 William Doolittle: Cultivated Landscapes of Native North America. Oxford 2000; William Denevan: Cultivated landscapes of Native Amazonia and the Andes. Oxford 2001. 21 Gary Paul Nabhan: The Desert Smells like Rain. A Naturalist in Papago Indian Country. Tucson 1987; Nabhan: Gathering the Desert. Tucson 1986; Thomas Sheridan: Where the Dove Calls. The Political Ecology of a Peasant Corporate Community in Northwestern Mexico. Tucson 1988; T. Sheridan: Empire of Sand. The Seri Indians and the Struggle for Spanish Sonora, 1645 – 1803. Tucson 1999; Thomas Bowen: Unknown Island. Seri Indians, Europeans, and San Esteban Island in the Gulf of California. Albuquerque 2000; Elisa Villalpando C.: Los que viven en las montañas: correlación arqueológico-etnográfica en Isla San Estéban, Sonora, México. In: Noroeste de México 8, Hermosillo: INAH (1989); Beatriz Braniff: La frontera protohistórica pima-ópata en Sonora, México: proposiciones arqueólogicas preliminares. INAH. Mexiko 1992; Beatriz Braniff, Marie-Areti Hers (Hrsg.): Nómadas y sedentarios en el Norte de México. Homenaje a Beatriz Braniff. Mexiko 2000; Beatriz Braniff (Hg.): La Gran Chichimeca. El lugar de las rocas secas. Mexiko 2001. 40 40 Cynthia Radding Geographie der Region ist aber erst vor kurzem von Wissenschaftlern in Frage gestellt worden. Anthropologen und Geographen verweisen nun eher auf die Migrationen und den Austausch zwischen den Extremen des vermeintlich fragmentierten Gebietes Anden - Amazonien. 22 Der brasilianische Regenwald der Atlantikküste wurde über fünf Jahrzehnte von Warren Dean erforscht. Auch er verwies auf traditionelle, geschichtliche und anthropologische Themen wie die Sklaverei von Indigenen und Afrikanern, die Kreisläufe der Agrarwirtschaft von Zucker und Kaffee, sowie den Zuwachs der urbanen Zentren entlang der Küste um den Regenwald, und legt diese Themen als Schwerpunkt seiner Geschichtsforschung fest. 23 Kurzum, die verschiedenen Strömungen der Umweltgeschichte in Amerika präsentieren unterschiedliche Kombinationen aus ökologischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Themen. Ihre spezifischen Analysen resultieren sowohl aus geographischen als auch aus historischen Aspekten der Region, in der sie verortet werden. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Umweltgeschichte in langfristiger Perspektive ihre Aufgabe erfüllt, die Ökologie zu historisieren und darin die menschlichen Interaktionen mit der von ihnen geschaffenen Umwelt zu integrieren. DIE ETHNOHISTORIE UND RÄUME DER IDENTITÄT Die zu Beginn dieses Artikels aufgeworfenen Fragen nach den Bedeutungen des Begriffs Ethnie öffnen weitere Zugänge zur sozialen Umweltforschung: Wie ordnen sich die Stämme und Gruppen an – in Ranchos oder Siedlungen? Unter welchen Bedingungen erkennen sie Verbindungen der Loyalität und gegenseitigen Verpflichtungen an? Mit welcher Form der Autorität nehmen sie Ländereien und natürliche Güter in Besitz? Die Erkenntnisse der Historiker, Geographen und Anthropologen zeigen, dass die ethnischen Identitäten weder starr noch einfach zu definieren sind. Sie sind für sich genommen historische, fluktuierende Prozesse. Strukturen der Verwandtschaft, die an sich ein Artefakt der Kultur sind, und Verbindungen aus 22 John Murra: Formaciones económicas y políticas del mundo andino. Lima 1975; Karen Spalding: Huarochirí.An Andean Society under Inca and Spanish Rule. Stanford 1984; Enrique Mayer: The Articulated Peasant. Household Economies in the Andes. Cambridge 2002, S. 239-278; Tristan Platt: Fronteras imaginarias en el sur andino (Siglos XV-XVII). Archivo y Biblioteca Nacionales de Bolivia Anuario 1995, S. 329-344; Daniel W. Gade: Nature and Culture in the Andes. Madison 1999; Karl S. Zimmerer: Changing Fortunes: Biodiversity and Peasant Livelihood in the Peruvian Andes. Berkeley 1996; Juan Carlos Garavaglia, Jorge D. Gelman: Rural History of the Río de la Plata, 1600-1850: Results of a Historiographical Renaissance. In: Latin American Research Review 30 (3) (1995), S. 75- 105. 23 Dean: With Broadax and Firebrand 1995. 41 Räume der Regierbarkeit 41 Loyalität oder Mitgliedschaften konstruieren die Gemeinschaften und geben den ethnischen Identitäten Inhalte. Aus historischer Sicht sind die physischen Räume, die bewohnt und als kulturelle Landschaften geltend gemacht werden, das Fundament für verwandtschaftliche Netzwerke und politische Allianzen. Folgt man den beiden Strömungen Umweltgeschichte und Ethnohistorie, ist die soziale Kategorie des Begriffs Ethnie und deren historische Repräsentation notwendigerweise mit den physischen Räumen, en la tierra , verbunden. Die materielle und symbolische Bedeutung dieser Räume zeigt sich in Arbeitsprozessen, Konflikten, der Anerkennung der verschiedenen Gruppen untereinander sowie der Umwelt, die sie geschaffen haben. 24 Das gewaltige Herrschaftsgebiet der Nueva Vizcaya umfasste verschiedene Provinzen, Gegenden oder Bioregionen im nördlichen Hochland und den Wüstengebieten Chihuahuas (Mexiko). Diese gewannen ebenso durch die Missionen der Franziskaner und Jesuiten, die den verschiedenen indigenen Gruppen das Evangelium predigten, als auch durch die Ballung wichtiger und dauerhafter Bergbauzentren an Bedeutung. In diesen Zentren entstand eine gemischte Arbeiterbevölkerung aus zugeteilten Indigenen, freien Arbeitern und Afro-Mestizen, die entweder frei oder versklavt waren. Zahlreiche klassische Werke, wie die kulturgeographischen Arbeiten von Robert West, und jüngere Studien analysieren die Thematiken der Ethnogenese und des kulturellen Überlebens inmitten der Bergbau- und Landwirtschaft, die jene Region ausmachte. Susan Deeds etwa interpretiert die turbulente Geschichte der jesuitischen Missionen in den Gebieten der Tepehuán und Tarahumaras, während Sara Ortelli die Kriegsökonomie gegen die Apachen in der Nueva Vizcaya untersucht hat. 25 Als ich das Thema der kulturellen Identität im Nordwesten Mexikos und im Osten Boliviens komparativ behandelte, visualisierte ich dieses als ethnisches Mosaik in einer von Indigenen und Spaniern zwischen dem 18. Jahrhundert und dem Ende des Kolonialreichs geschaffenen Landschaft. In beiden Regionen fanden parallele Prozesse der Diversifikation und Transkulturation statt, wobei 24 Zwei anschauliche Studien zum transnationalen und fluktuierenden Charakter der Ethnie der Chiquitos in Bolivien und Brasilien sind: Joana A. Fernandes Silva (Hg.): Estudos sobre os chiquitanos no brasil e na Bolivia: história, lingual, cultura e territorialidade. Goiánia 2008 und José Eduardo Fernandes Moreira da Costa: A Coroa do Mundo. Religião, território e territorialidade chiquitano. Cuiabá 2006. Die ausführliche Forschungsarbeit von Guillaume Boccara über die Mapuche im Süden Chiles zeigt meisterhaft den Prozess der Ethnogenese auf: Guillaume Boccara: Los vencedores. Historia del pueblo mapuche en la época colonial. San Pedro de Atacama 2003. 25 Robert C. West: The Mining Community of Northern New Spain. The Parral Mining District. Berkeley 1949; Deeds: Defiance and Difference, 2003; Sara Ortelli: Trama de una Guerra conveniente. Nueva Vizcaya y la sombra de los apaches (1748-1790). Mexiko 2007. 42 42 Cynthia Radding sich die Fragmentierung der ethnischen Identitäten als ein fortdauerndes, charakteristisches Merkmal für Chiquitos erwies, während die ethnographischen Landkarten Sonoras zur Kolonialzeit ein Muster der Konsolidierung aufzeigten. Ein Untersuchungsschwerpunkt auf die Mobilität, der Vertreibungen und des Wiederauftauchens stellt jedoch die ethnographischen Etiketten infrage, die aus dokumentarischen Quellen gewonnen, von Text zu Text weitergegeben wurden und schließlich als Indizien für die Feldforschung dienten. Eine historische Darstellung der Ethnizität verlegt den Wert vielmehr zurück auf die komplexen Äußerungen kultureller Identität. Themen, die eng mit den ethnischen Grenzen verwoben sind, wie die kulturelle Hybridität und die Mestizisierung ( mestizaje) , sind Teil der kulturellen Verflechtung der beiden untersuchten Grenzgesellschaften. Der Begriff mestizaje bezieht sich auf eine Vermischung von Phänotypen, die ihren Ursprung in der biologischen Fortpflanzung zwischen Personen verschiedener Herkunft oder in der Migration und Adaption sichtbarer Zeichen wie Kleidung, Sprache oder Verhaltensmuster hat, die unterschiedliche Traditionen miteinander kombinieren oder neue bilden. Die hybriden Kulturen drücken ihrerseits den historischen Prozess der Entstehung neuer Kulturen aus, die ihren Ursprung in den kolonialen Machtverhältnissen haben und sich durch vielfältige Aneignungs- und Abwehrprozesse entwickelten. 26 Das historische Konzept von Ethnie wird schließlich durch die eine Betrachtung der Geschlechterverhältnisse vervollständigt, durch die Identität, soziale Position und asymmetrische Machtverhältnisse innerhalb der kolonisierten Gesellschaften definiert sind. Die Erfahrung der Geschlechterzugehörigkeit in den Kolonien zeigt sich in Sonora und Chiquitos auf verschiedene Weise. In beiden Missionsregionen war die Aufteilung der Arbeit in den Gemeinschaften durch die Geschlechterzugehörigkeit definiert, in den Siedlungen von Chiquitos wurde dies jedoch stärker betont als in Sonora. In der östlichen, bolivianischen Tiefebene konzentrierte sich die durch die Missionen kontrollierte Arbeit mehr auf die Wachsernte (eine Aufgabe für Männer) und die Spinnerei und Weberei (eine Aufgabe vorwiegend für Frauen). In den Missionen von Sonora waren Männer wie Frauen in der harten Feldarbeit und der Getreideverarbeitung beschäftigt, auch wenn Männer eher als Viehhirten, Schreiner und Maurer arbeiteten, und Frauen spannen und woben wie die Frauen in Chiquitos. Neben der wirtschaftlichen Organisation der Missionen wird die Bedeutung der Geschlechterzugehörigkeit vor allem bei der Familienbildung und im Zusammenhang mit der Mestizisierung deutlich. Auch die Geschichte der 26 Néstor García Canclini: Hybrid Cultures: Strategies for Entering and Leaving Modernity. Minneapolis 1995, S. 2-11. 43 Räume der Regierbarkeit 43 Entführungen, der Befreiung und dem Verkauf von Gefangenen ist sowohl in vorspanischer Zeit als auch während der kolonialen Periode in beiden Regionen eng mit der Genderthematik verbunden. Die Geschlechterunterschiede überschritten dabei ebenso die ethnischen Grenzen wie die Differenzen in Rang und Prestige bei Personenkreisen, für die soziale Ungleichheit nicht auf unterschiedlichen Besitzverhältnissen beruhte. 27 Bei einer komparativen Behandlung dieser Themen, in Hinsicht auf Erfahrungswerte und zu Darstellungszwecken, wird die Genderthematik mit der breiten Diskussion über Identität in Zusammenhang gebracht. Dies erlaubt uns, Loyalitäten über ethnische Schranken hinweg zu untersuchen, insofern dass andere, brüchigere Grenzen zwischen den Gesellschaften geschaffen werden, über die sich der innere Zusammenhalt und die Abgrenzung nach Außen konstruieren lassen. Die Bezeichnungen der Stämme und die indigenen Sprachen, wie Chiquitos oder Opata , sind tatsächlich Mischformen verschiedener ethnischer Abstammungen und damit Hinweise auf kulturelle Kombinationen, die in beiden Provinzen durch die Mobilität der Indigenen, Europäer und Afrikaner inner- und außerhalb der Missionen, Dörfer, befestigten Städte und Bergbauzentren stattgefunden haben. Als nur einige von vielen Beispielen können Zünfte, Milizen, Gemeinderäte und Kirchenhierarchien genannt werden, die korporative Identitäten gleichzeitig parallel zur Ethnizität und mit dieser verbunden begründeten. KOLONIALE LANDSCHAFTEN UND DIE UMWELTGESCHICHTE Die Kolonialisierung und Institutionalisierung der spanischen Herrschaft auf dem amerikanischen Kontinent entwickelte sich an verschiedenen Orten ausgesprochen unterschiedlich. Dies war in großem Maße von den Ökosystemen abhängig, die von der indigenen Bevölkerung in den abwechslungsreichen, geographischen Regionen geschaffen worden waren, und von den ökologischen Grenzen des Kontinents. Befestigte Siedlungen, kultivierte und bewässerte Ländereien, Steingräben, die Nutzung von Wüsten und Waldgebieten, oder auch Gärten, die in den tropischen Wäldern angelegt worden waren, repräsentieren unterschiedliche Formen des kulturellen Eingriffs in die Umwelt, die von den Europäern nur teilweise verstanden wurden. 27 Jane Fishburne Collier: Marriage and Inequality in Classless Societies. Stanford 1988; Susan M. Deeds: Double Jeopardy: Indian Women in Jesuit Missions of Nueva Vizcaya. In: Susan Schroeder, Stephanie Wood, Robert Haskett (Hrsg.): Indian Women of Early Mexico. Norman 1997; Susan M. Deeds: Subverting the Social Order: Gender, Power, and Magic in Nueva Vizcaya. In: Jesús F. de la Teja, Ross Frank (Hrsg.): Choice, Persuasion, and Coercion. Social Control on Spain’s North American Frontiers. Albuquerque 2005. 44 44 Cynthia Radding Die Kolonisierung verwandelte diese Landschaften vielerorts radikal und gewaltsam, aber häufig auch durch subtilere und langsame Prozesse. Demografischer Rückgang und ökologischer Wandel in Grasland, Flüssen und Wäldern waren die Folge der Ausbreitung des Bergbaus und der Viehzucht. Neue Mikroorganismen tauchten auf. Dennoch zeichnet die Kolonialisierung keinen linearen Weg der Umweltzerstörung nach. Die kolonialen Landschaften gingen aus den indigenen Landschaften hervor und veränderten sie, aber sie ersetzten die kulturellen Artefakte und Technologien nicht vollständig, welche Anbaugebiete geformt, urbane Räume und Kultstätten geschaffen, Handelswege etabliert sowie Regionen für Jagd- und Sammelaktivitäten reserviert hatten. Die militärischen Feldzüge und kolonialen Unternehmungen fügten den vormaligen Prozessen der Erschaffung und Zerstörung in der Geschichte der menschlichen Ökologie lediglich neue Achsen der Veränderung hinzu. POSTKOLONIALE GESCHICHTE UND GOVERNANCE- RÄUME Die Übergänge von der Kolonialzeit zu den Republiken Lateinamerikas geschahen in unterschiedlichen Phasen und nahmen in den nördlichen und südlichen Grenzgebieten des spanischen Kolonialreiches in Amerika verschiedene Formen an. In wiederholten Eingaben versuchten die indigenen Gemeinschaften sich innerhalb der von den kreolischen Eliten geschaffenen Institutionen, in den Gemeinden, den regierenden Juntas und Parlamenten, politische Räume zu öffnen. Damit stellten sie sich denjenigen Kräften der neuen Eliten gegenüber, die die indigene Bevölkerung an den Rand des politischen Geschehens drängen wollten. Dessen ungeachtet beharrten die indigenen Gemeinschaften darauf, sich in Debatten, in bewaffneten Konflikten der politischen Gruppierungen, die von einem caudillo angeführt wurden, und in eigenen Angelegenheiten Gehör zu verschaffen. Dies war ebenso bei den Yaquis und den Opatas in Sonora, wie bei den Bewohnern Chiquitos im östlichen Bolivien der Fall. 28 In den Grenzgebieten entbrannten die Kämpfe um Ackerland und die Nutzungsrechte marginaler Gebiete, die von den Indigenen für Jagd- und Sammelaktivitäten und als Weideland für Viehherden genutzt wurden. Wohlbekannt sind in diesem Zusammenhang die parlamentos , die typisch für die Rio de la Plata-Region waren. Bei diesen fast theatralischen Treffen wurde der Austausch von Gefangenen und Gütern, durch Verhandlungen zwischen den kommunalen, den staatlichen Regierungen und den ernannten Oberhäuptern der verschiedenen indigenen Gruppen vorbereitet. 29 Im mexikanischen Norden blieb 28 Cynthia Radding: Landscapes of Power and Identity. Durham, London 2005, S. 240-294. 29 Mandrini/ Paz (Hrsg.): Las fronteras hispano criollas del mundo indígena 45 Räume der Regierbarkeit 45 die Zentralregierung bis in die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts weiterhin schwach, so dass die staatliche Regierung mit den Apachengruppen und den Oberhäuptern der Komanchen in Sonora, Chihuahua, Coahuila und Nueva León ein gegenseitiges Auskommen finden musste. Während der ersten 50 Jahre nach der Unabhängigkeit überließen die nördlichen mexikanischen Provinzen faktisch ganze Landstriche und Handelsrouten den Nomadengruppen, deren migratorische Ausbreitung enorme Distanzen erreichte. Brian DeLay hat zuletzt den bedeutenden Einfluss dieser fast autonomen Gruppen auf die Feindseligkeiten und Verhandlungen im Anschluss an den Einmarsch der U.S.- amerikanischen Truppen in Mexiko 1846 herausgearbeitet. 30 Die Prozesse der Ethnogenese dauerten auch während des 19. Jahrhunderts an und führten zu neuen Kombinationen ethnischer und sozialer Gruppen im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen und der Gefangennahme oder Befreiung von Individuen und ganzen Familien. Auch im Alltag erschufen Prozesse der Ethnogenese neue soziale Mosaike durch Arbeit, Migration und eheliche Verbindungen, die wohl weniger dramatisch waren, als die im Krieg entstandenen Formen, aber ebenso tiefgreifend wirkten. Verschiedene mikrohistorische Betrachtungen einzelner Siedlungen wie Tucson (Sonora und Arizona) und von Provinzen wie Buenos Aires oder Kalifornien haben die strukturellen Veränderungen innerhalb der Familien, des urbanen Lebens oder auch der Kolonien aufgezeigt und den Weg für neue Synthesen und Interpretationen geöffnet. 31 Die Geschichte des 19. Jahrhunderts – auch wenn sie in Bezug auf die Grenzgebiete bislang nicht überzeugend integriert und noch ziemlich unvollständig erforscht ist – zeigt uns, dass diese Räume eine Untersuchung verlangen, die über die politischen Parteien, die caudillos mit ihren politischen Programmen, und über die Verfassungsgesetzgebungen hinausgeht. Die Herausforderung hierbei ist es, die problematische Republikgründung aus Sicht der als marginal wahrgenommenen Bevölkerungen zu konstruieren: den Nomaden und den ethnisch und sozial vermischten Gemeinschaften, die an den territorialen und politischen Grenzen der Nationalstaaten lebten und teilweise immer noch dort zu finden sind. latinoamericano, 2003 ; Jones: Comparative Raiding Economies, 1998. 30 Brian DeLay: War of a Thousand Deserts. Indian Raids and the U.S.-Mexican War. New Haven 2008. 31 Susan Socolow: Women of the Buenos Aires Frontier, 1740-1810 (or the Gaucho Turned Upside Down). In: Guy/Sheridan (Hrsg.): Contested Ground, 1998, S. 67-82; Thomas Sheridan: Los Tucsonenses. Tucson 1986; Miroslava Chávez-García: Negotiating Conquest. Gender and Power in California, 1770s to 1880s. Tucson 2004. 46 47 LASSE HÖLCK

STAATSFEINDE: DIE SERI UND KOLONIALE HERRSCHAFT IN SONORA, MEXIKO

Die kulturelle Heterogenität der Bevölkerung hat den Prozess des Regierens in der Vergangenheit und Gegenwart (Latein-) Amerikas stets verkompliziert, da der Herrschaftsanspruch kolonialer und postkolonialer Regierungen über eine Vielzahl von indigenen Gruppen bei diesen keine Anerkennung findet. Unter den indigenen Bevölkerungsgruppen Lateinamerikas stellten Jäger und Sammlergruppen die Regierungen scheinbar vor eine besondere Herausforderung: die soziale Organisation dieser Gruppen lässt Pierre Clastres zufolge ihre Kennzeichnung als „staaten lose “ Gemeinschaften von geringerem analytischem Wert erscheinen, als die Prinzipien ihrer Vergesellschaftungs- formen fundamental gegen staatliche Strukturen gerichtet zu begreifen 1 . Im vorliegenden Beitrag soll anhand eines Fallbeispieles – der Seri im kolonialen Sonora – über die „Staatsfeindlichkeit“ von Jäger und Sammlergruppen und die Bedeutung der Existenz von genuin „antistaatlichen“ Völkern für die Regierungsformen innerhalb staatlicher bzw. von einem Staat beanspruchter Territorien reflektiert werden. Das Zusammenleben mit meist dominanten Mestizengesellschaften innerhalb eines Staates ist für Jäger und Sammlergruppen Gruppen in Lateinamerika und weltweit eine Situation, der sie sich heutzutage nicht mehr bzw., wie z.B. im Fall diverser Indianergruppen des Amazonasgebietes, wohl nicht mehr lange entziehen können. Um eine Zugehörigkeit zu einem Staat haben diese Gruppen selbst nie gebeten. Vielmehr drängen die Regierungen auf ihre Einbeziehung und sind meist nicht imstande oder willens, einer Durchdringung der letzten Rückzugsgebiete durch ihre Staatsbürger oder transnationale Akteure Einhalt zu gebieten 2 . In Umkehr der These Pierre Clastres könnte man also formulieren: Staaten sind „Jäger und Sammler-feindlich“. Da eine Isolation langfristig unwahrscheinlich erscheint, ist es geboten, nach Mechanismen der Einbeziehung zu suchen, über die diese Gemeinschaften an den politischen Vorgängen 1 Pierre Clastres: Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie. Frankfurt a.M. 1976, S. 203ff. 2 Trigger, David S. Trigger: Hunter- gatherer peoples and nation states. In: Richard B.Lee und Richard Daly (Hrsg.): The Cambridge Encyclopedia of Hunters and Gatherers. Cambridge 1999 , S. 473–479; John H. Bodley: Der Weg der Zerstörung. München 1983. 48 48 Lasse Hölck beteiligt werden können. Dabei gilt es in erster Linie die Gewaltprozesse zu vermeiden, die, wie die Geschichte lehrt, zu einer Ausrottung der meisten dieser Gruppen führten 3 . Dazu ist es notwendig, Regierungsweisen zu finden, die die Akzeptanz dieser Gruppen finden. Folgt man der Überlegung, dass Legitimitätsglaube „in erheblichem Maße von der kulturellen Sozialisation geprägt ist“ 4 , dann kann aufgrund der zwischen den Bevölkerungsgruppen verlaufenden kulturellen Grenzen nicht oder nur schwer auf eingespielte Traditionen sozialer Kooperation zurückgegriffen werden. Theoretische Überlegungen der jüngsten Governance- Forschung zu Regieren in Räumen begrenzter Staatlichkeit lassen erkennen, dass klassische Formen „hoheitlicher Steuerung“, d.h. „Weisungen, denen sich Akteure unterwerfen müssen und deren Einhaltung notfalls mittels Zwang und Gewalt und auch gegen die Interessen und Präferenzen der Akteure durchgesetzt wird“ 5 , in Abwesenheit eines permanenten physischen Zwangsapparates (Militär, Polizei) ohnehin nicht die gewünschten Ergebnisse zeitigen können. Vielmehr scheinen horizontale Koordinationsmechanismen, die einen Interessenausgleich zwischen den Gruppen ermöglichen, eher zum Erfolg zu führen. Aber „[g]erade horizontale Koordinationsmechanismen sind in besonderem Maß auf Tugenden wie Vertrauen, Toleranz und Solidarität angewiesen. […] Da die Akteure zur Übernahme der Transaktionskosten nicht gezwungen werden können, müssen sie intrinsisch zur Mitwirkung motiviert sein.“ 6 Im Laufe der vorliegenden Untersuchung wird danach zu fragen sein, ob und wie horizontale Koordinationsmechanismen unter den Bedingungen kultureller Heterogenität ein anerkennungswürdiges Regieren ermöglichten. Insbesondere in den peripheren Regionen Nord- und Südamerikas stieß die europäische Kolonialexpansion bereits früh an ihre Grenzen. Die enge historische Verflechtung von Umwelt und Gesellschaft verdeutlicht sich augenfällig bei der Betrachtung dieser peripheren Gebiete: ihre oft extremen klimatischen Voraussetzungen – z.B. in (Eis-) Wüsten oder tropische Regenwälder - setzten einer weiteren Ausbreitung der an die Möglichkeiten landwirtschaftlicher Nutzung gebundenen iberischen Kolonialexpansion ein Ende und erlaubten im Gegenzug das Fortbestehen indigener Formen sozialer 3 John H. Bodley: Hunter-gatherers in the colonial encounter. In: Richard B.Lee und Richard Daly (Hrsg.): The Cambridge Encyclopedia of Hunters and Gatherers. Cambridge 1999, S. 465–472. 4 Bernd Ladwig, Tamara Jugov und Cord Schmelzle: Governance, Normativität und begrenzte Staatlichkeit. SFB-Governance Working Paper Series, 4 (2007), S. 17. 5 Thomas Risse: Regieren in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Zur „Reisefähigkeit“ des Governance-Konzeptes. SFB-Governance Working Paper Series, 5 (2007), S. 6. 6 Ladwig, Jugov, Schmelzle 2007, S. 17. 49 Die Seri und koloniale Herrschaft 49 Organisation (vgl. Cynthia Radding in diesem Band). Da andere Produktionsmodi als das Jagen und Sammeln aufgrund der natürlichen Beschaffenheit dieser Lebensräume nicht oder nur stark eingeschränkt möglich waren, handelt es sich bei diesen sozialen Organisationsformen überwiegend um diejenigen von Wildbeutern ( foragers ), bzw. Jägern und Sammlern. Warum aber ist die soziale Organisation von Jäger und Sammlergruppen als antistaatlich zu bezeichnen und welche Konsequenzen hatte dies für ein kolonialstaatliche Projekt? Um eine Antwort auf die aufgeworfene Frage zu finden wird in diesem Beitrag zunächst die anthropologische Diskussion über die soziale Organisation von Wildbeutern am Beispiel der Seri vorgestellt und ein Einblick in die staatliche Organisation des frühkolonialen Sonora gegeben. Die historische Untersuchung geht dazu an den Anfang der Kontaktgeschichte zwischen Seris und Europäern 7 zurück und untersucht die frühesten Berichte auf Hinweise, die zur weiteren Klärung der sozialen Struktur der Seris herangezogen werden können und die die kolonialstaatliche Regierungsweise gegenüber den Seris aufzeigen. Abschließend wird herausgearbeitet, welche Merkmale der kolonialstaatlichen Regierungsweise den ermittelbaren Prinzipien sozialer Organisation der Seri entgegenstanden und durch welche Regierungsformen dennoch ein Interessenausgleich zwischen den ungleichen Bevölkerungsgruppen ausgehandelt werden konnte. Tatsächlich sind die Seris (Eigenbezeichnung: Comcáac = „die Menschen“) ein instruktives Beispiel im Rahmen der Themenstellung dieses Bandes, da sie weder zur Kolonialzeit noch nach der Unabhängigkeit den Herrschaftsanspruch spanischer oder mexikanischer Regierungsvertreter anerkannt haben. Historische Arbeiten über die Seri dokumentieren ein seit der Ankunft der Europäer in Sonora konfliktreiches Verhältnis zum kolonialen Staat 8 und zeigen, dass auch der Übergang zur Republik nach der mexikanischen Unabhängigkeit in dieser Hinsicht keine Verbesserungen zu schaffen vermochte 9 . Bis heute 7 Die Integration der indigenen Gruppen in Sonora oblag dem Jesuitenorden, der sich aus einem gesamteuropäischen Personal rekrutierte. Es kann daher in dem hier gegebenen Zusammenhang von „Europäern“ anstelle von „Spaniern“ gesprochen werden. 8 Thomas Sheridan: Empire of Sand. The Seri Indians and the Struggle for Spanish Sonora, 1645- 1803. Tucson 1999; William Griffen: Seventeenth Century Seri. In: The Kiva, Jg. 27, H. 2 (1961), S. 12–21; José Luis Mirafuentes Galvan: Seri, apaches y españoles en Sonora. Consideraciones sobre su confrontación militar en el siglo XVII. In: Históricas, H. 22 (1987), S. 18–29. 9 W. J. McGee (1898): The Seri Indians. Seventeenth Annual Report of the Bureau of American Ethnology. Washington 1898; Valencia Rentería und Rodrigo Fernando: Seris. México 2007: CDI (Pueblos Indígenas del México Contemporáneo), online erhältlich unter http://www.cdi.gob.mx; Lasse Hölck: Los Seris Tiburones y el gobierno de Sonora. Dos casos de inclusión jurídica, 1773 y 1831, in: Peninsula Vol. III, Nr. 2 (Sonderausgabe herausgegeben von Arturo Taracena), im Druck. 50 50 Lasse Hölck lehnen sie eine Integration in die mexikanische Mestizengesellschaft ab und erheben stattdessen den Anspruch auf eine eigene Nationalität 10 . Ihr Verhältnis zur Obrigkeit und breiten Teilen der mexikanischen Gesellschaft ist von gegenseitigem Misstrauen geprägt, das sich meist in symbolischen, zuweilen aber auch in physischen Auseinandersetzungen ausdrückt. Während der Chiapas Aufstände 1994 besetzten etwa föderale Truppen das Gebiet der Seri, um dort einer Nachahmung vorzubeugen 11 ; die Seri selbst drohten zu Beginn dieses Jahrhunderts mit einem bewaffneten Aufstand und einige führten vor dem Gouverneurspalast in Hermosillo einen Kriegstanz auf, um ihrer Forderung nach Selbstbestimmung Nachdruck zu verleihen 12 . Im März 2005 kam es zu Schusswechseln zwischen der Guardia Tradicional Seri und der mexikanischen Polizei, die in dem semi-autonomen Gebiet der Seri stets klandestine Aktivitäten argwöhnt 13 . Die Hauptursache dieser Konflikte ist in dem Herrschaftsverhältnis selbst zu suchen, das von den staatlichen Akteuren kategorisch eingefordert, von den Seris hingegen abgelehnt wird. WILDBEUTER UND KOLONIALSTAAT: DIE SERIS UND SONORA IM 17. JAHRHUNDERT Im Unterschied zu den Land- und Viehwirtschaft betreibenden Mapuche in Chile, deren politische Organisation hierarchische Strukturen aufwies und deren traditionelle Anführer ihre jeweiligen Bezugsgruppen verbindlich gegenüber den spanischen und später chilenischen Nachbarn repräsentieren konnten (vgl. die Beiträge von Contreras und Pinto in diesem Band), war eine zivile Anführerschaft bei den Seris nicht traditionell verankert. Trotz vielfältiger Bemühungen gelang es den Spaniern und Mexikanern nicht, indigene gobernadores innerhalb der lose verbundenen Seri- Gruppen dauerhaft zu etablieren, über die eine zuverlässige Steuerung derselben ermöglicht werden sollte. 10 Lasse Hölck: Gobernando Nómadas: Los Seris y el Gobierno de Sonora, Vortrag gehalten und veröffentlicht (CD-ROM) anlässlich des XV Congreso de AHILA in Leyden, 2008. 11 David Yetman und Virgil Hancock: Sonora. An intimate geography. Albuquerque 1996, S. 168. 12 Rentería 2007, S. 39. 13 El Imparcial . Diario Inedependiente de Sonora, 7.5.2005. Sammlung von Zeitungsartikeln im Instituto Nacional de Antropologia e História (INAH) in Sonora. 51 Die Seri und koloniale Herrschaft 51 DIE SOZIALE ORGANISATION DER SERIS Das Fehlen klarer Hierarchien, wie sie vor allem Staaten in ihrer gesellschaftlichen Schichtung oder erbliche Häuptlingstümer hinsichtlich der Existenz herrschender Familiendynastien aufweisen, stellte die koloniale Obrigkeit zunächst vor ein gravierendes Verständnisproblem. Egalitäre Gesellschaftsformen wurden von den Kolonialherren zumeist schlicht als Abwesenheit jeglicher politischer Organisation interpretiert. Auch moderne Ethnographen der Seris wussten sich oft nicht weiter zu helfen, als von „geringer formeller Organisation“ 14 dieser Jäger und Sammler- Gruppe zu sprechen. Viele Untersuchungen politischer Anthropologie stimmen jedoch darin überein, dass die soziale Organisation von Jägern und Sammlern auf Verwandtschaftssystemen gegründet ist, die eine gegenseitige Solidarität der Gruppenmitglieder erzeugen; Verwandtschaftsbeziehungen und politische Organisation sind demnach miteinander verschmolzen 15 . Die Verwandtschaftsterminologie der Seris ist äußerst komplex 16 und die durch sie gekennzeichneten Beziehungen verpflichten Felger und Moser zufolge jedes Individuum zum Teilen von Gegenständen (Werkzeug, Jagdwaffen oder Haushaltswaren) und Nahrungsmitteln mit anderen Gruppenmitgliedern 17 . Die ordnende Funktion solcher Beziehungen, in Äquivalenz zu politischen Institutionen, wird in zahlenmäßig kleinen Gruppen wie den Seris 18 dadurch ermöglicht, dass die Beziehungen der Gruppenmitglieder zueinander direkt („face-to-face relationships“) und nicht anonym sind 19 . Der unmittelbare Druck der eigenen Gruppe oder Familie reicht zumeist aus, um Individuen zu einem als sozial anerkannten Verhalten zu bewegen. 14 Alfred L. Kroeber(1931): The Seri. Southwest Museum Papers, 6 (1931), S. 4. 15 Elman R. Service: The hunters. New Jersey 1966. ; Fortes, M. und Evans- Pritchard, E.E. 1940: Introduction, in: dies. (Hrsg.): African Political Systems. London 1940, S. 1-23, hier S. 6-7. Hierbei sollte beachtet werden, dass es sich nicht unbedingt um Blutsverwandtschaften handeln muss. 16 Mary B. Moser und Stephen A. Marlett: Seri kinship terminology. In: Robert A. Dooley und Jim Meyer (Hrsg.), 1993 Work Papers of the Summer Institute of Linguistics, University of North Dakota Session 1993, pp. 21–35. 17 Richard Stephen Felger und Mary Beck Moser: People of the desert and sea. Ethnobotany of the Seri Indians. Tucson 1985, S. 3. 18 Die gesamte Seribevölkerung bestand auch in historischer Zeit aus nicht mehr als ein paar tausend Individuen, die auf zahlreiche Gruppen und Untergruppen verteilt waren. Sheridan 1999, S. 9. 19 John Layard: Familie und Sippe. In: Institutionen in primitiven Gesellschaften. Frankfurt am Main 1967, S. 59-75, bes. S. 73f. 52 52 Lasse Hölck Marshall Sahlins benannte diese „Gruppensolidarität“ in egalitären Gesellschaften als „generalisierte Reziprozität“, wobei er davon ausging, dass die diffusen Verpflichtungen zur gegenseitigen Hilfe ein beständiges Geben und Nehmen der Gruppenmitglieder untereinander erzeugten 20 . Bezeichnend für Sahlins´ generalisierte Reziprozität ist, dass bei ihr die Abgabe von Gütern oder Hilfe nicht mit (zeitlich versetzten) Gegengaben durch die Empfängerseite „verrechnet“ wird („ balanced reciprocity“) und auch kein einseitiges Geben oder Nehmen (Großzügigkeit bzw. Ausbeutung; „ negative reciprocity“) statt findet. Alan Banard zufolge ist das Teilen von Nahrung und Besitz in der moralischen „Denkweise“ ( mode of thought ) von Wildbeutern verankert 21 . Im Gegensatz zur positiven Konnotation, die eine Akkumulation im Sinne von „Sparen“ oder langfristiger Vorratsanlegung in den meisten domestizierenden (Bauern, Hirten) und industriellen Gesellschaften erhält, wird die Anhäufung von materiellem „Reichtum“ bei Wildbeutern als unsoziales Verhalten aufgefasst 22 . Eine grundsätzliche Erwartungssicherheit der Gruppenmitglieder, auf Anfrage hin einen Anteil zu erhalten, ohne etwas geben zu müssen, ist auch bei den Seris beobachtet worden 23 . Die historische Evidenz lässt zudem erkennen, dass die Umverteilung individuellen Besitzes an die Gemeinschaft in soziales Prestige umgewandelt wurde, dessen Wert höher geschätzt wurde als die Vorteile, die aus materiellem Besitz resultieren konnten (s.u.). Am häufigsten wurde bei den Seris das Teilen von Nahrung beobachtet. Bei Rückkehr eines Bootes wird etwa noch am Ufer die Ladung gesammelter Meeresfrüchte, Agavenherzen und ähnlichem mit der zusammenströmenden Bevölkerung, darunter viele Kinder, geteilt 24 und ins Lager heimkehrende Jäger teilten ihre Beute mit den Frauen, Alten und Kindern 25 . 20 Marshall Sahlins: Stone age economics. London 1972, S. 193-4 und 231ff. 21 Den Begriff „Denkweise“ bemüht Barnard dabei nicht, um uns einen untrüglichen Blick in den Kopf von Jägern und Sammlern zu gewähren, sondern vielmehr um darauf hinzuweisen, dass selbst Veränderungen in der Lebensweise von Wildbeutern, wenn sie etwa als Tagelöhner arbeiten, keine unmittelbaren Veränderungen ihrer sozialen Einstellungen herbeiführen: „Mode of thought is more resilient than mode of production“. Alan Banard: The foraging Mode of Thought. In: Senri Ethnological Studies, H. 60 (2002), S. 5–24, S. 6 und 8. 22 Ebd., S. 5–24, S. 7. 23 Nach Griffen werden z.B. spezielle grammatische Konstruktionen verwendet, mit denen um Anteilhabe an einer Mahlzeit gefragt wird, die dann nicht verweigert wird: William B. Griffen: Notes on the Seri Indian Culture, Sonora, Mexico. Latin American Monographs Nr. 10, Gainesville 1959, S. 33-35. 24 Felger und Moser 1985, S. 222; 25 McGee 1898, S. 196. 53 Die Seri und koloniale Herrschaft 53 Teilen als wirtschaftliches Prinzip 26 hat wiederum politische Implikationen, da es Ungleichheiten – und damit Machtasymmetrien - zwischen den Gruppenmitgliedern gleichen Geschlechts und gleicher Generation neutralisiert. Wie anhand eines Vergleiches verschiedener Jäger und Sammlergruppen gezeigt werden konnte, ist der Verzicht auf eine materielle Besserstellung Einzelner notwendig, um die bestehende soziale Ordnung aufrecht zu erhalten 27 . Woodburn zufolge wird „Ungleichheit in Reichtum, Macht und Status“ bei Jäger- und Sammlergruppen „systematisch eliminiert“ 28 . Dabei bezieht er sich auf solche Gruppen, die eine „ immediate return “ - Wirtschaftsweise praktizieren, d.h. sie konsumieren ihre Nahrungsproduktion direkt, ohne Vorräte anzulegen, und benötigen dafür ausschließlich Werkzeuge, die individuell und ohne größeren Aufwand hergestellt werden können. Techniken der Vorratsanlegung waren den Seris durchaus bekannt, dienten aber nur einer Lagerung für den begrenzten Zeitraum des Verbleibs an einem Ort 29 , so dass eine Regelung des Zugangs zu diesen Vorräten kein dauerhaft zu regelndes Problem darstellte. Die technische Ausrüstung, vom Pfeil bis zum Floß ( balsa ), war problemlos ohne die Hilfe anderer herzustellen, sobald Nachahmung und Teilnahme Zugang zum wichtigsten Produktionsmittel eröffneten: Kenntnis der Umwelt und der Techniken, die ihre Ausnutzung ermöglichten. Dieses Wissen wurde zwischen den Generationen weitergegeben und konnte nicht monopolisiert werden. Auch andere soziale Mechanismen fördern in immediate return - Systemen die Umverteilung materieller Güter. Spiele, bei denen ein Wetteinsatz wie Kleidung den Besitzer wechselt, bilden in den meisten Jäger und Sammlergruppen einen festen Bestandteil alltäglicher Geselligkeit 30 . Die ersten Missionare der Seri bemerkten ebenso wie moderne Ethnographen deren Spielfreudigkeit und beobachteten die redistributive Funktion dieser Aktivitäten 31 . 26 Zu dem Konzept des Teilens ( sharing ) als dominanten Modus ökonomischer Allokation in Jäger- und Sammlergruppen siehe James Price: Sharing. The Integration of Intimate Economies. In: Anthropologica, Jg. 17, H. 1 (1975), S. 3–28. 27 Eleanor Leacock: Relations of production in band society. In: Eleanor Leacock und Richard Lee (Hrsg.): Politics and history in band societies. Cambridge 1987, S. 159–170. 28 James Woodburn: Egalitarian Societies. In: Man, Jg. New Series, Vol. 17, H. 3 (1982), S. 431–451, hier S. 431-32. 29 Felger and Moser 1985, S. 91. 30 Woodburn 1982, S. 443. 31 Gilg Adam: Die Serer. In: Joseph Stöcklein (Hrsg.): Der Neue Welt-Bott. Augsburg, Graz 1726, S. 81; Felger and Moser 1985, S. 160-162. 54 54 Lasse Hölck Charakteristisch für immediate return - Systeme ist weiterhin eine freie Wahl der Gruppenzugehörigkeit 32 . Tim Ingold zufolge basiert die Verbindung der Gruppenmitglieder untereinander allein auf Vertrauen ( trust ), und nicht auf Abhängigkeiten 33 . Nichts hält demnach eine Gruppe länger zusammen als die momentane gemeinsame Aktion, etwa von der Jagd bis zum Aufteilen der Beute. Statt regelmäßiger Orts wechsel, wie sie für (Hirten-) Nomaden charakteristisch sind, zeichnen sich Wildbeuter demnach durch einen jederzeit möglichen Wechsel der Begleitung ( company ) aus. Edward Moser zufolge waren die Seris in mehrere Untergruppen ( bands ) aufgeteilt, die von den Spaniern nach ihren bevorzugten Schweifgebieten benannt wurden 34 (Karte 2). Die Möglichkeit, eine dieser Gruppen zu verlassen und sich einer anderen anzuschließen, ist dabei ein Merkmal, das anhand historischer Dokumente auch für die Seris festgestellt werden kann, und im empirischen Teil dieser Untersuchung dargelegt werden wird. Diese soziale Flexibilität macht schließlich darauf aufmerksam, dass auch die Bindungen an einzelne Personen wie temporäre Kriegsführer, erfahrene Jäger oder ähnliche Autoritäten nicht zwingend waren. Die Ethnographien zu den Seris stimmen darin überein, dass es keiner formalen Entscheidungsträger bzw. politischer Anführer bedurfte 35 . Alan Banard stellt in diesem Zusammenhang wiederum die „Denkweise“ von Wildbeutern derjenigen von hierarchischen Gesellschaften gegenüber, in denen die politische Führung als öffentlicher Dienst wahrgenommen und von daher positiv bewertet wird. In Wildbeuter- Gesellschaften gilt politische Führung hingegen als Mittel zur Verfolgung persönlicher Interessen und wird abgelehnt 36 . Der Anführer bei gemeinsamen Jagd- oder Kriegsunternehmen verliert seine Position, wenn er seine Gefolgschaft durch Sanktionen (Drohungen, Gewalt) zu steuern versucht. Er muss vielmehr bemüht sein, das Vertrauen seiner Leute durch Selbstbescheidung (z.B. bei der Verteilung der Beute) und Verzicht auf autoritäre Maßnahmen aufrecht zu erhalten, und allein auf seine individuellen Fähigkeiten (Geschicklichkeit, Ortskenntnis, Verhandlungsgeschick etc.) rekurrieren, um die Anerkennung seiner Gefolgschaft zu gewinnen. Effektive 32 Woodburn 1982, S. 434. 33 Tim Ingold: Social relations of the hunter-gatherer band. In: Richard B. Lee und Richard Daly (Hrsg.): The Cambridge Encyclopedia of Hunters and Gatherers. Cambridge 1999, S. 399–410, hier S. 407. 34 Edward W. Moser 1963: Seri bands. The Kiva. 28.3: 14-27. Spanische Version: Bandas Seris, online verfügbar unter http://www.sil.org/americas/mexico/seri/A004-BandasSeris- SEI.pdf, zuerst veröffentlicht: 1999, zuletzt geprüft am 24.1.2009. 35 Griffen 1959, S. 31. 36 Barnard 2002. 55 Die Seri und koloniale Herrschaft 55 Entscheidungsfindung wird dadurch unterbunden 37 , die Partizipation der Gruppenmitglieder ist aber durch das Vertrauen und die Exit- option des Gruppenwechsels, in der Funktion der Misstrauensäußerung, garantiert. DER KOLONIALE STAAT IN SONORA, 17. JAHRHUNDERT Die Durchsetzung von Sesshaftigkeit und Landwirtschaft waren ein fester Bestandteil des spanischen Regierungsprogramms zur Etablierung staatlich- kolonialer Herrschaft gegenüber den indigenen Gruppen im Nordwesten Mexikos und anderswo. Den politischen Repräsentanten ( alcaldes mayores ) der Provinz Sonora wurde auferlegt, neben der Evangelisierung und Protektion der indigenen Gruppen auch ihre Sesshaftwerdung zu veranlassen und sie zu einer Boden bebauenden Tätigkeit anzuhalten 38 . Die exekutive Machtgrundlage der alcaldes mayores bildete ihr Amt als capitan general de guerra , wobei sie ihre Legitimität aus der Ernennung von hoher Stelle, durch den Gouverneur von Nueva Vizcaya oder den Vizekönig von Neuspanien bezogen. Die spanische Bevölkerung der Provinz wurde in den entsprechenden Ernennungsschreiben angewiesen, dem Vertreter der Krone den gebührenden Respekt entgegenzubringen 39 . Die alcaldes mayores waren berechtigt, untergeordnete Beamte ( teniente de alcalde mayor und capitanes de guerra) zu ernennen, die ihnen bei der Ausübung ihrer militärischen und zivilen Verwaltungspflichten behilflich sein sollten 40 . Im Anschluss an die meist unbestimmte, häufig aber auf ein oder mehrere Jahre limitierte Amtszeit, musste sich der alcalde mayor gegenüber der Audienz von Guadalajara verantworten ( residencia ), wobei insbesondere die Behandlung der indigenen Bevölkerung und die Bemühungen um ihre Akkulturation zu beurteilen waren 41 . Dieser Kontrollmechanismus schränkte die Macht des alcalde mayor systematisch ein; der Einfluss übergeordneter Politikebenen (Vizekönig, Indienrat und König) blieb aber durch die schwache Präsenz staatlicher Institutionen vor Ort gering. Die Inbesitznahme dieses Amtes wurde zuweilen schon vom Gouverneur verhindert 42 , was auf eine geringe 37 Ingold 1999, S. 407. 38 Garcia Luis Navarro: Sonora y Sinaloa en el siglo XVII. Mexiko 1992, S. 79 und 85. 39 Ebd., S. 80; Maria Atondo und Martha Ortega: Entrada de los colonos españoles en Sonora durante el siglo XVII, in: Sergio Ortega Noriega und Ignacio Del Rio (Hrsg.): Tres siglos de historia sonorense. 1530-1830. Mexiko 1993, S. 103ff. 40 Atondo und Ortega 1993, S. 102 und S. 107. 41 Ebd., S. 106-107. 42 Ebd., S. 123. 56 56 Lasse Hölck Folgebereitschaft gegenüber den Anordnungen auch von höchster Stelle schließen lässt. Die praktische Umsetzung der Akkulturation indigener Gruppen war im frühen spanischen Kolonialstaat den religiösen Orden und ihren Missionaren auferlegt, eine Aufgabe, die im Sonora des 17. Jahrhunderts der Jesuitenorden übernahm 43 . Das jesuitische Missionssystem beruhte auf einer möglichst weitgehenden Kontrolle der indigenen Gruppen in materieller ebenso wie in spiritueller Hinsicht. Unter Aufsicht des Missionars sollten die indigenen Gruppen landwirtschaftliche Erzeugnisse produzieren, deren Verwaltung in den Händen des Priesters lag. Im Erfolgsfall führte dies dazu, dass sich die Missionen zu autarken Siedlungen entwickelten, von deren Erzeugnissen die Versorgung der spanischen Siedler abhing und die allein über den Missionar mit der kolonialen Gesellschaft verbunden waren. Die daraus resultierende Machtfülle des Missionars missfiel den staatlichen Beamten und provozierte regelmäßig Streit zwischen dem Ordenspersonal und den Beamten 44 . Die Missionare konnten von den Beamten militärische Unterstützung anfordern und machten von dieser Möglichkeit des Öfteren Gebrauch. Allerdings organisierten die versierten Ordensleute auch eigenhändig bewaffnete Trupps aus Missionsindianern, um Strafexpeditionen gegen missliebige Indianergruppen zu schicken oder selbst anzuführen. Die Machtgrundlage der Missionare ähnelte somit der des alcalde mayor , was die Konkurrenz beider Bereiche verstärkt haben wird. Ihr Mandat speiste sich aus dem königlichen Auftrag zur Evangelisierung, während die Durchsetzung ihres (spirituellen sowie materiellen) Herrschaftsanspruches von ihrem interkulturellen Verhandlungsgeschick und von ihrer Fähigkeit, physische Zwangsmassnahmen zu organisieren, abhängig war. FRÜHE KONTAKTGESCHICHTE DER SERIS Die ersten Europäer, die den mexikanischen Nordwesten durchstreiften, berichteten davon, dass sich die Bewohner des Küstenstriches am Golf von Kalifornien von gemahlenen (Wild-)Samen, Gräsern und Fisch ernährten, da es in der Gegend keinen Mais gebe 45 . Dieser Hinweis auf die Grundnahrungsmittel bot Anlass zu der Spekulation, dass es sich bei den erwähnten amerikanischen 43 Sergio Ortega Noriega: El sistema de misiones jesuiticas: 1591- 1699. In: Sergio Ortega Noriega und Ignacio Del Rio (Hrsg.): Tres siglos de historia sonorense. 1530-1830. Mexico 1993, S. 41–91. 44 Bernd Hausberger: Für Gott und König. Die Mission der Jesuiten im kolonialen Mexiko. Wien 2000, S. 188; Atondo und Ortega 1993, S. 132- 136. 45 Cabeza de Vaca, S. 158. 57 Die Seri und koloniale Herrschaft 57 Ureinwohnern um Seris gehandelt habe 46 und markiert somit eventuell die erste Erfahrung, die ein Europäer mit den Seris machte. Ein weiterer Chronist des 16. Jahrhunderts beschrieb die Küstenbewohner des mexikanischen Nordwestens folgendermaßen: „Die [Menschen] von Uparo, die die Küste bewohnen, sind Wilde. Sie bestellen keine Felder, sondern ernähren sich von wild wachsenden Samen, Jagdwild und Fisch sowie allen möglichen Würmern [Insekten]. Und obwohl sie gottlose Heiden sind, essen sie kein Menschenfleisch.“ 47 Der Historiker Navarro Garcia identifiziert die so beschriebene Volksgruppe als Seris und führt dazu aus, dass die umliegenden Ethnien jene „Uparos“ überfielen, um Salz von ihnen zu rauben 48 . Die ersten konkreten Nachrichten über die Seris erhielten die spanischen Eroberer indirekt, über die Yaqui- Indianer der Jesuitenmissionen. Die Yaquis informierten die Jesuiten schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts von der Existenz einer Bevölkerungsgruppe namens Guaymas, nördlich ihres Siedlungsgebietes am Rio Yaqui, die eine gänzlich andere Sprache hatte 49 . Die Guaymas und Upanguaymas, so weiß man heute, sind die südlichste der Seri- Gruppen. Ihre geographische Nähe zur Yaqui- Mission brachte sie als erste in einen kontinuierlichen Kontakt mit den Europäern 50 und von den Yaquis erfuhren die Jesuitenpater, dass sie Muscheln und Perlen von ihnen erhielten 51 . Das Missionswesen der Jesuiten expandierte aber vornehmlich landeinwärts, entlang der wenigen Flüsse Sonoras, da es den Möglichkeiten landwirtschaftlicher Nutzung folgen musste 52 . Daher blieben die Seri, deren küstennahes Schweifgebiet zu den trockensten Gebieten Nordamerikas gehört 46 Conrad Bahre 1967: The Reduction of Seri Range and Residence in the State of Sonora, Mexico. Unveröffentlichte Master Thesis der University of Arizona, Tucson 1967, S. 52. 47 „Los de Uparo, que están en la costa, son salvajes, no siembran, comen el grano de bledos, caza y pescado, y todo género de sabandijas silvestres, y aunque todos gentes idolatra y malvada, no comen carne humana.” Baltasar Obergón: Historia de los descubrimientos antiguos y modernos de la Nueva España escrita por el conquistador. México 1564, zitiert in Navarro Garcia 1992, S. 63-64. 48 Ebd. 49 William Tweed 1973: The Seri Indians Frontier of New Spain, 1617-1762. Unveröffentlichte Master Thesis der Texas Christian University 1973, S. 6; Gerard S. J. Decorme (1941): La Obra de los Jesuitas Mexicanos durante la epoca colonial, 1572-1767. 4 Bd. Mexiko: Porrua 1941, Bd. 2, S. 445. 50 William Griffen: Seventeenth Century Seri. In: The Kiva, Jg. 27, H. 2 (1961), S. 12–21, hier S. 14-15. 51 Brief von Fr. Andrez Perez an Padre Provincial, Rio del Espiritu Santo, 13.6.1617, Bancroft Manusripts (BANC. M-M) 0227 PP. 0579-0583). 52 Miguel Venegas, S. J. (1979 [1759]): Obras Californianas. 3 Bde. hrsg. v. Mathes. La Paz (Baja Cal.), Bd. II, S. 79. 58 58 Lasse Hölck und für den Ackerbau ungeeignet ist, zunächst unberührt von dieser kolonialistischen Institution. Bis Mitte des 17. Jahrhunderts hatten die Jesuiten jedoch in Nacámeri, Opodepe und Cucurpe Missionen etabliert, die alle am Rande des Serilandes lagen 53 (Abb. 1). 53 Tweed 1973, S. 8. Conrad Bahre unterscheidet ganz richtig zwischen „Seri Range“ und „Seri Residence”. Es handelt sich bei den östlichen Rändern der Wüste von Sonora um das Schweifgebiet der Seri, das sie durch Sammel- und Jagdaktivitäten in ihren Wirtschaftsraum integrierten, aber auch für Handel mit den Ackerbau betreibenden Ethnien nutzen. Vgl. Bahre 1967. 59 Die Seri und koloniale Herrschaft 59 Abb. 1: Kontaktbereich von Seris und Jesuitenmissionen im 17. Jahrhundert nach Bahre 1980; Kartenzeichnung: Geomacon GbR Kiel. 60 60 Lasse Hölck Der Jesuitenpater Perez de Ribas fasste 1645 die vagen Kenntnisse über diese Volksgruppe zusammen: „Es gibt Hinweise auf eine weitere, bedeutende Volksgruppe, die Heris [sic!] genannt werden: sie sind äußerst wild, ohne Dörfer, ohne Häuser und ohne Landwirtschaft. Sie haben keine Flüsse, auch keine Bäche, sondern trinken aus irgendwelchen Wasserlöchern und Pfützen; sie leben nur von der Jagd, allerdings tauschen sie zur Erntezeit Hirschgeweihe und Salz, das sie aus dem Meer gewinnen, bei den anderen Volksgruppen gegen Mais ein.“ 54 Auch die mobile Wirtschaftsweise der Seris wurde von Pérez de Ribas erwähnt: „Dieses wandernde Volk ist von viel geringerer Zahl als die Ackerbauern, und mit ihrer Lebensweise sind sie so zufrieden, als hätten sie alle Güter und Paläste der Welt.“ 55 Die letzten Bemerkungen Pérez de Ribas umreißen, was den spanischen Kolonialherren großes Kopfzerbrechen bei dem Versuch bereitete, die Seris in die koloniale Regierung zu integrieren: das materiell einfache Leben nomadisierender Völker, die bei ihren häufigen Standortwechseln nur wenig Gepäck transportieren können, schränkte ihre Bedürfnisse auf ein transportables Minimum ein und bot nur wenig Ansatzpunkte, die Aktivitäten dieser Gruppen etwa durch materielle Anreize steuern zu können. Die Seris hatten, anders als etwa die nomadisierenden Gruppen der nordamerikanischen Prärie 56 , auch nur wenig Interesse an den europäischen Kolonialexportschlagern Pferd und Feuerwaffen. Einzig die Suchtmittel Alkohol und Tabak, mit denen sich die europäische Kolonialexpansion weltweit die entlegensten Wirtschaftsräume erschloss, wurden auch von den Seris zunehmend nachgefragt 57 . Mitte des 17. Jahrhunderts waren Seris und Spanier einander noch weitestgehend unbekannt. Wichtig für eine Untersuchung des Verhältnisses der 54 Andrés Perez de Ribas (1944 [1645]): Historia de los triunfos de nuestra Fe entre las gentes más barbaras y fieras del nuevo orbe. Paginas para la Historia de Sinaloa y Sonora. 3 Bde (I, libro I, Capitulo II), S. 24-25. “Hay noticias de gran gentío de otra nacion que llaman heris: es sobremanera bozal, sin pueblos, sin casa ni sementeras. No tienen rios, ni arroyos y beben de algunas lagunillas, y charcos de agua, sustentandose de caza, aunque al tiempo de cosecha de maíz, con cueros de venados y sal que recogen de la mar, van a rescatarlos de otras naciones.” 55 “Este tan peregrino genero de gente es mucho menor en numero que las labradoras, y con tal modo de vivir estan más contentos que si tuvieran los haberes y palacios del mundo.” Perez de Ribas 1944, S. 24. 56 Vgl. Pekka Hamalainen: The Rise and Fall of Plains Indian Horse Culture. In: Journal of American History, Jg. 90, H. 3 (2003), S. 833–862. 57 Z.B. als Belohnung für militärische Dienste: Brief von Francisco Bellido an Antonuio Maria Bucareli y Ursúa, Pitic, 27.12.1771, Archivo General de las Indias (AGI), Guadalajara 512, konsultiert in der Bancroft Library, Berkeley, Reel M. 517. 61 Die Seri und koloniale Herrschaft 61 spanischen Kolonialmacht zu dieser Ethnie ist die Bemerkung Perez de Ribas´, dass die Seris in saisonalen Austauschbeziehungen zu den Boden bebauenden Gruppen in Sonora standen. Archäologische Untersuchungen untermauern diese Feststellung und ergänzen die Palette der handelbaren Erzeugnisse der Seri um einige maritime Produkte wie Muscheln und Schnecken, die von den anderen indigenen Gruppen zu rituellen Zwecken verwendet wurden 58 . Der Austausch von Erzeugnissen der Jagd- und (litoralen) Sammelaktivitäten gegen kohlenhydrathaltige Produkte der Landwirtschaft - d.h. im Norden Mesoamerikas vor allem Mais - stellte eine bedeutende Interaktionsform dar, die Bauern und Wildbeuter in eine symbiotische Beziehung zueinander setzte 59 . Die Zusammenführung der zerstreut lebenden indigenen Bauerngruppen in den Missionen der vordringenden Kolonialisten (Reduktion) und die Einbindung der Missionserzeugnisse in den kolonialen Wirtschaftskreislauf schränkte aber die Möglichkeiten dieser komplementären Wirtschaftsweise für die Wildbeutergruppen ein 60 . Auch geografisch entfernten sich die Ackerbauern Sonoras von den Seris, da sie auf Geheiß der Missionare christliche Dörfer gründeten, die weiter im Landesinneren lagen 61 . Die räumliche Entfernung der Bauern nötigte die Seris daher zu einer Erweiterung ihres Schweifgebietes und erhöhte den Energieverbrauch für die Nahrungssuche 62 . Der Anteil von fettarmer und proteinhaltiger Nahrung, wie etwa Fisch, war bei den Seris im Vergleich mit anderen Jäger- und Sammlergruppen ungewöhnlich hoch 63 . Eine Verringerung der Aufnahme von Kohlenhydraten bei gleich bleibend hoher Aufnahme von Proteinen kann eine Proteinvergiftung hervorrufen, beeinträchtigt Schwangerschaften und senkt das Geburtsgewicht 64 . Die 58 Maria Elisa Villalpando: Conchas y Caracoles. Relaciones entre Nómadas y Sedentarios en el Noroeste de México. In: Marie-Areti Hers, José Luis Mirafuentes Galván und María de los Dolores Soto (Hrsg.): Nómadas y sedentarios en el norte de México. Homenaje a Beatriz Braniff México D.F. 2000, S. 525–546, hier S. 541. 59 Wolfgang Lindig: Die Seri: Ein Hoka- Wildbeuterstamm in Sonora. In: International Ethnography 41: 1-116 (1960), hier S. 57; Bodley 1999, S. 468; Gary Clayton Anderson: The Indian Southwest, 1580 - 1830. Ethnogenesis and reinvention. Norman 1999, S. 107. 60 Der Austausch von maritimen Produkten und Hirschgeweihen der Seris mit den Opata wurde allerdings noch hundert Jahre später, 1746, bemerkt: Augustin de Vildosola: auto de obedecimiento. Real Presidio San Pedro de la Conquista, 28.5.1746, AGI, Guad. 188, fol. 844r. 61 Decorme 1941, S. 445. 62 Pater Gilg erwähnt, dass die Seris den in Missionen reduzierten Pima- Bauern in der Hoffnung auf Beute ins Landesinnere folgten. Gilg 1726, S. 75. 63 Felger und Moser 1985, S. 87. 64 L. Cordain: Plant to animal subsistence ratios and macronutrient energy estimations in world wide hunter-gatherer diets. In: American Journal of Clinical Nutrition, Jg. 71 (2000), S. 682–692; Pekka Hämäläinen: The Comanche Empire. New Haven 2008, S. 31. 62 62 Lasse Hölck räumliche und soziale Entfernung der umliegenden Ackerbauern im Zuge der Missionierung stellte für die Seris somit durchaus eine existenzielle Bedrohung dar. Über einen Austausch der Seris mit den Missionaren ist hingegen nichts bekannt. Rituelle Gegenstände wie die Hirschgeweihe, die noch heute als zentrale Ausstattung der traditionellen indigenen Tänze in Sonora zu beobachten sind, dürften den Gottesleuten zudem ein Dorn im Auge gewesen sein, da sie mit den vorchristlichen Festen in Verbindung standen. Der erste Bericht, der die Konflikte der Missionen mit den Seris in Einzelheiten beschreibt, veranschaulicht an einem mikrohistorischen Beispiel wie die Missionierung der bäuerlichen Gruppen Sonoras die Ernährungsgrundlage der Seri beeinträchtigte und Konflikte hervorrief. ERSTE KONFLIKTE Die spanischen Quellen des 17. Jahrhunderts sprechen von einer traditionellen Gegnerschaft der Seri zu ihren mehr oder weniger sesshaften Nachbarn 65 . In vielen Fällen sind solche Feststellungen allerdings der Unkenntnis und dem Missverständnis der Beziehungen zwischen den indigenen Gruppen geschuldet oder auf Rechtfertigungsversuche der Beamten und Missionare gegenüber der Kolonialregierung zurückzuführen. Seris wurden bereits 1646 als Unruhestifter im Umkreis der Missionen von Ures und Nacámeri benannt, und ihre Bestrafung gefordert66. Der Jesuitenpater Adam Gilg datiert den ersten militärischen Zusammenstoß spanischer Soldaten mit einer Gruppe Seris erst auf das Jahr 1662 und gibt als Ursache die Überfälle der Seri auf eine Mission der Pima Indianer an 67 . Dem Jesuitenpater zufolge wurden die Erwachsenen Seri bei den Vergeltungsschlägen von spanischen Soldaten getötet und die Kinder auf christliche Missionen verteilt. Trotz der Klagen der Missionare über die Raubüberfällen der Seri wuchsen die Pima Missionen zu dieser Zeit stetig an 68 , möglicherweise auch weil sich die auf kleine Farmen ( ranchos) verteilte Pima Bevölkerung vor den Angriffen in Sicherheit bringen musste. Die Überfälle der Seris häuften sich zur Zeit einer 65 Die Bewirtschaftung kleiner rancherías durch die bäuerlichen indigenen Gruppen in Sonora war ebenfalls von einer saisonalen Mobilität geprägt. Cynthia Radding: Wandering Peoples: Colonialism, Ethnic Spaces, and Ecological Frontiers in Northwestern Mexico, 1700-1850. Durham and London 1997. 66 Hausberger 2000, S. 188. 67 Gilg 1726, S. 75; Tweed 1973, S.9; Edward Holland Spicer: Cycles of Conquest. The impact of Spain, Mexico und the United States on the Indians of the Southwest 1533-1960. Tucson 1962, S. 105. 68 Tweed 1973, S. 9. 63 Die Seri und koloniale Herrschaft 63 anhaltenden Dürre in Sonora zwischen 1669 und 1670, was vermuten lässt, dass die Jäger und Sammler insbesondere bei klimatisch bedingter Nahrungsknappheit auf die „Kornkammern“ der Bauern zurückzugreifen versuchten. Anhand der Dokumentation eines Disputes zwischen dem weltlichen Regierungsvertreter und den Jesuitenmissionaren lässt sich ein solcher Fall der gewaltsamen Nahrungsaneignung und ihrer Konsequenzen rekonstruieren. In einem Bericht von 1673 beklagte der alcalde mayor von Sonora, Gregorio López Dicastillo y Aramburu, dass der Missionar von Cucurpe, Padre Cornelio Guillereagh, die Entwendung von Lebensmitteln aus seinem Besitz mit einer Strafexpedition gegen die Seris geahndet hatte und dabei unnötig hart vorgegangen sei 69 . Der über hundert Seiten lange Bericht des alcalde mayor ist zwar bemüht, die Jesuiten für alle möglichen Regierungsprobleme in Sonora verantwortlich zu machen 70 , die Details seiner Ausführungen in dem referierten Fall weisen aber darauf hin, dass die Missionierung der bäuerlichen Gesellschaften in Sonora die Seris empfindlich getroffen hat. Di Castillo schreibt: „Die genannten Indios [Seris] drangen vom Hunger getrieben in das Vorratslager des genannten Padres ein und entwendeten etwas Trockenfleisch und ein bisschen Mais um ihre Not zu stillen…“ 71 Möglicherweise untertreibt Di Castillo die Menge der geklauten Lebensmittel bei diesem Einbruch - allerdings machten die Seris selten eine Beute, die ihre überlebenswichtige Beweglichkeit eingeschränkt hätte. Ersichtlich wird aus dieser Information jedenfalls, dass die Wildbeuter während der Dürreperiode in Sonora auf der Suche nach Nahrungsmitteln waren und diese unter Verschluss und in der Obhut eines Missionars fanden. Padre Cornelio rekrutierte daraufhin eine kleine Truppe aus seinen Hausdienern und Missionsindianern und befahl 69 “[...] el padre cornelio guillert [sic] misionero de cucurpe fue causa de que se comenzasen a alborotar los yndios ceris gentiles confinantes a su mision que es una de las desta provincia de Sonora y por que los dichos yndios con hambre abriendo una vez la despenzia [despensa] de dicho padre sacaron unos tasajos de ella y un poco de maiz para socorrer su nesesidad y entonses solo por esto el dicho padre mizionero hizo armas a la gente del servicio de la casa de su mision y tambien a los yndios de ella y [...] hizo el dicho padre de sola su authoridad a la dicha gente hazer entrada de guerra contra los dichos yndios Zeris gentiles y su caudillo Siona [...]”. Informe de Di Castillo (1673), AGI, Patronato 232, R. 1, N. 20, fol. 98r.-v.; Navarro Garcia 1992, S. 65. 70 Für eine ausführliche Besprechung der Kontroverse zwischen DiCastillo und den Jesuiten siehe Navarro Garcia 1992, S. 178-197. 71 „[…] que los dichos yndios con hambre abriendo una vez la despenzia [despensa] de dicho padre sacaron unos tasajos de ella y un poco de maiz para socorrer su nesesidad [...]”. Informe de Di Castillo (1673), AGI, Patronato 232, R. 1, N. 20, fol. 98r. 64 64 Lasse Hölck ihnen, diesen Diebstahl zu sühnen. Die Strafexpedition tötete einige Seris, provozierte aber damit eine Racheaktion gegen die Mission, die von einem Seri- Krieger namens Siona angeführt wurde. Der Jesuitenpater forderte Soldaten aus einem befestigten Lager ( presidio ) in der Nachbarprovinz Sinaloa an, die 1670 und 1671 in zwei Angriffen auf Seri Lager ( rancherias ) in Sonora 100 Seris töteten und dutzende Gefangene, vor allem Kinder, machten 72 . Das Blutvergießen scheint allerdings die Falschen getroffen zu haben. Die Jesuiten beklagten im Anschluss an die Strafexpedition, der verantwortliche Hauptmann habe „[…] die Unschuldigen bestraft und die Schuldigen straffrei gelassen […]“. 73 Sehr häufig scheiterten die Exempel, die man an den Seris statuieren wollte, an der Identifikation der vermeintlichen Missetäter. Die Zuordnung raubender Seris konnte auch aufgrund ihrer flexiblen Gruppenzugehörigkeiten selten eindeutig vorgenommen werden, und Strafexpeditionen oder Selbstjustiz (Lynchjustiz) wurden oft willkürlich an jenen Seris vorgenommen, derer man gerade habhaft werden konnte. Das Verhältnis der Jäger und Sammler zum (kolonialen) Staat erlitt dadurch immer wieder Schaden. Einige an der Strafexpedition beteiligte Soldaten mussten sich 1672 gegenüber dem Gericht ( Audiencia ) von Guadalajara verantworten, da sie gefangene Seri- Kinder bei sich führten und folglich der verbotenen Indianersklaverei verdächtigt wurden. Ihren Aussagen zufolge wurden die spanischen Soldaten mit der Zuweisung gefangener Indianer(kinder) entlohnt, da sie keinen Sold erhielten und auch ihre Ausrüstung selbst bezahlen mussten. Unter den vom Gericht in Gewahrsam genommenen Minderjährigen befanden sich der acht- oder neunjährige Sohn von Siona, dessen Vater bei einem der Angriffe getötet wurde, und ein Seri- Mädchen, das auf den Namen Isabel getauft und als Geschenk für einen Freund in Mexiko Stadt gedacht war. Der Junge war auf den Namen seines Eigners und Paten Nicolas getauft worden und wird in den Quellen Nicolasillo genannt. Die Soldaten überzeugten das Gericht davon, dass sie die Seris für Apostaten gehalten hatten, d.h. sie waren von einer vorherigen Bekehrung zum Christentum ausgegangen. Aller Wahrscheinlichkeit handelte es sich hierbei um einen juristischen Trick, denn unter dem Hinweis, dass sie die Kinder (erneut) im Christentum unterrichten wollten, kamen die Angeklagten schließlich mit 72 Aussage des Soldaten Nicolas Ramos vor der Audiencia de Guadalajara, 24.12.1671. AGI, Guad. 12, R. 2, N. 24, fols. 5v.- 8v. 73 Zitiert in Jose Luis Mirafuentes Galvan 1987, S. 18–29, S. 21. 65 Die Seri und koloniale Herrschaft 65 einer Geldstrafe davon 74 . Die Aussage einer Mulattin, die den Tross nach Sonora begleitet hatte, weist darauf hin, dass es sich bei den meisten Kindern nicht um Kriegswaisen handelte, sondern dass sie von ihren Eltern getrennt wurden 75 . Was aus Sicht der Soldaten wohl als Gutmütigkeit verstanden werden sollte – schließlich würden die Kinder vor dem Fegefeuer bewahrt werden – wurde von den Seris hingegen sicherlich als schlichte Entführung bzw. Kinderraub wahrgenommen. Der referierte Fall zeigt, dass sich die Kolonialmacht durch die Störung der symbiotischen Beziehung zwischen Wildbeutern und Bauern, durch einen nicht oder nur schwer nachvollziehbaren Strafvollzug sowie durch die vorgenommenen Familientrennungen keine gute Ausgangslage geschaffen hatte, um die Seris in ihre Vorstellung von einem Zusammenleben im nordwestlichen Grenzgebiet Neuspaniens zu integrieren. Zudem weisen die gegenseitigen Anschuldigungen von Jesuiten, Militär und Beamten darauf hin, dass interne Konflikte der kolonialen Verwaltung ein gemeinsames Vorgehen erheblich erschwerten. Die gegenseitigen Anschuldigungen sind offensichtlich übertrieben, verweisen aber auf grundsätzliche Konfliktpunkte und Schwierigkeiten bei dem Verhältnis der Wildbeuter zum kolonialstaatlichen Projekt. ERSTE MISSIONSERFOLGE Wenige Jahre später keimte dennoch Hoffnung unter den Jesuiten auf, als 1677 ein alter Seri Mann die Mission von Banámichi aufsuchte und darum bat, getauft zu werden. Seinem Wunsch wurde nach kurzer Indoktrinierung noch am selben Tag statt gegeben, gerade rechtzeitig, denn der Mann verstarb wenige Stunden nach seiner Taufe 76 . Seit Mitte des 17. Jahrhunderts wurden mehrere solcher Begegnungen dokumentiert, wobei es sich scheinbar stets um hoch betagte Männer handelte77. Das Alter der Kontakt suchenden Seri lässt vermuten, dass es sich bei ihnen um Individuen handelte, die keinen Beitrag mehr zum Lebensunterhalt der eigenen Gruppe erbringen konnten, ihr zur Last fielen und sich daher zum Sterben von ihr entfernten. Die Jesuiten reagierten 1677 umgehend auf die Taufe des alten Mannes und begannen, sich ihrerseits den Wildbeutern anzunähern. Der Padre visitador Juan 74 Die Verurteilten mussten 7 pesos Strafe bezahlen. Zu dieser Zeit war in Sonora für diesen Betrag eine fanega (= 55,5Liter Trockenmaß) Mais zu bekommen. 75 „…quitandoselas a sus Padres y alli los reparten a diferentes personas para que los crien.” Aussage von Anna de la Cruz, Mulatta libre [sic]. AGI, Guad. 12, R. 2, N. 24, fol. 5v. 76 Tweed 1973, S. 16. 77 Griffen 1961, S. 15-16; Gilg 1726, S. 77. 66 66 Lasse Hölck Ortiz Zapata, der zu jener Zeit die Jesuitenmissionen in Sonora inspizierte, erklärte in seinem Bericht von 1678 schließlich, dass die Seris nicht nur eine „naturgegebene Neigung zum Umherstreifen“ hätten, sondern dass sie dazu auch gezwungen seien, da sie vor ihren feindlichen Nachbarn flüchten müssten 78 . Seine Schilderung stellt die Seris im Gegensatz zu früheren Berichten also als schutzbedürftig dar. Zapata ordnete konsequenterweise die Versetzung eines Missionars an, der militärisch gegen die Seri vorgegangen war 79 , und trug dessen Nachfolger Fernández Altamirano auf, eine visita80 für diese Volksgruppe zu errichten 81 . Ein weiterer Grund für seine Zuversicht dürften die Erfolge gewesen sein, die die Jesuiten mit den südlichsten Seri- Gruppen, den so genannten Guaymas und Upanguaymas, feierten. Von diesen waren bereits 278 Familien bzw. 564 Individuen in der Mission Nuestra Señora de Belem ansässig, wo sie sich mit der heimischen Yaqui- Bevölkerung vermischten 82 . Warum diese Comcáac- Gruppe so anders auf die Anforderungen der Kolonialisten reagierte, ist heute nicht mehr eindeutig festzustellen. Sicherlich erleichterte die Nähe ihres Schweifgebietes zu den prosperierenden Yaqui- Missionen eine gegenseitige Annäherung. Für gewöhnlich blieben es aber Einzelgänger, die ihren Weg aus der Wüste in die Missionen fanden 83 . Die weit zerstreut in der Wüste von Sonora lebende Bevölkerung der Seri verband untereinander eine gemeinsame Sprache (das Comcáac ), die allerdings mehrere Dialekte aufwies, und die Kombination aus Sammeln und Jagen, mit der sie ihren Lebensunterhalt erwirtschafteten. Der Bericht Zapatas bemerkt jedoch auch, dass die Seris zwar in einzelne Gruppen aufgeteilt waren, aber dennoch einem gemeinsamen rituellen Kalender folgten, 78 “Por ser de su natural andariego e inclinados más a la caza que a las siembras y huir de los demás pueblos de gentiles sus confines, que les hacen hostilidad [...]”. Transskribiert in Sheridan 1999, S. 29. 79 Nach Tweed handelte es sich hierbei um Padre Francisco Javier Soto von der Mission in Ures. Tweed 1973, S. 17. 80 Mit visita ist eine Ansiedlung gemeint, die von einem Missionar von Zeit zu Zeit betreut wird, ohne dass er ständig vor Ort wohnt. 81 Tweed 1973, S. 17-18. 82 Griffen 1961, S. 15. 83 Padre Zapata berichtete 1678 auch von einem Seri, dem auf der Jagd die Jungfrau erschienen sein soll und der sich daraufhin taufen ließ. In der Nacht vor seiner Taufe wurde er dem Jesuit zufolge noch einmal vom Teufel versucht, der ihn samt Pfeil und Bogen wieder in die Wüste zurückschicken wollte. Mit Hilfe diverser Devotionalien wurde "Salvador", so der Taufname des bekehrten Jägers, von diesem Schritt abgehalten. 1678 lebte er schon 2 Jahre in Baviacora. Griffen 1961, S. 16. 67 Die Seri und koloniale Herrschaft 67 der mehrere Gruppen zu kollektiven Festen zusammenführte 84 . Die verschiedenen Untergruppen der Seri bezeichnet Padre Zapata als „verwandt“ und notierte eine Flexibilität ihrer politischen Führung, die unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ausgeübt werden konnte: „[…] derzeit ist der gobernador der Tepocas 85 [ein Seri] aus Kalifornien [Isla Tiburón]. Er ist mit einer Indianerin von dieser Küste verheiratet.” 86 . In Ermangelung eines alternativen Vokabulars gebraucht Zapata hierbei das Wort „ gobernador “, um die Führungspersönlichkeiten der Seris zu kennzeichnen. Der Bericht Zapata´s gibt einen vagen Hinweis auf das Wesen der Autorität dieser Personen: „[…] Escobóri, der Hauptmann (capitán) dieser Volksgruppe (nación), wird von diesen sehr verehrt.“ 87 . Wofür Escobóri „sehr verehrt“ wurde, notierte der padre visitador nicht. Allerdings ist es nahe liegend, die vielen „Referenzen“ („ muy reverenciado “) des Anführers als Fähigkeiten zu interpretieren, die ihn gegenüber seiner Anhängerschaft auszeichneten und ihm die nötige Anerkennung und das Vertrauen für seine leitende Position innerhalb der Gruppe verschafften. Die Seri- Chefs, die von Zapata namentlich erwähnt werden, baten ihm zufolge um christliche Taufe und erhöhten damit die Hoffnungen der Missionare, deren Bekehrungsversuche üblicherweise bei den vermuteten „Häuptlingen“ der indigenen Gruppen begannen und sich mit Hilfe von deren Autorität auf die übrige Bevölkerung erstrecken sollten. Einen Drang nach christlicher Erleuchtung dürften diese Personen kaum gespürt haben. Allerdings ist das Entgegenkommen der Indigenen in diesem Punkt – von Kolonialbeamten und Missionaren stets umgehend an höhere Politikebenen referiert - durchaus als ein Hinweis auf ihre Verhandlungsbereitschaft anzusehen. 84 „[…] ordinariamente en tiempos de verano se vienen muchos de allá y acá, hasta que reconociendo el iuiuno [yuyuno], se vuelven a su tierra”. Transskribiert in Sheridan 1999, S. 30. In dem Bericht wird „California“ mit der Isla del Tiburón verwechselt. Allerdings bot der Golf von Kalifornien den wagemutigeren Seris scheinbar kein unüberwindliches geografisches Hindernis (Lindig 1960, S. 30). Das Wort „iuiuno“ stammt vermutlich aus dem Nahuatl. Anlass der sommerlichen Zusammenkunft könnte die Reife der Kakteenfrüchte zu dieser Zeit gewesen sein. 85 Tepoca war der Name den die Spanier der nördlichsten Seri- Gruppe gaben, siehe Karte 2. 86 “[...] que están emparentados los naturales de aquestas costas con los de aquella, y que actualmente el gobernador que hoy tienen aquestos tepoques es de Californias [Isla Tiburon] y está casado con india que es de esta costa [...]”. Transskribiert in Sheridan 1999, S. 30. 87 “[...] Escobori, que es capitán de esta nacion de ellos muy reverenciado [...]”. Sheridan 1999, S. 30. 68 68 Lasse Hölck Schließlich erwähnte der Jesuitenpater noch das einzige Produkt der Seris, an dem die Krone und ihre Untertanen Interesse haben könnten: in den Küstengewässern des kalifornischen Golfes, aus deren Fischgründen die Seris einen wichtigen Teil ihres Unterhaltes bestritten, waren Perlen zu finden 88 . Diese geschätzte Ressource schien nicht nur dem Priester bemerkenswert, sondern weckte auch die Begierde von europäischen Abenteurern, die wenige Jahrzehnte später an die Küsten Sonoras vordrangen und ihrerseits Konflikte mit den dort lebenden Seris hervorriefen. Der vorangegangene Abschnitt zeigt, dass trotz der zunächst konfliktreichen Begegnung zwischen Seris und Spaniern auch ein friedliches Aufeinandertreffen möglich war. Vielleicht haben die Besuche der alten Seri Männer in den Missionen die übrigen davon überzeugt, dass die fremden Eindringlinge in Sonora nicht nur als Störenfriede anzusehen waren. Der Bericht des Padre Zapata zeigt weiterhin, dass den Seris auch von Seiten der Kolonialmacht mit Interesse und Verständnis begegnet werden konnte. Das so geschaffene Vertrauen auf Seiten der Seri und die Toleranz auf Seiten der Missionare schufen in nur wenigen Jahren ein Klima, das eine gegenseitige Annäherung begünstigte. DIE MISSION In den darauf folgenden Jahren gelang es den Jesuiten, einige dutzend Seri- Familien zu einer Niederlassung in einem neu gegründeten Dorf ( pueblo ) zu überreden, sie mit der Landwirtschaft bekannt zu machen und zum Bau kleiner Behausungen ( casitas ) zu bewegen. Der von den Missionaren gegebene Anreiz dazu bestand aus einer Versorgung der Familien mit Lebensmitteln: “[…] es war notwendig“, berichtete Padre Fernández diesbezüglich, „[die Seris] über den Mund zu gewinnen.“ 89 Die fortschreitende Kontrolle der Missionare über die „Kornlieferanten“ 90 der Seri näherte die Wildbeuter schließlich den Missionen an. Die erste visita für die Seris setzte sich multiethnisch zusammen und wurde auch von Pima- Bauern regelmäßig aufgesucht, so dass davon ausgegangen werden kann, dass die landwirtschaftlichen Überschüsse, die diese Volksgruppe unter Aufsicht der 88 „[...] que por hombres entendido en la mar, se tienen ya perlas, que de esta costa de acá hay algunas y de aquella de allá, muchas [...]”. In: Sheridan 1999, S. 30. 89 “Han hecho ya algunas sus casitas y los demas los van haciendo.[...] Todos hicieron sus siembras de maíz que les di, que para ganarles la voluntad, fue necesario ganarles por la boca, y darles de comer.” Padre Fernández an den padre provincial in Mexico, Ures, 7.10.1679. Transskribiert in Sheridan 1999, Zitat S. S. 34. 90 Lindig 1960, S. 38. 69 Die Seri und koloniale Herrschaft 69 Missionare erzeugte, von den Jesuiten auf die Seris umverteilt wurden. Den Seris dürfte dieses neue Arrangement zunächst sehr entgegen gekommen sein, waren sie doch nun nicht mehr auf einen Austausch oder kriegerischen Erwerb angewiesen. Padre Fernández berichtete zudem, dass er die christliche Doktrin in die Sprache der Seri übertragen habe. Wie weit seine Kenntnisse des Cuncáac gingen, ist nicht zu sagen. Jedenfalls trägt dasselbe Dokument die marginale Bemerkung, dass bislang niemand die als äußerst schwierig bekannte Sprache dieser Volksgruppe erlernt habe. Das sesshafte Leben scheint den Seris jedoch nicht bekommen zu sein: von den 130 Seris, die Fernández zwischen Januar und Oktober 1679 getauft hatte, starben siebzehn, und als der Missionar 1683 zu einer anderen Mission abberufen wurde, verließen die verbliebenen Seris das Dorf und kehrten zu ihrer nomadischen Lebensweise zurück 91 . Noch oft sollte sich herausstellen, dass die Annäherung der Seris an die Spanier von einzelnen Personen abhängig war, denen sie Vertrauen entgegenbrachten. Sobald die Vertrauensperson abgezogen oder versetzt wurde, was sowohl bei Missionaren wie auch bei Militärs alle paar Jahre geschah, endete auch das Vertrauensverhältnis der amerikanischen Ureinwohner zu den Neuankömmlingen aus Europa. Dieser Umstand wurde auch von Missionaren beklagt, die sich zudem während ihrer befristeten Dienstzeiten in einer Mission außerstande sahen, die Sprache der indigenen Bevölkerung zu erlernen 92 . Die höheren Politikebenen und das hierarchische Regierungssystem der europäischen Kolonial- und Missionsverwaltung waren somit periodisch für eine empfindliche Störung der lokalen Governance- Formen verantwortlich. Die Anerkennung, die sich einzelne Missionare bzw. Militärs über face-to-face Kontakte innerhalb der indigenen Gruppen verschafft hatten, konnten nicht, wie es etwa der Begriff soziales Kapital impliziert, auf die jeweiligen Nachfolger übertragen werden. Diese langfristige Beobachtung scheint mit der Bedeutung von Vertrauen für die politische Autorität in Jäger und Sammlergruppen zusammenzuhängen: die Regierungsweisen mussten den Prinzipien sozialer Beziehungen der Wildbeutergruppen angepasst werden, wenn sie erfolgreich sein sollten. Im Jahre 1688 unternahmen die Jesuiten einen zweiten Versuch, Seris in einer Mission zusammenzufassen. In der Zwischenzeit stieß auch der Jesuitenmissionar Eusebio Kino auf eine Gruppe von Seris, als er 1685 in 91 Transskribiert in Sheridan 1999, S. 33; siehe auch Gilg 1726, S. 76. 92 Padre Alejandro Rapicani (12-13-1744 , 12-31-1744): Briefe an den Padre Provincial Christobal de Escobar und Padre Ignacio de Arzeo, Baserac, 13.12. und 31.12.1744, Archivo Histórico de Hacienda, Mexico, Temporalidades, Leg. 0278 no. 017. 70 70 Lasse Hölck Begleitung des Konquistador Blas de Guzmán y Córdova den kalifornischen Golf erkundete und wegen ungünstiger Wetterverhältnisse zu einem längeren Aufenthalt in der Bahia Kunkáak (Bahia Kino) gezwungen war. Im Austausch gegen Geschenke wurden die Spanier von Seris mit Wasser, Fisch und angeblich sogar Pferden versorgt 93 . Die friedliche Begegnung bewog Kino dazu, eine eigene Mission für die Seris zu erbitten 94 . Seinem Vorschlag verlieh er Nachdruck, indem er wiederum eine konkrete Nachfrage verschiedener Comcáac- Gruppen - der Tepocas, Seris und Guaymas - nach Taufe und Missionaren behauptete 95 . Die Agenten der Krone - Missionare und Militärs – neigten dazu, die Nachfrage nach Taufe bzw. Frieden durch einige Seris zu verallgemeinern, was sich im Nachhinein und angesichts der fragmentierten sozialen Struktur dieser Bevölkerungsgruppe aber stets als voreilig herausstellte. DIE MISSION VON ADAM GILG Ein Glücksfall für die Ethnohistorie der Seri ist der Bericht des Jesuitenpaters Adam Gilg, der 1692 dem Pater Rector des Jesuitenkollegs zu Brünn (Mähren) ausführlich über seine Schützlinge in der Mission zu Pópulo, die er 1688 übernommen hatte, Bericht erstattete 96 . In seinem Bericht bemerkte er, wie die anderen Missionare vor ihm, die mobile Wirtschaftsweise der Seri, versuchte sich aber auch an einer Erklärung ihres nomadischen Daseins. So beschreibt er die Seris als „[ein Volk] welches weder arbeiten noch lang an einem Orth verharren will/ wegen Unfruchtbarkeit ihres Erdreichs […] Um welcher Ursach willen sie gleich denen Zigeinern von einem Orth in das andere ziehen (ohne sich irgend lange aufzuhalten) damit sie die Gewächs/ Früchten/ Kräuter und Saamen/ so die Natur ohne Arbeit von sich selbst hervorbringt/ abnutzen/ zu solchem End aber die jenige Gegenden aber vor anderen lieber besuchen/ in welchen sie bessere dergleichen Nahrung nach Unterschied der Jahreszeit antreffen/ übrigens ohne GOTT/ ohne Gesätz/ ohne Glaub/ ohne Fürsten und ohne Häuser/ wie das Viehe leben.“ 97 Gilg erkannte die Wirtschaftsweise der Seris als saisonale Mobilität, die je nach Jahreszeit einen anderen Aufenthaltsort notwendig machte, um je 93 Tweed 1973, S. 22-24. Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, dass die Seris tatsächlich Pferde bieten konnten. 94 Decorme 1941, S. 378. 95 Tweed 1973, S. 25. 96 Gilg war unmittelbar nach seiner Ankunft in Mexiko Stadt 1687 von Eusebio Kino für die Übernahme der Seri Mission gewonnen worden. 97 Gilg 1726, S. 76 [Hervorhebung im Original]. 71 Die Seri und koloniale Herrschaft 71 spezifische natürliche Vorkommen auszunutzen. Zudem betont er, dass in dem ariden Schweifgebiet der Seris gar kein Bodenbau möglich ist. Der Verweis Gilgs auf die Zigeuner ist von besonderem Interesse. Zwar sind beide Gesellschaften, Zigeuner und Seris, abgesehen von ihrer Mobilität kaum miteinander zu vergleichen, jedoch sind die Maximen der staatlichen Politik ihnen gegenüber, zumal in dem hier untersuchten Zeitraum, durchaus ähnlich98. Adam Gilg teilte dem Pater Rector in seiner Beschreibung der Seri wie nebensächlich mit, dass er sie für religionslos hält („ohne Gott, ohne Glauben“) und verweist auf die flache Hierarchie ihrer Sozialstruktur („ohne Fürsten“). Seine Beobachtungen sind wie bei den anderen Berichterstattern überwiegend negativ formuliert, das heißt er beschreibt die Seri als eine Mangelgesellschaft, der die wichtigsten Grundzüge europäischer Sozialordnungen zu fehlen scheinen. Eine nicht-hierarchische Gesellschaftsordnung war den europäischen Eroberern derart fremd, dass sie von der Abwesenheit erblicher oder institutioneller Oberhäupter meist auf eine völlige Abwesenheit jeglicher Regelungen zwischenmenschlicher Beziehungen schlossen („ohne Gesetz“). Ohne dies weiter zu reflektieren, macht Gilg jedoch auf ein funktionales Äquivalent für die ihm bekannten, hierarchischen und schriftlich fixierten Gesellschaftsordnungen aufmerksam, als er schreibt: „Im Gegentheil ißt kein Volck unter der Sonnen anzutreffen/ welches die Staffel der Freund- und Verwandtschaft mit mehrern Namen/ als eben meine Seren / unterscheide.“ 99 Die komplexe Verwandtschaftsterminologie der Comcáac hat moderne Ethnographen ebenso beeindruckt wie den Jesuitenpater. Gilg gibt einen wichtigen Hinweis darauf, dass es sich bei dem familiären Vokabular nicht allein um Blutsverwandtschaften handelt, sondern auch andere Verbindungen – nach Ansicht Gilgs handelt es sich um „Freundschaften“ 100 – betitelt und mit Bedeutung versehen werden. Der Jesuitenpater zeigte sich zudem beeindruckt von einer Art Sittsamkeit der Seri, die geradezu an die Ideale der Missionare zu erinnern schien. So waren bei den Seri „[…] weder Abgötter/ noch Zauber-kunst/ noch Trunckenheit/ noch der 98 Die spanische Krone erließ zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine gesetzliche Grundlage, nach der das „fahrende Volk“ sesshaft gemacht und zu einer geregelten Arbeit gezwungen werden sollte, und aufgrund der die gitanos 1749 schließlich aus Andalusien deportiert wurden. Vgl. Angus Fraser 1995: The gypsies. 99 Gilg 1726, S. 78. 100 Tatsächlich hat der Begriff „Freund“ keine Entsprechung im Cuncáac, wie mir Francisco Molina bei einem Gespräch in der Seri-Siedlung Punta Chueca mitteilte (April 2008). Im Wörterbuch erscheint „Freund“ schließlich nur als Lehnwort aus dem Spanischen „amigo“: hamíigo . Mary Beck und Stephen A. Marlett (Hrsg.): DICCIONARIO SERI – ESPAÑOL - INGLÉS. Hermosillo 2004, S. 322. 72 72 Lasse Hölck Geiz/ noch der Mißbrauch mehr Weiber zugleich zu halten […]“101 bekannt. Mit der Abwesenheit von Idolatrie und Polygamie, die auch in späteren Berichten über die Seri bemerkt wurden, fehlten dieser Volksgruppe also zwei wesentliche „schlechte Eigenschaften“, die von der christlichen Mission im globalen Ausmaß bekämpft werden sollten und in vielen Fällen die Ursache für Konflikte der indigenen Bevölkerung mit den Missionaren darstellten. Adam Gilg blieb also nicht viel mehr übrig, als die bereits bekannte und beklagte Bedürfnislosigkeit der Seri anzuzeigen. So schreibt er, dass „seine Serer“ „[…]übrigens aber die Kleider und allen Hausrath so wenig achten/ daß der heut ehrlich gekleidet ist/ morgen nackend dahergehet/ inmaßen ein Freund dem andern alles/ was er hat/ auf einmal schencken wird; welches sie für eine Großmüthigkeit halten/ derer sie sich gern rühmen/ hergegen einen sorgfältigen Haushalter verachten/ und ihm vorrucken/ daß er sich um das Seinige gar zu sehr bekümmere. Darum gibt es unter ihnen einige/ welche ihre armen Nachbarn gähling [sic! jählings] zusammen ruffen/ und auf einmahl unter ihnen alles außteilen/ was sie von Lebens-Mitteln und Gewand lange Zeit erspahrt haben.“ 102 Eine wichtige Beobachtung, die uns Gilg hier mitteilt, ist die Geringschätzung individuellen Besitzes bei den Seri. Es scheint bei den Seris eine soziale Notwendigkeit bestanden zu haben, den individuellen Besitz bei Gelegenheit mit der Bezugsgruppe („ihren armen Nachbarn“) zu teilen. Die Übereignung der gesamten persönlichen Besitztümer an „einen Freund“ könnte hingegen ein Hinweis auf die Einrichtung des amák bei den Comcáac sein, den William Griffen in seiner Feldstudie als eine Art Paten kennzeichnete, und der die Umverteilung von als „gefährlich“ eingestuften Gegenständen - etwa die Beute nach einem Raubzug - anstelle des heimkehrenden Kriegers vornahm, weil er als immun gegen die übernatürlichen Kräfte solcher Dinge galt 103 . Das soziale Prestige, das aus der Verteilung des eigenen „Reichtums“ entstand, wog offenbar schwerer als die materiellen Vorteile, die daraus resultieren könnten. Die von Woodburn analysierte „systematische Eliminierung von Ungleichheit“ in Wildbeutergruppen lässt sich also für die Seris mit diesem historischen Beispiel veranschaulichen, auch wenn die tatsächliche Funktionsweise dem Missionar - und uns – in diesem Fall unklar bleibt. Die Beschreibung Gilgs deutet aber an, dass auf solche Individuen, die zur Akkumulation neigten, ein kollektiver Druck ausgeübt wurde: sie wurden „verachtet“ und mussten sich Vorwürfe („vorrucken“) anhören. 101 Gilg 1726, S. 76. 102 Ebd., S. 81. 103 Griffen 1959, S. 43. 73 Die Seri und koloniale Herrschaft 73 Die Missionare mussten an dieser „Denkweise der Wildbeuter“ (Banard) verzweifeln, war sie ihnen doch grundsätzlich fremd, bzw. Mönchen und eigenen Kulturheroen wie etwa Heiligen vorbehalten. Diese Fremdheit offenbart sich auch in der Wortwahl Gilgs: das westliche Konzept von Großzügigkeit – Gilg verwendet den Begriff „Großmütigkeit“ - bezeichnet ein Geben ohne vorherige Nachfrage und Gegengabe, ist hingegen nicht deckungsgleich mit dem bereitwilligen Teilen von Besitz und Nahrung auf Anfrage , wie es bei den Comcáac zu beobachten ist. Den europäischen Beobachtern der Seri und anderer Wildbeutergruppen zur Kolonialzeit werden diese erst durch mühsame ethnografische Arbeit ans Licht gekommenen Mechanismen aber unbekannt gewesen sein. Diese beständige Umverteilung von Gegenständen wurde bei den Seris schließlich von einer Neigung zum spielerischen Wettkampf ergänzt. Gilg informiert, dass über den Umweg der Wetteinsätze manch ein Kleidungsstück im Laufe der Zeit von der ganzen Missionsbevölkerung getragen wurde: „[…] ein paar Hosen/ Hut oder Wamms…. [werden] nach und nach von der gesamten Gemeind getragen…woran ein gewisses Spiel von kleinen Hölzlein/ dem sie sehr ergeben seynd/ Ursach ist […].“ 104 Adam Gilg konnte nur wenig Verständnis für die Spielfreude seiner Schützlinge aufbringen. Der Beschreibung moderner Ethnografen nach zu urteilen handelte es sich aber eher um Geschicklichkeitsspiele denn um reine Glücksspiele, so dass dem Gottesmann wohl kein belehrender Eingriff vonnöten schien 105 . REGIERUNGSWEISEN IN DER MISSION Den noch oft vorgenommenen Versuch, innerhalb der Seri einen Selbstregierungsmechanismus nach spanischem Vorbild zu etablieren, erwähnt auch Gilg in seinem Bericht: „Doch haben sie nunmehr einige Polizey von denen Spaniern erlehrnet/ welche hauptsächlich in dem bestehet/ daß in jedem Dorf ein Richter allen andern vorstehet/ und andere Beamte unter sich hat/ welche zum Zeichen ihres Gewalts [sic!] einen schönen Staab in der Hand tragen/ und von denen Spaniern bestellt werden.“ 106 Wie auch in anderen Regionen Lateinamerikas üblich, sollte ein bastón de mando , gleich eines Szepters, die verliehene Autorität eines „Richters“ 104 Gilg 1726, S. 81. 105 Griffen 1959, S. 15; Felger und Moser 1985, S. 160-162 106 Gilg 1726, S. 81. 74 74 Lasse Hölck versinnbildlichen. Ebenfalls verallgemeinerbar ist die Bemerkung, dass diese indigenen Autoritätspersonen zumeist von den Spaniern „bestellt“ wurden, also nicht von der Gruppe selbst erwählt waren. Diese hierarchisch- vertikale Regierungsweise führte des Öfteren zu einer De- Legitimierung der eingesetzten Person innerhalb der eigenen Ethnie und erwies sich selten als geeignetes Rezept, um eine Verstetigung der künstlich herbeigeführten sozialen Schichtung zu erreichen. Als herausragende „Fähigkeit“, die dem Anführer die Anerkennung der anderen zukommen ließe, bliebe bei diesem Governance- Modus allein seine privilegierte Verhandlungsposition gegenüber den Spaniern, von denen er „bestellt“ worden war. Da dieser Bevölkerungsgruppe seitens der Seri aber meist kein anhaltender Respekt entgegengebracht wurde und ihre traditionelle Lebensweise sie von dem Wohlwollen der Kolonialisten letztendlich auch weitestgehend unabhängig hielt, könnte ein so hervorgehobener Anführer eventuell sogar eher die Verachtung der anderen zu spüren bekommen haben. Gilg war sich bewusst, dass er in seiner Mission nur einen kleinen Teil der Seri- Bevölkerung erfasste, und versuchte daher, seinen missionarischen Einfluss von Pópulo aus in Richtung Küste auszubreiten. Diese Versuche zeitigten zwar keinen dauerhaften Erfolg, aber es gelang ihm scheinbar, sich den Seris gegenüber durch gemeinsame Expeditionen und Verteidigungsmaßnahmen gegen feindliche Cocomacakes, einer Pima Gruppe, als Verbündeten darzustellen 107 . Die Angriffslust der Cocomacakes offenbarte sich unmittelbar bevor Gilg seinen Bericht schrieb: 1691 zerstörten sie ein für die Tepoca gegründetes Dorf 108 . Wie sich noch oft herausstellen sollte, ermöglichte die Funktion militärischer Führung, die in beiden Gesellschaften bekannt war, eine vorübergehende militärische Kooperation der Seri mit den Europäern. Die Jesuiten zogen unmittelbar Nutzen aus dieser Gemeinsamkeit. Als sich 1695 eine Gruppe Pimas in Caborca gegen die jesuitische Bevormundung erhob, entsandte Gilg eine Truppe Seri-Krieger, um bei der Niederschlagung des Aufstandes zu helfen 109 . Die Erfahrungen der Mission von Pópulo zeigen zunächst, dass die Seris trotz einer relativen Anpassung an die Vorgaben des Kolonialstaates – etwa im Fall der Sesshaftigkeit und der formalen Übernahme eines hierarchischen Selbstregierungsmechanismus – den Prinzipien ihrer sozialen Organisation auch über mehrere Jahre in der Mission hinweg treu blieben. Das Vertrauensverhältnis zu Padre Gilg ermöglichte dabei auch weitergehende, etwa 107 Tweed 1973, S. 29-30. 108 Griffen 1961, S. 18. 109 Tweed 1973, S. 35; Decorme 1941, S. 391. 75 Die Seri und koloniale Herrschaft 75 militärische, Kooperationen zwischen Wildbeutern und Kolonialstaat. Im Unterschied zu vielen anderen Missionare im kolonialen Amerika trachtete er offenbar nicht danach, die Kultur seiner Schützlinge in einem kurzen Zeitraum grundlegend zu verändern. Der Bericht dokumentiert vielmehr eine Sympathie des Jesuitenpaters für „seine Serer“, die sein tolerantes Verhalten motiviert haben. Umgekehrt kam den Seris die Versorgung mit Lebensmitteln sicher entgegen und wurde von ihnen möglicherweise auch als ein soziales Verhalten anerkannt, das ihrer Vorstellung von Teilen entsprach. REGIERUNGSWEISEN ZWISCHEN VERTIKALER STEUERUNG UND HORIZONTALER HANDLUNGSKOORDINATION Die Mission bei Pópulo erschien so erfolgreich, dass die Jesuiten 1699 eine weitere visita gründeten, Santa María Magdalena, die vom Missionar in Cucurpe besucht wurde 110 . Doch die Hoffnung auf weitere Bekehrungserfolge drohte rasch erstickt zu werden. Die visita von Santa María Magdalena war bald ebenso wie Tuape und Cucurpe den Angriffen einer Gruppierung der Seris ausgesetzt, die von den Spaniern „Salineros“ genannt wurde. Der zuständige Missionar, Melchor Bartirimo, forderte umgehend militärische Unterstützung an. DER STAAT GREIFT EIN: GEWALTSAME DURCHSETZUNG DES HERRSCHAFTSANSPRUCHES In der ersten Hälfte des Jahres 1700 unternahm der Kommandant Juan Bautista Escalante daraufhin einen Streifzug durch das Missionsgebiet, um in Anbetracht der jüngsten Beschwerden die Anerkennung der kolonialstaatlichen Autorität durchzusetzen. Dabei notierte er, dass die missionierten Tepocas ihre Cuncáac- Nachbargruppe, die Salineros, als Feinde betrachteten 111 . Wie von Gilg angedeutet, konnte er bei den Tepocas auf einen gobernador zurückgreifen, der die Gruppe gegenüber den Spaniern vertreten sollte 112 . Dieser „von den Spaniern bestellten“ Autorität gelang es aber nicht, die in Pópulo angesiedelten Tepoca- Familien zu kontrollieren. Als sie von der Ankunft der Soldaten erfuhren, flohen sie aus der Mission in der Befürchtung, dass der Kommandant sie wegen eventueller Übergriffe auf die Zuchtrinder der Mission bestrafen würde. 110 Tweed 1973, S. 36. 111 Diario de Juan Bautista Escalante, Los Angeles, 20.6.1700. Transskribiert in Sheridan 1999, S. 71. 112 Escalante stützt seine Aussagen auf die „[...] declaración del gobernador José de los tepocas, [ ...]”. Sheridan 1999, S. 72. 76 76 Lasse Hölck Tatsächlich ließ Escalante die in der Mission verbliebenen Seris auspeitschen, bevor er sich auf die Suche nach den Flüchtigen begab 113 . Fündig wurde er in den rancherías114 unabhängiger Salineros, wo sich die gesuchten Familien in Sicherheit vor dem Zugriff der Kolonialmacht wogen. Trotz der erklärten „Feindschaft“ der Salineros mit den Tepocas, von der Escalante ausgegangen war, hatten diese ihre Sprachverwandten aus der Mission bei sich aufgenommen. Edward Moser zufolge handelte es sich bei Tepocas und Salineros um Mitglieder einer bestimmten Gruppierung der Seris (Band I, vgl. Karte 2), an deren Existenz sich die Seris noch Mitte des letzten Jahrhunderts erinnerten 115 . Karte 2: Untergruppen der Seris nach Moser 1963. Die Mitglieder von Band I wurden von den Spaniern als Tepocas und Salineros benannt; die Mitglieder von Band III wurden im Laufe des 18. Jhd. als Tiburones und Seris bezeichnet; die heutige Hafenstadt Guaymas ist nach der südlichsten Cuncáac- Gruppe 113 Ebd., S. 73. 114 Mit rancheria ist eine Seri Gruppe von mehreren Familien gemeint, die von einem Anführer geleitet wird, und nicht ein bestimmter Ort. 115 Laut Moser wird diese Gruppe von den Seris heute xica hai iic coii (‘los que viven hacia el verdadero viento’) genannt. Moser 1963/1999, S. 2. 77 Die Seri und koloniale Herrschaft 77 benannt, deren Schweifgebiet an das Siedlungsgebiet der Yaqui angrenzte. Die von Moser vorgenommenen Grenzziehungen zwischen den Gruppen sollten ebenso wie die spanischen Namen nicht als absolut angesehen werden. (Kartenzeichnung: Geomacon GbR Kiel). Sie war in 6 Untergruppen unterteilt, die aber einen engen Zusammenhalt aufwiesen und sich gegenseitig unterstützten 116 . Konflikte zwischen den einzelnen Seri- Gruppen hat es sicher gegeben, jedoch scheint der Begriff „Feindschaft“ angesichts der Zuflucht, die sich den Tepoca bei den Salineros bot, unangebracht. Die von Escalante eingefangenen Seri- Gruppen wurden nach Santa Maria del Pópulo zurückgebracht und dort ebenfalls mit Peitschenhieben bestraft 117 . Während seiner Erkundungsreise urteilte der Kommandant auch im Fall eines Seri- Salinero namens Astcuimel, der die Ermordung seiner Frau und seines Sohnes durch einen Racheakt an den Pimas vergolten hatte. Astcuimel wurde getauft und anschließend erschossen. Escalante ergriff sodann die Gelegenheit, der verunsicherten indigenen Bevölkerung eine eigene Rechtsprechung dauerhaft zu untersagen, und wies sie an, eventuelle Missetäter unmittelbar den kolonialen Obrigkeiten zu übergeben. Diese Ermahnung zeigt, dass es sich bei seiner Visite in der Missionsprovinz um den Versuch handelte, den kolonialstaatlichen Anspruch auf Rechtshoheit durchzusetzen. Ein fundamentales Problem bei diesem Vorhaben geht indirekt aus dem Bericht des Hauptmanns hervor: Escalante hörte die Klage eines Missionsindianers an, laut der die Salineros beständig Überfälle auf Tepocas durchführten und dabei mehrere Opfer unter der Missionsbevölkerung in Kauf nahmen. Der Ankläger verortete die Übeltäter auf einer gewissen „ ranchería del Medio “ in der Nähe der Mission und gewährte Einblick in deren politische Organisation: „[…] insgesamt gibt es sieben Anführer in dieser ranchería118 . Generell kann davon ausgegangen werden, dass einer solchen ranchería nicht mehr als zweihundert Personen angehörten, da Wasservorkommen und Nahrungsgrundlage kaum größere Gruppen an einem Ort dauerhaft zuließen 119 . 116 Moser 1963/1999, S. 8. 117 „[...] hallé otra ranchería de seris salineros, y entre ellos, dos indios cristianos de Santa Maria del Pópulo a los cuales traje conmigo. [...] y llegué al pueblo Santa Maria del Pópulo, adonde castigue con azotes a los huidos y ladrones que traje de dichos rancherias”. Escalante in Sheridan 1999, S. 74. 118 “[...] que por todos son siete principales en esta rancheria del Medio”. Escalante in Sheridan 1999, S. 75. 119 Conrad Bahre: Historic Seri Residence, Range, and Sociopolitical Structure. In: The Kiva, Jg. 45, H. 3 (1980), S. 197–209, hier S. 206. 78 78 Lasse Hölck Die Existenz von sieben Anführern in einem solchen temporären Lager dokumentiert also eine erhebliche politische Zersplitterung. Escalante, und hier liegt die Schwierigkeit seiner Aufgabe, konnte also nicht mit einem Repräsentanten der rancheria sprechen, sondern musste davon ausgehen, dass er jeden dieser Anführer einzeln zu kontaktieren hatte, um ein Abkommen über die Unversehrtheit der Missionsbevölkerung zu erreichen. Bevor er sich der ranchería del medio zuwandte, bemühte sich Escalante aber erst um einen Kontakt zu den Seris, die die küstennahen Gebiete gegenüber der Isla de Tiburón bewohnten (Karte 2, Band III). Doch die dortigen Seri- Gruppen hielten ihn hin, zumal sie sicher wussten, dass er mit seinen Soldaten das wasserlose Gebiet zur Küste hin nicht durchqueren konnte. Seiner Aufforderung, bei ihm vorstellig zu werden und sich in den Missionen niederzulassen, kamen die kontaktierten Seri Gruppen unter Hinweis auf ihre Verantwortung für die älteren, weniger beweglichen Gruppenmitglieder nicht nach. Die Unabhängigkeit dieser Seri Gruppe wird umso deutlicher, als sie angaben, dass einige ihrer Angehörigen noch nie einen Spanier gesehen hätten 120 . Escalante löste alle referierten Probleme mit Gewalt. Er unternahm einen Feldzug an die Küste und setzte angeblich sogar zur Isla del Tiburon über. Während seiner Kampagne ließ er flüchtende Seris erschießen und nahm diejenigen, derer er habhaft werden konnte, gefangen, um sie in der Mission Santa María Magdalena anzusiedeln. Auch die berüchtigte ranchería del Medio wurde gewaltsam aufgelöst 121 . In einem ungewöhnlichen Ritual versuchte der Hauptmann abschließend, die verfehdeten indigenen Gruppen zu versöhnen und hieß sie sich gegenseitig umarmen. Fortan, so vermittelte er ihnen seine Vision für das Missionsgebiet, sollten sie in Frieden leben und auf gemeinsamen Messen ( ferias ) ihre Produkte miteinander austauschen 122 . Der Hauptmann selbst hatte jedoch keinen Versuch unternommen, einen Handel mit oder zwischen den verschiedenen Gruppen zu initiieren. Angesichts seiner wenig einfühlsamen Vorgehensweise erklärt sich wohl auch eine Personenbeschreibung, mit der Escalante Jahre später von einem seiner 120 “[...] diciendo que no querian venir porque tenian flojera al camino y que habia muchas viejas y viejos, y alguna gente que no habian visto en su vida españoles”. Escalante in Sheridan 1999, S. 80-81. 121 Escalante in Sheridan 1999, S. 83-86. 122 “[...] haciendolos abrazarse unos con otros, mandandoles que en adelante no tuviesen guerra sino que viviesen como cristianos y que tratasen unos con otros , con ferias de la ropa de su hecho y semillas de sus siembras”. Escalante in Sheridan 1999, S. 91. 79 Die Seri und koloniale Herrschaft 79 Landsleute charakterisiert worden ist: „[…] sein Urteilsvermögen ist schwach, und während seiner Abwesenheit wird er von niemandem vermisst.“ 123 Die Vorgehensweise Escalantes ist beispielhaft für ein hoheitliches Regieren. Der Staat, präsent für die Dauer des Aufenthaltes seines Agenten, setzt seinen Herrschaftsanspruch mittels eines physischen Zwangsapparates durch. Deutlich wird an dem vorangegangenen Beispiel, dass die dezentrale Organisation und zerstreute Lebensweise der Seris dieser Regierungsform Probleme bereitete, sie aber auch teils bedingte. Die Konsultation des „ gobernador “ der Tepoca erwies sich als uneffektiv, da dieser selbst keine Sanktionskraft gegenüber seinen Leuten besaß. Die politische Zersplitterung der rancheria del Medio erlaubte es dem Hauptmann ebenfalls nicht, diese Seri Bevölkerung als ein Kollektiv mit einem verantwortlichen Repräsentanten zu behandeln. Letztendlich fehlte Escalante aber auch die entsprechende Einsicht in das soziale Miteinander der Seri und die Geduld, die es benötigt hätte, jeden Anführer einzeln für sich zu gewinnen. Die Gewaltstrategie, zu der er als Soldat nicht zuletzt auch ausgebildet wurde, bot sich hierbei als die schnellste Problemlösung an. Ihre Ineffektivität zeigte sich jedoch wenige Jahre später, 1704, als es erneut zu einem heftigen Konflikt zwischen Seris in der Mission und den unabhängigen Seris Salineros kam, in dessen Folge die Missionen von Populo und Los Angeles verlassen wurden. Eine erneute militärische Expedition war notwendig, um die Flüchtigen einzufangen und die Sicherheit in der Region wiederherzustellen 124 . VERHANDLUNG, GESCHENKE UND FESTE: HORIZONTALE HANDLUNGSKOORDINATION Zu Beginn des 18. Jahrhunderts unternahmen Jesuiten gemeinsam mit militärischen Kommandanten noch mehrere Expeditionen in das Seriland. Die mageren Ergebnisse dieser Kampagnen, die nur wenige Seri überhaupt kontaktieren konnten und je verschiedene Reaktionen von freundlichem Empfang bis zu feindlichen Attacken hervorriefen, zeichnen das Bild politischer Dezentralisierung der Seris weiter, die die Unterwerfungsversuche der Kolonialisten ein ums andere Mal frustrierten. Missionare und Militärs erwogen dabei gleichermaßen, die Seris an der Küste Sonoras durch die Entsendung von Kriegsschiffen einzuschüchtern und dadurch die Navigation in diesen 123 Pedro de Rivera Villalón über Escalante 1726. Zitiert in Sheridan 1999, S. 36. 124 Sergio Ortega Noriega: Crecimiento y crisis del sístema misional 1686-1767. In: Noriega und Del Rio 1993, S. 136-185, hier S. 153. 80 80 Lasse Hölck Gewässern sicher zu machen 125 . Damit sollte nicht zuletzt ein Verbindungsweg zwischen Sonora und der gegenüber gelegenen Küste Niederkaliforniens geschaffen werden, über den die chronisch unterversorgten Missionen der kalifornischen Halbinsel verproviantiert werden könnten. Als 1709 aber die Fregatte San Xavier vor der Küste Sonoras strandete und von der Besatzung verlassen wurde, musste für die Rettung des kostbaren Transportmittels das Wohlwollen mehrerer Seri- Gruppen eingeholt werden. Diese hatten die Fracht samt der kostbaren Eisennägel 126 an sich gebracht und erschwerten die reibungslose Versorgung der schiffbrüchigen Mannschaft mit Lebensmitteln. Durch die Vermittlung des Padre Salvatierra und seiner indigenen Dolmetscher gelang es, die sicherheitspolitischen Voraussetzungen für das auch logistisch anspruchsvolle Unternehmen zu schaffen. Die Begegnungen von Jesuiten, Spaniern und Wüstennomaden mussten dabei aber den Gepflogenheiten der nordwestmexikanischen Ureinwohner angepasst werden. Padre Salvatierra, der zu Beginn der 1690er Jahre als visitador Erfahrungen mit den verfeindeten Gruppen der Seris und Pimas sammeln konnte und im Anschluss maßgeblich am Aufbau des Missionssystems auf der Baja California beteiligt war, schiffte sich am 6. Oktober 1709 in Loreto (Niederkalifornien) ein und erreichte zwei Tage später den Hafen von Guaymas. In Begleitung von 14 Upanguaymas und anderen getauften Indianern aus der Mission San Joseph de Guaymas macht er sich auf den beschwerlichen Weg entlang der Küste zu der Unglücksstelle. Unterwegs kampierte die Expedition an verschiedenen Wasserstellen, die von Guaymas und Upanguaymas genutzt wurden, bis seine Begleiter sich weigerten, weiterzugehen, da sie sich am Rande des Schweifgebietes ihrer verfeindeten Verwandten, der Seris, befanden. Seinem Bericht zufolge war die Gastfreundschaft der unabhängigen Upanguaymas ausschließlich an seine Person gebunden, denn wenn er die Lagerstätte seiner Expedition für eine Weile verließ, wandelte sich das Verhalten der gastgebenden Indigenen in Ablehnung 127 . Als der Padre mit einigen Begleitern schließlich an der Stelle anlangte, wo die San Xavier gestrandet war, zeigten sich die dort ansässigen Seris verängstigt und gaben ohne weitere Probleme die geplünderte Takelage und Fracht heraus. Allerdings hatten sie das Großsegel der Fregatte bereits zu Lendenschurzen 125 Luis Gonzalez Rodriguez: Juan Maria Salvatierra y los seris, 1709-1710. In: Estudios de Historia Novohispana, Jg. 17 (1997), S. 229–262, S. 238. Online verfügbar unter http://www.ejournal.unam.mx/ehn/ehn17/EHN01711.pdf. (18.2.2010). 126 Gilg erwähnte, dass die Seris jede Art von Metall mit einem Wort bezeichneten, dass in ihrer Sprache “Verkauff [sic]” bedeutete und gibt damit einen Hinweis auf den Wert, der diesem Rohstoff von Seiten der Wildbeuter zugesprochen wurde. Gilg 1726, S. 78. 127 Salvatierra in Gonzalez Rodriguez 1997, S. 244. 81 Die Seri und koloniale Herrschaft 81 ( taparrabos ) und kleinen Decken verarbeitet und die Messer verschlissen ( gastado ) 128 . Angesichts der relativen Wertlosigkeit der zurückgegebenen Beute beschloss Salvatierra, diese Gegenstände an diejenigen Seris zu verteilen, die ihm am bedürftigsten erschienen. Diese Umverteilung wird ihm die Anerkennung der Wildbeutergruppen verschafft haben, glich sie doch der üblichen Geringschätzung materiellen Besitzes gegenüber dem sozialen Prestige, das aus seiner Redistribution resultierte. Es ist daher anzunehmen, dass die Durchführung der Umverteilung Salvatierra diejenige Anerkennung verlieh, die auch den temporären Führungspersönlichkeiten der Seris zukam. Der Padre ließ die Seris sodann über einen Dolmetscher wissen, dass er ihnen die Plünderung nicht weiter übel nahm, und erinnerte sie an seine friedensstiftende Vermittlung zwischen Seris und Pimas zwanzig Jahre zuvor, als er als visitador in Sonora tätig war. Die Seris stimmten seinen Aussagen zu. Fraglich ist gewiss, ob es sich überhaupt um dieselben Gruppen handelte, die der Padre in einem Abstand von zwei Jahrzehnten vor sich hatte, und ob sich selbst in diesem Fall ein Gruppenmitglied wirklich an den gealterten Gottesmann erinnern konnte. Letztlich bleibt aber festzustellen, dass Padre Salvatierra durch sein Verhalten die nötige Vertrauensgrundlage geschaffen hatte, um einen Konsens zwischen den Wildbeutern und der Kolonialmacht herzustellen. Das Vertrauen der Seris suchte der Padre gezielt zu vertiefen: anstatt mit den anderen Expeditionsmitgliedern an Bord des gestrandeten Schiffes zu übernachten, blieb der Padre an Land bei den dort neugierig lagernden Seris. Die höchsten Hoffnungen des Missionars erfüllten sich daher auch bald, als sich eine Reihe der Seris zum Empfang der Taufe bereit zeigte. Im Anschluss an den feierlichen Taufakt verbot ein aufkommender Sturm die Überbringung von Proviant aus dem Bauch des Schiffes zu der Lagerstätte des Missionars am Ufer. Doch die Seris teilten nun ihrerseits bereitwillig ihre frugale Kost mit dem Gottesmann in ihrer Mitte. Dessen Bericht legt an dieser Stelle ein beredtes Zeugnis über die Vielfalt an Nahrungsmitteln ab, die von den Seris ihrer ariden Umwelt abgerungen wurde 129 . In kurzer Zeit war es Salvatierra gelungen, sich durch die Übernahme indigener Werte zu einem Teil ihres Verteilungssystems zu machen. Dabei verlor er auch höher gesteckte Ziele der kolonialen Regierung nicht aus den Augen: um den Golf von Kalifornien schiffbar zu machen, resümierte der Jesuit, müssten die Seris als Freunde gewonnen werden. Statt die Seris mit der von Militärs und Missionarskollegen vorgeschlagenen Kanonenbootpolitik einschüchtern, d.h. über Drohungen und eventuelle Sanktionen zwingen zu wollen, visierte Salvatierra also vielmehr einen 128 Ebd., S. 246-247. 129 Ebd., S. 249. 82 82 Lasse Hölck Interessenausgleich an. Bei gleicher Maxime – der reibungslosen Versorgung niederkalifornischer Missionen mit Lebensmitteln aus Sonora über den Seeweg- steht die von Salvatierra anvisierte und praktizierte horizontale Handlungskoordination der vertikalen Steuerungsmethode über Drohungen diametral entgegen. Der erfahrene Padre agierte den Umständen entsprechend spontan, aber umsichtig. Die Expedition von Salvatierra erhielt nach einigen Tagen Unterstützung von einer Gruppe missionierter Seris aus Pópulo, die, angeführt von ihrem capitan namens Ambrosio, auf Geheiß des dortigen Missionars Almanza den Weg zur Küste zurückgelegt hatten. Wie schon in den Jahrzehnten zuvor mehrfach bemerkt, lag eine stete Ursache regionaler Konflikte in den Feindseeligkeiten, die sich entlang der Ethnien oder ethnischer Untergruppen entfachten. Salvatierra gelang es, einige verfeindete Gruppen friedlich zusammenzubringen: den Seri- Capitan Ambrosio stattete er mit seinen eigenen Tabakvorräten aus, damit er sich in einer rancheria der Pima vorstellig machen konnte 130 . Die gerngesehene Gabe, empfangen aus den Händen des Gegners, schuf Vertrauen zwischen den verfeindeten Gruppen, wobei sich der Padre zwar als Vermittler zu erkennen gab, aber nicht in die Rolle des gerechten Umverteilers von Genussmitteln drängte. Auch die uneinigen Comcaac- Gruppen (Upanguaymas und Seris) kamen zu seiner Messe am Ufer des Golfes von Kalifornien zusammen, ohne aneinander zu geraten. Als die zwei Monate dauernde Reparaturzeit schließlich endete, initiierte der Jesuit ein großes Fest, zu dem alle benachbarten Seri-Gruppen und Pimas geladen wurden, auf deren Kooperation sie angewiesen waren 131 . Für die Massenspeisung schlachteten man einige aus dem benachbarten Real de Guadalupe herbei geschaffte Rinder, und nutzte das feierliche Ereignis für weitere Friedensabsprachen. Diese kurze Episode zeigt, dass durch die Berücksichtigung der dezentralen politischen Organisation und ein Entgegenkommen hinsichtlich lokaler Gewohnheiten durchaus ein Auskommen in der kulturell heterogenen Region zu finden war. Eine letzte Bemerkung in Salvatierras` ausführlichem Bericht zielt direkt auf den hier fokussierten Unterschied zwischen vertikaler und horizontaler Regierungsweise ab: während des mehrwöchigen Aufenthaltes der Rettungsexpedition an der Küste des Serilandes kam auch der oben bereits erwähnte Hauptmann Juan Bautista Escalante mit einer Gruppe Missionsindianern vorbei, um dem Padre Beistand zu leisten. Als er die Upanguaymas und Seris andächtig und einträchtig der Messe des Padres 130 Salvatierra in Gonzalez Rodriguez 1997, S. 257. 131 Ebd., S. 253; Venegas 1759, S. 205-211; Tweed 1973, S. 43-46. 83 Die Seri und koloniale Herrschaft 83 lauschen sieht, bricht er in Tränen aus und erklärt dem Priester seine Rührung darüber, dass er gerade vor einem Jahr mit einer bewaffneten Truppe vergeblich versucht hatte, die zerstrittenen Bevölkerungen der Gegend zu befrieden. Nun sehe er, dass diese „Eroberung“ ( conquista ) ohne einen einzigen Soldaten gelungen sei 132 . FAZIT: DIE „ANTISTAATLICHKEIT“ DER SERIS UND DIE KONSEQUENZEN FÜR DIE REGIERUNGSWEISEN Die Expeditions- und Missionarsberichte über die Seris des 17. Jahrhunderts vermitteln das Bild einer in dutzende Untergruppen zersplitterten Bevölkerung mit einer gemeinsamen Sprache und Kultur. Die sehr unterschiedlichen Reaktionen der Seri auf die Ambitionen der Kolonisten zeigen, dass die verschiedenen Untergruppen weitestgehend unabhängig voneinander waren. Trotz der politischen Dezentralisierung existierte aber ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das die Mobilität der Kleinstgruppen bzw. Familien durch eine freie Wahl der Begleitung erst ermöglichte. Wie die historische Dokumentation zeigt, scheiterte die Fortführung vertikaler Befehlsketten innerhalb der Serigruppen an ihrer Auflösung durch die nicht- hierarchischen Vergesellschaftungsformen. An die Stelle kollektiver Repräsentation, wie sie die Selbstregierungsmechanismen der Kolonialherren einzuführen versuchten, trat die Entscheidung einer Familie oder eines Individuums, in der Gruppe zu verbleiben oder sich einer anderen Gruppe anzuschließen. Die Autorität der temporären Anführer war von ihrer Anerkennung dieser Möglichkeit abhängig und nicht von der Möglichkeit, exekutive Zwangsmassnahmen durchzuführen. Handlungskoordinationen zwischen Seris und Kolonisten mussten von den Militärs und Missionaren, die in einem Kontakt mit den Seris standen und die Vorgaben der Krone realisieren konnten, daher horizontal, d.h. durch das Aushandeln eines Konsens zwischen den Gruppenmitgliedern, vorgenommen werden. Wenn dem staatlichen Akteur von Seiten der Seri Vertrauen entgegengebracht wurde und die Besonderheiten der sozialen Organisation und Kultur der Seri von Seiten dieser Akteure toleriert wurden, waren die Voraussetzungen für eine Regelung kollektiver Sachverhalte gegeben. Den hierarchischen Strukturen des Militärs und der Missionsorden gemäß wurden diese Akteure aber periodisch (wenn auch maximal jährlich) ausgewechselt. Die Versetzung eines dieser Akteure kommt daher einem Vertrauensbruch gleich und zeigt, dass die Seris (und andere indigene Gruppen) sich nicht mit einem (kolonialen) Staat verbunden sahen oder gar die Autorität 132 Salvatierra in Gonzalez Rodriguez 1997, S. 254. 84 84 Lasse Hölck der Krone anerkannten, sondern allein den jeweiligen Vertreter vor Ort, der in direktem Kontakt zu ihnen stand, als Verhandlungspartner akzeptierten. Die von staatlichen Akteuren und Missionaren anvisierte sesshafte Lebensweise und Landwirtschaft stellte ein weiteres Hindernis dar, bei dem Versuch, die Seris in den Kolonialstaat einzubinden. Die indirekte Nötigung zu einem sesshaften Leben wurde zwar zunächst durch bereitwillige Versorgung mit Nahrungsmitteln seitens der Missionare attraktiv gemacht, die Ausübung landwirtschaftlicher Tätigkeit hat aber, wenn überhaupt, über einen längeren Zeitraum nicht statt gefunden. Die Anregungen aus der Theorie lassen dabei einerseits eine Inkompatibilität der „Denkweisen“ vermuten: Die vom Missionar angeordneten Bevorratungen stießen demnach weniger auf ein Verständnisproblem seitens der Seri, sondern vielmehr schlicht auf Ablehnung als ungeselliges Verhalten. Zudem stellten die Anweisungen zur Akkulturation die Regierungsbeamten in einen Gegensatz zu den Interessen der nomadisierenden Jäger und Sammler Gruppen, so dass kollektive Entscheidungsfindungen im Einklang mit den Bedürfnissen der Indigenen im Fall der Seris ausgeschlossen zu sein schienen. Den Adressaten kolonialer Herrschaft war eine Beteiligung an der Definition der zu erreichenden Regierungsleistungen, in diesem Fall die Versorgung und Selbstregierung des indigenen Kollektivs, von vornherein nicht oder nur streng limitiert zugedacht. Vom Standpunkt moderner Staatstheorie aus betrachtet entbehrte die koloniale Regierungsweise demnach prinzipiell einer input - Legitimität 133 . Die vertikale Befehlskette, mittels derer die staatliche Autorität vom Monarchen bis zum Subjekt delegiert werden sollte, wurde durch diesen Mangel ebenso geschwächt wie durch die mangelhaften Möglichkeiten der Amtsträger, ihre Entscheidungen oder Anweisungen notfalls mittels Sanktionen durchzusetzen. Andererseits zeigen die Erfahrungen einzelner Missionare, dass andere als vertikale Regierungsweisen durchaus einen Erfolg zeitigen konnten. Die postulierte „Antistaatlichkeit“ der Wildbeutergruppen bezieht sich somit nur auf die hierarchischen Steuerungsmechanismen staatlicher Organisationen. Das Aushandeln von Konsens auf regionaler Ebene war hingegen unter Berücksichtigung lokaler Gepflogenheiten oft genug von Erfolg gekrönt, um der horizontalen Handlungskoordination im kulturell heterogenen Raum gegenüber vertikalen Regierungsweisen letztlich eine höhere Effizienz zu bescheinigen. Die massive Anwendung von Gewalt gegenüber unbotmäßigen indigenen Gruppen (Latein-) Amerikas im Zuge von Eroberung, Kolonialherrschaft und schließlich, Gründung der Republiken ist niemals alternativlos gewesen. Die 133 Fritz W. Scharpf: Legitimationskonzepte jenseits des Nationalstaats. MPIfG Working Paper 04: 6. Köln 2004. 85 Die Seri und koloniale Herrschaft 85 Respektierung des indigenen Adels als Mittler zwischen Kolonialverwaltung und der tributpflichtigen Indianerbevölkerung in den Kernzonen der Kolonialstaaten, dem mexikanischen Hochtal und dem zentralen Andenraum, ermöglichte etwa ein verhältnismäßig friedliches Auskommen mit der indigenen Bevölkerung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts 134 . Erst als diese Mittlerrolle im Zuge der Bourbonischen Reformen umgangen werden sollte (siehe auch die Einleitung zu diesem Band) sahen sich die indigenen Eliten von den politischen Prozessen ausgeschlossen. Wie die vorangegangene Diskussion gezeigt hat, konnte eine ähnliche Anerkennung der indigenen Vergesellschaftungsformen auch bei denjenigen Gruppen erfolgreich sein, deren soziale Organisation nicht den hierarchischen Strukturen der europäischen Kolonialherren ähnelte. Die Grundzüge sozialer Organisation von Jäger und Sammlergesellschaften stellen staatliche Systeme vor folgende Probleme: 1. Eine Repräsentation des ethnisch konstituierten Kollektivs ist prinzipiell erschwert, da keinem Gruppenmitglied eine dauerhafte Entscheidungshoheit im Namen des Kollektivs zukommt. Verhandlungen über Belange, welche die staatlich verfasste Gesellschaft in ihren Beziehungen zur egalitären Gesellschaft betreffen, können von Einzelnen nicht verbindlich geführt werden. Theoretisch müsste mit jedem Gruppenmitglied gesondert abgesprochen werden, wie Vereinbarungen zu treffen und Konflikte zu lösen sind. 2. Die Notwendigkeit des Staates, seinen Verwaltungsapparat zu unterhalten, macht Steuer- oder Tributabgaben der Bevölkerung notwendig. In seinen Grundzügen ist dieses Verfahren als Reziprozität zu bezeichnen, da die Abgaben idealerweise wiederum der Bevölkerung in Form von Regierungsleistungen zugeführt werden. Die Anonymisierung des Verteilungsvorganges steht jedoch dem Prinzip des Teilens in Jäger- und Sammlergesellschaften entgegen. Weder für Individuen noch für Gruppen besteht eine Erwartungssicherheit, sobald gegenüber dem Staat bzw. seinen Vertretern um einen Anteil gebeten wird. Das „Recht“ zu nehmen und die „Pflicht“ zu geben können nur in den direkten und unmittelbaren Beziehungen zwischen Personen zum Zuge kommen. Aus diesen Beobachtungen folgt zum Einen, dass das Aushandeln von Legitimität auf lokaler Ebene, verstanden als Suche nach Konsens und damit als eine bedingende Dimension des Regierens 135 , gegenüber Jäger und Sammlergruppen eine zusätzliche Rückkopplungsschleife erfordert. Bevor 134 Wolfgang Gabbert: Koloniale und Post-Koloniale Gewalt: Die indigene Bevölkerung Lateinamerikas. 1492-1870. In: Edelmayer, Friedrich, Hausberger, Bernd; Potthast, Barbara (Hrsg.): Lateinamerika 1492 - 1850/70. Wien 2005, S. 79–95, S. 86f. 135 Arthur Benz: Governance - Modebegriff oder nützliches sozialwissenschaftliches Konzept? In: Arthur Benz (Hrsg.): Governance - Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden 2004, S. 17. 86 86 Lasse Hölck Abmachungen zwischen einem Repräsentanten der Gruppe und einem Regierungsvertreter getroffen werden können, muss dem indigenen Kollektiv Gelegenheit gegeben werden, einen eigenen Konsens zu erreichen, sei dies über einen Ältestenrat, in einer Generalversammlung oder anderen sozialen Institutionen, in der jeder, dem die Gruppe selbst ein Mitspracherecht einräumt, zu Wort kommt oder sich von anderen Wortführern überzeugen lässt. Wenn die Regierungsvertreter selbst Eingaben machen, die entweder einem Repräsentanten oder dem gesamten Kollektiv vorgestellt werden, sind diese nur Erfolg versprechend, wenn die Vermittlung einer solchen Eingabe ohne Zwang geschieht, das heißt, es werden keine Verhandlungsergebnisse vorweggenommen bzw. Bedingungen gestellt, noch ein Ultimatum für die Entscheidungsfindung angesetzt. Zudem muss mit einer Ablehnung der Eingaben gerechnet werden. Diese Bedingungen der horizontalen Handlungskoordinationen erfordern ein hohes Maß an Geduld. Letztere Tugend ist vorwiegend von Individuen zu erwarten, die weit reichende Kenntnisse der spezifischen Werte und Empfindlichkeiten des indigenen Kollektivs haben, also bereits über langjährige Erfahrungen verfügen. Es ist hingegen nicht zu erwarten ist, dass die indigenen Gruppen gegenüber einer anonymen Institution Vertrauen fassen, weshalb die Kommunikation mit ihnen über möglichst dieselben Personen innerhalb eines langen Zeitraumes vorgenommen werden sollte. Von einer gütlichen Einigung mit Jäger- und Sammlergruppen können schließlich auch die dominanten Nationalgesellschaften profitieren. Das Beispiel der Seris, denen 1975 ihr traditionelles Territorium als Naturreservat übergeben wurde, zeigt etwa, dass die informellen Mechanismen ihrer sozialen Organisation dazu beitragen, die natürlichen Ressourcen dieser Region zu schützen 136 . Die intime Kenntnis der Umwelt und ein genuines Interesse an ihrem Erhalt ermöglichen es diesen Gruppen, Veränderungen in der Tier- und Pflanzenwelt frühzeitig zu erkennen und über ihre Vermittlung an lokale Regierungen die Problemwahrnehmung im ökologischen Bereich insgesamt zu schärfen. Umweltschutz, schließlich, ist ein politisches Anliegen von zunehmend globaler Bedeutung; die Respektierung von Wildbeutergruppen, ihrer Territorien und Vergesellschaftungsformen, ist ein Schlüssel dazu. 136 Xavier Basurto: How Locally Designed Access and Use Controls can Prevent the Tragedy of the Commons in a Mexican Small-Scale Fishing Community. In: Society and Natural Ressources, Jg. 18 (2005), S. 643–659. Online verfügbar unter http://lengamer.org/admin/language_folders/seri/user_uploaded_files/links/File/Basurto2005. pdf, zuletzt geprüft am 16.10.2008. 87 JUSTO MIGUEL FLORES ESCALANTE

SCHULE UND WIDERSTAND. DIE MAYA-NACHFAHREN DER KASTENKRIEGE UND DIE ERRICHTUNG DER ERSTEN LANDSCHULEN IN QUINTANA ROO, 1928-1934

Falsos son sus reyes, tiranos en sus tronos, avarientos en sus flores. De gente nueva es su lengua, nuevas sus sillas, sus jícaras, sus sombreros; golpeadores de día, afrentadores de no- che, magulladores del mundo! Torcida es su garganta, entrecer- rados sus ojos; floja es la boca del Rey de su tierra, Padre, el que ahora se hace sentir. No hay verdad en las palabras de los ex- tranjeros. Los hijos de las grandes casas desiertas, los hijos de los grandes hombres de las casas despobladas, dirán que es ci- erto que vinieron ellos aquí, Padre. ¿Qué profeta, qué sacerdote, será el que rectamente interprete las palabras de estas escrituras? El libro de las profecías, Chilam Balam de Chumayel. HISTORISCHER KONTEXT UND THEORETISCHER RAHMEN Im Jahre 1847 brach auf der yukatekischen Halbinsel eine der bedeutendsten und verheerendsten indigenen Rebellionen des mexikanischen 19. Jahrhunderts aus, der so genannte Kastenkrieg ( guerra de castas) . Die Auswirkungen des be- waffneten Konfliktes waren bis in das 20. Jahrhundert hinein im südöstlichen Teil der yukatekischen Halbinsel spürbar, eine Region, die heute zum mexikani- schen Bundesstaat Quintana Roo gehört. Dorthin flüchteten sich die aufständi- schen Maya ab 1850 und befanden sich so außerhalb der Reichweite der mexi- kanischen Regierung, sowie der Regierungen der Bundesstaaten Campeche und Yucatán, 1 bis es der mexikanischen Bundesregierung mit der Einnahme der Ort- schaft Chan Santa Cruz 1901 gelang, den Aufstand niederzuschlagen. 2 1 Von 1821 bis 1857 umfasste der mexikanische Bundesstaat Yucatán die gesamte gleich- namige Halbinsel. 1858 spaltete sich der südwestliche Distrikt Campeche von Yucatán ab und bildete einen neuen Bundesstaat, der vom Kongress, der Regierung und anderen staatlichen Institutionen Mexikos 1863 anerkannt wurde. Die Regierung unter Porfirio Díaz bildete aus 88 90 Justo Miguel Flores Escalante Das angestammte Gebiet der Indigenen begann sich 1902 mit der Gründung des föderalen Gebietes Quintana Roo und der von der mexikanischen Bundesre- gierung vorangetriebenen Kolonisierung am Río Hondo, an der Grenze zu Beli- ze, zu verändern. In der Hauptstadt Payo Obispo (heute Chetumal), sowie in Ba- calar und auf den Inseln Cozumel und Mujeres wurden Siedlungen gegründet. Neben dieser Migrationsbewegung ließen sich in der Region auch Unternehmen nieder, die chicle 3 abbauten, und deren Arbeiter sich an den Rändern der Tro- penwälder der Maya ansiedelten. In den ersten zwei Dekaden des 20. Jahrhun- derts variierten Zunahme und Rückgang der Bevölkerung kontinuierlich 4 , eben- so wie die Kontrolle der mexikanischen Regierung über das Gebiet. 5 Die mexikanische Bundesregierung hatte an dem Grenzgebiet durchaus Inte- resse, da sie die Kontrolle über die Rohstoffe der chicle -Produktion für sich be- anspruchte und die Einmischung der Briten 6 auf mexikanischem Territorium verhindern wollte. 7 Gleichzeitig versuchte die Regierung, die Maya der Region dem südöstlichen Teil Yucatáns 1902 das Bundesgebiet (territorio federal) Quintana Roo, das direkt Mexiko-Stadt unterstand. Erst 1974 wurde das Gebiet zum Bundesstaat ernannt. 2 Chan Santa Cruz war der ursprüngliche Name des heutigen Felipe Carrillo Puerto in Quintana Roo, Mexiko, und ist auch der Name, den man dem Konfliktzentrum des Kasten- krieges gab. Für einen breiteren Überblick über den Kastenkrieg siehe: Don E. Dumond: El Machete y la cruz. La sublevación de campesinos en Yucatán. México 2005. Über die auf- ständischen Maya von Quintana Roo, ihre Beziehung zur Umwelt und ihre Probleme mit der mexikanischen Bundesregierung siehe: Martha Herminia Villalobos González: El bosque siti- ado. Asaltos armados, conceciones forestales y estrategias de resistencia durante la Guerra de Castas. México 2006. Gabriel Aarón Macías Zapata: La península fracturada. Conformación marítima, social y forestal del Territorio de Quintana Roo. 1884-1902. México 2002. 3 Chicle ist ein milchigweißer Saft, der aus dem Breiapfelbaum gewonnen wird. Es handelt sich dabei um einen Kaugummirohstoff, der schon 2000 Jahre vor Christus von den Maya genutzt wurde. Man wusste von der beruhigenden Wirkung des stetigen Kauens und stopfte sich Prieme aus Chicle in den Mund. 4 Gabriel Aarón Macías Zapata (Hg.): El vacío imaginario, geopolítica de la ocupación ter- ritorial en el caribe oriental mexicano. México 2004; Macías Zapata: La península fracturada, 2002, und Villalobos González: El bosque sitiado, 2006. 5 Dumond: El Machete y la cruz, 2005, S. 627-629; Carlos Macías Richard: Nueva frontera mexicana. Milicia, burocracia y ocupación territorial en Quintana Roo. México 1997. In: Conacyt-Uqroo: Colección sociedad y cultura en la vida de Quintana Roo, Bd. III, S. 133- 139; Lorena Careaga Viliesid: Hierofonía combatiente. Lucha, simbolismo y religiosidad en la Guerra de Castas. México 1998; Careaga Viliesid: Quintana Roo, una historia compartida. México 1990, S. 159-170, 175-176. 6 Belize war bis 1981 eine Kolonie Großbritanniens, Anm. d. Hrsg. 7 Siehe: Macías Richard, Nueva frontera mexicana, 1997; Macías Zapata: El vacío imagi- nario, 2004 und Villalobos González: El bosque sitiado, 2006. 89 Schule und Widerstand 91 in das nationale Projekt zu integrieren. So entwickelte der Staat in den Zwanzi- ger Jahren eine Reihe politischer Programme mit dem Ziel, einen sozialen und kulturellen Wandel herbeizuführen, den Patriotismus zu fördern und die “Ent- wicklung” der Gemeinden voranzutreiben. 8 Dieses Vorhaben wurde während der Präsidentschaft von Álvaro Obregón mit der Gründung des Bildungsministeriums ( Secretaria de Educación Pública, SEP) 1921 unter der Leitung von José Vasconcelos, in die Tat umgesetzt. Die Bekämpfung des Analphabetentums, einem der Mechanismen, mit denen die “Entwicklung der Gemeinden“ erreicht und ein kultureller Wandel initiiert wer- den sollte, war eines der Programme der SEP, auf dessen Grundlage die Land- schulen und Landlehrer ( escuelas y maestros rurales ) eingeführt wurden. Zwi- schen 1931 und 1934 konsolidierte die SEP unter Narciso Bassols das Projekt der Landschulen, mit dem die Mission der Alphabetisierung, Kastellanisierung (Verbreitung der spanischen Sprache) und der Eingliederung der indigenen Landbevölkerung in die Nationalkultur weiter verfolgte wurde. Mit der Einfüh- rung sozialistischer Bildung im Jahre 1934 verstärkten sich diese Bestrebungen noch. 9 Aber auf welche Weise verhandelten oder verweigerten die Maya ein ideolo- gisches System bzw. das “Projekt nationaler Integration” und Kastellanisierung, wie es von den Landschulen in Ortschaften getragen wurde, die relativ unabhän- gig von der mexikanischen Bundesregierung existiert hatten? War das Projekt erfolgreich? Gab es Widerstand? Welche Formen nahm der Widerstand der Indi- genen an und wie lassen sich diese typisieren? Dies sind die zentralen Fragestel- lungen dieses Artikels. 8 David L. Raby: Los maestros rurales y los conflictos sociales en México (1931-1940). In: Revista Historia Mexicana. México, 673-2, S. 190-226. S.190; Engracia Loyo Bravo: Los mecanismos de la federalización educativa, 1921-1940. In: Pilar Gonzalbo Aizpuru (Hrsg.): Historia de la educación y enseñanza de la historia. Bd. 1. México 1998, S. 113-135. 9 Guillermo Palacios: La pluma y el arado. Los intelectuales pedagogos y la construcción sociocultural del “problema campesino” en México, 1932-1934. México 1999; Guillermo Palacios: Una historia para campesinos: el maestro rural y los inicios de construcción del re- lato historiográfico posrevolucionario, 1932-1934. In: Pilar Gonzalbo Aizpuru (Hrsg.). His- toria de la educación y enseñanza de la historia. Bd. 1. México 1998, S. 237-262; Loyo Bravo: Los mecanismos de la federalización educativa, 1996, S. 139-159; Cecilia Greaves Lainé, 1998: El debate sobre una antigua polémica: la integración indígena. In: Gonzalbo Aizpuru (Hrsg.), S. 137-262; Francisco Arce Gurza: En busca de una educación revolucion- aria: 1924-1934. In: Josefina Zoraida Vázquez (Hrsg.): Ensayos sobre la historia de la educa- ción en México. México 1981, S. 173-223. 90 92 Justo Miguel Flores Escalante Um diese Fragen zu beantworten, soll das Konzept des Widerstandes von Ja- mes C. Scott verwendet werden. Dieses betont, dass sich Widerstand gegen die herrschenden Systeme einer Gesellschaft nicht nur in den Rebellionen dominier- ter oder subalterner Gruppen wahrnehmen lässt, sondern dass sich Widerstand auch in anderen Formen manifestieren kann, die von den Eliten weniger wahr- genommen werden, oder die zwar auch explizit und deutlich sichtbar sind, sich aber dennoch nicht in einem bewaffneten Aufstand entladen. 10 Um neue Formen des Widerstandes zu erkennen schlägt Scott vor, vier politi- sche Ebenen der Beziehungen zwischen Beherrschten und Herrschenden zu be- trachten. Die erste Ebene hängt mit dem öffentlichen Diskurs ( public transcript ) zusammen, der ein Selbstbild der Eliten entwirft, ein Wirkungsfeld, in dem er- wartet wird, dass sie ihre soziale Rolle erfüllen und ihren Untergebenen be- stimmte Verhaltensformen vorschreiben. In diesem Rahmen machen sie rhetori- sche Zugeständnisse und öffnen einen Raum, den die herrschende Ideologie der Interpretation der Subalternen überlässt. Diese Aspekte machen den öffentlichen Diskurs wiederum zu einem Bereich politischer Auseinandersetzung. 11 Die zweite Ebene, der verborgene Diskurs ( hidden transcript ), entspricht ei- nem Aktionsraum, in dem sich die Subalternen außerhalb der Überwachung der Regierungsgewalt versammeln. Von hier rührt möglicherweise eine dissidente Kultur, da die Beherrschten ihre Klagen und Unzufriedenheit ausdrücken kön- nen. Die dritte Ebene erlaubt es den Subalternen, ihre Gegenkultur und Opposi- tion zum herrschenden System durch Verheimlichung (concealment ) und soziale Anonymität zu zeigen . Klatsch, Gerüchte, populäre Erzählungen, Witze, Lieder, Verschlüsselung und Euphemismen sind unter anderem Teil dieser Ebene, die eine codierte Version des verborgenen Diskurses darstellen. Zuletzt existiert eine vierte Ebene, auf der die Grenze zwischen dem verborgenen Diskurs und dem öffentlichen Diskurs durchbrochen wird und auf der die Eliten offen herausge- fordert werden. Dies kann eine schnelle Repression seitens der Herrschenden zur Folge haben, oder aber auch, wenn diese nicht erfolgt, eine erhöhte Risiko- bereitschaft der Subalternen. 12 Der verborgene Diskurs wird von einer informellen Organisation der subal- ternen Klassen getragen und manifestiert sich in Zurückweisung und sozialem Druck, etwa wenn ein Mitglied davon abgehalten werden soll, sich von der 10 James C. Scott: Los dominados y el arte de la resistencia. México 2004, S. 46-47. 11 Scott: Los dominados y el arte de la resistencia, 2004, S. 42-43. 12 Ebd., 2004, S. 43-44. 91 Schule und Widerstand 93 Gruppe zu entfernen und den anderen damit Schaden zuzufügen. Der verborge- ne Diskurs wird auch in nicht- organisierten Widerstandsformen sichtbar, die die Eliten unmittelbar herausfordern, wie etwa die Verweigerung von Steuerzahlun- gen. Mithilfe der Verheimlichung und der sozialen Anonymität werden diese Ak- tionen zu Formen einer Infrapolitik , da sie die herrschende Klasse nötigen, ihre öffentliche Politik zu verändern. 13 Mit anderen Worten, der Widerstand hat seine Grundlage in diskreten Formen des Widerstandes, die sich indirekt äußern und die Infrapolitik formen. Diese Politik von unten “[...] beinhaltet einen großen Teil des kulturellen und strukturellen Fundaments der [...] sichtbaren politischen Aktion” 14 , und entspricht somit genau dem, was mit der vorliegenden Arbeit gezeigt werden soll. Zunächst soll verdeutlicht werden, wie versucht wurde, Landschulen in den Wäldern von Quintana Roo einzurichten; anschließend sol- len die Formen des Widerstands aufgezeigt werden, die einen verborgenen Dis- kurs unter den Maya im Zentralgebiet bildeten. Zuletzt sollen die Motive darge- legt werden, die die Handlungen der Indigenen leiteten und ihren verbogenen Diskurs sichtbar machten, aus dem schließlich eine Reihe infrapolitischer Aktio- nen hervorgingen, die das ursprüngliche politische Programm des mexikani- schen Staates in der Region änderten. DIE ERSTEN LANDSCHULEN Um sich eine Vorstellung von dem ideologischen System machen zu können, das die SEP in den Maya-Gemeinden durchsetzen wollte, ist die Aufgabenbe- schreibung des Leiters des Departamento de Educación de Escuelas Rurales , Florentino Guzmán, aufschlussreich. Ihr Ziel sei “…die kulturelle Eingliederung der Maya-Indigenen, die das Gebiet [von Quintana Roo] bewohnen und das Land für sich beanspruchen. Seit jeher ist es mein höchstes Anliegen, diesen sie- chenden Stamm, dessen Mitglieder seit Generationen vom Vergessen unter- drückt werden, zu befreien, um ihn zu einer menschlicheren und würdigeren Existenz emporzuheben [...]”. Und auch, um ihnen bewusst zu machen, dass sie ein Teil der “großen mexikanischen Familie” sind. 15 13 Ebd., 2004, Kapitel 1, 2 und 7. 14 “[...] contiene gran parte de los cimientos culturales y estructurales de […] la acción política visible”. Scott: Los dominados y el arte de la resistencia, 2004, S. 218. 15 “[…] la incorporación cultural de los irredentos indígenas mayas que pueblan el territo- rio [de Quintana Roo]. Desde entonces mi mayor obsesión ha sido la de liberar a esta doliente tribu integrada de hombres oprimidos por el olvido, a través de las generaciones, para elevarla a un plano superior encuazándola (sic) por una existencia humana y más digna [...]”.Informe 92 94 Justo Miguel Flores Escalante Die Einführung von Landschulen in der Region durch die Regierung geschah zunächst im Einklang mit den indigenen Eliten. Die Kooperation zwischen den Maya-Anführern und den “weißen”, bzw. mestizischen Eliten mit dem Ziel, die indigene Bevölkerung der Halbinsel Yucatán zu kontrollieren, ist eine in der Historiographie der Region gut bekannte Praxis. 16 Terry Rugeley argumentiert sogar, dass die Ursachen des Kastenkrieges in dem Bruch des kolonialen Bünd- nisses, bzw. der Handlungskoordination zwischen den Maya-Eliten und den “weißen yucatecos“ zu finden sei. 17 So verwundert es nicht, dass in einem so komplexen Gebiet wie dem zentralen Quintana Roo erneut auf dieses Bezie- hungsmodell zurückgegriffen, um eine gewisse Kontrolle zu gewährleisten und dort Schulen zu gründen, dem “[...] hegemonialen Instrument der modernen Ge- sellschaft schlechthin [...]”. 18 Einige der Gemeinden, deren Oberhäupter die Errichtung von Landschulen erlaubten , wie etwa in Santa Cruz de Bravo, Santa Cruz Chunpom und Petcacab, wurden zu Stützpunkten, von denen aus in der ganzen Region Schulen errichtet werden sollten. Dass die Wahl der Beamten der SEP gerade auf diese Gemein- den fiel, war kein Zufall, da diese Orte strategische Zentren des Maya- Aufstandes dargestellt hatten. Santa Cruz de Bravo, vormals Chan Santa Cruz genannt, war als religiöses und militärisches Zentrum der aufständischen Maya von Bedeutung und vereinte neun Dörfer unter sich. 19 Santa Cruz Chunpom war seinerseits ein ritueller Ort, an dem sich die Truppen der Nachbargemeinden sammelten; dem Dorf waren die Orte Yodzonot und Chunón, sowie die Ansied- lungen von Pixoy und Chanchén zugehörig. Petcacab umfasste die Ortschaften Santa María und San Pedro Kopchén. Dank eines Bündnisses zwischen dem einflussreichen Maya Oberhaupt Fran- cisco May und dem mexikanischen Präsidenten Venustiano Carranza 1918 konn- de Florentino Guzmán, director de educación federal de 18 de enero de 1929. Archivo Histórico de la Secretaría de Educación Pública (a partir de acá AHSEP), sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, expediente 1, le- gajo 2, años de 1928-1929, fjs. 87 y 90. 16 Nancy Farriss: La sociedad maya bajo el dominio colonial. Madrid 1992; Sergio Qu- ezada: Pueblos y Caciques yucatecos, 1550-1580. México 1993. 17 Terry Rugeley: La elite maya del siglo XIX. Complejidad y heterogeneidad de la guerra de castas. In: Genny Negroe (Hrsg.): Guerra de Castas: actores postergados. Mérida 1997, S. 157-177. 18 “[…] instrumento hegemónico por excelencia en la sociedad moderna […]”. Scott: Los dominados y el arte de la resistencia, 2004, S. 135. 19 Secretaría de la Presidencia. 1975, S. 11. 93 Schule und Widerstand 95 te die föderale Regierung einige Landschulen auf Maya-Gebiet errichten. Im Jahre 1919 stimmte May der Gründung einer Schule in Santa Cruz zu, welche aber nur unregelmäßig in Betrieb war. 20 1929 besuchten der Gouverneur von Quintana Roo, José Siurob, und weitere Beamte den Ort mit dem Ziel, die Bil- dungsarbeit in der Umgebung zu konsolidieren und May zu bitten, die Errich- tung der Schulen nicht zu behindern, sondern zu fördern. 21 Die Verhandlungen mit dem Maya-Anführermachten die Errichtung weiterer Landschulen mög- lich. 22 Zur selben Zeit gelang es den Beamten der SEP ebenfalls die Unterstüt- zung des Maya-Oberhauptesvon Petcacab, das Concepción Poot genannt wurde, zu erhalten. 23 Dennoch brachten die Billigung der Schulen und die Ideologie, die sie vertra- ten, ernste Konsequenzen für die Führung der indigenen Chefs mit sich. Das ideologische System, das durch den Pakt zwischen der Maya-Führung und den föderalen Autoritäten durchgesetzt werden sollte, wurde in Frage gestellt, ange- fochten und nur zähneknirschend akzeptiert. Das Bündnis zwischen May und der mexikanischen Bundesregierung brachten andere Maya-Anführer aus dem Norden von Santa Cruz dazu, mit diesem Kazikenzu brechen. Als May im Jahre 1919 die Gründung einer Schule in Santa Cruz genehmigte, lehnte sich das Oberhauptvon Santa Cruz Chunpom gegen ihn auf, und es kam zu bewaffneten Aufständen in Playa de Carmen. Die Botschaft war nur allzu deutlich: die Ver- handlungen mit der föderalen Regierung würden von den Mayas des zentralen Quintana Roo nicht akzeptiert werden. Nachträglich stellten sich auch die Maya Oberhäupter Evaristo Zuulub aus Dzulá und Concepción Cituk aus Xmabén ge- gen May und die föderale Regierung. 24 Dessen ungeachtet begleitete Juan B. Vega, Anführer von Chunpom, im Jahr 20 Informes de Jesús Brambila, inspector escolar, 2 de enero de 1929. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, expedi- ente 1, legajo 2, años de 1928-1929, fj. 85. 21 Felipe Nery Avila Zapata: El general May. Último jefe de las tribus mayas. México 1993, S. 73-77. 22 Informe Florentino Guzmán, director de educación federal de 18 de enero de 1929. AH- SEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, expediente 1, legajo 2, años de 1928-1929, fjs. 92-93. 23 Informe del inspector Florentino Guzmán, 4 de abril de 1928. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, expediente 1, le- gajo 1, años de 1927-1928. Fjs, 61, 85-86. 24 Martín Ramos Díaz: La diáspora de los letrados. Educadores, poetas y clérigos en la frontera caribe de México. México 1997, S. 25. 94 96 Justo Miguel Flores Escalante 1929 Florentino Guzmán auf der Expedition einiger Landlehrer durch das Maya- Gebiet von Quintana Roo. Während der Reise gelang es Guzmán, das Vertrauen Vegas zu gewinnen, der in die Gründung von Schulen in seinem Einflussgebiet einwilligte. 25 Santa Cruz Chunpom war das religiöse und militärische Zentrum der Region und wurde normalerweise von 25 bis 30 Wachen beschützt. Aber als die Expedition der SEP das Dorf erreichte, waren dort etwa 100 bewaffnete Wa- chen anzutreffen, “[...] jeder einzelne mit seiner 30-30er [Winchester, Anm. d. Hrsg.] und Waffen der Armee mit der ihr eigenen Ausstattung”. Der Maya- Anführer Juan Bautista Vega berief eine Versammlung mit den Truppen ein, um den Grund für die Expedition zu erläutern, doch die indigenen Soldaten zeigten sich gleichgültig und behielten ihre Konfrontationshaltung bei. Dennoch vertei- digte Vega die Mission derLandlehrerindem er “[...] denjenigen künftige Nachteile voraussagte, die nicht einwilligten”. 26 Die Beteiligung der genannten Maya-Oberhäupter verhinderte nicht den Wi- derstand gegen die Landschulen und die Bevölkerung drückte ihren Anspruch auf Selbstbestimmung durch eine Ablehnung der Bildungsinstitutionen aus. Im November 1932 wies der Schulinspektor der SEP, Juan Flores, auf die niedrigen Schülerzahlen in den Schulen hin, die er bei einem Besuch vor Ort bemerkt hat- te. Als das OberhauptvonKopchén, capitán Marcelino Chan, bezüglich der fehlenden Schüler befragt wurde, begnügte sich dieser mit “[...] der Begrün- dung, dass er die anderen Kinder nicht zur Teilnahme am Unterricht zwingen könne, da er nicht ihr Vater sei [...]“. Flores schlussfolgerte: „[…] es ist das starsinnigste Dorf in der Region, die von den Schulen kontrolliert wird [...]”. 27 25 Informe Florentino Guzmán, director de educación federal de 18 de enero de 1929. AH- SEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, expediente 1, legajo 2, años de 1928-1929, fjs. 90-91. Informe de Florentino Guz- mán, 13 de mayo de 1929. AHSEP, sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Di- rección de Educación Federal, caja 13, años de 1928-1935, exp. 13, fj. 9. 26 Chunpom umfasste 19 Häuser, gebaut aus Palmblättern und Holz, eine Kirche und eine Kaserne. Die Einwohner waren für die Streitkräfte, die sich dort sammelten, äußerst wichtig, und 22 Kinder waren im schulpflichtigen Alter. “[...] cada uno con sus carabinas 30-30 y armas reglamentarias del ejército, con sus respectivas dotaciones”; “[…] anunciándoles hasta los futuros males para ellos en caso de no acceder”. Informe Florentino Guzmán, director de educación federal de 18 de enero de 1929. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, expediente 1, legajo 2, años de 1928- 1929, fjs. 90-91. 27 Allgemein gab es in dieser Ortschaft viel Widerwillen gegen die Schule. Bis 1934 hatte man den Bau eines Schulgebäudes nicht akzeptiert. “[…] con darnos como razones, que él no puede obligar a los demás niños a concurrir porque no es su padre […] es el pueblo más indó- 95 Schule und Widerstand 97 Was Francisco May betrifft, so gelang es ihm mithilfe seiner Kontrolle über Santa Cruz die Schülerzahlen zu erhöhen. Allerdings kostete ihn die Durchset- zung dieser Anweisung den Respekt innerhalb seiner Gemeinschaft, weshalb er gelegentlich versuchte, sich aus der Angelegenheit heraus zu halten. Am 3. Mai 1928 versammelten sich in Santa Cruz de Bravo einige Chefs unter der Führung Mays zu religiösen Feiern, unter ihnen auch die Oberhäuptervon Dzulá und Kopchén, die die Gründung von Schulen ablehnten. Als May sie über ihre Ab- lehnung der Bildungsinstitutionen befragte, antworteten ihm die Oberhäupter der genannten Ortschaften: “[…] dass ihre Leute die Schulen nicht wünschten, und dass es auch keine Räume gäbe, um diese unterzubringen…” 28 Im Dezem- ber 1928, betonte Schulinspektor Leonides Ayala, dass „der General May“ eine ausweichende Haltung gegenüber der Errichtung von Schulen habe und die Uterstützung, die er versprochen habe, verleugnete. 29 Francisco May selbst entschied sich dafür, bei bestimmten Gelegenheiten auch seine eigenen Kinder nicht in die Grundschule zu schicken. 30 Zudem machte er geltend, dass er die anderen Gemeinden der Region nicht dazu zwin- gen könne, die Schulen zu akzeptieren, da dies nur von ihnen selbst abhinge. Direktor Florentino Guzmán bestätigte den Widerstand der Maya gegen die Bil- dungsinstitutionen in seinem Bericht vom Juni 1928: “All das Berichtete beweist die entschiedene Opposition der Indigenen, einschließlich ihrer übergeordneten Anführer, gegen die Schulen...” 31 cil de la región controladas por las escuelas […]”. Informe del inspector Juan I. Flores, 9 de noviembre de 1932; sowie Informe de Santiago Pacheco Cruz, 22 de enero de 1934, AHSEP, sección Escuelas Rurales Federales, San Pedro Kopchén, caja 2, Referencia IV/161(IV- 14)/410, años 1930-1938, fjs. 23 y 50. 28 “[…] que la gente no deseaba las escuelas y que tampoco había locales para insta- larse…”. Acta de 10 de mayo de 1928, Cozumel, Quintana Roo. AHSEP, sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, exp. 7, años 1927-1935, fj. 14. 29 Informe de Leónides Ayala de 9 de diciembre de 1928. AHSEP, sección Quintana Roo, Inspección Escolar, caja 16, exp. 1, años 1928-1929, fj. 50-51. 30 Informe de Leonides Ayala de 26 de noviembre de 1928; Informe de Sara Aguilar de 31 de octubre de 1929 y 28 de febrero de 1928. In AHSEP, sección Quintana Roo, Departamento de Escuelas Rurales Federales, Santa Cruz de Bravo, caja 1, años de 1928-1929, fjs. 1, 8, 15- 18. 31 “[...]Todo lo narrado demuestra con evidencia, la oposición terminante de los indígenas, inclusive los jefes supremos de ellos, para aceptar escuelas”.Informe de Florentino Guzmán, 25 de junio de 1928. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, Caja 12, exp. 3, fjs. 13-16. 96 98 Justo Miguel Flores Escalante Zu der Beziehung zwischen den Maya-Anführern und ihren Untergebenen äußerte sich Schulinspektor Leonides Ayala deutlich. Er wies darauf hin, dass auch wenn die Ersteren eine gewisse Macht besäßen, um die Errichtung von Schulen zu verhindern, die Letzteren ebenfalls über die Macht verfügten, ihre Zustimmung zu den Schulen zu verweigern, und die Anführer entschieden sich dafür, ihre Unzufriedenheit nicht noch zu vergrößern: „[…] Denn auch wenn einige Stammesmitglieder [die Schule und die Lehrer akzeptieren] wollen, der unmittelbare Anführer oder General May aber nicht, dann akzeptieren sie seinen Beschluss. Wenn, andernfalls, der Stamm die Schule nicht will, obwohl der Kommandant oder General May sie akzeptieren, dann respektieren beide, aber nur in diesem Fall, den Wil- len ihrer Leute [...] 32 Es lässt sich also festhalten, dass trotz des Gehorsams und der Loyalität, die die Maya ihren Oberhäuptern entgegenbringen konnten, die konsequente Ableh- nung der Schulen über dieses Verhältnis hinausging. Die Maya stellten sich ge- gen eine Ideologie, die versuchte, sich über ihre eigene zu stellen, und die mit- tels Zwang von ihren eigenen Anführern und den föderalen Autoritäten durchge- setzt werden sollte. Es lassen sich also Widerstandsformen der aufständischen Maya von Quintanta Roo ausmachen, die bis zu einem gewissen Grad frei von den Manipulationen ihrer Chefs sind, die mit der Regierung verhandelten. VOM ALLTÄGLICHEN WIDERSTAND ZUR OFFENEN HERAUSFORDERUNG Die Maya von Quintana Roo hatten zwei Vorteile, die es ihnen erleichterten, einen verborgenen Diskurs zu entwickeln: ihre Sprache, ebenfalls Maya ge- nannt, und ihre unwirtliche geographische Landschaft. In der Maya Sprache be- leidigte man die Lehrer oder gab ihnen abschätzige Namen, wie Schulinspektor Juan I. Flores auf seiner Expedition durch die indigenen Gemeinden feststellte. Dort beobachtete er die ablehnende Haltung der Indigenen gegenüber Mestizen, die Spanisch sprachen, und einen Hass gegen die “Weißen” oder Personen aus dem Zentrum des Landes. Flores selbst wurde von ihnen abwertend “ huacho ” 32 “[…] Porque aún queriendo algunos miembros de la tribu [aceptar a la escuela y maes- tros], si el jefe inmediato no quiere o el general May, acatan su voluntad. Porque, por el con- trario, si la tribu no quiere la escuela, aun que el comandante acepte o el general May, ambos respetan invariablemente, solo en este caso, la voluntad de sus pueblos […]”. Informe de Leonides Ayala, 24 de noviembre de 1928. AHSEP, sección Quintana Roo, Inspección Esco- lar, caja 16, exp. 1, años 1928-1929, fjs. 42-42v. 97 Schule und Widerstand 99 genannt. 33 Das Erlernen der spanischen Sprache beschränkte sich zudem ausschließlich auf den Schulunterricht, da zuhause weiterhin die eigene indigene Muttersprache gesprochen wurde, so dass das Maya im privaten Raum als “Geheimsprache“ gestärkt wurde, während das Spanische sich auf kleine Bereiche innerhalb der Kontrolle der Lehrer beschränkte. 34 So ist es nicht überraschend, dass der Direk- tor des mexikanischen Bildungsministeriums es als notwendig ansah, Lehrer auszubilden, deren Muttersprache Maya sei, um die Sprachbarrieren zu über- winden und die Durchsetzung der Ziele der Landschulenzu sichern. 35 Anderer- seits nutzen die Gemeinden aber ohne das Wissen der mexikanischen Bundesre- gierung ihre Waldgebiete als Versammlungs- und Kommunikationsraum. So verbreiteten sich sowohl im privaten Raum als auch in den Waldgebieten Gerüchte und Klatsch über die Schulen und Lehrer in der Mayasprache und bil- deten so einen verborgenen Diskurs aus. Man sagte zum Beispiel, dass die Re- gierung die Lehrer zur Überwachung schickte; es verbreitete sich auch das Ge- rücht, die Schulen dienten nur dazu, die Dörfer zugrunde zu richten, was von umherziehenden Händlern noch bestätigt wurde. Außerdem, und hier zeigt sich die Uneinigkeit der Gemeinden von May und Vega, glaubten erstere, Vega wür- de der Errichtung von Schulen nur zustimmen, um ihrer Gemeinde zu schaden. 36 Florentino Guzmán berichtete während seiner Reise durch die Maya-Gebiete von Quintana Roo seinen Vorgesetzten von den Gerüchten, die in den Gemein- den verbreitet wurden: 33 Informe de Juan I. Flores, 22 de abril de 1932. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Xyatil, Santa Cruz de Bravo, Caja 2, Referencia IV/161 (IV-14)/399, 12- 12v. “Huacho” bedeutet so viel wie “Bastard”, Anm. d. Hrsg. 34 Informe de Florentino Guzmán, 15 de julio de 1935. AHSEP, sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, exp. 1, años de 1930- 1935, fjs. 65-66. 35 Informe Florentino Guzmán, director de educación federal de 18 de enero de 1929. AH- SEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, expediente 1, legajo 2, años de 1928-1929, fjs. 94-95. Informe de Leonides Ayala, 31 de enero de 1929. AHSEP, sección Quintana Roo, Inspección Escolar, caja 16, exp. 1, años de 1928-1929, fj. 71. Informe de Florentino Guzmán, 15 de julio de 1935. AHSEP, sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, exp. 1, años de 1930-1935, fj. 67. 36 Informe de Leonides Ayala, 24 de noviembre de 1928. AHSEP, sección Quintana Roo, Inspección Escolar, caja 16, exp. 1, años de 1928-1929, fj. 42-42v. 98 100 Justo Miguel Flores Escalante “[...] dass die Schulen Leben und Gebräuche der Einheimischen korrumpieren; die wahre Mo- tivation für meine [Guzmáns] Absichten ist der Profit und die Vermehrung meiner Einnah- men; dass die Nahrungsmittel immer zu spät eintreffen und wegen meiner Händel überteuert sind; und dass ich der wahre Räuber ihrer Ländereien bin. Und zu all diesen falschen Gerüch- ten kommt noch der Aberglauben der Einheimischen hinzu, dass die Schulen sie körperlich erkranken ließen und den Augen schaden würden [...]” 37 Die Landlehrer wurden von den indigenen Gemeinden nur ungern zugelassen, insbesondere da es zu einer Serie von Missbräuchen gegenüber den Frauen der Dörfer kam und sie von den Indigenen Güter einforderten, die diese ihnen nicht geben konnten (der Komplex des Verhaltens der Lehrer wird im folgenden Ab- schnitt ausführlich behandelt werden). Die harmloseste Form, den Lehren ihre Ablehnung zu zeigen, bestand im Gebrauch von Unflätigkeiten und indem man ihnen den Aufenthalt in den Gemeinden, etwa durch die Verweigerung von Le- bensmitteln und Unterkunft erschwerte. Die Lehrer wurden auch mit Wasser überschüttet, um sie zu erschrecken, wenn sie die Schüler bei ihren Familien abholen wollten. Man öffnete ihnen nicht die Tür und wartete geduldig auf ihr Verschwinden oder schüchterte sie gar mit Warnschüssen ein. In ähnlicher Weise widersetzte man sich auch dem Bau von Schulgebäuden. Die Schüler erschienen nicht zum Unterricht und noch viel weniger willigten sie ein, sich die Haare schneiden zu lassen, dem von der Schule geforderten Zeichen der “Zivilisiert- heit”. Selbstverständlich sollten all diese Handlungen das Projekt der Landschu- lenscheitern lassen. Dessen ungeachtet versuchten einige Lehrer ihre Probleme in den indigenen Gemeinden zu lösen. Angesichts des Fehlens von Nahrungsmitteln wendeten sie sich zur besseren Versorgung an nahe gelegene Ortschaften und erbaten das Ein- greifen der lokalen Autoritäten, um die Hindernisse bei dem Bau von Schulen aus dem Weg zu räumen und das Fernbleiben der Schüler vom Unterricht zu be- grenzen. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Lehrer auf die Indigenen 37 “[…] que las escuelas son corruptoras de la vida y costumbres de los nativos; el ver- dadero móvil de mis intenciones [de Guzmán] es el lucro y el engorde de mis ingresos; de que las provisiones alimenticias las reciben tarde y caras por las maniobras que pongo en juego; y que yo soy el verdadero despojador de sus tierras. Si a todas estas murmuraciones pérfidas se agrega la superstición de los nativos de que las escuelas les enferma el cuerpo y los ojos [...][...]”. Informe Florentino Guzmán, director de educación federal de 18 de enero de 1929. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educa- ción Federales, caja 12, expediente 1, legajo 2, años de 1928-1929, fj. 95. 99 Schule und Widerstand 101 generell nicht zu viel Druck ausübten, da sie wussten, dass diese jederzeit die Gemeinden verlassen und in die Berge gehen konnten. 38 Im Dorf San José lässt sich die Entwicklung all dieser Widerstandstaktiken nachvollziehen. Übereinstimmend mit einem Bericht der SEP lehnte die Ge- meinde es ab, ihre Kultur, Sprache, Trachten, Bräuche und die indigene Le- bensweise abzulegen, “[...] sie wollten sich nicht an die Kultur, für die unsere Schulen kämpfen, anpassen; der Fanatismus ist tief in ihnen verwurzelt, und man hat es nicht geschafft, ihnen dieses Laster auszutreiben”. 39 Der Widerstand gegen die Schulen radikalisierte sich in Gemeinden wie Tusik und Dzulá noch stärker, und Tusik zeigte sich seit den ersten Expeditionen der Lehrer feindselig. Der Direktor der Landschulen der SEP berichtete, dass die Menschen dieser Ortschaft sich in ihren Häusern verrammelten und nachts mit ihren Waffen schossen und ihre Hörner klingen ließen, was jeden Versuch der Kommunikation vereitelte. Schließlich erreichten die Beamten nur, dass ein Anwohner sie gegen Bezahlung und unter dem Versprechen, ihn nicht an seine Nachbarn zu verraten, aus dem Dorf hinausführte. 40 In Dzulá zeigten sich die Anwohner den Lehrern gegenüber ebenfalls feindse- lig und verweigerten ihnen den Aufenthalt in ihrer Gemeinde. So erlebte es auch SchulinspektorClaudio Cortés, als er in die Ortschaft kam und die Einwohner den Teilnehmern der Expedition Unterkunft und Nahrung für sie und ihre Pferde verweigerten. Dennoch wurden sie ein paar Stunden toleriert, da einer der Leh- rer Gitarre spielen konnte und die Musik den Indigenen gefiel. 41 Es kann allgemein festgestellt werden, dass sich die Feindseligkeiten gegen die Lehrer auch auf alle Nachbarorte erstreckte, die der Errichtung von Schulen bereits zugestimmt hatten. Dies war der Fall in Xyatil, wo es Schulinspektor Jesús Brambila gelang, Sergeant Anselmo Tamay, der die Schule beschützen 38 Informe del inspector Juan I. Flores, 12 de abril de 1932. AHSEP, sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Santa Cruz de Bravo, caja 1, años de 1928-1934, fj. 45. 39 “[...][...] que no se han querido asimilar a la cultura por la que luchan nuestras escuelas; el fanatismo está profundamente arraigado en ellos y poco se ha logrado para ir quintando estas lacras”. Informe de Luis G. Ramírez, 17 de octubre de 1933. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, San José, Santa Cruz de Bravo, Caja 2, Referencia IV/161 (IV-14) 23021, fj. 9. 40 Informe Florentino Guzmán, director de educación federal de 18 de enero de 1929. AH- SEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, expediente 1, legajo 2, años de 1928-1929, fj. 92. 41 Ramos Díaz: La diáspora de los letrados, 1997, S. 171-172. 100 102 Justo Miguel Flores Escalante sollte, zum Verbleib in der Gemeinde zu bewegen. Tamay machte dem Schulin- spektor jedoch deutlich, dass ihm die Regierung im Gegenzug für seine Loyali- tät keinen Schutz gegen die Aufständischen von Dzulá garantiere. Tatsächlich infiltrierten diese die Gemeinde Xyatil, damit sie sich gegen die Schule, den Lehrer und den Sergeant stellte. Initiiert wurde diese Propaganda in der Bevöl- kerung vonseiten des Indigenen Emeterio Chan. Der Sergeant wurde sogar mit dem Tode bedroht, weshalb er und der Landlehrer Francisco Ávila Waffen bei sich führten. Schulinspektor Juan Flores machte die zuständigen Autoritäten des Bildungs- bereiches auf die ständigen Bedrohungen aufmerkwsam, denen die Lehrer und Protektoren ausgesetzt waren. Zudem berichtete der Funktionär der SEP, dass der indigene Sergeant von Dzulá nicht aufhöre, die Lehrer der Gegend unaufhör- lich anzugreifen, damit keine weiteren Schulen errichtet würden, und die Mayas davon ausgingen, dass sie von keiner Regierung abhängig und demnach auch nicht verpflichtet seien, die Angestellten und das Bildungspersonal der Regie- rung zu respektieren. Desweiteren schilderte der Schulinspektor, dass diemilitä- rischen Autoritäten der indigenen Gemeinden der Region ihm bei dem Versuch, die wohltätigen Absichten der Regierung bei der Errichtung von Schulen für ihre Kinder zu erklären, schlicht zur Antwort gaben: “[H]ier hat die Regierung nichts zu sagen”. 42 Der Schule von Xyatil gelang es trotz allem, sich durch die Unter- stützung eines Teils der Bevölkerung zu erhalten. DIE INFRAPOLITIK DER MAYA Die bereits umrissenen Widerstandsaktionen gründeten auf einer tief empfun- denen Unzufriedenheit der Indigenen angesichts der von der Regierung ergriffe- nen Maßnahmen und waren die Basis für die eingangs erläuterte Infrapolitik . Es kann davon ausgegangen werden, dass die Gesamtheit der Widerstandsformen die herrschende Klasse unter Druck setzte, ihre Politik zu ändern. Die Maya von Quintana Roo gingen von einem verborgenen Diskurs dazu über, das System offen herauszufordern und so eine Veränderung der Politik voranzutreiben. Die Gründe, die die Konfrontationen rechtfertigten, waren konkret: die Verteidigung ihrer Kultur und ihrer Bräuche gegen die neue Ideologie, die die Schule durch- zusetzen versuchte sowie die Unzufriedenheit mit vielen der Landlehrer und die 42 “[A]llí no manda el gobierno”. Informe de Juan I. Flores, 22 de abril de 1932. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Xyatil, Santa Cruz de Bravo, Caja 2, Ref- erencia IV/161 (IV-14)/399, fjs. 1-21, en especial fj. 12v. 101 Schule und Widerstand 103 Kritik am Vordringen von chicle- Unternehmen in die Waldgebiete, die sie als ihre Ländereien betrachteten. Mehrere dieser Gründe wurden auch von den Einwohnern Chunóns vorge- bracht. 43 Am Beispiel dieser Ortschaft lassen sich kultureller Widerstand sowie Widerstand gegen die Missbräuche seitens der Lehrer gut nachvollziehen. Ende März 1932 traf der Lehrer Gabriel Navarrete in Chun-Hoon (Chunón) ein. Dort sah er sich mit Widerstand von Seiten der Frauen des Ortes konfrontiert. Bei seiner Ankunft wurde ihm klar, dass die Väter sich nicht in der Ortschaft befan- den, da sie zu Dienstleistungen nach Chunpom abberufen worden waren. Navar- rete ging daher zum Haus des Kommandanten Cristino Cen, um ihm den Nutzen der Schule zu verdeutlichen. Er traf Cen nicht zuhause an, und dessen Frau er- klärte ihm, dass sie bis zur Rückkehr ihres Mannes nichts unternehmen könne. Bis zur Rückkehr der indigenen Autorität im Dorf versuchte Navarrete das Vertrauen der Kinder zu gewinnen. Mit Spielen, Erzählungen und Unterhaltun- gen gelang es ihm, bei 13 Kindern Interesse zu wecken. Zunächst sprach er Maya mit ihnen und, nachdem er ihre Aufmerksamkeit gewonnen hatte, Spa- nisch. So brachte er die Kastellanisierung auf den Weg. Aber die Frauen reagier- ten auf die Anwesenheit Navarretes, wiesen die Kinder zurecht und signalisier- ten ihnen, dass sie in Abwesenheit ihrer Männer nicht die Erlaubnis hätten, den Lehrer zu sehen. Eine Woche nach der Rückkehr des Kommandanten besuchte ihn der Land- lehrer, um ihn um Schulmaterialien zu bitten. Aber Cen behandelte ihn abwei- send und teilte ihm mit, dass die Einwohner des Ortes demLeiter der Bildungs- abteilung ein mit ihren Fingerabdrücken (statt Unterschriften) unterzeichnetes Schreiben gesendet hätten, in dem sie ihn ersuchten, von der Entsendung von Landlehrern abzusehen. Navarrete redete ihm zu, dass sie nicht “[...] weiterhin im Schoße der Unwissenheit leben könnten, während die anderen Dörfer zur Zivilisation aufstiegen”. 44 Schließlich stimmte Cen einer Versammlung der Ein- wohner zu, auf der der Lehrer in der Sprache der Maya seine Motive darlegen könne. Die Versammlung wurde angesetzt. Bis zum Tag der Zusammenkunft ver- 43 Dieser Abschnitt bezieht sich auf: AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Chun-Hoon, Carrillo Puerto, Caja 2, Referencia IV/161 (IV-14)/23035, fjs. 1-10. 44 “[...] seguir viviendo en el seno de la ignorancia, mientras los otros pueblos avanzaban a la civilización”. Oficio de Gabriel Navarrete, 30 de abril de 1932. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Chun-Hoon, Carrillo Puerto, Caja 2, Referencia IV/161 (IV- 14)/23035, fj. 2 102 104 Justo Miguel Flores Escalante suchte Lehrer Navarrete noch, den Rückhalt der Dorfbewohner zu gewinnen, konnte aber nur eine Minderheit erreichen. Am Tag der Versammlung legten die Einwohner Navarrete schließlich ihre Gründe für die Ablehnung der Lehrer dar: “Die vorherigen Lehrer blieben meist nur einige Tage im Dorf, dann gaben sie vor, krank zu sein, und verließen den Ort, wobei sie den Einwohnern noch die eine oder andere Sache schuldeten; dass sie in der kurzen Zeit ihres Aufenthaltes versuchten, die Sitten der Dorfbe- wohner zu verändern und alles auf den Kopf stellten, um die Bräuche, die sie von ihren meistgeliebten Menschen übernommen hatten, mit denen der Zivilisation zu vertauschen; dass sie ihre Religion grausam verspotteten indem sie sagten, dass man ihren verehrten Christus verbrennen würde, was sie äußerst beunruhigte”. 45 Des Weiteren erklärten die Indigenen Navarrete, dass wenn sie ihre Kinder in die Schule schickten und sie sich so nicht mehr bei der Aussaat auf den Feldern nützlich machen könnten, sie dies nur gestatteten, damit die Kinder lesen und unterschreiben lernten, und nicht, damit sie ihre Zeit mit Erzählungen und un- nützen Spielen vergeudeten. Der Lehrer konnte schließlich nur fünf Familienvä- ter davon überzeugen, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Es gelang ihm auch nicht, Hilfe bei Instandsetzungsmaßnahmen am Schulgebäude zu erhalten, da die Eltern ihre Kinder sofort wegholten, wenn sie sie arbeiten sahen. Obwohl die 5 Familienoberhäupter zur Instandsetzung des Schulgebäudes beitrugen, schickten immer weniger ihre Kinder in den Unterricht und nur vier Erwachsene schrieben sich in die Abendschule ein. Die Gemeinschaft blieb Navarretes Einmischung gegenüber abgeneigt. Am 28. Juni 1932 unterbrach der Lehrer die Feldarbeit, da ein menschlicher Leich- nam in der Nähe begraben war. Navarrete versuchte die Einwohner davon zu überzeugen, ihren Brauch abzulegen, die Toten innerhalb der Ortschaft zu be- graben, aber er erreichte nichts, “[...] da sie vorbrachten, dass die Bräuche wie eine zweite Natur seien”. 46 Die Situation verkomplizierte sich im Juli 1932 noch mehr. Navarrete hatte 45 “Los maestros anteriores sólo permanecían unos cuantos días y luego pretextando estar enfermos se iban del lugar debiéndoles una que otra cosa; que en el corto tiempo que hacían lo empleaban en remendar sus costumbres, tratando que trastocaran éstas que habían sido lega[da]s a ellos por sus seres más queridos, por las que implanta la civilización; que se mo- faban cruelmente de su religión prometiéndoles que muy pronto vendrían a quemar al cristo que ellos adoran, lo que los dejó alarmadísimos”. Oficio de Gabriel Navarrete, 30 de abril de 1932. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Chun-Hoon, Carrillo Puerto, Caja 2, Referencia IV/161 (IV-14)/23035, fj. 3. 46 “[...][...] pues alegaban que las costumbres es una segunda naturaleza”. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Chun-Hoon, Carrillo Puerto, Caja 2, Referencia IV/161 (IV-14)/23035, fj. 5. 103 Schule und Widerstand 105 Chunón zeitweilig verlassen, nachdem der Mord an Anastasio González began- gen wurde. González war eine der Personen gewesen, die am stärksten mit dem Lehrer zusammengearbeitet hatten. Bei seiner Rückkehr in das Dorf bemerkte er die Unruhe unter den Leuten aufgrund von González' Verschwinden. Navarrete organisierte einen Suchtrupp, der im Wald auf die Leiche des Mannes stieß. Er forderte, dass die Leute des Ortes ihn nach Chunpom begleiteten, um die Tat anzuzeigen, aber er erhielt nur Absagen. Der Kommandant des Dorfes, Juan Vega, berief eine Versammlung der Anwohner von Chunón ein, die aussagten, dass Mónico Rosado das Verbrechen begangen haben könnte. Die Angaben zum Tathergang wurden auf Nachdruck Navarretes und des Lehrers von Chunpom trotz der Einwände des militärischen Kommandanten und der Chefs von Chunón nach Santa Cruz de Bravo geschickt. Dessen ungeachtet drohten die Anführer der Ortschaft dem Lehrer, dass ihn dasselbe Schicksal wie González ereilen würde, wenn er sich noch einmal in die Angelegenheiten der Gemeinde ein- mischte. Navarrete kommentierte anschließend: “Die Abendkurse blieben schlecht besetzt, da, wenn sie einmal verärgert sind, weil wir ihre Vorschläge nicht akzeptieren, sie sich dem Unterricht kategorisch verweigern, so dass auch die Anwesenheit der Schüler tagsüber zurückging”. 47 Die Motive für den Mord an González blieben unklar, es lässt sich also nicht mit Sicherheit sagen, dass er aufgrund seiner Unterstützung des Lehrers ermor- det wurde. Allerdings bestand die deutliche Absicht, dass der Lehrer sich weder in die Angelegenheiten der Gemeinde noch in die Gebräuche und die lokale Rechtsprechung einmischen sollte. Die Indigenen von Chunón schützten den Mörder Mónico Rosado als Mitglied ihrer Gemeinschaft und die Idee, den Tod von González zu sühnen, lag nicht in ihrem Interesse, denn schließlich hatte die- ser mit den fremden Akteuren zusammengearbeitet. In diesem Sinne lässt sich die Infrapolitik sowohl in Bezug auf den Zusammenhalt der indigenen Gruppe gegen die Einmischung des Lehrers, als auch allgemein in der Bewahrung ihrer Bräuche und Kultur, die ihnen wertvoll und heilig waren, beobachten. Die Äußerungen der Einwohner von Chunón wurden von den zuständigen Beamten in gewisser Weise bestätigt. Der Leiter des Bildungsbereiches,Fernan- do Ximello, erwähnte in einem Dienstschreiben an das Bildungsministerium, 47 “Las clases nocturnas quedaron truncas pues una vez enfadados porque no aceptamos su proposición se niegan rotundamente a continuar sus clases, disminuyendo hasta la asistencia diurna”. Oficio de Gabriel Navarrete, 31 de julio de 1932. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Chun-Hoon, Carrillo Puerto, Caja 2, Referencia IV/161 (IV- 14)/23035, fj. 7. 104 106 Justo Miguel Flores Escalante dass der Fortschritt des Bildungswesens im indigenen Gebiet des Territoriums von Quintana Roo den Bemühungen der Landlehrer nicht Rechnung tragen wür- de, da es nur sehr langsam voranginge. Im August 1932 diskutierten die Schul- leiter und - Inspektoren auf einer Versammlung in Campeche über dieses Prob- lem. 48 Der Abteilungsleiter für Landschulen in Mexiko antwortete dem Direktor des Bildungsministeriums, man könne den Berichten Navarretes entnehmen: “[...] dass die Indios sich zu Recht dagegen zu wehren, den erstbesten Lehrer, der sich vor- stellt, bei sich aufzunehmen und ihm zu helfen. So misstrauisch wie sie aufgrund des Verhal- tens einiger Lehrer bereits sind, die sich nur auf Kosten der Indios verpflegen wollten, deren Gastfreundschaft sie mit der Verspottung ihrer Religion und ihrer Gebräuche dankten und versuchten, ihre Lebensweise durch die Drohung, ihren verehrten Christus zu verbrennen, zu ändern. Mit dieser Vorgehensweise kann man nur die Resultate erhalten, die wir jetzt beo- bachten können. Sie sind die Konsequenz des Verhaltens dieser Lehrer”. 49 Die Unzufriedenheit der Indigenen mit den Lehrern setzte sich fort, und so waren auch die Einwohner des Dorfes San Ignacio verärgert, da die Pädagogen nie lange in der Gemeinde blieben. Die Bewohner äußerten ihre Unzufriedenheit mit der Schule gegenüber Schulinspektor Juan Flores, indem sie ihm deutlich machten, dass die Lehrer nicht in der Lage waren, sich an den Umstände Ort anzupassen und etwa ständig bessere Lebensmittel verlangten. 50 Die Akzeptanz der Lehrer in den Dörfern wurde zum Gegenstand von Ver- handlungen zwischen den Gemeinden, ihren Oberhäuptern und den Autoritäten der SEP. So forderten die Einwohner von Kopchén beispielsweise die Rückkehr 48 Fernando Ximello, 12 de agosto de 1932. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Chun-Hoon, Carrillo Puerto, Caja 2, Referencia IV/161 (IV-14)/23035, fj. 8. 49 “[…] que los indios tienen razón al oponerse a recibir y ayudar al primer maestro que se les presente, escamados como están de la actuación de los que por el lugar han pasado y que sólo han pretendido alimentarse a costa de los indios, pagando su hospitalidad con el hecho de mofarse de su religión y sus costumbres y procurando cambiar su modo de ser por medio de la amenaza de quemarles el cristo que adoran. Con estos procedimientos solo se logran los resultados que ahora se están observando, pues son la consecuencia de la actuación de esos maestros”. Jefe del Departamento, 24 de agosto de 1934. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Chun-Hoon, Carrillo Puerto, Caja 2, Referencia IV/161 (IV- 14)/23035, fjs. 9-10. 50 Informe de Juan I. Flores, 8 de noviembre de 1932 sowie informe de Santiago Pacheco, 10 de abril de 1933. AHSEP, sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, San Ignacio, caja 3, Referencia IV/161(IV-14)/411, años 1931-1933, fjs. 6,7 y 9. 105 Schule und Widerstand 107 des Lehrers, den sie zuvor gehabt hatten. 51 In Santa Cruz de Bravo zahlte Gene- ral May den Lohn des Lehrers Ramón Santa Ana unter der Voraussetzung, dass dieser nicht ausgetauscht würde, da er ihm bei seinen chicle- Geschäften half. 52 Poom war eine der Ortschaften, in der sowohl das Dorfoberhaupt als auch die Gemeinde selbst Druck ausübten, um ihren Lehrer zu behalten. Sergeant Epifa- nio Jiménez gab den Dorfbewohnern die Anweisung, den soeben von der Direk- tion der SEP in Campeche ernannten Lehrer Javier Ávila offen abzulehnen. Der Sergeant befahl, keine Lebensmittel an ihn auszuteilen und gab Schulinspektor Floreszu verstehen, dass sie die Schule anzünden würden, wenn er dem vorhe- rigen Lehrer Asterio Salazar nicht seinen Posten zurückgäbe. Mit Hilfe des Übersetzers José A. Xiu versuchte Flores daraufhin dem Dorfoberhaupt zuer- klären, dass er den Lehrer wegen seiner geringen Bildungserfolge in der Ge- meinde ausgetauscht habe, und dass sie Salazar unterstützen müssten, falls er diesen wieder einsetze. Sergeant Jiménez akzeptierte und wies sogar einen sei- ner Hauptmänner zurecht, der seine Tochter nicht zur Schule schicken wollte. Schulinspektor Flores konnte nicht nachweisen, ob Salazar die Dorfbewohner bezüglich seiner Rückkehr beeinflusst hatte, und entschied sich, dass es auf- grund der Entfernung und Abgeschiedenheit des Ortes besser sei, der Bitte der Einwohner nachzukommen. Nach diesem Vorfall schritten die Kastellanisierung und die Etablierung des Schulwesens im Dorf voran, und es wurde sogar ein ei- genes Schulgebäude errichtet. 53 Die schwache Bindung zwischen Lehrern und den indigenen Gemeinden konnte jederzeit auseinander brechen. Im Jahre 1931 sandte der Gouverneur von Quintana Roo, Campillo Seyde, Oberst Heliodoro Escalante auf eine militäri- sche Expedition durch die Maya-Gebiete im Zentrum seines Regierungsbezir- kes. Anlass der Expedition waren die Hinweise von Lehrer Asterio Salazar und anderer auf einen möglichen Aufstand der Indigenen gegen die Regierung. Esca- lante berichtete, dass es bei seiner Durchquerung der indigenen Gemeinden kei- 51 Informe de Juan I. Flores, 9 de noviembre de 1932. AHSEP, sección Quintana Roo, Es- cuelas Rurales Federales, San Pedro Kopchén, Referencia IV/161(IV-14)/410, años 1930- 1938, fjs. 23-23v. 52 Informe de Florentino Guzmán, 7 de enero de 1929. AHSEP, sección Quintana Roo, Es- cuelas Rurales Federales, Dirección Federal de Educación, caja 12, exp. 2, años de 1926- 1935, fj. 17. 53 Informe del Juan I. Flores de 19 de abril de 1932. Informe del inspector Juan I. Flores, 7 de noviembre de 1932. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Poom, Santa Cruz de Bravo, Caja 2, Referencia IV/161(IV-14)/413, años de 1930-1934, fjs. 16, 20, 21, 23, 27, 33 y 36. 106 108 Justo Miguel Flores Escalante ne größeren Probleme gegeben habe, auch nicht in Xmabén, Tusik und Dzulá. In Wirklichkeit waren die Indigenen unzufrieden, da die Lehrer die Frauen in den Maya-Dörfern vergewaltigten oder mit ihnen Beziehungen eingingen. Diese Vorfälle riefen in den indigenen Gemeinden immer größere Empörung hervor. Escalante wies auch auf die herrschende Unzufriedenheit hin, die aufgrund der Vergabe von chicle -Lizenzen an Unternehmer entstand. Die Indigenen forderten ein Entgegenkommen bei der Harzgewinnung und baten darum, nicht den An- ordnungen der chicle -Unternehmer unterstellt zu werden. 54 Die Besetzung der Waldgebiete der Maya durch die Unternehmen war bereits im Jahr 1929 von Florentino Guzmán als Problem erkannt worden. Der Direktor der Landschulen erwähnte, dass Konzessionen (wie beispielsweise an Miguel Ramoneda) auf indigenes Land vergeben worden seien, und dass die Indigenen nun gezwungen seien, chicle zu lächerlich niedrigen Preisen an die besagten Kapitalisten zu verkaufen, die Druck auf sie ausübten. Zudem mussten die Maya den Konzessionären ihre Waren zu überhöhten Preisen abkaufen. Auch die Ka- ziken der Ortschaften waren hinderlich, da sie den Einwohnern keine Entschei- dungsfreiheit ließen und mit den Unternehmern Geschäfte machten, so zum Bei- spiel Francisco May, dessen Haltung gegenüber der Einführung von Schulen ambivalent war. 55 Tatsächlich veranlasste die Verärgerung über die chicle -Konzessionen, die die Secretaría de Fomento vergab, und die Abgaben, die auf das Harz der chicoza- pote (der Frucht des chicle - Baumes) an die Unternehmen geleistet werden mussten, die Maya im Jahr 1929 dazu, in den entsprechenden Gebieten Wald- brände zu legen. Florentino Guzmán wies auf den Vorteil hin, den die Maya durch die perfekte Kenntnis ihrer Umwelt hatten: “[...] sie kommunizieren un- tereinander mit der Geschwindigkeit eines Hirsches, und es gibt nicht einen un- ter ihnen, der nicht eine 30-30er oder eine Mauser trägt”. Der Beamte der SEP bot sich an, bei der mexikanischen Bundesregierung die Beschwerden der Indi- genen vorzubringen, unter der Voraussetzung, dass sie die Schulen akzeptierten. Dieses Vorhaben verschaffte ihm Zugang zu achtundzwanzig Gemeinden, von 54 Informe de A. Campillo Seyde, 7 de junio de 1931. Archivo General de la Nación (en adelante AGN), Pascual Ortiz Rubio, caja 77, exp. 106/16. 55 Informe Florentino Guzmán, director de educación federal de 18 de enero de 1929. AH- SEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, expediente 1, legajo 2, años de 1928-1929, fj. 93. 107 Schule und Widerstand 109 denen viele zuvor unbekannt gewesen waren. 56 Gouverneur José Siurob musste erkennen, dass in den Orten Dzulá, Yodzonot, La Guardia, Chanchén und Tusik eine angespannte und von Misstrauen geprägte Atmosphäre herrschte. In diesen Dörfern kam es zu “[...] semi-rebellischen Vor- fällen, wenn auch ohne direkte, feindselige Handlungen gegen die Regierung”. Nach Zeugenaussagen waren in den Wäldern etwa 60 oder 70 bewaffnete Indi- gene gesichtet worden. 57 Tatsächlich war die Anspannung in Dzulá deutlich zu spüren. Der Lehrer des Dorfes, Ramón González, versuchte mit dem Oberhaupt des Ortes zu reden, aber dieser hielt sich versteckt. Die Indigenen von Dzulá be- leidigten González und verweigerten ihm Lebensmittel und Unterkunft. Der Grund für die Unzufriedenheit war klar: “[...] [die Indigenen] sagten, dass sie die Schule nicht wollen, da die Regierung ihnen Lehrer schickt um ihnen dann ihre Waldländereien wegzunehmen, wie es General May gemacht hatte [...] wenn die Regierung viele Gewehrkugeln hat um diejenigen zu unterstützen, denen sie diese Waldländereien überlassen hat, dann hätten sie [die Indigenen] eben so viele [...]” 58 Im Jahre 1929 erhoben sich die Maya gegen die Besetzung der Waldgebiete, die sie als die ihrigen betrachteten. Doch die Bewegung nahm einen unerwarte- ten Verlauf, als die Anführer Concepción Cituk aus Xambén und Tranquilo Chan den „General“ Francisco May angriffen, dem sie vorwarfen, mit der Regierung Geschäfte zu machen, um die Tropenwälder auszubeuten. Angesichts dieser Zwietracht lenkte die Regierung die Aufmerksamkeit der Indigenen von dem Konflikt ab, indem sie ihnen die Zuteilung von Land (in Form von Gemeinde- triften, so genannten ejidos) versprach, und sich vornahm, die Schulen als Mittel zur Integration und Befriedung der Maya einzusetzen. Während der Amtszeit 56 “[…] se comunican entre sí con una velocidad de venado y no hay uno solo que no porte el 30-30 o el mauser”. Informes de Florentino Guzmán, 13 de mayo de 1929, 30 de junio de 1929, 9 de diciembre de 1929 y 15 de julio de 1930; Miguel Medina Guzmán, 15 de junio de 1929, AHSEP, sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, exp. 1, legajo 3, años de 1929-1930, fjs. 7-10, 20, 41-47, 53-55 y 130-135. 57 Informe de José Siurob, 22 de mayo de 1929. AGN, Emilio Portes Gil, caja 72, exp. 4/543. 58 “[…][los indígenas] dijeron que no quieren la escuela porque el gobierno les manda maestro para luego quitarles el monte como le hizo el general May […] si el gobierno tenía muchas balas para apoyar a los que les había dado el monte, ellos también las tenían […]”. Informe de Ramón González, 20 de mayo de 1929. AGN, Emilio Portes Gil, caja 72, exp. 4/543. 108 110 Justo Miguel Flores Escalante von Präsident Cárdenas wurden den indigenen Gemeinden des Zentrums von Quintana Roo die bewaldeten Gemeinschaftsländer zuerkannt. 59 Die kriegerischen Aktionen der Maya gegen ihren eigenen Anführer Francisco May, der sein Land angeblich verraten hatte, zielten darauf ab, das Bündnis zwi- schen May und den föderalen Autoritäten zu zerbrechen. Die Errichtung von Schulen wurde von den Indigenen instrumentalisiert, um Ländereien zu erhalten. Im Austausch für die Erlaubnis, in ihrem Dorf eine Schule zu errichten, forder- ten die Indigenen von Xmabén unter ihrem Oberhaupt Concepción Cituk von der Regierung die Zuerkennung des versprochenen Landes. Im Jahre 1938 bil- ligte Xmabén schließlich, trotz des Widerstandes Cituks, das Schulwesen des mexikanischen Staates. 60 In Dzulá verzögerte sich die Akzeptanz der Lehrer, vielleicht weil sich das Oberhaupt des Ortes, Evaristo Zuulub, fast die ganze Amtszeit von Präsident Cárdenas am Rande eines bewaffneten Aufstandes be- fand. 61 Dennoch schien die Schule von Dzulá im Jahr 1940 vom ganzen Dorf akzeptiert zu sein. 62 Nach Ansicht von Scott entspricht die Gesamtheit der zuvor beschriebenen Handlungen den infrapolitischen Aktionen , die die Maya einsetzten, um ihre Kultur zu verteidigen und Lehrer zu fordern, die ihre Gemeinschaft respektier- ten. So gelang es ihnen, die offizielle Politik insofern zu transformieren, dass die SEP begann, nur verheiratete Lehrer in die Dörfer zu entsenden und, wenn mög- lich, wurden diese von ihren Ehefrauen begleitet. Je nach Fall nahm die födera- le, bzw. die lokale Regierung die infrapolitischen Aktionen der Maya sehr ernst, da sie wussten, dass diese bewaffnet waren und die tropischen Waldgebiete bes- ser kannten. Es wurde also von einigen der Autoritäten von Quintana Roo ver- sucht, die Unzufriedenheit der Maya zu beheben oder zu mildern, indem man ihnen Ländereien gab, oder versuchte, die Probleme, die noch immer durch die 59 Villalobos González: El bosque sitiado, 2006, S. 221-229. 60 Oficio de Leopoldo Aguilar Roca, 2 de febrero de 1937 y 17 de junio de 1938; Censo escolar de Vicente Kau Chan y Ezequiel Rodríguez Arcos, 26 de enero de 1938; Oficio de Luis Álvarez Barret, 10 de marzo de 1938. Vicente Kau Chan, 31 de marzo de 1939. AHSEP, sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Xmabén, caja 4, exp. 400, años 1935- 1951, fjs. 3,6-10, 12,14, 26-27. 61 Ramos Díaz: La diáspora de los letrados, 1997, S. 172-176. 62 Informe de Leopoldo Aguilar Roca, 6 de enero de 1938, 2 de febrero de 1938 y 6 de mayo de 1938. Informe de Vicente Kau Chan de 30 de noviembre de 1938; informe de Au- gusto Medina Reyes, 31 de mayo de 1940. AHSEP, sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dzulá, Referencia IV/161(IV-14)/3774, años de 1938-1969, fjs. 7, 9,12, 21,44. 109 Schule und Widerstand 111 Einrichtung der Schulen bestanden, zu lösen. Es lässt sich also feststellen, dass die Indigenen in Bezug auf die Akzeptanz eines ideologischen Systems, dass man durch die Schulen durchzusetzen versuchte, einen breiten Verhandlungs- spielraum besaßen, und dass die zwischen den indigenen Autoritäten und der mexikanischen Bundesregierung getroffenen Vereinbarungen den Erfolg der Be- schlüsse nicht automatisch garantierten. In diesem Zusammenhang muss die doppelte Rolle, die einige der Landlehrer ausfüllten, hervorgehoben werden. So war der Lehrer einerseits Träger der Staatsideologie und in diesem Sinne Akteur eines Systems der Unterordnung, dem die Maya unterworfen werden sollten. Andererseits konnte er aber gele- gentlich auch dazu beitragen, den verborgenen Diskurs der Indigenen zu ent- schlüsseln und so indirekt die infrapolitischen Aktionen der Maya vorantreiben. So gab es Lehrer, die die Ausbeutung der Maya seitens indigener Eliten, Unter- nehmer und der Regierung offen anklagten. Die Akzeptanz der staatlichen Bil- dungsprojekte im Inneren der Gemeinden geschah im Austausch gegen die Be- rücksichtigung der Forderungen der Maya. Daher stellte die Errichtung der Landschulen zu einem gewissen Grad ein wichtiges Element innerhalb der Aus- handlung der indigenen Infrapolitik dar. SCHLUSSBETRACHTUNGEN Die Autonomie des Maya-Gebietes von Quintana Roo war ausgeprägt genug, um die Herausbildung eines verborgenen Diskurses gegen die Institution der Schule durch eine Reihe von Widerstandsformen zu ermöglichen, die, solange sie nicht kontrolliert wurden, immer aggressiver und herausfordernder wurden, und so die Gültigkeit des ideologischen Systems, das der Staat einführen wollte, zumindest in den ersten Jahren der Tätigkeit der SEP, in Frage stellten. Die Gründung der Landschulen wäre ohne die zwischen den Maya-Eliten und den Autoritäten der mexikanischen Bundesregierung geschlossenen Abkommen nicht möglich gewesen. Dennoch waren diese Vereinbarungen schwach, da die Anführer der Maya weder gänzlich zufrieden mit den Abkommen waren, noch die absolute Herrschaftsgewalt über die Maya-Bevölkerung ihres Machtberei- ches innehatten. So lässt sich die Vielfalt an Widerstandsformen erklären. Es zeigt sich, dass die Beteiligung der Maya-Chefsbei der Beschwichtigung oder Zunahme des Widerstandes wichtig, aber nicht entscheidend war. Die Beschwerden der Gemeinden im zentralen Quintana Roo und die Art und Weise, diese zu äußern, sind als infrapolitische Aktionen interpretiert worden. Es gelang der indigenen Bevölkerung damit, auf die offizielle Bildungspolitik ein- zuwirken und die Ernennung von Lehrern in ihren Gemeinden zu steuern. Auch konnten sie in vielen Fällen das Verhalten der Landlehrer gegenüber ihrer Kultur sogar soweit verändern, dass diese zu Fürsprechern der Maya wurden, deren 110 112 Justo Miguel Flores Escalante Forderungen gegenüber dem Staat artikulierten, und – wenngleich nicht aus die- sem Grund – davon abließen, das ideologische System, das der mexikanische Staat einführen wollte, zu verbreiten. So lässt sich erklären wie die Errichtung der Landschulen von den Maya- Gemeinden instrumentalisiert wurde. Die Schule abzuwehren oder in der Ge- meinde zu akzeptieren diente den Indigenen als Pfand für Verhandlungen, als infrapolitische Aktionen , um ihre Rechte über die Wälder und den Abbau von chicle einzufordern. Viele der Schulen, die im Maya-Gebiet wirkten, durften dies nur im Austausch mit einer Übertragung und Anerkennung von Ländereien an die Dörfer des zentralen Quintana Roo. Der in der vorliegenden Arbeit analysierte kurze Zeitraum (1928 – 1934), deckt nur den Beginn eines Prozesses ab, der sich bis in die Gegenwart erstreckt. Neuere Studien über die Maya des zentralen Quintana Roo stellen fest, dass sich die Kultur dieser Bevölkerung noch immer nicht an das ideologische System der Schulen assimiliert hat. Ein Großteil der Bräuche ihrer Vorfahren blieb, gleich ihrer Sprache, bis heute bestehen. 63 63 Careaga Viliesid: Hierofonía combatiente, 1998, S.141-148; Dumond: El Machete y la cruz, 2005, S. 661-662. 111 MÓNIKA CONTRERAS SAIZ

DIE EROBERUNG DER FREUNDSCHAFT: INDIOS AMIGOS, FUERTES UND LOKALE REGIERUNGSWEISEN AM RÍO BUENO, 1759 – 1796

Die spanische Krone verfolgte wie jedes koloniale Unternehmen die Unterwerfung der einheimischen Bevölkerung ihrer eroberten Territorien und bildete zu diesem Zweck ein Verwaltungssystem in den unterworfenen Gebieten aus. Was geschah jedoch, wenn die Mechanismen der Unterwerfung und Verwaltung bei der ansässigen Bevölkerung nicht griffen? Was passierte wenn das koloniale System weder in die mentalen Strukturen der lokalen Bevölkerung, noch in ihre Territorien eindringen konnte? Begnügte sie sich in diesen Fällen mit der Verwaltung der unterworfenen Regionen und überließ die uneroberten Gebiete sich selbst? Mitnichten, in solchen Situationen stellte sich dem Herrschaftsanspruch der Krone eine neue Herausforderung und sie sah sich gezwungen, neue Herangehensweisen zu suchen und auf die Probe zu stellen, die es erlauben würden, sowohl in die Territorien als auch in die Köpfe der „Unbeugsamen“ einzudringen. In der Fallstudie, die diesem Aufsatz zu Grunde liegt, wird ein spezifisches Problem analysiert, welches in uneroberten Gebieten entsteht: in der Mitte des 18. Jahrhunderts reichte die Macht der Krone nicht aus, um einen sicheren Landweg zwischen zwei seiner bedeutenden Zentren der Kolonialbürokratie im Süden Chiles, Valdivia und Chiloé, zu erschließen, da die dazwischen liegenden Regionen in der Hand nicht unterworfener indigener Gruppen lagen. In Bezug auf diese Gebiete musste der Anspruch auf Herrschaft und Unterwerfung der einheimischen Bevölkerung nicht nur in der Praxis, sondern auch im Diskurs der Kolonialverwaltung überdacht werden. Der kolonial- herrschaftliche Diskurs wurde seit der Mitte des 18. Jahrhunderts paradoxerweise zunehmend von Begriffen wie „Freundschaft“ ( amistad ), „Überzeugung“ ( persuasión ) und „Sanftmut“ ( dulzura ) bestimmt. Diese miteinander verbundenen Begriffe beschreiben eine Situation, wie sie von den Akteuren jener Zeit wahrgenommen wurde, und verweisen auf die politische ∗ Dieser Aufsatz wurde innerhalb des Sonderforschungsbereichs 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ der Freien Universität Berlin entwickelt. Das Projekt wird finanziert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Dieser Aufsatz wurde von Annika Buchholz ins Deutsche übersetzt. 112 114 Mónika Contreras Saiz Zielsetzung einer „Eroberung der Freundschaft“ autochthoner Gruppen, mit der letztlich die Durchsetzung der Interessen der Krone erreicht werden sollte. Diese Politik abgeschwächter Unterwerfungstaktiken führte unausweichlich zur Fortdauer und Förderung der Figur des indio amigo (des freundschaftlich gesinnten Indigenen), der sich durch die Kooperation der Indigenen mit den spanischen Eroberern herausgebildet hatte. Ausgehend von dieser Argumentation wird in dem vorliegenden Aufsatz zunächst gezeigt, wie sich der indio amigo als wichtige Kategorie im politischen Programm der Bourbonischen Reformen konsolidierte und dabei sowohl einer kontrollierten Grenzverschiebung als auch der Herstellung von Sicherheit innerhalb des Generalkapitanats Chile dienlich sein sollte. Anhand der Verhandlungen, die die Krone zwischen 1759 und 1796 mit verschiedenen autochthonen Gruppen in der Nähe des Río Bueno (südlich von Valdivia) führte, wird anschließend der Prozess dargestellt, der eine Konsolidierung der fuertes (Festungen) und der plazas fuertes (befestigen Dörfer)in den nicht unterworfenen Gebieten mit sich brachte. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob diese Orte als strategische Räume interpretiert werden können, und ihre spezifische Rolle bei der Durchsetzung kolonialer Herrschaftsambitionen in den Grenzräumen analysiert. Ein Teil der Analyse der Fuertes und Plazas Fuertes ist den Akteuren gewidmet, die an der Schaffung dieser Räume teilnahmen: Angehörige des Militärs, Missionare, Händler, die indios amigos und die „unbeugsamen“ Kaziken. So soll aufgezeigt werden, wie im alltäglichen Kontext in die mentalen, kulturellen und geografischen Räume derjenigen sozialen Gruppen, die sich gegen die koloniale Ordnung stemmten, eingegriffen wurde. Zum Abschluss werden die Konsequenzen dieser Kolonialverwaltung dargestellt, insbesondere die der bourbonischen Ära, welche später auf die Beziehungen zwischen dem neuen republikanischen Staat Chile und den Indigenen der ehemaligen Südgrenze des Generalkapitanats Chile nachwirkten. DIE INDIOS AMIGOS INNERHALB DER POLITIK DER BOURBONEN Die Tragweite der bourbonischen Reformen wurde in Amerika mit besonderem Nachdruck ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts während der Regierungszeit Karl III. (1759 – 1788) spürbar. Es ist weithin bekannt, dass die Reformpolitik der Bourbonen entscheidende Veränderungen im administrativen, ökonomischen und sozialen Bereich vorsah. Ihre beiden vorrangigsten Ziele waren eine Verringerung der Macht kreolischer Eliten und eine Zunahme der Produktivität in ihren Kolonien. Ein radikaler Richtungswechsel vollzog sich in der Politik hinsichtlich der indigenen Bevölkerung, da sich die pueblos de indios zu produktiven bäuerlichen Gemeinschaften entwickeln sollten, in denen die 113 Die ‚Indios Amigos’ 115 Kleinbauern gezwungen waren, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und einen Großteil ihres agrarischen Überschusses in Form steuerlicher Abgaben an die Krone und die koloniale Wirtschaft abzuleisten. Um diese Ziele zu erreichen, beabsichtigte die Krone, indigene Gemeinschaftsländer in Parzellen individuellen Eigentums aufzuspalten und die kulturelle Assimilation der autochthonen Bevölkerung voranzutreiben. Spezielle Bildungsmaßnahmen, die Männer in landwirtschaftlichen Techniken und Frauen in Handarbeiten unterrichten sowie allgemein einer Verbreitung der spanischen Sprache und Kultur Vorschub leisten sollten, waren zur Erreichung dieser Ziele vorgesehen. Zudem wurde die strikte räumliche Trennung zwischen Indigenen und Nicht- Indigenen aufgehoben und der Austausch zwischen beiden Bevölkerungs- gruppen auf regionalen Märkten gefördert 1 . Diese politischen Maßnahmen richteten sich an die unterworfenen indigenen Gruppen. Aber was hatten diejenigen Indigenen, die sich einer Unterwerfung bislang erfolgreich widersetzt hatten, von den bourbonischen Reformen zu erwarten? Sie waren ebenfalls Teil des Planes, denn die von ihnen bewohnten Gebiete hatten einen großen strategischen Stellenwert: im Fall des Cono Sur war die Herrschaft über Araukanien, die Pampa und Patagonien für die Kontrolle des Zugangs zum Pazifischen Ozean über die Magellanstraße von wesentlicher Bedeutung. 2 Der Unmut der Krone über den so genannten Arauco-Krieg ( guerra del Arauco ), wurde seit 1718 offensichtlich. Philipp V. war es unerträglich, dass die Einheimischen des Cono Sur, obwohl sie (seit der Unterzeichnung des Vertrages von Quilín von 1641) theoretisch seine Vasallen waren, weiterhin in ihren Gebieten lebten, ohne dass sich die Macht der Krone in ihrem Leben oder ihrem Lebensraum bemerkbar machte. So wies er seine Beamten vor Ort an: “[...] ihr werdet behutsam und listig ergründen, wo sich diese barbarischen Kriegsindianer aufhalten […]“, um anschließend eine Kampagne einzuleiten, die „den Schleier der Unwissenheit und des Mysteriums, der über der Welt der Eingeborenen liegt, zerreiße, damit der prüfende Blick des Staates alle noch so unbekannten und entlegenen Winkel durchdringe.“ 3 Später wurden diese 1 Jairo Gutiérrez Ramos: Los indios de Pasto contra la república (1809 - 1824). Bogotá 2007, S. 83 – 85; José del Campillo y Cosio: Nuevo sistema económico para América. Madrid 1993, S. 79 – 89, 125 – 126. 2 Carlos Lázaro Ávila: El reformismo borbónico y los indígenas fronterizos americanos. In: Agustín Guimerá Ravina: El reformismo borbónico: una visión interdisciplinar. Madrid 1996, S. 281. 3 “[...] os dediquéis con cautela y maña a inquirir noticias donde habitan los yndios bárbaros de guerra de ese Reyno […]”, zitiert nach Leonardo León Solís: Los señores de las cordilleras y las pampas. Los pehuenches de Malalhue, 1770-1800. Mendoza 2001, S. 38. 114 116 Mónika Contreras Saiz Vorhaben von einem „Urbanisierungsplan“ unterstützt, der ab 1764 dazu dienen sollte, die „kriegerischsten Indios“ der unbeherrschten Gebiete in Siedlungen zusammenzuführen. 4 Außerdem wurden ab 1774 erneut Schulen gegründet, die sich exklusiv um die Ausbildung der Söhne der Kaziken bemühten. Es ist an dieser Stelle wichtig darauf hinzuweisen, dass die Krone bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts einen Plan des Jesuitenpaters Luis de Valdivia umsetzte, der sich für eine defensive Kriegführung anstelle eines offensiven Kriegs eingesetzt hatte. Damit begann eine Phase von politischen Experimenten, die schließlich in der Etablierung von Verhandlungsspielräumen und einer schrittweisen Konsolidierung von speziellen Institutionen mündeten, mit denen zwischen der Kolonialverwaltung und den nicht unterworfenen Indigenen vermittelt werden konnte. Als die Bourbonen sich des Problems annahmen, war daher bereits eine „Atmosphäre des Konsenses“ 5 zwischen beiden Parteien geschaffen worden. Die Bourbonen wussten außerdem, dass die indios amigos für die Erreichung ihrer Ziele unentbehrlich waren. Es handelte sich dabei um Erfahrungswerte aus zwei Jahrhunderten der Eroberung und Beherrschung Lateinamerikas. Wer genau die indios amigos waren, ist allerdings eine Frage, deren Antwort je nach Ort und Zeitraum unterschiedlich ausfallen muss. Es handelt sich um eine im steten Wandel befindliche Kategorie, die durch die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Indigenen und Spaniern sowie durch die Beziehungen zwischen den verschiedenen indigenen Gruppen untereinander bestimmt wurde. Daher bleibt unklar, ob sich die indios amigos aus den Reihen der nicht unterworfenen Indigenen rekrutierten oder ob sie Indigene waren, die von Anfang an mit den Spaniern kooperierten. Je nach Kontext waren beide Optionen möglich. Der vorliegende Aufsatz beschränkt sich darauf, zu zeigen, an welchen Schauplätzen die indios amigos auftraten und welche Funktionen sie erfüllten, derweil ihre genaue Bestimmung späteren Arbeiten überlassen werden muss. Die indios amigos unterstützten die Krone bei der Durchsetzung ihrer Anliegen und genossen im Gegenzug dafür gewisse Privilegien. Im südlichen Grenzgebiet Chiles nahmen die indios amigos eine besondere Stellung ein, da sie durch ihre militärischen Hilfeleistungen die Verteidigung des General- kapitanats und damit auch die der spanischen Siedlungsgebiete stärkten. Im Rahmen der Grenzkonflikte sind etwa die Kampagnen zur Befreiung von 4 Insgesamt wurden 39 Dörfer südlich des Flusses Bíobío errichtet, deren Existenz jedoch sehr prekär war, wie Méndez aufzeigt. Luz María Méndez B.: Relación anónima de los levantamientos de indios. In: Cuadernos de Historia Nr. 4 (1984), S. 169–191, S. 173. 5 Lázaro Ávila: El reformismo borbónico, S. 33. 115 Die ‚Indios Amigos’ 117 Geiseln hervorzuheben, wie sie von Ángel Parado, einem Kommandanten der Krone, gegen Ende des 17. Jahrhunderts beschrieben wurden: „[…] ich griff auch auf die Hilfe einer Reduktion von mehr als 100 Indios aus Lora zurück, mitsamt ihren Familien, die als besoldete Freunde Seiner Majestät dienen […] mehr als 400 Spanier – Männer, Frauen und Kinder – wurden aus der Gefangenschaft befreit […]“. 6 In einem sowohl räumlich als auch sozial diffusen Grenzgebiet stellten wiederum die fuertes und die plazas fuertes der Spanier konkrete Räume dar, die eine genauere Verortung der Grenze ermöglichten. Die Dienste der indios amigos waren an diesen Plätzen unabdinglich, da sie für die Spanier Strassen anlegten, Brücken bauten und die Flüsse mit Flössen und Booten schiffbar machten. Darüber hinaus trugen sie Sorge für die Pflege der Pferde, bauten und reparierten die Festungen und Baracken der Soldaten, bestellten das Ackerland und betätigten sich als Boten. 7 Wenngleich der Fluss Biobío im Jahr 1641 als natürliche Grenze zwischen dem Regierungsbereich Chile und dem indigenen Territorium 8 festgelegt worden war, erleichterte das den Indigenen in den unmittelbar angrenzenden Gebieten des Biobío nicht, Widerstand zu leisten, sondern zwang sie, sich in den Süden zurückzuziehen oder zu indios amigos zu werden. Jimena Obregón stellte fest, dass diejenigen indigenen Gruppierungen, die sich über einen längeren Zeitraum hinweg in der Nähe von spanischen Fuertes aufhielten, zu Verbündeten wurden, d.h. sie waren anfälliger dafür, indios amigos zu werden, auch wenn sie anfangs zu den erbittertsten Feinden zählten. 9 Einerseits übten die Privilegien und die Besoldung, mit denen die Kolonialverwaltung die indios amigos vergütete, einen großen Reiz aus. Zusätzlich kam auch noch die Beute hinzu, die sie bei den Überfällen auf andere indigene Gruppen im Auftrag oder 6 "[...] y use una reducción de más de 100 indios de Lora con sus familias naturales de aquel país que sirven de amigos a sueldo de vuestra majestad[...]salieron de cautiverio más de 400 españoles hombres, mujeres y niños y gran numero de yanaconas que restituí a sus encomenderos[...]” In den Quellen finden sich viele Anmerkungen, die ungefähre Angaben über die Zahl der indios amigos machen, die an den verschiedenen Feldzügen mit den Soldaten teilnahmen. Ein häufiges Unterfangen war die Rettung von Gefangenen. Archivo Nacional de Chile (ANCH), Fondo Archivo Morla Vicuña (FAMV), Vol. 4, S. 204-205. 7 Patricia Cerda Pincheira Hegerl: Fronteras del sur. La región del Bío Bío y la Araucanía chilena, 1604 – 1883 . Temuco 1997, S. 57. 8 Vgl. José Bengoa: El tratado de Quillín. Documentos adicionales a la historia de los antiguos mapuches del sur. Santiago de Chile 2007. 9 Jimena Obregón Iturra: Concepciones hispanas en torno a un territorio disputado en Chile. In: Cultura y Representaciones Sociales, Jg. 2, Nr. 4 (2008), S. 82. 116 118 Mónika Contreras Saiz im Verbund mit den Spaniern machten. 10 Andererseits brachte ihnen ihr Bündnis mit den Spaniern, und sei es auch nur ein zeitweiliges, häufig die Feindschaft anderer indigener Gruppen ein. Aus den Quellen geht hervor, dass die Krone auf die Mitarbeit der indios amigos angewiesen war, ohne ihnen jedoch ein festes Vertrauen entgegenzubringen. Zudem begünstigte der Kontakt, den die jeweils verpflichteten indios amigos mit den indigenen Gruppen jenseits der Grenze pflegten, indirekt auch den Handel innerhalb des uneroberten Territoriums selbst. Viele indios amigos nutzten die Gelegenheit während ihrer gemeinsamen Streifzüge mit den Spaniern ins Hinterland und brachten ihren Verwandten und Freunden Waffen, Werkzeuge und Pferde mit. 11 Die steigende Nachfrage nach europäischen Waren im Inneren des nicht unterworfenen Gebietes stellte aber letztlich auch ein wichtiges Bindeglied dar und bot zusätzliche Kontaktpunkte, die der Durchsetzung des spanischen Herrschaftsanspruches den Weg bereiten konnten. Aus einem anderen Blickwinkel heraus betrachtet kann die Bereitschaft der Indigenen zu „Freunden der Krone“ zu werden zweifelsfrei auch als strategische Antwort auf ihre Situation inmitten einer doppelten Konfrontation zwischen Spaniern auf der einen und feindlich gesinnten indigenen Gruppen auf der anderen Seite gesehen werden. Aus Sicht der Missionare des Franziskanerordens war der Freundschaft der „Indios“ nicht zu trauen: „eine wirkliche Freundschaft wird es nie geben, denn sie dauert nur an, solange Interesse besteht“. 12 Für die Indigenen galt ihrerseits, dass die „Freunde der Spanier“ die Bräuche und Sitten ihrer eigenen Gesellschaft missachteten, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Die zu indios amigos gewordenen Kaziken wurden von den restlichen Gruppen als gierig und habsüchtig verurteilt, wie Boccara zuletzt anhand eines Vorfalls gegen Ende des 17. Jahrhunderts dokumentiert hat, als einige Kaziken ein Komplott gegen andere, den Spaniern freundlich gesinnte Kaziken, schmiedeten. 13 Während „Freundschaft“ von der Krone als ein Mittel zur Erfassung und Unterwerfung benutzt wurde, handelt es sich doch zusätzlich auch um eine 10 Andrea Ruíz-Esquide Figeroa: Los indios amigos en la frontera araucana. Santiago de Chile 1993, S. 14. 11 Cerda Pincheira Hegerl: Fronteras del sur, S. 87. 12 "no podrá verificarse jamás una amistad verdadera, porque esta dura mientras dura el interés” Archivo Franciscano de Chile (AFCH), Sección Chillán, Fondo Asuntos Varios (FAV), Vol. 0, f. 27. Descripción del obispado de la Concepción, 1776. Alle Zitate aus diesem Artikel wurden an die moderne Ortographie angepasst. 13 Guillaume Boccara: Los Vencedores. Historia del pueblo mapuche en la historia colonial. Antofagasta 2007, S. 145-146. 117 Die ‚Indios Amigos’ 119 Kategorie, die den subjektiven Raum der Person umfängt und in ihr kulturelles Sein eingreift. Aus diesem Grund war der Gebrauch kultureller Faktoren so wichtig, unter denen die Macht der Gefälligkeiten und der Belohnungen als eine Form der Überzeugung besonders hervortrat. 14 Unter dem Deckmantel der Belohnung verbarg sich stets Überzeugungskraft oder Zwang 15 , und nur so lässt sich erklären, warum eine Kolonialmacht über einen eigenen Verwaltungsbereich für „Geschenke“, den ramo de agasajos , verfügte, die für die noch nicht unterworfenen indigenen Gruppen bestimmt waren. Einerseits waren die Geschenke und Ehrerbietungen an die indios amigos Teil einer Strategie, die Symbole und Rituale als Medium für ihren Herrschaftsanspruch gebrauchte. Andererseits implizierten diese auch eine interkulturelle Kommunikation, innerhalb derer die dominante Gruppe sich bewusst machen musste, welche Art von Austausch von der Gruppe, die sie zu unterwerfen trachtete, gewünscht und akzeptiert wurde. Aus welchen Beweggründen aber nahmen die Indigenen die Geschenke entgegen? Es bleibt eine umfangreiche und komplizierte Aufgabe, die Rolle der indios amigos während der Zeit der bourbonischen Reformen darzulegen, da die indigenen Gruppen, die ein außerordentlich großes und geografisch höchst diverses Territorium bewohnten, eine multikephale 16 Gesellschaftsstruktur aufwiesen. Zunächst soll aber erst einmal die Situation der Indigenen an der Südgrenze Chiles genauer dargestellt werden. Im Folgenden wird daher die Bedeutung der Fuertes und der Plazas Fuertes als Orte der Begegnung analysiert, an denen die Politik der „Freundschaftsgewinnung“ verwirklicht werden sollte. 14 Eugenio Alcamán: Los Mapuche - huilliche. Del Futahuillimapu septentrional: expansión colonial, guerras internas y alianzas políticas (1750 - 1792). In: Revista de Historia Indígena Nr.2 (1997), S. 29–75, S. 44. 15 Eduardo Cavieres: Frontera y Marginalidad: otra lectura de la relación centro - periferia. El Camino Valdivia-Chiloé. In: Julio Retamal Ávila (Hg.): Estudios Coloniales. Santiago 2000, S. 238. 16 Der Begriff “multikephale Gesellschaftsstruktur” stammt von Guillaume Boccara. Er erklärt “multikephale” Organisationsstrukturen als Strukturen, die “hierarchisiert sind nach ihrer Funktion von Mechanismen multipler Verständigung, die durch Imperative der Identität, Wirtschaft und des Krieges determiniert werden und nicht trennbar voneinander sind.” Guillaume Boccara: Los Vencedores, S. 32; Tom D. Dillehay: Monuments, empires, and resistance. The Araucanian polity and ritual narratives. Cambridge 2007, S. 18, S. 337. 118 120 Mónika Contreras Saiz DER FUERTE UND DIE PLAZA FUERTE Abb. 1: Anonym (Alonso Villanueva Soberal?): Planta de la nueva población de Angól, 1637. Quelle: Archivo General de Indias, Sevilla, MP-Perú-Chile, 23 - 1741,09,2. Die militärischen Wehrbauten fuertes und die plaza fuerte wurden in den Grenzzonen des kolonialen Herrschaftsbereiches errichtet. Umgeben von einem Festungsgraben bewohnte das Militär dort geschlossene Gebäude. Die von diesen Befestigungsanlagen markierte Verteidigungslinie wurde von der Kolonialverwaltung offiziell als „Grenze“ bezeichnet. Die fuertes wurden zwar im Rahmen der kriegerischen Auseinandersetzungen im Grenzgebiet errichtet, jedoch wurden viele von ihnen ab der Mitte des 17. Jahrhunderts und insbesondere während der bourbonischen Reformen in urbane Zentren umgewandelt, mit dem Ziel, die in der Umgebung verstreut lebende ländliche Bevölkerung zusammenzuführen. 17 Um die Kontrolle der Flussüberquerungen zu gewährleisten, waren die fuertes meist an den Furten oder an anderen zur Überquerung geeigneten Stellen des Biobío gelegen. 18 17 Der Gouverneur Amat y Juniet verwandelte die Festungen ( fuertes ) von Nacimiento und Santa Juana, Hualqui und Santa Bárbara in Städte ( villas ). Sein Nachfolger Guill y Gonzaga tat dasselbe mit den fuertes San Luis Gonzaga de Rere, Tucapel und San Carlos de Yumbel. Cerda Pincheira Hegerl: Fronteras del sur, S. 72. 18 Ebenda, S. 63. 119 Die ‚Indios Amigos’ 121 Die spanischen fuertes in Chile waren im Zuge des “Arauco-Krieges” errichtet worden, wurden allerdings in einem Bericht von 1785 als in einem dürftigen und schwachen Zustand beschrieben. 19 Tatsächlich waren nur wenige spanische Soldaten dort stationiert, die jedoch von einer bemerkenswert hohen Anzahl an indios amigos unterstützt wurden. die in den umliegenden Missionen angesiedelt und den spanischen Offizieren und Missionaren unterstellt waren. 20 Obwohl die fuertes und die plazas fuertes im 18. Jahrhundert mehr einer defensiven als einer offensiven Militärpolitik dienten, war der Krone dennoch daran gelegen, ihre Wehranlagen ebenfalls als ein Mittel zur Durchdringung des Hinterlandes zu nutzen, sei es um strategische Plätze zu kontrollieren, 21 oder um einen Kontakt mit unabhängigen indigenen Gruppen herzustellen. Die fuertes an der Küste befanden sich in einem vergleichsweise besseren Zustand, da sie jederzeit für den Einfall europäischer Feinde gewappnet sein mussten. 22 Die Plaza Fuerte , architektonisch auch als castillo bezeichnet, war ein meist viereckiges Kastell mit vier oder mehr Schutzwehren 23 . Der in den Quellen häufig wiederkehrende Begriff der plazas ist im militärischen Sprachgebrauch eine Bezeichnung für „Städte“, und in der Tat handelt es sich hierbei um kleine Zitadellen, die im Grenzgebiet als Zentren der lokalen Machtausübung aufgefasst werden können. Derselbe Beamte, der im Jahr 1785 den Bericht über die fuertes verfasste, hielt zudem fest, dass die plazas den Ursprung vieler Städte bildeten. 24 19 ANCH, Fondo Antiguo, (FA), Vol. 32, f.44. Leandro Badarán: Copia del informe sobre las plazas fuertes de la frontera austral de Chile, 1785. 20 Obregón Iturra: Concepciones hispanas en torno a un territorio disputado en Chile, S. 79 21 Ebenda, S. 86. 22 Ebenda. 23 Gabriel Guarda: Historia de la iglesia en Valdivia. Valdivia 2000, S. 105. ∗ Im Folgenden bezeichne ich die Plaza Fuerte als plaza . 24 ANCH, FA, Vol. 32, f. 44. 120 122 Mónika Contreras Saiz Abb. 2: Anonym: Plaza de Tucapel, 1755. Quelle: Archivo Nacional, Santiago. Die plaza erhielt ihre Bedeutung als Schauplatz des Zusammentreffens diverser Institutionen und Akteure, die zwischen der Krone und den Indigenen vermittelten. Missionen wurden in der Umgebung einer plaza gegründet, und auch all die militärischen und zivilen Rangträger, die zur Steuerung der 121 Die ‚Indios Amigos’ 123 indigenen Bevölkerungen ernannt wurden, agierten von den fuertes und den plazas aus: die capitanes de amigos , der comisario de naciones und die lenguaraces (Dolmetscher). Insbesondere der Aufbau der Franziskaner- missionen wurde mithilfe der fuertes erleichtert. Der Unterweisung in den katholischen Glaubensdoktrinen sollte durch eine regelmäßige Anwesenheits- pflicht in den Festungen Vorschub geleistet werden 25 , wobei dem capitán de amigos die Aufgabe zukam, für eine Teilnahme der Indigenen am Gebet zu sorgen und ihre Arbeitsdienste für die Spanier zu koordinieren. 26 Neben der Institution der parlamentos bildeten der fuerte und die plaza auch eine Plattform, um gegenüber den Indios „die Freundschaft der Krone zu beweisen“: „Der Kommandant der plaza de los Ángeles teilt mit, dass die häufigen Überquerungen der Andenpässe durch die Pehuenche den Kommandanten der dort befindlichen Wehranlagen Príncipe Carlos und Vallenar einige unabdingbare Kosten für die Ehrerweisung dieser und ihrer Anführer verursachen, da es Brauch ist, zum Beweis unserer Freundschaft ein Glas Wein oder Fleisch anzubieten, und da hier weder Steuerabgaben noch andere Mittel für diese Ausgaben zur Verfügung stehen, erscheint es mir angemessen, die drei Pesos und ein Real , die der plaza de Tucapel für diesen Zweck monatlich zustehen, je zur Hälfte den genannten fuertes zukommen zu lassen, da in letzterem keine Indios auf der Durchreise festzustellen sind.“ 27 Ein weiteres wichtiges Charakteristikum der fuertes und plazas ist ihre Rolle als Ort der Entwicklung einer hispanokreolisch- mestizischen Gesellschaft im Inneren des indigenen Territoriums. Die große Anzahl an Mestizen wurde von Pater Fray Francisco Alday und anderen Missionaren der Franziskaner hervorgehoben, die die schlechte Behandlung der Indigenen durch die Mestizen für deren kriegerisches Auftreten verantwortlich machten. Die Präsenz der mestizischen Bevölkerung an der Südgrenze Chiles ist ein Streitpunkt innerhalb der Historiographie, die sich mit dem Gebiet auseinandersetzt. Die Debatte kreist um den zentralen Fragenkomplex, ob es dort wirklich ein friedliches Zusammenleben gab, und wie der Einfluss der Mestizenbevölkerung auf die 25 María Pía Poblete S.: Misiones franciscanas en valdivia: cartas de fray Antonio Hernández Calzada (1823-1844). Santiago de Chile 2007, S. 13. 26 Ebenda. 27 Eigene Hervorhebung. “El comandante de plaza de los Ángeles dice que la continua salida de Peguenches por los precisos pasos de las cordilleras, en que se hallan situados los fortines del Príncipe Carlos y Vallenar, originan a sus comandantes algunos gastos indispensables en obsequio de los y demás indios de respeto, a quien es costumbre darles un trago de vino, o carne en demostración de nuestra amistad, y como aquí no hay arbitrio ni fondo para este gasto me parecería conveniente que los tres pesos un real que tiene mensuales para este efecto, la plaza de Tucapel se traslade por mitad a dichos fuertes, respecto que a ella no se verifica salida alguna de indios." In: ANCH, Fondo Capitanía General (CG) Vol. 636. f. 60. 122 124 Mónika Contreras Saiz Entwicklung der Beziehungen zwischen den Indigenen und der Krone einzuschätzen ist. Ein neuerer Forschungsansatz schlägt etwa eine Chronologie vor, nach der die Grenzbeziehungen in zwei Perioden zu unterteilen sind: Im Zeitraum von 1536 bis 1655 herrschten demnach kriegerische Auseinander- setzungen vor, während der Zeitraum von 1655 bis 1883 als eine Phase friedlichen Zusammenlebens interpretiert wird. Die zentrale These dieses Ansatzes gründet auf der Interpretation, dass die reche -Bevölkerung nicht gewaltsam dezimiert wurde, sondern in einem fortschreitenden Prozess von einer überlegenen Gesellschaft und Kultur während der republikanischen Epoche assimiliert wurde, und das die reche -Gesellschaft ihrerseits technisch und kulturell überlegene Güter inkorporierte. Mit anderen Worten, die Indigenen widerstanden zwar den Streitkräften, jedoch nicht der westlichen Zivilisation. Luz María Méndez betont etwa, dass die bourbonische Politik der Zusammenführung von Indigenen in Dörfern von den Indigenen akzeptiert wurde, da die „Kreolen und Indigenen eine Form des Zusammenlebens und einen Grad gegenseitiger Kenntnis erreicht hatten, dass der Gouverneur sein Vorhaben ihrer Zusammenführung in Dörfern mit aller Ernsthaftigkeit planen und durchführen konnte“ 28 . Diese Darstellung wird von Patricia Cerda bestätigt, die den sozialen Charakter der fuertes hervorhebt, und zeigt, wie diese Orte die Bedingungen für die Bildung einer mestizischen Gesellschaft schufen. Sie versichert, dass dort mit den nicht unterworfenen Indigenen friedliche Beziehungen aufgebaut wurden. 29 Als wesentlicher Kritikpunkt an diesem Ansatz wird von Autoren wie Guillaume Boccara und Rolf Foester angeführt, dass nach dieser Deutungsweise die Indigenen während des Assimiliationsprozesses unsichtbar gemacht und ihre eigenen Defensivkräfte und Aktivitäten ignoriert werden. Zudem werden bei dieser Sichtweise der Anspruch auf Herrschaft der dominanten Mestizengesellschaft verneint und die Grenzbeziehungen auf ein friedliches Zusammenleben reduziert, was dem Konzept der frontier an sich widerspricht. Es ist bekannt, dass die Militärs, die ausgehend von der plaza und des fuerte zwischen den Indigenen und dem Staat zu vermitteln hatten, sowohl die Sprache der Indigenen beherrschten, als auch sehr genaue Kenntnisse über deren Gebiete besaßen. Wie wäre dies ohne eine kontinuierliche Interaktion beider Seiten möglich gewesen? Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang auch die 28 “criollos e indígenas, habían logrado una convivencia y un grado de conocimiento mutuo, que el gobernador pudo programar y realizar con toda seriedad su proyecto de agruparlos en pueblos”. Méndez: Relación anónima de los levantamientos de indios, S. 172. 29 Cerda Pincheira Hegerl: Fronteras del sur, S. 62. 123 Die ‚Indios Amigos’ 125 Handelsbeziehungen zwischen den Angehörigen des Militärs und den Indigenen. „Im Verlauf des 18. Jahrhunderts erkoren viele Soldaten zusammen mit ihren mestizischen Familien die Landwirtschaft und den Handel mit den Indigenen zu ihrer Hauptbeschäftigung und vernachlässigten dabei oft ihre militärischen Pflichten. Indem sich die fuertes in einen Ort des kommerziellen und kulturellen Austauschs zwischen beiden Gesellschaften verwandelten, florierte in Chile der Handelsverkehr und weitete sich bis in die Provinzen von Tucumán, Paraguay und Buenos Aires aus“. 30 Im Zusammenhang mit der Entwicklung der mestizischen Gesellschaft im Inneren des indigenen Gebietes gewann der Herrschaftsanspruch der Krone einen neuen Aspekt hinzu und neue Möglichkeiten der Durchdringung eröffneten sich, zu denen die erwähnten Handelsbeziehungen zählten. 31 An ihrem Aufbau waren die Angehörigen des Militärs stark beteiligt, die zu einem großen Teil als Händler, so genannte conchavadores , tätig wurden. Der fuerte stellteals zentraler Handelsknotenpunkt ein bedeutendes Kontaktforum dar, 32 und die Soldaten schlossen sich dort den Expeditionen der Krämer und Kleinhändler an, um in die indigenen Gebiete vorzudringen und mit überwiegend billigem Trödel Handel zu treiben. „Wenn aus dem militärischen Beruf ein Vorteil zu ziehen war, so war es dieser: die Gelegenheit“. 33 Mithilfe des Handels eröffnete sich zudem ein Weg, die "Freundschaft“ der Indigenen zu erlangen und tatsächlich werden die Händler in den Anordnungen der plaza de Valdivia als „Mittel um die Freundschaft mit den Indios zu festigen, ihre Gunst zu erwerben und sie in ein geordneteres und sogar christliches Leben einzuführen“ 34 gewürdigt. Nach der Unabhängigkeit gewann der fuerte als Standort lokaler Machtausübung seine ursprünglich militärische Ausrichtung in größerem Umfang wieder zurück. Im Zeitraum von 1872 bis 1881, dem Jahr in dem der 30 “Durante el siglo XVIII muchos soldados y sus familias mestizas llegaron a hacer de la agricultura y del comercio con los indígenas su actividad principal, abandonando a menudo la actividad militar. Los fuertes se convirtieron en un punto de contacto comercial y cultural entre ambas sociedades, así floreció en Chile el tráfico comercial que se extendió hasta las provincias de Tucumán, Paraguay y Buenos Aires” Cerda Pincheira Hegerl: Fronteras del sur, S. 89. 31 Obregón Iturra: Concepciones hispanas en torno a un territorio disputado en Chile, S. 86. 32 Cavieres: Frontera y Marginalidad, S. 122-123. 33 “Si alguna ventaja daba el oficio militar era esa: la oportunidad”. Gustavo Favéron Patriau: Rebeldes. Sublevaciones indígenas y naciones emergentes en Hispanoamérica en el siglo XVIII. Madrid 2006, S. 44. 34 “medio de asegurar la amistad de los indios, solicitarlos y entablar con ellos vida más regular y aún cristiana”. Alcamán: Los Mapuche – huilliche, S. 42. 124 126 Mónika Contreras Saiz letzte fuerte in dieser lange Zeit uneroberten Region errichtet wurde, gelang es mit seiner Hilfe die Grenze weiter voranzutreiben. DER FALL DES RÍO BUENO Bei der im Folgenden dargestellten Fallstudie über den Ort Río Bueno handelt es sich um eine Rekonstruktion der Geschehnisse zwischen 1759 und 1796 in der Region südlich von Valdivia, die von den reches del sur 35 bewohnt wurde, jener Bevölkerungsgruppen, die als Vorfahren der heutigen Mapuche gelten und die von den Spaniern huilliches genannt wurden. Der Einflussbereich Valdivias erstreckte sich am Ende des 18. Jahrhunderts über die Region zwischen dem Fluss Toltén im Norden und dem Fluss Bueno im Süden. Dennoch blieb die wirksame Kontrolle im Jahr 1782 auf ein sehr viel kleineres Gebiet beschränkt. Die den Río Bueno umgebenden Gebiete bildeten die Südgrenze Valdivias. Innerhalb dieses Raumes hatte sich der Handel der conchavadores bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts intensiviert; wie bereits erwähnt, spielten dabei die capitanes de amigos eine bedeutende Rolle; gleichermaßen war die spanische Expansionspolitik nach und nach vorangeschritten. 36 Der Krone war sehr daran gelegen die Stadt Osorno neu zu gründen, die Herrschaft über die angrenzenden Gebiete zu konsolidieren und den Handel zwischen der Plaza de Valdivia und der Provinz Chiloé zu ermöglichen. 37 Da zur Durchführung dieses Vorhabens die persönlichen Verhandlungen mit den Indigenen von entscheidender Bedeutung waren, erhöhte der Gouverneur Antonio de Guill y Gonzaga (1762 - 1768) in jenem Zeitraum die Anzahl der capitanes de amigos und die der Dolmetscher und stattete ihre Ämter mit den nötigen Geldmitteln aus. 38 35 “Reche” ist das Wort in mapudungun (“Sprache der Erde”, Name der Sprache der Indigenen, die heute als Mapuche bekannt sind), mit dem sich die Vorfahren der Mapuche selbst benannten. So bestätigen es Arbeiten der jesuitischen Missionare Luis de Valdivia (1606), Andrés Febrés (1765) und Bernardo Havestadt (1777) über die Sprache mapudungun. Die Forscher Guillaume Boccara, Gilberto Sánchez und Horacio Zapater haben dieses Thema noch ausführlicher behandelt. Boccara: Los Vencedores, S. 15; Gilberto Sánchez: “¿Cómo se autodenominaban los mapuche y cómo llamaban a su suelo natal (patria, país) y a su lengua, durante la colonia?”, In: Revista de Historia Indígena Nr. 10 (2007), S. 7-28, S. 15-16.; Horacio Zapater: La búsqueda de la paz en la guerra del Arauco: padre Luis de Valdivia, Santiago 1992, S. 128 (zitiert nach Boccara). 36 Ebenda, S. 52. 37 Cavieres: Frontera y Marginalidad, S. 232. 38 Favéron Patriau: Rebeldes, S. 51. 125 Die ‚Indios Amigos’ 127 Abb. 3 Karte von Chile mit dem ungefähren Verlauf des Landweges zwischen Valdivia und Chiloe 126 128 Mónika Contreras Saiz a. Schutzleistungen für die Indigenen Die ersten Anzeichen der expansiven Politik machten sich im Jahr 1758 bemerkbar, als sich der lonko („Kazike“ in der Sprache Mapudungun ) Huarán aus der Ebene des Río Bueno in die Stadt Valdivia begab, um von Ambrosio Sáez de Bustamante “Hilfe seitens der Spanier zur Verteidigung gegen ihre Feinde , die juncos, ” zu erbitten und im Gegenzug “Land zur Besiedelung anzubieten und Missionaren, die sie unterrichten würden,” die Gewähr zu erteilen. Die Spanier kamen der Bitte nach indem sie den fuerte Río Bueno errichteten. 39 Jener Zeitpunkt wird in der Forschung als der Beginn der politischen und territorialen Unterordnung der reches del sur angesehen. Die Vereinbarungen beinhalteten die Einrichtung neuer Missionen im Gebiet südlich des Río Bueno , die gemeinsam mit der Neugründung der Stadt Osorno 1792 zur Konsolidierung der spanischen Herrschaft in diesem Gebiet beitrugen. 40 Die drei Hauptelemente spanischer Machtausübung - Festung, Siedlung und Mission – wurden durchgeführt. Doch geschah dies wirklich auf Wunsch der Indigenen? Es gibt zahlreiche Belege für Fälle, in denen die Indigenen den Schutz der Krone erbaten. Dies war zum Teil einem der zentralen Probleme der Regierbarkeit im Inneren des reche -Gebietes geschuldet: den Konflikten und Rivalitäten zwischen den einflussreichen reche -Familien, den so genannten linajes. Der Bericht eines Missionars des Franziskanerordens gibt Aufschluss über die Situation: “[...] es ist bekannt, dass der einzige Beweggrund, den diejenigen Indios besaßen, die die Ankunft der Spanier in ihren Gebieten wünschten, in der Angst vor ihren Feinden zu suchen ist, und dass ihr Motiv, dem Bau des fuerte zuzustimmen, nur dem Wunsch entsprach, in Frieden zu leben, frei von den malocas und ständigen Feindseligkeiten, die sie alle Tage von ihren Nachbarn zu erleiden hatten, und sie sich auf diese Weise die Hilfe der Spanier bei jeglichen Vorkommnissen erhofften[...] so dass jener fuerte unter der Abmachung und der ausdrücklichen Bedingung errichtet wurde, dass die Spanier sie vor den Invasionen ihrer Feinde zu schützen hätten.” 41 39 “auxilio de españoles que los sostuviesen contra las incursiones de sus enemigos los juncos, ofreciendo tierras en que poblarse y demandado misioneros que los doctrinasen”, Alcamán: Los Mapuche – huilliche, S. 40. 40 Poblete: Misiones franciscanas en Valdivia, S. 13. ∗ Im Originaldokument unterstrichen. Maloca ist der indigene Begriff für einen bewaffneten Streifzug. Die Bezeichnung wurde von den Spaniern übernommen und auf ihre eigenen kriegerischen Expeditionen in das Territorium der reche angewendet. 41 "no hay cosa más sabida, como que el único motivo que tuvieron aquellos indios de pedir fuesen españoles a sus tierras, fue el miedo que tenían concebido a sus enemigos, y que todo su fin para consentir que se estableciere el fuerte, no fue otro que el deseo de vivir con sosiego libres de las Malocas∗ u hostilidades repentinas que todos días experimentaban de sus vecinos, esperando por este medio ser auxiliados de los españoles en cualquier acontecimiento… de modo que dicho fuerte se puso con pacto y condición expresa de que los 127 Die ‚Indios Amigos’ 129 Der fuerte wurde zwar auf den von den Indigenen zur Verfügung gestellten Ländereien errichtet, die spanische Krone erfüllte jedoch ihre Seite des Vertrages hinsichtlich des Schutzes der reche nicht. Bereits bei dem ersten Hilfegesuch brach der Pakt auseinander, denn obwohl die Krone eine Garnison zum Schutz der reche schickte, eröffnete die königliche Garde bei dem ersten Angriff nicht das Feuer und ließ damit zu, dass den verbündeten Indigenen ein Großteil ihres Besitzes geraubt wurde. Die Krone entschied sich zu dieser Handlungsweise, da sie nicht zu Gunsten einer linaje intervenieren wollte, sondern es vorzog sich alle verschiedenen linajes “zum Freund zu machen”, um ihre Ziele zu erreichen. Diese Art von Hilfegesuchen bot den Militärs und der Krone jedenfalls Gelegenheit, in die Belange der reche einzugreifen. Den Festungs- kommandanten kamen solche Abmachungen ohnehin sehr entgegen, da sie ihrer „ plaza mehr Handel und eine bessere Versorgung mit Vieh ermöglichten“. 42 Die lonkos der reche sahen in “ihren Freunden”, den Spaniern, mithin nicht nur eine Art Schutzmacht, sondern baten die Spanier darüber hinaus auch, sie bei den Überfällen auf ihre internen Rivalen zu begleiten. 43 . Im Zusammenhang mit dem geplanten Wiederaufbau der Siedlungen südlich des Flusses Bíobío berichtete ein capitán de amigos : „der alte Kazike äußerte sein großes Verlangen danach, jene plaza principal wiederaufgebaut zu sehen und versprach sich von dem Anblick der vollendeten Festung großen Trost, denn die Erfahrung seiner vielen Lebensjahre hatte ihm gezeigt, dass die Indios ohne die Hilfe der Spanier keine Linderung erleben konnten“. 44 Dennoch wurde den Kaziken des Río Bueno rasch bewusst, dass eine der größeren Unannehmlichkeiten des “Schutzes” der Krone in der zunehmenden Ausbreitung von Mestizen bestand, die mit der sozialen Entwicklung der fuertes eng verbunden war. Der Franziskanerpater Alday hielt bezüglich des Zusammenlebens der Spanier mit den Indigenen eine weitere Beobachtung fest: “Es ist wahr, dass während die Indios ihre Freiheit bewahren und nur einen spärlichen politischen Umgang mit den Spaniern pflegen, sie mit der größten wünschbaren Ehrerbietung, Höflichkeit und dem größten Respekt behandelt werden. Mit jenen Versprechungen, Schmeicheleien, guten Manieren und soviel edler Art von Vernunft, die man von den españoles habían de defenderlos de las invasiones de sus enemigos.” AFCH, Chillán, AV, Vol. 0. ff. 51-62. Fray Francisco Alday: Manifiesto del Alzamiento de los indios de Valdivia, 1792. 42 Alcamán: Los Mapuche – huilliche, S. 44. 43 Ebenda. 44 "exponiendo dicho cacique anciano el grande deseo que tenía de ver reedificada aquella principal plaza, y el grande consuelo que de verlo cumplido resultaría, pues la experiencia de sus muchos años le enseñaba no podían los indios vivir con alivio sin el arrimo de los españoles". Méndez: Relación anónima de los levantamientos de indios, S. 180. 128 130 Mónika Contreras Saiz Spaniern erwarten kann; doch von all dem lassen sie ab, sobald die Ländereien freigegeben sind und ihnen Zutritt zu ihnen gewährt wurde.” 45 In einem anderen Bericht über den Zustand der Grenze fügte der Militär Leandro Badarán hinzu: “[...] am tauglichsten zur Bekämpfung (der Indios) sind jene Milizen, deren Mitglieder in denselben Grenzgebieten und nahe gelegenen Provinzen geborenen wurden und aufgewachsenen sind, die ihnen gleich sind und sie an Eifer, Geschicklichkeit und Reitkunst übertreffen, und deren Erfahrung ihnen einen gewissen Einfluss eingebracht hat" 46 . Das Konfliktpotenzial im Zusammenleben von spanischer, mestizischer und indigener Bevölkerung, auf das in den vorangegangenen Kommentaren hingewiesen wird, hat dazu beigetragen, die zitierte Hauptthese der Historiografie, nach der an den befestigten Grenzposten friedliche Beziehungen vorgeherrscht hätten, in einem anderen Licht zu betrachten. Wenn die Kaziken den “Schutz” der Krone suchten, nutzte diese jedenfalls die Gelegenheit nicht nur, um neue Festungen im reche - Territorium zu errichten, sondern auch um ihre Siedlungspolitik auf jene Gebiete auszuweiten. Mit dieser Vorgehensweise, die implizit dem alten Motto „Regieren ist Bevölkern“ ( gobernar es poblar ) der spanischen Kolonialmacht folgte, verband sich zudem die Vorstellung, dass eine Zusammenführung der indigenen Bevölkerung an einem bestimmten Ort auch ihre Kontrolle erleichtern würde und damit „der Friede gefestigt werde”. 47 b. Der Bau des Verkehrsweges zwischen Valdivia und Chiloé Das Fehlen eines Verbindungsweges zwischen Chiloé und Valdivia stellte in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein gravierendes Sicherheitsproblem für die Krone dar. Vernachlässigte sie die Südgrenze ihres Territoriums, hatte sie mit der wiederkehrenden Bedrohung durch englische und holländische Piraten zu rechnen. Aus diesem Grund war eine Verlegung der Missionen geplant, um sich auf „der anderen Seite des Río Bueno“ niederzulassen, denn wie die Franziskaner in einem Bericht von 1776 bestätigten, „wurde jene Verbindung schon immer erhofft, aber nie versucht, in dem Glauben, dass das ganze Gebiet 45 “Lo cierto es que mientras los indios se mantienen en su libertad sin admitir, más que un escaso trato político con los españoles son tratados con el mayor agasajo, respecto y urbanidad que es deseable. Allí con las promesas, las caricias, los buenos modos y toda cuanta buena forma de racionalidad puede desearse de la nación española; pero todo esto se acaba en ellos luego en el punto que franquician las tierras y los admiten en ellas.” AFCH, Chillán, FAV, Vol. 0. ff. 51-62. 46 "..los más adecuados para reprimirlos (a los indios) son las mismas milicias de los nacidos y criados en aquellas fronteras y provincias de su inmediación, que les igualan y exceden en el brío, agilidad y destreza en el manejo de los caballos, y que en realidad la experiencia les han hecho cierta especie de ascendiente”. ANCH, FA, Vol. 21. f.12v. 47 AFCH, Chillán,AV, Vol 0. f. 27. 129 Die ‚Indios Amigos’ 131 von Ungläubigen bewohnt ist, die sich einer Überquerung widersetzen würden“. Gleichzeitig wurde jedoch auch festgehalten, dass „jene diesem Regierungsbezirk unterstellten Indios [die indigene Bevölkerung des Río Bueno] eine bessere Veranlagung und Fähigkeit besitzen, den christlichen Glauben ernsthaft anzunehmen, als die an der Grenze zu Concepción, südlich des Bíobío [die reche central , die zu jener Zeit araucanos genannt wurden].“ 48 Um mit dem Bau des Weges beginnen zu können, nutzte die Krone die Schutzgesuche der Indigenen und trieb den Bau von Festungenund die Gründung von Missionen in dem Gebiet voran. Missionen Gründungsjahr Valdivia 1769 Mariquina 1769 Arique 1776 Niebla 1777 Nanihue 1777 Quinchilca 1778 Río Bueno 1778 Dallipulli 1787 Cudico 1788 Abb. 4: Missionsgründungen zwischen dem Río Toltén und dem Río Bueno. Nach Roberto Lagos: Historia de las misiones del Colegio de Chillán. Barcelona 1908, S. 373. Im Zeitraum zwischen 1781 und 1782 reagierten die reche des Río Bueno auf die Übergriffe der Soldaten der fuertes , indem sie sich mit anderen indigenen Gruppen, darunter auch solche, die als ihre Feinde eingestuft wurden, verbündeten, und planten die Zerstörung der jüngst errichteten Festungen. Der Aufstand wurde letztendlich zwar nicht durchgeführt, angesichts der Bedrohung entschied die lokale Verwaltung dennoch, die Besatzung der Festung Río Bueno abzuziehen, um Ausschreitungen zu verhindern und die Indigenen zu beruhigen; das Vorhaben der Konstruktion eines Verbindungsweges konnte so weiter verfolgt werden und die Missionen vor Ort bleiben. Vor diesem Hintergrund befahl die Krone im Jahr 1784 dem Intendanten von Chiloé in Zusammenarbeit mit Ambrosio O’Higgins, zu jener Zeit Oberbefehlshaber der Grenzgarnisonen ( comandante de fronteras) , die Erschließung des Weges von Chiloé aus in Richtung Valdivia durchzuführen, wobei hinsichtlich der Bewohner der Region südlich des Biobío „entweder ihre 48 Ebenda, f.33. 130 132 Mónika Contreras Saiz Freundschaft gewonnen oder gegen sie Krieg geführt werden sollte“. 49 Der Intendant von Chiloé entschied sich für den Krieg. Die lokalen Gouverneure waren allerdings aufgrund ihrer Kenntnis der Indigenen überzeugt, dass ein Kampf weniger Erfolg einbrächte als ihre Freundschaft. Als bestes Beispiel kann der Gouverneur von Valdivia, Mariano Pusterla (1785 – 1791), gelten, der wusste, wie wichtig es war, die Autorität und die Jurisdiktion der lonkos zu respektieren, um ihre Unterstützung zu erhalten. 50 Um den Bau des Weges zu ermöglichen war es notwendig, mit jedem einzelnen Kaziken der zu durchquerenden Gebiete zu verhandeln. Die größte Schwierigkeit bestand darin, dass zwischen einigen lonkos Feindschaften bestanden. Die Missionare des Franziskanerordens waren die ersten, die beauftragt wurden die lonkos zur Zusammenarbeit zu bewegen, und zu diesem Zweck wurden 1787 die Mission Daillipulli und 1788 die Mission Cudico gegründet. Nichtsdestotrotz trieben der Intendant und der comandante de fronteras von Chiloé aus den Bau von fuertes innerhalb des Territoriums voran, ohne eine Zustimmung der reches del sur abzuwarten, die zu diesem Zeitpunkt diesem Vorhaben bereits ablehnend gegenüber standen. Angesichts dieser aggressiven Politik verbündeten sich die vormals verfeindeten lonkos der reche aus der Ebene der zerstörten Stadt Osorno, des Río Bueno und des Río Ranco, um vom Gouverneur Valdivias ein parlamento zu erbitten, das im Jahr 1788 auch tatsächlich angesetzt wurde. Bei diesem parlamento erbaten sie erneut den Schutz der Krone vor anderen, ihnen feindlich gesinnten reche (den Gruppen aus Quilacahuín und Rehue), und drangen weiterhin darauf, dass „sie von Chiloé aus nicht mehr angegriffen würden“. Im Gegenzug waren sie bereit, die Ruinen der Stadt Osorno zu übergeben und ihre „Zustimmung zur Freigabe des Weges nach Chiloé“ zu geben. Ein Jahr später hielt der Gouverneur von Valdivia ein weiteres parlamento mit den Indigenen von Quilacahuin und Rehue ab, um eine Einstellung der Feindseligkeiten zwischen all jenen Gruppen zu erreichen, durch deren Gebiete der Weg führen würde. 51 Aufgrund dieser Umstände verzögerte sich der Baubeginn des Weges Valdivia-Chiloé bis Februar 1789. Im Mai des darauf folgenden Jahres notierte der Fiskal in Santiago, dass die Erschließung des ehemaligen “ Camino de Osorno “, der Valdivia mit Chiloé verband, zur größten Zufriedenheit vollendet worden sei. 52 Die Überzeugungskunst, mit der die Zustimmung der lonkos 49 Eigene Hervorhebung. “al modo de cultivar su amistad o de hacerles preciso la guerra”. Alcamán: Los Mapuche – huilliche, S. 57. 50 Ebenda, S. 58. 51 Ebenda, S. 56. 52 Cavieres: Frontera y Marginalidad, S. 237. 131 Die ‚Indios Amigos’ 133 eingeholt wurde, basierte dabei offenbar auf den Kenntnissen des Gouverneurs Pusterla vonValdivia über die Empfindlichkeiten der Indigenen, die „ängstlich den Verlust ihrer Freiheit und eine Rückführung in die Knechtschaft fürchteten, was seinerzeit auch den Generalaufstand 53 ausgelöst hat, den sie sich stets vergegenwärtigen, weil die Erinnerung von einem zum anderen weitergegeben wird…, und dass raue Umgangsformen sie schnell verärgern und sie sich zum Schutz und ihrer Verteidigung versammeln lässt”. 54 Die Anerkennung der Autorität der lonkos war die Essenz des Plans von Gouverneur Pusterla; die Zuweisungen von Sold und weiteren materiellen Ehrerbietungen stellten komplementäre Handlungen mit demselben Ziel dar, 55 so dass Pusterla in der Folge von der königlichen Finanzverwaltung eine Aufstockung jener Mittel verlangte, die zur Beschenkung und Ehrerbietung der Indigenen vorgesehen waren, um sie für ihre Mitarbeit bei der Erschließung des Weges zu entschädigen „und damit sie über einen größeren Anreiz zu seiner Erhaltung verfügen“. Seinem Gesuch wurde stattgegeben und ab dem Jahr 1792 wurden lebenslange Zahlungen an diejenigen Kaziken geleistet, die zur Zusammenarbeit bereit waren. 56 c. Die Auseinandersetzungen zwischen Mestizen und Indigenen und die Personalpolitik Trotz allem blieben die alten Probleme bestehen, die 1766 in einen Aufstand und 1786 in einen versuchten Aufstand gemündet hatten. Am 22. und 26. Oktober, sowie am 4. November 1792 kam es zu Erhebungen im Gebiet des Río Bueno 57 , die von den indigenen Gruppen aus der Ebene des Ranco, Río Bueno und Quilacahuín angeführt wurden, allerdings „gewaltsam von den spanischen Kräften niedergeschlagen wurden“. Der Franiskanerpater Alday bestätigte, dass “der derzeitige Aufstand kein kürzlich geschehenes Ereignis zum Anlass hat, sondern bereits in den Anfängen, bzw. in den ersten Tagen der Niederlassung der Spanier 58 in der Ebene des Río Bueno wurzelt und seitdem Tag für Tag bis zur Gegenwart gewachsen ist“. 59 53 Gemeint ist der Generalaufstand von 1598. 54 “recelosos de perder la libertad y que los quieran volver a la servidumbre que ocasionó la sublevación general que tiene siempre presentes por tradición unos a otros… y que la aspereza fácilmente los altera y reúne en su conservación y defensa”. Cavieres: Frontera y Marginalidad, S. 238. 55 Alcamán: Los Mapuche – huilliche, S. 58. 56 Ebenda, S. 59. 57 AFCH, Chillán, AV, Vol 0. ff. 51–62. 58 Die Bezeichnung „Spanier“ umfasste ebenfalls die mestizische Bevölkerung. 59 AFCH, Chillán, AV, Vol 0. ff. 51–62. 132 134 Mónika Contreras Saiz Die schlechte Stimmung unter den Indigenen war einerseits auf die Missbräuche einer Vielzahl an Mestizen und Angehörigen des Militärs zurückzuführen, die sich mittels der Errichtung von Festungen und dem Vorrücken der Missionen in den Gebieten der Indigenen ausbreiteten. Andererseits spielte ein Wechsel in der Lokalverwaltung von Valdivia eine große Rolle, da Gouverneur Pusterla, der die Erschließung des Weges Chiloé - Valdivia erfolgreich vermittelt hatte, „in guter Freundschaft“ verstarb und sein Nachfolger nicht beabsichtigte, die gleichen „politischen Gewohnheiten“ aufrecht zu erhalten. Hinsichtlich dessen betonte Pater Fray Alday die Wichtigkeit eines guten Umgangs mit den Autoritäten der reche , denn sobald dieser vernachlässigt werde, wäre leicht ein weiterer Anlass für den Ausbruch eines Aufstandes gegeben. Von einem indigenen Informanten erfuhr der Gottesmann: "als ich mich in jener Provinz aufhielt, hörte ich den Kaziken Callvungurir sagen, er habe sich nach dem Tod des Herrn Pusterla aufgemacht um den neuen Gouverneur zu besuchen, und als er darum bat, ihm die gleichen Ehren zuteil werden zu lassen, welche dem Brauch nach allen seinen Vorfahren (so ist bekannt) zuteil wurden, indem man bei ihrem Ein- und Auszug einen Kanonenschuss abfeuerte, wurde ihm dies verweigert . Dass ihn der Gouverneur zudem mit derartiger Schroffheit empfing, nahm er zum Anlass, nach Hause zurückzukehren, ohne sich von Euer Ehren zu verabschieden […] aber sagte mir noch, er habe verkünden lassen, was er [von den Spaniern] erwarte, und sollten diese keine Kursänderung hinsichtlich ihres Verhaltens gegenüber den Indios vornehmen, so würden in Kürze ihre Niederlassungen zerstört sein, wie wir es heute tatsächlich zu beklagen haben […]“. 60 Der Vergleich der Handlungen des Intendanten von Chiloé und des Gouverneurs von Valdivia, die von Amts wegen beide einer regionalen Politik verschrieben waren, zeigt im Hinblick auf ihren Umgang mit den Indigenen wie die Praxis lokaler Politik, d.h. die Machtausübung in bestimmten Mikroräumen, ganz entschieden von persönlichen Entscheidungen geprägt wurde. An anderer Stelle beschreibt Pater Fray Alday: “und wenn zusätzlich zu den Niederträchtigkeiten und Geringschätzungen, die die [indigenen] Oberhäupter erlitten haben und erleiden, die Spanier, die sich auf jenen Ämtern festgesetzt haben, ohne höhere Autorität als ihre eigenen Launen, die Indios auspeitschen lassen, weil sie 60 Eigene Hervorhebung. Die Klammersetzung wurde aus dem Originaldokument übernommen. "pero estando yo por esta provincia oí decir que el cacique Callvungurir había bajado a visitar al nuevo gobernador después de la muerte del Señor Purterla y que habiendo pedido se hicieren los honores que eran costumbre hacerles, como a todos los antepasados (es a saber) de dispararle a la entrada y salida un cañón, se le negó. Como también que le trató el gobernador con tal aspereza, que tomó de esto motivo, para volverse a sus tierras sin despedirse de sus señoría [...] pero me dijo el sujeto que dio noticia de lo esperado, que si los españoles no mudaban de rumbo en el trato con aquellos indios, en breve se arruinarían sus establecimientos, así hoy día lo lloramos […]”. Ebenda. 133 Die ‚Indios Amigos’ 135 ihnen ein Pferd oder eine Kuh gestohlen haben, wie ihr wohl wisst (wobei mancher das Maß überzogen und mit dieser Tortur den Tod eines der ihrigen verursacht hat)“ 61 . Die Ausführungen des Paters Alday deuten auch auf eine andere Art von Spannungen hin, einerseits zwischen den Missionaren und denjenigen Militärs, die mit den Indigenen verhandelten, den capitanes de amigos , und andererseits gab es Konflikte zwischen den Missionaren und der mestizischen Gesellschaft, wie das folgende Zitat unterstreicht: „Ach! Vater meiner Seele! Es fordert nicht unsere größte Anstrengung uns mit den Indios, diesen barbarischen Heiden, herumschlagen zu müssen, sondern was die Bürde unseres Amtes fast untragbar macht, ist die geringe Christlichkeit, das Fehlen jeglicher Manieren und das völlig ruinöse Verhalten seitens der Spanier, deren Gesellschaft an jenen Orten entbehrlich ist.“ 62 Er klagte ebenso, dass es in der Mission des Río Bueno einen Offizier gebe, „der anstatt die Indios dazu anzuhalten, die Doktrin mit folgsamem Gemüt anzuhören und den Ermahnungen, die man ihnen vorträgt, den gehörigen Respekt zuteil werden zu lassen, die Kühnheit besaß, in meiner Gegenwart dem Kaziken Theuqueguru, welcher zu jener Zeit Gouverneur meiner Mission war, zu sagen er solle dem keinen Glauben schenken, was immer er von den Missionaren und Spaniern gesagt bekäme, da wir alle ein Haufen Lügner seien“. 63 Auch Queypul, der lonko aus Río Bueno und Rädelsführer des Aufstandes von 1792, habe “immer einen herzlichen Umgang mit den Padres” gepflegt, bis er von den capitanes de amigos gegen die Missionare aufgebracht und „sie eine vollständige Ablehnung der Missionare in sein Herz eingepflanzt hatten”. 64 Der Aufstand von 1792 führte schließlich zum Abschluss des Friedensvertrages von Canoas im Jahr 1793. Die heutigen Mapuche südlich von Valdivia sehen in dem Moment des Abschlusses dieses Vertrages den Beginn ihrer Verbindungen zum Staat, denn seither kam es zur Akzeptanz der 61 Die Klammersetzung wurde aus dem Originaldokument übernommen. “y si sobre las vejaciones y desprecios que han experimentado y experimentan la cabezas principales, una que los españoles cimentados en aquellos destinos, sin más autoridad que su propio capricho, azotan a los indios porque les roban un caballo o una baca, como vuestro padre no lo ignora (habiendo llegado alguno hasta el exceso de causar con este tormento a uno de ellos la muerte).”Ebenda. 62 “Ah! padre de mi alma! no es nuestro mayor trabajo el haber de lidiar con los indios, gentes bárbaras, lo que si hace casi insoportable la cruz de nuestro ministerio, es la poca cristiandad, la ninguna política y el total desbarato de los españoles, cuya compañía no es indispensable en aquellos destinos.” Ebenda. 63 “que en vez de exhortar a los indios a recibir con docilidad de ánimo la doctrina y hacer el debido aprecio de las exhortaciones, que se le daban, tuvo la osadía de decir en mi presencia al cacique, gobernador entonces de aquella reducción, que no hiciese el menor caso, de cuanto podían decirle los padres, y españoles, por que todos éramos un harto de mentirosos.” Ebenda. 64 Ebenda. 134 136 Mónika Contreras Saiz „Zugehörigkeit und Unterordnung unter den Staat, innerhalb dessen jedoch auch ein eigener Handlungsspielraum eingefordert wird“ 65 ; Rolf Foerster fügt hinzu, dass „der Vertrag für die Mapuche – Huilliche, insbesondere für die Kaziken und Intellektuellen, ein fundamentales Ereignis für ihr Eigenverständnis als Volk darstellte und noch immer darstellt.“ 66 SCHLUSSFOLGERUNGEN a. Kritik an der Unterwerfung der Huilliche Im Fall des Río Bueno verblieb das große Territorium der reche seit 1793 in zwei Teile geteilt: ein Teil war “offiziell” dem Staat unterworfen, eine im 18. Jahrhundert auf die Verwaltung von Valdivia beschränkte Region; der andere Teil, d.h. das Auraukanien genannte Gebiet zwischen den Flüssen Biobío und Toltén, verblieb bis 1881 in den Händen der Indigenen 67 . Dessen ungeachtet scheint die konsultierte Dokumentation aber eine tiefer gehende Analyse der vermeintlichen Unterwerfung der Indigenen der Südgrenze notwendig zu machen. Im Jahr 1834 bestand etwa weiterhin die Gefahr eines Aufstandes, wie von José de la Cavareda, dem damaligen Intendanten der Provinz Valdivia, geschildert: “[...] ich berichtete der obersten Regierung zuletzt, dass der Ausbruch einer Revolte der Indios des Río Bueno unter der Führung ihres Kaziken Caipul kurz bevorstehe, der sich, wie man sagt mit den Kaziken aus Osorno und den Pehuenches vereinigte. Durch die Verhaftung dieses Kaziken und anderer, die man für Komplizen hielt, wurde die Ordnung in der Provinz aber gewahrt.“ 68 65 Jorge Vergara: La herencia colonial del Leviatán. El estado y los mapuche-huilliches (1750 - 1881). Iquique 2005, S. 12. 66 Rolf Foerster González: El tratado de paz de 1793. Una aproximación a la gramática de la memoria Mapuche – Huilliche. In: Revista Austral de Ciencias Sociales Nr. 2 (1998), S. 63. 67 Jorge Vergara del Solar: La matanza de Forrahue y la ocupación de las tierras huilliche. Tesis para optar por el título de licenciado en antropología, Universidad Austral de Chile, Facultad de Filosofía y Humanidades. Valdivia 1991, S. 7. Rolf Foerster vertritt ebenfalls diesen Standpunkt, da sowohl er, als auch Jorge Vergara, die Studie von Donoso y Velasco “la propiedad austral” von 1928 zitieren, um darzulegen, dass die Indigenen südlich von Valdivia seit 1793 von der spanischen Krone mithilfe des Abschlusses des “tratado de paz de las Canoas“ unterworfen wurden. 68 Eigene Hervorhebung. “[…] último di cuenta al supremo gobierno de que estaba próximo a estallar un motín de los indios de Río Bueno capitaneado por su cacique Caipul, que se decía hallarse en unión con los de igual clase de Osorno y Pehuenches, en nada se alteró el orden que reinaba en toda la provincia. Por la aprensión de este cacique y los demás que se creían cómplices en la sublevación.” “Intendencia de Valdivia (concluye nota suspensa en le número anterior” in El Araucano Nr. 233 (1835), S. 3. Der Bericht trägt das Datum des 2. August 1834 und wurde mit einem Zusatz des Herausgebers publiziert, welcher besagt: 135 Die ‚Indios Amigos’ 137 Kazike Caipul, auf den sich Cavareda bezieht, ist mit Sicherheit der Sohn von lonko Juan Queipul vom Río Bueno, der im Jahr 1793 als einziger Kazike nicht an dem Abschluss des Friedensvertrages von Canoas teilgenommen hatte. Die anderen Kaziken, die den Vertrag unterschrieben, mussten sich darin verpflichten, Queipul zur Unterwerfung unter die Spanier zu zwingen. 69 Intendant Cavareda trat im selben Bericht für eine Verstärkung des Militärs und der fuertes ein, da sich „Valdivia ohne diese Maßnahme nie vor den Invasionen der Barbaren sicher fühlen könne“, 70 und verweist dazu auf die Indigenen der Region, die 1793 nur vermeintlich beschlossen hatten, den Frieden zu wahren. Angesichts dieser Äußerungen des Intendanten erscheint es notwendig, den Prozess der „Beherrschung“ der Indigenen in dieser Region neu zu verstehen. Auch die Einschätzungen des deutschen Wissenschaftlers Rudolph Philippi, der zwischen 1858 und 1862 in dem Gebiet tätig war, regen dazu an: „Der Indigene aus der Provinz Valdivia war absoluter und freier Herr über sein Land, bezahlte keine Steuern, und war nicht in der Pflicht, Militärdienst zu leisten“. Er fügt hinzu, dass im Umgang mit den chilenischen Autoritäten „der Kazike nur seine eigene Sprache gebrauchen muss“, (obwohl viele zu jener Zeit die spanische Sprache beherrschten). Philippi, der bei einer Verhandlung zwischen einem Kaziken und dem Gouverneur von Osorno zugegen war, wunderte sich, dass die Verhandlungen über einen Dolmetscher geführt wurden, obwohl der Kazike das Spanisch eben so gut wie der Dolmetscher verstand. 71 In anderen Teilen seines bereits zitierten Berichts legt Caraveda Zeugnis darüber ab, dass im Fall von indigenen Aufständen die Ansiedlung von Mestizen innerhalb der Territorien der huilliche als Medium ihrer Kontrolle dienen sollte: „die Stadt Osorno ist fast gänzlich frei von einer Invasion der Indios, da ihr Zustand und ihre Lage ausreichend Verteidigungselemente bieten: der Stamm der Cuyunco ist heutzutage nichtig, und die übrigen, jene aus San Juan de la Costa, Ralme und Quilacahuin, können nichts unbemerkt versuchen, denn die vielen Spanier, die unter ihnen wohnen, würden rechtzeitig Alarm geben […]“ 72 “Die Wichtigkeit dieses außergewöhnlichen Dokumentes rechtfertigt seine Veröffentlichung trotz des langen Zurückliegens seines Entstehungsdatums[...]”. 69 Vergara del Solar: La matanza de Forrahue, S. 58. In einer späteren Arbeit beschreibt Vergara , dass Queipul einige Tage nach Abschluss des Vertrages nach Santiago reiste um dort die Abmachungen des Vertrages zu ratifizieren, zitiert nach Foerster González: El tratado de paz de 1793, S. 62. 70 “Intendencia de Valdivia (continuación del número anterior)” in El Araucano N. 232 (1835) , S. 2. 71 Rudolph Amando Philippi: El orden prodigioso del mundo natural. Valdivia 2004, S. 85. 72 “la ciudad de Osorno está casi del todo libre de una invasión de indios, porque su situación y ubicación cuenta con suficientes elementos de defensa: la tribu de Cuyunco en el 136 138 Mónika Contreras Saiz Den Aussagen Caravedas zufolge scheint die koloniale Strategie einer Besiedlung der indigenen Gebiete dieser Region während der republikanischen Epoche ihre Früchte getragen zu haben. b. Der Fortbestand von kolonialen Institutionen und Probleme der Regierungsführung Nach der Gründung des republikanischen Staates wurden die gleichen kolonialen Institutionen, die zwischen dem Staat und den Indigenen vermittelt hatten, fast bis zum Ende des 19. Jahrhunderts beibehalten. 73 Während der reformistischen Phase während der ersten Jahre der Unabhängigkeitsregierung wurde zwar ein neues Justizsystem eingerichtet, der Intendant von Valdivia klagte jedoch schon 1835, dass dieses System sich nicht eigne, um die juristischen Belange der Indigenen in der Region zu regeln. Er ordnete daher an: “[...] dass sie unterdessen zum Gewohnheitsrecht, das sie seit Beginn des Bündnisses mit den Spaniern pflegten, zurückkehren mögen: sie sollen der Jurisdiktion der Gouverneure, der capitanes de amigos und dem comisario de indios unterstellt werden, der für sie eine Vertrauensperson ist, denn dies erscheint mir angemessen, wenn es darum geht, Verträge zwischen Menschen zu schließen, die die Gesetze nicht kennen und nicht einmal Schreiben können” 74 Hinsichtlich der Erschließung eines Wegenetzes, das die Verwaltungszentren der republikanischen Regierung miteinander verbinden sollte, war die staatliche Machtausübung mit ähnlichen Schwierigkeiten wie in der kolonialen Periode konfrontiert, allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, dass der neue republikanische Staat um seine Souveranität und Anerkennung auf internationaler Ebene kämpfen musste und dabei der Integration des nationalen Territoriums eine besondere Rolle zukam. Die Kollaboration der Indigenen bei dem Bau von Wegen war unentbehrlich, wenngleich zu dieser Zeit zwar keine offene Opposition gegen die Durchführung von öffentlichen Baumaßnahmen bestand, so war die Kooperation seitens der Kaziken dennoch unerlässlich für día de hoy es nula, y las demás que la rodean que son las de San Juan de la Costa, Ralme y nada pueden intentar sin ser sentidos, porque muchos españoles que viven en ellas darían aviso oportunamente [...]”, El Araucano, N. 233 (1835), S. 3. 73 Beispielsweise stammt der bis dato jüngste Hinweis in Bezug auf die Institution der capitanes de amigos aus dem Jahr 1897. Es handelt sich um drei Dienstschreiben, die einem capitán de amigos geschickt wurden, der in Rechtsstreitigkeiten um Landbesitz vermitteln sollte, in denen die Indigenen aus der näheren Umgebung Valdivias verwickelt waren, ANCH, Intendencia de Valdivia, Vol. 117. ff. 367, 411, 412. 74 “[…] que volvieran mientras tanto a la costumbre en la que habían permanecido desde el principio de su alianza con los españoles: de ser juzgados por los gobernadores con los capitanes de amigos y el comisario de indios que es como un ministro de fe entre ellos, y me parece lo más conforme cuando se trata de legalizar los contratos entre hombres que ignoran las leyes y desconocen hasta el arte de escribir.” El Araucano, N. 230 (1835), S. 3. 137 Die ‚Indios Amigos’ 139 die Durchführung. José de la Cavareda schrieb im Jahr 1834, dass „der Bau der Wege unter sehr geringem Kostenaufwand vollzogen werden kann, wenn die Indios selbst beschäftigt werden, was die befreundeten Kaziken nicht verweigern werden, sofern man ihnen eine bescheidene Vergütung in Aussicht stellt; ohne Gehalt und mit nur einer Essensration am Tag […]“ 75 . Die Kategorie der indios amigos blieb weiterhin bestehen und spielte für die Realisierung der Staatsaufgaben eine wichtige Rolle und diente gleichfalls dazu, aus den Indigenen selbst einen Nutzen zu ziehen. Im Jahr 1850 etwa schloss der Intendant von Concepción, General Don José María de la Cruz, ein Abkommen über die Erschließung des Verbindungsweges zwischen der Provinz Concepción und der Provinz Valdivia mit den Kaziken Don Felipe Paillao und Don Pascual Santander Paineñancu. Er verfügte über eine Summe von 300 Pesos, die er dazu einsetzte, „die Kaziken Paillao y Paineñancu gleichermaßen mit jeweils einhundertfünfzig Pesos zu vergüten” 76 . Die „Eroberung der Freundschaft“ war keine einseitige Regierungsweise, mit der der Staat Kontrolle über die indigenen Gruppen ausüben konnte. Vielmehr lag ihre Funktionalität in einer gegenseitigen Nutzbarmachung der Kategorie indio amigo begründet, von der beide Seiten profitieren konnten. Die indigenen Gruppen wussten, dass der Staat auf ihre Kooperation angewiesen war und nutzten diesen Umstand, um sich selbst Vorteile zu verschaffen. Angesichts dieser Entwicklung hat es aber auch den Anschein, dass die reche graduell an Unabhängigkeit und Autonomie verloren, wenn sie ihre internen Streitigkeiten nicht selbst lösen konnten oder wollten, da sie dem kolonialen Staat damit Raum zur Intervention boten. Die Möglichkeit, den Kolonialstaat um militärische Hilfe zu bitten, wurde durch die Neugründung und den Ausbau der fuertes und plazas im Grenzgebiet zusätzlich erleichtert. Der Anreiz, spanische Schützenhilfe bei der Bekämpfung interner Rivalen zu erhalten, beschränkte sich aber auf die indios amigos in der Umgebung dieser befestigten Siedlungen. Der Krone selbst, deren Vorstellungen von “Frieden und Sicherheit” an die politische Unterwerfung der indigenen Bevölkerung gekoppelt waren, bot sich auf diesem Weg also eine Möglichkeit, ihren Herrschaftsanspruch in das reche - Territorium zu transportieren. 75 “la obra de los caminos puede ejecutarse a muy poca costa empleando a los mismos indios que los caciques amigos no negaran si se les atiende con un salario moderado; sin este salario y con solamente una ración diaria de alimento […]”.“Intendencia de Valdivia (concluye nota suspensa en le número anterior” in El Araucano, N. 232 (1835), S. 2. 76 “a fin de que compense oportunamente a los caciques Paillao y Painenñancu con ciento cincuenta pesos cada uno”. Búlnes Perez, José Joaquin, “Departamento del Interior” in El Araucano, N. 1045, 7. Februar 1850, S. 1. 138 139 JORGE PINTO RODRÍGUEZ

EIN LAND OHNE INDIGENE CHILE, 1830-1930

“Ellos fueron despojados, pero son la Patria Vieja, el primer vagido nuestro y nuestra primera palabra. Son un largo coro antiguo que no más ríe y ni canta. Nómbrala tú, di conmigo, brava gente-araucana. Sigue diciendo: cayeron. Di más: volverán mañana”. (Gabriela Mistral, “Poema de Chile”) EINLEITUNG Die Mapuche wurden von den Konquistadoren, die im 16. Jahrhundert das Gebiet des heutigen Chile erreichten, als indios de la tierra, indios de Chile und Araucanos bezeichnet. Sie bildeten eine aus mehreren Volksgruppen bestehende Bevölkerung, die eine gemeinsame Sprache und ein einheitliches Symbolsystem teilten. Zu diesen Gruppen gehörten die Mapuche, die im Tiefland westlich der Anden leben, die Huilliche aus dem Süden, die Pehuenche der Andenkordillere und die Aucas oder Moluche der argentinischen Pampa. 1 Die genaue Bevölke- rungszahl zu Beginn der Unabhängigkeitsbewegung Anfang des 19. Jahrhun- derts festzustellen, erweist sich als schwierig. Dennoch lässt sich die Zahl, der in der Region Araukanien lebenden Mapuche, von denen diese Arbeit handeln soll, auf etwa 100.000 bis 150.000 Bewohner schätzen. Im gesamten Land lebten zu dieser Zeit etwa 1 Million Menschen. 2 ∗ Dieser Artikel fasst Thesen aus zwei Kapiteln des Buches La formación del Estado y la nación y el pueblo mapuche (herausgegeben von der Dirección de Bibliotecas y Museos de Chile) zusammen, zu denen neuere Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt “ Bases Econó- micas y Estructura Social. La Araucanía, 1900-1960 ” (finanziert durch Fondeyct, Projekt Nr. 10603149), hinzugefügt wurden. 1 José Manuel Zavala: Los mapuches del siglo XVIII. Santiago 2008, S. 23-24. 2 1752 schätzte der Jesuit Joaquín de Villarreal die araukanische Bevölkerung auf 125.000 Personen. Ein Einwohnerverzeichnis, das Ambrosio Higgins 1796 erstellen ließ, dokumentiert nur 96.504 Bewohner. Es ist möglich, dass diese Zahlen um 30 % unter der tatsächlichen in- digenen Bevölkerung liegen. 140 142 Jorge Pinto Rodríguez Araukanien ist eine Region, die sich etwa 600 Kilometer südlich von Santiago de Chile zwischen den Flüssen Bío Bio und Tolten westlich der Andenkordille- ren erstreckt. Ihr Gebiet umfasst verschiedene Landschaftsformationen, begin- nend mit der Küstenebene, die von einer Gebirgskette durchzogen wird und de- ren höchste Erbhebung 1.400 Meter misst (Cordillera de Nahuelbuta). Daran schließt das Flachland an, das sich im Osten bis hin zum Küstenstreifen erstreckt und in den Gebirgsausläufern der Anden endet. In diesem Teil des Landes gehen die südlich von Santiago beginnenden Tiefebenen der Zona Central in eine Hü- gellandschaft über, die von einigen Flüssen durchzogen wird, die von den An- den ins Meer fließen. Die starke Regenzeit im Winter dauert oftmals bis in den Frühling hinein an. Sie ermöglichte das Wachstum einer dichten Vegetation, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen fast undurchdringbaren Wald bildete. Wie die bereits erwähnte Untersuchung von Zavala gezeigt hat, ging die Ma- puche-Gesellschaft gestärkt aus dem 18. Jahrhunderts hervor, was es ihr ermög- lichte, sich weiter den spanischen Herrschaftsansprüchen zu widersetzen. Diese Konsolidierung hatte mehrere Gründe. So können ihre räumliche Expansion in die argentinische Pampa, der Reichtum einiger Gruppen aufgrund ihres intensiv betriebenen Handels mit den Spaniern, aber auch das Bevölkerungswachstum, das aus einigen zeitgenössischen Quellen abzuleiten ist, genannt werden. 3 Die Stärkung der Mapuche wirkte sich auch auf den Widerstand aus, den sie wäh- rend der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts der Unabhängigkeit Chiles ent- gegenbrachten - mit der deutlichen Absicht, Veränderungen zu vermeiden, die die Grundlagen der in der Region entstandenen Grenzgesellschaft gefährdeten. Die liberale Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts diskreditierte diesen Widerstand. Sie prägte den Begriff “ Guerra a Muerte ” und generierte so eine negative Sichtweise, die bis heute besteht. Der Begriff betonte den blutigen Cha- rakter einiger der Geschehnisse, ohne die Hintergründe des Konflikts näher zu beleuchten. Unserer Meinung nach handelte es sich hierbei um eine komplexe Akteurskonstellation, die sowohl Mapuche als auch Hispano-Kreolen, Spanier, Bauern, Großgrundbesitzer, Händler, Missionare, Franziskaner, Angehörige des Militärs sowie die alten kolonialen Autoritäten einschloss. Die Angst vor einer Intervention in die seit der Kolonialzeit gewachsenen Handelskreisläufe und die mit ihnen verbundenen wirtschaftlichen Interessen brachten diese Gruppen dazu, die Waffen zu ergreifen, um dem 1810 in der Hauptstadt begonnenen Prozess zu begegnen. 3 Zavala: Los mapuches del siglo XVIII, 2008, S. 122-123. 141 Land ohne Indigene 143 Was die Mapuche betrifft, so zeigten die Ereignisse des restlichen 19. Jahr- hunderts, dass ihre Befürchtungen berechtigt gewesen waren. Als im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine Bilanz der Geschehnisse gezogen wurde, hätte das Ergebnis nicht verheerender sein können. Nach der gewaltsamen und blutigen Besetzung des Landes, bei der die Felder verwüstet wurden und viele ihr Leben verloren, wurde die Araukania von widerrechtlichen Landenteignun- gen und Misshandlungen jeglicher Art erschüttert. In weniger als 30 Jahren brach die Grenzgesellschaft auseinander, die durch das komplementäre Zusam- menleben der Indigenen und der Hispano-Kreolen zusammengehalten worden war. Das Ergebnis war ein neuer, stark zersplitterter Grenzraum, geprägt von den individuellen Interessen neuer Akteure der regionalen Geschichte (Mapu- che, nationale Besetzer und ausländische Kolonisten), die sich nur in wenigen Fällen vereinbaren ließen. Obwohl die regionale Wirtschaft in diesen Jahren einen enormen Auf- schwung erlebte, der mit dem Wachstum des Binnenmarktes und den in dieser Epoche neu entstandenen Handelskreisläufen zusammenhing, litten die Mapu- che unter den Auswirkungen der veränderten Situation, die sie nicht müde wur- den, anzuklagen. Manuel Manquilef, einer der berühmtesten Anführer der Ma- puche der ersten Generation nach der Staatsgründung, tat dies auf ganz ent- schiedene Weise: „Was ihr hier lesen werdet, sind einige sehr bittere Wahrhei- ten“, schrieb er 1915 im Prolog seines Werkes Las Tierras de Arauco und führte weiterhin aus: „Die Regierung Chiles hat Abkommen und Versprechen gebrochen. Und mit der Erklärung des Arauko- Krieges brach sie auch die Verfassung, auf die heimtückischste und niederträch- tigste Weise, in der eine Nation dies jemals getan hat. Sie trieb es so weit, dass sie Teile ihrer eigenen Kraft vernichtete und heute gar Denkmäler für diese Konquistadoren errichtet, die ihr durch die Verbreitung von Schändlichkeiten doch nur Land, Tiere und, noch viel schlimmer, das Leben einer ganzen Nation genommen hatten. Unterdrückt von denselben Gesetzen, die für ein versklavtes Volk geschaffen wurden, und die schwerwiegende Ungerechtigkeit ertra- gend, verhielten sie sich wie Heilige - trotz so großer Schande, [...] ihrer Reichtümer beraubt, sind sie heute arme, elende Opfer des Staates und der Gesellschaft, in der sie leben. Wie ist es möglich, dass eine republikanische Regierung, wie die chilenische, so vorgehen konnte? Wa- rum und wie ist es gelungen, dieses starke und mutige Volk zu zerstören, das ein Teil der Re- publik werden sollte, nicht als erobertes Volk, das es niemals war, sondern aufgrund feierli- cher Abkommen.” 4 4 „El gobierno de Chile violó tratados, promesas. Hizo pedazos la Constitución declarando la guerra de Arauco en la forma más insidiosa y ruin que jamás una nación lo hiciera. Lo per- virtió hasta matar en parte sus energías y hoi eleva estatuas a esos conquistadores que a fuerza de propagar vicios, le permitió quitar tierras, animales y lo que es más, la vida a una nación. „Oprimidos con leyes propias para un pueblo de esclavos, y soportando el duro peso de injus- 142 144 Jorge Pinto Rodríguez Diese Anklage von Manuel Manquilef bezog sich auf den allmählichen Pro- zess, der nach der Unabhängigkeit begann und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte. DER ANFANG DER GESCHICHTE: VERBÜNDETE, FEINDE ODER FREUNDE? Die herrschende Klasse, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte Chile zu füh- ren und eine Nation zu schaffen, beabsichtigte in der Gründungsphase des Staa- tes nicht, die Mapuche verschwinden zu lassen, trotz der Probleme, die diese während der Unabhängigkeit verursacht hatten. Aber sie differenzierte zwischen der indigenen Bevölkerung, die im Valle Central und im Norte Chico überlebt hatte, und den Mapuche in Araukanien. Der Senado Conservador von 1819 er- ließ eine Erklärung, mit der die erste Gruppe in die Nation integriert und zu Bürgern gemacht wurde, welche sie „[…] wie alle Chilenen dazu verpflichtete, das Heimatland zu verteidigen und alle Pflichten eines Bürgers zu erfüllen.“ 5 Im Gegensatz dazu wurden für die Mapuche alle Einbeziehungsmechanismen bei- behalten, die schon zur Kolonialzeit die Beziehungen zwischen ihnen und der Krone reglementierten: die so genannten parlamentos und die Missionen. ticias sin cuento, caminan como pontificados ante tanta ignominia […] arrebatadas sus riqu- ezas, son hoi unos pobres, miserables víctimas del gobierno y de la sociedad en que viven; ¿cómo es posible que un gobierno republicano como el de Chile haya procedido así? ¿por qué y cómo ha conseguido destruir a esta raza fuerte y valerosa que entró a formar parte de la República, no como pueblo conquistado, que jamás lo fue, sino en virtud de solemnes trata- dos?” Manuel Manquilef: ¡Las Tierras de Arauco! El último cacique. Temuco 1915, S. 2-3. 5 “[…] obligados como todos los chilenos a defender la patria y prestar todos los servicios de tales”. Sesión Ordinaria Nr. 31, 26. Februar 1819. In: Valentin Letelier: Sesiones de los Cuerpos Legislativos de Chile 1811-1843, Band III. Santiago 1886, S. 302. 143 Land ohne Indigene 145 Abb. 1: Das erste Wappen Chiles, 30.09.1812 Den Mapuche gegenüber eine aggressive Haltung einzunehmen war schwie- rig, da man sich auf sie berief, um die Bewegung die zur Befreiung von Spanien geführt hatte, zu rechtfertigen. Von der Tatkraft und dem Mut, mit dem die Ma- puche ihre Freiheit und ihr Gebiet verteidigten, übernahmen die Chilenen Werte, die sie im Kampf gegen die spanischen Truppen antrieben. Auf diese Weise öff- nete sich in der Entstehungsphase der Nation ein weites Tor, durch das der mythifizierte Mapuchekrieger des 16. Jahrhunderts Einzug halten konnte, dessen Tapferkeit durch die Gedichte von Alonso de Ercilla y Zúñiga unsterblich ge- macht worden war. Der Präsident Francisco Antonio Pinto (1775-1858) schrieb später über seine Kindheit, dass ihn das Werk La Araucana begeisterte, nicht weil ihm die Poesie gefallen hätte, „sondern aufgrund der heroischen Heldenta- ten der Araukaner und Spanier, die wir als unsere eigenen verstanden, da wir die Landsleute ersterer und die Nachkommenletzterer sind .“ 6 Eine tatsächliche Garantie bezüglich ihrer definitiven Integration in die Nati- on gab es allerdings nicht, und der Status ihrer Territorien blieb unklar. In den Comisiones del Congreso General Constituyente , die die Artikel der Verfassung von 1828 diskutierten, entwickelte sich eine interessante Debatte, als einige der 6 “sino por las heroicas hazañas de los araucanos y españoles, que las considerábamos como propias, por ser compatriotas de los primeros y descendientes de los segundos”. Memo- rias de F. A. Pinto . Zitiert von Fernando Casanueva: Indios malos en tierras nuevas. Visión y concepción del mapuche según las elites chilenas del siglo XIX. In: Jorge Pinto (Hrsg.): Mo- dernización, Inmigración y Mundo Indígena, Temuco 1998. S. 55-131, S. 58. 144 146 Jorge Pinto Rodríguez Kommissionsmitglieder insistierten, dass sich die araucanos als Nachbarvölker betrachteten, weshalb auch die Grenzziehungen zu ihren Territorien mit ihnen einzeln festgelegt worden waren. Aus diesem Grund könne ihnen keine Verfas- sung aufgezwungen werden, für die sie sich nicht selbst ausgesprochen haben. 7 Die Angelegenheit wurde jedoch weder bei dieser Versammlung noch bei der Wiederaufnahme der Debatte 1833, als die Verfassung von 1828 reformiert wurde, geklärt. Laut Ramón Sotomayor Valdés wählte der Autor des Original- entwurfs, Mariano Egaña, den einfachsten Weg: er vereinte „alles, was die Nati- on kennzeichnet und ausmacht, in dem Begriff der Republik“ und vermied da- durch eine schwierige und komplexe Debatte. 8 Einige Jahre später, 1842, wurde das Thema aber wieder zu einer heiklen Angelegenheit, als die Idee aufkam, ausländische Kolonisten in Araukanien anzusiedeln. Ein Kommentator der Ta- geszeitung El Agricultor , der seine Artikel mit M. M. unterzeichnete, fasste mit großer Präzision die Ansichten verschiedener Intellektueller und Regierungsbe- amten zu diesem Thema zusammen. Demnach gehörte das Gebiet, das die Ma- puche besetzten, laut der Gründungserklärung Chiles von 1833 unmissverständ- lich zum chilenischen Territorium. Daran gäbe es keinerlei Zweifel. Trotzdem wurden die Mapuche als ein benachbartes Volk angesehen, als eine Nation star- ker und kriegerischer Leute, die möglicherweise eines Tages eine Gefahr für Chile darstellen könnten. Es handele sich zwar um ein anderes Volk, aber über ihr Territorium könne beliebig verfügt werden, da die Verfassung ausdrücklich besage, dass dieses zu Chile gehöre. Jedenfalls wird in diesen Jahren noch im- mer der Respekt gegenüber den Mapuche deutlich, der auch den Schreiber des erwähnten Artikels einräumen ließ, dass eine Besetzung nur mit der Zustim- mung der Mapuche durchgeführt werden könne. 9 7 Der Autor dieser Äußerungen war José Gaspar Marín, Abgeordneter von Illapel und Combarbalá. Sie erschienen in der Ausgabe Nr. 42 vom 9. Juni 1828. In: Sesiones de los Cuerpos Legislativos de Chile 1811-1843, Band XVI. Santiago 1893, S. 70-75. 8 Ramón Sotomayor Valdés: Historia de Chile bajo el gobierno del Jeneral D. Joaquín Prieto. Band I, Santiago 1900, S. 224. Diese Ansicht Sotomayors bezieht sich auf die Tatsa- che, dass die Convención , die ursprünglich die Verfassung diskutierte, sie Constitución Políti- ca de la Nación Chilena betitelte. Bei einer Überprüfung des Begriffs Nación, verwandte Egaña den Begriff República , um jegliche Probleme zu vermeiden. Deshalb ist der Titel der Verfassung Constitución Política de la República de Chile .Vgl. Luis Valencia Avaria: Anales de la República. Santiago 1986, S. 344. 9 „Necesidad de colonizar y poblar los terrenos baldíos y desiertos de la República, espe- cialmente en el Arauco”, El Agricultor Nr. 22, Santiago April 1842. 145 Land ohne Indigene 147 Diese respektvolle Einstellung wird die Intentionen einiger Mitglieder der herrschenden Klasse gebremst haben, die eine eher aggressive Haltung gegen- über den Mapuche einzunehmen gedachten. Sie bedingte auch eine Wiederauf- wertung derjenigen Regierungsweisen, die schon von den Spaniern angewendet worden waren, um die Beziehungen zu den Mapuche zu regulieren. In dem Moment, als die Elite einen heroischen Diskurs über den Ursprung der Nation konstruieren musste, wandelte sich der tapfere Mapuche zum Symbol der chile- nischen Identität. Die Beziehung des sich im Aufbau befindenden Staates mit den Mapuche war durch eine Mischung aus Respekt und Bewunderung geprägt und bedingte die Entscheidung, nicht weiter in ihr Gebiet einzudringen. Allerdings war wohl auch die Tatsache nicht unerheblich, dass ihrem Land ein geringer Wert beigemessen wurde. Chile legte das Augenmerk in seiner Gründungsphase auf die Gebiete des Nordens und des Valle Central. Im Norden lagen die reichen Minen, die der Wirtschaft den Zugang zur Weltwirtschaft er- möglicht hatten, und im Valle Central wurden weitere Güter produziert, die den Export der Agrar- und Viehwirtschaft, den zentralen Motor der Ökonomie, för- derten. Hinzu kam die Bedeutung des Güterverkehrs, dessen Ursprung in der Expansion der Indigenen in die Pampa lag und durch den sich an der Grenze der indigenen Gebiete große Viehherden konzentrierten, welche von dort aus in den Norden gebracht wurden, um sie von den Landgütern im Valle Central aus wei- ter zu exportieren. Ignacio Domeyko fügte einen weiteren Handelsweg hinzu, der in Valdivia begann und von wo aus die Händler Viehherden durch die Wäl- der Araukaniens in Richtung Concepción überführten. 10 Neben dem Vieh wur- den auch Salz und Straußenfedern gehandelt, die ebenfalls den Grundstock eines großen Gewerbezweiges bildeten, und den man nicht unterbrechen wollte. Schlussendlich machte es der Erfolg des Modells ‘Wachstum nach außen’ in der Frühphase der Republik unnötig, eine kriegerische Auseinandersetzung im Sü- den zu provozieren. Angesichts des im Norden entstandenen Konfliktes mit Peru, bei dem es sich inoffiziell um einen Streit um den Zugang zum Pazifik handelte, schien es rat- samer, in Araukanien auf die Politik der parlamentos zurückzugreifen, als weite- re Konfliktfelder zu öffnen, die das Land hätten ausbluten lassen. Verschiedene zwischen 1820 und 1830 sowie in den Jahren 1836 und 1837 abgehaltene par- lamentos führten zu einem Friedensabkommen, das am 29. Januar 1838 auch vom Parlamento General de Santa Fe ratifiziert wurde. Daran nahmen „114 An- 10 Ignacio Domeyko: Araucanía y sus habitantes. Santiago 1846, S. 67. 146 148 Jorge Pinto Rodríguez führer aus den vier Butahalmapus 11 teil.“ 12 Einige Jahre zuvor, 1835, präsentierte Don José Javier de Bustamante, Kriegs- und Marineminister der Regierung Joa- quín Prietos, dem Senat einen Bericht, der die Friedensabkommen, die mit den Mapuche erreicht worden waren, erläuterte. „Der Himmel möge es zulassen“, fügte der Minister abschließend hinzu, „dass wir in Zukunft nicht mehr von dem ominösen Krieg mit den tapferen Araukanern hören werden.“ 13 Gleichzeitig re- aktivierte die Regierung die Missionsarbeit. Dazu wurde der argentinische Pries- ter Zenón Badía 1835 mit der Aufgabe nach Rom gesandt, italienische Franzis- kaner zu rekrutieren, die dazu bereit wären, das Colegio de Propaganda Fide de Chillán zu übernehmen. Außerdem sollten sie die Aufgaben wieder aufnehmen, die ihre Ordensbrüder ausgeübt hatten, bis sie wegen ihrer Treue zum spani- schen König des Landes verwiesen worden waren. Im Jahre 1849 bestärkte die Regierung diesen Entschluss und beauftragte Kapuzinermönche, ebenfalls aus Italien, die Missionen südlich des Flusses Cautín zu übernehmen. Die parlamentos und Missionen ordneten das Grenzgebiet neu. Das koloniale Abkommen ging in ein republikanisches über, und ließ die Region wieder auf- atmen 14 . Einige überkommene Funktionsposten der kolonialen Regierungswei- sen, wie die comisarios de naciones , die capitanes de amigos 15 und die Dolmet- 11 Die Butalmapus sind große territoriale Zusammenschlüsse der Mapuche. „Futa“ oder „Buta“ bedeutet in ihrer Sprache „groß“, und „mapu“ Land. Die Butalmapus weisen eine lan- ge Tradition auf. Vgl. José Bengoa: El tratado de Quillín. Documentos adicionales a la histo- ria de los antiguos mapuches del sur. Santiago de Chile 2007, S. 101. 12 Comunicación de la Comandancia General de la Alta Frontera, Nacimiento, 2. Februar 1838. Archivo Nacional de Santiago, Fondo Gay-Morla, Vol. 232. Laut Ramón Sotomayor Valdés wurde im März desselben Jahres eine weiteres parlamento in Arauco abgehalten, an dem über 20 Kaziken und der Intendente von Concepción José Antonio Alemparte als Reprä- sentant der chilenischen Regierung teilnahmen. Es scheint, dass es sich im Vergleich zu dem parlamento in Santa Fe um ein anderes handelte, dieses war kleiner und zielte darauf ab, mit den Kaziken der Nahuelbutakordillere zu verhandeln. Vgl. hierzu Sotomayor Valdés:Historia de Chile bajo el gobierno del Jeneral D. Joaquín Prieto, 1900, S. 258. 13 “¡Quiera el cielo permitir, agregaba el ministro, que en adelante no oigamos hablar más de la ominosa guerra con los valerosos araucanos!” Bericht des Kriegsministers in der ordent- lichen Sitzung der Senatskammer am 14. September 1835, Anexus 652, S. 441-451, S. 449. Ebenfalls interessant ist die Bedeutung, die Valentín Letelier den parlamentos in der histori- schen Entwicklung Chiles zuschrieb. Vgl. hierzu Génesis del Estado y sus Instituciones Fun- damentales, Buenos Aires 1917. Die von ihm wiederholt angeführten Referenzen dieser Pra- xis, zeigen die Bedeutung, die sie in den ersten beiden Jahren der Republik besaßen, um die Beziehungen zwischen Mapuche und Nicht-Mapuche zu strukturieren. 14 Rolf Foerster: Del Pacto Colonial al Pacto Republicano. In: Revista Tefros, Band 2, Nr. 1 (2008), http://www.tefros.com.ar. 15 Zu diesen Funktionsposten siehe de Beitrag von Mónika Contreras in diesem Band 147 Land ohne Indigene 149 scher wurden unverändert beibehalten. 16 Der Bericht von Don Antonio Varas aus dem Jahre 1849, den er im Anschluss an eine Visite der Region verfasste, bestä- tigt diese Einschätzung. Varas ließ sich von Personen beraten, die sich ausführ- lich mit den Vorkommnissen in Araukanien beschäftigt hatten, und verließ die Gegend mit der Erkenntnis, dass Indigene und Spanier nicht mit denselben Ge- setzen und Konventionen regiert wurden. Während für die Indigenen weiterhin die kolonialen Regierungsweisen beibehalten wurden, galten für die zweite Gruppe die Gesetze der Republik. Indigene und Spanier, so der Bericht, erkann- ten beide die Autorität der regionalen Regierungsvertreter an; die Mapuche aber verhielten sich laut Varas weiterhin wie Untertanen des Königs von Spanien. Sie einer Autorität zu unterwerfen, die sie immer als Fremdherrschaft betrachtet hat- ten, hieße, sie ihrer geschätzten Unabhängigkeit zu berauben und würde nach Ansicht Varas nur dazu führen, dass sie den Weg, der sie zum Guten leiten soll, mit Hass zu betrachten lernen. Gewaltanwendung, so der visitador weiter, käme einer tatsächliche Eroberung gleich, die den kriegerischen Stolz der Araukaner wecken und somit einen Sieg über sie erschweren würde. Die Folgen einer sol- chen Eskalation in den südlichen Provinzen wären unabsehbar, ganz zu schwei- gen von dem schweren Unrecht, das eine Entscheidung dieser Art begleiten würde. Vargas empfahl deshalb, die bereits existierende Ordnung beizubehalten. Er nahm einige Überlegungen von Ignacio Domeyko und anderen Beobachtern, die sich schon früher mit diesem Thema beschäftigt hatten, wieder auf und be- tonte gerade auf lange Sicht die Wichtigkeit der Missionen, der Schulen und der friedlichen Mittel im Allgemeinen, um die indigene Bevölkerung in die „Zivili- sation“ integrieren zu können. Eine führende Rolle schrieb er hierbei den parla- mentos zu. Kurz gesagt, die Grenzgebiete sollten weiterhin nach denselben Grundsätzen geregelt werden, die auch bislang vorgeherrscht hatten. 17 16 Jorge Vergara: El estado nacional chileno y los pueblos indígenas. El caso de los mapu- che de Valdivia, Osorno y Llanquihue, 1840-1880. Berlin 1998. 17 Antonio Varas: Informe presentado a la Cámara de Diputados por el Visitador Judicial de la República, Antonio Varas. Santiago 1849, S. 5-6. 148 150 Jorge Pinto Rodríguez Abb. 2: Digitales Fotoarchiv des Forschungsprojektes "Estereotipos en Dis- cursos Iconográfico sobre Indígenas, Fotografías de Mapuches, 1891-1920" der Universidad de La Frontera (Temuco), unter der Leitung von Alonso Azócar und Jaime Flores. 18 Obwohl die parlamentos für ihre vielseitigen Verfahrensweisen bekannt wa- ren, spielten sie bei der Lösung der Konflikte und der Umsetzung von Friedens- abkommen, die den Frieden an der Grenze garantierten, eine wesentliche Rolle. 19 Ihr Ursprung lässt sich wohl auf politisch-rituelle Versammlungen der Mapuche zurückführen, die schon vor der Ankunft der Spanier durchgeführt worden wa- ren, und auch während der Kolonialzeit weiter abgehalten wurden. In dieser Epoche durchliefen sie einige Veränderungen und Anpassungen, die sie zu einer Institution werden ließen, deren Relevanz essentiell für das Verständnis des Grenzgebietes ist. 20 Eine anschauliche Beschreibung findet sich in einem Doku- ment, das Ende des 18. Jahrhunderts entstand, und welches die Bedeutung dieser 18 Mein Dank gilt Jaime Flores für die Bereitstellung des Bildmaterials. 19 Die Institution der parlamentos in Chile wurde von Historikern wie Leonardo León, Luz María Méndez, Rolf Foerster und José Manuel Zavala ausführlich analysiert. 20 Zavala: Los mapuches del siglo XVIII, 2008, S. 162ff. 149 Land ohne Indigene 151 Institution für die Indigenen wiedergibt. Wenn parlamentos einberufen wurden, schreibt der Autor, oder Frieden mit uns geschlossen wurde: „[…] sprechen zuerst diejenigen, die dem Ort, der für die Versammlung gewählt wurde, am nächsten sind. Sie ernennen jemanden, der durch seine Kraft und Stimme prädestiniert dafür ist, da den ganzen Tag geschrien werden muss. Dieser hört sich einen kurzen Vortrag eines Kaziken an und hebt dann zu seiner Ansprache an. Und so geht es weiter mit allen Kaziken dieses Butalmapu; zweifelsfrei macht die blumige und bedeutsame Sprache, die sie benutzen, ihre Vorträge sehr unterhaltsam. Zu Beginn richten sie das Wort an den Oberbefehlshaber ( Capitan General ) und versichern ihm, dass seine Anwesenheit ihnen die Größe des Königs nahe bringe, da aus den Quellen nun mehr Wasser zu sprudeln und fließen scheine denn zu- vor, was die Bäche anschwellen ließe und die Pflanzen weidlich wässere, so dass deren Grün leuchte und die Vögel hoch oben auf ihren Ästen noch lieblicher und wohlklingender singen würden. Dank dieser wunderlichen Dinge schlügen die Herzen aller so freudig und vergnügt, dass ihnen nichts Weiteres vonnöten scheint, um noch mehr Freude und Vergnügen zu berei- ten.” Nachdem die Aufmerksamkeit der chilenischen Regierung auf andere Prob- leme gelenkt wurde und die Mechanismen, die den Frieden an der Grenze garan- tierten, wieder eingeführt waren, verloren die Probleme mit den Mapuche an Bedeutung. In einem Moment, als man den Nachbarn im Norden mit mehr Miss- trauen begegnete als der indigenen Bevölkerung des Südens, lag es nahe, sich die Mapuche als Alliierte zu erhalten, statt sie sich zu Feinden zu machen. „DIE MENSCHEN WURDEN NICHT GEBOREN, UM UNNÜTZ UND WIE WILDE TIERE ZU LEBEN“ 1850 begann sich diese Situation zu verändern. Seitdem führten einige gleich- zeitig einsetzende Faktoren zur Besetzung des Gebietes und zur Desintegration des früheren Grenzraums. Araukanien bekam die gesamte Härte des Staates zu spüren, als der Region das von den Machthabern in Santiago entwickelte Staats- und Nationenprojekt aufgebürdet wurde. 21 Die Faktoren, die die Besetzung verursachten, waren von unterschiedlichem Charakter – es gab interne und externe Auslöser. Zu den externen Faktoren ge- hörte zweifelsfrei die Tatsache, dass ein Anstieg der Weltbevölkerung und die Transformationen der Industriellen Revolution eine größere Nachfrage nach Le- bensmitteln hervorbrachten. Dadurch wurden nun auch Gebiete besiedelt, die bis dato zur Peripherie der Weltwirtschaft gezählt hatten. Das Vorrücken des engli- schen Kapitalismus und der Ausbau der Transportsysteme beschleunigten diese 21 Eine Pionierstudie zur Situation in Araukanien Mitte des vergangenen Jahrhunderts führ- te Jacques Rossignol durch: “Chiliens et indiens araucans au miliu du XIXe siecle”. In: Cara- velle Nr. 20 (1973). 150 152 Jorge Pinto Rodríguez Vorgänge und fügten sie in die zunehmenden Kolonisierungsprozesse in ande- ren Regionen Amerikas, Afrikas, Asiens und Ozeaniens ein. Die Situation Chiles förderte ebenfalls das Vorrücken in die indigenen Terri- torien und die Verfassung des Staates schuf eine Instanz, mit der dieser Vorgang gelenkt werden konnte. Die Begrenztheit des vermarktbaren Landes, das für die von der Regierung forcierte Einwanderungspolitik essentiell war, und die Wirt- schaftskrise von 1857 überzeugten die Machthaber schließlich, dass der Moment zum Handeln gekommen sei, zumal die Küstengebiete der Region bereits auf Möglichkeiten des Kohleabbaus hin erkundet wurden, an dem die Bergbauun- ternehmern des Norte Chico Interesse gezeigt hatten. Schließlich sind die Revo- lutionen von 1851 und 1859 zu nennen, die zugunsten der Regierung ausgingen und die Idee vorantrieben, die Aufständischen, zu denen auch eine große Gruppe Indigener gehörte, zu bestrafen, sowie der von den positivistischen Intellektuel- len des 19. Jahrhunderts geführte Diskurs über die „Barbarei“. Die genannten Faktoren scheinen den Anstoß für den Einmarsch des chilenischen Militärs in die Grenzregion gegeben zu haben 22 , wobei die Wirtschaftskrise von 1857 und das Aufstreben des Positivismus die bedeutendsten darstellen. Die Krise war das Produkt verschiedener Umstände. An erster Stelle ist wohl die abrupte Schließung des kalifornischen und des australischen Marktes für chi- lenischen Weizen und Mehl zu berücksichtigen. Nach zwei Jahrzehnten wirt- schaftlicher Blüte verursachte dies bei den Bauern unerwartete Einbußen, die von einer Reihe schlechter Ernten noch verschlimmert wurden. Dazu kam, dass die Silberproduktion, ein weiteres wichtiges Exportgut, schlagartig zurückging, und die nationale Wirtschaft in einen beklagenswerten Zustand versetzte. Die wirtschaftlich guten Zeiten hatten zu Spekulationen geführt, die die Situation noch verkomplizierten. Die Sorge der Presse über die Entwicklungen äußerte sich mit den ersten Anzeichen der Krise. Im Januar 1857 veröffentlichte die Ta- geszeitung El Araucano einen Artikel, der die Krise auf die Unfähigkeit, die Im- porte aus dem Ausland durch chilenische Waren zu ersetzen, zurückführte. Die Einfuhr von Waren verursachte eine Verknappung der sich im Umlauf befindli- 22 Die Gesamtheit der Phänomene, die wir hier zusammengefasst haben, wurde auch von anderen Autoren angesprochen. Insbesondere zu nennen sind Claudio Véliz: “La mesa de tres patas”. In: Desarrollo Económico. Buenos Aires 1961; Sergio Villalobos (u.a.): Relaciones fronterizas en la Araucanía. Santiago, 1982; Arturo Leiva: El primer avance a la Araucanía, Angol , 1862. Temuco 1984; José Bengoa: Historia del pueblo mapuche. Santiago 1985; Edu- ardo Cavieres: Comercio chileno y comerciantes ingleses. Valparaíso 1988 und Patricia Cerda: Fronteras del Sur. Temuco 1996. 151 Land ohne Indigene 153 chen Zahlungsmittel. 23 Bereits ein Jahr zuvor hatte die Zeitung El Ferrocarril ihre Bedenken bezüglich des Verlustes des kalifornischen Marktes und des ho- hen Preisniveaus für Agrarprodukte geäußert. Diese Entwicklungen hatten zu Störungen geführt, die jetzt spürbar wurden. 24 El Ferrocarril betonte 1856 im- mer wieder einen weiteren Punkt, der später weitaus weniger erwähnt wurde: die Verwendung von Wertpapieren machte den Gebrauch des Geldes fast unnötig, hieß es, und zeige große Auswirkungen auf die Wirtschaft, da der Export von geprägtem Metall begünstigt würde und auf lange Sicht die Situation noch ver- schlimmern werde. 25 In einem anderen Artikel, der im Januar des Folgejahres erschien, fiel das Urteil noch lapidarer aus: wenn die Bauern weiterhin so viel konsumierten, wie vor dem Ausschluss aus den externen Märkten, wenn sie sich weiter verschuldeten und die hohen Preise aufrechterhielten, müsse entweder ein Wunder geschehen oder die begangenen Fehler würden teuer zu stehen kom- men. 26 Fast genau drei Jahre nach seiner Ankunft in Chile äußerte sich 1858 auch Gustavo Courcelle Senuil zur Krise. Courcelle Senuil wurde von der Regierung als Wirtschaftsprofessor und Berater des Finanzministeriums angestellt und war darüber hinaus Kommentator in der Presse. Die Krise, sagte er in El Ferrocarril , sei durch den Rückgang der Einfuhren und den übertriebenen Konsum der Pri- vathaushalte verursacht worden. 27 Andere Analysten, die ebenfalls in der Presse veröffentlichten, machten die Regierung für das Desaster verantwortlich. Sie sahen diese als Verursacherin der überflüssigen Ausgaben, die der französische Ökonom den Privatleuten zuschrieb. Einer der Gesprächspartner Courcelle Se- nuils wies darauf hin, dass die Regierung der Verschwendung Einhalt gebieten und ihre gesamten zur Verfügung stehenden Mittel dem Münzamt leihen solle, um damit den Währungsumlauf zu vermehren. Dies bedeutete, alle nicht zwin- gend notwendigen öffentlichen Ausgaben auszusetzen. 28 23 “La crisis comercial y la exportación de moneda”, El Araucano, 13. Januar 1857. 24 “Libertad Industrial”, El Ferrocarril, 7. Januar 1856. 25 Vgl. beispielsweise auch den Artikel in: “Causas de la exportación de monedas de pla- ta”, El Ferrocarril, 24. November 1856, in dem auf die Gründe der Verknappung verwiesen wird. 26 “La crisis comercial y la exportación de moneda”, El Ferrocarril, 16. Januar 1857. 27 G. Courcelle Senuil, “Estudio sobre la crisis económica”. El Ferrocarril, 1. Januar 1858. 28 Observaciones a los escritos de Mr. Courcelle Senuil sobre la crisis económica. In: El Ferrocarril, 20. und 22. Januar 1858. 152 154 Jorge Pinto Rodríguez Bei der Diskussion über einen Ausweg aus der Krise gab es zwei klar defi- nierte Positionen. Die eine Seite stellte den monetären Charakter der Krise her- aus. Als Grund für das fehlende Geld im Umlauf machten sie den Export von Gold- und Silbermünzen verantwortlich. Die andere Seite glaubte, dass der Rückgang der Geldmittel von den wohlhabenden Schichten verursacht worden sei, die nicht bereit waren, trotz des Exportrückgangs ihre Ausgaben zu verrin- gern. Beide Seiten vertraten natürlich auch bei der Frage nach einer Lösung der Probleme gegensätzliche Positionen. Die erste Gruppe, die Monetaristen, beobachteten die Regierung mit Unge- duld und erwarteten von ihr einen Zuschuss für das sich im Umlauf befindende Geld. Die anderen betonten, dass die Regierung nicht viel tun könne. Aus der Krise könne man sich nicht retten, indem man auf ein Wunder warte, das das Problem des Außenhandels löse, sondern durch eine Änderung des Lebensstils und des ökonomischen Verhaltens der Chilenen. Tatsächlich betonte die erste Gruppe ein Symptom der Krise, die zweiten hoben Grundsatzfragen der Wirt- schaft und die Zerbrechlichkeit des Exportmodells hervor, das in Chile vor- herrschte. In diesem Klima blühte die Debatte um Araukanien neu auf. Wir kön- nen nicht definitiv sicher sein, ob nur die Krise das ausschlaggebende Moment darstellte, aber die Zeugnisse der Epoche hinterlassen den Eindruck, dass das Thema Araukanien aufgrund der Krise und der Revolution von 1859 auf natio- naler Ebene relevant wurde. 1856 beschrieb El Ferrocarril Araukanien als eine Gegend der unerschöpfli- chen Ressourcen, als Quelle des Reichtums, die Arbeitskräfte und Kapital erfor- dere, um dort eine florierende Landwirtschaft zu konsolidieren. 29 Die Zeitung begann noch im selben Jahr eine Kampagne, mit der die Autoritäten überzeugt werden sollten, dass nun der richtige Moment gekommen sei, die indigenen Ge- biete zu besetzen. „Wir leben“ – so die Ausgabe des 13. März jenes Jahres – „in einer sehr praktischen Welt und in einem Jahrhundert, in dem die Sophisten und Scholastiker ständig feststellen müssen, dass die unwiderstehliche Macht der Tatsachen ihre Lehren widerlegt. Die Spekulation hat nicht mehr Macht als die Geschehnisse des realen Lebens zulasse, und nur diese sind für uns der Prüfstein aller Theorien.” 30 29 “Ojeada a la provincia de Arauco”, El Ferrocarril, 31. Mai 1856. 30 “Vivimos en un mundo eminentemente práctico, y en un siglo en que los sofistas y los escolásticos tienen que ver a cada paso negadas sus doctrinas con el imperio irresistible de los hechos. La especulación no tiene, pues otro poder que el que le dan los sucesos de la vida real, que son para nosotros la piedra de toque de todas las teorías.” In: “Reducción de los Araucanos”. El Mercurio, Valparaíso, 13. März 1856. 153 Land ohne Indigene 155 Und welche Lehren zog El Mercurio aus der praktischen Anschauung der Welt? Das Blatt folgerte, dass Araukanien besetzt werden müsse, dass die Vor- sehung den Menschen auf die Welt gesetzt habe, damit er sie sich Untertan ma- che und sich an ihr erfreue, dass es Unvernunft wäre, diese so fruchtbaren Ge- biete nicht zu nutzen, dass Chile weder Arbeitskräfte noch Kapital benötige, sondern Ländereien, in die investiert werden könne, für kommende Zeiten. So entstand die Idee Araukaniens als Gelobtes Land, in deren Schoß die Zukunft Chiles liege. Drei Jahre später, 1859, schlug El Mercurio vor, dass der Blick de- finitiv vom Norden abgewandt werden müsse, um die Aufmerksamkeit auf den Süden zu richten. „Die industrielle Zukunft Chiles“ – behauptete die Tageszeitung Valparaísos – „liegt zwei- felsfrei in der südlichen Region. Den trockenen Wüsten des Nordens gelang es nur durch ei- nen Unfall, so zufällig wie der Fund der Mineralien und Metalle, so berühmt zu werden. Nur deshalb kam ihnen eine Bedeutung zu, die weit davon entfernt ist, unvergänglich zu sein. Es ist somit nur natürlich, dass sich die vorhersehenden Blicke auf diesen Teil richten, auf das reichste und weitläufigste Gebiet Chiles.” 31 Die diesbezüglichen Artikel, die im Mai desselben Jahres veröffentlicht wur- den, als die Krise und die Revolution von 1859 stärker spürbar wurden, plädier- ten für eine sofortige Besetzung der Gebiete und beschworen deren Reichtum. Laut José Bengoa stand hinter diesem Standpunkt José Bunster, ein Investor aus Valparaíso, der in Mulchén und Angol Geschäfte machte, die durch die Haltung der Mapuche während der Revolution von 1859 schwer geschädigt worden wa- ren. 32 Abgesehen davon, wer tatsächlich hinter den Äußerungen im El Mercurio steckte, ist diese Meinung für das Klima der Zeit sehr bezeichnend. Für den Autor des Artikels waren zwei Aspekte relevant: die Bewohner und das Gebiet Araukanien. „100.000 Menschen” – schrieb der Autor am 11. Mai – „auf diese Zahl ist die zwischen der Süd- und der Nordgrenze lebende araukanische Bevölkerung angestiegen. Sie besetzen und dominieren 4.000 (spanische) Quadratmeilen, ein Gebiet, das sich von der Küste bis zu den Anden erstreckt. Diese Erstreckung ist nicht wenig und es gilt, sie nicht mit Desinteresse zu betrachten. Und so ist zu bemerken und zu tadeln, dass immer noch keine energischeren und 31 “El porvenir industrial de Chile se encuentra a no dudarlo, en la rejión del Sur, no teni- endo acia el Norte más que áridos desiertos que un accidente tan casual como el hallazgo de ricos minerales ha logrado hacer célebres, dándoles una importancia que dista mucho de ser imperecedera. Natural es, pues, que las miradas de la previsión se dirijan acia esa parte, la más rica y extensa del territorio chileno.” La conquista de Arauco, 24. Mai 1859. 32 Bengoa: Historia del pueblo mapuche, 1985. 154 156 Jorge Pinto Rodríguez wirksameren Mittel eingesetzt wurden um ihre Unterwerfung mithilfe eines raschen Einmar- sches zu erreichen […].“ 33 Es ist offenbar, dass die Regierung 1852 die Provinz Arauco gegründet hatte, um jenes Gebiet, in das die staatliche Souveränität nicht hineinreichte, besser kontrollieren zu können. Bereits der oben zitierte Bericht des Minister Varas von 1849 schlug vor, diese Gebiete mit Kolonisten zu besiedeln; dennoch war der Ton in den Artikeln des El Mercurio 1859 wesentlich drastischer als früher. Die Stimmung hatte sich verändert. El Mercurio selbst nahm sich der Aufgabe an, die neuen Umstände zu präzisieren: „Tatsächlich“ – hielt er am 24. Mai fest – „haben wir die Eroberung von Arauco immer als die Lösung eines großen Kolonialisierungsproblems betrachtet und darin einen Fortschritt für Chile gesehen. Wir erinnern uns, auch gerade deshalb festgestellt zu haben, dass weder Ar- beitskräfte noch Bevölkerung das sind, was das Land zu seiner Größe bedarf, sondern Territo- rien; und das ist zweifelsfrei eine der wichtigsten Phasen dieses schwerwiegenden nationalen Problems.” 34 Land war das, was Chile brauchte, vor allem in einem Moment der Krise, der die Machthaber dazu zwang, über jene Gegenden, die ein Tor zu neuen externen Märken öffnen könnten, nachzudenken. El Mercurio bekannte dies offen. “Wir haben schon die Getreidemärkte in Kalifornien und Australien verloren – konstatierte das Blatt am 10. Mai – aber es gäbe zweifelsfrei noch den großen Markt der argentinischen Provinzen, wenn wir es schaffen würden, die früheren Beziehungen zwischen den beiden Völkern wiederaufzubauen. Es ist bekannt, dass die Kommunikation mit der Provinz von Buenos Aires in der Zeit der Spanier nur 15 Tage benötigte. Die Andenkordillere auf der Seite von Arauco ist nicht so schwierig zu überqueren, wie es an den anderen Orten der Fall ist; wenn wir dieses Gebiet erwerben, würden wir damit einen sicheren Markt für unsere Produkte finden und hätten große Vorteile gegenüber den konkurrierenden Produkten aus den USA und Brasilien, die dort konsumiert werden.“ 35 33 “Cien mil personas más o menos a que asciende el número de araucanos entre las dos fronteras de Sur a Norte, y cuatro mil leguas cuadradas que dominan y ocupan en esta latitud y desde la costa del mar a la cordillera de los Andes, no es poca cosa para mirarlas con in- diferencia, y hasta se hace notable y reprensible el que no se hayan tomado medidas más enérgicas y eficaces para su reducción bajo una marcha más rápida [...].” “Los Araucanos”, El Mercurio, 11. Mai 1859. 34 “En efecto siempre hemos mirado la conquista de Arauco como la solución del gran problema de la colonización y del progreso de Chile, y recordamos haber dicho con tal motivo que ni brazos ni población es lo que el país necesita para su engrandecimiento, sino territorio; y esta es sin duda una de las fases más importante de esta grave cuestión nacional.” In: “La conquista de Arauco”, El Mercurio, 24. Mai 1859. 35 “Hemos perdido ya los mercados de California y Australia para nuestros cereales; pero tendríamos indudablemente otro abundante en las provincias arjentinas, si consiguiéramos establecer las relaciones que antes existían entre uno y otro pueblo. Es sabido que en los tiempos de los españoles, las comunicaciones con la provincia de Buenos Aires sólo tardaban 155 Land ohne Indigene 157 Die Revolution von 1859 verkomplizierte die Sachlage noch mehr. Angestif- tet von den beiden Konfliktparteien erreichten die Redeführer der Revolte, dass sich einige Mapuchegruppen loyal gegenüber der Regierung von Präsident Ma- nuel Mott zeigten und andere den General José María de la Cruz unterstützten. Die Dokumentation der Zeit nannte diese „ montistas ” und „ crucistas ”, je nach- dem welche Seite sie unterstützen. 36 Die Presse nutzte in diesen Jahren die politische Beteiligung aus, um das Ver- halten der Mapuche in diesem Konflikt hart zu verurteilen. Wieder nahm El Mercurio bei der Kampagne, das Land zu überzeugen, dass in Araukanien un- verzüglich gehandelt werden müsse, eine führende Rolle ein. Ein langer Kom- mentar über “ Los bárbaros de Arauco ” fasst einen Standpunkt zusammen, der sich als Beginn einer gegen die Mapuche gerichteten Bewegung begreifen lässt, auf die im Folgenden noch eingegangen wird. „Die Indigenen sind zurückgekehrt, um erneut in den Grenzgebieten zu plündern“, schrieb El Mercurio. „Die Provinz von Arauco wird wieder einmal von diesen Barbaren heimgesucht. Besorgnis und Unruhe haben sich in den Siedlungen des Südens ausgebreitet. Zu Beginn die- ses Monats begingen sie ihren ersten spontanen Überfall, bei dem sie ganze Familien friedli- cher Indigener hingerichtet haben, sie haben getötet und alles in Brand gesteckt. Jetzt ist der Moment gekommen, den Feldzug gegen diese hochmütige und blutrünstige Rasse ernsthaft in Angriff zu nehmen, deren bloße Anwesenheit in diesen Landstrichen eine pulsierende Gefahr, eine Lebensbedrohung für die Reichtümer der fruchtbaren Provinzen des Südens ist. Welche Familie könnte beruhigt sein oder sich vertrauensvoll ihrer Arbeit widmen, wenn an einem Tag, an dem man es am wenigsten erwartet, ein Mob von kriminellen Wilden vor der Tür steht, den gesamten Besitz anzündet und sie in einem Martyrium umkommen lässt, ohne die Frauen, die älteren Menschen oder die Kinder zu verschonen? Es ist unmöglich diesen Zu- stand länger beizubehalten, ohne die wesentlichsten Interessen der chilenischen Gesellschaft zu Tode zu verletzen, ohne die Gefühle der Nation zu ignorieren, ohne die Gemüter zu reizen und zu erzürnen.” 37 quince días, pues por el lado de Arauco la cordillera de los Andes no presenta las dificultades para atravesarla que encontramos en los demás puntos; así, pues, adquiriendo ese territorio encontraríamos un seguro mercado para nuestros productos, porque podríamos luchar con ventaja con los de los Estados Unidos y el Brasil, que allí se consumen.” In: “Los Arauca- nos”, El Mercurio, 10. Mai 1859. Carmen Norambuena betonte in einem Vortrag bei dem Seminario Sociedad Agraria y Sociedad Minera Chilenas en la Literatura y en la Historia (Universidad de Santiago, 1988), dass dieser Handel sich im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts stark intensivierte, und damit fast den Erwartungen der Artikel des El Mercurio aus Valparaíso entsprach . Zuvor hatte bereits Bengoa die Aufmerksamkeit auf diese Faktoren gelenkt. Vgl. Bengoa: Historia del pueblo mapuche, 1985, S. 179. 36 Das meiner Meinung nach beste Werk über die Auswirkungen der Revolution von 1859 in Araukanien ist das von Leiva: El primer avance a la Araucanía, 1984. 37 „Han vuelto otra vez los indios a comenzar sus depredaciones en los pueblos de la frontera. La provincia de Arauco es nuevamente amenazada por estos bárbaros y la inquietud 156 158 Jorge Pinto Rodríguez Es war der Beginn eines Diskurses, den wir antiindigenista nennen können, welcher in ganz Lateinamerika aufblühte und mit dem in Chile die Aggression gegen die Mapuche gerechtfertigt wurde. Angelehnt an den Positivismus waren die meisten Intellektuellen und Regierenden auf dem gesamten Kontinent uner- bittlich in ihrer Haltung gegenüber der indigenen Bevölkerung. Die National- staaten übten rücksichtslos ihre gesamte Macht über die indigenen Gemeinden, die noch überlebt hatten, aus. Wenn schon die Menschen des 16. und 17. Jahr- hunderts Unverständnis und Intoleranz gegenüber indigenen Gemeinschaften gezeigt hatten, so prägte diese Einstellung auch das 19. Jahrhundert. Ihr Ethno- zentrismus und ihre generelle Haltung, die teilweise bis zum Genozid führte, erreichten ein bislang nie dagewesenes Ausmaß. Der „Fortschritt“ schien mit der indigenen Welt unvereinbar. Besser gesagt, die Indigenen wurden als ein Hindernis für das Erreichen des Fortschritts darge- stellt. Also mussten sie eliminiert oder in Gebieten zusammengefasst werden, in denen sie als Bauern leben sollten, mit der Bereitschaft, sich in die globale Ge- sellschaft zu integrieren. Die Exklusion aus der Gesellschaft wurde somit zum Kernpunkt der Indigenen-Politik in fast allen Ländern des amerikanischen Kon- tinents. Chile war keine Ausnahme. Die Mapuche, die zu Beginn der Unabhän- gigkeitsbewegung als eine Art Aushängeschild für die chilenische Nation prä- sentiert worden waren und auf deren Werten sich die Nation angeblich gründete, wurden nun von einer politischen Klasse und intellektuellen Vertretern ausge- schlossen, denen sie unbequem geworden waren. Das Interesse an ihren Gebie- ten führte schließlich zu einer Hetzjagd, die ihr nacktes Überleben gefährdete. Als Grundlage benötigte man eine Rechtfertigung für die Besetzung ihrer Gebie- te und wählte dazu die Exklusion der Mapuche aus dem Nationalprojekt. So wurden sie als Wilde, als unverbesserliche Barbaren hingestellt, die es mit Ver- nunft oder Gewalt zu dezimieren galt. Das Chile, welches in der ersten Hälfte y la alarma se han estendido en las poblaciones del sur. Al principiar esta luna han dado su primer malón, habiendo sacrificado familias enteras de indios pacíficos, matando e incen- diando. Ya es llegado el momento de emprender seriamente la campaña contra esa raza so- berbia y sanguinaria, cuya sola presencia en esas campañas es una amenaza palpitante, una angustia para las riquezas de las ricas provincias del sur. ¿Qué familia puede estar tranquila ni entregarse con confianza a sus trabajos, si el día menos pensado una turba de malhechores salvajes llega a sus puertas, incendia sus propiedades y las hace perecer en el martirio, sin respetar a las mujeres, a los ancianos y a los niños? Un estado de cosa semejante es imposible que pueda permanecer por más tiempo sin herir de muerte los más caros intereses de la so- ciedad chilena, sin sublimar los sentimientos de la nación, sin irritar los ánimos y exasperar.” In dem Artikel “Los bárbaros de Arauco”, El Mercurio, 1. November 1860. 157 Land ohne Indigene 159 des 19. Jahrhunderts aus der indigenen Welt hervorging, verwandelte sich in ein Chile, das die Präsenz der Mapuche nicht mehr zuließ. In Chile könnte man die Ideologie der Besetzung und den antiindigenismo , der zeitgleich aufkam, in vier zentralen Konzepten zusammenfassen: 1) die nati- onale Souveränität musste unbedingt auf das indigene Gebiet ausgedehnt wer- den; 2) die Theorie einer unterlegenen Ethnie; 3) die Idee eines bedrohten und gedemütigten Landes und 4) die Theorie einer überlegenen Ethnie. Diese Punkte kennzeichneten das Verhältnis zwischen der Regierung und den Mapuche seit 1850 und trieben die Maßnahmen, die gegen sie ergriffen wurden, voran. Bezüglich des ersten Konzepts wurde von den Befürwortern der Besetzung Araukaniens hauptsächlich ein unterstützendes Argument vorgebracht, welches für sie von äußerster Dringlichkeit war: die Souveränität des Staates sollte im ganzen Territorium gefestigt werden. Man zielte darauf ab, ein Land zu „er- schaffen“, das komplett der Regierung untergeordnet war und die Gegend, die immer noch von den Mapuche verteidigt wurde, miteinschloss. Die Regierung, so hieß es in einem Artikel im El Mercurio 1856, müsse sich als wahrer Besitzer von Arauco konstituieren, des “schönsten und fruchtbarsten Teil unseres Landes, der von einer Horde Wilder bewohnt wird, die keinerlei Hemmungen besitzen, Akte der Barbarei und brutale Gewalt zu begehen, die wegen ihrer Straffreiheit die Autorität, welche die Regierung über sie haben sollte, null und nichtig machen.” 38 Wenn die Indigenen nicht heute unsere Souveränität anerkennen, wurde wei- ter argumentiert, könne morgen ein fremdes Volk in unser Land einfallen. 39 Die Artikelschreiber des El Mercurio , die ständig die Argumente vermischten, stell- ten das Problem wie folgt dar: 38 “parte más bella y fértil de nuestro territorio, habitada por hordas salvajes que no tienen reparo alguno en cometer actos de barbarie y brutal violencia, que por su impunidad hacen ilusoria y nula la autoridad que el gobierno pueda tener sobre ellos.” In: El Mercurio, Comu- nicado de Arauco, 30. Januar 1856. Im Laufe dieses Artikels haben und werden wir uns auf die vom El Mercurio von Valparaíso übermittelten Meinungen beziehen. Genau genommen hatte die Tageszeitung nur jene Meinungen aufgenommen, die wir transkribiert haben, ohne diese als eigene auszugeben. Verschiedene Chroniken, die wir wiedergeben werden, waren sogar Notizen, die Mitwirkende von der Grenze geschickt hatten. Um der Tagezeitung aus Valparaíso gerecht zu werden muss gesagt werden, dass El Mercurio auch Kommentare ver- öffentlichte, die den Mapuche wohlgesonnen waren und die Vorschläge der Befürworter der gewaltsamen Besetzung scharf verurteilten. 39 “La Campaña de Arauco”, El Mercurio, Valparaíso, 27. August 1859. Leiva weist darauf hin, dass die Bedenken von einigen Menschen in dieser Zeit stark geprägt schienen von der Anwesenheit des französischen Abenteurers Orelie Anoine, der sich selbst zum König Arau- kaniens ernannte. Leiva: El primer avance a la Araucanía, 1984. 158 160 Jorge Pinto Rodríguez “Es handelt sich nicht um den Erwerb eines unbedeutenden Teiles des Landes, denn es fehlt Chile nicht an Land; es handelt sich auch nicht um die nominelle Souveränität über eine Hor- de Barbaren, denn diese hatte man schon immer zu erreichen versucht: es geht darum, die beiden getrennten Teile unserer Republik zu einer festverbundenen Gesamtheit zusammenzu- setzen; es geht um die Erschließung einer unerschöpflichen Quelle neuer Ressourcen im Be- reich der Landwirtschaft und des Bergbaus; um neue Wege für den Handel auf schiffbaren Flüssen und leicht begehbaren Übergängen über die Andenkordillere [...] schlussendlich geht es hierbei um einen Sieg der Zivilisation über die Barbarei, der Humanität über die Bestiali- tät.” 40 Die Idee der Besetzung Araukaniens stützte sich auch auf die Überzeugung, dass die Mapuche eine Horde Wilder waren. Sie wurden als niedere „Rasse“ eingestuft, die nicht in der Lage sei, ihre Bräuche an die neue Zeit anzupassen und gegen die es legitim war, mit einem militärischen Feldzug anzugehen. Ge- nau wie der oben zitierte Artikel zu verstehen gab, betrachtete man den Kampf gegen die Mapuche als einen Kreuzzug der Zivilisation gegen die Barbarei, der Menschlichkeit gegen die Bestialität. Darauf zu warten, dass die Araukaner sich selbst zivilisieren, so El Mercurio 1858, sei verlorene Zeit. Der Indio sei, laut El Mercurio im Jahr 1859, völlig unzivilisiert, denn “die Natur investierte alles in die Entwicklung seines Körpers, während seine Intelligenz auf der Stufe eines Raubtieres geblieben war, dessen Fähigkeiten er zwar in hohem Maße besitzt, aber noch nie die Spur eines moralischen Empfinden hatte.” 41 So wurden die Mapuche als Raubtiere dargestellt, als eine Horde Wilder, die zum Wohl der Menschheit verschwinden müsse. Die Sprache der Autoren des El Mercurio erreichte eine schier unglaubliche Bösartigkeit. „Die Menschen“ – so ein Artikel von 1859 – „wurden nicht geboren um unnütz und gleich den wilden Tiere zu leben, ohne einen Nutzen aus der Gattung des Menschen zu ziehen. Eine Ansammlung von Barbaren, die so barbarisch sind wie die Pampavölker oder die Araukaner, 40 “No se trata sólo de la adquisición de algún retazo insignificante de terreno, pues no le faltan terrenos a Chile; no se trata de la soberanía nominal sobre una horda de bárbaros, pues esta siempre se ha pretendido tener: se trata de formar de las dos partes separadas de nuestra República un complejo ligado; se trata de abrir un manantial inagotable de nuevos recursos en agricultura y minería; nuevos caminos para el comercio en ríos navegables y pasos fácilmente accesibles sobre las cordilleras de los Andes [...] en fin, se trata del triunfo de la civilización sobre la barbarie, de la humanidad sobre la bestialidad” In: “Valdivia. Correspondencia de El Mercurio. Una cuestión de primera importancia.”, El Mercurio, 5. Juli 1859. 41 “todo lo ha gastado la naturaleza en desarrollar su cuerpo, mientras que su inteligencia ha quedado a la par de los animales de rapiña, cuyas cualidades posee en alto grado, no habi- endo tenido jamás una emoción moral.” In: “La Conquista de Arauco”, El Mercurio, 24. Mai 1859. 159 Land ohne Indigene 161 ist nicht mehr als eine Horde Raubtiere, die im Interesse der Menschheit und zum Wohl der Zivilisation dringend angekettet oder zerstört werden muss.” 42 Dagegen wurde der Gedanke des bedrängten und gekränkten Landes anders dargestellt. Nach den mühseligen Debatten der Verfassungsgeber und Intellek- tuellen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezüglich des Territoriums und dessen Bewohner, dachten nicht wenige Menschen in der zweiten Hälfte 19. Jahrhunderts, dass Chile aus zwei Teilen bestehen würde: den einen Teil besie- delten friedliche und arbeitsame Menschen; in dem anderen bewohnten Bestien einen Wald, in dem lediglich Wildheit und Grausamkeit ihren Platz hatten. Dies war die ewige Dichotomie zwischen Zivilisation und Barbarei. Der Kampf zwi- schen den beiden wurde als eine historische Konstante charakterisiert, bei der die Chilenen die Zivilisation repräsentierten und die Mapuche das Synonym für die Barbarei waren. Es wurde gleich einem Aufeinandertreffen von Gut und Bö- se, von Tugend und Laster, von Wissen und Ignoranz geschildert. Wenn Chile sich für ein Handeln gegen die Mapuche entschließen würde, könne es sich auf dem einzig möglichen Weg in die universelle Geschichte einfügen: die Anwen- dung von Gewalt, um die Grenzen der Zivilisation zu erweitern. Damit wurde eine Rechtfertigung gefunden und das Gewissen derjenigen, die eine Ausrottung der Mapuche vorschlugen, beruhigt. Aus dieser Überzeugung resultierte eine weitere: die in den Wäldern lebenden Bestien bedrängten und schmähten die friedlichen Siedler der zivilisierten Welt. Die armen Opfer waren die Chilenen und die Mapuche galten als die Täter. Dies war das wahrscheinlich am häufigsten genutzte Argument der Befürworter einer Besetzung Araukaniens und der Anwendung von Gewalt gegen die Indigenen. Bereits 1855 waren die aus dem Süden kommenden Nachrichten alarmierend, so meinten zumindest die Befürworter eines Einfalls in Araukanien. „Die Be- drohung der Wilden“, war der Titel eines Artikels im El Mercurio vom 14. Ja- nuar, der über die Furcht der benachbarten Siedler vor einer Attacke der Indios berichtete. Im darauffolgenden Jahr schilderte El Mercurio erneut die Angst der Bewohner von Valdivia vor einem Überfall der Indigenen aus der nördlichen 42 “Los hombres no nacieron para vivir inútilmente y como los animales selváticos, sin provecho del jénero humano y una asociación de bárbaros, tan bárbaros como los pampas o como los araucanos, no es más que una horda de fieras que es urjente encadenar o destruir en el interés de la humanidad y en bien de la civilización.” In: “La civilización y la barbarie”, El Mercurio, 25. Juni 1859. Es ist offensichtlich, dass dieser Artikel durch Facundo von Domin- go Faustino Sarmiento inspiriert wurde, der im Großteil Chiles bekannt war. Hierbei soll dar- an erinnert werden, dass Sarmiento die Publikation seines Werkes 1845 in der Tageszeitung El Progreso von Santiago begonnen hatte. 160 162 Jorge Pinto Rodríguez Araukania, „die bösartigsten der Araukaner“. 43 Die Indigenen bedrängten Chile. In den Jahren 1857 und 1858 bemühte sich El Mercurio diese Vorstellung auf- recht zu erhalten und 1859 griff das Blatt aufgrund des indigenen Aufstandes, der die Revolution begleitete, mit aller Macht die Mapuche weiter an. „Die Bar- baren überfallen uns“ titelte ein Kommentar vom 30. November 1859, der von den Übergriffen berichtete. Wie die Zeitung schon früher behauptete, wäre ein Vorgehen gegen die Mapuche ein legitimer Gebrauch des Rechtes auf Selbstver- teidigung, des Rechtes auf den eigenen Erhalt, ein Recht, das dem Leben eines Menschen genau wie der Existenz eines Volkes zustehe. 44 Gegen diese Bedro- hung müssten energische Maßnahmen ergriffen werden, erklärte ein weiterer Autor und verlangte, um himmlischen Beistand flehend, die sofortige Bestra- fung der Barbaren, die im Süden Angst und Schrecken verbreiteten. 45 „Es ist ei- ne Schande für Chile“, wurde an anderer Stelle bemerkt, „dass es bis zu einem gewissen Punkt diesen unbezähmbaren Horden ausgeliefert ist, die uns mit ihrer Barbarei bedrohen und die Siedlungen an der Grenze in Schach halten.” 46 „Und wie wird die Republik auf die wiederholten Beleidigungen antworten, deren Opfer die wehrlosen Siedlungen des Südens sind?“ – wurde 1860 geschrieben. „Wie wird sie die Mör- der behandeln, die sich am Leben unserer Brüder nähren, um ihre bestialischen Instinkte wie die Wilden zu befriedigen? Wie behandelt sie diese Diebe, die sich des Eigentums der chile- nischen Bürger bemächtigen? Und wie diejenigen, die in einer Hand die Lanze tragen um zu töten und in der anderen die brandstiftende Fackel um die christlichen Häuser anzuzünden? Sollten wir ihnen ein Gehalt oder eine Belohnung anbieten, wie wir es bislang gemacht ha- ben? Sollte sich die Flagge der Republik unterwürfig vor dem ungezähmten Werk eines dummen und grausamen Aggressors niederwerfen? Sollten wir sie um Erbarmen anflehen und die Gnade, uns nicht zu töten? Sollten wir sie um Verzeihung für ihre Demütigungen bitten und ihnen damit eine Genugtuung für ihre Gewaltakte geben? Und wir, obwohl wir die Mög- lichkeiten haben, sollen diejenigen sein, die unter ihren Demütigungen leiden werden.” 47 43 “Valdivia. Correspondencia de El Mercurio. Memoria sobre las necesidades de más ur- jente remedio i medidas que convienen a la provincia de Valdivia”, El Mercurio, 30. Oktober 1856. 44 “Los Araucanos”, El Mercurio, 7. Juni 1859. 45 “Concepción. Correspondencia de El Mercurio”, El Mercurio, 15. Dezember 1859. 46 “Es una vergüenza para Chile que permanezca hasta cierto punto tributario de estas hor- das indómitas que nos amenazan con su barbarie y que tiene en constante jaque a las pobla- ciones fronterizas.” In: “Los Araucanos”, El Mercurio, 10. Mai 1859. 47 “¿Y cómo responderá la República a los repetidos ultrajes de que son víctimas los inde- fensos pueblos del sur? ¿Cómo tratará a los asesinos que se ceban con la vida de nuestros hermanos, satisfaciendo sus instintos feroces como salvajes? ¿Cómo a esos ladrones que se apoderan de las propiedades de ciudadanos chilenos? ¿Cómo, en fin, a aquellos que llevan en una mano la lanza para matar y en la otra la antorcha incendiaria para destruir las habitaciones cristianas? ¿Iremos a ofrecerles paga y recompensas, como lo hemos hecho hasta aquí? ¿Irá la 161 Land ohne Indigene 163 „Nein!“, fügte der Schreiber des Artikels weiter unten hinzu, die Geduld habe ihre Grenzen und könne im Übermaß nur in Schwäche und Erniedrigung ausar- ten. Und dazu, schrieb er, brächten uns diese Wilden, die aus unserer Souveräni- tät eine Farce gemacht haben, ungeachtet der „offensichtlichen Überlegenheit der Weißen“, die stets das ultimative Argument der antiindigenistas darstellte. Der Blick richtete sich daraufhin nach Europa. “Europa“, so ein Mitwirkender des El Ferrocarril 1858, „mit dieser übermäßigen Bevölke- rung, scheint derzeit darauf abzuzielen, die menschliche Spezies mit einer kontinuierlichen Auswanderung regenerieren zu wollen. Diese zwingt ihre Söhne dazu, sich auf dem gesamten Erdball zu verbreiten, um ein weniger unsicheres Leben zu suchen. [...] Jeder der acht Staaten Amerikas [sic], der diesen Auswanderern entgegenkommt und ihnen eine schützende Hand reicht, ihnen den Transport in diese Gegenden erleichtert, wird dafür die höchste Entschädi- gung an moralischen Werten und an unmittelbarem Wachstum seiner Reichtümer und seiner Stärken erhalten; er wird mehr finden noch als das Geheimnis des wundervollen materiellen Wohlstandes der USA.” 48 bandera de la República a prosternarse sumisa ante la planta indómita de un estúpido y cruel agresor? ¿Iremos a decirles que tengan compasión de nosotros, y que por caridad no nos maten? ¿Les pediremos perdón por sus ultrajes, dándoles una satisfacción por sus tropelías? Y nosotros que tenemos la fuerza, seremos los que sufriremos la humillación.” In: “Los Arauca- nos”, El Mercurio, 29. Juli 1860. 48 “La Europa, con una población superabundante, parece al presente destinada a rejenerar la especie humana por una continua emigración que obliga a sus hijos a esparcirse por todo el globo en busca de una posición menos precaria [...] Cualquiera de los 8 estados de América que vaya a su encuentro, que les tienda una mano protectora, que les facilite el transporte a estas rejiones, recibirá la más amplia indemnización en bienes morales, y en el desarrollo in- mediato de su riqueza y de su fuerza; encontrará algo más que el secreto de la maravillosa prosperidad material de los Estados Unidos.” In: “Observaciones a los escritos de Mr. Cour- celle Senuil El Ferrocarril”, 20. Januar 1858. 162 164 Jorge Pinto Rodríguez Abb. 3: Plano de Arauco y Validivia con la designación de la antigua i nueva línea de frontera contra los indios (1870). Quelle: Sala Medina. Biblioteca Naci- onal de Chile. 163 Land ohne Indigene 165 Diese Punkte waren der erste Schritt zu einer noch radikaleren Auffassung, die den antiindigenismo dieser Epoche noch verstärkte: die Idee einer angebli- chen Überlegenheit der Weißen. 49 Als anderes Extrem wurde also dem unbe- zähmbaren Araukaner, barbarisch und wild, dessen Gehirn die Entwicklungsstu- fe eines Raubtieres besaß, der europäische Immigrant gegenüber gestellt, der die Indigenen nicht nur zivilisieren könne, sondern auch den Fortschritt für all die Landesbewohner mit sich bringen würde, die der Barbarei so nahe waren, wie der Indigene selbst. Die Indigenen seien nicht so mutig wie man annähme, be- hauptete ein Berichterstatter aus Valdivia in einer Ausgabe des El Mercurio von 1859. Außerdem treffe man auf Personen ohne Waffen und Disziplin, “und bei einem Widerstand wäre es keine große Sache, ihnen eine wohlverdiente Lektion zu erteilen und sie die Überlegenheit der weißen Rasse spüren zu lassen.50 „Schluss mit der Zurückhaltung“, forderte einige Jahre später Benjamín Vicuña Mackenna, Historiker, Parlamentarier und einflussreiche Persönlichkeit in der nationalen Politik, „hier müssen die Dinge beim Namen genannt werden. Und das einzige Wort das zu Araukanien passt, ist Eroberung [ conquista ].“ 51 Der europäische Ethnozentrismus, der sich bereits früh im 16. Jahrhundert äußerte und die indigene Welt diskriminierte und negierte, blühte in der Mitte des 19. Jahrhunderts erneut auf. Als sich die Regierung entschied, Araukanien zu besetzen, ermutigte sie damit zur selben eskapistischen, realitätsverleugnen- den Haltung, die wir Chilenen jedes Mal angenommen haben, wenn wir in einen Spiegel schauen und unsere indigenen und mestizischen Gesichtszüge sehen, die so schwierig zu verleugnen sind. Mit einem gewissen Stolz und die Meinung 49 Diese Ansichten beinhalteten Ideen, die A. de Gobineau in seinem Essay Essai sur la inégalité des races humaines vorstellt, der in Paris zwischen 1853 und 1855 publiziert wurde. De Gobineau war überzeugt davon, dass die weiße Rasse, mit Vorliebe die arische, die über- legene war und dass die mestizaje die Rassen verschlechtert. Deshalb glaubte er, dass Süd- amerika degeneriert war und es kein Heilmittel gegen seinen Niedergang gab. Zu diesem Punkt vgl. María Martínez Blanco: Identidad cultural de Hispanoamérica. Madrid 1988. 50 „y, en caso de resistencia no será gran cosa darles una lección bien merecida y‚ hacerles sentir la superioridad de la raza blanca .” “Valdivia. Correspondencia del Mercurio. Los Araucanos”, El Mercurio, 5. Juli 1859, Hervorhebungen vom Autor. Die Bewunderung für die Europäer ließ sich im vergangenen Jahrhundert in fast allen Ländern Amerikas feststellen. In Argentinien positionierte Esteban Echeverría die europäische Intelligenz auf dem höchsten Niveau, das die Menschheit erreichen konnte. Juan Bautista Alberdi assoziierte den Fort- schritt mit allem, was aus Europa kam. Vgl. Esteban Echeverría: Dogma socialista. Buenos Aires 1915 und Juan Bautista Alberdi: Bases y puntos de partida para la organización política de la república de Argentina. Barcelona 1914. 51 Segundo discurso, 11. August 1868. In: Vicuña Mackenna: Discursos Parlamentarios. In: Obras Completas, Band XII. Santiago 1939, S. 413-415. 164 166 Jorge Pinto Rodríguez vieler Menschen des 19. Jahrhunderts erfassend, wies Vicente Pérez Rosales darauf hin, dass unsere oberste Tugend darin bestehe, dass wir der ‘Alten Welt’, dem alten Europa, ähnlich seien; Chile sei ein „tatsächliches Bruchstück Euro- pas, das 4.000 (spanische) Meilen entfernt in die andere Hemisphäre transplan- tiert worden war“. 52 Die Leidtragenden dieser Sichtweise waren die Mapuche des Grenzgebiets. STIMMEN DER ANDERS DENKENDEN Einige Grundstücksbesitzer im Grenzgebiet bejubelten die Entscheidung der Regierung unter Präsident José Joaquín Pérez, den Indigenen den Krieg zu er- klären, um die in der Revolution verlorenen Gebiete zurückzugewinnen. Diese Ambitionen klagte Pedro Ruiz Aldea in der Zeitung La Tarántula an . 53 Bei die- sen Ländereien handelte es sich, nebenbei bemerkt, um frühere Gebiete der Ma- puche, die nationale Siedler besetzt hatten, und welche die indigene Bevölke- rung 1859 versuchte zurückzubekommen. Pedro Ruiz Aldea drückte dies un- missverständlich aus: “Der Aufstand von 1859 im Grenzgebiet“ – schrieb er einige Jahre später – „war weder ein Akt der Rebellion der Ureinwohner gegen die Autoritäten, noch ein gescheiterter Raubver- such an wehrlosen Siedlungen, sondern der Schmerzensschrei einer Rasse, die in ihrem teu- ersten Gut verwundet wurde und die das Opfer einer widerrechtlichen Aneignung ihrer Hei- mat wurde.” 54 Einige Studenten der Universität machten ebenfalls darauf aufmerksam, dass die Gewaltanwendung zur Besetzung der indigenen Gebiete völlig unangemes- 52 Zitiert nach Javier Pinedo: Visión de Chile en Vicente Pérez Rosales. In: Mario Berríos (u.a.): El pensamiento en Chile, 1830-1910, Santiago 1987, S. 68. Obwohl Pérez Rosales eine Idee vermittelt, die im Chile des 19. Jahrhunderts weitläufig verbreitet war, ist es dennoch interessant darauf hinzuweisen, dass sich zu Beginn dieses Jahrhunderts einige Blicke gen Osten wandten. Der Autor verweist in seinem Artikel, der in Cartas Pehuenches 1819 publi- ziert wurde, darauf hin, dass wir in Chile auf jene Nationen blicken müssen, die Großes er- reicht haben, wie die Inkas und China. Wenngleich wir weder Indios noch Chinesen sein wol- len, fügte er hinzu, könnten wir dennoch einige Bräuche von ihnen übernehmen. Siebtes Schreiben. In: Colección de Antiguos Periódicos Chilenos, Band XIII. Santiago 1954-1966, S. 46. 53 “La Frontera”, La Tarántula, 16. April 1862. Zitiert nach Leiva: El primer avance a la Araucanía, 1984, S. 97. 54 “El levantamiento de la frontera en 1859, no fue un acto de rebelión de los naturales con- tra las autoridades, ni un conato de robo en poblaciones indefensas, sino el grito de dolor de una raza herida en sus más caras afecciones, víctima de la usurpación de su patrimonio.” In: Pedro Ruiz Aldea:La política de Arauco. 1867. Zitiert nach Bengoa:Historia del pueblo ma- puche, 1985, S. 169. 165 Land ohne Indigene 167 sen sei; andere, wie der Schriftsteller Aquinas Ried, rechtfertigten den Wider- stand der Mapuche gegen die Absichten der Regierung, in deren Gebiete einzu- fallen. In Chile, so Ried, gäbe es nur 1,5 Millionen Einwohner, obwohl 10 Mil- lionen dort leben könnten. Warum also müsse Arauco erobert werden? Weiter fügte er hinzu, dass das auf die chilenischen Münzen geprägte „durch Vernunft oder Gewalt“ ( por la razon o la fuerza ), auf die Fundamente der Unabhängigkeit anspiele. Hat nicht der Araukaner dieselben Rechte, sich auf dieses Prinzip zu berufen, um seine Freiheit zu verteidigen? 55 Bei den unausweichlichen Konflik- ten zwischen Zivilisation und der Barbarei, schloss er, „dass die Vernunft in der Vorhut marschieren und der Gewalt einen Platz in der Reserve zuweisen sollte, die nur zu Selbstverteidigungszwecken zum Einsatz kommt.” 56 Schließlich wa- ren es aber die Redakteure der Revista Católica , einem offiziellen Organ der Kirche, die am lautesten ihre Stimme zur Verteidigung der Mapuche erhoben. Die Revista Católica wandte sich hartnäckig gegen die Anwendung von Ge- walt. Der chilenische Bürger unterstütze die Idee, die Araukaner zu zivilisieren, er wäre aber niemals damit einverstanden, ihnen ihre Unabhängigkeit als Preis für die ihnen angebotene Zivilisation zu entreißen. Die Zeitung klagte den Mer- curio an, dass er eine Zivilisation der Grausamkeiten und Plünderung verkünde- te, hinter der sich eine Habgier verberge, die auch dazu diente, die Eroberungen in Asien, Afrika, Amerika und Ozeanien zu rechtfertigen und blutige Spuren und leichenübersäte Felder zu hinterlassen. Wenn man die Seiten des Mercurio läse, so ein Autor der Revista Católica , “in denen unsere Regierung um die Ausrottung der Araukaner gebeten wird, nur aufgrund der Barbarei ihrer Bewohner und der Zweckmäßigkeit der Aneignung ihres fruchtbaren Lan- des, so pocht unser Herz vor Empörung bei der Vorstellung, dass sich Namen der Zivilisation ein See aus dem Blut der araukanischen Helden bilden soll. Dies ist ein bitterer Sarkasmus unseres Jahrhunderts, es ist eine Beleidigung für den Ruhm Chiles; es ist das exhumierte Hei- dentum, das aus seinem dunklen Grab seine Unheil verkündende Stimme erhebt, um dem ar- men und vom Schicksal gebeutelten Wilden das Recht zum Atmen zu verbieten, nur weil die- 55 Bengoa: Historia del pueblo mapuche, 1985, S. 257. 56 „la razón debe marchar a la vanguardia, asignándose a la fuerza un lugar en la reserva, puramente para los casos de defensa propia” In: “La Conquista de Arauco”, El Mercurio, 26. März 1860. Aquinas Ried vertrat die Meinung, dass das Leitmotiv "por la razón o la fuerza", das auf unseren Münzen neben dem Nationalwappen zu sehen ist, auch die Devise eines Stra- ßenräubers sein könne, wenn es nicht neben einem Symbol zu finden wäre, das zeigt wie sich die Chilenen von den Ketten der spanischen Krone befreiten. 166 168 Jorge Pinto Rodríguez ser noch nicht seine aufrechte Haltung aufgeben hat, um sich dem Joch der Zivilisation zu unterwerfen.” 57 Genau wie El Mercurio die Araukaner anklagte, Chile zu beleidigen und zu demütigen, machte die Revista Católica der Tageszeitung von Valparaíso den- selben Vorwurf. “Die Ideen des Mercurio,“ – wurde an anderer Stelle gesagt – „können nur in durch Habgier verblendeten Seelen auf wohlgesonnene Zustimmung stoßen. Diese haben sich wohl trauri- gerweise von den ewigen Prinzipen der Gerechtigkeit, des Guten und des Ehrbaren verab- schiedet; sie können nur Zuflucht suchen in kalten, blutrünstigen und grausamen Herzen, die nur vor Freude schlagen, wenn sie die letzten Zuckungen eines Opfer sehen.” 58 Deshalb seien dies „Beleidigungen der Vernunft, der Würde des Menschen und der nationalen Ehre, und außerdem eine inakzeptable Haltung“. Die Autoren des El Mercurio , so die Revista Católica , seien Befürworter der Besetzung Araukaniens aufgrund ihres Interesses an den Ländereien. Ihre Haltung stützten sie auf ein Argument, das sie wiederholt vorbrächten: das von den Mapuche be- setzte Gebiet sei chilenisch, aber die Mapuche selbst seien es nicht. Die Indige- nen bildeten eine andere Nation, die sich von der Chiles, die den Weg des Fort- schritts beschreite, unterscheide. Deshalb scheine nichts richtiger, als das Gebiet gewaltsam zu besetzen, vor allem da die Geschichte gezeigt habe, dass friedli- che Mittel nicht den gewünschten Erfolg brächten. Die Redakteure der Revista Católica gingen hingegen von anderen Prämissen aus. Erstens gestanden sie den Araukanern das Eigentum ihres Landes zu und zweitens schrieben sie denjeni- gen, die sich selbst zivilisiert nannten, eine enorme Verantwortung in der Füh- rung der Indigenen zu. Aus diesem Blickwinkel heraus war die Eroberung un- gerecht und ein Angriff auf die obersten Prinzipien, die über der Zweckmäßig- keit stünden, welche häufig nur aus der Habgier rühre. 59 57 "en que se pide a nuestro gobierno el exterminio de los araucanos, sin más razón que la barbarie de sus habitantes i la conveniencia de apoderarnos de su rico territorio, nuestro corazón latía indignado al presentarse a nuestra imajinación un lago de sangre de los héroes araucanos, i que anhela revolcarse en ella en nombre de la civilización, es un amargo sar- casmo en el siglo en que vivimos, es un insulto a las glorias de Chile; es el paganismo exhu- mado de su oscura tumba que levanta su voz fatídica negando el derecho de respirar al pobre i desgraciado salvaje que no ha inclinado todavía su altiva serviz para recibir el yugo de la civi- lización.” In: Independencia de Arauco. Santiago, 4. Juni 1859, S. 89-92. 58 "Las ideas del Mercurio, sólo pueden hallar favorable acojida en almas ofuscadas por la codicia, i que han dado un triste adiós a los principios eternos de lo justo, de lo bueno, de lo honesto; sólo pueden refugiarse en los corazones fríos, sanguinarios, crueles, que palpitan de alegría cuando presencian las últimas convulsiones de una víctima." Ebenda, S. 91. 59 “Los Araucanos, II”, Revista Católica Nr. 590, 18. Juni 1859. 167 Land ohne Indigene 169 Lasst uns nicht heidnisch sein, wurde auf ihren Seiten verbreitet, und nur der Zweckmäßigkeit wegen eine Besetzung befürworten, darüber aber die Gerech- tigkeit missachten; “Lasst uns weder Sozialisten noch Kommunisten sein, lasst uns nicht den Barbaren zivilisieren, indem wir damit beginnen, ihm das zu rau- ben, was er sich rechtmäßig angeeignet hat.” 60 Mit Waffengewalt zu zivilisieren wäre völlig unangebracht und es sei ein verachtenswertes Schauspiel, die Zivili- sation an den Spitzen der Bajonette zu führen. “Der zivilisierte Mensch stellt sich mit dem Schwer in der Hand dem Wilden gegenüber und sagt ihm: ich muss dich zum Teilhaber am Gefallen an der Zivilisation machen; ich muss dir deine Unwissenheit veranschaulichen und obwohl du nicht verstehst, was die Vorteile von dem sind, was ich dir verschaffe, solltest du begreifen, das einer davon ist, die Unabhängig- keit deines Heimatlandes zu verlieren; aber, trotz allem, entscheide zwischen den beiden Al- ternativen: entweder ich zivilisiere dich, oder ich töte dich. Dies ist, auf den Punkt gebracht, die Zivilisation durch Waffengewalt.” 61 Dieselben Argumente wurden in La Tarántula aufgegriffen, einer regionalen Tageszeitung, die in Concepción und dem Grenzgebiet verbreitet war. 1862 schrieb sie, dass das, “was im Grenzbiet passiert, kein Werk des Fortschrittes oder der Gerechtigkeit ist; es ist ein niederträchtiges Verbrechen der Zivilisati- on, das wir gegen uns selbst begehen.” 62 Auch in der Cámara de Diputados ließen sich Stimmen des Protestes gegen die Vorgehensweisen in Araukanien vernehmen. Manuel Antonio Matta, Angel Custodio Gallo, José Victorino Lastarria und Justo Arteaga Alemparte widerleg- ten dort nicht nur die Argumente, die für die Eroberung Araukaniens sprachen, sondern warnten auch vor den Schäden, die durch diese verursacht werden könnten. „Was mich daran erschreckt“, so Matta 1868, „ist die Missachtung von Gerechtigkeit, die einen dunklen Schatten auf die Besetzung der indigenen Ge- biete wirft.“ Ein Vorhaben dieser Art „führe zu keinem anderen Resultat als der Ausrottung oder der Flucht der Araukaner; denn wenn wir sie überall verfolgen 60 „no seamos socialistas ni comunistas, ni civilicemos al bárbaro comenzando por despo- jarle de lo que justamente tiene adquirido.” “Los Araucanos I”, Revista Católica Nr. 588. 61 "El hombre civilizado se presenta al salvaje con espada en mano i le dice: yo te debo ha- cer partícipe de los favores de la civilización; debo ilustrar tu ignorancia, i aunque no com- prendas cuales son las ventajas que te vengo a proporcionar, ten entendido que una de ellas es perder la independencia de tu patria; pero, con todo, elije entre esta disyuntiva: o te civilizo, o te mato. Tal es en buenos términos la civilización a mano armada." In:“Los Araucanos I”, Revista Católica Nr. 588. 62 “lo que ocurre en la Frontera no es obra de progreso y justicia; es un crimen nefando de lesa civilización que cometemos contra nosotros mismos.” Isidoro Errázuriz: “Nuestra política en la Frontera”, La Tarántula Nr. 72, 13. Dezember 1862. 168 170 Jorge Pinto Rodríguez würden, bliebe ihnen keine andere Möglichkeit als unserer Überzahl an Waffen und Kriegern zum Opfer zu fallen.” 63 Nicht sie wären dann die Barbaren, schlussfolgerte Matta, sondern wir. 64 Zwei Jahre später sprach sich der Abge- ordnete José Manuel Balmaceda erneut gegen die kriegerischen Aktionen im Grenzgebiet aus. Für ihn handelte es sich dabei um einen “demoralisierenden Krieg”, der eine Kolonialisierungspolitik hintansetzte, die „in diese Gegenden die Industrie, den Handel und alles weitere bringen würde, das den Reichtum der Provinz Arauco selbst und den der gesamten Republik ausmachen könnte.” 65 DER PROTEST DER MAPUCHE Seit Beginn der Besetzung Araukaniens bekundeten die Mapuche ihre Sorge angesichts der Entwicklungen. Der Missionar des Franziskanerordens Victorino Palavicino berichtete, dass einige Indigene, die 1850 an einer Junta in Purén teilnahmen, um über diese Dinge zu diskutieren, in Gelächter ausbrachen und meinten “Was haben die huincas [die Weißen] mit uns zu tun? Sie sollen sich selbst regieren, wie sie wollen; wir werden machen, was uns angemessen er- scheint.” 66 1862, einige Jahre später, nach der Gründung von Angol, wurde die Hetze durch die direkten Interventionen des Staates und des Militärs offiziell. Die Indigenen waren sich der Geschehnisse bewusst. Der Mercurio selbst veröffentlichte die Schreiben einiger Kaziken, die uns ihre Äußerungen erhalten haben. Eines der bezeichnendsten Schreiben war das von Mañil an den Präsiden- ten Manuel Montt vom 21. September 1860. Darin bezog er sich auf den Auf- stand von 1851 und ging auf die Gründe ein, die dazu geführt hatten. Bevor es veröffentlicht wurde, bereitete El Mercurio seine Leser darauf vor: in diesem Bericht gäben die Indigenen „auf ihre barbarische Art und Weise“ ihre Sicht der 63 “no traerá otro resultado que el exterminio o la fuga de los araucanos; porque per- siguiéndolos por todas partes no tendrán más que perecer víctimas de la superioridad de nues- tras armas i número” 64 Cámara de Diputados, Actas de Sesiones de 1868, S. 555. 65 “que llevaría a aquel territorio la industria, el comercio y todo lo que puede constituir la riqueza particular de la provincia de Arauco y la riqueza general de la República” Wort- meldung von Balmaceda im Abgeordnetenhaus, 23. August 1870. In: Discursos de José Manuel Balmaceda. Gesammelt von Rafael Sagredo und Eduardo Devés, Band I, Santiago 1991, S. 31. 66 “¿qué tienen que ver los huincas con nosotros? Que se gobiernen ellos como quieran, nosotros haremos lo que nos convenga.” In: Victorino Palavicino: Memoria sobre la Arau- canía por un misionero del Colegio de Chillán. Santiago 1860, S. 31. Als ‚huinka’ bezeichnen die Mapuche Personen, die nicht zu ihrem Volk gehören, oder als Feinde angesehen werden. 169 Land ohne Indigene 171 Dinge bekannt. Man habe davon abgesehen, erklärte das Tageblatt, die falschen Behauptungen Mañils zu streichen, da sie dem Schreiben eine gewisse Färbung verliehen. 67 „Als wir von der Revolution von 1851 erfuhren“, schrieb Mañil dem Präsi- denten, „und von dem Krieg den sie mit dir führten, stimmten wir Mapuche alle überein, dass wir unseren Vorteil aus dieser Situation ziehen könnten‚ indem wir die Christen, die all unser Land am diesseitigen Ufer des Bío Bío Flusses ge- stohlen hatten, hinauswerfen, ohne auch nur einen einzigen umzubringen”. 68 Der Intendente Saavedra, fuhr Mañil fort, „wurde wütend darüber und ordnete an, dass sich Truppen bereitmachen sollten, um zu rauben und zu töten. Diese wur- den angeführt vom ‘Tiger’ González, eine andere Truppe von Nicolas Pérez, eine von Salazar und eine weitere von Mansor.“ 69 Nach einer gewissen Zeit, schrieb Mañil, wurde Frieden geschlossen. Die eine oder andere Truppe hörte mit den Überfällen und dem Raub auf; aber die Gefangennahme und Hinrich- tung eines Indigenen, einem Verwandten des Kaziken Guenchumán, entflammte die Gemüter aufs Neue. Die Reaktion der Indigenen wurde hart bestraft. Viele Mapuche wurden ermordet, ihre Siedlungen dem Erdboden gleich gemacht und ihr Land und ihre Tiere gestohlen. Es scheint, als ob der Chilene immer einen Vorwand suche, die Indigenen einzuschüchtern. „Du Intendente Villalón und du Salbo“, sagte Mañil ihnen, „gemeinsam habt ihr euch der Tiere bemächtigt, aber damit gabt ihr euch nicht zufrieden, denn ihr habt große Bäuche. Des- halb habt ihr erneut den Bío Bío überquert, um wieder mit Kanonen und viel anderem Kriegs- gerät zu rauben, mit 1.500 Männern, sagt man; und alles, was getan wurde, war Häuser und Felder anzuzünden, Familien gefangen zu nehmen und die Söhne von der Brust der Mütter zu stehlen, welche in die Berge flüchteten um sich zu verstecken; sie ließen die Särge wieder ausgraben, um die Silbergaben, mit denen die Toten nach indigenem Ritual beerdigt werden, zu stehlen. Sie haben sogar christliche Frauen ermordet [...]“ 70 67 “Carta del cacique Mañil al presidente de Chile, Manuel Montt, Mapu, septiembre 21 de 1860”. Dieser Brief ist Teil der Chronik des El Mercurio mit dem Titel “Cuestión de Arauco”, El Mercurio, 31. Mai 1861. 68 “Cuando supimos de la revolución de 1851 y de la guerra que te hacían, acordamos todos los mapuche aprovecharnos de la situación para botar a todos los cristianos que nos tenían robadas todas nuestras tierras de esta banda del Bío Bío, sin matar a nadie.” Ebenda. 69 "se enojó por esto y ordenó se acomodasen partidas para que viniesen a robar y matar, que se llamaba el tigre González, otro Nicolás Pérez, un Salazar y otro Mansor" Ebenda. 70 "Tu Intendente Villalón con Salbo, juntos quedaron llenos de animales, pero no se con- tentaron, porque tienen su barriga mui grande, porque volvieron a pasar el Bio Bio a robar otra vez con cañones y muchos aparatos para la guerra, trayendo, dicen, mil y quinientos hombres; y todo lo que hizo fue quemar casas, sembrados, hacer familias cautivas quitándoles de los pechos a sus hijos a las madres que corrían a los montes a esconderse, mandar cavar las 170 172 Jorge Pinto Rodríguez Zahlreiche Mapuche befanden sich in der Gefangenschaft der Chilenen. “Wenn dieser Intendente , “ – warnte Mañil bezüglich Villalón – „mich betrügt und erneut den Bío Bío mit bewaffneten Männern überquert, und wenn er mir nicht meine Gefangenen über- gibt, kann ich meine Indios nicht länger zurückhalten, und ich kann nicht sagen, welches der beiden Gebiete dann stärker mit Blut befleckt sein wird.” 71 Der Diebstahl des Landes ist das Hauptmotiv für den Krieg, so Mañil, “öffne dein Herz und höre was ich sage”. Der Intendente Villalón und die Männer um ihn herum haben einen “starren Dickkopf und Bäuche, die nie zu füllen sind“. Mit ihnen wird es niemals Frieden geben. 72 Wenn die Regierung um Frieden er- suche, soll Mañil auf dem Sterbebett zu verschiedenen Kaziken gesagt haben, so müsse dieser angenommen werden, auch wenn dies große Opfer bedeuten mag; aber wenn ihnen der Krieg erklärt würde, um ihnen ihr Land zu entreißen, soll- ten sie bis zum Tod kämpfen. 73 Ein Jahr nach dem Tod Mañils schrieb eine Gruppe von Kaziken erneut an den Präsidenten, jetzt an José Joaquín Pérez. Wieder waren es die Vorwürfe des Raubens, der Brandschatzung von Häusern und Feldern und die Gefangennahme von Familien, die den Inhalt des Schrei- bens bestimmten. 74 „Wir erwarten, Präsident“, betonten die Kaziken, „wenn dich die Übel, die uns allen in den letzten zehn Jahren ohne Wiedergutmachung von der Regierung Montes angetan wurden, überzeugen, dass du uns das gibst, was der Gerechtigkeit entspricht. Denn auch wenn ihr uns Barbaren nennt, wissen wir was gerecht ist. Und du wirst sehen, dass uns die Montistas die- selben Dinge angetan haben, wegen denen sie uns als Barbaren verurteilt haben.” 75 sepulturas para robar las prendas de plata con que entierran los muertos en sus ritos los indios, y matando hasta mujeres cristianas [...]”. In: “Carta de Mañil al Presidente Montt.” 71 "Si este Intendente me engaña y vuelve a pasar el Bío Bío jente armada y no me entrega mis cautivos, yo no podré contener a los indios y no se cual de los dos campos quedará más ensangrentado" In: “Carta de Mañil al Presidente Montt”. 72 “Carta de Mañil al Presidente Montt.” 73 “Se inició la Guerra en Arauco-Frontera”, La Tarántula Nr. 4, 16. April 1862. 74 “Carta de los caciques al Presidente de la República, Mapu, septiembre 24 de 1861”, El Mercurio, 9. November 1861. 75 "Esperamos, pues, Presidente que cuando te convenzas de los males que nos han hecho a todos el gobierno de Monte y que durante diez años no ha puesto remedio, nos dirás lo que sea de justicia pues deben conocer que aunque nos llaman bárbaros conocemos lo que es justo, y verás que los Montistas han hecho las mismas cosas que nos desaprueban a nosotros como bárbaros" In: “Carta de los caciques al Presidente de la República, Mapu, septiembre 24 de 1861”, El Mercurio, 9. November 1861. 171 Land ohne Indigene 173 Horacio Lara schrieb die Worte eines anderen Kaziken nieder, der sich gegen Cornelio Saavedra stellte, als das Militär gerade seinen Vormarsch Richtung Süden begann. Es sind einfache Worte mit tiefsinnigem Inhalt: “Pass auf, Oberst. Siehst du nicht diesen wasserreichen Fluss, diese weitläufigen Wälder und diese ruhigen Felder? Na also. Dies alles hier hat noch keine Soldaten gesehen. Unsere Sied- lungen sind oftmals alt geworden und wir haben sie immer wieder aufgebaut; unsere Bänke wurden im Lauf der Jahre wurmstichig, aber wir haben neue gemacht, und auch die haben nie Soldaten gesehen: auch unsere Großväter hätten das niemals zugelassen. Wie verlangt ihr nun von uns, das zuzulassen? Nein! Nein! Geh weg, Oberst, mit deinen Soldaten; demütige uns nicht länger damit, mit ihnen unser Land zu betreten.” 76 Nicht alle konnten sich gegenüber dem Oberst derart offen äußern. Laut einer Chronik des El Mercurio , wandten sich einige Indigene in Vorahnung ihres Schicksals an Saavedra, als sie sahen, wie dieser sich anschickte, Angol neu zu besiedeln: “Jetzt sind deine Leute hier. Und wir, was sollen wir jetzt tun? Behal- te es [das Land] und arbeite einfach.” 77 Die Frauen sprachen die gleiche Sorge aus. Ein Chronist der Zeit berichtete: „Es ist wirklich schmerzlich den Wehklagen und Schmerzensausrufen der araukanischen Frauen beizuwohnen. Sie flüchteten angsterfüllt in die Wälder, als sie sahen wie unsere Sol- daten ihre Positionen bezogen“. 78 Einige Jahre später, 1867, konfrontierten die Kaziken Saavedra erneut, um sich dieses Mal über die Betrügereien zu beschweren, denen sie zum Opfer ge- fallen waren. Am 19. November 1867, äußerte sich einer von ihnen im parla- mento von Malleco folgendermaßen: “Wir wurden hier versammelt, um über den Frieden zu verhandeln, und jetzt kommt ihr uns damit, dass wir unser Land verleihen sollen, um darauf Soldaten zu positionieren; das ist un- 76 "Mira, coronel. ¿No ves este caudaloso río, estos dilatados bosques, estos tranquilos campos? Pues bien. Ellos nunca han visto soldados en estos lugares, nuestros ranchos se han envejecido muchas veces y los hemos vuelto a levantar; nuestros bancos el curso de los años los ha apolillado y hemos trabajado otros nuevos y tampoco vieron soldados: nuestros abuelos tampoco lo permitirían jamás. Ahora ¿Cómo queréis que nosotros lo permitamos? ¡No! ¡No! Vete coronel, con tus soldados; no nos humilles por más tiempo pisando con ellos nuestro suelo" Zitiert von María Angélica Illanes: Del mito patriótico al positivismo militar. El pensamiento del coronel Pedro Godoy. In: Mario Berríos (u.a.): El pensamiento en Chile, 1987. 77 “Diario militar de la última campaña y repoblación de Angol”, El Mercurio, 15. Juli 1863. Wiedergegeben in Leiva: El primer avance a la Araucanía, 1984, S. 177-203. 78 “Era verdaderamente penoso presenciar los llantos y esclamaciones de dolor de las mu- jeres araucanas al ver que se instalaban nuestros soldados en sus posesiones de donde huían despavoridas a los bosques” Horacio Lara: Crónica de la Araucanía, Band I, Santiago 1889, S. 265. 172 174 Jorge Pinto Rodríguez möglich! Ein Pferd, eine Gespann Ochsen oder eine Kuh kann man verleihen; aber Land nicht. Vor nicht langer Zeit gingen einige Kaziken nach Santiago, wir haben mit dem Präsi- denten gesprochen und er hat uns versprochen, dass wir in Frieden auf unseren Besitztümern unter seinem Schutz leben können. […] Die Regierung hat uns betrogen! Wenn sie uns so sehr unterdrücken, wo sollen unsere Tiere weiden? Wo sollen wir unsere Kinder aufziehen? Wir werden nochmals nach Santiago gehen, und der Präsident wird sein Wort halten.” 79 Die Stimmen der indigenen Bevölkerung rückten die Dinge zurecht, oder bil- deten zumindest ein Gleichgewicht. Richtig betrachtet war das bedrängte und gedemütigte Chile, das die Redakteure von El Mercurio und El Ferrocarril im zentralen Chile sahen, dasselbe, das die Indigenen Araukaniens bedrängte und demütigte. Und die Autoritäten in Santiago waren sich dessen bewusst. “[...] Es ist uns nicht mehr möglich, die grausame Tyrannei, die uns erdrückt, weiter zu ertra- gen“, schrieb ein Kazike 1896 dem Präsidenten Federico Errázuriz Echaurren. „Die den Staat repräsentierenden Autoritäten arbeiteten zusammen mit den Spekulanten bei der Enteignung der Ländereien und der Tiere im Grenzgebiet. Sie zwingen uns, das zu verlassen, was wir am meisten lieben, wo wir mit unseren Eltern gelebt haben, wo ihre Überreste ruhen, das Land mit dem wir unsere Kinder ernährt haben und das wir mit unserem Blut gegossen haben. […] Wir alle“, – fuhr der Kazike fort – „haben uns dem Ackerbau und der Viehzucht verschrieben und damit schon mehr Steuern gezahlt, als die Ausländer, die uns heute ersetzen sollen. Wir haben schon mehr für das Wohl Chiles getan. Aber das ist jetzt nicht mehr möglich, denn wir wurden unrechtmäßig unserer Mittel beraubt. [...] Uns wollen sie zu Tode martern und auf jeden Fall ausrotten. Die ländliche Polizei schikaniert uns, nimmt uns unsere Pferde weg und macht uns für jeglichen Raub verantwortlich, der im Grenzgebiet begangen wird; sie schleift uns ins Gefängnis, wo wir auf grausame Art malträtiert werden, wo wir Hunger leiden müssen und an Qualen und Stillstand sterben.” 80 79 “Se nos ha reunido para tratar la paz y ahora nos salen con que prestemos tierras para colocar soldados: ¡esto es imposible! Un caballo, una yunta de bueyes, una vaca pueden prestarse; pero tierras no. No hace mucho tiempo fuimos a Santiago algunos caciques, hablamos con el Presidente y nos prometió que viviríamos tranquilos en nuestras posesiones bajo su protección. [...] ¡El gobierno nos ha engañado! Si tanto nos oprimen ¿en donde pastarán nuestros ganados? ¿Dónde criaremos a nuestros hijos? Iremos otra vez a Santiago y el Presidente nos cumplirá su palabra”. In: “Parlamento de Malleco”, La Tarántula Nr. 584, 7. Dezember 1867. 80 “[...] ya no nos es posible soportar más tiempo la cruel tiranía que sobre nosotros pesa. Las autoridades en representación del estado cooperan en el despojo que nos hacen los especu- ladores de tierras i animales en la frontera, obligándonos a abandonar lo que tanto amamos i en que hemos vivido con nuestros padres, en la que sus restos descansan, con la que hemos alimentado a nuestros hijos i regado con nuestra sangre. [...] Todos nosotros, nos dedicamos al cultivo de la tierra y a la crianza de animales contribuyendo así más que los extranjeros que hoi nos sustituyen, al bienestar del pueblo de Chile, pero ya no es posible hacer esto porque se nos ha despojado con injusticia de nuestros elementos [...] A nosotros se nos martiriza y trata de exterminar de todos modos. Los policías rurales nos vejan i quitan nuestros caballos i se nos hace responsable de cualquier robo que en la frontera se efectúe; se nos arrastra a la cárcel i allí se nos maltrata cruelmente i tenemos que sufrir el hambre i morir de pena i estagnación.” 173 Land ohne Indigene 175 Nichtsdestotrotz wurden die Dinge in Santiago anders gesehen und, was noch schlimmer ist, sie wurden zu einer unsichtbaren Geschichte gemacht, die nur wenige Chilenen wirklich kennen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hörte Mañil stillschweigend den Indigenen zu, die ihn begleiteten: Die Chilenen, sagte er ihnen dann, sind arm und werden dir dein Land rauben. Kilapán verabscheute sie: sie wollen Siedlungen schaffen “um uns wie Kühe einzuzäunen”, das wollen sie, sagte er allen, die es hören wollten. 81 Unsere Vorfahren verfügten über aus- reichend Land, um darauf Guanacos, Kühe und Schafe zu züchten, beschwerte sich ein anderer Mapuche. Dann haben sie uns das Land weggenommen und las- sen uns jetzt auf so wenigen Hektaren zusammengedrängt leben, dass wir Bau- ern werden mussten. Die Regierung macht gar nichts für uns, schließen wir dar- aus. 82 Es war eine Vorahnung des Untergangs der Indigenen, die weiterzuleben entschlossen waren. Pascual Coña erlebte und erzählte die Ereignisse jener Zeit. Seit der Beset- zung Araukaniens wurde sein Leben zu einer Tragödie. Als erstes brannte seine Hütte nieder, dann verließ ihn seine Frau und zuletzt musste er die Rechtsstrei- tigkeiten und die schlechte Behandlung durch die Farmpächter ertragen, die sich auf seinem Land niederließen. “Wenn ich doch nur jetzt sterben könnte, um all dieses Elend nicht länger sehen zu müssen”, sagte er einem Kapuzinermönch, der sein Leben aufzeichnete. „Was habe ich armer Mensch nur getan, um so lei- den zu müssen? [...] Wenn ich nur sterben könnte, wie schön das wäre!“ 83 Dieses Elend resultierte großteils aus dem Verlust des Landes, das heute nur schwer zurückzugewinnen ist. Laut zuverlässigen Angaben haben die Familien der Mapuche bis 1900 von den 3,2 Millionen Hektar, die die Region Araukanien heute umfasst, nur 407.696 Hektar erhalten, also nur 12,8% des Landes, das ih- nen ursprünglich gehörte. Das bedeutet, dass sie die Kontrolle über 87,2% ihres Landes verloren haben. In dieser Rechnung sind die folgenden Ereignisse noch nicht bedacht. Als der Prozess der Entwurzelung 1929 abgeschlossen war, be- Schreiben des Kazike Truf Truf, Esteban Romero, an den Präsidenten der Republik, Chillán, 10. November 1896. Archivo Nacional, Ministerio de Relaciones Exteriores, Culto y Coloni- zación, Solicitudes Particulares, Vol. 749. Mein Dank gilt Jaime Flores, der mir eine Kopie dieses Dokumentes zur Verfügung gestellt hat. 81 Tomás Guevara: Las últimas familias y costumbres araucanas. Santiago 1912, S. 227- 284. 82 Ebenda, S. 427-428. 83 “¿Qué he hecho yo, pobre hombre, para tener que sufrir tanto? [...] ¡Si pudiera morir, que bueno sería!” Pascual Coña: Testimonio de un cacique. Santiago 1984, S. 456-458. 174 176 Jorge Pinto Rodríguez trug der durchschnittliche Besitz eines Familienoberhauptes der Mapuche 5,72 Hektar, während die Großgrundbesitzer durch Versteigerungen, Käufe oder Ge- nehmigungen der Kolonisierung Land erwerben konnten, das sich zu hunderten oder gar tausenden Hektar summierte. 84 CHILE OHNE INDIGENE Eines der Vorhaben der Elite, die Chile in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts regierte, war es, die indigene Bevölkerung verschwinden zu lassen, um ein Land ohne sie aufzubauen. 1867 erklärte Benjamín Vicuña Mackenna in stolzem Tonfall, dass Chile sich problemlos mit Mexiko vergleichen könne. Denn “wenn wir auch nur 2 Millionen Menschen sind, bilden wir eine Bevölke- rung, die fast so groß ist, wie die Mexikos. Denn dort leben 6 Millionen Indige- ne, völlig nutzlos für die Zivilisation und dementsprechend mehr daran interes- siert, die Zivilisation zu bekämpfen als sie anzunehmen.” 85 Wir Chilenen, meinte der Chronist Crescente Errázuriz einige Jahre später, sind Nachfahren der Spa- nier und ihr Ruhm “ist unser, da wir von ihnen abstammen.” 86 Im Übrigen, “sind wir bei den Indigenen unter dieser Bezeichnung [Spanier] bekannt, ob wir nun von den Konquistadoren oder von den Siedlern abstammen mögen.” 87 Der Mapuche wurde aus der Geschichte entfernt. Nur noch die Erinnerung an den mythifizierten Krieger des 16. Jahrhunderts schmückte die Seiten der libera- len Geschichtsschreibung, allerdings wurde sich bemüht, den Wert seiner Taten 84 Martín Correa, Raúl Molina und Nancy Yáñez: La Reforma Agraria y las tierras mapu- ches. Chile 1962-1975. Santiago 2005, S. 50-52. Das erste Kapitel des Buches, “La constitu- ción de la propiedad agraria en la Araucanía” (S. 17-70) ist eine der anschaulichsten Zusam- menfassungen dieses Themas. 85 “aunque seamos sólo dos millones de almas, representamos una población casi tan grande como la de Méjico, que tiene seis millones de indios, enteramente inútiles para la civi- lización, i por consiguiente, más inclinados a combatirla que a aceptarla” Aus: “Conferencia ante el ‘Club de los viajeros’ de Nueva York sobre la condición presente i porvenir de Chile”. In: Benjamín Vicuña Mackenna: Diez meses de misión a los Estados Unidos de Norteamérica, Band II, Appendix B. Santiago 1867, S. 14-34. 86 Crescente Errázuriz: Seis años de Historia de Chile, Band I. Santiago 1881, S. xii. Dieser Diskurs kontrastiert auf interessante Art den des Ex-Präsidenten Francisco Antonio Pinto, auf den im ersten Abschnitt des Artikels eingegangen wird. Pinto bezieht sich darauf, dass sich die Verfechter der Unabhängigkeit als Nachfahren der Mapuche gesehen hatten und darauf stolz waren. 87 “somos conocidos con esta designación [españoles] entre los indios cuantos descen- demos de conquistadores o colonos” Errázuriz: Seis años de Historia de Chile, Band I, 1881, S. 3-4. 175 Land ohne Indigene 177 schmälern. Miguel Luis Amunátegui betonte beispielweise, dass der indigene Widerstand immer „einer der Barbarei gegen die Zivilisation war” und dass die Berufung späterer Kaziken auf die Mapuche Helden Caupolicán und Lautaro „eine rein rhetorische Illusion“ waren, die sich auf die Unkenntnis der Fakten stütze. 88 Ein anderer bedeutender Positivist des 19. Jahrhundert, Diego Barros Arana, betonte fortwährend das Fehlen indigenen Blutes in den Chilenen. Nach einer Anekdote, in der Carlos Orrego Barros über seine Zeit in Paris erzählte, reagierte er erzürnt auf die Anspielung, die Araukaner hätten nach der Unabhän- gigkeit die Regierung übernommen. Präsident Montt, belehrte er seinen zufälli- gen Gesprächspartner, sei „sehr weiß und mit apollinischen Zügen”. Nichts, was diese Wilden in Araukanien ausmache, könne mit den Chilenen in Verbindung gebracht werden. 89 Dennoch fielen die Träume der Elite wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Trotz der Gewalt, die gegen die Mapuche angewandt wurde, antizipieren die Verse von Gabriela Mistral – die dazu verwendet wurden, diesen Artikel einzu- leiten – eine Realität, die sich diejenigen, die die Mapuche verschwinden lassen wollten, niemals vorgestellt hatten. Etwa 130 Jahre nachdem die Politik der Ver- folgung der Mapuche begonnen hatte, berichten die Tageszeitungen aus Santia- go und Araukanien noch immer über Gewalttaten, die die Region und das Land erschütterten. Die Rückgabe der Ländereien ist nach wie vor der gravierendste Faktor in diesem Konflikt. Im Jahr 2008 zeigten einige Ereignisse wie der Tod des Kommunenmitgliedes Matías Catrileoy, die brennenden Wälder und Last- wägen auf den Straßen und die Angriffe auf die Besetzer der Ländereien, die den Gemeinden widerrechtlich entrissen worden waren, wie schwerwiegend die- ser Konflikt immer noch ist. Die Überzeugung, dass die Indigenen in Chile mit der Zeit verschwinden würden, blieb bloße Fiktion. Die Volkszählung, die im 20. Jahrhundert von der Republik durchgeführt wurde, bewies genau dies. Von der ersten Zählung 1907 bis zur letzten im Jahre 2002 wurden die Indigenen separat von den Chilenen erfasst. Diejenigen, die ihre Ländereien verlassen mussten, haben ihre Identität behalten und ihre Her- kunft nicht vergessen. Auch die Illusion, Fortschritt zu bringen und die Region regierbar zu machen, wurde zerschlagen. Niemand bezweifelt den Aufschwung, den die letzten 100 Jahre seit der Besetzung gebracht haben. Nichtsdestotrotz 88 Die erste Beobachtung stammt aus Miguel Luis Amunátegui: Los precursores de la In- dependencia de Chile, Band II. Santiago 1909-1910, S. 499; die zweite aus Miguel Luis Amunátegui: La Crónica de 1810, Band I. Santiago 1876, S. 5. 89 Carlos Orrego Barros: Diego Barros Arana. Santiago 1922. 176 178 Jorge Pinto Rodríguez bleibt Araukanien den Erhebungen des United Nations Development Program und verschiedenen Ministerien der Regierung zufolge die Region mit den schlechtesten Entwicklungsindikatoren des Landes. Die historische Erinnerung in der Grenzregion selbst setzt sich überdies aus den Ressentiments zusammen, die durch die aufeinander folgenden Invasionen entstanden und im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichten, als der Staat zur Unterwerfung der Mapuche das Militär in die Region schickte. Es ist eine Erin- nerung, die aus Gewalt und unrechtmäßiger Enteignung besteht, aus gedemütig- ter Würde, aus Angst vor dem Fremden und tiefem Misstrauen. Die “ escucha huinca ” (Hör mal huinca)- Studien junger Historiker aus Temuco, und die Poe- sie von Juan Bautista Oñate, die beide in dem Buch “ RazaHerida ” erschienen sind, fassen die Wut und den Schmerz zusammen, aber auch die Hoffnung, die immer noch besteht. 90 „¡Resentidos!“, – schrieben die jungen Historiker aus Temuco – „wäre wohl der beste Aus- druck, der das Gemüt unserer Feinde und derjenigen, die die Geschichte nicht kennen, be- schreibt. Wir sind so daran gewöhnt über nichts mehr zu diskutieren, damit das Etablierte (wie die Ideen) nicht auseinander genommen wird.“ 91 Der Inhalt ihres Buches, fügten sie weiter unten hinzu, “lässt sie an die neue Generation der Mapuche denken, die, falls sie sich einmal von der men- talen Eroberung, die der Staat mit seiner Bildung vorantreibt, gelöst haben, und auf das auf- merksam werden, was in diesem Moment nicht in unseren Händen lag: eine organisierte und systematisierte Erinnerung, die denen gedenkt, die es verdienen, und die sie nicht mit der Formatierung ihrer Vorstellungen durch eine Landkarte, ein Wappen oder tausend bedeu- tungsloser Schlachten verwirrt.” 92 Das Projekt der Modernisierung und Integration in Araukanien scheiterte, da der Staat die mestizische Gewalt nicht stoppen und den Übergriffen gegen die 90 Pablo Marimán, Sergio Caniuqueo, José Millalen und Rodrigo Levin: ¡...Escucha winka! und Juan Bautista Oñate: RazaHerida. Temuco 2005. 91 “¡Resentidos! Seguramente será la mejor expresión que recoja el ánimo de nuestros enemigos e incultos de la historia. Estamos tan habituados a que no se discuta nada para no desarmar lo ya establecido (como las ideas)”. Der Ausdruck “resentido” beschreibt Gefühle der Verbitterung, bzw. dass die Person nachtragend ist. 92 “se hicieron pensando en las nuevas generaciones de Mapuches que una vez que se desencanten de la colonización mental que hace el Estado desde la educación, encuentren lo que nosotros no tuvimos a manos en ese momento: memoria organizada y sistematizada que les recuerde a quien se deben y que no los confundan formateando su imaginario con un mapa, un escudo o cuantas batallas sin importancia.” Pablo Marimán, Sergio Caniuqueo, José Millalen und Rodrigo Levin: ¡…Escucha winka!, 2005, S. 13, 16. 177 Land ohne Indigene 179 Mapuche keinen Einhalt gebieten konnte, schrieb ein Historiker unserer Zeit. 93 Die staatliche Effizienz erschöpfte sich in der Besetzung des Gebietes. Von die- sem Punkt an wusste der Staat nicht mehr, wie er weiter handeln sollte oder, ein- fach ausgedrückt, er war nicht mehr in der Lage, die Interessen, die rund um das Gebiet entbrannt waren, effektiv zu steuern. “Ihr kommt von weit entfernten Orten“, – sagte Domingo Namuncura 1998 zu den versammelten Indigenen in Chiu Chiu beim ersten nationalen Kongress der Völker Atacamas – „aber hier geht es nicht nur um Entfernungen. Ihr kommt auch aus langer Ungerechtigkeit und habt viele Diskriminierungen erfahren.” 94 In Araukanien wurde dieser weite Weg noch dadurch erschwert, dass die Po- sitivisten des 19. Jahrhundert mit ihrem Modernisierungsprojekt ein Land ohne Indigene zu konstruieren versuchten, wo dies nicht möglich war. 93 Leonardo León: Tradición y modernidad: vida cotidiana en la Araucanía (1900-1935). In: Revista Historia Vol. 40, Santiago (2006), S. 333-378. 94 „Ustedes vienen desde lugares muy remotos. Pero no es sólo un asunto de distancia. Ustedes vienen desde largas injusticias y después de atravesar por muchas discriminaciones” Domingo Namuncura: Ralco: ¿represa o pobreza?. Santiago 1999, S. 44. 178 179 JOAQUÍN FERNÁNDEZ ABARA*

VON DER KOLLABORATION MIT DEM STAAT ZUM REGIONALEN PROTEST: DIE JUNTA DE MINERÍA VON COPIAPÓ UND DER URSPRUNG DES BÜRGERKRIEGS 1859

EINLEITUNG Nach den Unabhängigkeitsbewegungen befanden sich die lateinamerikanischen Staaten in einer Gründungsphase und versuchten ihre Territorien regierbar zu machen. Sie mussten eine Situation der politischen Stabilität schaffen, die es ihnen erlauben würde, staatliche Funktionen mit Legitimität auszuüben, um die Kontinuität der neuen republikanischen Ordnung zu gewährleisten 1 . Doch ihre Instabilität hinderte sie daran, selbständig diese Herausforderungen anzunehmen, ein Problem, das sich besonders in peripheren oder Grenzgebieten als dramatisch erwies. Aufgrund dieser Umstände mussten die staatlichen Delegierten vor Ort mit verschiedenen lokalen Akteuren Allianzen eingehen, um effektiv regieren zu können. Trotzdem kann diese Situation in vielen Fällen als traumatisch bezeichnet werden: sowie die Staaten versuchten, die lokalen Akteure, mit denen sie Abkommen geschlossen hatten, zu kontrollieren oder deren Funktionen wieder zu übernehmen, entstanden Konflikte. Einige Körperschaften der alten Verwaltungsform, wie indigene Gemeinschaften, Gemeinderäte oder Milizen, erwiesen sich gelegentlich als nützlich für den neuen republikanischen Staat. Auf lange Sicht jedoch ergaben sich hier Konflikte mit den sich formierenden Staaten, etwa bezüglich der Zuweisung von Befugnissen und deren Tendenzen zur Zentralisierung staatlicher Macht. Der Widerstand dieser korporativen Gruppen, ihre *Absolvent des Magisterprogramms für Geschichte der Pontificia Universidad Católica, Chile. Professor an der Universidad Alberto Hurtado. Mein Dank gilt Clara Guaita, des Liceo José Antonio Carvajal in Copiapó und Danilo Bruna vom Museo Regional von Atacama, die großzügigerweise Materialien zur Verfügung gestellt haben, durch welche diese Forschungsarbeit ermöglicht wurde. Außerdem danke ich den Professoren Luís Ortega, Pablo Rubio, Hernán Venegas, Hernán Cortés, Danny Ahumada, Enzo Videla und Jorge Molina für die von ihnen beigesteuerten Informationen. 1 Antonio Camou: La múltiple (in)gobernabilidad. Elementos para un análisis conceptual. In : Revista Mexicana de Sociología 6-24 (2000), S.185. 180 182 Joaquín Fernández Abara Kompetenzen und Privilegien aufzugeben, könnte somit eine Erklärungsmöglichkeit für die regionalen Konflikte des 19. Jahrhunderts sein 2 . Im Fall Chiles zeigen die Bürgerkriege der 1850er Jahren die Gegenwärtigkeit einiger dieser Konflikte, die vor allem in den nördlichen Bergbauprovinzen und, wie in dem Beitrag von Jorge Pinto in diesem Band dargestellt, an der Grenze zu den Mapuche häufig waren 3 . Das schnelle Scheitern der Föderalisten 1826 und die Entscheidung für eine zentralistische Ordnung durch die politischen Eliten führten ebenfalls dazu, dass in der chilenischen Geschichtsschreibung Sichtweisen überwiegen, in denen die regionalen Konflikte vernachlässigt werden. Das Beispiel Chile wird im lateinamerikanischen Kontext zudem häufig als außergewöhnliche interpretiert 4 . Durch diese Sichtweise wird die dem Staat zugeschriebene Macht aber möglicherweise überbewertet, vor allem wenn man die decenios pelucones , die Jahrzehnte zwischen 1830 und den frühen 1860er Jahren, betrachtet, in denen in Chile eine konservative Regierung an der Macht war. Dieser Standpunkt wird auch im Werk Alberto Edwards vertreten, einem Vertreter der national- konservativen Historiografie, der die konservativen Regierungen jener Zeit als stabile, zentralisierende, nicht personengebundene sowie abstrakte Administration und Staatsmacht beschrieb 5 . Dabei bleibt fraglich, ob es in jener Epoche möglich war, diese Ideale zu erreichen. Es ist anzunehmen, dass dies 2 Zu den korporativen Akteuren und deren Weiterbestehen nach der Unabhängigkeit vergleiche Claudio Lomnitz: Nationalism as a practical system. Benedict Anderson’s theory of nationalism from the vantage point of Spanish America. In: Miguel Ángel Centeno und Fernando López-Alvez (Hrsg.): The other Mirror: Grand theory through the lens of Latin America. Princeton 2001, S. 336-337; François-Xavier Guerra: La Identidad Republicana en la Época de la Independencia. In: Gonzalo Sánchez (Hrsg.): Museo, Memoria y Nación. Bogotá 2000, S. 5,6. (Transkription des Originaltextes); François-Xavier Guerra: Modernidad e Independencias: Ensayos Sobre las Revoluciones Hispánicas. México 1993, S. 323–327; José Carlos Chiaramonte: El federalismo argentino en la primera mitad del siglo XIX. In: Marcello Carmagnani (Hrsg.): Federalismos latinoamericanos. México / Brasil / Argentina. México 1993, S. 81-132 und außerdem Hira Gortari Rabiela: Los ayuntamientos en el gobierno y organización territorial de los estados de la Federación Mexicana: 1824–1827. In: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 39 (2002), S. 253-273. 3 Pedro Pablo Figueroa: Historia de la Revolución Constituyente (1858-1859). Escrita sobre documentos completamente inéditos. Santiago 1889; Luis Vitale: Las guerras civiles de 1851 y 1859 en Chile. Concepción 1971, S. 10-15 und 37-51; Maurice Zeitlin: The civil wars in Chile (Or the burgeois revolutions that never were). Princeton 1984, S. 21-70; Simon Collier: Chile. La construcción de una república. 1830-1865. Política e ideas. Santiago de Chile 2005, S. 28, 171-172 und 288; Jorge Pinto Rodríguez: La formación del Estado, la nación y el pueblo mapuche. De la inclusión a la exclusión. Santiago de Chile 2000, S. 144- 149. 4 Zu dem Konzept der Besonderheit Chiles vergleiche Edward Blumenthal: El mito de la excepcionalidad chilena: un proyecto de construcción identitaria. Santiago de Chile 2004. 5 Alberto Edwards: La Fronda Aristocrática en Chile. Santiago 1945. 181 Die Bergbau-Junta von Copiapó 183 nicht der Fall ist. Selbst Mario Góngora, Chronist jener Zeit, war der Meinung, dass die nicht personengebundene Politik, als einer der Werte bürgerlicher Gesellschaften, in einem von aristokratischen Tendenzen geprägten sozialen Kontext, wie es das Chile des 19. Jahrhunderts darstellt, nicht erreicht werden konnte 6 . Zusätzlich zu dieser Interpretation der sozialen Struktur zeigten auch aktuellere Studien, dass die Schwäche des konservativen Chile dieser Zeit die Regierung dazu brachte, verschwiegene – und manchmal explizite – Allianzen mit den lokalen Eliten einzugehen, um in diesen „improvisierten Repräsentanten” fähige Mitarbeiter zu finden, durch welche die Verwaltung und die Regierbarkeit auf lokaler Ebene gesichert werden konnten 7 . Damit erlangten einige Zweige der staatlichen Verwaltung, und auch der militärischen Macht, den Status eines nicht eingegliederten Attachés der lokalen Institutionen, die in großem Maß an der Ausübung der lokalen Macht beteiligt waren 8 . In diesem Artikel soll das Beispiel Copiapó fokussiert werden, eine Stadt, der im Rahmen des Bürgerkriegs der nördlichen Provinz Atacama von 1859 eine führende Rolle beim bewaffneten Aufstand gegen die „Regierung von Santiago” zukam. Die Analyse soll zeigen, wie der Konflikt, der aufgrund der delegierten Kompetenzen entstand, welche die Verwaltungsbezirke über die Instanzen der korporativen Repräsentationen lokaler Bergarbeiter haben sollten, eine starke regionalistische Spannung auslöste, und warum dies einer der Faktoren war, die den Bürgerkrieg entfesselten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts förderte die bourbonische Gesetzgebung die lokale Organisation der Bergarbeiter in korporativen Verbänden, an die wichtige administrative und judikative Kompetenzen delegiert wurden. Mit der Einführung des republikanischen Systems und der Hochblüte des Silberabbaus in der Provinz Atacama in den 1830ern, ließen die Repräsentanten der Zentralregierung diese Praktiken wiederaufleben. Damit förderten sie den Zusammenschluss der Bergarbeiter zu Verbänden und die Gründung einer Junta de Minería , welche die Arbeiter in Copiapó repräsentieren sollte. Die Bergbaumagnaten der Gegend kontrollierten die Institution und entwickelten exzellente Verbindungen zu den staatlichen Autoritäten, die es dieser Junta erlaubten, wichtige Funktionen zu übernehmen. Zu diesen Aufgaben gehörten die Organisation und Entlohnung der polizeilichen Einheiten, sowie der 6 Mario Góngora: Ensayo histórico sobre la noción de Estado en Chile en los siglos XIX y XX. Santiago de Chile 1981, S. 14-16. 7 Andrés Estefane: ”Un alto en el camino para saber cuantos somos…”. Los censos de población y la construcción de lealtades nacionales. Chile, siglo XIX. In: Historia 37 I (2004), S. 38-44. 8 Joaquín Fernández Abara: Los Orígenes de la Guardia Nacional y la Construcción del Ciudadano-Soldado. (Chile 1823-1833) . In: Mapocho. Revista de Humanidades56 (2003). 182 184 Joaquín Fernández Abara politisch-administrativen, gerichtlichen und religiösen Autoritäten in den Bergarbeitersiedlungen. Genau wie die spätkoloniale Verwaltung, benötigten die neuen republikanischen Regierungen die Unterstützung des Verbandes der Bergarbeiter, um wirkungsvoll in den Bergbaugegenden regieren zu können. Mit diesem Bestreben machte die Regierung diese lokalen Akteure zu ihren Mitarbeitern, ohne allerdings die Situation formal festzulegen: so konnten der Junta in weiten Bereichen Autonomie und sehr wichtige Aufgaben zugesprochen werden, und dennoch wurde die Delegierung der Funktionen als temporär und auf Gewohnheit basierend verstanden. Tatsächlich begannen die Verwaltungsbeamten bald, ab Mitte der 1850er, in die Belange der Junta einzugreifen, kontrollierten deren Geldmittel und ernannten deren Mitglieder. Trotzdem kann die Reorganisation der Junta de Minería als ein Wiederbeleben der korporativen Tradition verstanden werden, wie sie von der Bergbaugesetzgebung des 18. Jahrhundertes geschaffen wurde. Die zentralistischen Bestrebungen der Regierung kollidierten mit dieser Tradition und lösten einen gravierenden regionalen Konflikt aus. DIE BOURBONISCHEN REFORMEN UND DIE ENTSTEHUNG DER GREMIOS DE MINAS IN CHILE Die bourbonische Gesetzgebung führte die Bildung von korporativen Verbänden im Bergbau ein und stabilisierte sie, indem sie gleichzeitig die Schaffung von Instanzen korporativer Repräsentation unter den Bergleuten förderte. Im kolonialen Chile existierte bis dahin keine Tradition kollektiver Organisation von Bergarbeitern. Laut Luz María Méndez arbeiteten die chilenischen Kumpel in jener Zeit „[…] individuell und schafften es erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts kleine Gemeinschaften zu gründen, denen es aber an jeglicher korporativen Organisationsstruktur fehlte” 9 . Diese zersetzende Tendenz wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts gebrochen, als die Gesetzgebung des Generalkapitanats von Chile durch die Übernahme der Bergbauverordnungen des Vizekönigreiches von Neuspanien reformiert wurde. Die Umsetzung der Verordnungen beinhaltete die Gründung eines Bergbautribunals, einer Institution, deren Aufgaben die Verwaltung, Justiz und Förderung der Minen umfasste. Es ist wichtig hervorzuheben, dass obwohl die Entstehung dieser Institution die Schaffung eines zentralen, administrativen 9 Luz María Méndez Beltrán: Instituciones y problemas de la minería en Chile: 1787-1826. Santiag de Chile 1979, S. 26. “[…] individual y apenas lograron conformar hacia mediados del siglo XVIII, pequeñas colectividades mineras que carecían de la más mínima organización gremial.” 183 Die Bergbau-Junta von Copiapó 185 Organs bedeutete, sie gleichzeitig die Formierung einer “starken Bergbauvereinigung” förderte. Laut der Verordnungen waren die Amtsträger des Tribunals wählbar und sollten durch die Repräsentanten der lokalen Zünfte gewählt werden. Diese Repräsentanten, oder diputados territoriales , wurden wiederum in jeder Ortschaft ernannt 10 . Der Impuls, der damit dem Bergbauverband gegeben wurde, war von einer Stärkung ihrer Organisierung und ihrer Macht auf lokaler Ebene begleitet. Die Verordnungen etablierten die Entstehung von lokalen Abordnungen in den Bergbaugebieten, welche nicht nur eine repräsentative Funktion hatten, sondern auch judikative und administrative Befugnisse, sowie die Förderung des Berufsstandes zu ihren Aufgaben zählen sollten. Die Abgeordneten sollten im Januar jeden Jahres von den lokalen Verbänden gewählt und von einer Bergbau Junta ernannt werden 11 . Dabei stellt sich die Frage, wer Mitglied dieses Bergbauverbandes sein konnte. Die Gesetzgebung erlaubte eine relativ offene, soziale Zusammensetzung dieser Zünfte, die sich auch über elitäre Grenzen hinwegsetzte. Im zweiten Absatz der Verordnung wurde bestimmt, dass, um sich als Bergarbeiter in den Verband einzuschreiben, „[…] es ausreicht, mehr als ein Jahr in einer oder mehreren Minen gearbeitet zu haben, und dies als alleiniger oder partieller Besitzer, als sein Vermögen, seine Industrie oder seinen persönlichen Fleiß oder Bestreben anzugeben.“ 12 Dadurch wird offensichtlich, dass auch Besitzer kleinerer Minen in den Verband eintreten konnten. In dieser Zeit war der Besitz der Minen jeder Person erlaubt, die „[...] Mindestanforderungen der Meldung, Registrierung und Förderung zu erfüllen“ 13 . Außerdem unterstützte die Gesetzgebung des Bergbaus die Tendenz zur Vermehrung kleinerer Besitztümer, indem sie alleinige Besitzurkunden an die einzelnen Entdecker vergab und die Kumulation mehrerer Vermögen derselben Entdecker unterband. Gleichzeitig wurde eine Einteilung des 10 Ebenda, S. 30-34. 11 Ebenda, S. 49. 12 Vergleiche “Título 2°. Art. II” aus der Reales ordenanzas para la dirección, régimen y gobierno del importante Cuerpo de la Minería de Nueva España, y de su Real Tribunal General. De orden de su majestad. Madrid 1783, S. 22.“[...] bastaba haber trabajado más de un año una o muchas minas, espendiendo como dueños de ellas en todo, o parte, su caudal o industria, o su personal diligencia o afán.” 13 In: Gabriel Salazar: Labradores, peones y proletarios. Formación y crisis de la sociedad popular chilena del siglo XIX. Santiago 2000, S. 178. “[...] satisficiera [sic] los requisitos mínimos de denuncia, registro y explotación.” 184 186 Joaquín Fernández Abara Eigentums in Abschnitte festgelegt, die barras genannt wurden und von denen es 24 gab 14 . Die Gesetzgebung für die Minenbetriebe ist als ein interessantes Beispiel für die Mechanismen der kolonialen Verwaltung in der Hochphase ihrer reformistischen Bestrebungen während des 18. Jahrhunderts zu verstehen. Der bourbonische Reformimpuls neigte dazu, sich mit der zunehmenden Zentralisierung der Verwaltung zu verbinden 15 . Dennoch ist die Bergbaugesetzgebung ein Beispiel dafür, wie widersprüchlich ihre Auswirkungen waren. Im Interesse daran, eine Politik der Förderung durchzusetzen und die Verwaltung, die Justiz und das Steueraufkommen der Bergbaugebiete effizienter machen zu können, bemühte sich die koloniale Administration Verbände zu gründen, diese zu organisieren und ihnen judikative und administrative Kompetenzen zu übertragen. Die koloniale Verwaltung benötigte die Unterstützung der Bergarbeiter, um die lokale Regierbarkeit durchzusetzen, sie zu organisieren und Kompetenzen durch die Institutionen der Zünfte zu delegieren. Dieser Prozess betraf auch soziale Sektoren, die nicht Teil der Eliten waren 16 . Dennoch muss daran erinnert werden, dass die Umsetzung der neuspanischen Bergbaugesetzgebung in Chile langsam voranging. Somit können in der spätkolonialen Zeit zwei Hauptphasen festgelegt werden: die erste bezieht sich auf die Zeit zwischen 1787 und 1801, und die zweite auf die Jahre zwischen 1802 und 1818. Während der ersten Phase begannen sich die neuspanischen Bergbauverordnungen nur teilweise in Chile durchzusetzen. Statt eines Tribunal de Minería , eines Bergbautribunals, wurde eine Real Administración del Importante Cuerpo de Minería , eine königliche Verwaltung des wichtigen Bergbausektors, eingesetzt. Im Gegensatz zum mexikanischen Modell war diese Institution in Chile weiterhin der Superintendencia General Subdelegada de Real Hacienda , der Allgemeinen Oberen Verwaltung des königlichen Finanzministeriums, untergeordnet. Auf lokaler Ebene war die Institution des 14 Hernán Venegas Valdebenito: Concertación empresarial y trabajadores mineros en una economía en transición, Copiapó 1848-1865 . Santiago 1989. 15 Dies ist eine der zentralen Thesen von John Lynch: Las revoluciones hispanoamericanas. 1808-1826. Barcelona 1986. Vergleiche auch David Brading: Miners and merchants in Bourbon México, 1763-1810.London 1971. 16 Das Konzept des Mechanismus, die lokalen Eliten in den Rahmen der bourbonischen Reform einzufügen, wurde behandelt von Alfredo Jocelyn-Holt Letelier: La independencia de Chile. Tradición, modernización y mito. Santiago de Chile 2001, S. 75-85. Vergleiche auch Jacques A. Barbier: Elite and cadres in Bourbon Chile. In: The Hispanic American Historical Review 52 Nr.3 (1972). 185 Die Bergbau-Junta von Copiapó 187 Bergbaus an das Generalkapitanat Chile in einem eher zentralisierenden Modell angegliedert. Tatsächlich wurden Wahlen für Gebietsabgeordnete nicht umgesetzt und deshalb hatten die Juntas und Versammlungen der Bergarbeiter nur einen beratenden Charakter. Diese Situation änderte sich grundlegend mit Beginn des 19. Jahrhunderts, als in der zweiten Phase die neuspanische Bergbaugesetzgebung wesentlich orthodoxer umgesetzt wurde. 1801 wurde die königliche Verwaltung des Bergbaus durch einen königlichen Erlass der spanischen Krone an das mexikanische Modell angepasst und zu einem Tribunal des Bergbaus transformiert 17 . Diese Veränderung brachte auch lokale Transformationen mit sich. Somit konnten sich vor allem im Norden des Generalkapitanats territoriale Abordnungen organisieren, in die sich Bergarbeiter einschreiben lassen konnten, um die Wahlen für die Abgeordneten umzusetzen 18 . Dadurch wird offensichtlich, dass die Bergbaugesetzgebung in Chile zu einem eher zentralistischen Charakter neigte. Die von den Bergbauverordnungen erfassten Institutionen wurden ursprünglich so adaptiert, dass sie von einem kolonialen Verwaltungsorgan abhängig waren. Die Einschreibung der Bergarbeiter und die Durchführung der Wahlen waren dahingegen langsame Prozesse. Die vorhandenen Untersuchungen stimmen überein, dass die Fortschritte in der Umsetzung vertikal von der Kolonialverwaltung vorangetrieben wurden, da die Bergarbeiter eine nur geringe Tradition der Organisation vorweisen konnten und die Wahlverfahren nicht kannten 19 . Dennoch zeigte sich gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhundert, unmittelbar vor Beginn der Unabhängigkeitskriege, dass die Tendenzen zur Verbandsbildung in den Abordnungen des Nordens des Generalkapitanats Wurzeln gefasst hatten. 17 Luz María Méndez Beltrán: Instituciones y problemas de la minería en Chile, 1979, S. 29-45. 18 Antonio Dougnac Rodríguez: Proyección de las Ordenanzas de Minería de Nueva España en Chile (1787-1874). In: Revista de estudios histórico-jurídicos 21 (1999), S. 6-7. 19 Vergleiche hierzu die interessante Untersuchung von Ulises Cárcamo Siriguiado: Mineros y minería en el norte chico: La transición. Desde la colonia a las primeras décadas de la república. Santiago de Chile 2004, Kapitel 1.2. 186 188 Joaquín Fernández Abara Abb. 1: Peones Mineros. L. Simonin: Underground Life of Mines and Miners. London 1869 (Cortesía del Museo Regional de Atacama). DIE SCHAFFUNG EINER JUNTA DE MINERÍA IN COPIAPÓ Diese Tendenz ließ sich auch in Copiapó feststellen, obwohl betont werden muss, dass die Verordnung und die Politik der Bergbauförderung in diesem Gebiet nur langsam umgesetzt wurden. Auch die Wahlverfahren erreichten nie die Gleichmäßigkeit, die von der Gesetzgebung vorgesehen war. Dennoch zeichnete sich klar eine Tendenz zur Bildung von korporativen Verbänden ab. Die Bergarbeiter gruppierten sich in Institutionen mit Verbandscharakter, und die Möglichkeit zum Austausch mit anderen Institutionen, die für ihre Aktivitäten von Bedeutung waren, gab den Anreiz zur kollektiven Artikulation ihrer Anliegen. In der Tat brauchte die Politik der Bergbauförderung, die von den Gouverneuren im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts durchgesetzt wurde, die Unterstützung des lokalen Bergbaus. Die Mithilfe der Bergarbeiter, als einflussreiche lokale Akteure und Kenner ihrer Gegend, war fundamental wichtig, um die Implementierung der Politik durchsetzen zu können und gleichzeitig Kenntnis des Potenzials und der Probleme der Region zu erhalten. Daraus entwickelte sich die Praxis der “Visitationen” durch höhere Autoritäten der Kolonialverwaltung oder deren Abgesandten, um die einzelnen Orte des 187 Die Bergbau-Junta von Copiapó 189 Generalkapitanats kennenzulernen und Kontakte mit lokalen Eliten herzustellen. Innerhalb dieser Praxis der Visitationen der nördlichen Bezirke fällt der Besuch des Gouverneurs Ambrosio O’Higgins ins Auge, der Ende 1788 Copiapó besichtigte. Bei diesen Visitationen war ein Großteil der Zeit für die Problemerkennung in der Zone vorgesehen und um Maßnahmen zur regionalen Förderung zu entwickeln 20 . In den nördlichen Bezirken, vor allem in Copiapó, bemühte man sich sehr um die Probleme des Bergbaus 21 . Die Politik der Visitationen war der Schlüssel für die Organisation der Bergbauarbeiter von Copiapó. Nach seinen Besuchen der nördlichen Bezirke ordnete Gouverneur O´Higgins die Durchführung einer Generalvisite an, um die Bergbauarbeiten zu inspizieren, und im Dezember 1789 erreichte Dr. Antonio Martínez de Mata, Generalverwalter der Minen [des Königreichs Chile], Copiapó, um diese Aufgabe durchzuführen. Nachdem er sich über den Zustand der Bergbauindustrie der Gegend erkundigt hatte, berief er eine Versammlung der Bergbauarbeiterinnung ein. Ziel des Treffens war es, den Bergarbeitern die neuen Verordnungen zu erläutern. Gleichzeitig war es möglich, Klagen der Bergarbeiter anzuhören und Verbesserungsvorschläge zur Förderung entgegenzunehmen 22 . Diese Situation erlaubte es den Bergleuten, sich gegenüber den Autoritäten als Gruppe zu präsentieren und Eingaben zu machen, sowie ihre Beschwerden mit Aussicht auf Anhörung vorzutragen 23 . Dabei stellt sich die Frage, wer diese Bergarbeiter waren, die sich in dieser entwickelnden korporativen Identität vereinigten. Es gilt zu erwähnen, dass es sich hierbei um Treffen von elitärem Charakter handelte. Tatsächlich war bei 20 Rafael Sagredo Baeza : Las visitas gubernamentales en Chile 1788-1861. In: Historia 31 (1998), S. 310-318. Vergleiche auch vom selben Autor: Vapor al norte, tren al sur. El viaje presidencial como práctica política en Chile. Siglo XIX.Santiago de Chile 2001, S. 167-171. Vergleiche auch Diego Barros Arana: Historia General de Chile . Bd. VII. Santiago de Chile 2001, S. 18-25. 21 Carlos María Sayago: Historia de Copiapó. Buenos Aires, Santiago 1973, S. 454. Die erste Edition dieses klassischen Werks der regionalen Geschichte erschien 1874. 22 Oriel Álvarez Gómez: Etapa pionera de la minería atacameña y sus organizaciones gremiales. In: Ingeniería. Universidad de Atacama10-11 (1998), S. 47-49. 23 Hierbei gilt es zu erwähnen, dass 1786, nur zwei Jahre davor, die lokalen Bergleute es in einem Prozess geschafft hatten, einen Verwaltungsbeamten für Quecksilber zu benennen, der von ihnen gewählt wurde -trotz des ursprünglich von dem königlichen Finanzministeriums ernannten. Laut dem Historiker Claudio Barrientos handelte es sich hierbei um eine starke Demonstration der “lokalen Macht”. Vergleiche hierzu Claudio Javier Barrientos Barría: Minería y poder en el Norte Chico. La distribución del azogue en el partido de Copiapó und Julio Pinto Vallejos: Episodios de historia minera. Santiago de Chile 1997, S. 95-109. Diese kollektive Aktion der Bergarbeiter, die zur Nominierung einer Autorität führte, kontrastierte frühere Handlungen beim Problem der Quecksilberversorgung, wie sie von Barrientos 1776 und 1739 dokumentiert wurden, bei denen die Bergarbeiter sich darauf beschränkten, pünktlich Antäge gegen die Beamten der kolonialen Administration einzureichen. 188 190 Joaquín Fernández Abara diesen Versammlungen der Bergleute, die unter der Leitung von Martínez de Matta durchgeführt wurden, nicht der Bergbauverband im weiteren Sinn vereint, wie es die neuspanischen Verordnungen vorsahen. Im Gegenteil kamen bei diesen Treffen nur 33 Bergmänner zusammen, eine extrem geringe Zahl der Minenbesitzer der Gegend. Es handelte sich dennoch um ein Treffen mit wichtigen Teilnehmern, Mitgliedern der lokalen Elite, deren Mehrheit aus den einflussreichen Familien der Gegend stammte 24 . Abgesehen von dem Zustandekommen der kollektiven, solidarischen Verbundenheit, die auf den gemeinsamen Anliegen basierte, hatte die Visitation eine institutionelle Auswirkung von enormer Trageweite: Die Schaffung einer Bergbau-Junta in Copiapó. Tatsächlich etablierte sich eine Versammlung bedeutender Bergleute, die die korporative Repräsentation des Bergbauverbandes übernehmen sollte: Das neue Organ würde Aufgaben der oberen Bezirksverwaltung übernehmen, sich um die Bergbauförderung kümmern, die Autoritäten über ihre aktuellen Aktivitäten informieren und sich zum wertvollen Ansprechpartner für beide Seiten entwickeln. Die Junta sollte aus sieben Mitgliedern zusammengesetzt werden, die jeweils für das kommende Jahr ihre Nachfolger bestimmen sollten 25 . Somit ergab sich ein Interessenausgleich zwischen den Autoritäten in Santiago und den lokalen Eliten der Bergarbeiter, der jedoch den Intentionen der bourbonischen Gesetzgebung widersprach. Die kolonialen Autoritäten in Santiago ernannten aus den angesehensten Bergleuten Copiapós eine Junta de Minería , die autorisiert wurde, sich selbst zu reproduzieren, und dass obwohl die Bergbauverordnungen bei der Bildung der Zünfte darauf hinwies, dass der Beitritt jedem Minenbesitzer, ohne soziale Grenzen und mit offenen Wahlen freistehen solle. Diese Vorgehensweise wurde für einige Zeit beibehalten. Auch als sich 1802 in Chile die Diputaciones Territoriales (Gebietsabordnungen) zu bilden begannen, öffneten sich die Institutionen des lokalen Bergbaus des Bezirks von Copiapó nicht für alle. In diesem Jahr vermeldete der Abgeordnete des Bergbaus von Copiapó, Pedro de Fraga y Maquieira, dem erst kürzlich gegründeten Bergbautribunal, dass von der Durchführung von Neuwahlen abzusehen sei 26 . Die homogenisierende Tendenz, mit der offene Zünfte geschaffen werden sollten, hatte nur temporären Erfolg. So wurde im Januar 1803 vom Tribunal des Bergbaus ein Gutachten erstellt, das der Junta de Minería die Befugnis zugestand, in geheimen Wahlen einen 24 Álvarez Gómez: Etapa pionera de la minería atacameña, 1998. Ein extremer Fall zeigte sich bei der Familie Mercado, die fünf Teilnehmer stellte -fast ein Sechstel aller Beteiligten. 25 Sayago: Historia de Copiapó, 1973, S. 456-457. 26 Dougnac Rodríguez: Proyección de las Ordenanzas de Minería, 1999, S. 7. 189 Die Bergbau-Junta von Copiapó 191 Abgeordneten der Partei für den Bergbau zu ernennen. Aber schon im November 1804 bestimmte das Bergbautribunal wieder eine Junta de Minería, die sich aus Familienangehörigen der lokalen Elite zusammensetzte und die erneut eine Tendenz aufwies, sich selbst zu reproduzieren 27 . Während der ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts blieb die Bergbau-Junta als ein Organ der lokalen Elite bestehen, die selbst ihre Nachfolger ernannte und die Bildung eines offenen Verbandes vermied. Die Register von 1804 bis 1821 zeigen, dass der Kern der Junta unanfechtbar von Mitgliedern bekannter Familien der lokalen Eliten besetzt war. Somit lässt sich sagen, dass die Junta von den Familien Gallo, Mandiola, Ossa, Mercado, Goyenechea, Sierra y Sierralta, und, später, auch von der Familie Matta ohne größeres Gegengewicht kontrolliert wurde. 28 DIE JUNTA DE MINERÍA IM REPUBLIKANISCHEN SYSTEM UND DER INFORMELLE VERBAND DER BERGLEUTE Die Existenz einer Junta de Minería in Copiapó, zusammengesetzt aus der Elite der Minenbesitzer, die ihre Nachfolger selbst ernennen konnten, erhielt sich auch während der ersten Jahre der republikanischen Regierung. Zu Beginn der 1820er, derselben Epoche, in der die unabhängigen Regierungen begannen, die Institutionen der bourbonischen Bergbauverordnungen aufzulösen, verlieren sich jedoch die Spuren der Junta von Copiapó. Trotzdem blieb eine Tendenz der Verbandsbildung – wenn auch eher informell und auf sporadische Art und Weise – bestehen, die von den neuen republikanischen Autoritäten unterstützt wurde. Dies lag hauptsächlich an dem Silberboom von 1832, der durch die Funde in der Gegend um Chañarcillo ausgelöst wurde. Die lokalen Autoritäten, die von der Zentralregierung ernannt wurden - die Gouverneure der Region Copiapó, die dem Zuständigkeitsbereich der Provinz Coquimbo unterstellt waren, und seit 1843 auch die Verwaltungsbeamten der neuen Provinz Atacama – unterstützten bei verschiedenen Gelegenheiten das Wiederaufleben des Bergbauverbandes, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu halten und die Einziehung von Steuern in den Bergbauansiedlungen zu vereinfachen. An dieser Stelle soll darauf 27 Sayago: Historia de Copiapó, 1973, S. 459. 28 Ebenda, S. 460-461. Weitere Informationen zu den wichtigen Familien der lokalen Eliten gegen Ende des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts finden sich in dem Buch der Sayago, das uns erlaubt die Familien, die in der Chronik des Stattrates erwähnt werden, näher zu bestimmen. Vergleiche hierzu Pilar Alamos Concha: Candelaria Goyenechea de Gallo. Una mujer del Siglo XIX. Santiago de Chile 1995, S. 14-47 und Paula Fernández Chadwick: Miguel Gallo Vergara. Una fortuna del Siglo XIX . Santiago de Chile 1993, S. 16-51. 190 192 Joaquín Fernández Abara hingewiesen werden, dass die Entwicklung des Bergbaus diese Gegend zu einem Magnet für viele wandernde und heimatlose Hilfsarbeiter machte, und sie so in den Fokus wiederkehrender Episoden sozialer Gewalt rückte. Die Angst vor der Masse der Tagelöhner verwandelte sich in ein regionales Übel für die lokalen Minenbetreiber 29 . Laut der Meinung von Bruno Zavala, dem Gemeindepriester von Copiapó, konnte in Gegenden mit großer “Leichtigkeit” eine enorme Ansiedlung improvisiert werden. „Diese Leichtigkeit kam nicht nur vom Charakter dieser Leute, sondern auch davon, dass Bergleute, wie andere Abenteurer, nichts weiter brauchen als eine Decke und ihr Messer, um schnell und mutig viele Meilen hinter sich zu bringen“ 30 . Die Notwendigkeit, Institutionen zu schaffen, um diese Zone zu „befrieden“ und die öffentliche Ordnung zu erhalten, wurde dringlich. In diesem Rahmen verdeutlichte sich die Schwäche der lokalen Vertreter der Zentralregierung -Verwaltungsbeamte und Gouverneure-, die kaum die Mittel fanden, um die öffentliche Ordnung in größeren, urbanen Zentren aufrecht zu erhalten. So scheint es auch nicht befremdlich, dass diese Autoritäten zu wiederkehrenden Anlässen den Bergbauverband zusammengerufen haben sollen: damit konnten die staatlichen Beamten – temporär – ihre Funktionen „auslagern“ und diese interessierten Unternehmern übertragen. Diese Situation lässt sich zu Beginn des Jahres 1841 nachweisen, als der Gouverneur von Copiapó des Öfteren die Versammlung des Bergbauverbandes aufforderte, Kommissionen zu ernennen, welche die Abgaben der Bergarbeiter der Minen von Chañarcillo, Pajonales und Algarrobito eintreiben sollten. Mit diesem Steueraufkommen sollte dann besagte Gegend mit Gendarmerietruppen und einem Richter versorgt und eine polizeiliche Satzung eingesetzt werden. Die Kommissionen setzten sich fast immer aus Mitgliedern der einflussreichen Familien der lokalen Minenbesitzer zusammen 31 . Dieses Beispiel veranschaulicht allgemein die staatliche Regierungsweise in den Bergbausiedlungen während der 1840er Jahre. 29 María Angélica Illanes Oliva: Azote, salario y ley. Disciplinamiento y rebeldía de la mano de obra en la minería de Atacama. 1817-1852. María Angélica Illanes Oliva: Chile des- centrado. Formación socio-cultural republicana y transición capitalista (1810-1910). Santiago de Chile 2003, S. 26-31. 30 Carta de Bruno Zavala a Manuel Montt. Copiapó: 20 de junio de 1855. Archivo Nacional de Chile. Fondo Fundación Manuel Montt (A.N.F.F.M.M). Bd. X, S. 222. “Facilidad que proviene no sólo del genio característico de estas gentes, sino de que así los mineros como los aventureros no necesitan más que la manta y su cuchillo para atreverse con prontitud muchas leguas” 31 Libro de Acuerdos del Gremio de Minería. Copiapó: 13 de enero de 1841 y 20 de enero de 1841, Archivo Nacional de Chile. Archivo de la Intendencia de Atacama (A.N.A.I.A.), Bd. 13, s/f. 191 Die Bergbau-Junta von Copiapó 193 Genau wie in der spätkolonialen Zeit, allerdings in der Mitte des 19. Jahrhunderts, benötigten die Autoritäten der Zentralregierung die Unterstützung der Bergarbeiter. Auf diese Art wurden die lokalen Bergbaueliten von Copiapó die tatsächlichen Agenten des Staates: Der Bergbauverband blieb ein Schlüsselfaktor der lokalen Regierbarkeit. Mit dem Fortschreiten der Dekade verstärkte sich auch die Tendenz zur Bildung von Verbänden im Bergbau. Am Anfang wurde diese als eine Initiative der einflussreichen Bergbaubetriebe der Gegend wieder aufgenommen - mit der stillschweigenden Erlaubnis der Verwaltung. Im April 1846 wurde daher eine selbsternannte Comisión Representativa del Gremio de Minería , eine repräsentative Kommission der Junta de Minería , für die Region Copiapó eingesetzt. Hierbei handelte es sich um eine private Vereinigung bedeutender Minenbesitzer. Zu ihr gehörten auch Mitglieder der Familien Ossa, Edwards und Gallo Goyenechea, deren Einfluss zu dieser Zeit auch bereits auf nationaler Ebene spürbar wurde. Die Kommission entschied, sich auch um die Finanzen der korporativen Verbände zu kümmern. 32 Neben Vorkehrungen zum Erhalt der öffentlichen Ordnung organisierte und bezahlte die Kommission auch die Polizei in den Bergbaugebieten, legte die Löhne der Subdelegierten von Chañarcillo fest und zahlte diese aus. Somit war sie verantwortlich für die Entlohnung und kontrollierte damit auch auf gewisse Weise die Regierungsautoritäten der Gegend. Ebenso machte die Kommission der Verwaltung auch personelle Vorschläge für solche Positionen. Zusätzlich zu all diesen Funktionen übernahm sie die Verantwortung, die Straßen der Gegend in Stand zu halten 33 . Bei einer Versammlung im Gemeindesaal von Copiapó, zu der auf Einladung des Intendanten Manuel José Cerda mehr als 40 Bergleute erschienen, wurde die Junta im Juli 1848 offiziell anerkannt. Die Teilnehmer beschlossen einstimmig die Bildung einer Kommission, die sich aus sieben Sekretären und vier Stellvertretern zusammensetzte und die die Interessen des Verbandes repräsentieren sollte. Diese „Kommission“ bekam verschiedene Rechte zugeschrieben: sie durfte gegenüber den Autoritäten Stellungnahmen und Petitionen abgeben, die jegliche Maßnahmen und Neuerungen zum Schutz des Bergbaus betrafen, des Weiteren sollte sie eine Satzung entwerfen, die eine geregelte Verwaltung der Erzförderung und der Wasserwege ermöglichen würde. Zu diesen Rechten gehörte auch das Eingreifen in die Finanzverwaltung, die zu diesem Bereich zählte, sowie die Repräsentation der Minenbesitzer in 32 Sesión del gremio de mineros. Copiapó: 3 de abril de 1846. A.N.A.I.A., Bd. 71, f.1. 33 Sesión del gremio de mineros. Copiapó: 17 de abril de 1846. A.N.A.I.A., Bd. 71, f.1.vta. 192 194 Joaquín Fernández Abara allen wichtigen Belangen 34 . Nach ihrer Gründung wurde die Kommission am 20. Oktober desselben Jahres feierlich ins Amt gesetzt. Zu ihren ersten Amtshandlungen gehörte der einstimmige Beschluss, den Intendanten der Provinz als Präsidenten einzusetzen und ihm – nach bourbonischer Namensgebung – den Titel des „Abgeordneten des Bergbaus“ zu verleihen 35 . Damit wiederholte sich die spätkoloniale Situation, in der eine Gruppe von Minenbesitzern, die Großteils aus einflussreichen Familien stammten, sich der Repräsentation der lokalen Verbände annahm, was durch die politischen und administrativen Autoritäten der Gegend stillschweigend geduldet wurde. Obgleich die Junta von der Verwaltung durchaus anerkannt wurde, unternahm sie keinen ernsthaften Versuch, ihre Situation formell zu festigen. Es handelte sich um eine Institution, die durch die Willkür interessierter Akteure Bestand hatte und die ihre Normen durch Gepflogenheiten festlegte. Die Zusammensetzung des Verbandes, die Wahlverfahren und seine Beziehung zur Verwaltung wurden nicht reglementiert, obwohl er auf lokaler Ebene eine Nahtstelle von größter Wichtigkeit für die staatliche Regierung darstellte, und wegen deren wirtschaftlicher Schwäche und Distanz verschiedene staatliche Funktionen übernahm 36 . Der sich konstituierende Staat konnte immer auf diese Institutionen zurückgreifen, um sein Unvermögen auszugleichen, solange sie noch informellen Charakter aufwiesen. Aber er konnte sie weder legalisieren noch institutionalisieren, um sich selbst über kurz oder lang wegen der übertragenen Kompetenzen nicht zu gefährden. Diese Situation weist auf eine wichtige Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht staatlichen Akteuren hin, und zeigt aber auch, dass die Übertragung staatlicher Aufgaben an nicht staatliche Akteure als Ergebnis der lokalen Umstände angesehen wurde. Die Versuche der Junta, legale Steuern zur Eigenfinanzierung zu erheben, die von ihr selbst eingezogen werden sollten, wurden vom Kongress hingegen abgelehnt. In dieser Instanz wurden die Abgaben der Bergleute des Verbandes 34 Ebenda. “[...] dar su opinión y hacer peticiones a las autoridades sobre todas las medidas que sea conveniente adoptar en la protección de la minería”/ “[...] formar los reglamentos necesarios para la buena administración de los minerales y aguadas”/ “[...] intervenir en la administración de los fondos pertenecientes a este ramo”/ “[...] representar en todo lo que fuese necesario a los dueños de las minas”. 35 Instalación de la Comisión de Minería. Copiapó: 20 de julio de 1848. A.N.A.I.A., Bd. 71, s/f. 36 Laut Hernán Venegas sollten „die Privatpersonen die Realisierung der Aktivitäten übernehmen, die der Staat nicht in der Lage war umzusetzen“. Venegas Valdebenito: Concertación empresarial, 1989, Kapitel 2.2. 193 Die Bergbau-Junta von Copiapó 195 mehr erhöht als erwartet, und zusätzlich direkt vom nationalen Finanzhaushalt einkassiert 37 . Trotzdem hielt die Kooperation zwischen der Junta de Minería und der Zentralregierung bis in die Mitte der 1850er Jahre an. Die Junta setzte sich im Allgemeinen weiterhin aus großen Magnaten und “achtbaren Nachbarn” zusammen, die Verbindungen zu den Minenbesitzern der Gegend hatten, und die Verwaltung delegierte weiterhin Funktionen der öffentlichen Ordnung, des Verkehrswesens sowie die Bezahlung der Priester und Beamten der Bergbausiedlungen an den Bergarbeiterverbund. REGIONALISTISCHE PROTESTE, LIBERALISMUS UND KORPORATIVE TRADITION Im Verhältnis zwischen der Junta de Minería und der Regierung traten in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre erste Konflikte auf. Ein Schlüsselmoment dieser Streitigkeiten, die sich um die Junta entfesselten, lässt sich im regionalen Kontext finden. Die zweite Hälfte der 1850er war eine Zeit starker politischer Bewegung in der Provinz Atacama. Vor allem in den nördlichen Regionen von Copiapó und Caldera, in denen sich eine regionalistische, oppositionelle Bewegung formierte, erreichte die politische Mobilisierung ein enormes Ausmaß. Aus den Spannungen des Bürgerkriegs resultierte 1859 ein Aufstand in der Provinz Atacama, im Zuge dessen die Provinz mit der Zentralregierung brach und sich als aufständisch erklärte, bis eine verfassungsgebende Versammlung einberufen worden sei. Die politischen Unruhen wurden durch schwerwiegende wirtschaftliche Probleme verstärkt. In der zweiten Hälfte der 1850er erlebte die Gegend eine Wirtschaftskrise, die von dem Wertverlust und dem Rückgang des Metallexportes herrührte. So verringerte sich der Export von Silber über den Hafen von Caldera von 3.829.490 im Jahre 1855, auf 3.022.595 Dollar im darauffolgenden Jahr, 1857 waren es 3.028.595 und 1858 nur noch 2.309.874 Dollar 38 . In diesem Kontext der Erschöpfung der Edelmetalladern und dem Fortbestand einer “Wirtschaft des alten Regimes”, die sich durch nur wenige technische Investitionen auszeichnete, war es die logische Konsequenz, dass die 37 Ebenda. Venegas machte eine interessante Forschung zur Entwicklung des Abgabensystems der Junta, die zeigt, dass die Abgaben seit 1848 von einer regionalen Zollbehörde eingezogen wurden. 1852 beantragte die Junta de Minería eine Besteuerung auf schwer abbaubaren Metallen, wie Silber. Die Einnahmen sollten direkt in die Kasse der Junta de Minería fließen. Dieser Antrag wurde von der Regierung nicht nur abgelehnt, sondern es wurde sogar ein Gesetz erlassen, das die Erhebung von einer 5 % Steuer auf den Export dieser Metalle einforderte. 38 Vergleiche auch den Anhang von A.N.A.I.A. Bd. 40. 194 196 Joaquín Fernández Abara Minen mit geringerer Produktion geschlossen wurden 39 . Die sozialen Konsequenzen wurden für weite Teile des Unternehmertums als auch für die Bergarbeiter gleichermaßen spürbar. Berichte über die Zeit um 1859 zeigen, dass “[…] sich wegen der schlechten Minen die Siedlung Copiapó mit Kostgängern anfüllte, die nichts weiteres zum Überleben hatten, als ihre früheren Ersparnisse” 40 . Diese Atmosphäre der Unsicherheit wurde Teil des Lebensgefühls. Erzählungen der Zeit legen Zeugnis davon ab, dass die „achtbaren Nachbarn“ begannen, das „gemeine Volk, von denen 2.000 bis 3.000 frei und unnütz in dem Ort herumliefen“ 41 zu fürchten. Der deutsche Reisende Paul Treutler hinterließ in seinen Memoiren eine dramatische Beschreibung der Veränderungen, die das Leben der Minenbesitzer und Händler Copiapós im April 1855 erfuhr. Eine Gefängnisstrafe wegen Geldschulden wurde zu einer ständigen Befürchtung in diesen sozialen Schichten. Dies ging soweit, dass der für die Schuldner reservierte Gefängnistrakt in Copiapó zynischerweise als “Hotel Universo” bekannt wurde. Treutler berichtet: "Seit einigen Monaten war ich nicht mehr in Copiapo gewesen. Große Veränderungen waren seitdem dort eingetreten, zwar nicht in Bezug auf Bauten und Verschönerungen, wohl aber in Bezug auf die Bevölkerung. – Viele meiner Bekannten, welche ich bei meiner letzten Abreise als reich verlassen hatten, waren in Folge des Verfalles des Silberbergbaues ruinirt und hatten kaum die nöthigen Mittel, um sich und ihre Familien zu erhalten; viele derselben befanden sich im Schuldarrest oder waren landesflüchtig. Mehrere Bergwerksbesitzer hatten während dieser Zeit ihr bedeutendes Vermögen im Spiel verloren, sich und ihre Familien in Armuth und Noth gestürzt und in Folge dessen das Leben genommen. Auch mehrere Kaufleute waren bankerott geworden, während andere Copiapo heimlich verlassen hatten; andere befanden sich im Schuldgefängnis." 42 39 Luis Ortega Martínez: Chile en ruta al capitalismo. Cambio euforia y depresión. 1850- 1880. Santiago de Chile 2005, S. 61-67 und Hernán Venegas Valdebenito: Minería y transformaciones sociales y demográficas durante el primer ciclo de expansión de la economía chilena. Atacama 1850-1880. In: Contribuciones científicas y tecnológicas. Área ciencias sociales130 (2002), S. 159-196. 40 Anselmo Carabantes: Apuntes para la Historia de la Constituyente escritos por el señor Anselmo de Carabantes y seis páginas en que se fija un plan para escribir dicha historia. Archivo Nacional, Fondo Benjamín Vicuña Mackenna (A.N.F.B.V.M). Bd. 48-A, S. 73. “[...] las minas malas habían hecho que el pueblo de Copiapó estuviese lleno de huéspedes, que no tenían para vivir sino sus ahorros anteriores.” sich durch die schlechten Mine 41 Anonymer Autor: Apuntes de la revolución del cinco de enero de 1859 realizada en Copiapó. A.N.F.B.V.M. Bd. 48, S. 27ff. Im Nationalen Historischen Archiv in Santiago wurde diese Chronik fälschlicherweise als Werk José Nicolás Mujica katalogisiert. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Fehler der Katalogisierung, der vor den 1890er gemacht wurde. S. 28ff. 42 Paul Treutler: Fuenfzehn Jahre in Sued-Amerika an den Ufern des Stillen Oceans, Band 1. Leipzig 1882, S. 178-179. 195 Die Bergbau-Junta von Copiapó 197 Parallel zu der wirtschaftlichen Krise begann in der Region eine starke politische Unruhe aufzukommen. Mehrere der bedeutendsten Familien der Bergbau-Magnaten, die sich bis zu diesem Zeitpunkt großteils der Regierung zugeneigt zeigten, begannen zur Opposition zu wechseln. Gleichzeitig radikalisierten wichtige Handwerks- und kleinere Bergmannsgruppierungen ihre politische Position 43 . Trotz der Versuche des Intendanten, die Wahl zu beeinflussen, durchbrach die liberale Opposition bei den Parlamentswahlen 1855 die Kontrolle der bisherigen Regierung in dieser Gegend. Manuel Antonio Matta, ein junger lokaler Bergbaumagnat, und José Victorino Lastarria, ein bekannter Liberaler aus Santiago und Mentor einer rebellischen Jugend, die von den Gedanken 1848er Revolutionen in Europa beeinflusst war, wurden zu Abgeordneten gewählt. In den darauffolgenden vier Jahren kristallisierte sich in Copiapó langsam eine wichtige oppositionelle Bewegung heraus. In ihr lassen sich zwei Hauptstränge ausmachen, die sich gegen Mitte des Jahres 1858 verdeutlichten. Eine dieser Fraktionen wurde wegen ihres Zusammenschlusses mit den Liberal-Konservativen als fusionistas bezeichnet. Zu ihr gehörten einige der reichsten Minenbesitzer der Gegend, die untereinander verwandt waren und deren Familien schon gegen Ende der Kolonialzeit Teil der lokalen Elite gewesen waren, wie zum Beispiel die Familien Gallo, Matta und Carvallo. Diese Gruppe, die die Bezeichnung partido de familia erhielt, konnte mit ihren Geschäftsführern und Gutsverwaltern auf ein wichtiges Netz von Abhängigen in der Welt des Bergbaus zurückgreifen. Gleichzeitig kontrollierte sie mit ihren Darlehen wichtige Gruppen kleinerer Bergbauunternehmer. Einige dieser Familien, wie die Gallos, kämpften in den Reihen des peluconismo , der konservativen Regierung, bis in die späten 1850er. Die Fusionistas waren Teil der nationalen Politik und hielten meistens an einem Liberalismus fest, der den 43 Zu den Wahlen 1855 waren die Familien Matta, Carvallo und Mandiola der Opposition beigetreten. Bei den Parlamentswahlen 1858 kam auch die Familie Gallo hinzu. Die Mitglieder der Familien Edwards und Ossa, die in Copiapó ansässig war, verhielten sich loyal der Regierung Montt gegenüber, obwohl sie im Jahr 1858 ein geringes politisches Profil zeigten. Diese Familien können als tatsächliche Kerne angesehen werden, aus denen sich ein breites Netz konstruierte, das es ihnen erlaubte, Allianzen mit anderen wichtigen Familien, in Atacama und dem Rest Chiles, durch eheliche, freundschaftliche oder wirtschaftliche Verbindungen einzugehen. Außerdem konnten sie durch den Klientelismus, den sie aufbauten, ein Netzwerk von Abhängigen mobilisieren. Hierbei gilt es auch zu erwähnen, dass die Einflussreichen dieser Familien wegen des cursus honorum weiterhin politischen Erfolg hatten. Wegen ihren lokalen Ämtern besetzten sie später in der nationalen Politik in Santiago auch parlamentarische Ämter. Zwei interessante Fälle finden sich in den Artikeln von Jorge Molina: La red familiar de los Gallo en Copiapó y su rol político en la primera mitad del siglo XIX. und Pablo Rubio: ¿De revolucionario a moderado? Manuel Antonio Matta y su influencia en la política chilena, 1859-1892. Beide Artikel finden sich in der Revista de Historia y Geografía 22 (2008), S. 41-64 und S. 133-162. 196 198 Joaquín Fernández Abara präsidialen Autoritarismus zu kontrollieren versuchte. An diese Opposition der Elite reihte sich eine weitere oppositionelle Gruppierung, deren Mitglieder einfach nur liberales , rojos [die Roten] oder die populares genannt wurden. Angeführt von José Nicolás Mujica, dem Direktor der Tageszeitung El Copiapino , und des MineningenieursAnselmo Carabantes, versuchten sie die Unterstützung der kleineren Minenbesitzer zu gewinnen und erreichten großen Einfluss bei den Handwerkern der Stadt Copiapó. Ihre politische Position lässt sich als ein radikaler Liberalismus mit demokratisierenden Tendenzen beschreiben. Im November 1858 gründeten Mitglieder beider Oppositionen den Club Constituyente , eine politische Gruppierung, die dem republikanischen Vorbild Frankreichs folgte. Seine öffentlichen Ziele waren es, für eine Verfassungsreform zu werben und eine konstitutive Versammlung einzuberufen. Damit stimmten sie in die öffentlichen Aufrufe der liberalen Opposition und der Ultramontanos 44 mit ein, die diese gegen die autoritären Praktiken der Regierung Manuel Montts und seiner autoritären Konservativen, auch bekannt als Partido Nacional , richteten. In Zusammenarbeit mit der Opposition aus Santiago schmiedeten sie einen Plan zum Aufstand gegen die Regierung 45 . Unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Krise und der politischen Bewegungen verschärfte sich der regionale Diskurs in Copiapó. Seit dem 18. Jahrhundert entwickelte sich der Norden Chiles zu einer Region, die hauptsächlich vom Bergbau dominiert wurde 46 . Auch der Silberboom von 1832 in Chañarcillo und 1848 in Tres Puntas führte zu einer wirtschaftlichen Dynamik, die bedeutende soziale Veränderungen mit sich brachte und einen Anstieg der Migration in diese Regionen auslöste. Die Zuwanderung rief ihrerseits eine noch größere wirtschaftliche Dynamik und Mobilität der Bevölkerung hervor. Somit ist es nicht erstaunlich, dass diese Phänomene kulturellen Einfluss auf die regionalen Repräsentationsformen hatten, die die Menschen aus dem Norden, vor allem die aus Copiapó, verinnerlichten. Die 44 Anm. d. Hrsg.: Konservative, die klerikale Sonderrechte, die Ausschließlichkeit des Katholizismus in Chile und eine stärkere Kontrolle im Bereich der Bildung seitens der katholischen Kirche, sowie einen verstärkten Protagonismus der Legislative, einforderten. 45 Zu der Aufteilung der Parteien vergleiche die Briefe von José María Silva Chávez, Verwaltungsbeamter von Atacama, an Manuel Montt, am 4., 16. und 20. April 1858 in A.N.F.F.M.M. Bd. XIV, S. 33-38. Weitere Informationen zu diesem Thema und der Gründung des Club Constituyente finden sich in fast allen Chroniken, die von Revolutionären nach der Revolution geschrieben wurden; zu finden in A.N.F.B.V.M. Bd. 47 und 47ª. Vergleiche auch Cristián Gazmuri: La influencia del club republicano francés en las formas de sociabilidad política chilena de la segunda mitad del siglo XIX. Fundación Mario Góngora. Formas de sociabilidad en Chile. 1840-1940.Santiago de Chile 1992. 46 Marcello Carmagnani: Los mecanismos de la vida económica en una sociedad colonial. Chile. 1680-1830. Santiago 2001, S. 99-120. 197 Die Bergbau-Junta von Copiapó 199 lokale Presse war voller Referenzen, die Copiapó ein tolerantes Image verleihen sollten, die Stadt als offen für die Immigration, modern und dynamisch bezeichneten, um so dem von Santiago vorgegebenen Bild eines rückständigen und intoleranten ruralen Chiles zu widersprechen. Die literatura costumbrista des Schriftstellers José Joaquín Vallejo legt ein Zeugnis dieser modernisierenden Identität ab: “Ohne Zweifel hielt der Fortschritt erst in den letzten zehn Jahren Einzug in Copiapó und dauert bis heute an. Der Abbau in Chañarcillo, San Antonio und anderer reicher Mineralvorkommen; die häufige Kommunikation, die wir mit anderen Orten und Menschen begonnen haben, die Zuwanderung der Argentinier, und andere wichtige Umstände haben unserem Ort, der Wirtschaft, der Industrie und der Kultur einen großen Aufschwung gebracht; Verbesserungen, die heute noch sehr gering wären, wenn sie nur unserer zivilisatorischen Revolution zu verdanken wären” 47 . Dieser Ausdruck des kulturellen Regionalismus und Identitätsbewusstseins nahm auch politische Züge an. Die Situation wurde während der zweiten Hälfte der 1850er Jahre noch spürbarer, als sich ein Großteil der Aktionen der Opposition darauf fokussierte, die übermäßige Macht der Beamten der Zentralregierung in der Provinz zu kritisieren. Die Verwaltungsbeamten wurden stets angegriffen und in der liberalen Literatur als „Satrapen“ (persische Statthalter, die für ihren Machtmissbrauch bekannt waren) karikiert. Gleichzeitig wurde auch der Kontrolle, die sie über die Polizeibehörden ausüben konnten, misstraut und diese als raffinierter Schachzug ausgelegt, um heimlich militärische Einheiten im Dienste der Exekutivgewalt aufzustellen 48 . Diese Streitereien fanden ihren Höhepunkt als der Verwaltungsbeamte Juan Vicente Mira gegen Ende Februar 1858 drei Journalisten der Opposition auspeitschen ließ und damit eine enorme Protestbewegung auslöst, die ihn schließlich zum Rücktritt zwang 49 . 47 Jotabeche [José Joaquín Vallejo]: ¡Quien te vio y quien te ve! In: Jotabeche: Colección de los artículos de Jotabeche, publicados en El Mercurio de Valparaíso, en El Semanario de Santiago y en El Copiapino, desde abril de 1841 hasta septiembre de 1847. Santiago 1847, S. 223. “ Es indudable que Copiapó no ha empezado de veras la carrera de los adelantamientos sino desde diez años a esta parte. La explotación de Chañarcillo, San Antonio y demás ricos minerales; la comunicación frecuente en que hemos entrado con otros pueblos y otros hombres, la inmigración de argentinos, y varias circunstancias de importancia han dado gran impulso a nuestra población, comercio, industria y cultura de costumbres; mejoras que hoy serían muy débiles, si se hubiesen obtenido por efecto solo de nuestra revolución civilizadora.” 48 Diego Barros Arana (Hrsg.): Cuadro histórico de la administración Montt escrito según sus propios documentos. Valparaíso 1861, S. 113. 49 Rafael Vial: Refutación al libelo publicado en La Serena por D. Juan Vicente Mira, en defensa del atentado cometido por él en Copiapó el 27 de febrero de 1858 . Santiago 1858. 198 200 Joaquín Fernández Abara Die verschiedenen Fraktionen der Opposition forderten die Selbstbestimmung der lokalen Körperschaften, um so der Macht der Exekutive Widerstand zu leisten und ein größeres Maß an politisch-administrativer Autonomie behalten zu können. Der Regionalismus in Atacama, der die Beteiligten des Krieges 1859 leitete, war deutlich von einem korporativen Charakter geprägt. Angesichts des Fehlens einer Tradition der Provinzvertretungen, konnten die regionalen Munizipalverwaltungen als Institutionen auftreten, die die lokalen Interessen repräsentierten, und bildeten damit ein Gegengewicht zur Exekutivmacht der Zentralregierung. Im Laufe des Jahres 1858 häuften sich die Konflikte um die Zuständigkeiten zwischen der zentralen Verwaltung und den Gemeinden von Copiapó und Caldera und ebneten den Weg für den Bürgerkrieg. Eine der Innungen, die als Organ für die lokale Interessensvertretung und als Widerstand gegen die Regierung eingesetzt wurde, war die Bergbau-Junta. An dieser Stelle soll daran erinnert werden, dass sich die Junta in den 1850ern des Öfteren stellvertretend für die Aufhebung der Besteuerung der Bergbaugegend eingesetzt hatte, was allerdings von der Zentralregierung immer wieder abgelehnt worden war 50 . Anfang 1855 gab es zum ersten Mal zwei Wahllisten. So stand der von der zentralen Verwaltung unterstützten Liste eine andere gegenüber, die die unabhängigen Interessen „der Bergleute“ repräsentierte. Beide wurden von Bergbaumagnaten angeführt, doch das Programm der Opposition präsentierte sich bei der Wahl kritisch gegenüber den bestehenden Autoritäten: Ihr Programm zirkulierte am 31. Dezember 1854 auf einem Flugblatt, das von der lokalen Tageszeitung El Copiapino gedruckt wurde und den Titel Mejoremos el personal administrativo , „Lasst uns das Verwaltungspersonal verbessern“, trug. Die Liste beinhaltete auch eine Agenda, die laut Überschrift von den Bergleuten vorgeschlagen und von der Zunft umgesetzt werden sollte ( Programa de trabajos que ejecutará la junta que proponen los mineros) . In ihrem Programm verteidigte die Liste der Opposition staatliche Eingriffe zur Unterstützung kleinerer und mittlerer Minenbetriebe. Hauptsächlich zielte sie darauf ab, das chronische Problem der fehlenden Kredite zu beheben. Dafür sollten staatliche Darlehen mit „tragbaren“ Zinsen gewährt werden und die Tradition der „Darlehen-Banken“ wiederaufgenommen werden. Das Programm verteidigte auch die Notwendigkeit, den kleineren Minen einige grundlegende Investitionen für die schwere Arbeit im Bergbau zu ermöglichen und bestand darauf “[…] eine Verringerung der staatlichen Rechte bezüglich der Rohstoffe und Mineralien herbeizuführen, Rechte, die den 50 Sesión de la Junta de Minería. Copiapó: 4 de julio de de 1853. A.N.A.I.A., Bd. 137, s/f. 199 Die Bergbau-Junta von Copiapó 201 Industriellen in der Entwicklung seiner Industrie extrem hemmten” 51 . Die Wahlen wurden am Nachmittag des 1. Januars im Gemeindesaal mit einer „großen Beteiligung der Bergleute“ durchgeführt. Obwohl der Intendant versuchte, die Wahl um einen Tag zu verschieben, hatte sein Unterfangen keinen Erfolg und die unabhängige Liste unter der Führung des jungen Magnaten Pedro León Gallo konnte einen triumphalen Wahlsieg verzeichnen. Die große Wahlbeteiligung lässt sich auch auf die Teilnahme der unterschiedlichen Sektoren des Bergbaus zurückführen. Zum ersten Mal konnte eine offene, breite Verbandsbildung und ein konkurrenzorientiertes Wahlsystem effektiv durchgeführt werden. Am 2. Januar 1856 veränderte sich die Stimmung jedoch abrupt, als sich die neue Junta in der Verwaltungskammer mit nur wenigen ihrer Wortführer versammelte. Bei diesem Treffen verlas der stellvertretende Intendant Juan Vicente Mira folgendes Dekret: “Die Praxis, die Mitglieder der Junta de Minería durch alle Personen, die an der Ernennung teilnehmen wollen, wählen zu lassen, wird als informell und gefährlich für die Interessen der Bergleute eingestuft und somit abgeschafft” 52 . Die Regierungsverwaltung griff in die Belange der Junta de Minería ein und ging dazu über, die Mitglieder der Junta selbst zu ernennen. Dieser Beschluss beruhte darauf, dass es „weder Vorschriften oder eine Verfassung gab“, die die Richtlinien für die Wahl der Mitglieder der Institutionen vorgaben, noch wurde die „Wahlberechtigung für die Wähler festgelegt“. Dies würde für gewöhnlich zu einer Maßlosigkeit führen, die Personen zuließe, die „keinerlei Titel oder Qualifikation aufwiesen“, als lediglich „Bergmann“ zu sein. Dies würde in der Praxis so ausgedehnt, dass das Wahlrecht auch „den Faulen, den Kindern und wer auch immer sich als Bergmann ausgab“, zugesprochen würde. Angesichts dieser Situation erklärte die Verwaltung, dass sie sich darum kümmern müsse, dass die Gelder des Verbandes tatsächlich von „[…] Personen verwaltet werde, die garantiert ihren Eifer, ihr Eigentum und ihre Sorgfalt einbringen würden“. Deshalb müsse auch „vermieden werden, dass aus der Informalität, mit der die 51 El Copiapino. Copiapó, 2. Januar 1855. Zu diesen traditionellen Ansprüchen bezüglich der regionalen Wirtschaft vergleiche Steven Volk: Mine owners, moneylenders, and the State in mid-nineteenth-century Chile: Transitions and conflicts. In: Hispanic American Historical Review 73 I (1993). “[...] solicitar al gobierno la disminución de los derechos sobre las pastas y minerales, derechos que afligen en extremo al industrial en prejuicio del desarrollo de la industria.” 52 Instalación de la Junta de Minería. Copiapó: 2. Januar 1856, A.N.A.I.A., Bd. 137, s/f. “Se suprime como informal y peligrosa para los intereses mineros la práctica indebida de elegir a los miembros de la Junta de Minería por todos los individuos que quieran presentarse a nombrarlos.” 200 202 Joaquín Fernández Abara Juntas […] gewöhnlich ernannt wurden, eine für den Verband nachteilige Wahl erfolgen könnte“ 53 . Daraus wird ersichtlich, welche Bedeutung die Exekutive der Provinz den lokalen Bergbau-Korporativen beimaß, vor allem wegen ihrer finanziellen Beiträge an die Regierung. Dennoch wurde versucht, deren Funktion als beratendes Organ aufzuheben, um auf Regierungsebene jegliche Art der Opposition zu vermeiden. Die Intervention der Verwaltung wurde nur durch den Respekt gegenüber wichtigen Personen der Gegend beschränkt. Die soziale Schicht, zu der diese Personen gehörten, wurde in diesem Fall hauptsächlich durch deren sozialen Einfluss definiert, der sich vorwiegend aus deren Reichtum ergab, aber durch die Zugehörigkeit zu aristokratischen Familien, die schon relativ lang in der Gegend ansässig waren. Deshalb wurde beim Eingriff in die Wahl der Junta darauf geachtet, dass zwar wichtige Positionen von Regierungsanhängern besetzt, gleichzeitig aber die Ansprüche einflussreicher Familien respektiert würden, auch wenn sie abweichende politische Haltungen angenommen hatten. In dieser Situation schwacher Staatlichkeit zielte die Zentralisierung der Verwaltung nicht darauf ab, die Institutionen der Gebietsverwaltung und ihre finanziellen Mittel zu ersetzen, wohl aber sie zu kontrollieren. Dennoch kollidierte dieses Konzept der Verwaltung mit der sozialen Komplexität, die in der Provinz vorzufinden war. In Atacama hatte sich eine Wirtschaftsform etabliert, in der die kleineren und mittleren Minenbetriebe eine wichtige und sichtbare Position innehatten. Schon seit der spätkolonialen Zeit neigte die Gesetzgebung bezüglich des Bergbaus dazu, die Voraussetzungen für das Wachstum kleinerer und mittlerer Betriebe zu schaffen. Unter diesen Umständen wurden durch den Bergbauboom und dem daraus folgenden Anstieg der Migration auch andere Schichten bedeutender, die nicht zur Elite gehörten. Diese Schichten können als eine Art Proto-Mittelschicht verstanden werden deren Alphabetisierungsniveau und Einkommen ihnen den Erhalt der Staatsbürgerschaft ermöglichten 54 . In diesem sozialen Umfeld war es nicht 53 Ebenda. “[...] por personas que presten toda garantía de celo, probidad y diligencia”/ “[...] evitar que de la informalidad con que se ha acostumbrado nombrar las juntas […] resulte una elección perjudicial para el gremio” 54 Während in Chile 17,3 % der Menschen Alphabeten waren, erreichte die Region von Copiapó 29,4 %. Vergleiche hierzu Censo general de la República de Chile. Levantado en abril de 1854 . Santiago de Chile 1858. Bezogen auf die Einwohnerzahl kam in Copiapó ein Wahlberechtigter auf 32 Einwohner, in der Hafenstadt Caldera kam einer auf 21. Diese Zahlen lagen weit über dem Durchschnitt der Nation, bei der ein Wahlberechtigter auf 75 Einwohner kam. Anuario estadístico de la República de Chile . Santiago de Chile 1863, S. 450. Soweit sich aus dem Kataster, das von der Verwaltung erstellt wurde, ableiten lässt, wurden 1854 rund 200 Männer genannt, die Beteiligungsgesellschaften des Bergbaus 201 Die Bergbau-Junta von Copiapó 203 ungewöhnlich, dass die Mitglieder dieses Sektors – viele von ihnen kleinere Händler oder Selbstständige –, Anteile an den Bergbaugesellschaften hielten. Aus diesem Grund löste der Beschluss der Regierungsverwaltung erzürnte Proteste aus. Diese wurden von der Tageszeitung El Copiapino angeführt, deren Herausgeber jene Schichten mobilisieren wollten, die von der Verwaltung ausgeschlossen waren. Die Zeitung, unter der Leitung von José Nicolás Mujica, einem aus Santiago stammenden Journalisten, der einige kleinere Minen besaß, bezog eine offen oppositionelle Position gegenüber der Regierung. Die Zeitung offenbarte einen Liberalismus, der volksnah und antioligarchisch gefärbt war. Mujica selbst entwickelte gleichzeitig starke Verbindungen zu Handwerkern und kleineren Minenbesitzern, und gewann neue Kundenkreise, indem er Bergleute, die wegen Schulden angeklagt waren, schützte und verteidigte 55 . Auf diese Weise bildete er eine radikale Spitze der liberalen Opposition, die nur zwei Jahre später, 1858, unter dem Namen Popular oder Rojo bekannt werden sollte. Somit war es nicht verwunderlich, dass die Tageszeitung eine kämpferische Stellung einnahm, die sich für die Interessen der kleinen Bergbaubetriebe einsetzte und diese mit den Ideen der liberalen Opposition in Einklang brachte. Nach diesem Konzept wurden anklagende Artikel in Briefform gegen die Haltung der Regierung publiziert, die mit Mineros oder Liberales unterschrieben waren. Die demokratisierenden Bestrebungen der El Copiapino verschmolzen mit der Forderung nach Autonomie. In oppositionellen Kampagnen gegen den Verwaltungsbeamten beabsichtigte die Zeitung, die Rechte derjenigen Körperschaften zu verteidigen, die durch Gewohnheitsrecht und die Zustimmung der früheren Autoritäten legitimiert waren. Gleichzeitig betonte sie das Recht aller Minenbesitzer, an der Wahl ihrer Repräsentanten teilnehmen zu dürfen und die Kontrolle über ihre Steuergelder auszuüben. vorstanden. Diese Ziffer dokumentiert jedoch nicht die große Anzahl der weiteren beteiligten Besitzer der “barras”, der Teilgebiete der Minen. Vergleiche hierzu: Memoria que el Intendente de la Provincia de Atacama presenta al Señor Ministro de Estado en el Departamento de Interior dando cuenta de todos los ramos de la administración.Copiapó 1854, S. 103-111. 55 Sehr interessant ist auch die Art und Weise wie Mujica seine Führungspositionen bildete. Parallel dazu, dass er die Forderungen des Handwerks und kleinerer Minenbesitzer in seiner Zeitung El Copiapino einforderte, verbürgte er sich für verschuldete, mittelständische Unternehmer des Bergbaus als “fiador de cárcel segura”. Damit ist gemeint, dass er Personen in seinem Haus als Gefangene unterbrachte, die sonst wegen ihrer Schulden ins Gefängnis müssten. Anselmo Carabantes, ebenfalls ein Anführer der liberales rojos oder populares , bot ebenfalls diese Alternative an. Die bearbeiteten Quellen zeigen, dass diese Personen viel eher dazu neigten, diese Art der Unterstützung zu leisten, als die Mitglieder der Opposition, die zu den einflussreichen Familien gehörten oder regierungstreu waren. Vergleiche hierzu: Archivo Nacional. Archivo Notarial de Copiapó. (A.N.A.N.C.), Bd. 106-131. 202 204 Joaquín Fernández Abara „Es war ein unbedachter Schritt des stellvertretenden Intendanten der Provinz, die rechtmäßige Wählbarkeit der Junta de Minería abzuschaffen, die bei die Verbandsgründung von allen Minenbesitzern und unter der Schirmherrschaft der damaligen Regierung beschlossen und, könnte man sagen, von einer langen Praxis sanktioniert wurde. Er hat damit einer Serie willkürlicher Handlungen, mit denen seit einigen Jahren ununterbrochen in unsere Belange eingegriffen wurde, einen weiteren Fall hinzugefügt.” 56 . Das Plädoyer des El Copiapino griff eigene Elemente der korporativen Tradition, wie die Legitimierung der lokalen Institutionen durch Gewohnheitsrecht, auf, und verknüpfte diese mit einem demokratisierenden Liberalismus, der sich für die Aufnahme einiger nicht zur Elite gehörenden Schichten einsetzte. Die Reklamationen des Copiapino verbanden die wirtschaftlichen Interessen der kleinen Minenbetriebe mit der politischen Verteidigung lokaler Freiheiten. Somit verteidigte sie die Autonomie der Junta und gleichzeitig die bereits traditionellen wirtschaftlichen Proteste der Bergleute. An diesem Punkt ist es wichtig zu betonen, dass die Beanspruchung größerer wirtschaftlicher Autonomie eng mit einem Lokalpatriotismus verbunden war, der ebenfalls korporativen Charakter besaß. In ihrem Protest forderte die Zeitung El Copiapino, dass die Junta de Minería , gemeinschaftlich von allen Minenbesitzern gewählt, unabhängig einen Großteil der lokalen Einnahmen verwalten und die wirtschaftlichen Belange der Bergleute kanalisieren solle. In diesem Sinne würden die Steueraufkommen der Bergleute dazu übergehen, als eine Art „freiwillige Spende“ angesehen zu werden, und der lokale Bergbauverband könnte an ihrer Verwaltung einen entscheidenden Anteil haben 57 . Diese Polemik kann als Ergebnis der Entstehung einer öffentlichen Meinung verstanden werden. Diese wurde von sozialen Schichten mitbestimmt, die zwar der Elite fern waren, aber Zugang zu Bildung, zur Staatsbürgerschaft und oftmals auch zum Minenbesitz hatten. Die Repräsentanten dieser Schichten nahmen in ihren Diskursen in der Presse oder in „politischen Clubs“ auch Elemente aus der Tradition der elitären Korporativen mit auf, die aus dem 18. Jahrhundert stammten. Sie erfanden diese Tradition jedoch neu und verbanden sie mit der Vorstellung einer offeneren und leichter zugänglichen Staatsbürgerschaft. Dieses Vorgehen, das sich aufgrund des informellen 56 Junta de Minería. In: El Copiapino, Copiapó: 3. Januar 1856. “ El desacertado paso dado últimamente por el Intendente Interino de la provincia, relativo a la supresión del derecho de elegibilidad de la Junta de Minería acordado a todo propietario de minas por el acto de formación de un gremio de mineros, realizado en otro tiempo bajo los auspicios de la autoridad, y sancionado, puede decirse, por una larga práctica, ha venido a agregar un caso más a esa serie de hechos arbitrarios que se están sucediendo sin interrupción entre nosotros desde algunos años a esta fecha.” 57 Lo que estamos viendo. Ebenda. 203 Die Bergbau-Junta von Copiapó 205 Charakters der korporativen Institutionen der Minenbetriebe Copiapós teilweise umsetzen ließ, verweist auf die Formbarkeit des liberalen Diskurses 58 . Obwohl die Intendanten bis Ende 1858 die Kontrolle über die Junta de Minería behielten, milderte sich die Art und Weise der Kontrollausübung. Die Durchführung offener Wahlen wurde zwar weiterhin unterlassen, aber da die Ansichten einiger angesehener Minenbesitzer respektiert werden mussten, wurde versucht, die Wahlen zu unterwandern. Gegen Ende des Jahres 1856 wurden zur Einberufung der Wahl einige „achtbare Minenbesitzer“, die in der Stadt wohnten, durch "namentliche Einladung“ aufgefordert, an der Versammlung im Gemeindesaal von Copiapó teilzunehmen 59 . Damit blieben die Formalitäten des Wahlaktes gewahrt, und trotzdem konnte die Möglichkeit einer Intervention in den Verband mit der Ernennung von Anhängern der Regierung erhalten werden. Die Opposition wurde damit auf eine reduzierte Gruppe lokaler Familien, deren Teilnahmerecht unangefochten war, beschränkt. Somit nahmen an den Wahlen im Dezember 1856 genau 20 Personen teil. Der Intendant Mira, der den Vorsitz der Versammlung führte, hielt an seiner Argumentation des Vorjahrs fest, rechtfertigte das Wahlverfahren und betonte, dass „das Fehlen eines Verzeichnisses derjenigen Bergleute, aus denen sich der Verband zusammensetzen und die ein Mitsprachrecht in den Beratungen haben sollten“, in den letzten Jahren zu Ausschweifungen bei den Ernennungen in der Junta geführt habe. Laut Mira hatte dieser Missstand ihn dazu gezwungen, bei der letzten Wahl einzuschreiten und „zwölf der achtbarsten und kompetentesten Mitglieder“ der Stadt zu ernennen. Trotzdem seien um eine “für den Verband zufriedenstellendere Nominierung” zu finden, “[...] alle daran interessierten Personen eingeladen worden“, mit dem Vorschlag, „dieselben Mitglieder der scheidenden Junta, bis auf fünf Personen, auch für die neue Junta beizubehalten“ 60 . Die namentliche Einladung der achtbaren Minenbesitzer durch den Intendanten wurde bei den Wahlen im März 1858 beibehalten 61 . Obwohl in 58 Vergleiche hierzu die Überlegungen von Antonio Annino: El paradigma y la disputa. Notas para una genealogía de la cuestión liberal en México y América Hispánica. Nicht ediert . Vergleiche auch vom selben Autor: Ciudadanía ‘versus’ gobernabilidad republicana en México. Los orígenes de un dilema. In: Hilda Sábato: Ciudadanía política y formación de las naciones. Perspectivas históricas de América Latina. México 1999. 59 Al señor Presidente de la Junta de Minería. Copiapó: 10. März 1863. A.N.A.I.A., Bd. 92, s/f. 60 Sesión del Gremio de Mineros. Copiapó: 14 de diciembre de 1856. A.N.A.I.A., Bd. 137, s/f. “[...] invitado a todos los sujetos interesados en él [...] para vocales de la junta que debe funcionar el año entrante los mismos sujetos que han funcionado en la que expira, con sólo la variación de cinco.” 61 Al señor Presidente de la Junta. Copiapó: 10. März 1863. 204 206 Joaquín Fernández Abara diesem Jahr der Zuwachs der Opposition in Copiapó offensichtlich war, wurde die Wahl mit nur sieben Teilnehmern durchgeführt. El Copiapino stellte daraufhin ironischerweise fest, es gäbe „keinen besseren Beweis für die enorme Popularität, die der Herr Intendant unter uns genießt” 62 . Trotz der Intervention des Intendant und der geringen Zahl teilnehmender Wähler, kam es bei der Wahl zu Zwischenfällen. Es scheint, dass während der Versammlung drei der Anwesenden, deren Namen wir nicht herausfinden konnten, „[…] mitgeteilt hatten, dass sie sich nicht in der Lage sahen, die Wahl durchzuführen“. Sie machten geltend, dass der gesamte Verband mit einer öffentlichen Einladung über die Presse zusammengerufen werden sollte. Die anderen vier Mitglieder sollen geschwiegen und die von dem Intendanten vorgeschlagene Liste genehmigt haben 63 . Während des gesamten Zeitraums wurden die Verfahren zur Erneuerung der Junta de Minería schwer von der Opposition kritisiert. Besondere Empörung rief die Tatsache hervor, dass die Junta nach Belieben Bergleute durch private Anschreiben einlud, die sie für angemessen hielt, an den Wahlen teilzunehmen 64 . Diese „Anschreiben“, die von der oppositionellen Presse als „Einladungskärtchen“ bezeichnet wurden, waren wegen ihres privaten Charakters verrufen 65 . Der Intendant Mira wurde angeklagt, die Junta de Minería in eine „[…] handlungsunfähige Körperschaft, eine Scheinkorporative verwandelt zu haben, die alles autorisiert, was der Intendant will und alles ablehnt, was ihm missfällt, auch wenn es im allgemeinen Interesse wäre“. El Copiapino erklärte daraufhin die Nichtigkeit des Wahlverfahrens der Junta und sprach sich für eine „populäre“ Wahl aus, die Gültigkeit hätte und mit der vermieden werden könne, dass die Wahl innerhalb einer Gruppe von Personen stattfindet, die „gewählt wurden um zu wählen“. Nur auf diese Weise wäre die Junta ein Produkt des „unabhängigen Stimmrechts einer Mehrheit, die dazu berechtigt ist, ein bereits anerkanntes Recht auszuüben“ 66 . In dieser Kritik des Copiapino wurde der Regierung auch die willkürliche Ernennung von Vertretern vorgeworfen, die eingesetzt wurden, um Gelder zu verwalten, die von den Bergarbeitern freiwillig 62 El Copiapino . Copiapó: 4. Januar 1858. “[…] nada más elocuente para probar la inmensa popularidad de que el señor Intendente goza entre nosotros.” 63 Ebenda. “[...] hicieron presente que no se consideraban aptos para hacer la elección.” 64 El Copiapino . Copiapó: 2. Januar 1858. 65 Ebenda. 66 Ebenda. “[...] cuerpo indeliberativo, un simulacro de corporación, que autorice todo lo que el intendente quiera y rechace lo que le desagrade, aunque convenga a los intereses de la comunidad.”/ “[...] voto independiente de una mayoría apta para el ejercicio de un derecho ya reconocido.” 205 Die Bergbau-Junta von Copiapó 207 gezahlt worden waren. Auch wurde das Prinzip verteidigt, dass „[…] die Summen, die vom Volk in eigener Sache eingezahlt werden, dem selben Volk nützen sollen“ 67 . Es war nicht verwunderlich, dass die Junta de Minería im Copiapino als eine lokale Körperschaft dargestellt wurde, die aus einer freiwilligen Vereinigung entstanden war, mit dem Ziel, die Interessen von allen Bergleuten -in einem sozial breiteren Verständnis- zu vertreten 68 . Abb.2: “Trapiche” o molino de minerales. L. Simonin: Underground Life of Mines and Miners. London 1869. (Cortesía del Museo Regional de Atacama) Gegen Ende 1858 veränderte sich die Situation. Die am 30. Dezember diesen Jahres durchgeführte Wahl der Junta zeigte eine Wendung hin zu einem deutlich offeneren Wahlverfahren. 69 Der neue Intendant, José María Silva Chávez, in dem Versuch, die Gemüter der Opposition zu besänftigen und Beschwerden wegen Einmischung zu vermeiden, lud „für den offiziellen Zeitraum einer Generalversammlung am 30. Dezember, um 12 Uhr in den Gemeindesaal“ ein. Abgesehen von der Einberufung der Versammlung, versuchte er einen Überhang 67 El Copiapino. Copiapó: 28 de marzo de 1857. “[…] las sumas que el pueblo deposita en su poder sirvan para el mismo pueblo.” 68 El Copiapino . Copiapó: 11 de enero de 1858. 69 Al señor Presidente. Copiapó: 10. März 1863. 206 208 Joaquín Fernández Abara für die Regierung zu erreichen, indem er sich besonders darum bemühte, Mitteilungen an Personen zu schicken, von denen anzunehmen war, dass sie der Regierung nahe standen. Dennoch blieb gegenüber der Mobilisierungsmöglichkeiten der Oppositionellen machtlos. Tatsächlich kamen auf die Einladung des Intendanten nur vier Personen. Auf der anderen Seite erschienen Pedro León Gallo, wohlhabendes Mitglieder einer der wichtigsten Familien der Gegend, in Begleitung von 20 bis 25 Männern. Alle waren Mitglieder des Club Constituyente , einer „Partei“, die an die Opposition angegliedert war und aus populären Liberalen und abtrünnigen Konservativen bestand. Folgerichtig konnte die Opposition eine überwältigende Mehrheit verzeichnen und stellte die gewählten Mitglieder der sich neu zusammensetzenden Junta. Es ist hervorzuheben, dass mit Ausnahme von Blas Ossa und José Antonio Moreno der komplette Rest der Junta Mitglieder des Club Constituyente waren. Nur sechs Tage später griffen sie zu den Waffen und die Revolución Constituyente in Atacama brach aus. Laut dem Intendanten Silva Chávez handelte es sich hierbei um die „lächerlichste Junta“, die Copiapó haben konnte. Dieses Urteil des Intendanten hob auf die Mitglieder der neuen Junta de Minería ab, die nun hauptsächlich von Persönlichkeiten der Opposition vertreten wurde, wobei viele von ihnen, wie Anselmo Carbantes und Nicolás Mujica, den radikalen Sektoren angehörten. Gleichzeitig verwies es auf die soziale Zusammensetzung der neuen Junta, denn der Intendant behauptete, dass „abgesehen von Ossa Varas, Gallo, Matta, Carballo y Moreno und ein oder zwei weiteren Ausnahmen, sind alle anderen ‚arme Teufel’, die kein Geld haben“. Tatsächlich aber waren einige der gewählten Mitglieder Vorstände von kleineren Abbaubetrieben oder besaßen eine Mitteilhaberschaft im Bergbau oder damit verbundenen Betrieben. Silva Chávez informierte Präsident Manuel Montt, er habe daran gedacht, einfach den Saal zu verlassen, da er die Wortführer als nicht qualifiziert betrachtete, aber „[D]as hätte ja nichts als Missfallen geweckt und den Vorwurf der Tyrannei aufkommen lassen, wobei auf diese Weise nicht mal eine Stimmengleichheit zustande gekommen wäre, denn die Differenz, der ich mich fügen und die ich erleiden musste, ist so groß, dass ich, hätte ich so einen Fall vorhergesehen, diese Wahl nie durchgeführt und die Junta von 58 einfach auch für 59 beibehalten hätte, denn es gibt weder eine Satzung noch eine Vorschrift, alles wird auf Grundlage des Gewohnheitsrechts gemacht” 70 . 70 Carta de José María Silva Chávez a Manuel Montt. Copiapó: 1. Januar 1859. A.N.F.F.M.M. Bd. XV, S. 1-2. “Esto no habría producido más que un desagrado y material para hablar de tiranía, cuando con esta medida no podría ni empatar el sufragio, pues es tan grande la diferencia que tuve que resignarme a sufrir, que al haber previsto yo un caso semejante no habría hecho tal elección y habría dejado la junta de 58 para 59, pues no hay estatutos ni reglamento alguno, y todo se hace por costumbre.” 207 Die Bergbau-Junta von Copiapó 209 Sechs Tage später brach der Bürgerkrieg von 1859 aus, und die Provinz Copiapó erklärte ihre „Abspaltung“ von der „Regierung in Santiago“. Der Bürgerkrieg zeigte deutliche dezentralisierende Tendenzen und führte zu einer Reform der Verfassung. Eine der ersten Handlungen der Revolutionsführer war es, sich die Unterstützung der kommunalen Körperschaft und des lokalen Bergbauverbandes zu sichern. Die politische Ritualhandlung, der die Rebellen Copiapós folgten, zeigt die Bedeutung, die den lokalen Verbänden zugeschrieben wurde. Die Junta de Minería versammelte sich unter der Präsidentschaft des revolutionären Intendanten Pedro León Gallo am 8. Januar. Nachdem die neue Körperschaft eingesetzt worden war, ernannten ihre Mitglieder eine Kommission, die die Bücher und Kassen auf vorhandene Geldmittel hin prüfen sollte, und ermächtigte den Intendanten, „…die Gelder der Junta in den Bereichen des Gemeinwohls zu investieren, in denen sie gebraucht werden“, und überließ es seinem Ermessen, diese Finanzen einzusetzen 71 . Die Gelder der Körperschaft wurden zwar dem neuen revolutionären Regime übergeben, diese Übergabe der Gelder wurde aber als freiwillig bezeichnet, da die Junta das Recht hatte, frei darüber zu verfügen. Die Revolutionären nannten die Übertragung des Geldes einen „beredtes Zeugnis des Vertrauens“ von Seiten des Bergbauverbandes 72 . Diese Ereignisse zeigen erneut die Vermischung von Liberalismus und Regionalismus, und betonen gleichzeitig den korporativen Charakter, den letztere Strömung im Norden Chiles des 19. Jahrhundert angenommen hatte. Soziale Schichten, die zwar nicht zur Elite gehörten, aber Teil Öffentlichkeit waren, interpretierten diese korporative Tradition neu und verfeinerten sie mit einem demokratisierenden Liberalismus. Die Junta de Minería , eine Institution, die seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts ein Bollwerk der Magnatenfamilien des Bergbaus und der lokalen Eliten gewesen war, wurde nun als Schutzwall gegen die zentralistischen Bestrebungen der Regierung und als repräsentative Pattform für verschiedene Sektoren des Bergbauwesens angesehen. 71 Vergleiche hierzu die Eröffnungssitzung der Junta de Minería, Copiapó, 8. Januar 1859, in A.N.A.I.A., Bd. 137, s/f. “[…] facultó al intendente para “que invirtiera los fondos de la junta en aquellos ramos del servicio público que con preferencia lo reclamen” y dejó a su “arbitrio” el manejo de dichos fondos.” 72 Anonymer Autor: Apuntes de la revolución del cinco de enero de 1859 realizada en Copiapó, S. 30f. Zu den Übergaben der Finanzen von der Junta an die neuen revolutionären Autoritäten vergleiche A.N.A.I.A., Bd. 218, S. 371 f. “[…] voto elocuente de confianza.” 208 209 AUTORINNEN UND AUTOREN Mónika Contreras Saiz (monikacs@zedat.fu-berlin.de) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 700 im Projekt “Herrschaftslegitimierung über Partizipation im kulturell heterogenen Raum: Lateinamerika zwischen Kolonie und postkolonialem Staat, 1759-1865” unter der Leitung von Stefan Rinke am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Ihr Promotionsvorhaben untersucht die “Herstellung von Sicherheit im interkulturellen Kontext. Die Allianzen für den Frieden zwischen den Mapuche und dem Staat Chile, 1767- 1881”. Joaquín Fernández Abara (jrfernan@uc.cl) ist Dozent für Geschichte, Journa- lismus und Soziologie an der Universidad Alberto Hurtado, Santiago de Chile. Derzeit arbeitet er an seiner Magisterarbeit. Zu seinen Forschungsschwerpunk- ten zählen die Geschichte des republikanischen Chiles, die Staatsbildung, der Regionalismus sowie die Bürgerkriege des 19. Jahrhunderts und der Po- pulismus des 20. Jahrhunderts. Justo Flores Escalante (jflores@colmex.mx) studierte Anthropologie mit dem Schwerpunkt Geschichte an der Universidad Autónoma de Yucatán. Derzeit ist er Doktorand des Colegio de México und promoviert über die Integration der Halbinsel Yucatán und die Bildung von Campeche innerhalb des mexikanischen Staates 1821-1857. Er ist Stipendiat des Consejo Nacional de Ciencia y Tecnología de México (Conacyt). Lasse Hölck (hoelckl@yahoo.de) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 700 im Projekt “Herrschaftslegitimierung über Partizipation im kulturell heterogenen Raum: Lateinamerika zwischen Kolonie und postkolonialem Staat, 1759-1865”. Sein Promotionsvorhaben am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin untersucht "Die politische Einbeziehung indigener Gemeinschaften über Bildungseinrichtungen in Sonora, 1767- 1857". Jorge Pinto Rodríguez (jpinto@ufro.cl) ist Professor für Sozial- und Bevölkerungsgeschichte am Institut für Sozialwissenschaften der Universidad de La Frontera, Temuco/Chile. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte Chiles seit der Kolonialzeit und im Besonderen die Erschließung und Entwicklung der Araucania sowie die Wechselbeziehungen zwischen dem chilenischen Staat und den Mapuche. Cynthia Radding (radding@email.unc.edu) ist Professorin für Kolonialge- schichte Lateinamerikas, für Umweltgeschichte sowie die Geschichte Mexikos an der University of North Carolina, Chapel Hill. Ferner ist sie Gussenhoven 210 212 Autorinnen und Autoren Distinguished Professor of Latin American Studies daselbst. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die iberoamerikanischen frontiers während der Kolonialzeit und der frühen nationalen Epoche. Ihr Fokus liegt auf dem Norden Mexikos und den inneren Grenzräumen des Tieflandes von Bolivien, Brasilien und Paraguay. Stefan Rinke (rinke@zedat.fu-berlin.de) ist Professor für Geschichte Lateinamerikas am Lateinamerika-Institut und am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Er ist Projektleiter des Projekts “Herr- schaftslegitimierung über Partizipation im kulturell heterogenen Raum: Latein- amerika zwischen Kolonie und postkolonialem Staat, 1759-1865” im SFB 700. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte Lateinamerikas im 19. und 20. Jahrhundert, Lateinamerika im globalen Kontext sowie die vergleichende Geschichte der Amerikas. 211 212