7STEFAN RINKE / LASSE HÖLCK / MÓNIKA CONTRERAS SAIZ
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REGIEREN IN DEN GRENZREGIONEN LATEINAMERIKAS ZWISCHEN KOLONIE UND REPUBLIK: EINE EINLEITUNG
Begrenzte Staatlichkeit ist eine Konstante in der Geschichte Lateinamerikas
von der Kolonialzeit bis in die Gegenwart. Ob Spanier und Portugiesen die für
sie neue Welt unter sich aufteilten, ohne zu wissen, um was es sich dabei genau
handelte, oder ob manche Staaten ihr nationales Territorium auf Landkarten
stolz präsentierten, ohne dass sie es tatsächlich noch - oder schon –
kontrollierten, stets klafften Anspruch und Wirklichkeit von Herrschaft in der
Region weit auseinander. Das galt auch für die Umbruchszeit von 1750-1850
mit ihren kolonialen und ab 1826 postkolonialen Konstellationen. Durch die
Schwäche der spanischen und portugiesischen Krone, die insbesondere in den
vielfältigen internationalen Verwicklungen und Kriegen der napoleonischen Ära
deutlich wurde, sowie durch die ohnehin nur unzureichende Durchdringung und
Beherrschung weiter Teile des amerikanischen Hinterlands, der so genannten
Grenzgebiete, bestanden externe und interne Herrschaftsdefizite, die dann zum
einen die Unabhängigkeitsrevolutionen verursachten, sie zum anderen aber auch
entscheidend prägten und ihre Ergebnisse mitbestimmten.
1
Eine effektive
Herrschaft war daher in weiten Gebieten der iberischen Kolonialreiche nicht
vorhanden. Die Fähigkeit, politische Entscheidungen in den Kolonien
durchzusetzen, war nur phasenweise und räumlich punktuell so stark, dass man
von einem herrschaftlichen Gewaltmonopol sprechen kann.
Bei der Untersuchung dieser Grenzgebiete ist es deshalb angebracht, von der
Perspektive auf den Staat als „Produzenten der Vorstellungen und Realität
befestigter und verwalteter Landesgrenzen“
2
abzurücken und gleichzeitig die
1 Stefan Rinke: Revolutionen in Lateinamerika: Wege in die Unabhängigkeit, 1760-1830.
München 2010.
2 Hans Medick: Grenzziehungen und die Herstellung des politisch
‐
sozialen Raumes. Zur
Begriffsgeschichte und politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der Frühen Neuzeit. In:
Richard Faber (Hrsg.): Literatur der Grenze – Theorie der Grenze. Würzburg 1995, S.
211‐224.
8
8 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz
Grenzregionen als Räume wechselseitiger ethnischer und kultureller Begegnung
und Durchdringung zu beschreiben, wie es die jüngsten Studien zur Frontier
fordern.
3
Im Vergleich mit den Kerngebieten kolonialer und später nationaler
Verwaltungen, etwa dem Hochtal von Mexiko oder dem zentralen Andenraum,
zeichneten sich diese Randgebiete durch einen kontinuierlich hohen
Gewaltpegel aus, der sich durch die gesamte Kolonialzeit und bis ans Ende des
19. Jahrhundert zog.
4
Am Beispiel Brasiliens konnte jüngst gezeigt werden, dass
die ethnischen Gegensätze sich unter anderem in unvereinbaren Konzepten der
Territorialisierung manifestieren und eine der Hauptursachen für die Entstehung
gewalttätiger Konflikte in kulturell heterogenen Grenzregionen darstellten.
5
Die
Wahrnehmung der unabhängigen indigenen Bevölkerung an den Rändern des
beanspruchten brasilianischen Herrschaftsgebietes wandelte sich dabei
paradoxerweise von ihrer Rolle als „Grenzwächter“ gegenüber anderen
Kolonialmächten hin zu einer Bedrohung für die Unverletzlichkeit der
Nationalgrenzen.
6
Die Kontrolle der (indigenen) Grenzbevölkerungen wurde
somit graduell zu einer immer bedeutenderen Aufgabe, die sich die Regierungen
stellten und sie nach Möglichkeiten einer Einbeziehung dieser Gruppen suchen
ließ.
David J. Weber hat zuletzt das „aufgeklärte“ Verhältnis des bourbonischen
Spanien zur indigenen Bevölkerung in den Grenzregionen des iberischen
Überseereiches untersucht und dabei festgestellt, dass das alte Bild einer
spanischen Kolonialmacht, die im Gegensatz zu England und Frankreich nicht
auf Handelsbeziehungen und Allianzen, sondern allein auf Massenkonversion
und territoriale Eroberung setzte, nicht mehr aufrechtzuerhalten ist.
7
Seit Beginn
3 Michael Riekenberg: Zum Konzept des Grenzlandes In: Markus Bieswanger (Hrsg.):
Abgrenzen oder Entgrenzen. Zur Produktivität von Grenzen, Frankfurt am Main 2003, S. 131-
147.
4 Wolfgang Gabbert: Koloniale und Post-Koloniale Gewalt: Die indigene Bevölkerung
Lateinamerikas. 1492-1870. In: Friedrich Edelmayer, Bernd Hausberger, Barbara Potthast
(Hrsg.): Lateinamerika 1492 - 1850/70. Wien 2005, S. 79–95.
5 Hal Langfur: The forbidden lands: colonial identity, frontier violence, and the persistence
of Brazil's Eastern Indians, 1750 – 1830. Stanford 2006; Aracy Lopes da Silva Aracy: Dois
Séculos e Meio de História Xavante. In: Cunha, Manuela Carneiro da; Salzano, Francisco M.
(Hrsg.): História dos índios no Brasil. São Paulo 2006, S. 357–378.2006; Mary Karasch:
Interethnic Conflict and Resistance on the Brazilian Frontier. In: Donna J. Guy und Thomas
E. Sheridan (Hrsg.): Contested Ground: Comparative Frontiers on the Northern and Southern
Edges of the Spanish Empire. Tucson 1998, S.115-134.
6 Manuela Carneiro da Cunha: Introdução a uma história indígena. In: Manuela Carneiro
da Cunha und Salzano, Francisco M. Salzano (Hrsg.): História dos índios no Brasil. São Paulo
2006, S. 9–24, hier S. 17.
7 David J. Weber: Bárbaros: Spaniards and Their Savages in the Age of Enlightenment.
London 2005.
9Einleitung
9
der Regentschaft Karl III. (1759-1788) beabsichtigte die spanische Krone mit
den so genannten bourbonischen Reformen eine effektivere Verwaltung der
Kolonien zu erreichen. Diejenigen Körperschaften, die staatliche Funktionen
ausübten und damit dem administrativen Ideal eines „aufgeklärten
Absolutismus“ im Wege standen, sollten aufgelöst oder zumindest geschwächt
werden. Die spektakulärste Maßnahme der spanischen Krone stellte in diesem
Zusammenhang die Ausweisung des Jesuitenordens aus den spanischen
Besitzungen im Jahre 1767 dar. Davon waren auch die Missionen in Sonora und
in der Mapuche-Region im Süden Chiles betroffen, Regionen, die aufgrund des
hartnäckigen Widerstands der dort lebenden indigenen Bevölkerung als
Paradebeispiel der Grenze gelten. Das entstandene Machtvakuum schuf eine
völlig veränderte politische Situation in den Regionen und machte eine Suche
nach neuen Formen des Regierens notwendig.
Um Regierungsformen in kulturell heterogenen Grenzregionen methodisch zu
erfassen, bietet es sich an, die jüngsten Ergebnisse der politikwissenschaftlichen
Governance- Debatte für die historische Forschung fruchtbar zu machen. Das
Governance- Konzept fokussiert das „Gesamt aller nebeneinander bestehenden
Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte“, worunter
Mechanismen gemeinschaftlicher Selbstregulierung und verschiedene Formen
eines Zusammenwirkens staatlicher und nicht- staatlicher Akteure ebenso zu
fassen sind wie das hoheitliche Handeln von staatlichen Akteuren selbst.
8
Da
dieses Konzept vor allem für die Analyse von Regierungsprozessen in den
OECD- Ländern entwickelt wurde, hat sich eine daran anschließende Forschung
der Aufgabe gewidmet, speziell nach dessen Übertragbarkeit auf „Räume
begrenzter Staatlichkeit“ zu fragen.
9
Die ersten Ergebnisse dieser Debatte
verfeinerten die Definition der Regierungsprozesse als „institutionalisierte Modi
der sozialen Handlungskoordination, die auf die Herstellung und
Implementierung kollektiv verbindlicher Regelungen bzw. auf die Bereitstellung
kollektiver Güter für eine bestimmte soziale Gruppe abzielen“.
10
Mit dieser Definition rückt die Untersuchung der Regierungsprozesse von
einer Konzentration auf den Staat als Hauptakteur weiter ab und bietet ein
8 Renate Mayntz: Governance im modernen Staat. In: Arthur Benz (Hrsg.): Governance –
Regieren in komplexen Regelsystemen. Wiesbaden 2004, S. 65-76.
9 Thomas Risse: Regieren in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Zur „Reisefähigkeit“ des
Governance-Konzeptes, SFB-Governance Working Paper Series, Nr. 5, DFG
Sonderforschungsbereich 700, Berlin April 2007.
10
Sonderforschungsbereich 700: Grundbegriffe der Governanceforschung, SFB-
Governance Working Paper Series, Nr. 8, DFG Sonderforschungsbereich 700, Berlin Juni
2009.
10
10 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz
heuristisches Werkzeug an, um die komplexen Akteurskonstellationen
kolonialer und frührepublikanischer Regierungsweisen an den Grenzgebieten
Lateinamerikas zu erfassen.
11
Sie ermöglicht zudem, die notwendigen
Aushandlungsprozesse, die ein Zusammenleben im kulturell heterogenen Raum
mit sich bringt, als Alternativen zu Herrschaftsverhältnissen zu betrachten, die
eine Unterordnung der „beherrschten“ Bevölkerung voraussetzen. Der Begriff
des „Regierens“ wird damit seiner hierarchischen Konnotation entkleidet und
soll in diesem Band als ein Vorgang verstanden werden, über den möglichen
Konflikten vorgebeugt, bestehende Konflikte gelöst und damit ein
Zusammenleben im kulturell heterogenen Raum ermöglicht werden kann.
Mit dem Schwerpunkt auf die Legitimitätsdefizite lateinamerikanischer
Regierungen in ihren peripheren Gebieten soll in diesem Band durch eine
Untersuchung der Bedeutung kultureller Heterogenität dieser Regionen, in
denen hoheitliches Handeln seitens der Zentralregierung als Fremdherrschaft
wahrgenommen und meist abgelehnt wurde, sowie des Systembruchs zwischen
kolonialer und republikanischer Regierungsweise ein Beitrag zu dieser Debatte
geleistet werden. Dabei wird der Tatsache Rechnung getragen, dass auch die
Analyse von Übergangs-
Phasen
nicht ohne Berücksichtigung ihrer historischen
Ausgangslagen geleistet werden kann und schließlich ebenso danach zu fragen
ist, welche langfristigen Bedeutungen diese für die weitere historische
Entwicklung haben. Die Beiträge dieses Bandes decken daher einen breiten
zeitlichen Rahmen ab, beginnend mit den nahezu zeitlosen Umweltbedingungen,
die als physische Basis das menschliche Miteinander bedingen (Cynthia
Radding) und dem frühen Prozess der Kolonisierung, die von der
Kontaktaufnahme zwischen den autochthonen Gesellschaften und den
Vertretern der Kolonialmacht geprägt sind (Lasse Hölck).
Die Bourbonischen Reformen stellen für sich genommen bereits eine
Transition innerhalb des kolonialen Regierungssystems dar, wenngleich sich
diese auf die Regierungsprogramme und - weisen beschränkten. Die politischen
Reformmaßnahmen der französischen Dynastie auf dem spanischen Thron
riefen ebenso den Widerstand der kreolischen wie der indigenen Eliten in den
kolonialen Kernzonen Lateinamerikas hervor, da sie deren politische
Mittlerrolle zwischen Krone und Kolonialbevölkerung durch die Schaffung
neuer, direkt der Krone unterstehender Beamter (Intendanten) zu umgehen
11
Für eine Anwendung des Governance- Konzeptes auf die Regierungsweisen im Kontext
der französischen und britischen Kolonien siehe: Dominik Nagl, Marion Stange 2009:
Staatlichkeit und Governance im Zeitalter der europäischen Expansion. SFB-Governance
Working Paper Series, Nr. 19, DFG-Sonderforschungsbereich 700, Berlin, Februar.
11Einleitung
11
trachteten
12
Tributpflichtige indigene Gemeinschaften hatten zudem höhere und
teils neue Steuerabgaben zu leisten, was sie in Opposition zu den Agenten des
politischen Wandels brachte.
13
Der Versuch der Krone, die Kolonien enger an
das Mutterland zu binden, wurde damit paradoxerweise zu einer Ursache der
folgenden Unabhängigkeitsbewegung. Die Bourbonischen Reformen brachten
ebenfalls neue Regierungsmaximen in die Grenzregion des südlichen Chile, ein
Themenkomplex, der im Beitrag von Mónika Contreras in diesem Band
behandelt wird.
Die Loslösung vom „Mutterland“ sorgte für einen konstitutionellen Bruch in
den lateinamerikanischen Ländern. Waren bislang der spanische König und die
königlichen Beamten die Referenz gewesen, mit der das Regieren auf lokaler
Ebene gerechtfertigt wurde, suchte man nun nach Formen,
Governance
„von
unten“ her, d. h. durch die Mobilisierung der mehrheitlich indigenen und
mestizischen Bevölkerung, zu rechtfertigen. Unter der Oberfläche neuer
republikanischer Staatlichkeit, die von europäischen und nordamerikanischen
Vorbildern inspiriert und insbesondere durch die regelmäßige Durchführung von
Wahlen gekennzeichnet war
14
, blieben jedoch alte Partizipationsformen erhalten
oder bildeten sich in Vermischung mit neuen zu hybriden Formen heraus.
15
Auch in den Grenzregionen versuchten lokale Potentaten zunehmend, die
Unterstützung indigener und anderer Bevölkerungsgruppen für ihre politischen
Programme zu gewinnen, die zuvor nicht an den Regierungsprozessen beteiligt
worden waren. Die durch den Systembruch der Unabhängigkeit entstehenden
Konflikte zwischen den Mapuche und der Republik Chile werden in dem
Beitrag von Jorge Pinto analysiert. Das Konfliktpotential, das der Spagat
zwischen Beibehaltung eingeübter sozialer Kooperationsformen der Kolonialzeit
und der Einführung neuer, republikanischer Repräsentationsformen barg,
beschränkte sich mithin nicht nur auf das Verhältnis zwischen den
verschiedenen Ethnien, die die neu entstandenen Staaten bewohnten. Der
12 Nancy Marguerite Farriss: Maya society under colonial rule: the collective enterprise of
survival. Princeton 1984, S. 356-366; Luis M. Glave: The "Republic of Indians" in Revolt (c.
1680-1780). In: Frank Salomon und Stuart B. Schwartz (Hrsg.): The Cambridge history of the
native peoples of the Americas. Cambridge 1999, S. 541 sowie S. 552-554.
13 Murdo J. MacLeod: Mesoamerica since the Spanish Invasion: An Overview. In:
Richard W. Adams und Murdo J. MacLeod (Hrsg.): The Cambridge History of the Native
Peoples of the Americas. Bd. II, Teil 2. Cambridge 2000, S. 21
14 Antonio Annino (Hrsg.): Historia de las Elecciones en Iberoamerica, s° XIX. Buenos
Aires 1995.
15
Ein Beispiel für hybride Formen sind etwa die mexikanischen
pronunciamientos
, die
militärische Kooperationen mit plebiszitären Partizipationsformen verbanden.
12
12 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz
Beitrag von Joaquin Fernandez macht darauf aufmerksam, dass die
Aushandlung von Konsens über institutionalisierte Repräsentationsformen auch
in überwiegend mestizischen Siedlungszentren für sozialen Sprengstoff sorgen
konnte.
Die kulturellen Gegensätze innerhalb der Territorien lateinamerikanischer
Staaten blieben jedoch über das gesamte 19. Jahrhundert und darüber hinaus ein
Brennpunkt, an dem sich die gewalttätigsten Konflikte der lateinamerikanischen
Geschichte entzündeten. Ein Beispiel dafür sind etwa die Kastenkriege im
mexikanischen Yucatan. In dem abschließenden Beitrag von Justo Flores wird
aufgezeigt, dass die Durchsetzung staatlicher Regierungsprogramme im
postrevolutionären Mexiko auf ganz ähnliche Schwierigkeiten stieß wie zur Zeit
der kolonialen und frührepublikanischen Regierungen.
Die Beiträge des vorliegenden Bandes nähern sich dieser Problematik aus
unterschiedlichen Blickwinkeln an. Gemeinsam ist ihnen der vergleichende
mikrohistorische Blick, der die Mechanismen der Einbeziehung und deren
kulturelle Voraussetzungen auf lokaler Ebene analysiert und dabei insbesondere
auch nach dem Einfluss der Vorstellungen lokaler bzw. indigener
Bevölkerungsteile von politischer Partizipation fragen.
Zu den zentralen Fragestellungen, die die Autorinnen und Autoren dieses
Bandes im Folgenden ansprechen, zählen: Welche Probleme ergaben sich beim
Regieren in einem kulturell heterogenen Raum? Welche Akteure agierten auf
regionaler Ebene, um die Vorgaben der Regierungen umzusetzen? Welche
Mechanismen der Einbeziehung wurden aus der Kolonialzeit übernommen und
welche waren wirklich „neu“? Welche Unterschiede und Entsprechungen
ergeben sich aus einem Vergleich Mexikos mit Chile? Welche Rolle spielten
transnationale Akteure und Kulturtransfer? Im Anschluss werden zunächst aus
einer vergleichenden Perspektive einige Thesen hierzu formuliert, die sich auf
die empirische Forschung vor Ort stützen.
In der Kolonialzeit und nach der Unabhängigkeit stellte die Rekrutierung von
indigenen Hilfstruppen für Expeditionen oder Festungsbesatzungen eine
wichtige Form der Vergemeinschaftung von Spaniern und autochthoner
Bevölkerung dar.
16
Auch während der Unabhängigkeitskriege wurden Allianzen
mit den indigenen Gruppen gesucht, die oft für die Seite der königstreuen
Truppen Stellung bezogen, da sie eine Veränderung ihrer kolonialzeitlichen
16 Cynthia Radding: Wandering Peoples: Colonialism, Ethnic Spaces, and Ecological
Frontiers in Northwestern Mexico, 1700-1850. London 1997; Andrea Ruíz- Esquide: Los
Indios Amigos en la frontera Araucana. Santiago 1993; Langfur 2006; Henry Dobyns:
Military Transculturation of Northern Piman Indians, 1782-1821. In: Ethnohistory 19/4
(1972), S. 323-343.
13Einleitung
13
Sonderrechte ablehnten.
17
Die Ergebnisse unserer Forschung zeigen, dass die
militärische Kooperation einen der häufigsten
Governance
-Modi darstellt, mit
dem über ethnische Grenzen hinweg die Regelung kollektiver Sachverhalte –
etwa die Herstellung von Sicherheit – erreicht werden sollten. Die Dominanz
militärischer Kooperation als Mechanismus der Einbeziehung wurde dabei
einerseits durch die meist konfliktreichen interethnischen Beziehungen,
andererseits aber auch durch die funktionale Äquivalenz militärischer Führung
in den komparativ untersuchten indigenen und nicht- indigenen Gesellschaften
bedingt.
18
Die Effektivität und Dauerhaftigkeit der Einbeziehung über personelle
Bündnisse mit indigenen (Gewalt-) Akteuren variierte jedoch stark nach der
sozialen Organisation und Subsistenzwirtschaftsweise der jeweiligen Ethnie.
Sesshafte, agrikulturelle Gruppen konnten so über einen längeren Zeitraum
einbezogen werden. Bei Jäger- und Sammlergruppen gelang diese Form der
Integration nur für kurze Zeiträume, da ihre soziale Organisation keinen
übergeordneten Anführer vorsah, dessen Autorität auch in Friedenszeiten
erhalten blieb. Die Mobilisierung über militärische Akteure blieb ungeachtet
dieser Varianz ihrer Effektivität auch nach der Unabhängigkeit ein wesentlicher
Mechanismus der Einbeziehung indigener Gemeinschaften in die politischen
Prozesse. Im postkolonialen Mexiko suchten beispielsweise Caudillos ihre
Herrschaftsambitionen über so genannte
pronunciamientos
durch eine breite
Unterstützung seitens der Bevölkerung zu rechtfertigen.
19
In Sonora bemühten
sich die politischen Anführer des zentralistischen Lagers erfolgreich um die
Gefolgschaft indigener Kollektive und konnten so einen Vorteil in den
Auseinandersetzungen mit den Föderalisten erringen.
20
Einen Sonderfall stellen die Kooperationen mit den Comanche in der
nordamerikanischen Prärie dar. Diese Jäger- und Sammlergruppe erlebte nach
17 Edward Holland Spicer: Cycles of Conquest. The impact of Spain, Mexico und the
United States on the Indians of the Southwest, 1533-1960. Tucson 1962; Jorge Pinto: De la
Inclusión a la Exclusión. La Formación del Estado, la nación y el pueblo mapuche. Santiago
de Chile 2000 und in diesem Band.
18 Lasse Hölck: Los Seris Tiburones y el gobierno de Sonora. Dos casos de inclusión
jurídica, 1773 y 1831. In: Regiones Periféricas y Estados nacionales. Sonderausgabe der
Zeitschrift Península (CEPHCIS-UNAM), Mérida 2010, Hrsg. v. Arturo Taracena (im
Druck).
19 Alfredo Avila: En nombre de la nación. La formación del gobierno representativo en
México (1808-1824). México 2001; Annino 1995; Will Fowler: Mexico in the Age of
Proposals, 1821–1853. Contributions in Latin American Studies, Nummer 12. Westport,
Greenwood 1998.
20 Stuart F. Voss: On the periphery of nineteenth century Mexico: Sonora and Sinaloa,
1810- 1877. Tucson 1982, S. 99.
14
14 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz
der kulturellen Adaption des Pferdes im frühen achtzehnten Jahrhundert einen
spektakulären Aufstieg als regionale Kriegs- und Wirtschaftsmacht, die es ihr
jahrzehntelang ermöglichte, den benachbarten Kolonialimperien sowie deren
republikanischen Nachfolgern, den USA und Mexiko, eigene Bedingungen für
friedliche Beziehungen zu diktieren. Die Dezimierung der Bisonherden durch
übermäßige Ausbeutung, landschaftliche Veränderungen und, später, gezielte
Ausrottung durch angloamerikanische Jäger besiegelten Mitte des 19.
Jahrhunderts das Ende des Comanche „Imperiums“
21
und verweisen auf die
historische Wirkmächtigkeit kultureller Landschaften innerhalb des von Cynthia
Radding in diesem Band vorgestellten Konzeptes der sozialen Ökologie.
Neben dem Militär gehörten Missionare und Händler zu den wichtigsten
lokalen Akteuren, die in Grenzgebieten für eine Einbeziehung der indigenen
Bevölkerungen sorgen konnten und auf deren Zusammenarbeit man aufgrund
des Fehlens staatlicher Akteure angewiesen war.
22
Die jüngsten
Forschungsergebnisse zeigen, dass auch die Herstellung von Sicherheit und
Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, in den meisten Fällen handelte es sich um
die „Beruhigung“ aufständischer indigener Gruppen, nach der Unabhängigkeit
wie zur Kolonialzeit vorwiegend an Missionare delegiert wurde, ohne dass
jedoch diesen gegenüber Instrumente der Zwangsverpflichtung eingesetzt
werden konnten.
23
Diese Form der Kontaktaufnahme funktionierte mehrheitlich
bei den christianisierten indigenen Gruppen, die eine spirituelle Betreuung auch
direkt vom Staat einforderten und in denen die Gottesleute einen erheblichen
Einfluss ausüben konnten.
24
In den Tiefländern Venezuelas, Boliviens,
Brasiliens, Ecuadors und Peru brachte die Unabhängigkeit aber zunächst eine
Auflösung vieler Missionen mit sich und verschaffte den dortigen indigenen
Gruppen eine Phase der Erholung und erhöhter Autonomie bis zur Mitte des 19.
21 Pekka Hämäläinen: The Comanche Empire. New Haven 2008.
22 Leonardo León Solís: Maloqueros y conchavadores: en araucanía y las pampas, 1700-
1800. Temuco 1991; Carlos Mayo: Estancia y sociedad en la Pampa, 1740-1820. Buenos
Aires 1996; Thomas Edward Sheridan: Spanish Borderlands Sourcebook . Bd. 20: The
Franciscan missions of northern Mexico. New York, London 1991; Jorge Pinto (u.a.):
Misioneros en la araucanía, 1600-1900. Bogotá 1990; Jorge Silva Riquer und Antonio
Escobar Ohmstede (Hrsg.): Mercados indígenas en México, Chile y Argentina, Siglos XVIII
– XIX. México D.F. 2000.
23 Peter F. Guardino: „El carácter tumultuoso de esta gente“. Los tumultos y la
Legitimidad en los pueblos oaxaqueños, 1768- 1853. In: Brian Connaughton (Hrsg. ):Poder y
Legitimidad en México en el Siglo XIX. Instituciones y cultura política. México 2003, S. 181-
205.
24 Evelyn Hu de Hart: Missionaries, Miners and Indians: Spanish Contact with the Yaqui
Nation of Northwestern Spain 1533-1820. Tucson 1981.
15Einleitung
15
Jahrhunderts, in der sie viele Gebiete wieder besetzen konnten, die sie während
der Kolonialzeit verloren hatten.
25
Die Bedeutung wirtschaftlicher Beziehungen im Zusammenhang mit
Herrschaftsverhältnissen zwischen den expandierenden europäischen
Kolonialmächten und der einheimischen Bevölkerung ist zum einen in den
transformierenden Kräften begründet, die diese auf die indigenen
Gemeinschaften ausübten.
26
Andererseits bot aber etwa die extensive Viehzucht,
für die sich insbesondere die peripheren Grenzregionen in Nordmexiko und der
südamerikanischen Pampa eigneten, ein wichtiges Austauschgut zwischen
Indigenen und Mestizengesellschaft. In der Araukania etwa stellte die
Kombination aus Viehzucht, -raub und -handel eine bedeutende
Interaktionsform zwischen den Mapuchegruppen mit ihren spanischen und
später chilenischen bzw. argentinischen Nachbarn dar.
27
Als nach der
„Pazifizierung“ der Araukania im späten 19. Jahrhundert der Möglichkeit,
Handel mit der argentinischen Andenseite zu betreiben, ein Ende gesetzt wurde,
zwang diese Durchsetzung des territorialstaatlichen Hoheitsanspruches der
benachbarten Republiken die indigenen Gruppen, sich fortan dem Bodenbau zu
widmen. In seinem Beitrag für diesen Band verweist Jorge Pinto auf den dabei
statt findenden Wandel in der sozioökonomischen Struktur des Kollektivs, der
von den Mapuche selbst angezeigt wurde.
Die Aneignung von Rindern und Pferden geschah in vielen Fällen über
berittene Raubzüge. Allerdings etablierte sich in diesen Regionen im Laufe der
Kolonialzeit auch ein ritualisierter Rücktausch des lebenden Beutegutes, der
vielfältige Möglichkeiten für weitere Abmachungen eröffnete, wie etwa
militärische Kooperationen gegen gemeinsame Feinde oder den Austausch von
Gefangenen.
28
Letztere wurden, wenn sie nicht als Pfand für Verhandlungen
dienten, von indigenen wie christlichen Grenzbevölkerungen über fiktive
Verwandtschaften in die eigene Gesellschaft integriert, um den
Bevölkerungsverlust durch Konflikte und Sklavenhandel zu kompensieren
29
,
und entwickelten sich oftmals zu „Grenzgängern“, die zwischen den Kulturen
vermittelten. Die enge Verquickung wirtschaftlichen Austausches mit weiteren
25 Jonathan Hill: Indigenous Peoples and the Rise of Independent Nation-States in
Lowland South America. In: Salomon/Schwartz 1999, S. 704-764.
26 Eric Wolf: Europe and the People without History. Berkeley 1982.
27 Leon Solís 1991.
28 Sara Ortelli: Trama de una guerra conveniente: Nueva Vizcaya y la sombre de los
apaches (1748 - 1790). México D.F. 2007.
29 James Brooks: Captives & cousins. Slavery, kinship, and community in the Southwest
borderlands. Chapel Hill 2003.
16
16 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz
Politikfeldern, etwa der Bildungspolitik, geht aus dem Beitrag von Justo Flores
in diesem Band hervor.
Wirtschaftliche Austauschbeziehungen zwischen den Boden bebauenden
indigenen Gemeinschaften und der Mestizengesellschaft waren aber oftmals wie
in Sonora überwiegend von negativen Externalitäten geprägt. Alkoholhandel
und Ausbeutungsverhältnisse bestimmten dort die ökonomische Integration der
indigenen Gemeinschaften
30
und sind als
Bad Governance
anzusehen. Im
Bereich des Handels ist die Frage nach den normativen Standards von „Gutem
Regieren“ (
GoodGovernance)
besonders problematisch: was den städtischen
(„weißen“) Bewohnern und den Händlern nützte, gereichte den indigenen
Gemeinschaften zumeist zum Nachteil.
Allgemein galten materielle Anreize, so genannte
agasajos
oder kleine
Geschenke, als Erfolg versprechendes Instrument, um unabhängige indigene
Gruppen zu einem regelmäßigen Warenaustausch zu bewegen und damit
Kontaktforen zu errichten, über die Kontrolle ausgeübt werden konnte. Nicht
selten dienten die Suchtmittel Tabak oder Alkohol dazu, nomadisierende
Gruppen zu „locken“. Mit diesem Vorgehen verband man die langfristige
Erwartung, dass sich die indigene Bevölkerung durch den dauerhaften Kontakt
von alleine akkulturieren würde. Die Einbeziehung verschiedener
Apachengruppen etwa gelang auf diese Weise über einen längeren Zeitraum und
eröffnete den Festungskommandanten, die im Kontakt mit den jeweiligen
Anführern standen, breite Verhandlungsspielräume, um die Absichten der
kolonialen bzw. republikanischen Regierung - wie die Unterrichtung in
landwirtschaftlichen Methoden oder die Alphabetisierung einiger Individuen -
zu erreichen.
31
Im südlichen Chile hatte sich seit dem 17. Jahrhundert ein
parlamento
genanntes Verhandlungssystem etabliert, mit dem Streitigkeiten
zwischen den indigenen Gruppen und spanischen/mestizischen Siedlern
beigelegt werden konnten und bei dem die Übergabe von „Geschenken“ an die
indigenen Gemeinschaften ein zentrales Element darstellte.
32
Der rituelle
Charakter dieser Zusammenkünfte verweist auf den Ursprung der
parlamentos
in einer Kultur oraler Tradierung, während durch die schriftliche Fixierung der
getroffenen Abkommen in Vertragsform dem spanischen Verständnis von
30 Spicer 1962; Edward Holland Spicer1980: The Yaquis. A Cultural History. Tucson
1980.
31 William B. Griffen: Apaches at war and peace: The Janos presidio 1750- 1858.
Albuquerque 1988.
32 José Bengoa 2004: La Memoria Olvidada. Historia de los Pueblos Indígenas de Chile.
Santiago de Chile 2004; José Manuel Zavala: Les Indiens Mapuche Du Chili. Dynamiques
Inter-ethnique et Stratégies de Résistance, XVIIIe Siécle. Paris 2000.
17Einleitung
17
Rechtmäßigkeit Genüge getan wurde. Auch in republikanischer Zeit wurde diese
Zeremonie beibehalten, um zu einem Kompromiss zwischen Chilenen und
Mapuche zu gelangen.
33
Nach der Unabhängigkeit ging aufgrund finanzieller Schwierigkeiten der
Nachschub an solchen „Geschenken“ zwar stark zurück, die Erwartungshaltung
einer Anpassung der indigenen Bevölkerung blieb jedoch bestehen. Die
Änderungen bezüglich normativer Standards von „Gutem Regieren“ im
Übergang von der Kolonialzeit zur unabhängigen Republik sind unseren
Forschungsergebnissen nach äußerst ambivalent. Die Erwartung eines linearen
Prozesses quasi automatischer Anpassung an die „westliche“ Lebensweise durch
die Vorbildfunktion der „Zivilisierten“ und Nachahmung seitens der
Autochthonen („Wilden“) zieht sich als Leitmotiv durch die gesamte Missions-
und Kolonialgeschichte. Nach der Unabhängigkeit orientierte sich diese
Erwartungshaltung um, und galt nun überwiegend dem Erfolg einer gezielten
„Umerziehung“ der als rückständig wahrgenommenen indigenen Bevölkerung
und unteren sozialen Schichten. Die rhetorische Polarisierung zwischen der
„Zivilisation der Weißen“ und der „Barbarei der Wilden“ erreichte in Chile
besondere Ausmaße und trug wesentlich zur Eskalation der Beziehungen
zwischen Mapuche und Staat bei, wie der Beitrag von Jorge Pinto in diesem
Band zeigt. Justo Flores macht in seinem Beitrag darauf aufmerksam, dass diese
Polarisierung noch im den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das politische
Handeln der Obrigkeit beeinflussten.
Das Erziehungswesen galt im Anschluss an den Systembruch der
Unabhängigkeit als wichtigstes Instrument zur Vermittlung neuer politischer
Kultur und „Allheilmittel“ für die Probleme der jungen Republiken.
34
Bildung
wurde zudem in den Verfassungen der jungen Republiken zum Hauptkriterium
für eine Beteiligung an den politischen Prozessen der Republik festgeschrieben:
wählen durfte nur, wer Lesen und Schreiben konnte.
35
Die Frage nach der
Partizipation indigener Gemeinschaften (und der unvermögenden
Bevölkerungsschichten im Allgemeinen) ist also eng mit der Bereitstellung von
Bildungsmöglichkeiten verbunden. Eine solche Bildungsoffensive war aber
bereits ein wichtiges Mittel der bourbonischen Reformen gewesen. Die
33 Pablo Marimán Quemenado Pablo 2002: Parlamento y Territorio Mapuche. Concepción
2002; Pinto und Contreras in diesem Band.
34 Anne Staples (Hrsg.): Educar: Panacea de una nueva nación. México 1985.
35 Pilar Gonzalbo Aizpuru (Hrsg.): Educación rural e indígena en Iberoamérica. México
1996; Luis Valencia Avaria: Los Anales de la República. Santiago 1986; Hilda Sabato Hilda
(Hrsg.): Ciudadanía política y formación de las naciones: Perspectivas históricas de América
Latina. México 1999.
18
18 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz
Errichtung von Grundschulen in den indigenen Gemeinden sollte dabei vor
allem einer
Castellanización
der indigenen Bevölkerung Vorschub leisten und
eine sprachliche Homogenisierung des Kolonialreiches herbeiführen.
36
Die Versuche, in den indigenen Gemeinden Schulen einzurichten, scheiterten
allerdings häufig, wie in Sonora, an der Finanzierung, oder wurden, wie in der
Araukania, von den indigenen Gemeinschaften zur Verfestigung ihrer
ethnischen Identität gegenüber der dominanten Mestizengesellschaft
umfunktioniert. Der Beitrag von Bildung zur Legitimierung der
republikanischen Regierungen ist in diesen Grenzregionen daher eher als
kontraproduktiv zu bewerten.
37
Allgemein förderte eine wie in Chile vom Staat
zentral gesteuerte Einsetzung externer Verwaltungsbeamter deren Rekurs auf
Bildung zur eigenen Legitimierung und garantierte deren Unabhängigkeit von
lokalen Machtstrukturen, die sich ihrerseits überwiegend auf familiäre
Netzwerke stützten und daher auf andere Legitimationsmechanismen
zurückgreifen konnten.
38
Insbesondere die Geschichte des Erziehungswesens
zeigt, dass die Prozesse politischer Integration über lange Zeiträume betrachtet
werden müssen. Die Vorstellung, innerhalb weniger Jahre eine neue Form der
Legitimierung einzuführen, erwies sich als nicht realisierbar. Die Analyse
postkolonialer Schulpolitik in den Räumen kultureller Heterogenität offenbart
dabei ebenfalls die „Bildungsoffensive“ der Republiken als
Herrschaftsinstrument, mit dem ein umfassender kultureller Wandel der
indigenen Gemeinschaften forciert und ausdrücklich ihre Verwertbarkeit für die
nationale Wirtschaft gesichert werden sollte. Wie der Beitrag von Justo Miguel
Flores Escalante in diesem Band zeigt, lassen sich an den Maximen dieser
Regierungsweise auch hundert Jahre nach der Unabhängigkeit keine
wesentlichen Änderungen feststellen.
Schon während der Unabhängigkeitskriege in Lateinamerika zeigte sich, dass
eine neue Form von
Governance
, die diskursive Steuerung durch Printmedien,
zukünftig mehr Gewicht erhalten würde. Die umherziehenden Armeen der
Unabhängigkeitskriege führten Handpressen mit sich, deren Drucke die
Rezeption ihrer Erfolge (oder nur scheinbaren Erfolge) erheblich
36 Dorothea Tanck de Estrada: Pueblos de indios y educación en el México colonial, 1751-
1821. México 1999.
37 Mónika Contreras und Lasse Hölck: Educating Barbaros: Educational Policies on the
Latin American Frontiers between colonies and independent republics (Araucania, Southern
Chile /Sonora, Mexico). In Paedagogica Historica: International Journal of the History of
Education (2010), (im Druck).
38 Ebd.
19Einleitung
19
beeinflussten.
39
Die Möglichkeiten der Vervielfältigung von Sprache/Schrift
nahmen in Lateinamerika nach der Unabhängigkeit in den städtischen Zentren
rasch zu
40
und veränderten die Mechanismen zur Mobilisierung der
Bevölkerung.
41
Die Bedeutung, die von Seiten der intellektuellen Eliten der
Verbreitung gedruckter Informationen für die „moralische Erhebung der in
Unkenntnis gehaltenen“ Bevölkerung beigemessen wurde, erhellt sich aus
zahlreichen Zeitungsbeiträgen der Zeit und wurde auch zur Rechtfertigung des
politischen Wandels selbst herangezogen. Jorge Pintos Beitrag in diesem Band
zeigt aber, dass die Steuerung der öffentlichen Meinung durch Strukturierung
des politischen Diskurses in der Presse heftig umstritten war und die
schwelenden Konflikte zwischen Indigenen und Chilenen schließlich in einen
regelrechten Krieg ausufern ließen.
Die Anpassung der indigenen Bevölkerungen in den Grenzregionen der
lateinamerikanischen Staaten sollte auch durch eine gezielt geförderte
Mestizisierung oder Kolonisierung der Grenzregionen mit europäischen Siedlern
beschleunigt werden.
42
Nach der Unabhängigkeit ins Land geholte Siedler aus
Europa und Nordamerika sollten für einen transkulturierenden Einfluss auf die
indigene Bevölkerung sorgen und die als brach liegend betrachteten Gebiete für
die nationale Wirtschaft fruchtbar machen. Tatsächlich gerieten sie aber häufig
in (bewaffneten) Konflikt mit der lokalen Regierung oder den indigenen
Gruppen, bzw. ergriffen Partei in den Auseinandersetzungen politischer
Gruppierungen.
43
Hinsichtlich der übergreifenden Fragestellung nach dem
Einfluss transnationaler Netzwerke auf die Staatsbildung in Lateinamerika muss
also vorläufig festgestellt werden, dass externe Akteure und transnationale
Diskurse – etwa die allgegenwärtige Fortschrittsrhetorik - in den hier
betrachteten Grenzregionen häufiger die Ursache von Problemen waren, anstatt
zu ihrer Lösung beizutragen.
Zudem stellte sich bald heraus, dass die in Europa erdachten Prinzipien
republikanischer Regierungsweise von den politischen Eliten Lateinamerikas
zwar auf ihre beanspruchten Herrschaftsgebiete meist unmodifiziert übertragen
39 Rebecca Earle: Rumours of War: Civil Conflict in Nineteenth-Century Latin America.
London 2000; Eugenia Roldán Vera 2003: The british book trade and Spanish American
Independence: education and transmission in transcontinental perspective. Ashgate 2003.
40 Francois-Xavier Guerra: Modernidad e independencias. Madrid 1992
41 Ivan Jaksiç (Hrsg.) 2002: Political power of the word: press and oratory in nineteenth-
century Latin America. London 2002.
42
Vgl. etwa die zeitgenössische Schrift von Zuñiga, Ignacio: Rapida ojeada al Estado de
Sonora. Hermosillo 1985 (México 1835), S. 100-101.
43 Delia González de Reufels2003: Siedler und Filibuster in Sonora: eine mexikanische
Region im Interesse ausländischer Abenteurer und Mächte (1821 - 1860). Köln 2003.
20
20 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz
wurden, dort aber auf gänzlich andere Voraussetzungen stießen. In seinem
Beitrag zu diesem Band weist Lasse Hölck darauf hin, dass die Sozialisierung in
Räumen kultureller Heterogenität notwendigerweise nicht einheitlich, sondern in
jeweils von eigenen Traditionen geleiteten Gesellschaften stattfindet, so dass
auch die Vorstellungen von rechtmäßiger Herrschaft entsprechend vielfältige
Ausprägungen erhalten, bzw. Herrschaft als solche schlicht abgelehnt wird.
Versuche, gemeinsame Traditionen sozialer Kooperation zu etablieren, hat es
daher schon seit der frühesten Kolonialzeit gegeben.
44
Diese fruchteten
nachhaltig aber vorwiegend bei der nicht- indigenen Bevölkerung
45
und halfen
nach der Unabhängigkeit, die Konflikte zwischen staatlichen Akteuren und
lokalen Gesellschaftsgruppen über von beiden Seiten anerkannte Institutionen zu
kanalisieren, wie der Beitrag von Joaquin Fernández in diesem Band zeigt. In
den indigenen Gemeinschaften waren hingegen andere Traditionen sozialer
Kooperation in den Mentalitäten verankert, die von den weißen Eliten nicht
verstanden oder schlicht abgelehnt wurden. Diese Unterschiede politischer
Kultur erschwerten die Kommunikation in Räumen kultureller Heterogenität
und verkomplizierten den Versuch, kollektive Repräsentationsformen zu
vereinheitlichen und für die Intentionen der Regierung zu instrumentalisieren.
Die Einführung kollektiver Repräsentationsformen nach spanischem Vorbild
war seit Anbeginn der Eroberung Amerikas eine der Hauptvorgaben des
kolonialen Staates. Insbesondere die „egalitären“ Gesellschaften in den
marginalen Zonen sollten über die Schaffung stabiler Führungsstrukturen
regierbar gemacht werden
46
, und man erwartete, dass künstlich eingeführte
soziale Schichtungen den von den Spaniern eingesetzten Anführern die nötige
Autorität zukommen lassen würden, um die Anweisungen von staatlichen
Akteuren in den indigenen Gemeinschaften durchzusetzen. Gouverneure,
Missionare, Militärs und Beamte bemühten sich beispielsweise um eine
finanziell-materielle Unterstützung derjenigen indigenen Kontaktleute, die sie
als Anführer innerhalb der ethnischen Gruppen etablieren wollten. Die Beiträge
von Lasse Hölck und Mónika Contreras in diesem Band zeigen jedoch unter
Verweis auf die sozialen Dynamiken innerhalb der betreffenden indigenen
Gruppen die Grenzen bzw. negativen Folgen dieser Regierungsweise auf. Ihre
44 A.J.R. Russell-Wood: Ambivalent Authorities: The African and Afro-Brazilian
Contribution to Local Governance in Colonial Brazil. In: The Americas 57 (2000b), S. 13-36.
45 Cheryl English Martin: Governance and Society in Colonial Mexico: Chihuahua in the
Eighteenth Century. Stanford 1996; Russell-Wood: Government and Governance of European
Empires, 1450-1800. 2 Bde. Ashgate 2000a.
46 Juan Carlos Garavaglia (1999): The Crises and Transformations of Invaded Societies:
The La Plata Basin (1535-1650). In: Salomon/Schwartz 1999, S. 1-58.
21Einleitung
21
unmittelbaren Auswirkungen auf die zumeist „flachen“ Hierarchien der
indigenen Gesellschaften Sonoras riefen etwa einen kommunalen Widerstand
gegen materiell begünstigte Personen hervor und zwangen diese Anführer zu
einem Verzicht oder einer Umverteilung ihres extern erworbenen „Reichtums“,
um die Anerkennung und das Vertrauen ihrer Anhänger aufrechtzuerhalten. Die
beabsichtigte, artifizielle Schichtung der Gesellschaft wurde damit neutralisiert.
In der Araukania führte die materielle Unterstützung zwar zu einer Verstetigung
der Autorität derart begünstigter
caciques
, verursachte aber auch eine
Konkurrenz dieser Anführer um die Anerkennung als „mächtige
war leader
“
seitens der staatlichen Akteure durch Demonstration der eigenen Stärke, was die
Verhandlungen verkomplizierte und sich negativ auf die Sicherheitslage
auswirkte. In beiden Fallstudien erwiesen sich zudem soziale Kontakte mit der
Siedlergesellschaft oftmals als kontraproduktiv und bewirkten eine De-
Legitimierung der auserwählten Verbindungsleute in ihren eigenen
Gemeinschaften. Enge Verbindungen mit der in ihrer Legitimität grundsätzlich
infrage gestellten, aber dennoch die Herrschaft beanspruchenden
Bevölkerungsgruppe der „Weißen“ waren oftmals verpönt. Die Versuche des
Staates, auch in die personelle Besetzung regionaler Verwaltungsinstitutionen
einzugreifen, trafen ebenfalls auf den Widerstand kreolischer Eliten und konnten
sogar separatistische Bewegungen mit verursachen, wie Joaquin Fernandez am
Beispiel der Bergbauvereinigungen des chilenischen Copiapó in diesem Band
darlegt.
Durch die Beachtung solcher Dynamiken sollen im vorliegenden Band
subalterne Akteure vor Ort zum Sprechen gebracht und der Einfluss indigener
und transnationaler Diskurse auf die Mechanismen der Einbeziehung auf lokaler
Ebene untersucht werden. Die Untersuchung transnationaler Netzwerke als
Makrostruktur eines globalen Kulturtransfers wird für eine mikrohistorische
Analyse der regionalen Ebene praktikabel gemacht, deren kulturelle
Besonderheiten durch ethnologische und ethnohistorische Methoden zu erfassen
sind. Die Beiträge von Jorge Pinto und Lasse Hölck zeigen etwa, dass
uninformierte Vorannahmen bezüglich der Indigenen sowie das eurozentrische
Überlegenheitsgefühl einerseits Denkblockaden hervorriefen, die die
Applikation alternativer Governance- Formen verhinderten, andererseits die
interethnischen Beziehungen bis hin zu einem Grad radikalisieren konnten, an
dem eine friedliche Beilegung von Konflikten nicht mehr möglich schien.
Eine weitere in den Beiträgen zu diesem Band häufig verwendete Methode ist
der historische Vergleich. Mit dem Vergleich auf den ersten Blick ähnlicher
Vorgänge sollen Gemeinsamkeiten und Unterschiede festgestellt, beschrieben
und soweit wie möglich erklärt werden. Unter Beachtung wechselseitiger
Einflüsse ermöglicht der Vergleich das Erkennen von Unterschieden, das
22
22 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz
Schließen von Quellenlücken durch Analogieschlüsse und das Erschließen neuer
Forschungsfragen.
47
Die komparatistische Methode zeigt damit eine
Möglichkeit auf, wie mittels mikrohistorischer Studien die Prozesse auf der
Makroebene zu verstehen sind.
48
Eine Möglichkeit, vergleichende historische
Forschung umzusetzen, erläutert Cynthia Radding in ihrem Beitrag anhand des
Konzeptes der sozialen Ökologie.
Ausgangspunkte sind regionale Fallstudien aus Mexiko und Chile, die
bedeutende Ähnlichkeiten als Räume begrenzter Staatlichkeit aufweisen. Dazu
gehören v. a. die ethnischen Gegensätze und die Lage an den Randgebieten der
Kolonie bzw. Republiken. Mexiko steht für ein traditionelles Zentrum iberischer
Kolonialherrschaft in Amerika und gleichzeitig für einen durch den parallelen
Aufstand der Unterschichten gekennzeichneten besonders gelagerten Verlauf
der Unabhängigkeitsbewegung sowie durch eine höchst krisenhafte, dennoch
aber die staatliche Einheit im Wesentlichen bewahrende frührepublikanische
Entwicklung. Im Gegensatz dazu steht das eher periphere Chile für eine
Entwicklung hin zu relativer politischer Stabilität. Die Untersuchung von
Governance
- Formen wird durch diese konträren Merkmale befruchtet.
In ihrem Beitrag für diesen Band erinnert uns Cynthia Radding daran, dass
Regierungsweisen, zumal in ihrer historischen Entwicklung, nicht ohne
Berücksichtigung der topographischen und klimatischen Besonderheiten der
Räume, in denen sie sich ausprägten, verstanden werden können. Die indigenen
Bevölkerungsgruppen, die diese Räume bewohnten, hatten sich teils seit
Jahrhunderten in ihnen eingerichtet, und nicht zuletzt in ihrer Anpassung an die
Umweltbedingungen je eigene Kulturen hervorgebracht, die die Vorstellungen
von sozialem Verhalten entscheidend mitprägten. So fragt sie hinsichtlich der
verschiedenen Ethnien unter anderem: Mit welcher Autorität ergriffen sie Besitz
von Land und den natürlichen Ressourcen, wie Flüssen, Wäldern, Höhlen und
Hügeln, um diese als Verteidigungspunkte oder rituelle Stätten zu gestalten? Die
Bedeutung dieser Frage ergibt sich aus der Erkenntnis, dass die spanische
Kolonialmacht ihre Herrschaftsansprüche vorwiegend territorial verstand und
damit einem Grundsatz folgte, der von den vorspanischen Kulturen
Lateinamerikas nur eingeschränkt geteilt wurde. Herrschaft, wenn sie als solche
47 Thomas Welskopp: Stolpersteine auf dem Königsweg: Methodenkritische
Anmerkungen zum internationalen Vergleich in der Gesellschaftsgeschichte. In: Archiv für
Sozialgeschichte 35 (1995), S. 339-367; Magnus Mörner: Comparative Approaches to Latin
American History. In: Latin American Research Review 17/3 (1982), S. 55-89.
48 Thomas Hall: The Rio de la Plata and the Greater Southwest. A view from the world-
system Theory. In: Donna J. Guy und Thomas E. Sheridan (Hrsg.): Contested Ground:
Comparative Frontiers on the Northern and Southern Edges of the Spanish Empire. Tucson
1998, S. 150- 166.
23Einleitung
23
von vorspanischen Kulturen beansprucht wurde, definierte sich über die
Verbindung zwischen Individuen oder Kollektiven, die meist ethnisch
konstituiert waren, während die Grenzen des jeweiligen Territoriums oder
Herrschaftsraumes undefiniert blieben. Als Analysekonzept schlägt die Autorin
daher die soziale Ökologie vor, die erstens die Beziehung zwischen der Natur
und verschiedenen sozialen Gruppen (Indigenen und Mestizen) betont, und
zweitens die Konflikte hervorhebt, die bezüglich der Machtausübung und dem
Zugang zu Ressourcen zwischen den beiden Gruppen entstehen.
Die Entstehung kultureller Landschaften als Forschungsgegenstand der
sozialen Ökologie verweist dabei auf die Wechselwirkungen zwischen Mensch
und Natur und bietet ein Werkzeug, die historische Entwicklung in zeitlicher
wie räumlicher Dimension zu untersuchen. Als Beispiel besonderer Ausprägung
dieser Verbindungen bietet die Autorin einen Vergleich der über Arbeitsteilung
und soziales Prestige definierten Unterschiede zwischen den Geschlechtern an,
die ihrerseits Auswirkungen auf die Aneignung der natürlichen Ressourcen
haben und somit auch die Machtstrukturen prägten. Anhand ihrer Fallbeispiele
Sonora und Chiquitos, beides Grenzgebiete der späteren Republiken Mexiko
bzw. Bolivien, lassen sich so die unterschiedlichen Entwicklungen in beiden
Regionen aufzeigen und, mithilfe eines aus der sozialen Ökologie gespeisten
historischen Vergleichs, die widersprüchlichen Prozesse der
Unabhängigkeitsbewegungen erklären.
Der Beitrag von Lasse Hölck geht ebenfalls von den Wechselwirkungen
zwischen Umwelteinflüssen und sozialem Miteinander aus, zieht seine
theoretische Grundlage aber aus der politischen Anthropologie in Abgleichung
mit den Anregungen der jüngsten
Governance
-Forschung. Untersucht werden
die Interaktionen zwischen der spanischen Kolonialmacht und einer Jäger- und
Sammlergruppe, den so genannten Seris, in Sonora. Anhand eines Vergleichs
der Regierungsweisen hoheitlicher Steuerung über Sanktionen und den (oft
unbewussten) Versuchen,
Governance
-Formen an die von den Seris als sozial
anerkannten Verhaltensweisen anzupassen, analysiert der Autor die Effektivität
vertikaler und horizontaler Handlungskoordinationen, mit denen die Agenten
des Kolonialstaates die lose verbundenen Gruppierungen dieser
Bevölkerungsgruppe politisch zu steuern versuchten. Dieses mikrohistorische
Beispiel veranschaulicht gleichermaßen die Schwierigkeiten und Möglichkeiten
eines Zusammenlebens im kulturell heterogenen Raum und zieht sein
analytisches Potential aus einer Kontrastierung der streng hierarchischen
Organisation kolonialstaatlicher Institutionen wie Militär und Mission mit den
„egalitären“, in der Theorie auch als „staatsfeindlich“ bezeichneten
Vergesellschaftungsformen von Wildbeutergruppen. Dabei bemüht er sich durch
die Fokussierung auf das Vertrauen als Grundlage für anerkennungswürdige
24
24 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz
Handlungskoordinationen innerhalb von Jäger- und Sammlergruppen als auch in
interethnischen Beziehungen einen Beitrag zur Theoretisierung von Regieren im
kulturell heterogenen Raum zu leisten, dessen Bedeutung über den zeitlichen
Rahmen der Kolonie hinausweist.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Mónika Contreras in ihrem Artikel für diesen
Band. Ihre akteurskonzentrierte Untersuchung interkultureller Kommunikation
fokussiert die Rolle der
indios amigos
im spätkolonialen Süden Chiles. Sie geht
dabei von einem konkreten Raum aus, den
fuertes
und
plazas fuertes
(Festungen
und befestigte Dörfer), die das Grenzgebiet zwischen dem Generalkapitanat
Chile und den unabhängigen Mapuche-Gruppen in der Araukania bildeten.
Diese befestigten Siedlungen dienten als Begegnungsstätte zwischen Indigenen
und den Agenten des Kolonialstaates, in denen mit Formen interkultureller
Kommunikation, Handelsbeziehungen und Gastlichkeit, experimentiert wurde,
um die „Freundschaft“ der indigenen Gruppen zu gewinnen. Auch zum
militärischen Vorgehen gegen verfeindete Mapuche-Gruppen wurden hier
Allianzen zwischen Spaniern und Indigenen geschlossen. Deutlich wird in
diesem Beitrag die Mehrebenenproblematik von Regieren in Räumen begrenzter
Staatlichkeit. Anhand unterschiedlicher Leitprinzipien von lokalen
Militärposten, Missionaren und den übergeordneten Befehlshabern des
Generalkapitanats werden die Differenzen zwischen den Ebenen und lokalen
Institutionen bezüglich friedlicher und militärischer Regierungsweisen
herausgearbeitet und als ein wesentliches Problem bei der Herstellung von
Sicherheit in dem gegebenen zeitlichen und räumlichen Rahmen erkannt. Die
Institution der
indios amigos
bildet schließlich einen
Governance
-Modus, der
auch nach der Unabhängigkeit Chiles beibehalten wurde und verweist auf die
Kontinuität kolonialer Regierungsweisen in der frühen Republik Chile.
Jorge Pinto widmet sich in seinem Beitrag der Reaktion indigener und
staatlicher Akteure auf den Systembruch zwischen kolonialer und
republikanischer Staatlichkeit in Chile. Die Modifizierung der etablierten
Handelsbeziehungen nach der Unabhängigkeit traf auf Ablehnung bei den
Kaziken der Mapuche, während die selbst gestellte Aufgabe der chilenischen
Elite, einen homogenen Staat zu gründen, nicht mit der Existenz unabhängiger
indigener Gruppen zusammenging. Die Wahrnehmung eines „Nachbarvolkes“
innerhalb des beanspruchten Staatsterritoriums der Republik führte im Laufe des
19. Jahrhunderts zu einer Radikalisierung des Diskurses, mit dem die Mapuche
von einigen Vertretern der chilenischen Regierung beschrieben wurden. Der
Autor zeichnet nach, wie Veränderungen der globalen Wirtschaftsstrukturen im
Zuge der fortschreitenden Industrialisierung das Land schließlich in eine Krise
führten und die Aneignung von Ländereien der Indigenen als ein Ausweg aus
der schlechten Wirtschaftslage propagiert wurde. Die Polarisierung des
25Einleitung
25
Diskurses über diese Maßnahme in radikale Befürworter einer Eroberung des
Mapuche-Landes und Gegner dieser offensiven Politik entschied sich auf
höchster Ebene zu Gunsten ersterer und mündete in die militärische Besetzung
der Araukania. Die vom Autor dargestellte Verflechtung globaler
Fortschrittsdiskurse mit der Legitimationsrhetorik staatlicher Machthaber zeigt,
wie eine zunächst nur verbal vorgenommene Radikalisierung interethnischer
Beziehungen auf eine physische Konfrontation hinauslief, deren Gewalttätigkeit
das Verhältnis zwischen Regierung und Mapuche bis heute belastet. Politische
Rhetorik und politisches Handeln, so zeigt dieses historische Beispiel, bedingen
einander und erfordern eine Untersuchung ihrer gegenseitigen Beeinflussungen.
Joaquin Fernández beleuchtet den Auslöser dieser Konfrontation aus einem
ganz anderen Blickwinkel. Die Wirtschaftskrise in Chile Mitte des 19.
Jahrhunderts wirkte als Katalysator für die Radikalisierung lokaler
Bergarbeiterkollektive, die sich gegen die zentralstaatliche Bevormundung
erhoben. Die kollektive Repräsentation der Minenbesitzer im Norden Chiles
hatte sich seit ihrer Einführung im Zuge der bourbonischen Reformen zu einer
stabilen Institution lokaler Verwaltung entwickelt, die staatliche Aufgaben
übernahm und regionale Belange gegenüber der zentralen Verwaltung
artikulierte. Als sich staatliche Akteure Mitte des 19. Jahrhunderts bemühten,
diese Institution zu infiltrieren, um sie kontrollieren zu können, formierte sich
der Widerstand lokaler Eliten innerhalb dieser Organisation und führte
schließlich zum offenen Bruch mit der Regierung in Santiago. Mit seiner
minutiösen Darstellung institutionalisierter Regierungsweise kontrastiert der
Artikel von Fernández die überwiegend improvisierten Formen staatlicher
Einflussnahme in den kulturell heterogenen Grenzgebieten, anhand derer die
besonderen Anforderungen deutlich werden, die eine Kommunikation zwischen
den Kulturen mit sich bringt.
Der Band schließt mit einem Beitrag von Justo Flores über die staatliche
Bildungspolitik im semi-autonomen Gebiet der Maya von Quintana Roo
zwischen 1928 und 1934. Darin analysiert der Autor die verschiedenen
Widerstandsformen der einzelnen Maya- Gemeinden gegen die Gründung von
staatlich geleiteten Landschulen in ihren Dörfern, die diese als Versuch einer
Einmischung in ihre internen Angelegenheiten ablehnten. Der Beitrag zeigt zum
einen die Kontinuität der in diesem Band fokussierten Regierungsweisen und
ihres Konfliktpotentials in den peripheren Regionen Lateinamerikas, ungeachtet
der Systembrüche, die zunächst die Unabhängigkeit oder etwa die Mexikanische
Revolution mit sich brachten. Zum anderen verdeutlicht er die Problematik der
Konsensfindung in einem heterokulturellen Raum: die kulturellen Unterschiede
zwischen Maya und Mexikanern, wie etwa im Bereich der Sprache und der
politischen Kultur, erlaubten es letzteren, subtile Widerstandsformen
26
26 Stefan Rinke / Lasse Hölck / Mónika Contreras Saiz
anzuwenden, um ihre Ablehnung des Schulwesens zu äußern, die sich außerhalb
der Verständnismöglichkeiten staatlicher Akteure entwickelten und eine
Mobilisierung der Bevölkerung ermöglichten, ohne dass der Staat hätte
eingreifen können. Die staatlichen Akteure, Beamte des Bildungsministeriums
und Landlehrer, stellten dabei sowohl einen Teil des Problems dar als auch
einen Teil seiner Lösung. Zum einen war die strikte Ablehnung indigener Kultur
vonseiten einiger hoher Funktionäre hinderlich, um ein Übereinkommen mit den
Gemeinden und ihren Vertretern bezüglich der Bildungsinhalte zu finden. Auch
die Missbräuche, die seitens einiger Landlehrer in den Gemeinden begangen
wurden, trugen zur Festigung des Widerstandes bei. Andererseits konnten
Funktionäre und Landlehrer aber auch zu Verbindungsleuten werden, die die
Anliegen der indigenen Gemeinschaften an die Staatsmacht vermittelten. Der
Autor verweist schließlich auf die Kontinuität dieser Konflikte, die unter
veränderten Umständen, bis heute das Verhältnis zwischen der Regierung und
den indigenen Gemeinschaften beeinflussen.
Aktuelle Konflikte der lokalen und nationalen Regierungen mit den Mapuche,
den Maya oder auch den Seris von Sonora sowie zahlreicher anderer indigener
Gruppen in Lateinamerika und weltweit lassen erkennen, dass die Problematik
des Regierens im kulturell heterogenen Raum nicht etwa ein Thema vergangener
Zeiten ist, sondern mit derselben Brisanz bis auf den heutigen Tag fortdauert.
Dabei ist es notwendig, die tiefen Wurzeln der Konflikte herauszuarbeiten, um
eine Wiederholung von Fehlern zu vermeiden und die Möglichkeiten eines
friedlichen Zusammenlebens aufzuzeigen, die es gegeben hat und auch heute
noch gibt. Der vorliegende Band soll einen kleinen Beitrag dazu leisten.
Die Herausgeber danken den Autoren dieses Bandes und Privatdozent
Dr. Nikolaus Böttcher für seine Kommentare. Ein besonderes Dankeschön geht
außerdem an Annika Buchholz, Carla Russ und Mario Schenk für die Mühen bei
der Herstellung des Sammelbandmanuskripts. Der Druck des Buches wurde mit
Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglicht.
27GOBERNAR EN LA PERIFERIA AMÉRICA LATINA ENTRE LA COLONIA Y LAS REPÚBLICAS INDEPENDIENTES RESUMEN DE LOS ARTÍCULOS
El primer trabajo de este tomo es el ensayo de Cynthia Radding, en el
propone, un enfoque analítico para la investigación de las áreas periféricas, que
considere la utilización de los recursos del medio ambiente para discernir tanto
las relaciones entre la naturaleza y los diferentes grupos sociales, como los
conflictos que surgen entre ellos para acceder a los bienes naturales. En sus
recientes investigaciones, la autora ha mostrado cómo los ecosistemas creados
por los pueblos indígenas tuvieron un impacto importante en la diversidad de
empresas e instituciones que desarrolló el poder colonial, y cómo a su vez, estos
ecosistemas fueron transformados por la acción colonizadora, y añadieron
nuevos ejes de cambio a los procesos ancestrales de creación y destrucción en la
historia de la ecología humana. La era republicana continuaría esta
transformación especialmente en las zonas fronterizas, en donde las luchas se
entablaron por la consecución de territorios de cultivo y el dominio de áreas de
pastoreo.
Los siguientes dos trabajos se concentran espacialmente en la periferia norte y
sur de México. Inicialmente Lasse Hölck a través de un análisis microhistórico
de la sociedad de cazadores recolectores del noroeste de México
autodenominados los Comcáac, pero llamados por los españoles seris, se
pregunta ¿por qué las sociedades de cazadores recolectores han sido
identificadas como anti-estatales y qué consecuencias tuvo esta característica
para el proyecto colonizador? En su respuesta, el autor aborda el debate
antropológico sobre el significado e instrumentalización de la consecución de
recursos en sociedades no estatales y lo contextualiza con el análisis histórico de
los primeros encuentros entre los seris y los europeos hasta finales del siglo
XVII. La discusión antropológica facilita obtener una perspectiva indígena del
significado que tenía el uso y la obtención de los recursos al interior de
sociedades igualitarias, y explica por qué renunciar a la acumulación de bienes
era indispensable para mantener el orden indígena social establecido. El análisis
histórico, muestra por su parte, que los dos derroteros más importantes del
28
28
Zusammenfassungen der Artikel auf Spanisch
programa político colonial dirigido a las sociedades indígenas periféricas:
sedentarismo e instauración de una actividad agrícola, estaban lejos de
comprender y coincidir con las necesidades e intereses de los seris. No
obstante, como señala el autor, se presentaron espacios de negociación pacífica
entre los seris y el poder colonial, en donde la confianza y la tolerancia fueron
condiciones indispensables para llegar a la regulación de determinadas
cuestiones en estos espacios periféricos.
El trabajo de Justo Flores se desplaza a la frontera sur de México y se ocupa
de analizar la resistencia que opusieron los mayas, herederos de la guerra de
castas, cuando el gobierno mexicano quiso instaurar en su territorio escuelas
rurales en el período de 1928 a 1934. Allí, en las selvas de la parte suroriental
de la península de Yucatán, se refugiaron muchos de los mayas rebeldes y se
mantuvieron autónomos del estado, hasta que en 1902 con la fundación de
Quintana Roo, el gobierno central y federal empezó lentamente a “recuperar” el
territorio. El objetivo de la institución escolar era integrar a la dinámica nacional
a los mayas rebeldes, transformando sus costumbres a través de la difusión de
valores republicanos y logrando su castellanización. El autor señala que
desplazar a los mayas de las selvas de la región y con ello controlar la
explotación del chicle, fueron también objetivos que mediante la instauración de
la escuela persiguió el estado. A través de un análisis de los informes de los
delegados de la secretaría de educación pública, se analiza el papel que jugaron
los caciques y los maestros rurales en el establecimiento de la escuela y
responde cuáles fueron los mecanismos que utilizaron los mayas para resistirse y
rechazarla, y por qué el establecimiento de las escuelas rurales tuvo que ser
negociado con los líderes indígenas. El autor concluye, que la resistencia de los
mayas en contra de la escuela, transformó el tipo de escuela que inicialmente el
estado quiso establecer.
Los siguientes tres trabajos se concentran en los espacios periféricos de Chile.
Inicialmente Mónika Contreras responde en su artículo ¿qué ocurría cuando los
mecanismos de dominio colonial español que se emplearon exitosamente para
someter y gobernar gran parte de la población indígena en América, no
funcionaban con los indígenas en los espacios periféricos? Optando por una
perspectiva microhistórica reconstruye un suceso acaecido en la frontera sur del
reino de Chile a finales del siglo XVIII: la construcción de un camino terrestre
que conectaría la ciudad de Valdivia con una salida al mar cercana a la isla de
Chiloé en territorio indígena. Su propósito es mostrar, que observando cómo se
solucionaban problemas de gobierno local, se caracteriza mucho mejor el papel
que jugaron cada uno de los actores involucrados y se puede apreciar el ejercicio
29Resumen de los artículos
29
del poder local y las prácticas que de ello se desprenden en la periferia. En su
artículo la autora muestra, como la política de los Borbones, le apostó mucho
más que en cualquier otro momento del periodo colonial al uso de mecanismos
suaves de dominación. En este contexto la figura del “indio amigo” se consolidó
como herramienta política estratégica en función de la administración local
colonial. De igual forma estos actores tienen un punto de encuentro concreto en
el espacio geográfico, un lugar en la periferia: Los fuertes y plazas fuertes. La
cooperación de los indios amigos y la construcción de fuertes formaron parte de
la estrategia para construir el camino entre Valdivia y Chiloé en territorio
periférico y se muestran como mecanismos imprescindibles de la ocupación y
dominio del territorio indígena del sur de Chile.
El artículo de Jorge Pinto se relaciona también con la sociedad indígena del
sur de Chile, hoy conocidos como mapuche y trata su integración en el proyecto
republicano chileno. El punto de partida de su ensayo, es el análisis del proceso
que convierte al indio mapuche en un referente simbólico, no sólo para inspirar
y animar el movimiento independentista, sino para encarnar en los primeros
años de la república el símbolo de la chilenidad. No obstante, si “lo mapuche” se
incorporó y tuvo un espacio en el mito fundacional de la república chilena; por
el lado del pueblo mapuche, ellos siguieron comportándose como súbditos del
rey y el estado siguió tratando con ellos a través de las instituciones coloniales
mediadoras creadas para ello. Toda esta situación cambiaría en la década del 50
del siglo XIX, a partir de este momento “todo el peso del estado se dejó sentir” y
así se impuso sobre esta región el proyecto de país y nación elaborado por los
grupos dirigentes que gobernaban Chile y Santiago. Analizando especialmente
la prensa de Santiago y del sur de Chile, se explica de manera detallada, cómo se
consolidó en Chile a mediados del siglo XIX un discurso anti-indigenista que
floreció en toda América Latina y que en Chile justificó la agresión a los
mapuche. Se trataba de un discurso que legitimó la ocupación militar del
territorio mapuche. No obstante, había voces disidentes ante este discurso anti-
indigenista. Actores reclutados de la población estudiantil y de la iglesia católica
se opusieron a la ocupación por la fuerza del territorio y la iglesia criticó
fuertemente el hecho de civilizar con las armas. El autor concluye que el
proyecto modernizador de los positivistas del siglo XIX, quería un Chile sin
indios, en donde era imposible lograrlo. Así lo recuerdan los censos
poblacionales desde 1907 hasta el censo del año 2002, en donde se registró el
pueblo mapuche separadamente del pueblo chileno.
El último trabajo de este tomo nos lleva al norte de la periferia de Chile.
Joaquín Fernández recrea en su artículo, cómo para el joven estado chileno
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Zusammenfassungen der Artikel auf Spanisch
lograr estabilidad política se convirtió en una condición indispensable para
poder gobernar con legitimidad en la región de Copiapó. Desde un análisis
microhistórico se examina el enfrentamiento entre los grupos corporativos
fortalecidos a lo largo del período colonial y los nuevos actores del estado
republicano enviados desde Santiago. El autor critica las corrientes
historiográficas que han presentado el caso de Chile como una excepcionalidad
en su rápida carrera para constituirse como república en el contexto
latinoamericano y aporta nuevas evidencias que presentan con mayor claridad
las dificultades que tuvo el estado chileno para constituirse como un estado
soberano y con legitimidad en su territorio. El caso de estudio en Copiapó es una
prueba de ello. Allí el grupo local con mayor poder eran los mineros, quienes a
partir de las reformas borbónicas se organizaron en gremios y se les otorgó
importantes atribuciones administrativas y judiciales. En 1830 hubo un nuevo
auge de minería en la región y el estado republicano que no contaba con la
estructura requerida para gobernar esta alejada región y administrar los
beneficios de las minas, utilizó las mismas prácticas de los Borbones. Estos
grupos consolidaron su poder local y se exacerbó una suerte de regionalismo
cultural e identitario así como una forma de resistencia al poder ejecutivo para
poder preservar mayores grados de autonomía política- administrativa. En la
segunda mitad de 1850 cuando la minería decayó, las relaciones entre ellos y los
representares del estado en Santiago se volvieron conflictivas. Las ideas
políticas liberales del gremio minero chocaron con las del centro del país, así
que en 1859 se levantaron en armas contra el gobierno de Santiago, y fue desde
esta región, que se desencadenó una guerra civil que se extendería por todo el
país.
31CYNTHIA RADDING
RÄUME DER REGIERBARKEIT UND IDENTITÄT IN LATEINAMERIKA: PERSPEKTIVEN VON DER GRENZE
Eine Analyse der Regierbarkeit in den Grenzgebieten der hispano-
amerikanischen Provinzen während der Übergangsphase von der Kolonie zur
Republik bedarf einer Lektüre juristischer Texte und politischer Deklarationen
unter Betrachtung der physischen und kulturellen Besonderheiten, welche die
Grenzräume von den Zentren der lateinamerikanischen Republiken
unterschieden. Die Herausgeber dieser Ausgabe betonen die Bedeutung
kultureller Heterogenität und der Einführung eines republikanischen Diskurses
für die Untersuchung der Regierungsweisen und politischen Konsensfindung in
den Grenzgebieten, die es der indigenen Bevölkerung ermöglichen sollten, am
Projekt der Nationenbildung mitzuwirken. Die Akteure, die dieses politische
Projekt vorantreiben konnten – immer unter der Annahme einer schwachen
Staatlichkeit – sind die lokalen Eliten sowie kulturelle Vermittler wie etwa der
Klerus, das Militär und die Lehrerschaft. Unter der Voraussetzung kultureller
Heterogenität ist es wichtig, diese Szenerie durch die individuellen und
kollektiven Akteure zu vervollständigen, die direkt aus den indigenen
Gemeinschaften selbst hervorgingen. Häufig durchliefen diese Akteure
Prozesse, die von Subsistenzkrisen sowie tiefgreifenden Veränderungen in der
Struktur der sozialen Netzwerke gezeichnet waren, welche die Gemeinschaften
zusammenhielten und Verbindungen zwischen ihnen und der heterogenen
Gesellschaft des Grenzgebietes etablierten. Die langwierigen und
konfliktreichen Prozesse, die zur Entstehung der Republiken in den
verschiedenen Regionen Lateinamerikas führten, erfordern eine Untersuchung
unterschiedlicher Faktoren, die als politische aber auch als ethnohistorische,
kulturelle und Umweltkriterien zu fassen sind. Die natürliche und kulturelle
Umgebung, ebenso wie die physischen Räume und die kommunale
Rechtsprechung öffnen vielfältige Dimensionen in der komplexen Geschichte
der sich im Aufbau befindenden Republiken.
Um den Untersuchungspfaden zu folgen, die die ethnologische und politische
Geschichte mit der Umweltgeschichte verbinden, ist es erforderlich, die
Bedeutungen des Begriffs “Ethnie” in unterschiedlichen Räumen und Zeiten zu
betrachten. Ordnen sich die einzelnen Bevölkerungen (
pueblos
),
beziehungsweise Stämme und Gruppen in gefestigten Verbänden, oder in
32
32
Cynthia
Radding
zerstreuten Feldlagern (
rancherías)
an? Welche Voraussetzungen ließen loyale
Verbindungen und gegenseitige Verpflichtungen zu oder förderten diese? Mit
welcher Autorität ergriffen sie Besitz von Land und natürlichen Ressourcen wie
Flüssen, Wäldern, Höhlen und Hügeln, um diese in Verteidigungspunkte oder
rituelle Stätten zu verwandeln?
Parallel zur ethnohistorischen Forschung und ihrem Basiskonzept der
Ethnizität ist die Umwelt zu betrachten und die mit ihr verwobenen Konzepte
“Kultur” und “Natur”. Diese müssen kritisch überprüft werden, um das
Aufkommen ethnischer Gruppen an bestimmten Orten und die Entstehung
kultureller Landschaften als das Werk menschlicher Gemeinschaften in einer
physischen Umwelt historisch darstellen zu können.
DIE HISTORIOGRAPHIE UND DIE VERGLEICHENDE HISTORIK
Bei einem Projekt, das die politischen Prozesse unter der Voraussetzung
kultureller Heterogenität in verschiedenen Regionen Lateinamerikas untersucht,
bietet sich ein komparatistisches Vorgehen an. Die iberoamerikanische
Historiographie ist von der weit zurückliegenden Vergangenheit bis zur heutigen
Zeit durch eine Vielzahl von Themen geprägt, die eine vergleichende
Untersuchung sinnvoll erscheinen lassen. Dazu zählen bekannte Themen wie die
Domestizierung von Pflanzen (Kürbis, Mais, Bohne, Quinua, Maniok und
Baumwolle, um nur einige zu nennen) in Mittelamerika und den Anden, die
demographischen Muster der indigenen Bevölkerung in Nord- und Südamerika
oder die Auswirkungen der Kolonialisierung auf die verschiedenen Regionen
des amerikanischen Festlands und der Inseln, die von militärischen
Gruppierungen und wirtschaftlichen Unternehmen aus Spanien, Portugal,
Frankreich und England durchdrungen wurden.
1
In jüngster Zeit haben sich
verschiedene kollektive Studien den konfliktreichen Beziehungen zwischen
indigenen Gemeinschaften und dem Staat in Mexiko und Südamerika gewidmet
und sich dabei auch mit familiären Beziehungen, Geschlechterfragen und
Sexualität, sowie mit den unterschiedlichen Ausprägungen der Moderne
befasst.
2
Was lernen wir aus den Überlegungen, die uns lehren, komparativ zu
denken und die verschiedenen Zeitabschnitte, Länder und Bevölkerungen in
1
Stuart B. Schwartz (Hg.): Implicit Understandings. Observing, Reporting, and Reflecting on
the Encounters between Europeans and Other Peoples in the Early Modern Era. Cambridge
1994.
2
Antonio Escobar Ohmstede, Romana Falcón, y Raymundo Buve (Hrsg.): Pueblos,
comunidades y municipios frente a los proyectos modernizadores en América Latina, siglo
XIX. Amsterdam 2002; Raúl J. Mandrini, Carlos D. Paz (Hrsg.): Las fronteras hispanocriollas
del mundo indígena latinoamericano en los siglos XVIII-XIX. Un estudio comparativo.
Buenos Aires 2003.
33Räume der Regierbarkeit
33
einer Gegenüberstellung zu betrachten? Nach welchen Kriterien entscheiden
wir, welche Vergleiche nützlich sein können und welche nicht?
Mein eigenes Abenteuer vergleichender Geschichtswissenschaft entstand aus
einem wachsenden Interesse an Südamerika, nachdem ich lange in Mexiko
gelebt und mich intensiv mit der Geschichte des Nordwestens beschäftigt habe,
die in die kontrastreichen und zuweilen dramatischen Landschaften der Wüste
von Sonora und des Gebirges der westlichen Sierra Madre eingebettet ist. Ich
entschied mich für die Gegend von Chiquitos, im östlichen Flachland Boliviens,
die sich historisch genau wie Sonora als eine Provinz der Jesuitenmissionen in
der Peripherie der zentralen Bergbaugebiete Lateinamerikas entwickelt hatte.
Die dialogische Untersuchung von Natur und Geschichte gab mir dabei die
Freiheit, oftmals bruchstückhafte Aussagen in Dokumenten, Ethnographien,
historischen Erzählungen, Interviews und geographischen Beschreibungen
einander gegenüberzustellen und sie unter dem Aspekt der Umweltgeschichte zu
lesen. Durch einen Vergleich der Informationen, die aus Archivmaterial, aus
Notizen früherer Interviews oder bei Besuchen der kolonialen Missionen und
der heutigen Gemeinschaften in Sonora und Chiquitos mit Kollegen aus
unterschiedlichen Fachrichtungen gesammelt wurden, näherte ich mich einer
ganzheitlichen Geschichte der jeweiligen regionalen Prozesse an. Ein Vergleich
bietet sich insbesondere in Bezug auf die jeweiligen strukturellen Verbindungen
beider Regionen mit dem Kolonialreich über die institutionelle Geschichte der
Missionen, hinsichtlich der sozialen und kulturellen Reproduktion der dort
ansässigen indigenen Gemeinschaften und bezüglich ihrer relativen Distanz zu
den administrativen Zentren des kolonialen Staates an. Die inhärenten
Widersprüche, die der Prozess der Unabhängigkeit und die Bildung der
Republiken aus dem alten Imperium mit sich brachten, werden anhand eines
Vergleiches ebenfalls deutlich.
3
Der Versuch, die beiden Historien miteinander zu verknüpfen, birgt zwei
Herausforderungen: die Untersuchung zweier Kolonien, die kulturell und
ökologisch verschieden sind, aber innerhalb des hispanoamerikanischen
Imperiums zusammenhingen, und das Ineinandergreifen der Umweltgeschichte
mit der Kulturgeschichte. Das Projekt, aus dem das Buch
Paisajes de Poder e Identidad
hervorging, versucht einen Zwischenraum zwischen der globalen
Geschichte des Imperialismus und der historischen Ethnographie der
kolonisierten Bevölkerung zu öffnen. Ziel dieses Projektes ist es nicht, die
beiden Fallstudien lediglich einander gegenüberzustellen, sondern Vergleiche
und Kontraste innerhalb der soziokulturellen Zusammensetzung der
3
Cynthia Radding: Paisajes de poder e identidad. Fronteras imperiales en el desierto de
Sonora y bosques de la Amazonía. Sucre, Bolivien 2005.
34
34
Cynthia
Radding
Gesellschaften, der wirtschaftlichen Grundlagen und der Kulturen dieser beiden
Grenzgebiete des amerikanischen Kontinents zu entwickeln.
UMWELTGESCHICHTE UND GESELLSCHAFTSGESCHICHTE
In seiner Abhandlung über die verschiedenen europäischen und
nordamerikanischen Traditionen im Zusammenhang mit der Umweltgeschichte
wirft Joan Martínez-Alier einige wichtige Fragen auf: Handelt es sich bei der
Umweltgeschichte um eine neue historiographische Besonderheit mit eigenem
Wesen oder wird nur versucht, die gängige Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
mit ökologischen Fragestellungen zu erweitern, weil es modern ist?
4
Martínez-
Alier beantwortet diese Fragen selbst mit den folgenden Feststellungen
bezüglich des eindeutig humanen Charakters der Umweltgeschichte:
„ [...] anstatt die Geschichte zu „naturalisieren“, wird vielmehr die Ökologie selbst durch ihre
Einführung als Erklärungsfaktor in die Geschichtswissenschaft historisiert, allein schon weil
die Humanökologie, also die Beziehung zwischen menschlichen Gesellschaften und Umwelt,
nur verstanden werden kann, wenn wir die Geschichte der Menschen und ihrer Konflikte
begreifen. Die Ökologie ist keine longue durée- Kulisse, sondern ein Teil unserer
ökonomisch-ökologischen Geschichte.”
5
In meiner Forschung habe ich versucht, die Umwelt mit Hilfe zweier
Grundkonzepte in die Geschichte der kolonialen Gesellschaften der
Grenzregionen einzubeziehen: der sozialen Ökonomie und der kultivierten
Landschaften. Das erste Konzept wurde im Zitat von Martínez-Alier bereits
erläutert, da es erstens die Beziehung zwischen der Umwelt und den
verschiedenen sozialen Gruppen (Indigenen und Mestizen) betont, und zweitens
auf die Konflikte abhebt, die bezüglich Machtausübung und dem Zugang zu
Ressourcen zwischen den beiden Gruppen entstehen. Die soziale Ökologie bietet
uns damit ein Werkzeug mit dem die geschichtlichen Dimensionen anhand von
Zeit und Raum untersucht werden können. Ihr Forschungsobjekt ist die
Herstellung kultureller Landschaften, also von Landschaften, die von
menschlichen Gemeinschaften geschaffen wurden, seien diese nun egalitär oder
hierarchisch organisiert. Beide Konzepte sind hilfreich um zu erklären, wie
verschiedene Gesellschaften auf geographische und klimatische Besonderheiten
der Umwelt reagieren und gleichzeitig mit ihrer Kultur und Technologie die
4
Joan Martínez-Alier: Temas de historia económico-ecológica. In: Historia y ecología.
Madrid 1993, S. 19
5
Ebenda, S.30, “[…] lejos de naturalizar la historia, la introducción de la ecología en la
explicación de la historia humana historiza la ecología, ya que la ecología humana, es decir,
las relaciones entre las sociedades humanas y la naturaleza, no se entiende si no entendemos
la historia de los humanos y sus conflictos. La ecología no es ningún telón de fondo de
longue durée
, sino parte de nuestra historia“económico-ecológica.”
35Räume der Regierbarkeit
35
Vegetation, den Lauf von Flüssen und die Gestalt der Erdoberfläche selbst durch
ihre kollektive Arbeit verändern – oftmals durch Prozesse der Eroberung und
Kriege.
Während ich die Geschichte von Sonora und Chiquitos vergleichend
untersuchte, begann ich, die traditionelle Vorstellung eines beständigen
Fortschreitens imperialer Grenzen in die unbewohnten und nomadischen Räume
kaum bekannter Gebiete zu hinterfragen. Im Gegensatz zu dieser Idee legt meine
Interpretation der Geschichte der beiden Grenzgebiete den Schwerpunkt auf ein
Vor- und Zurückschreiten verschiedener Gruppen und Schichten innerhalb eines
unabgeschlossenen imperialen Projekts. Die Kolonialreiche und ihre Grenzen
werden als Transaktions- und Verhandlungsnetzwerke, die sich friedlicher wie
gewaltsamer Mittel bedienen, interpretiert. Daraus konstruiert sich eine
Geschichte komplexer Prozesse, die in den von Menschenhand gestalteten
Umwelten sowohl Grenzräume, als auch imperiale Räume entstehen lassen.
DIE UMWELTGESCHICHTE
Aus der Umweltgeschichte gingen einige wichtige Synthesen hervor, mit
denen die Globalgeschichte über langfristige Periodisierungen und
interkontinentale Vergleiche organisiert werden kann. Sowohl Historikern als
auch fachfremden Lesern wird dadurch bewusst, wie bedeutend
Umweltthematiken sind, um das Drama der Menschheit zu verstehen.
Gleichzeitig wird die Epoche des Kolonialismus durch die Verbindung von
Natur- und Kulturgeschichte in einen Kontext gebracht. Die
umweltgeschichtlichen Untersuchungen konzentrieren sich mehr auf
technologische Themen, wie den kollektiven Fortschritten in Anbaumethoden,
Bewässerung und Viehzucht. Sie widmen sich den vielfältigen Siedlungsformen,
der Demographie und Epidemiologie, sowie dem interkontinentalen Austausch
von Flora und Fauna und eingeschleppten Krankheitserregern zu Beginn der
Kolonialisierung.
6
Umwelthistoriker beschäftigen sich mit den Auswirkungen
der kolonialen Eroberungen für die kolonisierten Völker und Länder, sowie mit
der Entstehung der Umweltpolitik und deren Umsetzung in den europäischen
Kolonien in Übersee.
7
6
Alfred Crosby: The Columbian Exchange: Biological and Cultural Consequences of 1492.
Westport 1972; Alfred Crosby: Ecological Imperialism. The Biological Expansion of Europe,
900-1900. Cambridge 1986; William H. McNeil: Plagues y Peoples. New York 1998; Jared
Diamond: Guns, Germs, y Steel. New York 1997.
7
Richard H. Grove: Green Imperialism. Colonial Expansion, Tropical Island Edens, and the
origins of Environmentalism, 1600-1860. Cambridge 1995; Richard Drayton: Nature’s
Government: science, imperial Britain, and the “Improvement” of the World”. New Haven
2000.
36
36
Cynthia
Radding
Ökologische Annäherungen an die Dokumentation des kolonialen
Aufeinandertreffens positionieren diese Geschichten innerhalb der
vielsträngigen Interaktionen zwischen den ungleichen Gesellschaften und den
natürlichen Umgebungen, die von diesen in kulturelle Landschaften verwandelt
wurden.
8
Klassische Autoren wie Carl Linnaeus, Thaddaeus Haenke und
Alexander von Humboldt
9
– frühe Theoretiker der Ökologie – verstanden die
Ökosysteme als Netzwerke natürlicher Kräfte, die sich durch die Ökonomie der
Natur im Gleichgewicht hielten. Diese stabilen Konzepte einer Ökonomie der
Natur wurden von Charles Darwins revolutionärer Theorie von der Entstehung
der Arten durch natürliche Selektion herausgefordert. Ökologen der Moderne
haben sich daher vermehrt für Konzepte der Veränderung und des Prozesses
ausgesprochen, um damit den Wandel der Natur und die menschlichen Einflüsse
auf die Umwelt zu betonen.
10
Ihr sowohl biologischer als auch
sozialwissenschaftlicher Ansatz greift dabei einige der Grundsätze des
Umweltmanagements und der Interdependenz von Ressourcenverwendung, der
Reproduktion von Ökosystemen – etwa in tropischen Wäldern, Savannen oder
8
Zu den herausragendsten Forschungsbeiträgen über den amerikanischen Kontinent, die
Umweltgeschichte mit einbeziehen, gehören: Warren Dean: With Broadax and Firebrand. The
Destruction of the Brazilian Atlantic Rainforest. Berkeley 1995; Elinor G. K. Melville: A
Plague of Sheep. The Environmental Consequences of the Conquest of Mexico.Cambridge
1994; William Cronon: Changes in the Land. Indians, Colonists, and the Ecology of New
England.New York 1997; Richard White: The Roots of Dependency. Subsistence,
Environment, and Social Change among the Choctaws, Pawnees, and Navajos.Lincoln 1983;
Neil L. Whitehead: Ethnic Transformation and Historical Discontinuity in Native Amazonía
and Guayana, 1500-1900. In: L'Homme XXXIII (2-4) 126-128 (1993), S. 185-305; James
Schofield Saeger: The Chaco Mission Frontier. The Guaycuruan Experience. Tucson 2000;
Jeremy Adelman: Frontier Development: Land, Labour, and Capital on the Wheatlands of
Argentina and Canada, 1890-1914. New York 1994; Stephen Bell: Campanha Gaúcha, a
Brazilian Ranching System, 1850-1920.Stanford 1998; Zephyr Lake Frank: Wealth Holding
in Southeastern Brazil, 1815-60. In: Hispanic American Historical Review 85, 2 (2005), S.
223-257; Arij Ouweneel: Shadows Over Anahuac: An Ecological Interpretation of Crisis and
Development in Central Mexico, 1730-1800. Albuquerque 1996; Arturo Warman: La historia
de un bastardo: maíz y capitalismo. México 1988 (1995) [Corn & Capitalism. How a
Botanical Bastard Grew to Global Dominance. (übersetzt von Nancy L. Westrate) Chapel Hill
2002].
9
Carl von Linné [Linnaeus, 1707-1778]: The Oeconomy of Nature, 1749; Alexander von
Humboldt: Personal narrative of travels to the equinoctial regions of the New Continent
during the years 1799-1804. 7 Bd. Amsterdam, New York 1972; Donald Worster: Nature's
Economy. A History of Ecological Ideas.Cambridge 1994, S.31-55.
10
Donald Worster: Nature's Economy. A History of Ecological Ideas. Cambridge 1994
,
S.
388-433; Leslie A. Real, James H. Brown (Hrsg.): Foundations of Ecology. Chicago 1991;
Robert Clinton Stauffer: Ecology in the Long Manuscript Version of Darwin's
Origin of Species
and Linnaeus'
Oeconomy of Nature
. In: Proceedings of the American Philosophical
Society, 104, 2 (1960) S. 235-241.
37Räume der Regierbarkeit
37
Schwemmgebieten –, Humandemographie und von Kolonisierungsmodellen
auf.
11
Während des letzten Viertels des vergangenen Jahrhunderts wurde die
Umweltgeschichte zu einer anerkannten und etablierten Unterdisziplin. Zu den
herausragendsten Forschungen der U.S.-amerikanischen Historiographie
gehören William Cronons
Changes in the Land and Nature’s Metropolis
sowie
Richard Whites
The Roots of Dependency
und
The Middle Ground12
. White
gelingt in seinem ersten Werk ein dreifacher Vergleich der Geschichte der
Choctaw, Pawnee und Navajo, unter Einbringung grundlegender Themen wie
Umwelt, Kultur und Wirtschaftspolitik. Im zweiten Buch vergleicht er die
Konflikte verschiedener indigener Nationen mit den rivalisierenden
Kolonialmächten Frankreich, Großbritannien und den USA vom 17. bis zum 19.
Jahrhundert. Die Begriffe
Dependenz
und
Middleground
finden sich seitdem
häufig wieder, obwohl sich keiner der beiden ohne weiteres auf einen
bestimmten geschichtlichen Schauplatz übertragen lässt.
Bei der Untersuchung der lateinamerikanischen Grenzgebiete haben
verschiedene Wissenschaftler, die sich mit der Wirtschaftspolitik von Missionen
und Unternehmen beschäftigten, hervorgehoben, dass sich der Grad der
Angewiesenheit auf indigene Arbeit und Güterproduktion und die Konzentration
des kolonialen Vorhabens auf die Anwendung von Zwangsmitteln und
Verhandlungen zur Rekrutierung von indigener Arbeitskraft gegenseitig
bedingten.
13
Diese Interdependenzen zeigen sich aber auch in der Nutzung
sowohl iberischer als auch indigener Bewässerungsmethoden, in der Webkunst
oder der Keramikherstellung, um nur drei Beispiele zu nennen, und im Zugang
zu essentiellen Ressourcen wie Land und Wasser.
11
Arturo Escobar: Constructing Nature. Elements for a Poststructural Political Ecology. In:
R. Peet, M. Watts (Hrsg.): Liberation Ecologies. Environment, Development, Social
Movements. London 1996, S. 46-68. Escobar bietet eine kritische Auseinandersetzung mit der
Thematik des Ökologiemanagements; vergleiche hierzu auch Germán Palacio, Astrid Ulloa
(Hrsg.): Repensando la naturaleza. Encuentros y desencuentros disciplinarios en torno a lo
ambiental. Leticia, Kolumbien 2002.
12
William Cronon: Changes in the Land. Indians, Colonists, and the Ecology of New
England. New York 1997; William Cronon: A Place for Stories: Nature, History, and
Narrative. In: William Cronon (Hrsg.): Uncommon Ground: Toward Reinventing Nature”
New York 1995; Richard White: The Roots of Dependency. Subsistence, Environment, and
Social Change among the Choctaws, Pawnees, and Navajos. Lincoln 1983; Richard White:
The Middle Gound. Indians, Empires, and Republics in the Great Lakes Region, 1650-1815.
Cambridge 1991.
13
Radding: Paisajes de Poder e Identidad, 2005; Susan M. Deeds: Defiance and Deference in
Mexico’s Colonial North. Indians under Spanish Rule in Nueva Vizcaya. Austin 2003; David
Block: Misison Culture on the Upper Amazon: Native Tradition, Jesuit Enterprise, and
Secular Policy in Moxos, 1660-1880. Lincoln 1994.
38
38
Cynthia
Radding
Es ist kein Zufall, dass sich die Umweltgeschichte in den USA gleichermaßen
mit dem widerständigen Vorrücken der westlichen Frontier als auch mit den
Konfrontationen zwischen indigenen Völkern, europäischen und
angloamerikanischen Kolonisatoren, sowie afroamerikanischen Sklaven und
freien Farbigen beschäftigte. Vertreter der “New Western History” betonen
dabei Genderthematiken und untersuchen hybride Gesellschaften, die im
Grenzgebiet entstanden.
14
Robert Williams etwa antizipiert in
Linking Arms Together
eine alternative Sichtweise der multi-kulturellen Gesellschaften im
Grenzgebiet, im Unterschied zu den Maximen US- amerikanischer
Verfassungsgesetzgebung, und zeigt am Beispiel künstlerischer und
repräsentativer Ausdrucksformen der Irokesen und Algonkin den Einfluss
indigener Vorstellungen von Konsensbildung und Reziprozität auf die
vertraglichen Abkommen.
15
Sylvia Rodríguez, Anthropologin aus New Mexico,
veröffentlichte vor kurzem ein Buch, das mehr als zwanzig Jahre
Forschungsarbeit vollendet. Sie beschäftigt sich darin mit dem komplizierten
Prozess kollektiver Konsensbildung bezüglich der Wasserverteilung, einem
zentralen Thema der Ökologie und Bewässerungskultur in New Mexico, sowie
im gesamten neuspanischen Norden.
16
Jüngste Studien verweisen schließlich
auch auf die Ausdehnung indigener Territorien an der Peripherie der
Kolonialgebiete, wie dies bei den Irokesen und Komantschen im Norden und
den Araukanern und Guaraní im Süden des amerikanischen Kontinents der Fall
war, und zeigen, dass nicht die gesamte Geschichte der Eroberung zur
Rückdrängung oder Vernichtung der indigenen Völker führte.
17
Die mexikanische Historiographie entschied sich bei der Sensibilisierung für
Umweltthemen innerhalb der traditionellen, mesoamerikanischen Anthropologie
für einen anderen Weg. Teresa Rojas Rabiela, Bernardo García Martínez, Elinor
14
Patricia Limerick: The Legacy of Conquest: The Unbroken Past of the American West.
New York 1987; Juliana Barr: Peace Came in the Form of a Woman. Indians and Spaniards in
the Texas Borderlands. Chapel Hill 2007; James F. Brooks: Captives and Cousins. Slavery,
Kinship, and Community in the Southwest Borderlands. Chapel Hill 2002.
15
Robert A. Williams: Linking Arms Together: American Indian Treaty Visions of Law and
Peace. 1600-1800. New York 1999.
16
Sylvia Rodríguez: Acequia. Santa Fe 2007.
17
Kristine L. Jones: Comparative Raiding Economies: North and South. In: Donna J. Guy,
Thomas E. Sheridan (Hrsg.): Contested Ground. Comparative Frontiers on the Northern and
the Southern Edges of the Spanish Empire. Tucson 1998, S. 97-114; Thomas D. Hall: The Río
de la Plata and the Greater Southwest: A View from World System Theory. In: Guy/
Sheridan: Contested Ground, 1998, S. 150-166; James Saeger: The Chaco Mission Frontier.
The Guaycurúa Experience. Tucson 2000; Pekka Hämäläinen: The Western Comanche Trade
Center: Rethinking the Plains Indian Trade System. In: Western Historical Quarterly 29, 4,
(1998), S. 483-513.
39Räume der Regierbarkeit
39
Melville und Arij Ouweneel veranschaulichen die Konvergenz dieser
Disziplinen in Bezug auf die ländliche Ökologie von bäuerlichen Haushalten
und der Agrarlandschaft in Zentralmexiko.
18
Alfred Siemens und Andrew
Sluyter haben mit ihren ausführlichen historischen und geographischen Studien
über Sumpfgebiete und das Hochland von Veracruz ebenfalls zu dieser
wissenschaftlichen Diskussion beigetragen. Ebenso Jonathan Amith, der eine
differenzierte und detaillierte Kulturgeographie für das Zentralgebiet von
Guerrero entwickelt hat.
19
William Doolittle und William Denevan haben
geohistorische Arbeiten zu Nord-, beziehungsweise Südamerika veröffentlicht,
die die Schaffung anthropogener Landschaften durch eine Vielzahl
prähispanischer und kolonialer Bevölkerungen thematisieren.
20
Anthropologen
und Ökologen, die zu dem ariden Gebiet des mexikanischen Nordwestens
arbeiten, haben aufschlussreiche Interpretationsfelder zu den semi-nomadischen
Kulturen der Bauern und Wildbeutergruppen in dieser abgelegenen Region
Mesoamerikas eröffnet.
21
In Südamerika ist die Untersuchung „ökologischer Nischen“, mit denen die
Überlebensstrategien der Bauern in den Anden generell erläutert werden,
erhellend für die materiellen und kulturellen Verbindungen zwischen dem
Hochland und der Tiefebenen in der vorspanischen Zeit und während des
Vizekönigreichs. Die räumliche Ausprägung separater „Nischen“ in der
18
Teresa Rojas Rabiela (Hrsg.): Agricultura indígena: pasado y presente. Mexiko 1994;
Bernardo García Martínez: Los pueblos de la sierra: el poder y el espacio entre los indios del
norte de Puebla hasta 1700. Mexiko 1987; García Martínez (Hrsg.): Estudios sobre historia y
ambiente en América Bd. 1. Mexiko 1999; Melville: A Plague of Sheep, 1994; Ouweneel:
Shadows Over Anáhuac, 1996.
19
Alfred H. Siemens: A Favored Place: San Juan River Wetlands, Central Veracruz, A.D.
500 to the Present. Austin 1998; Andrew Sluyter: Colonialism and Landscape: Postcolonial
Theory and Applications. Lanham 2002; Jonathan D. Amith: The Möbius Strip: A Spatial
History of a Colonial Society in Guerrero, Mexico. Stanford 2005.
20
William Doolittle: Cultivated Landscapes of Native North America. Oxford 2000; William
Denevan: Cultivated landscapes of Native Amazonia and the Andes. Oxford 2001.
21
Gary Paul Nabhan: The Desert Smells like Rain. A Naturalist in Papago Indian Country.
Tucson 1987; Nabhan: Gathering the Desert. Tucson 1986; Thomas Sheridan: Where the
Dove Calls. The Political Ecology of a Peasant Corporate Community in Northwestern
Mexico. Tucson 1988; T. Sheridan: Empire of Sand. The Seri Indians and the Struggle for
Spanish Sonora, 1645 – 1803. Tucson 1999; Thomas Bowen: Unknown Island. Seri Indians,
Europeans, and San Esteban Island in the Gulf of California. Albuquerque 2000; Elisa
Villalpando C.: Los que viven en las montañas: correlación arqueológico-etnográfica en Isla
San Estéban, Sonora, México. In: Noroeste de México 8, Hermosillo: INAH (1989); Beatriz
Braniff: La frontera protohistórica pima-ópata en Sonora, México: proposiciones
arqueólogicas preliminares. INAH. Mexiko 1992; Beatriz Braniff, Marie-Areti Hers (Hrsg.):
Nómadas y sedentarios en el Norte de México. Homenaje a Beatriz Braniff. Mexiko 2000;
Beatriz Braniff (Hg.): La Gran Chichimeca. El lugar de las rocas secas. Mexiko 2001.
40
40
Cynthia
Radding
Geographie der Region ist aber erst vor kurzem von Wissenschaftlern in Frage
gestellt worden. Anthropologen und Geographen verweisen nun eher auf die
Migrationen und den Austausch zwischen den Extremen des vermeintlich
fragmentierten Gebietes Anden - Amazonien.
22
Der brasilianische Regenwald
der Atlantikküste wurde über fünf Jahrzehnte von Warren Dean erforscht. Auch
er verwies auf traditionelle, geschichtliche und anthropologische Themen wie
die Sklaverei von Indigenen und Afrikanern, die Kreisläufe der Agrarwirtschaft
von Zucker und Kaffee, sowie den Zuwachs der urbanen Zentren entlang der
Küste um den Regenwald, und legt diese Themen als Schwerpunkt seiner
Geschichtsforschung fest.
23
Kurzum, die verschiedenen Strömungen der Umweltgeschichte in Amerika
präsentieren unterschiedliche Kombinationen aus ökologischen,
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Themen. Ihre spezifischen Analysen
resultieren sowohl aus geographischen als auch aus historischen Aspekten der
Region, in der sie verortet werden. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die
Umweltgeschichte in langfristiger Perspektive ihre Aufgabe erfüllt, die
Ökologie zu historisieren und darin die menschlichen Interaktionen mit der von
ihnen geschaffenen Umwelt zu integrieren.
DIE ETHNOHISTORIE UND RÄUME DER IDENTITÄT
Die zu Beginn dieses Artikels aufgeworfenen Fragen nach den Bedeutungen
des Begriffs
Ethnie
öffnen weitere Zugänge zur sozialen Umweltforschung: Wie
ordnen sich die Stämme und Gruppen an – in
Ranchos
oder Siedlungen? Unter
welchen Bedingungen erkennen sie Verbindungen der Loyalität und
gegenseitigen Verpflichtungen an? Mit welcher Form der Autorität nehmen sie
Ländereien und natürliche Güter in Besitz?
Die Erkenntnisse der Historiker, Geographen und Anthropologen zeigen, dass
die ethnischen Identitäten weder starr noch einfach zu definieren sind. Sie sind
für sich genommen historische, fluktuierende Prozesse. Strukturen der
Verwandtschaft, die an sich ein Artefakt der Kultur sind, und Verbindungen aus
22
John Murra: Formaciones económicas y políticas del mundo andino. Lima 1975; Karen
Spalding: Huarochirí.An Andean Society under Inca and Spanish Rule. Stanford 1984;
Enrique Mayer: The Articulated Peasant. Household Economies in the Andes. Cambridge
2002, S. 239-278; Tristan Platt: Fronteras imaginarias en el sur andino (Siglos XV-XVII).
Archivo y Biblioteca Nacionales de Bolivia Anuario 1995, S. 329-344; Daniel W. Gade:
Nature and Culture in the Andes. Madison 1999; Karl S. Zimmerer: Changing Fortunes:
Biodiversity and Peasant Livelihood in the Peruvian Andes. Berkeley 1996; Juan Carlos
Garavaglia, Jorge D. Gelman: Rural History of the Río de la Plata, 1600-1850: Results of a
Historiographical Renaissance. In: Latin American Research Review 30 (3) (1995), S. 75-
105.
23
Dean: With Broadax and Firebrand 1995.
41Räume der Regierbarkeit
41
Loyalität oder Mitgliedschaften konstruieren die Gemeinschaften und geben den
ethnischen Identitäten Inhalte. Aus historischer Sicht sind die physischen
Räume, die bewohnt und als kulturelle Landschaften geltend gemacht werden,
das Fundament für verwandtschaftliche Netzwerke und politische Allianzen.
Folgt man den beiden Strömungen Umweltgeschichte und Ethnohistorie, ist die
soziale Kategorie des Begriffs
Ethnie
und deren historische Repräsentation
notwendigerweise mit den physischen Räumen,
en la tierra
, verbunden. Die
materielle und symbolische Bedeutung dieser Räume zeigt sich in
Arbeitsprozessen, Konflikten, der Anerkennung der verschiedenen Gruppen
untereinander sowie der Umwelt, die sie geschaffen haben.
24
Das gewaltige Herrschaftsgebiet der Nueva Vizcaya umfasste verschiedene
Provinzen, Gegenden oder Bioregionen im nördlichen Hochland und den
Wüstengebieten Chihuahuas (Mexiko). Diese gewannen ebenso durch die
Missionen der Franziskaner und Jesuiten, die den verschiedenen indigenen
Gruppen das Evangelium predigten, als auch durch die Ballung wichtiger und
dauerhafter Bergbauzentren an Bedeutung. In diesen Zentren entstand eine
gemischte Arbeiterbevölkerung aus zugeteilten Indigenen, freien Arbeitern und
Afro-Mestizen, die entweder frei oder versklavt waren. Zahlreiche klassische
Werke, wie die kulturgeographischen Arbeiten von Robert West, und jüngere
Studien analysieren die Thematiken der Ethnogenese und des kulturellen
Überlebens inmitten der Bergbau- und Landwirtschaft, die jene Region
ausmachte. Susan Deeds etwa interpretiert die turbulente Geschichte der
jesuitischen Missionen in den Gebieten der Tepehuán und Tarahumaras,
während Sara Ortelli die Kriegsökonomie gegen die Apachen in der Nueva
Vizcaya untersucht hat.
25
Als ich das Thema der kulturellen Identität im Nordwesten Mexikos und im
Osten Boliviens komparativ behandelte, visualisierte ich dieses als ethnisches
Mosaik in einer von Indigenen und Spaniern zwischen dem 18. Jahrhundert und
dem Ende des Kolonialreichs geschaffenen Landschaft. In beiden Regionen
fanden parallele Prozesse der Diversifikation und Transkulturation statt, wobei
24
Zwei anschauliche Studien zum transnationalen und fluktuierenden Charakter der Ethnie
der Chiquitos in Bolivien und Brasilien sind: Joana A. Fernandes Silva (Hg.): Estudos sobre
os chiquitanos no brasil e na Bolivia: história, lingual, cultura e territorialidade. Goiánia 2008
und José Eduardo Fernandes Moreira da Costa: A Coroa do Mundo. Religião, território e
territorialidade chiquitano. Cuiabá 2006. Die ausführliche Forschungsarbeit von Guillaume
Boccara über die Mapuche im Süden Chiles zeigt meisterhaft den Prozess der Ethnogenese
auf: Guillaume Boccara: Los vencedores. Historia del pueblo mapuche en la época colonial.
San Pedro de Atacama 2003.
25
Robert C. West: The Mining Community of Northern New Spain. The Parral Mining
District. Berkeley 1949; Deeds: Defiance and Difference, 2003; Sara Ortelli: Trama de una
Guerra conveniente. Nueva Vizcaya y la sombra de los apaches (1748-1790). Mexiko 2007.
42
42
Cynthia
Radding
sich die Fragmentierung der ethnischen Identitäten als ein fortdauerndes,
charakteristisches Merkmal für Chiquitos erwies, während die ethnographischen
Landkarten Sonoras zur Kolonialzeit ein Muster der Konsolidierung aufzeigten.
Ein Untersuchungsschwerpunkt auf die Mobilität, der Vertreibungen und des
Wiederauftauchens stellt jedoch die ethnographischen Etiketten infrage, die aus
dokumentarischen Quellen gewonnen, von Text zu Text weitergegeben wurden
und schließlich als Indizien für die Feldforschung dienten. Eine historische
Darstellung der Ethnizität verlegt den Wert vielmehr zurück auf die komplexen
Äußerungen kultureller Identität.
Themen, die eng mit den ethnischen Grenzen verwoben sind, wie die
kulturelle Hybridität und die Mestizisierung (
mestizaje)
, sind Teil der kulturellen
Verflechtung der beiden untersuchten Grenzgesellschaften. Der Begriff
mestizaje
bezieht sich auf eine Vermischung von Phänotypen, die ihren
Ursprung in der biologischen Fortpflanzung zwischen Personen verschiedener
Herkunft oder in der Migration und Adaption sichtbarer Zeichen wie Kleidung,
Sprache oder Verhaltensmuster hat, die unterschiedliche Traditionen
miteinander kombinieren oder neue bilden. Die hybriden Kulturen drücken
ihrerseits den historischen Prozess der Entstehung neuer Kulturen aus, die ihren
Ursprung in den kolonialen Machtverhältnissen haben und sich durch vielfältige
Aneignungs- und Abwehrprozesse entwickelten.
26
Das historische Konzept von
Ethnie wird schließlich durch die eine Betrachtung der Geschlechterverhältnisse
vervollständigt, durch die Identität, soziale Position und asymmetrische
Machtverhältnisse innerhalb der kolonisierten Gesellschaften definiert sind.
Die Erfahrung der Geschlechterzugehörigkeit in den Kolonien zeigt sich in
Sonora und Chiquitos auf verschiedene Weise. In beiden Missionsregionen war
die Aufteilung der Arbeit in den Gemeinschaften durch die
Geschlechterzugehörigkeit definiert, in den Siedlungen von Chiquitos wurde
dies jedoch stärker betont als in Sonora. In der östlichen, bolivianischen
Tiefebene konzentrierte sich die durch die Missionen kontrollierte Arbeit mehr
auf die Wachsernte (eine Aufgabe für Männer) und die Spinnerei und Weberei
(eine Aufgabe vorwiegend für Frauen). In den Missionen von Sonora waren
Männer wie Frauen in der harten Feldarbeit und der Getreideverarbeitung
beschäftigt, auch wenn Männer eher als Viehhirten, Schreiner und Maurer
arbeiteten, und Frauen spannen und woben wie die Frauen in Chiquitos. Neben
der wirtschaftlichen Organisation der Missionen wird die Bedeutung der
Geschlechterzugehörigkeit vor allem bei der Familienbildung und im
Zusammenhang mit der Mestizisierung deutlich. Auch die Geschichte der
26
Néstor García Canclini: Hybrid Cultures: Strategies for Entering and Leaving Modernity.
Minneapolis 1995, S. 2-11.
43Räume der Regierbarkeit
43
Entführungen, der Befreiung und dem Verkauf von Gefangenen ist sowohl in
vorspanischer Zeit als auch während der kolonialen Periode in beiden Regionen
eng mit der Genderthematik verbunden. Die Geschlechterunterschiede
überschritten dabei ebenso die ethnischen Grenzen wie die Differenzen in Rang
und Prestige bei Personenkreisen, für die soziale Ungleichheit nicht auf
unterschiedlichen Besitzverhältnissen beruhte.
27
Bei einer komparativen Behandlung dieser Themen, in Hinsicht auf
Erfahrungswerte und zu Darstellungszwecken, wird die Genderthematik mit der
breiten Diskussion über Identität in Zusammenhang gebracht. Dies erlaubt uns,
Loyalitäten über ethnische Schranken hinweg zu untersuchen, insofern dass
andere, brüchigere Grenzen zwischen den Gesellschaften geschaffen werden,
über die sich der innere Zusammenhalt und die Abgrenzung nach Außen
konstruieren lassen. Die Bezeichnungen der Stämme und die indigenen
Sprachen, wie
Chiquitos
oder
Opata
, sind tatsächlich Mischformen
verschiedener ethnischer Abstammungen und damit Hinweise auf kulturelle
Kombinationen, die in beiden Provinzen durch die Mobilität der Indigenen,
Europäer und Afrikaner inner- und außerhalb der Missionen, Dörfer, befestigten
Städte und Bergbauzentren stattgefunden haben. Als nur einige von vielen
Beispielen können Zünfte, Milizen, Gemeinderäte und Kirchenhierarchien
genannt werden, die korporative Identitäten gleichzeitig parallel zur Ethnizität
und mit dieser verbunden begründeten.
KOLONIALE LANDSCHAFTEN UND DIE UMWELTGESCHICHTE
Die Kolonialisierung und Institutionalisierung der spanischen Herrschaft auf
dem amerikanischen Kontinent entwickelte sich an verschiedenen Orten
ausgesprochen unterschiedlich. Dies war in großem Maße von den Ökosystemen
abhängig, die von der indigenen Bevölkerung in den abwechslungsreichen,
geographischen Regionen geschaffen worden waren, und von den ökologischen
Grenzen des Kontinents. Befestigte Siedlungen, kultivierte und bewässerte
Ländereien, Steingräben, die Nutzung von Wüsten und Waldgebieten, oder auch
Gärten, die in den tropischen Wäldern angelegt worden waren, repräsentieren
unterschiedliche Formen des kulturellen Eingriffs in die Umwelt, die von den
Europäern nur teilweise verstanden wurden.
27
Jane Fishburne Collier: Marriage and Inequality in Classless Societies. Stanford 1988;
Susan M. Deeds: Double Jeopardy: Indian Women in Jesuit Missions of Nueva Vizcaya. In:
Susan Schroeder, Stephanie Wood, Robert Haskett (Hrsg.): Indian Women of Early Mexico.
Norman 1997; Susan M. Deeds: Subverting the Social Order: Gender, Power, and Magic in
Nueva Vizcaya. In: Jesús F. de la Teja, Ross Frank (Hrsg.): Choice, Persuasion, and
Coercion. Social Control on Spain’s North American Frontiers. Albuquerque 2005.
44
44
Cynthia
Radding
Die Kolonisierung verwandelte diese Landschaften vielerorts radikal und
gewaltsam, aber häufig auch durch subtilere und langsame Prozesse.
Demografischer Rückgang und ökologischer Wandel in Grasland, Flüssen und
Wäldern waren die Folge der Ausbreitung des Bergbaus und der Viehzucht.
Neue Mikroorganismen tauchten auf. Dennoch zeichnet die Kolonialisierung
keinen linearen Weg der Umweltzerstörung nach. Die kolonialen Landschaften
gingen aus den indigenen Landschaften hervor und veränderten sie, aber sie
ersetzten die kulturellen Artefakte und Technologien nicht vollständig, welche
Anbaugebiete geformt, urbane Räume und Kultstätten geschaffen, Handelswege
etabliert sowie Regionen für Jagd- und Sammelaktivitäten reserviert hatten. Die
militärischen Feldzüge und kolonialen Unternehmungen fügten den vormaligen
Prozessen der Erschaffung und Zerstörung in der Geschichte der menschlichen
Ökologie lediglich neue Achsen der Veränderung hinzu.
POSTKOLONIALE GESCHICHTE UND GOVERNANCE- RÄUME
Die Übergänge von der Kolonialzeit zu den Republiken Lateinamerikas
geschahen in unterschiedlichen Phasen und nahmen in den nördlichen und
südlichen Grenzgebieten des spanischen Kolonialreiches in Amerika
verschiedene Formen an. In wiederholten Eingaben versuchten die indigenen
Gemeinschaften sich innerhalb der von den kreolischen Eliten geschaffenen
Institutionen, in den Gemeinden, den regierenden
Juntas
und Parlamenten,
politische Räume zu öffnen. Damit stellten sie sich denjenigen Kräften der
neuen Eliten gegenüber, die die indigene Bevölkerung an den Rand des
politischen Geschehens drängen wollten. Dessen ungeachtet beharrten die
indigenen Gemeinschaften darauf, sich in Debatten, in bewaffneten Konflikten
der politischen Gruppierungen, die von einem
caudillo
angeführt wurden, und in
eigenen Angelegenheiten Gehör zu verschaffen. Dies war ebenso bei den Yaquis
und den Opatas in Sonora, wie bei den Bewohnern Chiquitos im östlichen
Bolivien der Fall.
28
In den Grenzgebieten entbrannten die Kämpfe um Ackerland und die
Nutzungsrechte marginaler Gebiete, die von den Indigenen für Jagd- und
Sammelaktivitäten und als Weideland für Viehherden genutzt wurden.
Wohlbekannt sind in diesem Zusammenhang die
parlamentos
, die typisch für
die Rio de la Plata-Region waren. Bei diesen fast theatralischen Treffen wurde
der Austausch von Gefangenen und Gütern, durch Verhandlungen zwischen den
kommunalen, den staatlichen Regierungen und den ernannten Oberhäuptern der
verschiedenen indigenen Gruppen vorbereitet.
29
Im mexikanischen Norden blieb
28
Cynthia Radding: Landscapes of Power and Identity. Durham, London 2005, S. 240-294.
29
Mandrini/ Paz (Hrsg.): Las fronteras hispano criollas
del mundo indígena
45Räume der Regierbarkeit
45
die Zentralregierung bis in die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts weiterhin
schwach, so dass die staatliche Regierung mit den Apachengruppen und den
Oberhäuptern der Komanchen in Sonora, Chihuahua, Coahuila und Nueva León
ein gegenseitiges Auskommen finden musste. Während der ersten 50 Jahre nach
der Unabhängigkeit überließen die nördlichen mexikanischen Provinzen faktisch
ganze Landstriche und Handelsrouten den Nomadengruppen, deren
migratorische Ausbreitung enorme Distanzen erreichte. Brian DeLay hat zuletzt
den bedeutenden Einfluss dieser fast autonomen Gruppen auf die
Feindseligkeiten und Verhandlungen im Anschluss an den Einmarsch der U.S.-
amerikanischen Truppen in Mexiko 1846 herausgearbeitet.
30
Die Prozesse der Ethnogenese dauerten auch während des 19. Jahrhunderts an
und führten zu neuen Kombinationen ethnischer und sozialer Gruppen im Zuge
kriegerischer Auseinandersetzungen und der Gefangennahme oder Befreiung
von Individuen und ganzen Familien. Auch im Alltag erschufen Prozesse der
Ethnogenese neue soziale Mosaike durch Arbeit, Migration und eheliche
Verbindungen, die wohl weniger dramatisch waren, als die im Krieg
entstandenen Formen, aber ebenso tiefgreifend wirkten. Verschiedene
mikrohistorische Betrachtungen einzelner Siedlungen wie Tucson (Sonora und
Arizona) und von Provinzen wie Buenos Aires oder Kalifornien haben die
strukturellen Veränderungen innerhalb der Familien, des urbanen Lebens oder
auch der Kolonien aufgezeigt und den Weg für neue Synthesen und
Interpretationen geöffnet.
31
Die Geschichte des 19. Jahrhunderts – auch wenn sie
in Bezug auf die Grenzgebiete bislang nicht überzeugend integriert und noch
ziemlich unvollständig erforscht ist – zeigt uns, dass diese Räume eine
Untersuchung verlangen, die über die politischen Parteien, die
caudillos
mit
ihren politischen Programmen, und über die Verfassungsgesetzgebungen
hinausgeht. Die Herausforderung hierbei ist es, die problematische
Republikgründung aus Sicht der als marginal wahrgenommenen Bevölkerungen
zu konstruieren: den Nomaden und den ethnisch und sozial vermischten
Gemeinschaften, die an den territorialen und politischen Grenzen der
Nationalstaaten lebten und teilweise immer noch dort zu finden sind.
latinoamericano, 2003
;
Jones: Comparative Raiding Economies, 1998.
30
Brian DeLay: War of a Thousand Deserts. Indian Raids and the U.S.-Mexican War. New
Haven 2008.
31
Susan Socolow: Women of the Buenos Aires Frontier, 1740-1810 (or the Gaucho Turned
Upside Down). In: Guy/Sheridan (Hrsg.): Contested Ground, 1998, S. 67-82; Thomas
Sheridan: Los Tucsonenses. Tucson 1986; Miroslava Chávez-García: Negotiating Conquest.
Gender and Power in California, 1770s to 1880s. Tucson 2004.
4647LASSE HÖLCK
STAATSFEINDE: DIE SERI UND KOLONIALE HERRSCHAFT IN SONORA, MEXIKO
Die kulturelle Heterogenität der Bevölkerung hat den Prozess des Regierens
in der Vergangenheit und Gegenwart (Latein-) Amerikas stets verkompliziert, da
der Herrschaftsanspruch kolonialer und postkolonialer Regierungen über eine
Vielzahl von indigenen Gruppen bei diesen keine Anerkennung findet. Unter
den indigenen Bevölkerungsgruppen Lateinamerikas stellten Jäger und
Sammlergruppen die Regierungen scheinbar vor eine besondere
Herausforderung: die soziale Organisation dieser Gruppen lässt Pierre Clastres
zufolge ihre Kennzeichnung als „staaten
lose
“ Gemeinschaften von geringerem
analytischem Wert erscheinen, als die Prinzipien ihrer Vergesellschaftungs-
formen fundamental
gegen
staatliche Strukturen gerichtet zu begreifen
1
. Im
vorliegenden Beitrag soll anhand eines Fallbeispieles – der Seri im kolonialen
Sonora – über die „Staatsfeindlichkeit“ von Jäger und Sammlergruppen und die
Bedeutung der Existenz von genuin „antistaatlichen“ Völkern für die
Regierungsformen innerhalb staatlicher bzw. von einem Staat beanspruchter
Territorien reflektiert werden.
Das Zusammenleben mit meist dominanten Mestizengesellschaften innerhalb
eines Staates ist für Jäger und Sammlergruppen Gruppen in Lateinamerika und
weltweit eine Situation, der sie sich heutzutage nicht mehr bzw., wie z.B. im
Fall diverser Indianergruppen des Amazonasgebietes, wohl nicht mehr lange
entziehen können. Um eine Zugehörigkeit zu einem Staat haben diese Gruppen
selbst nie gebeten. Vielmehr drängen die Regierungen auf ihre Einbeziehung
und sind meist nicht imstande oder willens, einer Durchdringung der letzten
Rückzugsgebiete durch ihre Staatsbürger oder transnationale Akteure Einhalt zu
gebieten
2
. In Umkehr der These Pierre Clastres könnte man also formulieren:
Staaten sind „Jäger und Sammler-feindlich“. Da eine Isolation langfristig
unwahrscheinlich erscheint, ist es geboten, nach Mechanismen der Einbeziehung
zu suchen, über die diese Gemeinschaften an den politischen Vorgängen
1
Pierre Clastres: Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie. Frankfurt a.M. 1976,
S. 203ff.
2
Trigger, David S. Trigger: Hunter- gatherer peoples and nation states. In: Richard B.Lee
und Richard Daly (Hrsg.): The Cambridge Encyclopedia of Hunters and Gatherers.
Cambridge 1999 , S. 473–479; John H. Bodley: Der Weg der Zerstörung. München 1983.
48
48
Lasse
Hölck
beteiligt werden können. Dabei gilt es in erster Linie die Gewaltprozesse zu
vermeiden, die, wie die Geschichte lehrt, zu einer Ausrottung der meisten dieser
Gruppen führten
3
. Dazu ist es notwendig, Regierungsweisen zu finden, die die
Akzeptanz dieser Gruppen finden.
Folgt man der Überlegung, dass Legitimitätsglaube „in erheblichem Maße
von der kulturellen Sozialisation geprägt ist“
4
, dann kann aufgrund der zwischen
den Bevölkerungsgruppen verlaufenden kulturellen Grenzen nicht oder nur
schwer auf eingespielte Traditionen sozialer Kooperation zurückgegriffen
werden. Theoretische Überlegungen der jüngsten Governance- Forschung zu
Regieren in Räumen begrenzter Staatlichkeit lassen erkennen, dass klassische
Formen „hoheitlicher Steuerung“, d.h. „Weisungen, denen sich Akteure
unterwerfen müssen und deren Einhaltung notfalls mittels Zwang und Gewalt
und auch gegen die Interessen und Präferenzen der Akteure durchgesetzt wird“
5
,
in Abwesenheit eines permanenten physischen Zwangsapparates (Militär,
Polizei) ohnehin nicht die gewünschten Ergebnisse zeitigen können. Vielmehr
scheinen horizontale Koordinationsmechanismen, die einen Interessenausgleich
zwischen den Gruppen ermöglichen, eher zum Erfolg zu führen. Aber „[g]erade
horizontale Koordinationsmechanismen sind in besonderem Maß auf Tugenden
wie Vertrauen, Toleranz und Solidarität angewiesen. […] Da die Akteure zur
Übernahme der Transaktionskosten nicht gezwungen werden können, müssen
sie intrinsisch zur Mitwirkung motiviert sein.“
6
Im Laufe der vorliegenden
Untersuchung wird danach zu fragen sein, ob und wie horizontale
Koordinationsmechanismen unter den Bedingungen kultureller Heterogenität ein
anerkennungswürdiges Regieren ermöglichten.
Insbesondere in den peripheren Regionen Nord- und Südamerikas stieß die
europäische Kolonialexpansion bereits früh an ihre Grenzen. Die enge
historische Verflechtung von Umwelt und Gesellschaft verdeutlicht sich
augenfällig bei der Betrachtung dieser peripheren Gebiete: ihre oft extremen
klimatischen Voraussetzungen – z.B. in (Eis-) Wüsten oder tropische
Regenwälder - setzten einer weiteren Ausbreitung der an die Möglichkeiten
landwirtschaftlicher Nutzung gebundenen iberischen Kolonialexpansion ein
Ende und erlaubten im Gegenzug das Fortbestehen indigener Formen sozialer
3
John H. Bodley: Hunter-gatherers in the colonial encounter. In: Richard B.Lee und
Richard Daly (Hrsg.): The Cambridge Encyclopedia of Hunters and Gatherers. Cambridge
1999, S. 465–472.
4
Bernd Ladwig, Tamara Jugov und Cord Schmelzle: Governance, Normativität und
begrenzte Staatlichkeit. SFB-Governance Working Paper Series, 4 (2007), S. 17.
5
Thomas Risse: Regieren in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Zur „Reisefähigkeit“ des
Governance-Konzeptes. SFB-Governance Working Paper Series, 5 (2007), S. 6.
6
Ladwig, Jugov, Schmelzle 2007, S. 17.
49Die Seri und koloniale Herrschaft
49
Organisation (vgl. Cynthia Radding in diesem Band). Da andere
Produktionsmodi als das Jagen und Sammeln aufgrund der natürlichen
Beschaffenheit dieser Lebensräume nicht oder nur stark eingeschränkt möglich
waren, handelt es sich bei diesen sozialen Organisationsformen überwiegend um
diejenigen von Wildbeutern (
foragers
), bzw. Jägern und Sammlern. Warum aber
ist die soziale Organisation von Jäger und Sammlergruppen als antistaatlich zu
bezeichnen und welche Konsequenzen hatte dies für ein kolonialstaatliche
Projekt? Um eine Antwort auf die aufgeworfene Frage zu finden wird in diesem
Beitrag zunächst die anthropologische Diskussion über die soziale Organisation
von Wildbeutern am Beispiel der Seri vorgestellt und ein Einblick in die
staatliche Organisation des frühkolonialen Sonora gegeben. Die historische
Untersuchung geht dazu an den Anfang der Kontaktgeschichte zwischen Seris
und Europäern
7
zurück und untersucht die frühesten Berichte auf Hinweise, die
zur weiteren Klärung der sozialen Struktur der Seris herangezogen werden
können und die die kolonialstaatliche Regierungsweise gegenüber den Seris
aufzeigen. Abschließend wird herausgearbeitet, welche Merkmale der
kolonialstaatlichen Regierungsweise den ermittelbaren Prinzipien sozialer
Organisation der Seri entgegenstanden und durch welche Regierungsformen
dennoch ein Interessenausgleich zwischen den ungleichen Bevölkerungsgruppen
ausgehandelt werden konnte.
Tatsächlich sind die Seris (Eigenbezeichnung:
Comcáac
= „die Menschen“)
ein instruktives Beispiel im Rahmen der Themenstellung dieses Bandes, da sie
weder zur Kolonialzeit noch nach der Unabhängigkeit den Herrschaftsanspruch
spanischer oder mexikanischer Regierungsvertreter anerkannt haben.
Historische Arbeiten über die Seri dokumentieren ein seit der Ankunft der
Europäer in Sonora konfliktreiches Verhältnis zum kolonialen Staat
8
und zeigen,
dass auch der Übergang zur Republik nach der mexikanischen Unabhängigkeit
in dieser Hinsicht keine Verbesserungen zu schaffen vermochte
9
. Bis heute
7
Die Integration der indigenen Gruppen in Sonora oblag dem Jesuitenorden, der sich aus
einem gesamteuropäischen Personal rekrutierte. Es kann daher in dem hier gegebenen
Zusammenhang von „Europäern“ anstelle von „Spaniern“ gesprochen werden.
8
Thomas Sheridan: Empire of Sand. The Seri Indians and the Struggle for Spanish Sonora,
1645- 1803. Tucson 1999; William Griffen: Seventeenth Century Seri. In: The Kiva, Jg. 27,
H. 2 (1961), S. 12–21; José Luis Mirafuentes Galvan: Seri, apaches y españoles en Sonora.
Consideraciones sobre su confrontación militar en el siglo XVII. In: Históricas, H. 22 (1987),
S. 18–29.
9
W. J. McGee (1898): The Seri Indians. Seventeenth Annual Report of the Bureau of
American Ethnology. Washington 1898; Valencia Rentería und Rodrigo Fernando: Seris.
México 2007: CDI (Pueblos Indígenas del México Contemporáneo), online erhältlich unter
http://www.cdi.gob.mx; Lasse Hölck: Los Seris Tiburones y el gobierno de Sonora. Dos casos
de inclusión jurídica, 1773 y 1831, in: Peninsula Vol. III, Nr. 2 (Sonderausgabe
herausgegeben von Arturo Taracena), im Druck.
50
50
Lasse
Hölck
lehnen sie eine Integration in die mexikanische Mestizengesellschaft ab und
erheben stattdessen den Anspruch auf eine eigene Nationalität
10
. Ihr Verhältnis
zur Obrigkeit und breiten Teilen der mexikanischen Gesellschaft ist von
gegenseitigem Misstrauen geprägt, das sich meist in symbolischen, zuweilen
aber auch in physischen Auseinandersetzungen ausdrückt. Während der Chiapas
Aufstände 1994 besetzten etwa föderale Truppen das Gebiet der Seri, um dort
einer Nachahmung vorzubeugen
11
; die Seri selbst drohten zu Beginn dieses
Jahrhunderts mit einem bewaffneten Aufstand und einige führten vor dem
Gouverneurspalast in Hermosillo einen Kriegstanz auf, um ihrer Forderung nach
Selbstbestimmung Nachdruck zu verleihen
12
. Im März 2005 kam es zu
Schusswechseln zwischen der
Guardia Tradicional Seri
und der mexikanischen
Polizei, die in dem semi-autonomen Gebiet der Seri stets klandestine Aktivitäten
argwöhnt
13
. Die Hauptursache dieser Konflikte ist in dem Herrschaftsverhältnis
selbst zu suchen, das von den staatlichen Akteuren kategorisch eingefordert, von
den Seris hingegen abgelehnt wird.
WILDBEUTER UND KOLONIALSTAAT: DIE SERIS UND SONORA IM 17. JAHRHUNDERT
Im Unterschied zu den Land- und Viehwirtschaft betreibenden Mapuche in
Chile, deren politische Organisation hierarchische Strukturen aufwies und deren
traditionelle Anführer ihre jeweiligen Bezugsgruppen verbindlich gegenüber den
spanischen und später chilenischen Nachbarn repräsentieren konnten (vgl. die
Beiträge von Contreras und Pinto in diesem Band), war eine zivile
Anführerschaft bei den Seris nicht traditionell verankert. Trotz vielfältiger
Bemühungen gelang es den Spaniern und Mexikanern nicht, indigene
gobernadores
innerhalb der lose verbundenen Seri- Gruppen dauerhaft zu
etablieren, über die eine zuverlässige Steuerung derselben ermöglicht werden
sollte.
10
Lasse Hölck: Gobernando Nómadas: Los Seris y el Gobierno de Sonora, Vortrag
gehalten und veröffentlicht (CD-ROM) anlässlich des XV Congreso de AHILA in Leyden,
2008.
11
David Yetman und Virgil Hancock: Sonora. An intimate geography. Albuquerque 1996,
S. 168.
12
Rentería 2007, S. 39.
13
El Imparcial
. Diario Inedependiente de Sonora, 7.5.2005. Sammlung von
Zeitungsartikeln im Instituto Nacional de Antropologia e História (INAH) in Sonora.
51Die Seri und koloniale Herrschaft
51
DIE SOZIALE ORGANISATION DER SERIS
Das Fehlen klarer Hierarchien, wie sie vor allem Staaten in ihrer
gesellschaftlichen Schichtung oder erbliche Häuptlingstümer hinsichtlich der
Existenz herrschender Familiendynastien aufweisen, stellte die koloniale
Obrigkeit zunächst vor ein gravierendes Verständnisproblem. Egalitäre
Gesellschaftsformen wurden von den Kolonialherren zumeist schlicht als
Abwesenheit jeglicher politischer Organisation interpretiert. Auch moderne
Ethnographen der Seris wussten sich oft nicht weiter zu helfen, als von
„geringer formeller Organisation“
14
dieser Jäger und Sammler- Gruppe zu
sprechen.
Viele Untersuchungen politischer Anthropologie stimmen jedoch darin
überein, dass die soziale Organisation von Jägern und Sammlern auf
Verwandtschaftssystemen gegründet ist, die eine gegenseitige Solidarität der
Gruppenmitglieder erzeugen; Verwandtschaftsbeziehungen und politische
Organisation sind demnach miteinander verschmolzen
15
. Die
Verwandtschaftsterminologie der Seris ist äußerst komplex
16
und die durch sie
gekennzeichneten Beziehungen verpflichten Felger und Moser zufolge jedes
Individuum zum Teilen von Gegenständen (Werkzeug, Jagdwaffen oder
Haushaltswaren) und Nahrungsmitteln mit anderen Gruppenmitgliedern
17
. Die
ordnende Funktion solcher Beziehungen, in Äquivalenz zu politischen
Institutionen, wird in zahlenmäßig kleinen Gruppen wie den Seris
18
dadurch
ermöglicht, dass die Beziehungen der Gruppenmitglieder zueinander direkt
(„face-to-face relationships“) und nicht anonym sind
19
. Der unmittelbare Druck
der eigenen Gruppe oder Familie reicht zumeist aus, um Individuen zu einem
als sozial anerkannten Verhalten zu bewegen.
14
Alfred L. Kroeber(1931): The Seri. Southwest Museum Papers, 6 (1931), S. 4.
15
Elman R. Service: The hunters. New Jersey 1966. ; Fortes, M. und Evans- Pritchard, E.E.
1940: Introduction, in:
dies.
(Hrsg.): African Political Systems. London 1940, S. 1-23, hier S.
6-7. Hierbei sollte beachtet werden, dass es sich nicht unbedingt um Blutsverwandtschaften
handeln muss.
16
Mary B. Moser und Stephen A. Marlett: Seri kinship terminology. In: Robert A. Dooley
und Jim Meyer (Hrsg.), 1993 Work Papers of the Summer Institute of Linguistics, University
of North Dakota Session 1993, pp. 21–35.
17
Richard Stephen Felger und Mary Beck Moser: People of the desert and sea.
Ethnobotany of the Seri Indians. Tucson 1985, S. 3.
18
Die gesamte Seribevölkerung bestand auch in historischer Zeit aus nicht mehr als ein
paar tausend Individuen, die auf zahlreiche Gruppen und Untergruppen verteilt waren.
Sheridan 1999, S. 9.
19
John Layard: Familie und Sippe. In: Institutionen in primitiven Gesellschaften. Frankfurt
am Main 1967, S. 59-75, bes. S. 73f.
52
52
Lasse
Hölck
Marshall Sahlins benannte diese „Gruppensolidarität“ in egalitären
Gesellschaften als „generalisierte Reziprozität“, wobei er davon ausging, dass
die diffusen Verpflichtungen zur gegenseitigen Hilfe ein beständiges Geben und
Nehmen der Gruppenmitglieder untereinander erzeugten
20
. Bezeichnend für
Sahlins´
generalisierte
Reziprozität ist, dass bei ihr die Abgabe von Gütern oder
Hilfe nicht mit (zeitlich versetzten) Gegengaben durch die Empfängerseite
„verrechnet“ wird („
balanced
reciprocity“) und auch kein einseitiges Geben
oder Nehmen (Großzügigkeit bzw. Ausbeutung; „
negative
reciprocity“) statt
findet.
Alan Banard zufolge ist das Teilen von Nahrung und Besitz in der
moralischen „Denkweise“ (
mode of thought
) von Wildbeutern verankert
21
. Im
Gegensatz zur positiven Konnotation, die eine Akkumulation im Sinne von
„Sparen“ oder langfristiger Vorratsanlegung in den meisten domestizierenden
(Bauern, Hirten) und industriellen Gesellschaften erhält, wird die Anhäufung
von materiellem „Reichtum“ bei Wildbeutern als
unsoziales
Verhalten
aufgefasst
22
. Eine grundsätzliche Erwartungssicherheit der Gruppenmitglieder,
auf Anfrage hin
einen Anteil zu erhalten, ohne etwas geben zu müssen, ist auch
bei den Seris beobachtet worden
23
. Die historische Evidenz lässt zudem
erkennen, dass die Umverteilung individuellen Besitzes an die Gemeinschaft in
soziales Prestige umgewandelt wurde, dessen Wert höher geschätzt wurde als
die Vorteile, die aus materiellem Besitz resultieren konnten (s.u.). Am
häufigsten wurde bei den Seris das Teilen von Nahrung beobachtet. Bei
Rückkehr eines Bootes wird etwa noch am Ufer die Ladung gesammelter
Meeresfrüchte, Agavenherzen und ähnlichem mit der zusammenströmenden
Bevölkerung, darunter viele Kinder, geteilt
24
und ins Lager heimkehrende Jäger
teilten ihre Beute mit den Frauen, Alten und Kindern
25
.
20
Marshall Sahlins: Stone age economics. London 1972, S. 193-4 und 231ff.
21
Den Begriff „Denkweise“ bemüht Barnard dabei nicht, um uns einen untrüglichen Blick
in den Kopf von Jägern und Sammlern zu gewähren, sondern vielmehr um darauf
hinzuweisen, dass selbst Veränderungen in der Lebensweise von Wildbeutern, wenn sie etwa
als Tagelöhner arbeiten, keine
unmittelbaren
Veränderungen ihrer sozialen Einstellungen
herbeiführen: „Mode of thought is more resilient than mode of production“. Alan Banard: The
foraging Mode of Thought. In: Senri Ethnological Studies, H. 60 (2002), S. 5–24, S. 6 und 8.
22 Ebd., S. 5–24, S. 7.
23
Nach Griffen werden z.B. spezielle grammatische Konstruktionen verwendet, mit denen
um Anteilhabe an einer Mahlzeit gefragt wird, die dann nicht verweigert wird: William B.
Griffen: Notes on the Seri Indian Culture, Sonora, Mexico. Latin American Monographs Nr.
10, Gainesville 1959, S. 33-35.
24
Felger und Moser 1985, S. 222;
25
McGee 1898, S. 196.
53Die Seri und koloniale Herrschaft
53
Teilen als wirtschaftliches Prinzip
26
hat wiederum politische Implikationen,
da es Ungleichheiten – und damit Machtasymmetrien - zwischen den
Gruppenmitgliedern gleichen Geschlechts und gleicher Generation neutralisiert.
Wie anhand eines Vergleiches verschiedener Jäger und Sammlergruppen gezeigt
werden konnte, ist der Verzicht auf eine materielle Besserstellung Einzelner
notwendig, um die bestehende soziale Ordnung aufrecht zu erhalten
27
.
Woodburn zufolge wird „Ungleichheit in Reichtum, Macht und Status“ bei
Jäger- und Sammlergruppen „systematisch eliminiert“
28
. Dabei bezieht er sich
auf solche Gruppen, die eine „
immediate return
“ - Wirtschaftsweise
praktizieren, d.h. sie konsumieren ihre Nahrungsproduktion direkt, ohne Vorräte
anzulegen, und benötigen dafür ausschließlich Werkzeuge, die individuell und
ohne größeren Aufwand hergestellt werden können. Techniken der
Vorratsanlegung waren den Seris durchaus bekannt, dienten aber nur einer
Lagerung für den begrenzten Zeitraum des Verbleibs an einem Ort
29
, so dass
eine Regelung des Zugangs zu diesen Vorräten kein dauerhaft zu regelndes
Problem darstellte. Die technische Ausrüstung, vom Pfeil bis zum Floß (
balsa
),
war problemlos ohne die Hilfe anderer herzustellen, sobald Nachahmung und
Teilnahme Zugang zum wichtigsten Produktionsmittel eröffneten: Kenntnis der
Umwelt und der Techniken, die ihre Ausnutzung ermöglichten. Dieses Wissen
wurde zwischen den Generationen weitergegeben und konnte nicht
monopolisiert werden. Auch andere soziale Mechanismen fördern in
immediate return
- Systemen die Umverteilung materieller Güter. Spiele, bei denen ein
Wetteinsatz wie Kleidung den Besitzer wechselt, bilden in den meisten Jäger
und Sammlergruppen einen festen Bestandteil alltäglicher Geselligkeit
30
. Die
ersten Missionare der Seri bemerkten ebenso wie moderne Ethnographen deren
Spielfreudigkeit und beobachteten die redistributive Funktion dieser
Aktivitäten
31
.
26
Zu dem Konzept des Teilens (
sharing
) als dominanten Modus ökonomischer Allokation
in Jäger- und Sammlergruppen siehe James Price: Sharing. The Integration of Intimate
Economies. In: Anthropologica, Jg. 17, H. 1 (1975), S. 3–28.
27
Eleanor Leacock: Relations of production in band society. In: Eleanor Leacock und
Richard Lee (Hrsg.): Politics and history in band societies. Cambridge 1987, S. 159–170.
28
James Woodburn: Egalitarian Societies. In: Man, Jg. New Series, Vol. 17, H. 3 (1982),
S. 431–451, hier S. 431-32.
29
Felger and Moser 1985, S. 91.
30
Woodburn 1982, S. 443.
31
Gilg Adam: Die Serer. In: Joseph Stöcklein (Hrsg.): Der Neue Welt-Bott. Augsburg,
Graz 1726, S. 81; Felger and Moser 1985, S. 160-162.
54
54
Lasse
Hölck
Charakteristisch für
immediate return
- Systeme ist weiterhin eine freie Wahl
der Gruppenzugehörigkeit
32
. Tim Ingold zufolge basiert die Verbindung der
Gruppenmitglieder untereinander allein auf Vertrauen (
trust
), und nicht auf
Abhängigkeiten
33
. Nichts hält demnach eine Gruppe länger zusammen als die
momentane gemeinsame Aktion, etwa von der Jagd bis zum Aufteilen der
Beute. Statt regelmäßiger
Orts
wechsel, wie sie für (Hirten-) Nomaden
charakteristisch sind, zeichnen sich Wildbeuter demnach durch einen jederzeit
möglichen Wechsel der
Begleitung
(
company
) aus. Edward Moser zufolge
waren die Seris in mehrere Untergruppen (
bands
) aufgeteilt, die von den
Spaniern nach ihren bevorzugten Schweifgebieten benannt wurden
34
(Karte 2).
Die Möglichkeit, eine dieser Gruppen zu verlassen und sich einer anderen
anzuschließen, ist dabei ein Merkmal, das anhand historischer Dokumente auch
für die Seris festgestellt werden kann, und im empirischen Teil dieser
Untersuchung dargelegt werden wird.
Diese soziale Flexibilität macht schließlich darauf aufmerksam, dass auch die
Bindungen an einzelne Personen wie temporäre Kriegsführer, erfahrene Jäger
oder ähnliche Autoritäten nicht zwingend waren. Die Ethnographien zu den
Seris stimmen darin überein, dass es keiner formalen Entscheidungsträger bzw.
politischer Anführer bedurfte
35
. Alan Banard stellt in diesem Zusammenhang
wiederum die „Denkweise“ von Wildbeutern derjenigen von hierarchischen
Gesellschaften gegenüber, in denen die politische Führung als öffentlicher
Dienst wahrgenommen und von daher positiv bewertet wird. In Wildbeuter-
Gesellschaften gilt politische Führung hingegen als Mittel zur Verfolgung
persönlicher Interessen und wird abgelehnt
36
. Der Anführer bei gemeinsamen
Jagd- oder Kriegsunternehmen verliert seine Position, wenn er seine
Gefolgschaft durch Sanktionen (Drohungen, Gewalt) zu steuern versucht. Er
muss vielmehr bemüht sein, das Vertrauen seiner Leute durch
Selbstbescheidung (z.B. bei der Verteilung der Beute) und Verzicht auf
autoritäre Maßnahmen aufrecht zu erhalten, und allein auf seine individuellen
Fähigkeiten (Geschicklichkeit, Ortskenntnis, Verhandlungsgeschick etc.)
rekurrieren, um die Anerkennung seiner Gefolgschaft zu gewinnen. Effektive
32
Woodburn 1982, S. 434.
33
Tim Ingold: Social relations of the hunter-gatherer band. In: Richard B. Lee und Richard
Daly (Hrsg.): The Cambridge Encyclopedia of Hunters and Gatherers. Cambridge 1999, S.
399–410, hier S. 407.
34
Edward W. Moser 1963: Seri bands. The Kiva. 28.3: 14-27. Spanische Version: Bandas
Seris, online verfügbar unter http://www.sil.org/americas/mexico/seri/A004-BandasSeris-
SEI.pdf, zuerst veröffentlicht: 1999, zuletzt geprüft am 24.1.2009.
35
Griffen 1959, S. 31.
36
Barnard 2002.
55Die Seri und koloniale Herrschaft
55
Entscheidungsfindung wird dadurch unterbunden
37
, die Partizipation der
Gruppenmitglieder ist aber durch das Vertrauen und die Exit- option des
Gruppenwechsels, in der Funktion der Misstrauensäußerung, garantiert.
DER KOLONIALE STAAT IN SONORA, 17. JAHRHUNDERT
Die Durchsetzung von Sesshaftigkeit und Landwirtschaft waren ein fester
Bestandteil des spanischen Regierungsprogramms zur Etablierung staatlich-
kolonialer Herrschaft gegenüber den indigenen Gruppen im Nordwesten
Mexikos und anderswo. Den politischen Repräsentanten (
alcaldes mayores
) der
Provinz Sonora wurde auferlegt, neben der Evangelisierung und Protektion der
indigenen Gruppen auch ihre Sesshaftwerdung zu veranlassen und sie zu einer
Boden bebauenden Tätigkeit anzuhalten
38
.
Die exekutive Machtgrundlage der
alcaldes mayores
bildete ihr Amt als
capitan general de guerra
, wobei sie ihre Legitimität aus der Ernennung von
hoher Stelle, durch den Gouverneur von Nueva Vizcaya oder den Vizekönig von
Neuspanien bezogen. Die spanische Bevölkerung der Provinz wurde in den
entsprechenden Ernennungsschreiben angewiesen, dem Vertreter der Krone den
gebührenden Respekt entgegenzubringen
39
.
Die
alcaldes mayores
waren berechtigt, untergeordnete Beamte (
teniente de alcalde mayor
und
capitanes de guerra)
zu ernennen, die ihnen bei der
Ausübung ihrer militärischen und zivilen Verwaltungspflichten behilflich sein
sollten
40
. Im Anschluss an die meist unbestimmte, häufig aber auf ein oder
mehrere Jahre limitierte Amtszeit, musste sich der
alcalde mayor
gegenüber der
Audienz von Guadalajara verantworten (
residencia
), wobei insbesondere die
Behandlung der indigenen Bevölkerung und die Bemühungen um ihre
Akkulturation zu beurteilen waren
41
. Dieser Kontrollmechanismus schränkte die
Macht des
alcalde mayor
systematisch ein; der Einfluss übergeordneter
Politikebenen (Vizekönig, Indienrat und König) blieb aber durch die schwache
Präsenz staatlicher Institutionen vor Ort gering. Die Inbesitznahme dieses Amtes
wurde zuweilen schon vom Gouverneur verhindert
42
, was auf eine geringe
37
Ingold 1999, S. 407.
38
Garcia Luis Navarro: Sonora y Sinaloa en el siglo XVII. Mexiko 1992, S. 79 und 85.
39
Ebd., S. 80; Maria Atondo und Martha Ortega: Entrada de los colonos españoles en
Sonora durante el siglo XVII, in: Sergio Ortega Noriega und Ignacio Del Rio (Hrsg.): Tres
siglos de historia sonorense. 1530-1830. Mexiko 1993, S. 103ff.
40
Atondo und Ortega 1993, S. 102 und S. 107.
41
Ebd., S. 106-107.
42
Ebd., S. 123.
56
56
Lasse
Hölck
Folgebereitschaft gegenüber den Anordnungen auch von höchster Stelle
schließen lässt.
Die praktische Umsetzung der Akkulturation indigener Gruppen war im
frühen spanischen Kolonialstaat den religiösen Orden und ihren Missionaren
auferlegt, eine Aufgabe, die im Sonora des 17. Jahrhunderts der Jesuitenorden
übernahm
43
. Das jesuitische Missionssystem beruhte auf einer möglichst
weitgehenden Kontrolle der indigenen Gruppen in materieller ebenso wie in
spiritueller Hinsicht. Unter Aufsicht des Missionars sollten die indigenen
Gruppen landwirtschaftliche Erzeugnisse produzieren, deren Verwaltung in den
Händen des Priesters lag. Im Erfolgsfall führte dies dazu, dass sich die
Missionen zu autarken Siedlungen entwickelten, von deren Erzeugnissen die
Versorgung der spanischen Siedler abhing und die allein über den Missionar mit
der kolonialen Gesellschaft verbunden waren. Die daraus resultierende
Machtfülle des Missionars missfiel den staatlichen Beamten und provozierte
regelmäßig Streit zwischen dem Ordenspersonal und den Beamten
44
.
Die Missionare konnten von den Beamten militärische Unterstützung
anfordern und machten von dieser Möglichkeit des Öfteren Gebrauch.
Allerdings organisierten die versierten Ordensleute auch eigenhändig
bewaffnete Trupps aus Missionsindianern, um Strafexpeditionen gegen
missliebige Indianergruppen zu schicken oder selbst anzuführen. Die
Machtgrundlage der Missionare ähnelte somit der des
alcalde mayor
, was die
Konkurrenz beider Bereiche verstärkt haben wird. Ihr Mandat speiste sich aus
dem königlichen Auftrag zur Evangelisierung, während die Durchsetzung ihres
(spirituellen sowie materiellen) Herrschaftsanspruches von ihrem
interkulturellen Verhandlungsgeschick und von ihrer Fähigkeit, physische
Zwangsmassnahmen zu organisieren, abhängig war.
FRÜHE KONTAKTGESCHICHTE DER SERIS
Die ersten Europäer, die den mexikanischen Nordwesten durchstreiften,
berichteten davon, dass sich die Bewohner des Küstenstriches am Golf von
Kalifornien von gemahlenen (Wild-)Samen, Gräsern und Fisch ernährten, da es
in der Gegend keinen Mais gebe
45
. Dieser Hinweis auf die Grundnahrungsmittel
bot Anlass zu der Spekulation, dass es sich bei den erwähnten amerikanischen
43
Sergio Ortega Noriega: El sistema de misiones jesuiticas: 1591- 1699. In: Sergio Ortega
Noriega und Ignacio Del Rio (Hrsg.): Tres siglos de historia sonorense. 1530-1830. Mexico
1993, S. 41–91.
44
Bernd Hausberger: Für Gott und König. Die Mission der Jesuiten im kolonialen Mexiko.
Wien 2000, S. 188; Atondo und Ortega 1993, S. 132- 136.
45
Cabeza de Vaca, S. 158.
57Die Seri und koloniale Herrschaft
57
Ureinwohnern um Seris gehandelt habe
46
und markiert somit eventuell die erste
Erfahrung, die ein Europäer mit den Seris machte. Ein weiterer Chronist des 16.
Jahrhunderts beschrieb die Küstenbewohner des mexikanischen Nordwestens
folgendermaßen:
„Die [Menschen] von Uparo, die die Küste bewohnen, sind Wilde. Sie
bestellen keine Felder, sondern ernähren sich von wild wachsenden Samen,
Jagdwild und Fisch sowie allen möglichen Würmern [Insekten]. Und obwohl sie
gottlose Heiden sind, essen sie kein Menschenfleisch.“
47
Der Historiker Navarro Garcia identifiziert die so beschriebene Volksgruppe
als Seris und führt dazu aus, dass die umliegenden Ethnien jene „Uparos“
überfielen, um Salz von ihnen zu rauben
48
.
Die ersten konkreten Nachrichten über die Seris erhielten die spanischen
Eroberer indirekt, über die Yaqui- Indianer der Jesuitenmissionen. Die Yaquis
informierten die Jesuiten schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts von der Existenz
einer Bevölkerungsgruppe namens Guaymas, nördlich ihres Siedlungsgebietes
am Rio Yaqui, die eine gänzlich andere Sprache hatte
49
. Die Guaymas und
Upanguaymas, so weiß man heute, sind die südlichste der Seri- Gruppen. Ihre
geographische Nähe zur Yaqui- Mission brachte sie als erste in einen
kontinuierlichen Kontakt mit den Europäern
50
und von den Yaquis erfuhren die
Jesuitenpater, dass sie Muscheln und Perlen von ihnen erhielten
51
.
Das Missionswesen der Jesuiten expandierte aber vornehmlich landeinwärts,
entlang der wenigen Flüsse Sonoras, da es den Möglichkeiten
landwirtschaftlicher Nutzung folgen musste
52
. Daher blieben die Seri, deren
küstennahes Schweifgebiet zu den trockensten Gebieten Nordamerikas gehört
46
Conrad Bahre 1967: The Reduction of Seri Range and Residence in the State of Sonora,
Mexico. Unveröffentlichte Master Thesis der University of Arizona, Tucson 1967, S. 52.
47
„Los de Uparo, que están en la costa, son salvajes, no siembran, comen el grano de
bledos, caza y pescado, y todo género de sabandijas silvestres, y aunque todos gentes idolatra
y malvada, no comen carne humana.” Baltasar Obergón: Historia de los descubrimientos
antiguos y modernos de la Nueva España escrita por el conquistador. México 1564, zitiert in
Navarro Garcia 1992, S. 63-64.
48
Ebd.
49
William Tweed 1973: The Seri Indians Frontier of New Spain, 1617-1762.
Unveröffentlichte Master Thesis der Texas Christian University 1973, S. 6; Gerard S. J.
Decorme (1941): La Obra de los Jesuitas Mexicanos durante la epoca colonial, 1572-1767. 4
Bd. Mexiko: Porrua 1941, Bd. 2, S. 445.
50
William Griffen: Seventeenth Century Seri. In: The Kiva, Jg. 27, H. 2 (1961), S. 12–21,
hier S. 14-15.
51
Brief von Fr. Andrez Perez an Padre Provincial, Rio del Espiritu Santo, 13.6.1617,
Bancroft Manusripts (BANC. M-M) 0227 PP. 0579-0583).
52
Miguel Venegas, S. J. (1979 [1759]): Obras Californianas. 3 Bde. hrsg. v. Mathes. La
Paz (Baja Cal.), Bd. II, S. 79.
58
58
Lasse
Hölck
und für den Ackerbau ungeeignet ist, zunächst unberührt von dieser
kolonialistischen Institution. Bis Mitte des 17. Jahrhunderts hatten die Jesuiten
jedoch in Nacámeri, Opodepe und Cucurpe Missionen etabliert, die alle am
Rande des Serilandes lagen
53
(Abb. 1).
53
Tweed 1973, S. 8. Conrad Bahre unterscheidet ganz richtig zwischen „Seri Range“ und
„Seri Residence”. Es handelt sich bei den östlichen Rändern der Wüste von Sonora um das
Schweifgebiet der Seri, das sie durch Sammel- und Jagdaktivitäten in ihren Wirtschaftsraum
integrierten, aber auch für Handel mit den Ackerbau betreibenden Ethnien nutzen. Vgl. Bahre
1967.
59Die Seri und koloniale Herrschaft
59
Abb. 1: Kontaktbereich von Seris und Jesuitenmissionen im 17. Jahrhundert
nach Bahre 1980; Kartenzeichnung: Geomacon GbR Kiel.
60
60
Lasse
Hölck
Der Jesuitenpater Perez de Ribas fasste 1645 die vagen Kenntnisse über diese
Volksgruppe zusammen:
„Es gibt Hinweise auf eine weitere, bedeutende Volksgruppe, die Heris [sic!] genannt werden:
sie sind äußerst wild, ohne Dörfer, ohne Häuser und ohne Landwirtschaft. Sie haben keine
Flüsse, auch keine Bäche, sondern trinken aus irgendwelchen Wasserlöchern und Pfützen; sie
leben nur von der Jagd, allerdings tauschen sie zur Erntezeit Hirschgeweihe und Salz, das sie
aus dem Meer gewinnen, bei den anderen Volksgruppen gegen Mais ein.“
54
Auch die mobile Wirtschaftsweise der Seris wurde von Pérez de Ribas
erwähnt:
„Dieses wandernde Volk ist von viel geringerer Zahl als die Ackerbauern, und mit ihrer
Lebensweise sind sie so zufrieden, als hätten sie alle Güter und Paläste der Welt.“
55
Die letzten Bemerkungen Pérez de Ribas umreißen, was den spanischen
Kolonialherren großes Kopfzerbrechen bei dem Versuch bereitete, die Seris in
die koloniale Regierung zu integrieren: das materiell einfache Leben
nomadisierender Völker, die bei ihren häufigen Standortwechseln nur wenig
Gepäck transportieren können, schränkte ihre Bedürfnisse auf ein transportables
Minimum ein und bot nur wenig Ansatzpunkte, die Aktivitäten dieser Gruppen
etwa durch materielle Anreize steuern zu können. Die Seris hatten, anders als
etwa die nomadisierenden Gruppen der nordamerikanischen Prärie
56
, auch nur
wenig Interesse an den europäischen Kolonialexportschlagern Pferd und
Feuerwaffen. Einzig die Suchtmittel Alkohol und Tabak, mit denen sich die
europäische Kolonialexpansion weltweit die entlegensten Wirtschaftsräume
erschloss, wurden auch von den Seris zunehmend nachgefragt
57
.
Mitte des 17. Jahrhunderts waren Seris und Spanier einander noch
weitestgehend unbekannt. Wichtig für eine Untersuchung des Verhältnisses der
54
Andrés Perez de Ribas (1944 [1645]): Historia de los triunfos de nuestra Fe entre las
gentes más barbaras y fieras del nuevo orbe. Paginas para la Historia de Sinaloa y Sonora. 3
Bde (I, libro I, Capitulo II), S. 24-25.
“Hay noticias de gran gentío de otra nacion que llaman heris: es sobremanera bozal, sin
pueblos, sin casa ni sementeras. No tienen rios, ni arroyos y beben de algunas lagunillas, y
charcos de agua, sustentandose de caza, aunque al tiempo de cosecha de maíz, con cueros de
venados y sal que recogen de la mar, van a rescatarlos de otras naciones.”
55
“Este tan peregrino genero de gente es mucho menor en numero que las labradoras, y
con tal modo de vivir estan más contentos que si tuvieran los haberes y palacios del mundo.”
Perez de Ribas 1944, S. 24.
56
Vgl. Pekka Hamalainen: The Rise and Fall of Plains Indian Horse Culture. In: Journal of
American History, Jg. 90, H. 3 (2003), S. 833–862.
57
Z.B. als Belohnung für militärische Dienste: Brief von Francisco Bellido an Antonuio
Maria Bucareli y Ursúa, Pitic, 27.12.1771, Archivo General de las Indias (AGI), Guadalajara
512, konsultiert in der Bancroft Library, Berkeley, Reel M. 517.
61Die Seri und koloniale Herrschaft
61
spanischen Kolonialmacht zu dieser Ethnie ist die Bemerkung Perez de Ribas´,
dass die Seris in saisonalen Austauschbeziehungen zu den Boden bebauenden
Gruppen in Sonora standen. Archäologische Untersuchungen untermauern diese
Feststellung und ergänzen die Palette der handelbaren Erzeugnisse der Seri um
einige maritime Produkte wie Muscheln und Schnecken, die von den anderen
indigenen Gruppen zu rituellen Zwecken verwendet wurden
58
. Der Austausch
von Erzeugnissen der Jagd- und (litoralen) Sammelaktivitäten gegen
kohlenhydrathaltige Produkte der Landwirtschaft - d.h. im Norden
Mesoamerikas vor allem Mais - stellte eine bedeutende Interaktionsform dar, die
Bauern und Wildbeuter in eine symbiotische Beziehung zueinander setzte
59
. Die
Zusammenführung der zerstreut lebenden indigenen Bauerngruppen in den
Missionen der vordringenden Kolonialisten (Reduktion) und die Einbindung der
Missionserzeugnisse in den kolonialen Wirtschaftskreislauf schränkte aber die
Möglichkeiten dieser komplementären Wirtschaftsweise für die
Wildbeutergruppen ein
60
. Auch geografisch entfernten sich die Ackerbauern
Sonoras von den Seris, da sie auf Geheiß der Missionare christliche Dörfer
gründeten, die weiter im Landesinneren lagen
61
. Die räumliche Entfernung der
Bauern nötigte die Seris daher zu einer Erweiterung ihres Schweifgebietes und
erhöhte den Energieverbrauch für die Nahrungssuche
62
. Der Anteil von
fettarmer und proteinhaltiger Nahrung, wie etwa Fisch, war bei den Seris im
Vergleich mit anderen Jäger- und Sammlergruppen ungewöhnlich hoch
63
. Eine
Verringerung der Aufnahme von Kohlenhydraten bei gleich bleibend hoher
Aufnahme von Proteinen kann eine Proteinvergiftung hervorrufen,
beeinträchtigt Schwangerschaften und senkt das Geburtsgewicht
64
. Die
58
Maria Elisa Villalpando: Conchas y Caracoles. Relaciones entre Nómadas y Sedentarios
en el Noroeste de México. In: Marie-Areti Hers, José Luis Mirafuentes Galván und María de
los Dolores Soto (Hrsg.): Nómadas y sedentarios en el norte de México. Homenaje a Beatriz
Braniff México D.F. 2000, S. 525–546, hier S. 541.
59
Wolfgang Lindig: Die Seri: Ein Hoka- Wildbeuterstamm in Sonora. In: International
Ethnography 41: 1-116 (1960), hier S. 57; Bodley 1999, S. 468; Gary Clayton Anderson: The
Indian Southwest, 1580 - 1830. Ethnogenesis and reinvention. Norman 1999, S. 107.
60
Der Austausch von maritimen Produkten und Hirschgeweihen der Seris mit den Opata
wurde allerdings noch hundert Jahre später, 1746, bemerkt: Augustin de Vildosola: auto de
obedecimiento. Real Presidio San Pedro de la Conquista, 28.5.1746, AGI, Guad. 188, fol.
844r.
61
Decorme 1941, S. 445.
62
Pater Gilg erwähnt, dass die Seris den in Missionen reduzierten Pima- Bauern in der
Hoffnung auf Beute ins Landesinnere folgten. Gilg 1726, S. 75.
63
Felger und Moser 1985, S. 87.
64
L. Cordain: Plant to animal subsistence ratios and macronutrient energy estimations in
world wide hunter-gatherer diets. In: American Journal of Clinical Nutrition, Jg. 71 (2000), S.
682–692; Pekka Hämäläinen: The Comanche Empire. New Haven 2008, S. 31.
62
62
Lasse
Hölck
räumliche und soziale Entfernung der umliegenden Ackerbauern im Zuge der
Missionierung stellte für die Seris somit durchaus eine existenzielle Bedrohung
dar.
Über einen Austausch der Seris mit den Missionaren ist hingegen nichts
bekannt. Rituelle Gegenstände wie die Hirschgeweihe, die noch heute als
zentrale Ausstattung der traditionellen indigenen Tänze in Sonora zu beobachten
sind, dürften den Gottesleuten zudem ein Dorn im Auge gewesen sein, da sie
mit den vorchristlichen Festen in Verbindung standen. Der erste Bericht, der die
Konflikte der Missionen mit den Seris in Einzelheiten beschreibt,
veranschaulicht an einem mikrohistorischen Beispiel wie die Missionierung der
bäuerlichen Gruppen Sonoras die Ernährungsgrundlage der Seri beeinträchtigte
und Konflikte hervorrief.
ERSTE KONFLIKTE
Die spanischen Quellen des 17. Jahrhunderts sprechen von einer traditionellen
Gegnerschaft der Seri zu ihren mehr oder weniger sesshaften Nachbarn
65
. In
vielen Fällen sind solche Feststellungen allerdings der Unkenntnis und dem
Missverständnis der Beziehungen zwischen den indigenen Gruppen geschuldet
oder auf Rechtfertigungsversuche der Beamten und Missionare gegenüber der
Kolonialregierung zurückzuführen.
Seris wurden bereits 1646 als Unruhestifter im Umkreis der Missionen von
Ures und Nacámeri benannt, und ihre Bestrafung gefordert66. Der Jesuitenpater
Adam Gilg datiert den ersten militärischen Zusammenstoß spanischer Soldaten
mit einer Gruppe Seris erst auf das Jahr 1662 und gibt als Ursache die Überfälle
der Seri auf eine Mission der Pima Indianer an
67
. Dem Jesuitenpater zufolge
wurden die Erwachsenen Seri bei den Vergeltungsschlägen von spanischen
Soldaten getötet und die Kinder auf christliche Missionen verteilt.
Trotz der Klagen der Missionare über die Raubüberfällen der Seri wuchsen
die Pima Missionen zu dieser Zeit stetig an
68
, möglicherweise auch weil sich die
auf kleine Farmen (
ranchos)
verteilte Pima Bevölkerung vor den Angriffen in
Sicherheit bringen musste. Die Überfälle der Seris häuften sich zur Zeit einer
65
Die Bewirtschaftung kleiner rancherías durch die bäuerlichen indigenen Gruppen in
Sonora war ebenfalls von einer saisonalen Mobilität geprägt. Cynthia Radding: Wandering
Peoples: Colonialism, Ethnic Spaces, and Ecological Frontiers in Northwestern Mexico,
1700-1850. Durham and London 1997.
66
Hausberger 2000, S. 188.
67
Gilg 1726, S. 75; Tweed 1973, S.9; Edward Holland Spicer: Cycles of Conquest. The
impact of Spain, Mexico und the United States on the Indians of the Southwest 1533-1960.
Tucson 1962, S. 105.
68
Tweed 1973, S. 9.
63Die Seri und koloniale Herrschaft
63
anhaltenden Dürre in Sonora zwischen 1669 und 1670, was vermuten lässt, dass
die Jäger und Sammler insbesondere bei klimatisch bedingter
Nahrungsknappheit auf die „Kornkammern“ der Bauern zurückzugreifen
versuchten.
Anhand der Dokumentation eines Disputes zwischen dem weltlichen
Regierungsvertreter und den Jesuitenmissionaren lässt sich ein solcher Fall der
gewaltsamen Nahrungsaneignung und ihrer Konsequenzen rekonstruieren. In
einem Bericht von 1673 beklagte der
alcalde mayor
von Sonora, Gregorio
López Dicastillo y Aramburu, dass der Missionar von Cucurpe, Padre Cornelio
Guillereagh, die Entwendung von Lebensmitteln aus seinem Besitz mit einer
Strafexpedition gegen die Seris geahndet hatte und dabei unnötig hart
vorgegangen sei
69
. Der über hundert Seiten lange Bericht des
alcalde mayor
ist
zwar bemüht, die Jesuiten für alle möglichen Regierungsprobleme in Sonora
verantwortlich zu machen
70
, die Details seiner Ausführungen in dem referierten
Fall weisen aber darauf hin, dass die Missionierung der bäuerlichen
Gesellschaften in Sonora die Seris empfindlich getroffen hat. Di Castillo
schreibt:
„Die genannten Indios [Seris] drangen vom Hunger getrieben in das Vorratslager des
genannten Padres ein und entwendeten etwas Trockenfleisch und ein bisschen Mais um ihre
Not zu stillen…“
71
Möglicherweise untertreibt Di Castillo die Menge der geklauten Lebensmittel
bei diesem Einbruch - allerdings machten die Seris selten eine Beute, die ihre
überlebenswichtige Beweglichkeit eingeschränkt hätte. Ersichtlich wird aus
dieser Information jedenfalls, dass die Wildbeuter während der Dürreperiode in
Sonora auf der Suche nach Nahrungsmitteln waren und diese unter Verschluss
und in der Obhut eines Missionars fanden. Padre Cornelio rekrutierte daraufhin
eine kleine Truppe aus seinen Hausdienern und Missionsindianern und befahl
69
“[...] el padre cornelio guillert [sic] misionero de cucurpe fue causa de que se
comenzasen a alborotar los yndios ceris gentiles confinantes a su mision que es una de las
desta provincia de Sonora y por que los dichos yndios con hambre abriendo una vez la
despenzia [despensa] de dicho padre sacaron unos tasajos de ella y un poco de maiz para
socorrer su nesesidad y entonses solo por esto el dicho padre mizionero hizo armas a la gente
del servicio de la casa de su mision y tambien a los yndios de ella y [...] hizo el dicho padre de
sola su authoridad a la dicha gente hazer entrada de guerra contra los dichos yndios Zeris
gentiles y su caudillo Siona [...]”. Informe de Di Castillo (1673), AGI, Patronato 232, R. 1, N.
20, fol. 98r.-v.; Navarro Garcia 1992, S. 65.
70
Für eine ausführliche Besprechung der Kontroverse zwischen DiCastillo und den
Jesuiten siehe Navarro Garcia 1992, S. 178-197.
71
„[…] que los dichos yndios con hambre abriendo una vez la despenzia [despensa] de
dicho padre sacaron unos tasajos de ella y un poco de maiz para socorrer su nesesidad [...]”.
Informe de Di Castillo (1673), AGI, Patronato 232, R. 1, N. 20, fol. 98r.
64
64
Lasse
Hölck
ihnen, diesen Diebstahl zu sühnen. Die Strafexpedition tötete einige Seris,
provozierte aber damit eine Racheaktion gegen die Mission, die von einem Seri-
Krieger namens Siona angeführt wurde. Der Jesuitenpater forderte Soldaten aus
einem befestigten Lager (
presidio
) in der Nachbarprovinz Sinaloa an, die 1670
und 1671 in zwei Angriffen auf Seri Lager (
rancherias
) in Sonora 100 Seris
töteten und dutzende Gefangene, vor allem Kinder, machten
72
.
Das Blutvergießen scheint allerdings die Falschen getroffen zu haben. Die
Jesuiten beklagten im Anschluss an die Strafexpedition, der verantwortliche
Hauptmann habe „[…] die Unschuldigen bestraft und die Schuldigen straffrei
gelassen […]“.
73
Sehr häufig scheiterten die Exempel, die man an den Seris statuieren wollte,
an der Identifikation der vermeintlichen Missetäter. Die Zuordnung raubender
Seris konnte auch aufgrund ihrer flexiblen Gruppenzugehörigkeiten selten
eindeutig vorgenommen werden, und Strafexpeditionen oder Selbstjustiz
(Lynchjustiz) wurden oft willkürlich an jenen Seris vorgenommen, derer man
gerade habhaft werden konnte. Das Verhältnis der Jäger und Sammler zum
(kolonialen) Staat erlitt dadurch immer wieder Schaden.
Einige an der Strafexpedition beteiligte Soldaten mussten sich 1672
gegenüber dem Gericht (
Audiencia
) von Guadalajara verantworten, da sie
gefangene Seri- Kinder bei sich führten und folglich der verbotenen
Indianersklaverei verdächtigt wurden. Ihren Aussagen zufolge wurden die
spanischen Soldaten mit der Zuweisung gefangener Indianer(kinder) entlohnt,
da sie keinen Sold erhielten und auch ihre Ausrüstung selbst bezahlen mussten.
Unter den vom Gericht in Gewahrsam genommenen Minderjährigen befanden
sich der acht- oder neunjährige Sohn von Siona, dessen Vater bei einem der
Angriffe getötet wurde, und ein Seri- Mädchen, das auf den Namen Isabel
getauft und als Geschenk für einen Freund in Mexiko Stadt gedacht war. Der
Junge war auf den Namen seines Eigners und Paten Nicolas getauft worden und
wird in den Quellen Nicolasillo genannt.
Die Soldaten überzeugten das Gericht davon, dass sie die Seris für Apostaten
gehalten hatten, d.h. sie waren von einer vorherigen Bekehrung zum
Christentum ausgegangen. Aller Wahrscheinlichkeit handelte es sich hierbei um
einen juristischen Trick, denn unter dem Hinweis, dass sie die Kinder (erneut)
im Christentum unterrichten wollten, kamen die Angeklagten schließlich mit
72
Aussage des Soldaten Nicolas Ramos vor der Audiencia de Guadalajara, 24.12.1671.
AGI, Guad. 12, R. 2, N. 24, fols. 5v.- 8v.
73
Zitiert in Jose Luis Mirafuentes Galvan 1987, S. 18–29, S. 21.
65Die Seri und koloniale Herrschaft
65
einer Geldstrafe davon
74
. Die Aussage einer Mulattin, die den Tross nach
Sonora begleitet hatte, weist darauf hin, dass es sich bei den meisten Kindern
nicht um Kriegswaisen handelte, sondern dass sie von ihren Eltern getrennt
wurden
75
. Was aus Sicht der Soldaten wohl als Gutmütigkeit verstanden werden
sollte – schließlich würden die Kinder vor dem Fegefeuer bewahrt werden –
wurde von den Seris hingegen sicherlich als schlichte Entführung bzw.
Kinderraub wahrgenommen.
Der referierte Fall zeigt, dass sich die Kolonialmacht durch die Störung der
symbiotischen Beziehung zwischen Wildbeutern und Bauern, durch einen nicht
oder nur schwer nachvollziehbaren Strafvollzug sowie durch die
vorgenommenen Familientrennungen keine gute Ausgangslage geschaffen hatte,
um die Seris in ihre Vorstellung von einem Zusammenleben im nordwestlichen
Grenzgebiet Neuspaniens zu integrieren. Zudem weisen die gegenseitigen
Anschuldigungen von Jesuiten, Militär und Beamten darauf hin, dass interne
Konflikte der kolonialen Verwaltung ein gemeinsames Vorgehen erheblich
erschwerten. Die gegenseitigen Anschuldigungen sind offensichtlich
übertrieben, verweisen aber auf grundsätzliche Konfliktpunkte und
Schwierigkeiten bei dem Verhältnis der Wildbeuter zum kolonialstaatlichen
Projekt.
ERSTE MISSIONSERFOLGE
Wenige Jahre später keimte dennoch Hoffnung unter den Jesuiten auf, als
1677 ein alter Seri Mann die Mission von Banámichi aufsuchte und darum bat,
getauft zu werden. Seinem Wunsch wurde nach kurzer Indoktrinierung noch am
selben Tag statt gegeben, gerade rechtzeitig, denn der Mann verstarb wenige
Stunden nach seiner Taufe
76
. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts wurden mehrere
solcher Begegnungen dokumentiert, wobei es sich scheinbar stets um hoch
betagte Männer handelte77. Das Alter der Kontakt suchenden Seri lässt
vermuten, dass es sich bei ihnen um Individuen handelte, die keinen Beitrag
mehr zum Lebensunterhalt der eigenen Gruppe erbringen konnten, ihr zur Last
fielen und sich daher zum Sterben von ihr entfernten.
Die Jesuiten reagierten 1677 umgehend auf die Taufe des alten Mannes und
begannen, sich ihrerseits den Wildbeutern anzunähern. Der
Padre visitador
Juan
74
Die Verurteilten mussten 7 pesos Strafe bezahlen. Zu dieser Zeit war in Sonora für
diesen Betrag eine
fanega
(= 55,5Liter Trockenmaß) Mais zu bekommen.
75
„…quitandoselas a sus Padres y alli los reparten a diferentes personas para que los
crien.” Aussage von Anna de la Cruz, Mulatta libre [sic]. AGI, Guad. 12, R. 2, N. 24, fol. 5v.
76 Tweed 1973, S. 16.
77
Griffen 1961, S. 15-16; Gilg 1726, S. 77.
66
66
Lasse
Hölck
Ortiz Zapata, der zu jener Zeit die Jesuitenmissionen in Sonora inspizierte,
erklärte in seinem Bericht von 1678 schließlich, dass die Seris nicht nur eine
„naturgegebene Neigung zum Umherstreifen“ hätten, sondern dass sie dazu auch
gezwungen seien, da sie vor ihren feindlichen Nachbarn flüchten müssten
78
.
Seine Schilderung stellt die Seris im Gegensatz zu früheren Berichten also als
schutzbedürftig dar. Zapata ordnete konsequenterweise die Versetzung eines
Missionars an, der militärisch gegen die Seri vorgegangen war
79
, und trug
dessen Nachfolger Fernández Altamirano auf, eine
visita80
für diese
Volksgruppe zu errichten
81
. Ein weiterer Grund für seine Zuversicht dürften die
Erfolge gewesen sein, die die Jesuiten mit den südlichsten Seri- Gruppen, den so
genannten Guaymas und Upanguaymas, feierten. Von diesen waren bereits 278
Familien bzw. 564 Individuen in der Mission Nuestra Señora de Belem ansässig,
wo sie sich mit der heimischen Yaqui- Bevölkerung vermischten
82
. Warum
diese Comcáac- Gruppe so anders auf die Anforderungen der Kolonialisten
reagierte, ist heute nicht mehr eindeutig festzustellen. Sicherlich erleichterte die
Nähe ihres Schweifgebietes zu den prosperierenden Yaqui- Missionen eine
gegenseitige Annäherung.
Für gewöhnlich blieben es aber Einzelgänger, die ihren Weg aus der Wüste in
die Missionen fanden
83
. Die weit zerstreut in der Wüste von Sonora lebende
Bevölkerung der Seri verband untereinander eine gemeinsame Sprache (das
Comcáac
), die allerdings mehrere Dialekte aufwies, und die Kombination aus
Sammeln und Jagen, mit der sie ihren Lebensunterhalt erwirtschafteten. Der
Bericht Zapatas bemerkt jedoch auch, dass die Seris zwar in einzelne Gruppen
aufgeteilt waren, aber dennoch einem gemeinsamen rituellen Kalender folgten,
78
“Por ser de su natural andariego e inclinados más a la caza que a las siembras y huir de
los demás pueblos de gentiles sus confines, que les hacen hostilidad [...]”. Transskribiert in
Sheridan 1999, S. 29.
79
Nach Tweed handelte es sich hierbei um Padre Francisco Javier Soto von der Mission in
Ures. Tweed 1973, S. 17.
80
Mit
visita
ist eine Ansiedlung gemeint, die von einem Missionar von Zeit zu Zeit betreut
wird, ohne dass er ständig vor Ort wohnt.
81
Tweed 1973, S. 17-18.
82
Griffen 1961, S. 15.
83
Padre Zapata berichtete 1678 auch von einem Seri, dem auf der Jagd die Jungfrau
erschienen sein soll und der sich daraufhin taufen ließ. In der Nacht vor seiner Taufe wurde er
dem Jesuit zufolge noch einmal vom Teufel versucht, der ihn samt Pfeil und Bogen wieder in
die Wüste zurückschicken wollte. Mit Hilfe diverser Devotionalien wurde "Salvador", so der
Taufname des bekehrten Jägers, von diesem Schritt abgehalten. 1678 lebte er schon 2 Jahre in
Baviacora. Griffen 1961, S. 16.
67Die Seri und koloniale Herrschaft
67
der mehrere Gruppen zu kollektiven Festen zusammenführte
84
. Die
verschiedenen Untergruppen der Seri bezeichnet Padre Zapata als „verwandt“
und notierte eine Flexibilität ihrer politischen Führung, die unabhängig von der
Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ausgeübt werden konnte:
„[…] derzeit ist der gobernador der Tepocas
85
[ein Seri] aus Kalifornien [Isla Tiburón]. Er ist
mit einer Indianerin von dieser Küste verheiratet.”
86
.
In Ermangelung eines alternativen Vokabulars gebraucht Zapata hierbei das
Wort „
gobernador
“, um die Führungspersönlichkeiten der Seris zu
kennzeichnen. Der Bericht Zapata´s gibt einen vagen Hinweis auf das Wesen
der Autorität dieser Personen:
„[…] Escobóri, der Hauptmann (capitán) dieser Volksgruppe (nación), wird von diesen sehr
verehrt.“
87
.
Wofür Escobóri „sehr verehrt“ wurde, notierte der
padre visitador
nicht.
Allerdings ist es nahe liegend, die vielen „Referenzen“ („
muy reverenciado
“)
des Anführers als Fähigkeiten zu interpretieren, die ihn gegenüber seiner
Anhängerschaft auszeichneten und ihm die nötige Anerkennung und das
Vertrauen für seine leitende Position innerhalb der Gruppe verschafften.
Die Seri- Chefs, die von Zapata namentlich erwähnt werden, baten ihm
zufolge um christliche Taufe und erhöhten damit die Hoffnungen der
Missionare, deren Bekehrungsversuche üblicherweise bei den vermuteten
„Häuptlingen“ der indigenen Gruppen begannen und sich mit Hilfe von deren
Autorität auf die übrige Bevölkerung erstrecken sollten. Einen Drang nach
christlicher Erleuchtung dürften diese Personen kaum gespürt haben. Allerdings
ist das Entgegenkommen der Indigenen in diesem Punkt – von Kolonialbeamten
und Missionaren stets umgehend an höhere Politikebenen referiert - durchaus
als ein Hinweis auf ihre Verhandlungsbereitschaft anzusehen.
84
„[…] ordinariamente en tiempos de verano se vienen muchos de allá y acá, hasta que
reconociendo el iuiuno [yuyuno], se vuelven a su tierra”. Transskribiert in Sheridan 1999, S.
30. In dem Bericht wird „California“ mit der Isla del Tiburón verwechselt. Allerdings bot der
Golf von Kalifornien den wagemutigeren Seris scheinbar kein unüberwindliches
geografisches Hindernis (Lindig 1960, S. 30). Das Wort „iuiuno“ stammt vermutlich aus dem
Nahuatl. Anlass der sommerlichen Zusammenkunft könnte die Reife der Kakteenfrüchte zu
dieser Zeit gewesen sein.
85
Tepoca
war der Name den die Spanier der nördlichsten Seri- Gruppe gaben, siehe Karte
2.
86
“[...] que están emparentados los naturales de aquestas costas con los de aquella, y que
actualmente el gobernador que hoy tienen aquestos tepoques es de Californias [Isla Tiburon]
y está casado con india que es de esta costa [...]”. Transskribiert in Sheridan 1999, S. 30.
87
“[...] Escobori, que es capitán de esta nacion de ellos muy reverenciado [...]”. Sheridan
1999, S. 30.
68
68
Lasse
Hölck
Schließlich erwähnte der Jesuitenpater noch das einzige Produkt der Seris, an
dem die Krone und ihre Untertanen Interesse haben könnten: in den
Küstengewässern des kalifornischen Golfes, aus deren Fischgründen die Seris
einen wichtigen Teil ihres Unterhaltes bestritten, waren Perlen zu finden
88
.
Diese geschätzte Ressource schien nicht nur dem Priester bemerkenswert,
sondern weckte auch die Begierde von europäischen Abenteurern, die wenige
Jahrzehnte später an die Küsten Sonoras vordrangen und ihrerseits Konflikte mit
den dort lebenden Seris hervorriefen.
Der vorangegangene Abschnitt zeigt, dass trotz der zunächst konfliktreichen
Begegnung zwischen Seris und Spaniern auch ein friedliches Aufeinandertreffen
möglich war. Vielleicht haben die Besuche der alten Seri Männer in den
Missionen die übrigen davon überzeugt, dass die fremden Eindringlinge in
Sonora nicht nur als Störenfriede anzusehen waren. Der Bericht des Padre
Zapata zeigt weiterhin, dass den Seris auch von Seiten der Kolonialmacht mit
Interesse und Verständnis begegnet werden konnte. Das so geschaffene
Vertrauen auf Seiten der Seri und die Toleranz auf Seiten der Missionare
schufen in nur wenigen Jahren ein Klima, das eine gegenseitige Annäherung
begünstigte.
DIE MISSION
In den darauf folgenden Jahren gelang es den Jesuiten, einige dutzend Seri-
Familien zu einer Niederlassung in einem neu gegründeten Dorf (
pueblo
) zu
überreden, sie mit der Landwirtschaft bekannt zu machen und zum Bau kleiner
Behausungen (
casitas
) zu bewegen. Der von den Missionaren gegebene Anreiz
dazu bestand aus einer Versorgung der Familien mit Lebensmitteln: “[…] es war
notwendig“, berichtete Padre Fernández diesbezüglich, „[die Seris] über den
Mund zu gewinnen.“
89
Die fortschreitende Kontrolle der Missionare über die „Kornlieferanten“
90
der
Seri näherte die Wildbeuter schließlich den Missionen an. Die erste
visita
für die
Seris setzte sich multiethnisch zusammen und wurde auch von Pima- Bauern
regelmäßig aufgesucht, so dass davon ausgegangen werden kann, dass die
landwirtschaftlichen Überschüsse, die diese Volksgruppe unter Aufsicht der
88
„[...] que por hombres entendido en la mar, se tienen ya perlas, que de esta costa de acá
hay algunas y de aquella de allá, muchas [...]”. In: Sheridan 1999, S. 30.
89
“Han hecho ya algunas sus casitas y los demas los van haciendo.[...] Todos hicieron sus
siembras de maíz que les di, que para ganarles la voluntad, fue necesario ganarles por la boca,
y darles de comer.” Padre Fernández an den padre provincial in Mexico, Ures, 7.10.1679.
Transskribiert in Sheridan 1999, Zitat S. S. 34.
90
Lindig 1960, S. 38.
69Die Seri und koloniale Herrschaft
69
Missionare erzeugte, von den Jesuiten auf die Seris umverteilt wurden. Den
Seris dürfte dieses neue Arrangement zunächst sehr entgegen gekommen sein,
waren sie doch nun nicht mehr auf einen Austausch oder kriegerischen Erwerb
angewiesen.
Padre Fernández berichtete zudem, dass er die christliche Doktrin in die
Sprache der Seri übertragen habe. Wie weit seine Kenntnisse des
Cuncáac
gingen, ist nicht zu sagen. Jedenfalls trägt dasselbe Dokument die marginale
Bemerkung, dass bislang niemand die als äußerst schwierig bekannte Sprache
dieser Volksgruppe erlernt habe.
Das sesshafte Leben scheint den Seris jedoch nicht bekommen zu sein: von
den 130 Seris, die Fernández zwischen Januar und Oktober 1679 getauft hatte,
starben siebzehn, und als der Missionar 1683 zu einer anderen Mission
abberufen wurde, verließen die verbliebenen Seris das Dorf und kehrten zu ihrer
nomadischen Lebensweise zurück
91
. Noch oft sollte sich herausstellen, dass die
Annäherung der Seris an die Spanier von einzelnen Personen abhängig war,
denen sie Vertrauen entgegenbrachten. Sobald die Vertrauensperson abgezogen
oder versetzt wurde, was sowohl bei Missionaren wie auch bei Militärs alle paar
Jahre geschah, endete auch das Vertrauensverhältnis der amerikanischen
Ureinwohner zu den Neuankömmlingen aus Europa. Dieser Umstand wurde
auch von Missionaren beklagt, die sich zudem während ihrer befristeten
Dienstzeiten in einer Mission außerstande sahen, die Sprache der indigenen
Bevölkerung zu erlernen
92
. Die höheren Politikebenen und das hierarchische
Regierungssystem der europäischen Kolonial- und Missionsverwaltung waren
somit periodisch für eine empfindliche Störung der lokalen Governance-
Formen verantwortlich. Die Anerkennung, die sich einzelne Missionare bzw.
Militärs über face-to-face Kontakte innerhalb der indigenen Gruppen verschafft
hatten, konnten nicht, wie es etwa der Begriff soziales Kapital impliziert, auf die
jeweiligen Nachfolger übertragen werden. Diese langfristige Beobachtung
scheint mit der Bedeutung von Vertrauen für die politische Autorität in Jäger
und Sammlergruppen zusammenzuhängen: die Regierungsweisen mussten den
Prinzipien sozialer Beziehungen der Wildbeutergruppen angepasst werden,
wenn sie erfolgreich sein sollten.
Im Jahre 1688 unternahmen die Jesuiten einen zweiten Versuch, Seris in einer
Mission zusammenzufassen. In der Zwischenzeit stieß auch der
Jesuitenmissionar Eusebio Kino auf eine Gruppe von Seris, als er 1685 in
91
Transskribiert in Sheridan 1999, S. 33; siehe auch Gilg 1726, S. 76.
92
Padre Alejandro Rapicani (12-13-1744 , 12-31-1744): Briefe an den Padre Provincial
Christobal de Escobar und Padre Ignacio de Arzeo, Baserac, 13.12. und 31.12.1744, Archivo
Histórico de Hacienda, Mexico, Temporalidades, Leg. 0278 no. 017.
70
70
Lasse
Hölck
Begleitung des Konquistador Blas de Guzmán y Córdova den kalifornischen
Golf erkundete und wegen ungünstiger Wetterverhältnisse zu einem längeren
Aufenthalt in der Bahia Kunkáak (Bahia Kino) gezwungen war. Im Austausch
gegen Geschenke wurden die Spanier von Seris mit Wasser, Fisch und angeblich
sogar Pferden versorgt
93
. Die friedliche Begegnung bewog Kino dazu, eine
eigene Mission für die Seris zu erbitten
94
. Seinem Vorschlag verlieh er
Nachdruck, indem er wiederum eine konkrete Nachfrage verschiedener
Comcáac- Gruppen - der Tepocas, Seris und Guaymas - nach Taufe und
Missionaren behauptete
95
. Die Agenten der Krone - Missionare und Militärs –
neigten dazu, die Nachfrage nach Taufe bzw. Frieden durch einige Seris zu
verallgemeinern, was sich im Nachhinein und angesichts der fragmentierten
sozialen Struktur dieser Bevölkerungsgruppe aber stets als voreilig herausstellte.
DIE MISSION VON ADAM GILG
Ein Glücksfall für die Ethnohistorie der Seri ist der Bericht des Jesuitenpaters
Adam Gilg, der 1692 dem Pater Rector des Jesuitenkollegs zu Brünn (Mähren)
ausführlich über seine Schützlinge in der Mission zu Pópulo, die er 1688
übernommen hatte, Bericht erstattete
96
. In seinem Bericht bemerkte er, wie die
anderen Missionare vor ihm, die mobile Wirtschaftsweise der Seri, versuchte
sich aber auch an einer Erklärung ihres nomadischen Daseins. So beschreibt er
die Seris als
„[ein Volk] welches weder arbeiten noch lang an einem Orth verharren will/ wegen
Unfruchtbarkeit ihres Erdreichs […] Um welcher Ursach willen sie gleich denen Zigeinern
von einem Orth in das andere ziehen (ohne sich irgend lange aufzuhalten) damit sie die
Gewächs/ Früchten/ Kräuter und Saamen/ so die Natur ohne Arbeit von sich selbst
hervorbringt/ abnutzen/ zu solchem End aber die jenige Gegenden aber vor anderen lieber
besuchen/ in welchen sie bessere dergleichen Nahrung nach Unterschied der Jahreszeit
antreffen/ übrigens ohne GOTT/ ohne Gesätz/ ohne Glaub/ ohne Fürsten und ohne Häuser/
wie das Viehe leben.“
97
Gilg erkannte die Wirtschaftsweise der Seris als saisonale Mobilität, die je
nach Jahreszeit einen anderen Aufenthaltsort notwendig machte, um je
93
Tweed 1973, S. 22-24. Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, dass die Seris tatsächlich
Pferde bieten konnten.
94
Decorme 1941, S. 378.
95
Tweed 1973, S. 25.
96
Gilg war unmittelbar nach seiner Ankunft in Mexiko Stadt 1687 von Eusebio Kino für
die Übernahme der Seri Mission gewonnen worden.
97
Gilg 1726, S. 76 [Hervorhebung im Original].
71Die Seri und koloniale Herrschaft
71
spezifische natürliche Vorkommen auszunutzen. Zudem betont er, dass in dem
ariden Schweifgebiet der Seris gar kein Bodenbau möglich ist. Der Verweis
Gilgs auf die Zigeuner ist von besonderem Interesse. Zwar sind beide
Gesellschaften, Zigeuner und Seris, abgesehen von ihrer Mobilität kaum
miteinander zu vergleichen, jedoch sind die Maximen der staatlichen Politik
ihnen gegenüber, zumal in dem hier untersuchten Zeitraum, durchaus ähnlich98.
Adam Gilg teilte dem Pater Rector in seiner Beschreibung der Seri wie
nebensächlich mit, dass er sie für religionslos hält („ohne Gott, ohne Glauben“)
und verweist auf die flache Hierarchie ihrer Sozialstruktur („ohne Fürsten“).
Seine Beobachtungen sind wie bei den anderen Berichterstattern überwiegend
negativ formuliert, das heißt er beschreibt die Seri als eine Mangelgesellschaft,
der die wichtigsten Grundzüge europäischer Sozialordnungen zu fehlen
scheinen. Eine nicht-hierarchische Gesellschaftsordnung war den europäischen
Eroberern derart fremd, dass sie von der Abwesenheit erblicher oder
institutioneller Oberhäupter meist auf eine völlige Abwesenheit jeglicher
Regelungen zwischenmenschlicher Beziehungen schlossen („ohne Gesetz“).
Ohne dies weiter zu reflektieren, macht Gilg jedoch auf ein funktionales
Äquivalent für die ihm bekannten, hierarchischen und schriftlich fixierten
Gesellschaftsordnungen aufmerksam, als er schreibt:
„Im Gegentheil ißt kein Volck unter der Sonnen anzutreffen/ welches die Staffel der Freund-
und Verwandtschaft mit mehrern Namen/ als eben meine Seren / unterscheide.“
99
Die komplexe Verwandtschaftsterminologie der Comcáac hat moderne
Ethnographen ebenso beeindruckt wie den Jesuitenpater. Gilg gibt einen
wichtigen Hinweis darauf, dass es sich bei dem familiären Vokabular nicht
allein um Blutsverwandtschaften handelt, sondern auch andere Verbindungen –
nach Ansicht Gilgs handelt es sich um „Freundschaften“
100
– betitelt und mit
Bedeutung versehen werden.
Der Jesuitenpater zeigte sich zudem beeindruckt von einer Art Sittsamkeit der
Seri, die geradezu an die Ideale der Missionare zu erinnern schien. So waren bei
den Seri „[…] weder Abgötter/ noch Zauber-kunst/ noch Trunckenheit/ noch der
98
Die spanische Krone erließ zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine gesetzliche Grundlage,
nach der das „fahrende Volk“ sesshaft gemacht und zu einer geregelten Arbeit gezwungen
werden sollte, und aufgrund der die
gitanos
1749 schließlich aus Andalusien deportiert
wurden. Vgl. Angus Fraser 1995: The gypsies.
99
Gilg 1726, S. 78.
100
Tatsächlich hat der Begriff „Freund“ keine Entsprechung im Cuncáac, wie mir
Francisco Molina bei einem Gespräch in der Seri-Siedlung Punta Chueca mitteilte (April
2008). Im Wörterbuch erscheint „Freund“ schließlich nur als Lehnwort aus dem Spanischen
„amigo“:
hamíigo
. Mary Beck und Stephen A. Marlett (Hrsg.): DICCIONARIO SERI –
ESPAÑOL - INGLÉS. Hermosillo 2004, S. 322.
72
72
Lasse
Hölck
Geiz/ noch der Mißbrauch mehr Weiber zugleich zu halten […]“101 bekannt.
Mit der Abwesenheit von Idolatrie und Polygamie, die auch in späteren
Berichten über die Seri bemerkt wurden, fehlten dieser Volksgruppe also zwei
wesentliche „schlechte Eigenschaften“, die von der christlichen Mission im
globalen Ausmaß bekämpft werden sollten und in vielen Fällen die Ursache für
Konflikte der indigenen Bevölkerung mit den Missionaren darstellten. Adam
Gilg blieb also nicht viel mehr übrig, als die bereits bekannte und beklagte
Bedürfnislosigkeit der Seri anzuzeigen. So schreibt er, dass „seine Serer“
„[…]übrigens aber die Kleider und allen Hausrath so wenig achten/ daß der heut ehrlich
gekleidet ist/ morgen nackend dahergehet/ inmaßen ein Freund dem andern alles/ was er hat/
auf einmal schencken wird; welches sie für eine Großmüthigkeit halten/ derer sie sich gern
rühmen/ hergegen einen sorgfältigen Haushalter verachten/ und ihm vorrucken/ daß er sich
um das Seinige gar zu sehr bekümmere. Darum gibt es unter ihnen einige/ welche ihre armen
Nachbarn gähling [sic! jählings] zusammen ruffen/ und auf einmahl unter ihnen alles
außteilen/ was sie von Lebens-Mitteln und Gewand lange Zeit erspahrt haben.“
102
Eine wichtige Beobachtung, die uns Gilg hier mitteilt, ist die Geringschätzung
individuellen Besitzes bei den Seri. Es scheint bei den Seris eine soziale
Notwendigkeit bestanden zu haben, den individuellen Besitz bei Gelegenheit mit
der Bezugsgruppe („ihren armen Nachbarn“) zu teilen. Die Übereignung der
gesamten persönlichen Besitztümer an „einen Freund“ könnte hingegen ein
Hinweis auf die Einrichtung des
amák
bei den Comcáac sein, den William
Griffen in seiner Feldstudie als eine Art Paten kennzeichnete, und der die
Umverteilung von als „gefährlich“ eingestuften Gegenständen - etwa die Beute
nach einem Raubzug - anstelle des heimkehrenden Kriegers vornahm, weil er als
immun gegen die übernatürlichen Kräfte solcher Dinge galt
103
.
Das soziale Prestige, das aus der Verteilung des eigenen „Reichtums“
entstand, wog offenbar schwerer als die materiellen Vorteile, die daraus
resultieren könnten. Die von Woodburn analysierte „systematische Eliminierung
von Ungleichheit“ in Wildbeutergruppen lässt sich also für die Seris mit diesem
historischen Beispiel veranschaulichen, auch wenn die tatsächliche
Funktionsweise dem Missionar - und uns – in diesem Fall unklar bleibt. Die
Beschreibung Gilgs deutet aber an, dass auf solche Individuen, die zur
Akkumulation neigten, ein kollektiver Druck ausgeübt wurde: sie wurden
„verachtet“ und mussten sich Vorwürfe („vorrucken“) anhören.
101
Gilg 1726, S. 76.
102
Ebd., S. 81.
103
Griffen 1959, S. 43.
73Die Seri und koloniale Herrschaft
73
Die Missionare mussten an dieser „Denkweise der Wildbeuter“ (Banard)
verzweifeln, war sie ihnen doch grundsätzlich fremd, bzw. Mönchen und
eigenen Kulturheroen wie etwa Heiligen vorbehalten. Diese Fremdheit offenbart
sich auch in der Wortwahl Gilgs: das westliche Konzept von Großzügigkeit –
Gilg verwendet den Begriff „Großmütigkeit“ - bezeichnet ein Geben ohne
vorherige Nachfrage und Gegengabe, ist hingegen nicht deckungsgleich mit dem
bereitwilligen Teilen von Besitz und Nahrung
auf Anfrage
, wie es bei den
Comcáac zu beobachten ist. Den europäischen Beobachtern der Seri und anderer
Wildbeutergruppen zur Kolonialzeit werden diese erst durch mühsame
ethnografische Arbeit ans Licht gekommenen Mechanismen aber unbekannt
gewesen sein.
Diese beständige Umverteilung von Gegenständen wurde bei den Seris
schließlich von einer Neigung zum spielerischen Wettkampf ergänzt. Gilg
informiert, dass über den Umweg der Wetteinsätze manch ein Kleidungsstück
im Laufe der Zeit von der ganzen Missionsbevölkerung getragen wurde:
„[…] ein paar Hosen/ Hut oder Wamms…. [werden] nach und nach von der gesamten
Gemeind getragen…woran ein gewisses Spiel von kleinen Hölzlein/ dem sie sehr ergeben
seynd/ Ursach ist […].“
104
Adam Gilg konnte nur wenig Verständnis für die Spielfreude seiner
Schützlinge aufbringen. Der Beschreibung moderner Ethnografen nach zu
urteilen handelte es sich aber eher um Geschicklichkeitsspiele denn um reine
Glücksspiele, so dass dem Gottesmann wohl kein belehrender Eingriff vonnöten
schien
105
.
REGIERUNGSWEISEN IN DER MISSION
Den noch oft vorgenommenen Versuch, innerhalb der Seri einen
Selbstregierungsmechanismus nach spanischem Vorbild zu etablieren, erwähnt
auch Gilg in seinem Bericht:
„Doch haben sie nunmehr einige Polizey von denen Spaniern erlehrnet/ welche hauptsächlich
in dem bestehet/ daß in jedem Dorf ein Richter allen andern vorstehet/ und andere Beamte
unter sich hat/ welche zum Zeichen ihres Gewalts [sic!] einen schönen Staab in der Hand
tragen/ und von denen Spaniern bestellt werden.“
106
Wie auch in anderen Regionen Lateinamerikas üblich, sollte ein
bastón de mando
, gleich eines Szepters, die verliehene Autorität eines „Richters“
104
Gilg 1726, S. 81.
105
Griffen 1959, S. 15; Felger und Moser 1985, S. 160-162
106
Gilg 1726, S. 81.
74
74
Lasse
Hölck
versinnbildlichen. Ebenfalls verallgemeinerbar ist die Bemerkung, dass diese
indigenen Autoritätspersonen zumeist von den Spaniern „bestellt“ wurden, also
nicht von der Gruppe selbst erwählt waren. Diese hierarchisch- vertikale
Regierungsweise führte des Öfteren zu einer De- Legitimierung der eingesetzten
Person innerhalb der eigenen Ethnie und erwies sich selten als geeignetes
Rezept, um eine Verstetigung der künstlich herbeigeführten sozialen Schichtung
zu erreichen. Als herausragende „Fähigkeit“, die dem Anführer die
Anerkennung der anderen zukommen ließe, bliebe bei diesem Governance-
Modus allein seine privilegierte Verhandlungsposition gegenüber den Spaniern,
von denen er „bestellt“ worden war. Da dieser Bevölkerungsgruppe seitens der
Seri aber meist kein anhaltender Respekt entgegengebracht wurde und ihre
traditionelle Lebensweise sie von dem Wohlwollen der Kolonialisten
letztendlich auch weitestgehend unabhängig hielt, könnte ein so
hervorgehobener Anführer eventuell sogar eher die Verachtung der anderen zu
spüren bekommen haben.
Gilg war sich bewusst, dass er in seiner Mission nur einen kleinen Teil der
Seri- Bevölkerung erfasste, und versuchte daher, seinen missionarischen
Einfluss von Pópulo aus in Richtung Küste auszubreiten. Diese Versuche
zeitigten zwar keinen dauerhaften Erfolg, aber es gelang ihm scheinbar, sich den
Seris gegenüber durch gemeinsame Expeditionen und Verteidigungsmaßnahmen
gegen feindliche Cocomacakes, einer Pima Gruppe, als Verbündeten
darzustellen
107
. Die Angriffslust der Cocomacakes offenbarte sich unmittelbar
bevor Gilg seinen Bericht schrieb: 1691 zerstörten sie ein für die Tepoca
gegründetes Dorf
108
.
Wie sich noch oft herausstellen sollte, ermöglichte die Funktion militärischer
Führung, die in beiden Gesellschaften bekannt war, eine vorübergehende
militärische Kooperation der Seri mit den Europäern. Die Jesuiten zogen
unmittelbar Nutzen aus dieser Gemeinsamkeit. Als sich 1695 eine Gruppe Pimas
in Caborca gegen die jesuitische Bevormundung erhob, entsandte Gilg eine
Truppe Seri-Krieger, um bei der Niederschlagung des Aufstandes zu helfen
109
.
Die Erfahrungen der Mission von Pópulo zeigen zunächst, dass die Seris trotz
einer relativen Anpassung an die Vorgaben des Kolonialstaates – etwa im Fall
der Sesshaftigkeit und der formalen Übernahme eines hierarchischen
Selbstregierungsmechanismus – den Prinzipien ihrer sozialen Organisation auch
über mehrere Jahre in der Mission hinweg treu blieben. Das
Vertrauensverhältnis zu Padre Gilg ermöglichte dabei auch weitergehende, etwa
107
Tweed 1973, S. 29-30.
108
Griffen 1961, S. 18.
109
Tweed 1973, S. 35; Decorme 1941, S. 391.
75Die Seri und koloniale Herrschaft
75
militärische, Kooperationen zwischen Wildbeutern und Kolonialstaat. Im
Unterschied zu vielen anderen Missionare im kolonialen Amerika trachtete er
offenbar nicht danach, die Kultur seiner Schützlinge in einem kurzen Zeitraum
grundlegend zu verändern. Der Bericht dokumentiert vielmehr eine Sympathie
des Jesuitenpaters für „seine Serer“, die sein tolerantes Verhalten motiviert
haben. Umgekehrt kam den Seris die Versorgung mit Lebensmitteln sicher
entgegen und wurde von ihnen möglicherweise auch als ein soziales Verhalten
anerkannt, das ihrer Vorstellung von Teilen entsprach.
REGIERUNGSWEISEN ZWISCHEN VERTIKALER STEUERUNG UND HORIZONTALER HANDLUNGSKOORDINATION
Die Mission bei Pópulo erschien so erfolgreich, dass die Jesuiten 1699 eine
weitere
visita
gründeten, Santa María Magdalena, die vom Missionar in Cucurpe
besucht wurde
110
. Doch die Hoffnung auf weitere Bekehrungserfolge drohte
rasch erstickt zu werden. Die
visita
von Santa María Magdalena war bald ebenso
wie Tuape und Cucurpe den Angriffen einer Gruppierung der Seris ausgesetzt,
die von den Spaniern „Salineros“ genannt wurde. Der zuständige Missionar,
Melchor Bartirimo, forderte umgehend militärische Unterstützung an.
DER STAAT GREIFT EIN: GEWALTSAME DURCHSETZUNG DES HERRSCHAFTSANSPRUCHES
In der ersten Hälfte des Jahres 1700 unternahm der Kommandant Juan
Bautista Escalante daraufhin einen Streifzug durch das Missionsgebiet, um in
Anbetracht der jüngsten Beschwerden die Anerkennung der kolonialstaatlichen
Autorität durchzusetzen. Dabei notierte er, dass die missionierten Tepocas ihre
Cuncáac- Nachbargruppe, die Salineros, als Feinde betrachteten
111
. Wie von
Gilg angedeutet, konnte er bei den Tepocas auf einen
gobernador
zurückgreifen,
der die Gruppe gegenüber den Spaniern vertreten sollte
112
. Dieser „von den
Spaniern bestellten“ Autorität gelang es aber nicht, die in Pópulo angesiedelten
Tepoca- Familien zu kontrollieren. Als sie von der Ankunft der Soldaten
erfuhren, flohen sie aus der Mission in der Befürchtung, dass der Kommandant
sie wegen eventueller Übergriffe auf die Zuchtrinder der Mission bestrafen
würde.
110
Tweed 1973, S. 36.
111
Diario de Juan Bautista Escalante, Los Angeles, 20.6.1700. Transskribiert in Sheridan
1999, S. 71.
112
Escalante stützt seine Aussagen auf die „[...] declaración del gobernador José de los
tepocas, [ ...]”. Sheridan 1999, S. 72.
76
76
Lasse
Hölck
Tatsächlich ließ Escalante die in der Mission verbliebenen Seris auspeitschen,
bevor er sich auf die Suche nach den Flüchtigen begab
113
. Fündig wurde er in
den
rancherías114
unabhängiger Salineros, wo sich die gesuchten Familien in
Sicherheit vor dem Zugriff der Kolonialmacht wogen. Trotz der erklärten
„Feindschaft“ der Salineros mit den Tepocas, von der Escalante ausgegangen
war, hatten diese ihre Sprachverwandten aus der Mission bei sich aufgenommen.
Edward Moser zufolge handelte es sich bei Tepocas und Salineros um
Mitglieder einer bestimmten Gruppierung der Seris (Band I, vgl. Karte 2), an
deren Existenz sich die Seris noch Mitte des letzten Jahrhunderts erinnerten
115
.
Karte 2: Untergruppen der Seris nach Moser 1963. Die Mitglieder von Band
I wurden von den Spaniern als Tepocas und Salineros benannt; die Mitglieder
von Band III wurden im Laufe des 18. Jhd. als Tiburones und Seris bezeichnet;
die heutige Hafenstadt Guaymas ist nach der südlichsten Cuncáac- Gruppe
113
Ebd., S. 73.
114
Mit
rancheria
ist eine Seri Gruppe von mehreren Familien gemeint, die von einem
Anführer geleitet wird, und nicht ein bestimmter Ort.
115
Laut Moser wird diese Gruppe von den Seris heute
xica hai iic coii
(‘los que viven
hacia el verdadero viento’) genannt. Moser 1963/1999, S. 2.
77Die Seri und koloniale Herrschaft
77
benannt, deren Schweifgebiet an das Siedlungsgebiet der Yaqui angrenzte. Die
von Moser vorgenommenen Grenzziehungen zwischen den Gruppen sollten
ebenso wie die spanischen Namen nicht als absolut angesehen werden.
(Kartenzeichnung: Geomacon GbR Kiel).
Sie war in 6 Untergruppen unterteilt, die aber einen engen Zusammenhalt
aufwiesen und sich gegenseitig unterstützten
116
. Konflikte zwischen den
einzelnen Seri- Gruppen hat es sicher gegeben, jedoch scheint der Begriff
„Feindschaft“ angesichts der Zuflucht, die sich den Tepoca bei den Salineros
bot, unangebracht.
Die von Escalante eingefangenen Seri- Gruppen wurden nach Santa Maria del
Pópulo zurückgebracht und dort ebenfalls mit Peitschenhieben bestraft
117
.
Während seiner Erkundungsreise urteilte der Kommandant auch im Fall eines
Seri- Salinero namens Astcuimel, der die Ermordung seiner Frau und seines
Sohnes durch einen Racheakt an den Pimas vergolten hatte. Astcuimel wurde
getauft und anschließend erschossen. Escalante ergriff sodann die Gelegenheit,
der verunsicherten indigenen Bevölkerung eine eigene Rechtsprechung
dauerhaft zu untersagen, und wies sie an, eventuelle Missetäter unmittelbar den
kolonialen Obrigkeiten zu übergeben. Diese Ermahnung zeigt, dass es sich bei
seiner Visite in der Missionsprovinz um den Versuch handelte, den
kolonialstaatlichen Anspruch auf Rechtshoheit durchzusetzen. Ein
fundamentales Problem bei diesem Vorhaben geht indirekt aus dem Bericht des
Hauptmanns hervor: Escalante hörte die Klage eines Missionsindianers an, laut
der die Salineros beständig Überfälle auf Tepocas durchführten und dabei
mehrere Opfer unter der Missionsbevölkerung in Kauf nahmen. Der Ankläger
verortete die Übeltäter auf einer gewissen „
ranchería del Medio
“ in der Nähe
der Mission und gewährte Einblick in deren politische Organisation: „[…]
insgesamt gibt es sieben Anführer in dieser
ranchería
“
118
.
Generell kann davon ausgegangen werden, dass einer solchen
ranchería
nicht
mehr als zweihundert Personen angehörten, da Wasservorkommen und
Nahrungsgrundlage kaum größere Gruppen an einem Ort dauerhaft zuließen
119
.
116
Moser 1963/1999, S. 8.
117
„[...] hallé otra ranchería de seris salineros, y entre ellos, dos indios cristianos de Santa
Maria del Pópulo a los cuales traje conmigo. [...] y llegué al pueblo Santa Maria del Pópulo,
adonde castigue con azotes a los huidos y ladrones que traje de dichos rancherias”. Escalante
in Sheridan 1999, S. 74.
118
“[...] que por todos son siete principales en esta rancheria del Medio”. Escalante in
Sheridan 1999, S. 75.
119
Conrad Bahre: Historic Seri Residence, Range, and Sociopolitical Structure. In: The
Kiva, Jg. 45, H. 3 (1980), S. 197–209, hier S. 206.
78
78
Lasse
Hölck
Die Existenz von sieben Anführern in einem solchen temporären Lager
dokumentiert also eine erhebliche politische Zersplitterung. Escalante, und hier
liegt die Schwierigkeit seiner Aufgabe, konnte also nicht mit
einem
Repräsentanten der
rancheria
sprechen, sondern musste davon ausgehen, dass er
jeden dieser Anführer einzeln zu kontaktieren hatte, um ein Abkommen über die
Unversehrtheit der Missionsbevölkerung zu erreichen.
Bevor er sich der
ranchería del medio
zuwandte, bemühte sich Escalante aber
erst um einen Kontakt zu den Seris, die die küstennahen Gebiete gegenüber der
Isla de Tiburón bewohnten (Karte 2, Band III). Doch die dortigen Seri- Gruppen
hielten ihn hin, zumal sie sicher wussten, dass er mit seinen Soldaten das
wasserlose Gebiet zur Küste hin nicht durchqueren konnte. Seiner
Aufforderung, bei ihm vorstellig zu werden und sich in den Missionen
niederzulassen, kamen die kontaktierten Seri Gruppen unter Hinweis auf ihre
Verantwortung für die älteren, weniger beweglichen Gruppenmitglieder nicht
nach. Die Unabhängigkeit dieser Seri Gruppe wird umso deutlicher, als sie
angaben, dass einige ihrer Angehörigen noch nie einen Spanier gesehen
hätten
120
.
Escalante löste alle referierten Probleme mit Gewalt. Er unternahm einen
Feldzug an die Küste und setzte angeblich sogar zur Isla del Tiburon über.
Während seiner Kampagne ließ er flüchtende Seris erschießen und nahm
diejenigen, derer er habhaft werden konnte, gefangen, um sie in der Mission
Santa María Magdalena anzusiedeln. Auch die berüchtigte
ranchería del Medio
wurde gewaltsam aufgelöst
121
. In einem ungewöhnlichen Ritual versuchte der
Hauptmann abschließend, die verfehdeten indigenen Gruppen zu versöhnen und
hieß sie sich gegenseitig umarmen. Fortan, so vermittelte er ihnen seine Vision
für das Missionsgebiet, sollten sie in Frieden leben und auf gemeinsamen
Messen (
ferias
) ihre Produkte miteinander austauschen
122
. Der Hauptmann
selbst hatte jedoch keinen Versuch unternommen, einen Handel mit oder
zwischen den verschiedenen Gruppen zu initiieren. Angesichts seiner wenig
einfühlsamen Vorgehensweise erklärt sich wohl auch eine
Personenbeschreibung, mit der Escalante Jahre später von einem seiner
120
“[...] diciendo que no querian venir porque tenian flojera al camino y que habia muchas
viejas y viejos, y alguna gente que no habian visto en su vida españoles”. Escalante in
Sheridan 1999, S. 80-81.
121
Escalante in Sheridan 1999, S. 83-86.
122
“[...] haciendolos abrazarse unos con otros, mandandoles que en adelante no tuviesen
guerra sino que viviesen como cristianos y que tratasen unos con otros , con ferias de la ropa
de su hecho y semillas de sus siembras”. Escalante in Sheridan 1999, S. 91.
79Die Seri und koloniale Herrschaft
79
Landsleute charakterisiert worden ist: „[…] sein Urteilsvermögen ist schwach,
und während seiner Abwesenheit wird er von niemandem vermisst.“
123
Die Vorgehensweise Escalantes ist beispielhaft für ein hoheitliches Regieren.
Der Staat, präsent für die Dauer des Aufenthaltes seines Agenten, setzt seinen
Herrschaftsanspruch mittels eines physischen Zwangsapparates durch. Deutlich
wird an dem vorangegangenen Beispiel, dass die dezentrale Organisation und
zerstreute Lebensweise der Seris dieser Regierungsform Probleme bereitete, sie
aber auch teils bedingte. Die Konsultation des „
gobernador
“ der Tepoca erwies
sich als uneffektiv, da dieser selbst keine Sanktionskraft gegenüber seinen
Leuten besaß. Die politische Zersplitterung der
rancheria del Medio
erlaubte es
dem Hauptmann ebenfalls nicht, diese Seri Bevölkerung als ein Kollektiv mit
einem
verantwortlichen Repräsentanten zu behandeln. Letztendlich fehlte
Escalante aber auch die entsprechende Einsicht in das soziale Miteinander der
Seri und die Geduld, die es benötigt hätte, jeden Anführer einzeln für sich zu
gewinnen. Die Gewaltstrategie, zu der er als Soldat nicht zuletzt auch
ausgebildet wurde, bot sich hierbei als die schnellste Problemlösung an. Ihre
Ineffektivität zeigte sich jedoch wenige Jahre später, 1704, als es erneut zu
einem heftigen Konflikt zwischen Seris in der Mission und den unabhängigen
Seris Salineros kam, in dessen Folge die Missionen von Populo und Los
Angeles verlassen wurden. Eine erneute militärische Expedition war notwendig,
um die Flüchtigen einzufangen und die Sicherheit in der Region
wiederherzustellen
124
.
VERHANDLUNG, GESCHENKE UND FESTE: HORIZONTALE HANDLUNGSKOORDINATION
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts unternahmen Jesuiten gemeinsam mit
militärischen Kommandanten noch mehrere Expeditionen in das Seriland. Die
mageren Ergebnisse dieser Kampagnen, die nur wenige Seri überhaupt
kontaktieren konnten und je verschiedene Reaktionen von freundlichem
Empfang bis zu feindlichen Attacken hervorriefen, zeichnen das Bild politischer
Dezentralisierung der Seris weiter, die die Unterwerfungsversuche der
Kolonialisten ein ums andere Mal frustrierten. Missionare und Militärs erwogen
dabei gleichermaßen, die Seris an der Küste Sonoras durch die Entsendung von
Kriegsschiffen einzuschüchtern und dadurch die Navigation in diesen
123
Pedro de Rivera Villalón über Escalante 1726. Zitiert in Sheridan 1999, S. 36.
124
Sergio Ortega Noriega: Crecimiento y crisis del sístema misional 1686-1767. In:
Noriega und Del Rio 1993, S. 136-185, hier S. 153.
80
80
Lasse
Hölck
Gewässern sicher zu machen
125
. Damit sollte nicht zuletzt ein Verbindungsweg
zwischen Sonora und der gegenüber gelegenen Küste Niederkaliforniens
geschaffen werden, über den die chronisch unterversorgten Missionen der
kalifornischen Halbinsel verproviantiert werden könnten. Als 1709 aber die
Fregatte
San Xavier
vor der Küste Sonoras strandete und von der Besatzung
verlassen wurde, musste für die Rettung des kostbaren Transportmittels das
Wohlwollen mehrerer Seri- Gruppen eingeholt werden. Diese hatten die Fracht
samt der kostbaren Eisennägel
126
an sich gebracht und erschwerten die
reibungslose Versorgung der schiffbrüchigen Mannschaft mit Lebensmitteln.
Durch die Vermittlung des Padre Salvatierra und seiner indigenen Dolmetscher
gelang es, die sicherheitspolitischen Voraussetzungen für das auch logistisch
anspruchsvolle Unternehmen zu schaffen. Die Begegnungen von Jesuiten,
Spaniern und Wüstennomaden mussten dabei aber den Gepflogenheiten der
nordwestmexikanischen Ureinwohner angepasst werden.
Padre Salvatierra, der zu Beginn der 1690er Jahre als
visitador
Erfahrungen
mit den verfeindeten Gruppen der Seris und Pimas sammeln konnte und im
Anschluss maßgeblich am Aufbau des Missionssystems auf der Baja California
beteiligt war, schiffte sich am 6. Oktober 1709 in Loreto (Niederkalifornien) ein
und erreichte zwei Tage später den Hafen von Guaymas. In Begleitung von 14
Upanguaymas und anderen getauften Indianern aus der Mission San Joseph de
Guaymas macht er sich auf den beschwerlichen Weg entlang der Küste zu der
Unglücksstelle. Unterwegs kampierte die Expedition an verschiedenen
Wasserstellen, die von Guaymas und Upanguaymas genutzt wurden, bis seine
Begleiter sich weigerten, weiterzugehen, da sie sich am Rande des
Schweifgebietes ihrer verfeindeten Verwandten, der Seris, befanden. Seinem
Bericht zufolge war die Gastfreundschaft der unabhängigen Upanguaymas
ausschließlich an seine Person gebunden, denn wenn er die Lagerstätte seiner
Expedition für eine Weile verließ, wandelte sich das Verhalten der gastgebenden
Indigenen in Ablehnung
127
.
Als der Padre mit einigen Begleitern schließlich an der Stelle anlangte, wo die
San Xavier
gestrandet war, zeigten sich die dort ansässigen Seris verängstigt und
gaben ohne weitere Probleme die geplünderte Takelage und Fracht heraus.
Allerdings hatten sie das Großsegel der Fregatte bereits zu Lendenschurzen
125
Luis Gonzalez Rodriguez: Juan Maria Salvatierra y los seris, 1709-1710. In: Estudios
de Historia Novohispana, Jg. 17 (1997), S. 229–262, S. 238. Online verfügbar unter
http://www.ejournal.unam.mx/ehn/ehn17/EHN01711.pdf. (18.2.2010).
126
Gilg erwähnte, dass die Seris jede Art von Metall mit einem Wort bezeichneten, dass in
ihrer Sprache “Verkauff [sic]” bedeutete und gibt damit einen Hinweis auf den Wert, der
diesem Rohstoff von Seiten der Wildbeuter zugesprochen wurde. Gilg 1726, S. 78.
127
Salvatierra in Gonzalez Rodriguez 1997, S. 244.
81Die Seri und koloniale Herrschaft
81
(
taparrabos
) und kleinen Decken verarbeitet und die Messer verschlissen
(
gastado
)
128
. Angesichts der relativen Wertlosigkeit der zurückgegebenen Beute
beschloss Salvatierra, diese Gegenstände an diejenigen Seris zu verteilen, die
ihm am bedürftigsten erschienen. Diese Umverteilung wird ihm die
Anerkennung der Wildbeutergruppen verschafft haben, glich sie doch der
üblichen Geringschätzung materiellen Besitzes gegenüber dem sozialen
Prestige, das aus seiner Redistribution resultierte. Es ist daher anzunehmen, dass
die Durchführung der Umverteilung Salvatierra diejenige Anerkennung verlieh,
die auch den temporären Führungspersönlichkeiten der Seris zukam. Der Padre
ließ die Seris sodann über einen Dolmetscher wissen, dass er ihnen die
Plünderung nicht weiter übel nahm, und erinnerte sie an seine friedensstiftende
Vermittlung zwischen Seris und Pimas zwanzig Jahre zuvor, als er als
visitador
in Sonora tätig war. Die Seris stimmten seinen Aussagen zu. Fraglich ist gewiss,
ob es sich überhaupt um dieselben Gruppen handelte, die der Padre in einem
Abstand von zwei Jahrzehnten vor sich hatte, und ob sich selbst in diesem Fall
ein Gruppenmitglied wirklich an den gealterten Gottesmann erinnern konnte.
Letztlich bleibt aber festzustellen, dass Padre Salvatierra durch sein Verhalten
die nötige Vertrauensgrundlage geschaffen hatte, um einen Konsens zwischen
den Wildbeutern und der Kolonialmacht herzustellen.
Das Vertrauen der Seris suchte der Padre gezielt zu vertiefen: anstatt mit den
anderen Expeditionsmitgliedern an Bord des gestrandeten Schiffes zu
übernachten, blieb der Padre an Land bei den dort neugierig lagernden Seris. Die
höchsten Hoffnungen des Missionars erfüllten sich daher auch bald, als sich eine
Reihe der Seris zum Empfang der Taufe bereit zeigte. Im Anschluss an den
feierlichen Taufakt verbot ein aufkommender Sturm die Überbringung von
Proviant aus dem Bauch des Schiffes zu der Lagerstätte des Missionars am Ufer.
Doch die Seris teilten nun ihrerseits bereitwillig ihre frugale Kost mit dem
Gottesmann in ihrer Mitte. Dessen Bericht legt an dieser Stelle ein beredtes
Zeugnis über die Vielfalt an Nahrungsmitteln ab, die von den Seris ihrer ariden
Umwelt abgerungen wurde
129
. In kurzer Zeit war es Salvatierra gelungen, sich
durch die Übernahme indigener Werte zu einem Teil ihres Verteilungssystems
zu machen. Dabei verlor er auch höher gesteckte Ziele der kolonialen Regierung
nicht aus den Augen: um den Golf von Kalifornien schiffbar zu machen,
resümierte der Jesuit, müssten die Seris als Freunde gewonnen werden. Statt die
Seris mit der von Militärs und Missionarskollegen vorgeschlagenen
Kanonenbootpolitik einschüchtern, d.h. über Drohungen und eventuelle
Sanktionen zwingen zu wollen, visierte Salvatierra also vielmehr einen
128
Ebd., S. 246-247.
129
Ebd., S. 249.
82
82
Lasse
Hölck
Interessenausgleich an. Bei gleicher Maxime – der reibungslosen Versorgung
niederkalifornischer Missionen mit Lebensmitteln aus Sonora über den Seeweg-
steht die von Salvatierra anvisierte und praktizierte horizontale
Handlungskoordination der vertikalen Steuerungsmethode über Drohungen
diametral entgegen.
Der erfahrene Padre agierte den Umständen entsprechend spontan, aber
umsichtig. Die Expedition von Salvatierra erhielt nach einigen Tagen
Unterstützung von einer Gruppe missionierter Seris aus Pópulo, die, angeführt
von ihrem
capitan
namens Ambrosio, auf Geheiß des dortigen Missionars
Almanza den Weg zur Küste zurückgelegt hatten. Wie schon in den Jahrzehnten
zuvor mehrfach bemerkt, lag eine stete Ursache regionaler Konflikte in den
Feindseeligkeiten, die sich entlang der Ethnien oder ethnischer Untergruppen
entfachten. Salvatierra gelang es, einige verfeindete Gruppen friedlich
zusammenzubringen: den Seri- Capitan Ambrosio stattete er mit seinen eigenen
Tabakvorräten aus, damit er sich in einer
rancheria
der Pima vorstellig machen
konnte
130
. Die gerngesehene Gabe, empfangen aus den Händen des Gegners,
schuf Vertrauen zwischen den verfeindeten Gruppen, wobei sich der Padre zwar
als Vermittler zu erkennen gab, aber nicht in die Rolle des gerechten
Umverteilers von Genussmitteln drängte.
Auch die uneinigen Comcaac- Gruppen (Upanguaymas und Seris) kamen zu
seiner Messe am Ufer des Golfes von Kalifornien zusammen, ohne aneinander
zu geraten. Als die zwei Monate dauernde Reparaturzeit schließlich endete,
initiierte der Jesuit ein großes Fest, zu dem alle benachbarten Seri-Gruppen und
Pimas geladen wurden, auf deren Kooperation sie angewiesen waren
131
. Für die
Massenspeisung schlachteten man einige aus dem benachbarten Real de
Guadalupe herbei geschaffte Rinder, und nutzte das feierliche Ereignis für
weitere Friedensabsprachen. Diese kurze Episode zeigt, dass durch die
Berücksichtigung der dezentralen politischen Organisation und ein
Entgegenkommen hinsichtlich lokaler Gewohnheiten durchaus ein Auskommen
in der kulturell heterogenen Region zu finden war.
Eine letzte Bemerkung in Salvatierras` ausführlichem Bericht zielt direkt auf
den hier fokussierten Unterschied zwischen vertikaler und horizontaler
Regierungsweise ab: während des mehrwöchigen Aufenthaltes der
Rettungsexpedition an der Küste des Serilandes kam auch der oben bereits
erwähnte Hauptmann Juan Bautista Escalante mit einer Gruppe
Missionsindianern vorbei, um dem Padre Beistand zu leisten. Als er die
Upanguaymas und Seris andächtig und einträchtig der Messe des Padres
130
Salvatierra in Gonzalez Rodriguez 1997, S. 257.
131
Ebd., S. 253; Venegas 1759, S. 205-211; Tweed 1973, S. 43-46.
83Die Seri und koloniale Herrschaft
83
lauschen sieht, bricht er in Tränen aus und erklärt dem Priester seine Rührung
darüber, dass er gerade vor einem Jahr mit einer bewaffneten Truppe vergeblich
versucht hatte, die zerstrittenen Bevölkerungen der Gegend zu befrieden. Nun
sehe er, dass diese „Eroberung“ (
conquista
) ohne einen einzigen Soldaten
gelungen sei
132
.
FAZIT: DIE „ANTISTAATLICHKEIT“ DER SERIS UND DIE KONSEQUENZEN FÜR DIE REGIERUNGSWEISEN
Die Expeditions- und Missionarsberichte über die Seris des 17. Jahrhunderts
vermitteln das Bild einer in dutzende Untergruppen zersplitterten Bevölkerung
mit einer gemeinsamen Sprache und Kultur. Die sehr unterschiedlichen
Reaktionen der Seri auf die Ambitionen der Kolonisten zeigen, dass die
verschiedenen Untergruppen weitestgehend unabhängig voneinander waren.
Trotz der politischen Dezentralisierung existierte aber ein
Zusammengehörigkeitsgefühl, das die Mobilität der Kleinstgruppen bzw.
Familien durch eine freie Wahl der Begleitung erst ermöglichte.
Wie die historische Dokumentation zeigt, scheiterte die Fortführung vertikaler
Befehlsketten innerhalb der Serigruppen an ihrer Auflösung durch die nicht-
hierarchischen Vergesellschaftungsformen. An die Stelle kollektiver
Repräsentation, wie sie die Selbstregierungsmechanismen der Kolonialherren
einzuführen versuchten, trat die Entscheidung einer Familie oder eines
Individuums, in der Gruppe zu verbleiben oder sich einer anderen Gruppe
anzuschließen. Die Autorität der temporären Anführer war von ihrer
Anerkennung dieser Möglichkeit abhängig und nicht von der Möglichkeit,
exekutive Zwangsmassnahmen durchzuführen. Handlungskoordinationen
zwischen Seris und Kolonisten mussten von den Militärs und Missionaren, die
in einem Kontakt mit den Seris standen und die Vorgaben der Krone realisieren
konnten, daher horizontal, d.h. durch das Aushandeln eines Konsens zwischen
den Gruppenmitgliedern, vorgenommen werden. Wenn dem staatlichen Akteur
von Seiten der Seri Vertrauen entgegengebracht wurde und die Besonderheiten
der sozialen Organisation und Kultur der Seri von Seiten dieser Akteure toleriert
wurden, waren die Voraussetzungen für eine Regelung kollektiver Sachverhalte
gegeben. Den hierarchischen Strukturen des Militärs und der Missionsorden
gemäß wurden diese Akteure aber periodisch (wenn auch maximal jährlich)
ausgewechselt. Die Versetzung eines dieser Akteure kommt daher einem
Vertrauensbruch gleich und zeigt, dass die Seris (und andere indigene Gruppen)
sich nicht mit einem (kolonialen) Staat verbunden sahen oder gar die Autorität
132
Salvatierra in Gonzalez Rodriguez 1997, S. 254.
84
84
Lasse
Hölck
der Krone anerkannten, sondern allein den jeweiligen Vertreter vor Ort, der in
direktem Kontakt zu ihnen stand, als Verhandlungspartner akzeptierten.
Die von staatlichen Akteuren und Missionaren anvisierte sesshafte
Lebensweise und Landwirtschaft stellte ein weiteres Hindernis dar, bei dem
Versuch, die Seris in den Kolonialstaat einzubinden. Die indirekte Nötigung zu
einem sesshaften Leben wurde zwar zunächst durch bereitwillige Versorgung
mit Nahrungsmitteln seitens der Missionare attraktiv gemacht, die Ausübung
landwirtschaftlicher Tätigkeit hat aber, wenn überhaupt, über einen längeren
Zeitraum nicht statt gefunden. Die Anregungen aus der Theorie lassen dabei
einerseits eine Inkompatibilität der „Denkweisen“ vermuten: Die vom Missionar
angeordneten Bevorratungen stießen demnach weniger auf ein
Verständnisproblem seitens der Seri, sondern vielmehr schlicht auf Ablehnung
als ungeselliges Verhalten. Zudem stellten die Anweisungen zur Akkulturation
die Regierungsbeamten in einen Gegensatz zu den Interessen der
nomadisierenden Jäger und Sammler Gruppen, so dass kollektive
Entscheidungsfindungen im Einklang mit den Bedürfnissen der Indigenen im
Fall der Seris ausgeschlossen zu sein schienen. Den Adressaten kolonialer
Herrschaft war eine Beteiligung an der Definition der zu erreichenden
Regierungsleistungen, in diesem Fall die Versorgung und Selbstregierung des
indigenen Kollektivs, von vornherein nicht oder nur streng limitiert zugedacht.
Vom Standpunkt moderner Staatstheorie aus betrachtet entbehrte die koloniale
Regierungsweise demnach prinzipiell einer
input
- Legitimität
133
. Die vertikale
Befehlskette, mittels derer die staatliche Autorität vom Monarchen bis zum
Subjekt delegiert werden sollte, wurde durch diesen Mangel ebenso geschwächt
wie durch die mangelhaften Möglichkeiten der Amtsträger, ihre Entscheidungen
oder Anweisungen notfalls mittels Sanktionen durchzusetzen.
Andererseits zeigen die Erfahrungen einzelner Missionare, dass andere als
vertikale Regierungsweisen durchaus einen Erfolg zeitigen konnten. Die
postulierte „Antistaatlichkeit“ der Wildbeutergruppen bezieht sich somit nur auf
die hierarchischen Steuerungsmechanismen staatlicher Organisationen. Das
Aushandeln von Konsens auf regionaler Ebene war hingegen unter
Berücksichtigung lokaler Gepflogenheiten oft genug von Erfolg gekrönt, um der
horizontalen Handlungskoordination im kulturell heterogenen Raum gegenüber
vertikalen Regierungsweisen letztlich eine höhere Effizienz zu bescheinigen.
Die massive Anwendung von Gewalt gegenüber unbotmäßigen indigenen
Gruppen (Latein-) Amerikas im Zuge von Eroberung, Kolonialherrschaft und
schließlich, Gründung der Republiken ist niemals alternativlos gewesen. Die
133
Fritz W. Scharpf: Legitimationskonzepte jenseits des Nationalstaats. MPIfG Working
Paper 04: 6. Köln 2004.
85Die Seri und koloniale Herrschaft
85
Respektierung des indigenen Adels als Mittler zwischen Kolonialverwaltung
und der tributpflichtigen Indianerbevölkerung in den Kernzonen der
Kolonialstaaten, dem mexikanischen Hochtal und dem zentralen Andenraum,
ermöglichte etwa ein verhältnismäßig friedliches Auskommen mit der indigenen
Bevölkerung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
134
. Erst als diese Mittlerrolle im
Zuge der Bourbonischen Reformen umgangen werden sollte (siehe auch die
Einleitung zu diesem Band) sahen sich die indigenen Eliten von den politischen
Prozessen ausgeschlossen. Wie die vorangegangene Diskussion gezeigt hat,
konnte eine ähnliche Anerkennung der indigenen Vergesellschaftungsformen
auch bei denjenigen Gruppen erfolgreich sein, deren soziale Organisation nicht
den hierarchischen Strukturen der europäischen Kolonialherren ähnelte.
Die Grundzüge sozialer Organisation von Jäger und Sammlergesellschaften
stellen staatliche Systeme vor folgende Probleme:
1. Eine Repräsentation des ethnisch konstituierten Kollektivs ist prinzipiell
erschwert, da keinem Gruppenmitglied eine dauerhafte Entscheidungshoheit im
Namen des Kollektivs zukommt. Verhandlungen über Belange, welche die
staatlich verfasste Gesellschaft in ihren Beziehungen zur egalitären Gesellschaft
betreffen, können von Einzelnen nicht verbindlich geführt werden. Theoretisch
müsste mit jedem Gruppenmitglied gesondert abgesprochen werden, wie
Vereinbarungen zu treffen und Konflikte zu lösen sind.
2. Die Notwendigkeit des Staates, seinen Verwaltungsapparat zu unterhalten,
macht Steuer- oder Tributabgaben der Bevölkerung notwendig. In seinen
Grundzügen ist dieses Verfahren als Reziprozität zu bezeichnen, da die Abgaben
idealerweise wiederum der Bevölkerung in Form von Regierungsleistungen
zugeführt werden. Die Anonymisierung des Verteilungsvorganges steht jedoch
dem Prinzip des Teilens in Jäger- und Sammlergesellschaften entgegen. Weder
für Individuen noch für Gruppen besteht eine Erwartungssicherheit, sobald
gegenüber dem Staat bzw. seinen Vertretern um einen Anteil gebeten wird. Das
„Recht“ zu nehmen und die „Pflicht“ zu geben können nur in den direkten und
unmittelbaren Beziehungen zwischen Personen zum Zuge kommen.
Aus diesen Beobachtungen folgt zum Einen, dass das Aushandeln von
Legitimität auf lokaler Ebene, verstanden als Suche nach Konsens und damit als
eine bedingende Dimension des Regierens
135
, gegenüber Jäger und
Sammlergruppen eine zusätzliche Rückkopplungsschleife erfordert. Bevor
134
Wolfgang Gabbert: Koloniale und Post-Koloniale Gewalt: Die indigene Bevölkerung
Lateinamerikas. 1492-1870. In: Edelmayer, Friedrich, Hausberger, Bernd; Potthast, Barbara
(Hrsg.): Lateinamerika 1492 - 1850/70. Wien 2005, S. 79–95, S. 86f.
135
Arthur Benz: Governance - Modebegriff oder nützliches sozialwissenschaftliches
Konzept? In: Arthur Benz (Hrsg.): Governance - Regieren in komplexen Regelsystemen,
Wiesbaden 2004, S. 17.
86
86
Lasse
Hölck
Abmachungen zwischen einem Repräsentanten der Gruppe und einem
Regierungsvertreter getroffen werden können, muss dem indigenen Kollektiv
Gelegenheit gegeben werden, einen eigenen Konsens zu erreichen, sei dies über
einen Ältestenrat, in einer Generalversammlung oder anderen sozialen
Institutionen, in der jeder, dem die Gruppe selbst ein Mitspracherecht einräumt,
zu Wort kommt oder sich von anderen Wortführern überzeugen lässt.
Wenn die Regierungsvertreter selbst Eingaben machen, die entweder einem
Repräsentanten oder dem gesamten Kollektiv vorgestellt werden, sind diese nur
Erfolg versprechend, wenn die Vermittlung einer solchen Eingabe ohne Zwang
geschieht, das heißt, es werden keine Verhandlungsergebnisse
vorweggenommen bzw. Bedingungen gestellt, noch ein Ultimatum für die
Entscheidungsfindung angesetzt. Zudem muss mit einer Ablehnung der
Eingaben gerechnet werden. Diese Bedingungen der horizontalen
Handlungskoordinationen erfordern ein hohes Maß an Geduld. Letztere Tugend
ist vorwiegend von Individuen zu erwarten, die weit reichende Kenntnisse der
spezifischen Werte und Empfindlichkeiten des indigenen Kollektivs haben, also
bereits über langjährige Erfahrungen verfügen. Es ist hingegen nicht zu erwarten
ist, dass die indigenen Gruppen gegenüber einer anonymen Institution Vertrauen
fassen, weshalb die Kommunikation mit ihnen über möglichst dieselben
Personen innerhalb eines langen Zeitraumes vorgenommen werden sollte.
Von einer gütlichen Einigung mit Jäger- und Sammlergruppen können
schließlich auch die dominanten Nationalgesellschaften profitieren. Das Beispiel
der Seris, denen 1975 ihr traditionelles Territorium als Naturreservat übergeben
wurde, zeigt etwa, dass die informellen Mechanismen ihrer sozialen
Organisation dazu beitragen, die natürlichen Ressourcen dieser Region zu
schützen
136
. Die intime Kenntnis der Umwelt und ein genuines Interesse an
ihrem Erhalt ermöglichen es diesen Gruppen, Veränderungen in der Tier- und
Pflanzenwelt frühzeitig zu erkennen und über ihre Vermittlung an lokale
Regierungen die Problemwahrnehmung im ökologischen Bereich insgesamt zu
schärfen. Umweltschutz, schließlich, ist ein politisches Anliegen von
zunehmend globaler Bedeutung; die Respektierung von Wildbeutergruppen,
ihrer Territorien und Vergesellschaftungsformen, ist ein Schlüssel dazu.
136
Xavier Basurto: How Locally Designed Access and Use Controls can Prevent the
Tragedy of the Commons in a Mexican Small-Scale Fishing Community. In: Society and
Natural Ressources, Jg. 18 (2005), S. 643–659. Online verfügbar unter
http://lengamer.org/admin/language_folders/seri/user_uploaded_files/links/File/Basurto2005.
pdf, zuletzt geprüft am 16.10.2008.
87JUSTO MIGUEL FLORES ESCALANTE
SCHULE UND WIDERSTAND. DIE MAYA-NACHFAHREN DER KASTENKRIEGE UND DIE ERRICHTUNG DER ERSTEN LANDSCHULEN IN QUINTANA ROO, 1928-1934
Falsos son sus reyes, tiranos en sus tronos, avarientos en sus
flores. De gente nueva es su lengua, nuevas sus sillas, sus
jícaras, sus sombreros; golpeadores de día, afrentadores de no-
che, magulladores del mundo! Torcida es su garganta, entrecer-
rados sus ojos; floja es la boca del Rey de su tierra, Padre, el que
ahora se hace sentir. No hay verdad en las palabras de los ex-
tranjeros. Los hijos de las grandes casas desiertas, los hijos de
los grandes hombres de las casas despobladas, dirán que es ci-
erto que vinieron ellos aquí, Padre. ¿Qué profeta, qué sacerdote,
será el que rectamente interprete las palabras de estas escrituras?
El libro de las profecías, Chilam Balam de Chumayel.
HISTORISCHER KONTEXT UND THEORETISCHER RAHMEN
Im Jahre 1847 brach auf der yukatekischen Halbinsel eine der bedeutendsten
und verheerendsten indigenen Rebellionen des mexikanischen 19. Jahrhunderts
aus, der so genannte Kastenkrieg (
guerra de castas)
. Die Auswirkungen des be-
waffneten Konfliktes waren bis in das 20. Jahrhundert hinein im südöstlichen
Teil der yukatekischen Halbinsel spürbar, eine Region, die heute zum mexikani-
schen Bundesstaat Quintana Roo gehört. Dorthin flüchteten sich die aufständi-
schen Maya ab 1850 und befanden sich so außerhalb der Reichweite der mexi-
kanischen Regierung, sowie der Regierungen der Bundesstaaten Campeche und
Yucatán,
1
bis es der mexikanischen Bundesregierung mit der Einnahme der Ort-
schaft Chan Santa Cruz 1901 gelang, den Aufstand niederzuschlagen.
2
1
Von 1821 bis 1857 umfasste der mexikanische Bundesstaat Yucatán die gesamte gleich-
namige Halbinsel. 1858 spaltete sich der südwestliche Distrikt Campeche von Yucatán ab und
bildete einen neuen Bundesstaat, der vom Kongress, der Regierung und anderen staatlichen
Institutionen Mexikos 1863 anerkannt wurde. Die Regierung unter Porfirio Díaz bildete aus
88
90 Justo Miguel Flores Escalante
Das angestammte Gebiet der Indigenen begann sich 1902 mit der Gründung
des föderalen Gebietes Quintana Roo und der von der mexikanischen Bundesre-
gierung vorangetriebenen Kolonisierung am Río Hondo, an der Grenze zu Beli-
ze, zu verändern. In der Hauptstadt Payo Obispo (heute Chetumal), sowie in Ba-
calar und auf den Inseln Cozumel und Mujeres wurden Siedlungen gegründet.
Neben dieser Migrationsbewegung ließen sich in der Region auch Unternehmen
nieder, die
chicle3
abbauten, und deren Arbeiter sich an den Rändern der Tro-
penwälder der Maya ansiedelten. In den ersten zwei Dekaden des 20. Jahrhun-
derts variierten Zunahme und Rückgang der Bevölkerung kontinuierlich
4
, eben-
so wie die Kontrolle der mexikanischen Regierung über das Gebiet.
5
Die mexikanische Bundesregierung hatte an dem Grenzgebiet durchaus Inte-
resse, da sie die Kontrolle über die Rohstoffe der
chicle
-Produktion für sich be-
anspruchte und die Einmischung der Briten
6
auf mexikanischem Territorium
verhindern wollte.
7
Gleichzeitig versuchte die Regierung, die Maya der Region
dem südöstlichen Teil Yucatáns 1902 das Bundesgebiet (territorio federal) Quintana Roo, das
direkt Mexiko-Stadt unterstand. Erst 1974 wurde das Gebiet zum Bundesstaat ernannt.
2
Chan Santa Cruz war der ursprüngliche Name des heutigen Felipe Carrillo Puerto in
Quintana Roo, Mexiko, und ist auch der Name, den man dem Konfliktzentrum des Kasten-
krieges gab. Für einen breiteren Überblick über den Kastenkrieg siehe: Don E. Dumond: El
Machete y la cruz. La sublevación de campesinos en Yucatán. México 2005. Über die auf-
ständischen Maya von Quintana Roo, ihre Beziehung zur Umwelt und ihre Probleme mit der
mexikanischen Bundesregierung siehe: Martha Herminia Villalobos González: El bosque siti-
ado. Asaltos armados, conceciones forestales y estrategias de resistencia durante la Guerra de
Castas. México 2006. Gabriel Aarón Macías Zapata: La península fracturada. Conformación
marítima, social y forestal del Territorio de Quintana Roo. 1884-1902. México 2002.
3
Chicle ist ein milchigweißer Saft, der aus dem Breiapfelbaum gewonnen wird. Es handelt
sich dabei um einen Kaugummirohstoff, der schon 2000 Jahre vor Christus von den Maya
genutzt wurde. Man wusste von der beruhigenden Wirkung des stetigen Kauens und stopfte
sich Prieme aus Chicle in den Mund.
4
Gabriel Aarón Macías Zapata (Hg.): El vacío imaginario, geopolítica de la ocupación ter-
ritorial en el caribe oriental mexicano. México 2004; Macías Zapata: La península fracturada,
2002, und Villalobos González: El bosque sitiado, 2006.
5
Dumond: El Machete y la cruz, 2005, S. 627-629; Carlos Macías Richard: Nueva frontera
mexicana. Milicia, burocracia y ocupación territorial en Quintana Roo. México 1997. In:
Conacyt-Uqroo: Colección sociedad y cultura en la vida de Quintana Roo, Bd. III, S. 133-
139; Lorena Careaga Viliesid: Hierofonía combatiente. Lucha, simbolismo y religiosidad en
la Guerra de Castas. México 1998; Careaga Viliesid: Quintana Roo, una historia compartida.
México 1990, S. 159-170, 175-176.
6
Belize war bis 1981 eine Kolonie Großbritanniens, Anm. d. Hrsg.
7
Siehe: Macías Richard, Nueva frontera mexicana, 1997; Macías Zapata: El vacío imagi-
nario, 2004 und Villalobos González: El bosque sitiado, 2006.
89Schule und Widerstand
91
in das nationale Projekt zu integrieren. So entwickelte der Staat in den Zwanzi-
ger Jahren eine Reihe politischer Programme mit dem Ziel, einen sozialen und
kulturellen Wandel herbeizuführen, den Patriotismus zu fördern und die “Ent-
wicklung” der Gemeinden voranzutreiben.
8
Dieses Vorhaben wurde während der Präsidentschaft von Álvaro Obregón
mit der Gründung des Bildungsministeriums (
Secretaria de Educación Pública,
SEP) 1921 unter der Leitung von José Vasconcelos, in die Tat umgesetzt. Die
Bekämpfung des Analphabetentums, einem der Mechanismen, mit denen die
“Entwicklung der Gemeinden“ erreicht und ein kultureller Wandel initiiert wer-
den sollte, war eines der Programme der SEP, auf dessen Grundlage die Land-
schulen und Landlehrer (
escuelas y maestros rurales
) eingeführt wurden. Zwi-
schen 1931 und 1934 konsolidierte die SEP unter Narciso Bassols das Projekt
der Landschulen, mit dem die Mission der Alphabetisierung, Kastellanisierung
(Verbreitung der spanischen Sprache) und der Eingliederung der indigenen
Landbevölkerung in die Nationalkultur weiter verfolgte wurde. Mit der Einfüh-
rung sozialistischer Bildung im Jahre 1934 verstärkten sich diese Bestrebungen
noch.
9
Aber auf welche Weise verhandelten oder verweigerten die Maya ein ideolo-
gisches System bzw. das “Projekt nationaler Integration” und Kastellanisierung,
wie es von den Landschulen in Ortschaften getragen wurde, die relativ unabhän-
gig von der mexikanischen Bundesregierung existiert hatten? War das Projekt
erfolgreich? Gab es Widerstand? Welche Formen nahm der Widerstand der Indi-
genen an und wie lassen sich diese typisieren? Dies sind die zentralen Fragestel-
lungen dieses Artikels.
8
David L. Raby: Los maestros rurales y los conflictos sociales en México (1931-1940).
In: Revista Historia Mexicana. México, 673-2, S. 190-226. S.190; Engracia Loyo Bravo: Los
mecanismos de la federalización educativa, 1921-1940. In: Pilar Gonzalbo Aizpuru (Hrsg.):
Historia de la educación y enseñanza de la historia. Bd. 1. México 1998, S. 113-135.
9
Guillermo Palacios: La pluma y el arado. Los intelectuales pedagogos y la construcción
sociocultural del “problema campesino” en México, 1932-1934. México 1999; Guillermo
Palacios: Una historia para campesinos: el maestro rural y los inicios de construcción del re-
lato historiográfico posrevolucionario, 1932-1934. In: Pilar Gonzalbo Aizpuru (Hrsg.). His-
toria de la educación y enseñanza de la historia. Bd. 1. México 1998, S. 237-262; Loyo
Bravo: Los mecanismos de la federalización educativa, 1996, S. 139-159; Cecilia Greaves
Lainé, 1998: El debate sobre una antigua polémica: la integración indígena. In: Gonzalbo
Aizpuru (Hrsg.), S. 137-262; Francisco Arce Gurza: En busca de una educación revolucion-
aria: 1924-1934. In: Josefina Zoraida Vázquez (Hrsg.): Ensayos sobre la historia de la educa-
ción en México. México 1981, S. 173-223.
90
92
Justo Miguel Flores Escalante
Um diese Fragen zu beantworten, soll das Konzept des Widerstandes von Ja-
mes C. Scott verwendet werden. Dieses betont, dass sich Widerstand gegen die
herrschenden Systeme einer Gesellschaft nicht nur in den Rebellionen dominier-
ter oder subalterner Gruppen wahrnehmen lässt, sondern dass sich Widerstand
auch in anderen Formen manifestieren kann, die von den Eliten weniger wahr-
genommen werden, oder die zwar auch explizit und deutlich sichtbar sind, sich
aber dennoch nicht in einem bewaffneten Aufstand entladen.
10
Um neue Formen des Widerstandes zu erkennen schlägt Scott vor, vier politi-
sche Ebenen der Beziehungen zwischen Beherrschten und Herrschenden zu be-
trachten. Die erste Ebene hängt mit dem
öffentlichen Diskurs
(
public transcript
)
zusammen, der ein Selbstbild der Eliten entwirft, ein Wirkungsfeld, in dem er-
wartet wird, dass sie ihre soziale Rolle erfüllen und ihren Untergebenen be-
stimmte Verhaltensformen vorschreiben. In diesem Rahmen machen sie rhetori-
sche Zugeständnisse und öffnen einen Raum, den die herrschende Ideologie der
Interpretation der Subalternen überlässt. Diese Aspekte machen den
öffentlichen Diskurs
wiederum zu einem Bereich politischer Auseinandersetzung.
11
Die zweite Ebene, der
verborgene Diskurs
(
hidden transcript
), entspricht ei-
nem Aktionsraum, in dem sich die Subalternen außerhalb der Überwachung der
Regierungsgewalt versammeln. Von hier rührt möglicherweise eine dissidente
Kultur, da die Beherrschten ihre Klagen und Unzufriedenheit ausdrücken kön-
nen. Die dritte Ebene erlaubt es den Subalternen, ihre Gegenkultur und Opposi-
tion zum herrschenden System durch
Verheimlichung (concealment
) und
soziale Anonymität
zu zeigen
.
Klatsch, Gerüchte, populäre Erzählungen, Witze, Lieder,
Verschlüsselung und Euphemismen sind unter anderem Teil dieser Ebene, die
eine codierte Version des
verborgenen Diskurses
darstellen. Zuletzt existiert eine
vierte Ebene, auf der die Grenze zwischen dem
verborgenen Diskurs
und dem
öffentlichen Diskurs
durchbrochen wird und auf der die Eliten offen herausge-
fordert werden. Dies kann eine schnelle Repression seitens der Herrschenden
zur Folge haben, oder aber auch, wenn diese nicht erfolgt, eine erhöhte Risiko-
bereitschaft der Subalternen.
12
Der
verborgene Diskurs
wird von einer informellen Organisation der subal-
ternen Klassen getragen und manifestiert sich in Zurückweisung und sozialem
Druck, etwa wenn ein Mitglied davon abgehalten werden soll, sich von der
10
James C. Scott: Los dominados y el arte de la resistencia. México 2004, S. 46-47.
11
Scott: Los dominados y el arte de la resistencia, 2004, S. 42-43.
12
Ebd., 2004, S. 43-44.
91Schule und Widerstand
93
Gruppe zu entfernen und den anderen damit Schaden zuzufügen. Der
verborge-ne Diskurs
wird auch in nicht- organisierten Widerstandsformen sichtbar, die die
Eliten unmittelbar herausfordern, wie etwa die Verweigerung von Steuerzahlun-
gen. Mithilfe der
Verheimlichung
und der
sozialen Anonymität
werden diese Ak-
tionen zu Formen einer
Infrapolitik
, da sie die herrschende Klasse nötigen, ihre
öffentliche Politik zu verändern.
13
Mit anderen Worten, der Widerstand hat seine
Grundlage in diskreten Formen des Widerstandes, die sich indirekt äußern und
die
Infrapolitik
formen. Diese Politik von unten “[...] beinhaltet einen großen
Teil des kulturellen und strukturellen Fundaments der [...] sichtbaren politischen
Aktion”
14
, und entspricht somit genau dem, was mit der vorliegenden Arbeit
gezeigt werden soll. Zunächst soll verdeutlicht werden, wie versucht wurde,
Landschulen in den Wäldern von Quintana Roo einzurichten; anschließend sol-
len die Formen des Widerstands aufgezeigt werden, die einen
verborgenen Dis-kurs
unter den Maya im Zentralgebiet bildeten. Zuletzt sollen die Motive darge-
legt werden, die die Handlungen der Indigenen leiteten und ihren
verbogenen Diskurs
sichtbar machten, aus dem schließlich eine Reihe
infrapolitischer Aktio-nen
hervorgingen, die das ursprüngliche politische Programm des mexikani-
schen Staates in der Region änderten.
DIE ERSTEN LANDSCHULEN
Um sich eine Vorstellung von dem ideologischen System machen zu können,
das die SEP in den Maya-Gemeinden durchsetzen wollte, ist die Aufgabenbe-
schreibung des Leiters des
Departamento de Educación de Escuelas Rurales
,
Florentino Guzmán, aufschlussreich. Ihr Ziel sei “…die kulturelle Eingliederung
der Maya-Indigenen, die das Gebiet [von Quintana Roo] bewohnen und das
Land für sich beanspruchen. Seit jeher ist es mein höchstes Anliegen, diesen sie-
chenden Stamm, dessen Mitglieder seit Generationen vom Vergessen unter-
drückt werden, zu befreien, um ihn zu einer menschlicheren und würdigeren
Existenz emporzuheben [...]”. Und auch, um ihnen bewusst zu machen, dass sie
ein Teil der “großen mexikanischen Familie” sind.
15
13
Ebd., 2004, Kapitel 1, 2 und 7.
14
“[...] contiene gran parte de los cimientos culturales y estructurales de […] la acción
política visible”. Scott: Los dominados y el arte de la resistencia, 2004, S. 218.
15
“[…] la incorporación cultural de los irredentos indígenas mayas que pueblan el territo-
rio [de Quintana Roo]. Desde entonces mi mayor obsesión ha sido la de liberar a esta doliente
tribu integrada de hombres oprimidos por el olvido, a través de las generaciones, para elevarla
a un plano superior encuazándola (sic) por una existencia humana y más digna [...]”.Informe
92
94 Justo Miguel Flores Escalante
Die Einführung von Landschulen in der Region durch die Regierung geschah
zunächst im Einklang mit den indigenen Eliten. Die Kooperation zwischen den
Maya-Anführern und den “weißen”, bzw. mestizischen Eliten mit dem Ziel, die
indigene Bevölkerung der Halbinsel Yucatán zu kontrollieren, ist eine in der
Historiographie der Region gut bekannte Praxis.
16
Terry Rugeley argumentiert
sogar, dass die Ursachen des Kastenkrieges in dem Bruch des kolonialen Bünd-
nisses, bzw. der Handlungskoordination zwischen den Maya-Eliten und den
“weißen yucatecos“ zu finden sei.
17
So verwundert es nicht, dass in einem so
komplexen Gebiet wie dem zentralen Quintana Roo erneut auf dieses Bezie-
hungsmodell zurückgegriffen, um eine gewisse Kontrolle zu gewährleisten und
dort Schulen zu gründen, dem “[...] hegemonialen Instrument der modernen Ge-
sellschaft schlechthin [...]”.
18
Einige der Gemeinden, deren Oberhäupter die Errichtung von Landschulen
erlaubten
,
wie etwa in Santa Cruz de Bravo, Santa Cruz Chunpom und Petcacab,
wurden zu Stützpunkten, von denen aus in der ganzen Region Schulen errichtet
werden sollten. Dass die Wahl der Beamten der SEP gerade auf diese Gemein-
den fiel, war kein Zufall, da diese Orte strategische Zentren des Maya-
Aufstandes dargestellt hatten. Santa Cruz de Bravo, vormals Chan Santa Cruz
genannt, war als religiöses und militärisches Zentrum der aufständischen Maya
von Bedeutung und vereinte neun Dörfer unter sich.
19
Santa Cruz Chunpom war
seinerseits ein ritueller Ort, an dem sich die Truppen der Nachbargemeinden
sammelten; dem Dorf waren die Orte Yodzonot und Chunón, sowie die Ansied-
lungen von Pixoy und Chanchén zugehörig. Petcacab umfasste die Ortschaften
Santa María und San Pedro Kopchén.
Dank eines Bündnisses zwischen dem einflussreichen Maya Oberhaupt Fran-
cisco May und dem mexikanischen Präsidenten Venustiano Carranza 1918 konn-
de Florentino Guzmán, director de educación federal de 18 de enero de 1929. Archivo
Histórico de la Secretaría de Educación Pública (a partir de acá AHSEP), sección Quintana
Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, expediente 1, le-
gajo 2, años de 1928-1929, fjs. 87 y 90.
16
Nancy Farriss: La sociedad maya bajo el dominio colonial. Madrid 1992; Sergio Qu-
ezada: Pueblos y Caciques yucatecos, 1550-1580. México 1993.
17
Terry Rugeley: La elite maya del siglo XIX. Complejidad y heterogeneidad de la guerra
de castas. In: Genny Negroe (Hrsg.): Guerra de Castas: actores postergados. Mérida 1997, S.
157-177.
18
“[…] instrumento hegemónico por excelencia en la sociedad moderna […]”. Scott: Los
dominados y el arte de la resistencia, 2004, S. 135.
19
Secretaría de la Presidencia. 1975, S. 11.
93Schule und Widerstand
95
te die föderale Regierung einige Landschulen auf Maya-Gebiet errichten. Im
Jahre 1919 stimmte May der Gründung einer Schule in Santa Cruz zu, welche
aber nur unregelmäßig in Betrieb war.
20
1929 besuchten der Gouverneur von
Quintana Roo, José Siurob, und weitere Beamte den Ort mit dem Ziel, die Bil-
dungsarbeit in der Umgebung zu konsolidieren und May zu bitten, die Errich-
tung der Schulen nicht zu behindern, sondern zu fördern.
21
Die Verhandlungen
mit dem Maya-Anführermachten die Errichtung weiterer Landschulen mög-
lich.
22
Zur selben Zeit gelang es den Beamten der SEP ebenfalls die Unterstüt-
zung des Maya-Oberhauptesvon Petcacab, das Concepción Poot genannt wurde,
zu erhalten.
23
Dennoch brachten die Billigung der Schulen und die Ideologie, die sie vertra-
ten, ernste Konsequenzen für die Führung der indigenen Chefs mit sich. Das
ideologische System, das durch den Pakt zwischen der Maya-Führung und den
föderalen Autoritäten durchgesetzt werden sollte, wurde in Frage gestellt, ange-
fochten und nur zähneknirschend akzeptiert. Das Bündnis zwischen May und
der mexikanischen Bundesregierung brachten andere Maya-Anführer aus dem
Norden von Santa Cruz dazu, mit diesem Kazikenzu brechen. Als May im Jahre
1919 die Gründung einer Schule in Santa Cruz genehmigte, lehnte sich das
Oberhauptvon Santa Cruz Chunpom gegen ihn auf, und es kam zu bewaffneten
Aufständen in Playa de Carmen. Die Botschaft war nur allzu deutlich: die Ver-
handlungen mit der föderalen Regierung würden von den Mayas des zentralen
Quintana Roo nicht akzeptiert werden. Nachträglich stellten sich auch die Maya
Oberhäupter Evaristo Zuulub aus Dzulá und Concepción Cituk aus Xmabén ge-
gen May und die föderale Regierung.
24
Dessen ungeachtet begleitete Juan B. Vega, Anführer von Chunpom, im Jahr
20
Informes de Jesús Brambila, inspector escolar, 2 de enero de 1929. AHSEP, Sección
Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, expedi-
ente 1, legajo 2, años de 1928-1929, fj. 85.
21
Felipe Nery Avila Zapata: El general May. Último jefe de las tribus mayas. México
1993, S. 73-77.
22
Informe Florentino Guzmán, director de educación federal de 18 de enero de 1929. AH-
SEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal,
caja 12, expediente 1, legajo 2, años de 1928-1929, fjs. 92-93.
23
Informe del inspector Florentino Guzmán, 4 de abril de 1928. AHSEP, Sección Quintana
Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, expediente 1, le-
gajo 1, años de 1927-1928. Fjs, 61, 85-86.
24
Martín Ramos Díaz: La diáspora de los letrados. Educadores, poetas y clérigos en la
frontera caribe de México. México 1997, S. 25.
94
96
Justo Miguel Flores Escalante
1929 Florentino Guzmán auf der Expedition einiger Landlehrer durch das Maya-
Gebiet von Quintana Roo. Während der Reise gelang es Guzmán, das Vertrauen
Vegas zu gewinnen, der in die Gründung von Schulen in seinem Einflussgebiet
einwilligte.
25
Santa Cruz Chunpom war das religiöse und militärische Zentrum
der Region und wurde normalerweise von 25 bis 30 Wachen beschützt. Aber als
die Expedition der SEP das Dorf erreichte, waren dort etwa 100 bewaffnete Wa-
chen anzutreffen, “[...] jeder einzelne mit seiner 30-30er [Winchester, Anm. d.
Hrsg.] und Waffen der Armee mit der ihr eigenen Ausstattung”. Der Maya-
Anführer Juan Bautista Vega berief eine Versammlung mit den Truppen ein, um
den Grund für die Expedition zu erläutern, doch die indigenen Soldaten zeigten
sich gleichgültig und behielten ihre Konfrontationshaltung bei. Dennoch vertei-
digte Vega die Mission derLandlehrerindem er “[...] denjenigen künftige
Nachteile voraussagte, die nicht einwilligten”.
26
Die Beteiligung der genannten Maya-Oberhäupter verhinderte nicht den Wi-
derstand gegen die Landschulen und die Bevölkerung drückte ihren Anspruch
auf Selbstbestimmung durch eine Ablehnung der Bildungsinstitutionen aus. Im
November 1932 wies der Schulinspektor der SEP, Juan Flores, auf die niedrigen
Schülerzahlen in den Schulen hin, die er bei einem Besuch vor Ort bemerkt hat-
te. Als das OberhauptvonKopchén,
capitán
Marcelino Chan, bezüglich der
fehlenden Schüler befragt wurde, begnügte sich dieser mit “[...] der Begrün-
dung, dass er die anderen Kinder nicht zur Teilnahme am Unterricht zwingen
könne, da er nicht ihr Vater sei [...]“. Flores schlussfolgerte: „[…] es ist das
starsinnigste Dorf in der Region, die von den Schulen kontrolliert wird [...]”.
27
25
Informe Florentino Guzmán, director de educación federal de 18 de enero de 1929. AH-
SEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal,
caja 12, expediente 1, legajo 2, años de 1928-1929, fjs. 90-91. Informe de Florentino Guz-
mán, 13 de mayo de 1929. AHSEP, sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Di-
rección de Educación Federal, caja 13, años de 1928-1935, exp. 13, fj. 9.
26
Chunpom umfasste 19 Häuser, gebaut aus Palmblättern und Holz, eine Kirche und eine
Kaserne. Die Einwohner waren für die Streitkräfte, die sich dort sammelten, äußerst wichtig,
und 22 Kinder waren im schulpflichtigen Alter. “[...] cada uno con sus carabinas 30-30 y
armas reglamentarias del ejército, con sus respectivas dotaciones”; “[…] anunciándoles hasta
los futuros males para ellos en caso de no acceder”. Informe Florentino Guzmán, director de
educación federal de 18 de enero de 1929. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales
Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, expediente 1, legajo 2, años de 1928-
1929, fjs. 90-91.
27
Allgemein gab es in dieser Ortschaft viel Widerwillen gegen die Schule. Bis 1934 hatte
man den Bau eines Schulgebäudes nicht akzeptiert. “[…] con darnos como razones, que él no
puede obligar a los demás niños a concurrir porque no es su padre […] es el pueblo más indó-
95Schule und Widerstand
97
Was Francisco May betrifft, so gelang es ihm mithilfe seiner Kontrolle über
Santa Cruz die Schülerzahlen zu erhöhen. Allerdings kostete ihn die Durchset-
zung dieser Anweisung den Respekt innerhalb seiner Gemeinschaft, weshalb er
gelegentlich versuchte, sich aus der Angelegenheit heraus zu halten. Am 3. Mai
1928 versammelten sich in Santa Cruz de Bravo einige Chefs unter der Führung
Mays zu religiösen Feiern, unter ihnen auch die Oberhäuptervon Dzulá und
Kopchén, die die Gründung von Schulen ablehnten. Als May sie über ihre Ab-
lehnung der Bildungsinstitutionen befragte, antworteten ihm die Oberhäupter
der genannten Ortschaften: “[…] dass ihre Leute die Schulen nicht wünschten,
und dass es auch keine Räume gäbe, um diese unterzubringen…”
28
Im Dezem-
ber 1928, betonte Schulinspektor Leonides Ayala, dass „der General May“ eine
ausweichende Haltung gegenüber der Errichtung von Schulen habe und die
Uterstützung, die er versprochen habe, verleugnete.
29
Francisco May selbst entschied sich dafür, bei bestimmten Gelegenheiten
auch seine eigenen Kinder nicht in die Grundschule zu schicken.
30
Zudem
machte er geltend, dass er die anderen Gemeinden der Region nicht dazu zwin-
gen könne, die Schulen zu akzeptieren, da dies nur von ihnen selbst abhinge.
Direktor Florentino Guzmán bestätigte den Widerstand der Maya gegen die Bil-
dungsinstitutionen in seinem Bericht vom Juni 1928: “All das Berichtete beweist
die entschiedene Opposition der Indigenen, einschließlich ihrer übergeordneten
Anführer, gegen die Schulen...”
31
cil de la región controladas por las escuelas […]”. Informe del inspector Juan I. Flores, 9 de
noviembre de 1932; sowie Informe de Santiago Pacheco Cruz, 22 de enero de 1934, AHSEP,
sección Escuelas Rurales Federales, San Pedro Kopchén, caja 2, Referencia IV/161(IV-
14)/410, años 1930-1938, fjs. 23 y 50.
28
“[…] que la gente no deseaba las escuelas y que tampoco había locales para insta-
larse…”. Acta de 10 de mayo de 1928, Cozumel, Quintana Roo. AHSEP, sección Quintana
Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, exp. 7, años 1927-1935, fj.
14.
29
Informe de Leónides Ayala de 9 de diciembre de 1928. AHSEP, sección Quintana Roo,
Inspección Escolar, caja 16, exp. 1, años 1928-1929, fj. 50-51.
30
Informe de Leonides Ayala de 26 de noviembre de 1928; Informe de Sara Aguilar de 31
de octubre de 1929 y 28 de febrero de 1928. In AHSEP, sección Quintana Roo, Departamento
de Escuelas Rurales Federales, Santa Cruz de Bravo, caja 1, años de 1928-1929, fjs. 1, 8, 15-
18.
31
“[...]Todo lo narrado demuestra con evidencia, la oposición terminante de los indígenas,
inclusive los jefes supremos de ellos, para aceptar escuelas”.Informe de Florentino Guzmán,
25 de junio de 1928. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección
de Educación Federal, Caja 12, exp. 3, fjs. 13-16.
96
98
Justo Miguel Flores Escalante
Zu der Beziehung zwischen den Maya-Anführern und ihren Untergebenen
äußerte sich Schulinspektor Leonides Ayala deutlich. Er wies darauf hin, dass
auch wenn die Ersteren eine gewisse Macht besäßen, um die Errichtung von
Schulen zu verhindern, die Letzteren ebenfalls über die Macht verfügten, ihre
Zustimmung zu den Schulen zu verweigern, und die Anführer entschieden sich
dafür, ihre Unzufriedenheit nicht noch zu vergrößern:
„[…] Denn auch wenn einige Stammesmitglieder [die Schule und die Lehrer akzeptieren]
wollen, der unmittelbare Anführer oder General May aber nicht, dann akzeptieren sie seinen
Beschluss. Wenn, andernfalls, der Stamm die Schule nicht will, obwohl der Kommandant
oder General May sie akzeptieren, dann respektieren beide, aber nur in diesem Fall, den Wil-
len ihrer Leute [...]
32
Es lässt sich also festhalten, dass trotz des Gehorsams und der Loyalität, die
die Maya ihren Oberhäuptern entgegenbringen konnten, die konsequente Ableh-
nung der Schulen über dieses Verhältnis hinausging. Die Maya stellten sich ge-
gen eine Ideologie, die versuchte, sich über ihre eigene zu stellen, und die mit-
tels Zwang von ihren eigenen Anführern und den föderalen Autoritäten durchge-
setzt werden sollte. Es lassen sich also Widerstandsformen der aufständischen
Maya von Quintanta Roo ausmachen, die bis zu einem gewissen Grad frei von
den Manipulationen ihrer Chefs sind, die mit der Regierung verhandelten.
VOM ALLTÄGLICHEN WIDERSTAND ZUR OFFENEN HERAUSFORDERUNG
Die Maya von Quintana Roo hatten zwei Vorteile, die es ihnen erleichterten,
einen
verborgenen Diskurs
zu entwickeln: ihre Sprache, ebenfalls Maya ge-
nannt, und ihre unwirtliche geographische Landschaft. In der Maya Sprache be-
leidigte man die Lehrer oder gab ihnen abschätzige Namen, wie Schulinspektor
Juan I. Flores auf seiner Expedition durch die indigenen Gemeinden feststellte.
Dort beobachtete er die ablehnende Haltung der Indigenen gegenüber Mestizen,
die Spanisch sprachen, und einen Hass gegen die “Weißen” oder Personen aus
dem Zentrum des Landes. Flores selbst wurde von ihnen abwertend “
huacho
”
32
“[…] Porque aún queriendo algunos miembros de la tribu [aceptar a la escuela y maes-
tros], si el jefe inmediato no quiere o el general May, acatan su voluntad. Porque, por el con-
trario, si la tribu no quiere la escuela, aun que el comandante acepte o el general May, ambos
respetan invariablemente, solo en este caso, la voluntad de sus pueblos […]”. Informe de
Leonides Ayala, 24 de noviembre de 1928. AHSEP, sección Quintana Roo, Inspección Esco-
lar, caja 16, exp. 1, años 1928-1929, fjs. 42-42v.
97Schule und Widerstand
99
genannt.
33
Das Erlernen der spanischen Sprache beschränkte sich zudem ausschließlich
auf den Schulunterricht, da zuhause weiterhin die eigene indigene Muttersprache
gesprochen wurde, so dass das Maya im privaten Raum als “Geheimsprache“
gestärkt wurde, während das Spanische sich auf kleine Bereiche innerhalb der
Kontrolle der Lehrer beschränkte.
34
So ist es nicht überraschend, dass der Direk-
tor des mexikanischen Bildungsministeriums es als notwendig ansah, Lehrer
auszubilden, deren Muttersprache Maya sei, um die Sprachbarrieren zu über-
winden und die Durchsetzung der Ziele der Landschulenzu sichern.
35
Anderer-
seits nutzen die Gemeinden aber ohne das Wissen der mexikanischen Bundesre-
gierung ihre Waldgebiete als Versammlungs- und Kommunikationsraum.
So verbreiteten sich sowohl im privaten Raum als auch in den Waldgebieten
Gerüchte und Klatsch über die Schulen und Lehrer in der Mayasprache und bil-
deten so einen
verborgenen Diskurs
aus. Man sagte zum Beispiel, dass die Re-
gierung die Lehrer zur Überwachung schickte; es verbreitete sich auch das Ge-
rücht, die Schulen dienten nur dazu, die Dörfer zugrunde zu richten, was von
umherziehenden Händlern noch bestätigt wurde. Außerdem, und hier zeigt sich
die Uneinigkeit der Gemeinden von May und Vega, glaubten erstere, Vega wür-
de der Errichtung von Schulen nur zustimmen, um ihrer Gemeinde zu schaden.
36
Florentino Guzmán berichtete während seiner Reise durch die Maya-Gebiete
von Quintana Roo seinen Vorgesetzten von den Gerüchten, die in den Gemein-
den verbreitet wurden:
33
Informe de Juan I. Flores, 22 de abril de 1932. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas
Rurales Federales, Xyatil, Santa Cruz de Bravo, Caja 2, Referencia IV/161 (IV-14)/399, 12-
12v. “Huacho” bedeutet so viel wie “Bastard”, Anm. d. Hrsg.
34
Informe de Florentino Guzmán, 15 de julio de 1935. AHSEP, sección Quintana Roo,
Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, exp. 1, años de 1930-
1935, fjs. 65-66.
35
Informe Florentino Guzmán, director de educación federal de 18 de enero de 1929. AH-
SEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal,
caja 12, expediente 1, legajo 2, años de 1928-1929, fjs. 94-95. Informe de Leonides Ayala, 31
de enero de 1929. AHSEP, sección Quintana Roo, Inspección Escolar, caja 16, exp. 1, años de
1928-1929, fj. 71. Informe de Florentino Guzmán, 15 de julio de 1935. AHSEP, sección
Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal, caja 12, exp. 1,
años de 1930-1935, fj. 67.
36
Informe de Leonides Ayala, 24 de noviembre de 1928. AHSEP, sección Quintana Roo,
Inspección Escolar, caja 16, exp. 1, años de 1928-1929, fj. 42-42v.
98
100
Justo Miguel Flores Escalante
“[...] dass die Schulen Leben und Gebräuche der Einheimischen korrumpieren; die wahre Mo-
tivation für meine [Guzmáns] Absichten ist der Profit und die Vermehrung meiner Einnah-
men; dass die Nahrungsmittel immer zu spät eintreffen und wegen meiner Händel überteuert
sind; und dass ich der wahre Räuber ihrer Ländereien bin. Und zu all diesen falschen Gerüch-
ten kommt noch der Aberglauben der Einheimischen hinzu, dass die Schulen sie körperlich
erkranken ließen und den Augen schaden würden [...]”
37
Die Landlehrer
wurden von den indigenen Gemeinden nur ungern zugelassen,
insbesondere da es zu einer Serie von Missbräuchen gegenüber den Frauen der
Dörfer kam und sie von den Indigenen Güter einforderten, die diese ihnen nicht
geben konnten (der Komplex des Verhaltens der Lehrer wird im folgenden Ab-
schnitt ausführlich behandelt werden). Die harmloseste Form, den Lehren ihre
Ablehnung zu zeigen, bestand im Gebrauch von Unflätigkeiten und indem man
ihnen den Aufenthalt in den Gemeinden, etwa durch die Verweigerung von Le-
bensmitteln und Unterkunft erschwerte. Die Lehrer wurden auch mit Wasser
überschüttet, um sie zu erschrecken, wenn sie die Schüler bei ihren Familien
abholen wollten. Man öffnete ihnen nicht die Tür und wartete geduldig auf ihr
Verschwinden oder schüchterte sie gar mit Warnschüssen ein. In ähnlicher Weise
widersetzte man sich auch dem Bau von Schulgebäuden. Die Schüler erschienen
nicht zum Unterricht und noch viel weniger willigten sie ein, sich die Haare
schneiden zu lassen, dem von der Schule geforderten Zeichen der “Zivilisiert-
heit”. Selbstverständlich sollten all diese Handlungen das Projekt der Landschu-
lenscheitern lassen.
Dessen ungeachtet versuchten einige Lehrer ihre Probleme in den indigenen
Gemeinden zu lösen. Angesichts des Fehlens von Nahrungsmitteln wendeten sie
sich zur besseren Versorgung an nahe gelegene Ortschaften und erbaten das Ein-
greifen der lokalen Autoritäten, um die Hindernisse bei dem Bau von Schulen
aus dem Weg zu räumen und das Fernbleiben der Schüler vom Unterricht zu be-
grenzen. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Lehrer auf die Indigenen
37
“[…] que las escuelas son corruptoras de la vida y costumbres de los nativos; el ver-
dadero móvil de mis intenciones [de Guzmán] es el lucro y el engorde de mis ingresos; de
que las provisiones alimenticias las reciben tarde y caras por las maniobras que pongo en
juego; y que yo soy el verdadero despojador de sus tierras. Si a todas estas murmuraciones
pérfidas se agrega la superstición de los nativos de que las escuelas les enferma el cuerpo y
los ojos [...][...]”. Informe Florentino Guzmán, director de educación federal de 18 de enero
de 1929. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educa-
ción Federales, caja 12, expediente 1, legajo 2, años de 1928-1929, fj. 95.
99Schule und Widerstand
101
generell nicht zu viel Druck ausübten, da sie wussten, dass diese jederzeit die
Gemeinden verlassen und in die Berge gehen konnten.
38
Im Dorf San José lässt sich die Entwicklung all dieser Widerstandstaktiken
nachvollziehen. Übereinstimmend mit einem Bericht der SEP lehnte die Ge-
meinde es ab, ihre Kultur, Sprache, Trachten, Bräuche und die indigene Le-
bensweise abzulegen, “[...] sie wollten sich nicht an die Kultur, für die unsere
Schulen kämpfen, anpassen; der Fanatismus ist tief in ihnen verwurzelt, und
man hat es nicht geschafft, ihnen dieses Laster auszutreiben”.
39
Der Widerstand gegen die Schulen radikalisierte sich in Gemeinden wie Tusik
und Dzulá noch stärker, und Tusik zeigte sich seit den ersten Expeditionen der
Lehrer feindselig. Der Direktor der Landschulen der SEP berichtete, dass die
Menschen dieser Ortschaft sich in ihren Häusern verrammelten und nachts mit
ihren Waffen schossen und ihre Hörner klingen ließen, was jeden Versuch der
Kommunikation vereitelte. Schließlich erreichten die Beamten nur, dass ein
Anwohner sie gegen Bezahlung und unter dem Versprechen, ihn nicht an seine
Nachbarn zu verraten, aus dem Dorf hinausführte.
40
In Dzulá zeigten sich die Anwohner den Lehrern gegenüber ebenfalls feindse-
lig und verweigerten ihnen den Aufenthalt in ihrer Gemeinde. So erlebte es auch
SchulinspektorClaudio Cortés, als er in die Ortschaft kam und die Einwohner
den Teilnehmern der Expedition Unterkunft und Nahrung für sie und ihre Pferde
verweigerten. Dennoch wurden sie ein paar Stunden toleriert, da einer der Leh-
rer Gitarre spielen konnte und die Musik den Indigenen gefiel.
41
Es kann allgemein festgestellt werden, dass sich die Feindseligkeiten gegen
die Lehrer auch auf alle Nachbarorte erstreckte, die der Errichtung von Schulen
bereits zugestimmt hatten. Dies war der Fall in Xyatil, wo es Schulinspektor
Jesús Brambila gelang, Sergeant Anselmo Tamay, der die Schule beschützen
38
Informe del inspector Juan I. Flores, 12 de abril de 1932. AHSEP, sección Quintana
Roo, Escuelas Rurales Federales, Santa Cruz de Bravo, caja 1, años de 1928-1934, fj. 45.
39
“[...][...] que no se han querido asimilar a la cultura por la que luchan nuestras escuelas;
el fanatismo está profundamente arraigado en ellos y poco se ha logrado para ir quintando
estas lacras”. Informe de Luis G. Ramírez, 17 de octubre de 1933. AHSEP, Sección Quintana
Roo, Escuelas Rurales Federales, San José, Santa Cruz de Bravo, Caja 2, Referencia IV/161
(IV-14) 23021, fj. 9.
40
Informe Florentino Guzmán, director de educación federal de 18 de enero de 1929. AH-
SEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal,
caja 12, expediente 1, legajo 2, años de 1928-1929, fj. 92.
41
Ramos Díaz: La diáspora de los letrados, 1997, S. 171-172.
100
102
Justo Miguel Flores Escalante
sollte, zum Verbleib in der Gemeinde zu bewegen. Tamay machte dem Schulin-
spektor jedoch deutlich, dass ihm die Regierung im Gegenzug für seine Loyali-
tät keinen Schutz gegen die Aufständischen von Dzulá garantiere. Tatsächlich
infiltrierten diese die Gemeinde Xyatil, damit sie sich gegen die Schule, den
Lehrer und den Sergeant stellte. Initiiert wurde diese Propaganda in der Bevöl-
kerung vonseiten des Indigenen Emeterio Chan. Der Sergeant wurde sogar mit
dem Tode bedroht, weshalb er und der Landlehrer Francisco Ávila Waffen bei
sich führten.
Schulinspektor Juan Flores
machte die zuständigen Autoritäten des Bildungs-
bereiches auf die ständigen Bedrohungen aufmerkwsam, denen die Lehrer und
Protektoren ausgesetzt waren. Zudem berichtete der Funktionär der SEP, dass
der indigene Sergeant von Dzulá nicht aufhöre, die Lehrer der Gegend unaufhör-
lich anzugreifen, damit keine weiteren Schulen errichtet würden, und die Mayas
davon ausgingen, dass sie von keiner Regierung abhängig und demnach auch
nicht verpflichtet seien, die Angestellten und das Bildungspersonal der Regie-
rung zu respektieren. Desweiteren schilderte der Schulinspektor, dass diemilitä-
rischen Autoritäten der indigenen Gemeinden der Region ihm bei dem Versuch,
die wohltätigen Absichten der Regierung bei der Errichtung von Schulen für ihre
Kinder zu erklären, schlicht zur Antwort gaben: “[H]ier hat die Regierung nichts
zu sagen”.
42
Der Schule von Xyatil gelang es trotz allem, sich durch die Unter-
stützung eines Teils der Bevölkerung zu erhalten.
DIE INFRAPOLITIK DER MAYA
Die bereits umrissenen Widerstandsaktionen gründeten auf einer tief empfun-
denen Unzufriedenheit der Indigenen angesichts der von der Regierung ergriffe-
nen Maßnahmen und waren die Basis für die eingangs erläuterte
Infrapolitik
. Es
kann davon ausgegangen werden, dass die Gesamtheit der Widerstandsformen
die herrschende Klasse unter Druck setzte, ihre Politik zu ändern. Die Maya von
Quintana Roo gingen von einem
verborgenen Diskurs
dazu über, das System
offen herauszufordern und so eine Veränderung der Politik voranzutreiben. Die
Gründe, die die Konfrontationen rechtfertigten, waren konkret: die Verteidigung
ihrer Kultur und ihrer Bräuche gegen die neue Ideologie, die die Schule durch-
zusetzen versuchte sowie die Unzufriedenheit mit vielen der Landlehrer und die
42
“[A]llí no manda el gobierno”. Informe de Juan I. Flores, 22 de abril de 1932. AHSEP,
Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Xyatil, Santa Cruz de Bravo, Caja 2, Ref-
erencia IV/161 (IV-14)/399, fjs. 1-21, en especial fj. 12v.
101Schule und Widerstand
103
Kritik am Vordringen von
chicle-
Unternehmen in die Waldgebiete, die sie als
ihre Ländereien betrachteten.
Mehrere dieser Gründe wurden auch von den Einwohnern Chunóns vorge-
bracht.
43
Am Beispiel dieser Ortschaft lassen sich kultureller Widerstand sowie
Widerstand gegen die Missbräuche seitens der Lehrer gut nachvollziehen. Ende
März 1932 traf der Lehrer Gabriel Navarrete in Chun-Hoon (Chunón) ein. Dort
sah er sich mit Widerstand von Seiten der Frauen des Ortes konfrontiert. Bei
seiner Ankunft wurde ihm klar, dass die Väter sich nicht in der Ortschaft befan-
den, da sie zu Dienstleistungen nach Chunpom abberufen worden waren. Navar-
rete ging daher zum Haus des Kommandanten Cristino Cen, um ihm den Nutzen
der Schule zu verdeutlichen. Er traf Cen nicht zuhause an, und dessen Frau er-
klärte ihm, dass sie bis zur Rückkehr ihres Mannes nichts unternehmen könne.
Bis zur Rückkehr der indigenen Autorität im Dorf versuchte Navarrete das
Vertrauen der Kinder zu gewinnen. Mit Spielen, Erzählungen und Unterhaltun-
gen gelang es ihm, bei 13 Kindern Interesse zu wecken. Zunächst sprach er
Maya mit ihnen und, nachdem er ihre Aufmerksamkeit gewonnen hatte, Spa-
nisch. So brachte er die Kastellanisierung auf den Weg. Aber die Frauen reagier-
ten auf die Anwesenheit Navarretes, wiesen die Kinder zurecht und signalisier-
ten ihnen, dass sie in Abwesenheit ihrer Männer nicht die Erlaubnis hätten, den
Lehrer zu sehen.
Eine Woche nach der Rückkehr des Kommandanten besuchte ihn der Land-
lehrer, um ihn um Schulmaterialien zu bitten. Aber Cen behandelte ihn abwei-
send und teilte ihm mit, dass die Einwohner des Ortes demLeiter der Bildungs-
abteilung ein mit ihren Fingerabdrücken (statt Unterschriften) unterzeichnetes
Schreiben gesendet hätten, in dem sie ihn ersuchten, von der Entsendung von
Landlehrern abzusehen. Navarrete redete ihm zu, dass sie nicht “[...] weiterhin
im Schoße der Unwissenheit leben könnten, während die anderen Dörfer zur
Zivilisation aufstiegen”.
44
Schließlich stimmte Cen einer Versammlung der Ein-
wohner zu, auf der der Lehrer in der Sprache der Maya seine Motive darlegen
könne.
Die Versammlung wurde angesetzt. Bis zum Tag der Zusammenkunft ver-
43
Dieser Abschnitt bezieht sich auf: AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales
Federales, Chun-Hoon, Carrillo Puerto, Caja 2, Referencia IV/161 (IV-14)/23035, fjs. 1-10.
44
“[...] seguir viviendo en el seno de la ignorancia, mientras los otros pueblos avanzaban a
la civilización”. Oficio de Gabriel Navarrete, 30 de abril de 1932. AHSEP, Sección Quintana
Roo, Escuelas Rurales Federales, Chun-Hoon, Carrillo Puerto, Caja 2, Referencia IV/161 (IV-
14)/23035, fj. 2
102
104
Justo Miguel Flores Escalante
suchte Lehrer Navarrete noch, den Rückhalt der Dorfbewohner zu gewinnen,
konnte aber nur eine Minderheit erreichen. Am Tag der Versammlung legten die
Einwohner Navarrete schließlich ihre Gründe für die Ablehnung der Lehrer dar:
“Die vorherigen Lehrer blieben meist nur einige Tage im Dorf, dann gaben sie vor, krank zu
sein, und verließen den Ort, wobei sie den Einwohnern noch die eine oder andere Sache
schuldeten; dass sie in der kurzen Zeit ihres Aufenthaltes versuchten, die Sitten der Dorfbe-
wohner zu verändern und alles auf den Kopf stellten, um die Bräuche, die sie von ihren
meistgeliebten Menschen übernommen hatten, mit denen der Zivilisation zu vertauschen; dass
sie ihre Religion grausam verspotteten indem sie sagten, dass man ihren verehrten Christus
verbrennen würde, was sie äußerst beunruhigte”.
45
Des Weiteren erklärten die Indigenen Navarrete, dass wenn sie ihre Kinder in
die Schule schickten und sie sich so nicht mehr bei der Aussaat auf den Feldern
nützlich machen könnten, sie dies nur gestatteten, damit die Kinder lesen und
unterschreiben lernten, und nicht, damit sie ihre Zeit mit Erzählungen und un-
nützen Spielen vergeudeten. Der Lehrer konnte schließlich nur fünf Familienvä-
ter davon überzeugen, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Es gelang ihm
auch nicht, Hilfe bei Instandsetzungsmaßnahmen am Schulgebäude zu erhalten,
da die Eltern ihre Kinder sofort wegholten, wenn sie sie arbeiten sahen. Obwohl
die 5 Familienoberhäupter zur Instandsetzung des Schulgebäudes beitrugen,
schickten immer weniger ihre Kinder in den Unterricht und nur vier Erwachsene
schrieben sich in die Abendschule ein.
Die Gemeinschaft blieb Navarretes Einmischung gegenüber abgeneigt. Am
28. Juni 1932 unterbrach der Lehrer die Feldarbeit, da ein menschlicher Leich-
nam in der Nähe begraben war. Navarrete versuchte die Einwohner davon zu
überzeugen, ihren Brauch abzulegen, die Toten innerhalb der Ortschaft zu be-
graben, aber er erreichte nichts, “[...] da sie vorbrachten, dass die Bräuche wie
eine zweite Natur seien”.
46
Die Situation verkomplizierte sich im Juli 1932 noch mehr. Navarrete hatte
45
“Los maestros anteriores sólo permanecían unos cuantos días y luego pretextando estar
enfermos se iban del lugar debiéndoles una que otra cosa; que en el corto tiempo que hacían
lo empleaban en remendar sus costumbres, tratando que trastocaran éstas que habían sido
lega[da]s a ellos por sus seres más queridos, por las que implanta la civilización; que se mo-
faban cruelmente de su religión prometiéndoles que muy pronto vendrían a quemar al cristo
que ellos adoran, lo que los dejó alarmadísimos”. Oficio de Gabriel Navarrete, 30 de abril de
1932. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Chun-Hoon, Carrillo
Puerto, Caja 2, Referencia IV/161 (IV-14)/23035, fj. 3.
46
“[...][...] pues alegaban que las costumbres es una segunda naturaleza”. AHSEP, Sección
Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Chun-Hoon, Carrillo Puerto, Caja 2, Referencia
IV/161 (IV-14)/23035, fj. 5.
103Schule und Widerstand
105
Chunón zeitweilig verlassen, nachdem der Mord an Anastasio González began-
gen wurde. González war eine der Personen gewesen, die am stärksten mit dem
Lehrer zusammengearbeitet hatten. Bei seiner Rückkehr in das Dorf bemerkte er
die Unruhe unter den Leuten aufgrund von González' Verschwinden. Navarrete
organisierte einen Suchtrupp, der im Wald auf die Leiche des Mannes stieß.
Er forderte, dass die Leute des Ortes ihn nach Chunpom begleiteten, um die
Tat anzuzeigen, aber er erhielt nur Absagen. Der Kommandant des Dorfes, Juan
Vega, berief eine Versammlung der Anwohner von Chunón ein, die aussagten,
dass Mónico Rosado das Verbrechen begangen haben könnte. Die Angaben zum
Tathergang wurden auf Nachdruck Navarretes und des Lehrers von Chunpom
trotz der Einwände des militärischen Kommandanten und der Chefs von Chunón
nach Santa Cruz de Bravo geschickt. Dessen ungeachtet drohten die Anführer
der Ortschaft dem Lehrer, dass ihn dasselbe Schicksal wie González ereilen
würde, wenn er sich noch einmal in die Angelegenheiten der Gemeinde ein-
mischte. Navarrete kommentierte anschließend: “Die Abendkurse blieben
schlecht besetzt, da, wenn sie einmal verärgert sind, weil wir ihre Vorschläge
nicht akzeptieren, sie sich dem Unterricht kategorisch verweigern, so dass auch
die Anwesenheit der Schüler tagsüber zurückging”.
47
Die Motive für den Mord an González blieben unklar, es lässt sich also nicht
mit Sicherheit sagen, dass er aufgrund seiner Unterstützung des Lehrers ermor-
det wurde. Allerdings bestand die deutliche Absicht, dass der Lehrer sich weder
in die Angelegenheiten der Gemeinde noch in die Gebräuche und die lokale
Rechtsprechung einmischen sollte. Die Indigenen von Chunón schützten den
Mörder Mónico Rosado als Mitglied ihrer Gemeinschaft und die Idee, den Tod
von González zu sühnen, lag nicht in ihrem Interesse, denn schließlich hatte die-
ser mit den fremden Akteuren zusammengearbeitet. In diesem Sinne lässt sich
die
Infrapolitik
sowohl in Bezug auf den Zusammenhalt der indigenen Gruppe
gegen die Einmischung des Lehrers, als auch allgemein in der Bewahrung ihrer
Bräuche und Kultur, die ihnen wertvoll und heilig waren, beobachten.
Die Äußerungen der Einwohner von Chunón wurden von den zuständigen
Beamten in gewisser Weise bestätigt. Der Leiter des Bildungsbereiches,Fernan-
do Ximello, erwähnte in einem Dienstschreiben an das Bildungsministerium,
47
“Las clases nocturnas quedaron truncas pues una vez enfadados porque no aceptamos su
proposición se niegan rotundamente a continuar sus clases, disminuyendo hasta la asistencia
diurna”. Oficio de Gabriel Navarrete, 31 de julio de 1932. AHSEP, Sección Quintana Roo,
Escuelas Rurales Federales, Chun-Hoon, Carrillo Puerto, Caja 2, Referencia IV/161 (IV-
14)/23035, fj. 7.
104
106
Justo Miguel Flores Escalante
dass der Fortschritt des Bildungswesens im indigenen Gebiet des Territoriums
von Quintana Roo den Bemühungen der Landlehrer nicht Rechnung tragen wür-
de, da es nur sehr langsam voranginge. Im August 1932 diskutierten die Schul-
leiter und - Inspektoren auf einer Versammlung in Campeche über dieses Prob-
lem.
48
Der Abteilungsleiter für Landschulen in Mexiko antwortete dem Direktor
des Bildungsministeriums, man könne den Berichten Navarretes entnehmen:
“[...] dass die Indios sich zu Recht dagegen zu wehren, den erstbesten Lehrer, der sich vor-
stellt, bei sich aufzunehmen und ihm zu helfen. So misstrauisch wie sie aufgrund des Verhal-
tens einiger Lehrer bereits sind, die sich nur auf Kosten der Indios verpflegen wollten, deren
Gastfreundschaft sie mit der Verspottung ihrer Religion und ihrer Gebräuche dankten und
versuchten, ihre Lebensweise durch die Drohung, ihren verehrten Christus zu verbrennen, zu
ändern. Mit dieser Vorgehensweise kann man nur die Resultate erhalten, die wir jetzt beo-
bachten können. Sie sind die Konsequenz des Verhaltens dieser Lehrer”.
49
Die Unzufriedenheit der Indigenen mit den Lehrern setzte sich fort, und so
waren auch die Einwohner des Dorfes San Ignacio verärgert, da die Pädagogen
nie lange in der Gemeinde blieben. Die Bewohner äußerten ihre Unzufriedenheit
mit der Schule gegenüber Schulinspektor Juan Flores, indem sie ihm deutlich
machten, dass die Lehrer nicht in der Lage waren, sich an den Umstände Ort
anzupassen und etwa ständig bessere Lebensmittel verlangten.
50
Die Akzeptanz der Lehrer in den Dörfern wurde zum Gegenstand von Ver-
handlungen zwischen den Gemeinden, ihren Oberhäuptern und den Autoritäten
der SEP. So forderten die Einwohner von Kopchén beispielsweise die Rückkehr
48
Fernando Ximello, 12 de agosto de 1932. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas
Rurales Federales, Chun-Hoon, Carrillo Puerto, Caja 2, Referencia IV/161 (IV-14)/23035, fj.
8.
49
“[…] que los indios tienen razón al oponerse a recibir y ayudar al primer maestro que se
les presente, escamados como están de la actuación de los que por el lugar han pasado y que
sólo han pretendido alimentarse a costa de los indios, pagando su hospitalidad con el hecho de
mofarse de su religión y sus costumbres y procurando cambiar su modo de ser por medio de
la amenaza de quemarles el cristo que adoran. Con estos procedimientos solo se logran los
resultados que ahora se están observando, pues son la consecuencia de la actuación de esos
maestros”. Jefe del Departamento, 24 de agosto de 1934. AHSEP, Sección Quintana Roo,
Escuelas Rurales Federales, Chun-Hoon, Carrillo Puerto, Caja 2, Referencia IV/161 (IV-
14)/23035, fjs. 9-10.
50
Informe de Juan I. Flores, 8 de noviembre de 1932 sowie informe de Santiago Pacheco,
10 de abril de 1933. AHSEP, sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, San Ignacio,
caja 3, Referencia IV/161(IV-14)/411, años 1931-1933, fjs. 6,7 y 9.
105Schule und Widerstand
107
des Lehrers, den sie zuvor gehabt hatten.
51
In Santa Cruz de Bravo zahlte Gene-
ral May den Lohn des Lehrers Ramón Santa Ana unter der Voraussetzung, dass
dieser nicht ausgetauscht würde, da er ihm bei seinen
chicle-
Geschäften half.
52
Poom war eine der Ortschaften, in der sowohl das Dorfoberhaupt als auch die
Gemeinde selbst Druck ausübten, um ihren Lehrer zu behalten. Sergeant Epifa-
nio Jiménez gab den Dorfbewohnern die Anweisung, den soeben von der Direk-
tion der SEP in Campeche ernannten Lehrer Javier Ávila offen abzulehnen. Der
Sergeant befahl, keine Lebensmittel an ihn auszuteilen und gab Schulinspektor
Floreszu verstehen, dass sie die Schule anzünden würden, wenn er dem vorhe-
rigen Lehrer Asterio Salazar nicht seinen Posten zurückgäbe. Mit Hilfe des
Übersetzers José A. Xiu versuchte Flores daraufhin dem Dorfoberhaupt zuer-
klären, dass er den Lehrer wegen seiner geringen Bildungserfolge in der Ge-
meinde ausgetauscht habe, und dass sie Salazar unterstützen müssten, falls er
diesen wieder einsetze. Sergeant Jiménez akzeptierte und wies sogar einen sei-
ner Hauptmänner zurecht, der seine Tochter nicht zur Schule schicken wollte.
Schulinspektor Flores konnte nicht nachweisen, ob Salazar die Dorfbewohner
bezüglich seiner Rückkehr beeinflusst hatte, und entschied sich, dass es auf-
grund der Entfernung und Abgeschiedenheit des Ortes besser sei, der Bitte der
Einwohner nachzukommen. Nach diesem Vorfall schritten die Kastellanisierung
und die Etablierung des Schulwesens im Dorf voran, und es wurde sogar ein ei-
genes Schulgebäude errichtet.
53
Die schwache Bindung zwischen Lehrern und den indigenen Gemeinden
konnte jederzeit auseinander brechen. Im Jahre 1931 sandte der Gouverneur von
Quintana Roo, Campillo Seyde, Oberst Heliodoro Escalante auf eine militäri-
sche Expedition durch die Maya-Gebiete im Zentrum seines Regierungsbezir-
kes. Anlass der Expedition waren die Hinweise von Lehrer Asterio Salazar und
anderer auf einen möglichen Aufstand der Indigenen gegen die Regierung. Esca-
lante berichtete, dass es bei seiner Durchquerung der indigenen Gemeinden kei-
51
Informe de Juan I. Flores, 9 de noviembre de 1932. AHSEP, sección Quintana Roo, Es-
cuelas Rurales Federales, San Pedro Kopchén, Referencia IV/161(IV-14)/410, años 1930-
1938, fjs. 23-23v.
52
Informe de Florentino Guzmán, 7 de enero de 1929. AHSEP, sección Quintana Roo, Es-
cuelas Rurales Federales, Dirección Federal de Educación, caja 12, exp. 2, años de 1926-
1935, fj. 17.
53
Informe del Juan I. Flores de 19 de abril de 1932. Informe del inspector Juan I. Flores, 7
de noviembre de 1932. AHSEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Poom,
Santa Cruz de Bravo, Caja 2, Referencia IV/161(IV-14)/413, años de 1930-1934, fjs. 16, 20,
21, 23, 27, 33 y 36.
106
108
Justo Miguel Flores Escalante
ne größeren Probleme gegeben habe, auch nicht in Xmabén, Tusik und Dzulá. In
Wirklichkeit waren die Indigenen unzufrieden, da die Lehrer die Frauen in den
Maya-Dörfern vergewaltigten oder mit ihnen Beziehungen eingingen. Diese
Vorfälle riefen in den indigenen Gemeinden immer größere Empörung hervor.
Escalante wies auch auf die herrschende Unzufriedenheit hin, die aufgrund der
Vergabe von
chicle
-Lizenzen an Unternehmer entstand. Die Indigenen forderten
ein Entgegenkommen bei der Harzgewinnung und baten darum, nicht den An-
ordnungen der
chicle
-Unternehmer unterstellt zu werden.
54
Die Besetzung der Waldgebiete der Maya durch die Unternehmen war bereits
im Jahr 1929 von Florentino Guzmán als Problem erkannt worden. Der Direktor
der Landschulen erwähnte, dass Konzessionen (wie beispielsweise an Miguel
Ramoneda) auf indigenes Land vergeben worden seien, und dass die Indigenen
nun gezwungen seien,
chicle
zu lächerlich niedrigen Preisen an die besagten
Kapitalisten zu verkaufen, die Druck auf sie ausübten. Zudem mussten die Maya
den Konzessionären ihre Waren zu überhöhten Preisen abkaufen. Auch die Ka-
ziken der Ortschaften waren hinderlich, da sie den Einwohnern keine Entschei-
dungsfreiheit ließen und mit den Unternehmern Geschäfte machten, so zum Bei-
spiel Francisco May, dessen Haltung gegenüber der Einführung von Schulen
ambivalent war.
55
Tatsächlich veranlasste die Verärgerung über die
chicle
-Konzessionen, die die
Secretaría de Fomento
vergab, und die Abgaben, die auf das Harz der
chicoza-pote
(der Frucht des
chicle
- Baumes) an die Unternehmen geleistet werden
mussten, die Maya im Jahr 1929 dazu, in den entsprechenden Gebieten Wald-
brände zu legen. Florentino Guzmán wies auf den Vorteil hin, den die Maya
durch die perfekte Kenntnis ihrer Umwelt hatten: “[...] sie kommunizieren un-
tereinander mit der Geschwindigkeit eines Hirsches, und es gibt nicht einen un-
ter ihnen, der nicht eine 30-30er oder eine Mauser trägt”. Der Beamte der SEP
bot sich an, bei der mexikanischen Bundesregierung die Beschwerden der Indi-
genen vorzubringen, unter der Voraussetzung, dass sie die Schulen akzeptierten.
Dieses Vorhaben verschaffte ihm Zugang zu achtundzwanzig Gemeinden, von
54
Informe de A. Campillo Seyde, 7 de junio de 1931. Archivo General de la Nación (en
adelante AGN), Pascual Ortiz Rubio, caja 77, exp. 106/16.
55
Informe Florentino Guzmán, director de educación federal de 18 de enero de 1929. AH-
SEP, Sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación Federal,
caja 12, expediente 1, legajo 2, años de 1928-1929, fj. 93.
107Schule und Widerstand
109
denen viele zuvor unbekannt gewesen waren.
56
Gouverneur José Siurob musste erkennen, dass in den Orten Dzulá, Yodzonot,
La Guardia, Chanchén und Tusik eine angespannte und von Misstrauen geprägte
Atmosphäre herrschte. In diesen Dörfern kam es zu “[...] semi-rebellischen Vor-
fällen, wenn auch ohne direkte, feindselige Handlungen gegen die Regierung”.
Nach Zeugenaussagen waren in den Wäldern etwa 60 oder 70 bewaffnete Indi-
gene gesichtet worden.
57
Tatsächlich war die Anspannung in Dzulá deutlich zu
spüren. Der Lehrer des Dorfes, Ramón González, versuchte mit dem Oberhaupt
des Ortes zu reden, aber dieser hielt sich versteckt. Die Indigenen von Dzulá be-
leidigten González und verweigerten ihm Lebensmittel und Unterkunft. Der
Grund für die Unzufriedenheit war klar:
“[...] [die Indigenen] sagten, dass sie die Schule nicht wollen, da die Regierung ihnen Lehrer
schickt um ihnen dann ihre Waldländereien wegzunehmen, wie es General May gemacht hatte
[...] wenn die Regierung viele Gewehrkugeln hat um diejenigen zu unterstützen, denen sie
diese Waldländereien überlassen hat, dann hätten sie [die Indigenen] eben so viele [...]”
58
Im Jahre 1929 erhoben sich die Maya gegen die Besetzung der Waldgebiete,
die sie als die ihrigen betrachteten. Doch die Bewegung nahm einen unerwarte-
ten Verlauf, als die Anführer Concepción Cituk aus Xambén und Tranquilo Chan
den „General“ Francisco May angriffen, dem sie vorwarfen, mit der Regierung
Geschäfte zu machen, um die Tropenwälder auszubeuten. Angesichts dieser
Zwietracht lenkte die Regierung die Aufmerksamkeit der Indigenen von dem
Konflikt ab, indem sie ihnen die Zuteilung von Land (in Form von Gemeinde-
triften, so genannten
ejidos)
versprach, und sich vornahm, die Schulen als Mittel
zur Integration und Befriedung der Maya einzusetzen. Während der Amtszeit
56
“[…] se comunican entre sí con una velocidad de venado y no hay uno solo que no porte
el 30-30 o el mauser”. Informes de Florentino Guzmán, 13 de mayo de 1929, 30 de junio de
1929, 9 de diciembre de 1929 y 15 de julio de 1930; Miguel Medina Guzmán, 15 de junio de
1929, AHSEP, sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Dirección de Educación
Federal, caja 12, exp. 1, legajo 3, años de 1929-1930, fjs. 7-10, 20, 41-47, 53-55 y 130-135.
57
Informe de José Siurob, 22 de mayo de 1929. AGN, Emilio Portes Gil, caja 72, exp.
4/543.
58
“[…][los indígenas] dijeron que no quieren la escuela porque el gobierno les manda
maestro para luego quitarles el monte como le hizo el general May […] si el gobierno tenía
muchas balas para apoyar a los que les había dado el monte, ellos también las tenían […]”.
Informe de Ramón González, 20 de mayo de 1929. AGN, Emilio Portes Gil, caja 72, exp.
4/543.
108
110
Justo Miguel Flores Escalante
von Präsident Cárdenas wurden den indigenen Gemeinden des Zentrums von
Quintana Roo die bewaldeten Gemeinschaftsländer zuerkannt.
59
Die kriegerischen Aktionen der Maya gegen ihren eigenen Anführer Francisco
May, der sein Land angeblich verraten hatte, zielten darauf ab, das Bündnis zwi-
schen May und den föderalen Autoritäten zu zerbrechen. Die Errichtung von
Schulen wurde von den Indigenen instrumentalisiert, um Ländereien zu erhalten.
Im Austausch für die Erlaubnis, in ihrem Dorf eine Schule zu errichten, forder-
ten die Indigenen von Xmabén unter ihrem Oberhaupt Concepción Cituk von
der Regierung die Zuerkennung des versprochenen Landes. Im Jahre 1938 bil-
ligte Xmabén schließlich, trotz des Widerstandes Cituks, das Schulwesen des
mexikanischen Staates.
60
In Dzulá verzögerte sich die Akzeptanz der Lehrer,
vielleicht weil sich das Oberhaupt des Ortes, Evaristo Zuulub, fast die ganze
Amtszeit von Präsident Cárdenas am Rande eines bewaffneten Aufstandes be-
fand.
61
Dennoch schien die Schule von Dzulá im Jahr 1940 vom ganzen Dorf
akzeptiert zu sein.
62
Nach Ansicht von Scott entspricht die Gesamtheit der zuvor beschriebenen
Handlungen den
infrapolitischen Aktionen
, die die Maya einsetzten, um ihre
Kultur zu verteidigen und Lehrer zu fordern, die ihre Gemeinschaft respektier-
ten. So gelang es ihnen, die offizielle Politik insofern zu transformieren, dass die
SEP begann, nur verheiratete Lehrer in die Dörfer zu entsenden und, wenn mög-
lich, wurden diese von ihren Ehefrauen begleitet. Je nach Fall nahm die födera-
le, bzw. die lokale Regierung die
infrapolitischen Aktionen
der Maya sehr ernst,
da sie wussten, dass diese bewaffnet waren und die tropischen Waldgebiete bes-
ser kannten. Es wurde also von einigen der Autoritäten von Quintana Roo ver-
sucht, die Unzufriedenheit der Maya zu beheben oder zu mildern, indem man
ihnen Ländereien gab, oder versuchte, die Probleme, die noch immer durch die
59
Villalobos González: El bosque sitiado, 2006, S. 221-229.
60
Oficio de Leopoldo Aguilar Roca, 2 de febrero de 1937 y 17 de junio de 1938; Censo
escolar de Vicente Kau Chan y Ezequiel Rodríguez Arcos, 26 de enero de 1938; Oficio de
Luis Álvarez Barret, 10 de marzo de 1938. Vicente Kau Chan, 31 de marzo de 1939. AHSEP,
sección Quintana Roo, Escuelas Rurales Federales, Xmabén, caja 4, exp. 400, años 1935-
1951, fjs. 3,6-10, 12,14, 26-27.
61
Ramos Díaz: La diáspora de los letrados, 1997, S. 172-176.
62
Informe de Leopoldo Aguilar Roca, 6 de enero de 1938, 2 de febrero de 1938 y 6 de
mayo de 1938. Informe de Vicente Kau Chan de 30 de noviembre de 1938; informe de Au-
gusto Medina Reyes, 31 de mayo de 1940. AHSEP, sección Quintana Roo, Escuelas Rurales
Federales, Dzulá, Referencia IV/161(IV-14)/3774, años de 1938-1969, fjs. 7, 9,12, 21,44.
109Schule und Widerstand
111
Einrichtung der Schulen bestanden, zu lösen. Es lässt sich also feststellen, dass
die Indigenen in Bezug auf die Akzeptanz eines ideologischen Systems, dass
man durch die Schulen durchzusetzen versuchte, einen breiten Verhandlungs-
spielraum besaßen, und dass die zwischen den indigenen Autoritäten und der
mexikanischen Bundesregierung getroffenen Vereinbarungen den Erfolg der Be-
schlüsse nicht automatisch garantierten.
In diesem Zusammenhang muss die doppelte Rolle, die einige der Landlehrer
ausfüllten, hervorgehoben werden. So war der Lehrer einerseits Träger der
Staatsideologie und in diesem Sinne Akteur eines Systems der Unterordnung,
dem die Maya unterworfen werden sollten. Andererseits konnte er aber gele-
gentlich auch dazu beitragen, den
verborgenen Diskurs
der Indigenen zu ent-
schlüsseln und so indirekt die
infrapolitischen Aktionen
der Maya vorantreiben.
So gab es Lehrer, die die Ausbeutung der Maya seitens indigener Eliten, Unter-
nehmer und der Regierung offen anklagten. Die Akzeptanz der staatlichen Bil-
dungsprojekte im Inneren der Gemeinden geschah im Austausch gegen die Be-
rücksichtigung der Forderungen der Maya. Daher stellte die Errichtung der
Landschulen zu einem gewissen Grad ein wichtiges Element innerhalb der Aus-
handlung der indigenen
Infrapolitik
dar.
SCHLUSSBETRACHTUNGEN
Die Autonomie des Maya-Gebietes von Quintana Roo war ausgeprägt genug,
um die Herausbildung eines
verborgenen Diskurses
gegen die Institution der
Schule durch eine Reihe von Widerstandsformen zu ermöglichen, die, solange
sie nicht kontrolliert wurden, immer aggressiver und herausfordernder wurden,
und so die Gültigkeit des ideologischen Systems, das der Staat einführen wollte,
zumindest in den ersten Jahren der Tätigkeit der SEP, in Frage stellten.
Die Gründung der Landschulen
wäre ohne die zwischen den Maya-Eliten und
den Autoritäten der mexikanischen Bundesregierung geschlossenen Abkommen
nicht möglich gewesen. Dennoch waren diese Vereinbarungen schwach, da die
Anführer der Maya weder gänzlich zufrieden mit den Abkommen waren, noch
die absolute Herrschaftsgewalt über die Maya-Bevölkerung ihres Machtberei-
ches innehatten. So lässt sich die Vielfalt an Widerstandsformen erklären. Es
zeigt sich, dass die Beteiligung der Maya-Chefsbei der Beschwichtigung oder
Zunahme des Widerstandes wichtig, aber nicht entscheidend war.
Die Beschwerden der Gemeinden im zentralen Quintana Roo und die Art und
Weise, diese zu äußern, sind als
infrapolitische Aktionen
interpretiert worden. Es
gelang der indigenen Bevölkerung damit, auf die offizielle Bildungspolitik ein-
zuwirken und die Ernennung von Lehrern in ihren Gemeinden zu steuern. Auch
konnten sie in vielen Fällen das Verhalten der Landlehrer gegenüber ihrer Kultur
sogar soweit verändern, dass diese zu Fürsprechern der Maya wurden, deren
110
112
Justo Miguel Flores Escalante
Forderungen gegenüber dem Staat artikulierten, und – wenngleich nicht aus die-
sem Grund – davon abließen, das ideologische System, das der mexikanische
Staat einführen wollte, zu verbreiten.
So lässt sich erklären wie die Errichtung der Landschulen von den Maya-
Gemeinden instrumentalisiert wurde. Die Schule abzuwehren oder in der Ge-
meinde zu akzeptieren diente den Indigenen als Pfand für Verhandlungen, als
infrapolitische Aktionen
, um ihre Rechte über die Wälder und den Abbau von
chicle
einzufordern. Viele der Schulen, die im Maya-Gebiet wirkten, durften
dies nur im Austausch mit einer Übertragung und Anerkennung von Ländereien
an die Dörfer des zentralen Quintana Roo.
Der in der vorliegenden Arbeit analysierte kurze Zeitraum (1928 – 1934),
deckt nur den Beginn eines Prozesses ab, der sich bis in die Gegenwart erstreckt.
Neuere Studien über die Maya des zentralen Quintana Roo stellen fest, dass sich
die Kultur dieser Bevölkerung noch immer nicht an das ideologische System der
Schulen assimiliert hat. Ein Großteil der Bräuche ihrer Vorfahren blieb, gleich
ihrer Sprache, bis heute bestehen.
63
63
Careaga Viliesid: Hierofonía combatiente, 1998, S.141-148; Dumond: El Machete y la
cruz, 2005, S. 661-662.
111MÓNIKA CONTRERAS SAIZ
DIE EROBERUNG DER FREUNDSCHAFT: INDIOS AMIGOS, FUERTES UND LOKALE REGIERUNGSWEISEN AM RÍO BUENO, 1759 – 1796∗
Die spanische Krone verfolgte wie jedes koloniale Unternehmen die
Unterwerfung der einheimischen Bevölkerung ihrer eroberten Territorien und
bildete zu diesem Zweck ein Verwaltungssystem in den unterworfenen Gebieten
aus. Was geschah jedoch, wenn die Mechanismen der Unterwerfung und
Verwaltung bei der ansässigen Bevölkerung nicht griffen? Was passierte wenn
das koloniale System weder in die mentalen Strukturen der lokalen
Bevölkerung, noch in ihre Territorien eindringen konnte? Begnügte sie sich in
diesen Fällen mit der Verwaltung der unterworfenen Regionen und überließ die
uneroberten Gebiete sich selbst? Mitnichten, in solchen Situationen stellte sich
dem Herrschaftsanspruch der Krone eine neue Herausforderung und sie sah sich
gezwungen, neue Herangehensweisen zu suchen und auf die Probe zu stellen,
die es erlauben würden, sowohl in die Territorien als auch in die Köpfe der
„Unbeugsamen“ einzudringen. In der Fallstudie, die diesem Aufsatz zu Grunde
liegt, wird ein spezifisches Problem analysiert, welches in uneroberten Gebieten
entsteht: in der Mitte des 18. Jahrhunderts reichte die Macht der Krone nicht
aus, um einen sicheren Landweg zwischen zwei seiner bedeutenden Zentren der
Kolonialbürokratie im Süden Chiles, Valdivia und Chiloé, zu erschließen, da die
dazwischen liegenden Regionen in der Hand nicht unterworfener indigener
Gruppen lagen.
In Bezug auf diese Gebiete musste der Anspruch auf Herrschaft und
Unterwerfung der einheimischen Bevölkerung nicht nur in der Praxis, sondern
auch im Diskurs der Kolonialverwaltung überdacht werden. Der kolonial-
herrschaftliche Diskurs wurde seit der Mitte des 18. Jahrhunderts
paradoxerweise zunehmend von Begriffen wie „Freundschaft“ (
amistad
),
„Überzeugung“ (
persuasión
) und „Sanftmut“ (
dulzura
) bestimmt. Diese
miteinander verbundenen Begriffe beschreiben eine Situation, wie sie von den
Akteuren jener Zeit wahrgenommen wurde, und verweisen auf die politische
∗
Dieser Aufsatz wurde innerhalb des Sonderforschungsbereichs 700 „Governance in
Räumen begrenzter Staatlichkeit“ der Freien Universität Berlin entwickelt. Das Projekt wird
finanziert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Dieser Aufsatz wurde von
Annika Buchholz ins Deutsche übersetzt.
112
114
Mónika Contreras Saiz
Zielsetzung einer „Eroberung der Freundschaft“ autochthoner Gruppen, mit der
letztlich die Durchsetzung der Interessen der Krone erreicht werden sollte. Diese
Politik abgeschwächter Unterwerfungstaktiken führte unausweichlich zur
Fortdauer und Förderung der Figur des
indio amigo
(des freundschaftlich
gesinnten Indigenen), der sich durch die Kooperation der Indigenen mit den
spanischen Eroberern herausgebildet hatte.
Ausgehend von dieser Argumentation wird in dem vorliegenden Aufsatz
zunächst gezeigt, wie sich der
indio amigo
als wichtige Kategorie im politischen
Programm der Bourbonischen Reformen konsolidierte und dabei sowohl einer
kontrollierten Grenzverschiebung als auch der Herstellung von Sicherheit
innerhalb des Generalkapitanats Chile dienlich sein sollte. Anhand der
Verhandlungen, die die Krone zwischen 1759 und 1796 mit verschiedenen
autochthonen Gruppen in der Nähe des Río Bueno (südlich von Valdivia) führte,
wird anschließend der Prozess dargestellt, der eine Konsolidierung der
fuertes
(Festungen) und der
plazasfuertes
(befestigen Dörfer)in den nicht
unterworfenen Gebieten mit sich brachte. Dabei wird der Frage nachgegangen,
ob diese Orte als strategische Räume interpretiert werden können, und ihre
spezifische Rolle bei der Durchsetzung kolonialer Herrschaftsambitionen in den
Grenzräumen analysiert. Ein Teil der Analyse der
Fuertes
und
Plazas Fuertes
ist
den Akteuren gewidmet, die an der Schaffung dieser Räume teilnahmen:
Angehörige des Militärs, Missionare, Händler, die
indios amigos
und die
„unbeugsamen“ Kaziken. So soll aufgezeigt werden, wie im alltäglichen
Kontext in die mentalen, kulturellen und geografischen Räume derjenigen
sozialen Gruppen, die sich gegen die koloniale Ordnung stemmten, eingegriffen
wurde. Zum Abschluss werden die Konsequenzen dieser Kolonialverwaltung
dargestellt, insbesondere die der bourbonischen Ära, welche später auf die
Beziehungen zwischen dem neuen republikanischen Staat Chile und den
Indigenen der ehemaligen Südgrenze des Generalkapitanats Chile nachwirkten.
DIE INDIOS AMIGOS
INNERHALB DER POLITIK DER BOURBONEN
Die Tragweite der bourbonischen Reformen wurde in Amerika mit
besonderem Nachdruck ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts während der
Regierungszeit Karl III. (1759 – 1788) spürbar. Es ist weithin bekannt, dass die
Reformpolitik der Bourbonen entscheidende Veränderungen im administrativen,
ökonomischen und sozialen Bereich vorsah. Ihre beiden vorrangigsten Ziele
waren eine Verringerung der Macht kreolischer Eliten und eine Zunahme der
Produktivität in ihren Kolonien. Ein radikaler Richtungswechsel vollzog sich in
der Politik hinsichtlich der indigenen Bevölkerung, da sich die
pueblos de indios
zu produktiven bäuerlichen Gemeinschaften entwickeln sollten, in denen die
113Die ‚Indios Amigos’
115
Kleinbauern gezwungen waren, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und einen
Großteil ihres agrarischen Überschusses in Form steuerlicher Abgaben an die
Krone und die koloniale Wirtschaft abzuleisten. Um diese Ziele zu erreichen,
beabsichtigte die Krone, indigene Gemeinschaftsländer in Parzellen
individuellen Eigentums aufzuspalten und die kulturelle Assimilation der
autochthonen Bevölkerung voranzutreiben. Spezielle Bildungsmaßnahmen, die
Männer in landwirtschaftlichen Techniken und Frauen in Handarbeiten
unterrichten sowie allgemein einer Verbreitung der spanischen Sprache und
Kultur Vorschub leisten sollten, waren zur Erreichung dieser Ziele vorgesehen.
Zudem wurde die strikte räumliche Trennung zwischen Indigenen und Nicht-
Indigenen aufgehoben und der Austausch zwischen beiden Bevölkerungs-
gruppen auf regionalen Märkten gefördert
1
.
Diese politischen Maßnahmen richteten sich an die unterworfenen indigenen
Gruppen. Aber was hatten diejenigen Indigenen, die sich einer Unterwerfung
bislang erfolgreich widersetzt hatten, von den bourbonischen Reformen zu
erwarten? Sie waren ebenfalls Teil des Planes, denn die von ihnen bewohnten
Gebiete hatten einen großen strategischen Stellenwert: im Fall des Cono Sur war
die Herrschaft über Araukanien, die Pampa und Patagonien für die Kontrolle des
Zugangs zum Pazifischen Ozean über die Magellanstraße von wesentlicher
Bedeutung.
2
Der Unmut der Krone über den so genannten Arauco-Krieg (
guerra del Arauco
), wurde seit 1718 offensichtlich. Philipp V. war es unerträglich, dass die
Einheimischen des Cono Sur, obwohl sie (seit der Unterzeichnung des Vertrages
von Quilín von 1641) theoretisch seine Vasallen waren, weiterhin in ihren
Gebieten lebten, ohne dass sich die Macht der Krone in ihrem Leben oder ihrem
Lebensraum bemerkbar machte. So wies er seine Beamten vor Ort an: “[...] ihr
werdet behutsam und listig ergründen, wo sich diese barbarischen
Kriegsindianer aufhalten […]“, um anschließend eine Kampagne einzuleiten, die
„den Schleier der Unwissenheit und des Mysteriums, der über der Welt der
Eingeborenen liegt, zerreiße, damit der prüfende Blick des Staates alle noch so
unbekannten und entlegenen Winkel durchdringe.“
3
Später wurden diese
1
Jairo Gutiérrez Ramos: Los indios de Pasto contra la república (1809 - 1824). Bogotá
2007, S. 83 – 85; José del Campillo y Cosio: Nuevo sistema económico para América. Madrid
1993, S. 79 – 89, 125 – 126.
2
Carlos Lázaro Ávila: El reformismo borbónico y los indígenas fronterizos americanos.
In: Agustín Guimerá Ravina: El reformismo borbónico: una visión interdisciplinar. Madrid
1996, S. 281.
3
“[...] os dediquéis con cautela y maña a inquirir noticias donde habitan los yndios
bárbaros de guerra de ese Reyno […]”, zitiert nach Leonardo León Solís: Los señores de las
cordilleras y las pampas. Los pehuenches de Malalhue, 1770-1800. Mendoza 2001, S. 38.
114
116
Mónika Contreras Saiz
Vorhaben von einem „Urbanisierungsplan“ unterstützt, der ab 1764 dazu dienen
sollte, die „kriegerischsten Indios“ der unbeherrschten Gebiete in Siedlungen
zusammenzuführen.
4
Außerdem wurden ab 1774 erneut Schulen gegründet, die
sich exklusiv um die Ausbildung der Söhne der Kaziken bemühten.
Es ist an dieser Stelle wichtig darauf hinzuweisen, dass die Krone bereits zu
Beginn des 17. Jahrhunderts einen Plan des Jesuitenpaters Luis de Valdivia
umsetzte, der sich für eine defensive Kriegführung anstelle eines offensiven
Kriegs eingesetzt hatte. Damit begann eine Phase von politischen Experimenten,
die schließlich in der Etablierung von Verhandlungsspielräumen und einer
schrittweisen Konsolidierung von speziellen Institutionen mündeten, mit denen
zwischen der Kolonialverwaltung und den nicht unterworfenen Indigenen
vermittelt werden konnte. Als die Bourbonen sich des Problems annahmen, war
daher bereits eine „Atmosphäre des Konsenses“
5
zwischen beiden Parteien
geschaffen worden. Die Bourbonen wussten außerdem, dass die
indios amigos
für die Erreichung ihrer Ziele unentbehrlich waren. Es handelte sich dabei um
Erfahrungswerte aus zwei Jahrhunderten der Eroberung und Beherrschung
Lateinamerikas.
Wer genau die
indios amigos
waren, ist allerdings eine Frage, deren Antwort
je nach Ort und Zeitraum unterschiedlich ausfallen muss. Es handelt sich um
eine im steten Wandel befindliche Kategorie, die durch die Entwicklung des
Verhältnisses zwischen Indigenen und Spaniern sowie durch die Beziehungen
zwischen den verschiedenen indigenen Gruppen untereinander bestimmt wurde.
Daher bleibt unklar, ob sich die
indios amigos
aus den Reihen der nicht
unterworfenen Indigenen rekrutierten oder ob sie Indigene waren, die von
Anfang an mit den Spaniern kooperierten. Je nach Kontext waren beide
Optionen möglich. Der vorliegende Aufsatz beschränkt sich darauf, zu zeigen,
an welchen Schauplätzen die
indios amigos
auftraten und welche Funktionen sie
erfüllten, derweil ihre genaue Bestimmung späteren Arbeiten überlassen werden
muss.
Die
indios amigos
unterstützten die Krone bei der Durchsetzung ihrer
Anliegen und genossen im Gegenzug dafür gewisse Privilegien. Im südlichen
Grenzgebiet Chiles nahmen die
indios amigos
eine besondere Stellung ein, da
sie durch ihre militärischen Hilfeleistungen die Verteidigung des General-
kapitanats und damit auch die der spanischen Siedlungsgebiete stärkten. Im
Rahmen der Grenzkonflikte sind etwa die Kampagnen zur Befreiung von
4
Insgesamt wurden 39 Dörfer südlich des Flusses Bíobío errichtet, deren Existenz jedoch
sehr prekär war, wie Méndez aufzeigt. Luz María Méndez B.: Relación anónima de los
levantamientos de indios. In: Cuadernos de Historia Nr. 4 (1984), S. 169–191, S. 173.
5
Lázaro Ávila: El reformismo borbónico, S. 33.
115Die ‚Indios Amigos’
117
Geiseln hervorzuheben, wie sie von Ángel Parado, einem Kommandanten der
Krone, gegen Ende des 17. Jahrhunderts beschrieben wurden: „[…] ich griff
auch auf die Hilfe einer Reduktion von mehr als 100 Indios aus Lora zurück,
mitsamt ihren Familien, die als besoldete Freunde Seiner Majestät dienen […]
mehr als 400 Spanier – Männer, Frauen und Kinder – wurden aus der
Gefangenschaft befreit […]“.
6
In einem sowohl räumlich als auch sozial diffusen Grenzgebiet stellten
wiederum die
fuertes
und die
plazas fuertes
der Spanier konkrete Räume dar, die
eine genauere Verortung der Grenze ermöglichten. Die Dienste der
indios amigos
waren an diesen Plätzen unabdinglich, da sie für die Spanier Strassen
anlegten, Brücken bauten und die Flüsse mit Flössen und Booten schiffbar
machten. Darüber hinaus trugen sie Sorge für die Pflege der Pferde, bauten und
reparierten die Festungen und Baracken der Soldaten, bestellten das Ackerland
und betätigten sich als Boten.
7
Wenngleich der Fluss Biobío im Jahr 1641 als natürliche Grenze zwischen
dem Regierungsbereich Chile und dem indigenen Territorium
8
festgelegt
worden war, erleichterte das den Indigenen in den unmittelbar angrenzenden
Gebieten des Biobío nicht, Widerstand zu leisten, sondern zwang sie, sich in den
Süden zurückzuziehen oder zu
indios amigos
zu werden. Jimena Obregón stellte
fest, dass diejenigen indigenen Gruppierungen, die sich über einen längeren
Zeitraum hinweg in der Nähe von spanischen
Fuertes
aufhielten, zu
Verbündeten wurden, d.h. sie waren anfälliger dafür,
indios amigos
zu werden,
auch wenn sie anfangs zu den erbittertsten Feinden zählten.
9
Einerseits übten die
Privilegien und die Besoldung, mit denen die Kolonialverwaltung die
indios amigos
vergütete, einen großen Reiz aus. Zusätzlich kam auch noch die Beute
hinzu, die sie bei den Überfällen auf andere indigene Gruppen im Auftrag oder
6
"[...] y use una reducción de más de 100 indios de Lora con sus familias naturales de
aquel país que sirven de amigos a sueldo de vuestra majestad[...]salieron de cautiverio más de
400 españoles hombres, mujeres y niños y gran numero de yanaconas que restituí a sus
encomenderos[...]” In den Quellen finden sich viele Anmerkungen, die ungefähre Angaben
über die Zahl der
indios amigos
machen, die an den verschiedenen Feldzügen mit den
Soldaten teilnahmen. Ein häufiges Unterfangen war die Rettung von Gefangenen. Archivo
Nacional de Chile (ANCH), Fondo Archivo Morla Vicuña (FAMV), Vol. 4, S. 204-205.
7
Patricia Cerda Pincheira Hegerl: Fronteras del sur. La región del Bío Bío y la Araucanía
chilena, 1604 – 1883
.
Temuco 1997, S. 57.
8
Vgl. José Bengoa: El tratado de Quillín. Documentos adicionales a la historia de los
antiguos mapuches del sur. Santiago de Chile 2007.
9
Jimena Obregón Iturra: Concepciones hispanas en torno a un territorio disputado en
Chile. In: Cultura y Representaciones Sociales, Jg. 2, Nr. 4 (2008), S. 82.
116
118
Mónika Contreras Saiz
im Verbund mit den Spaniern machten.
10
Andererseits brachte ihnen ihr
Bündnis mit den Spaniern, und sei es auch nur ein zeitweiliges, häufig die
Feindschaft anderer indigener Gruppen ein.
Aus den Quellen geht hervor, dass die Krone auf die Mitarbeit der
indios amigos
angewiesen war, ohne ihnen jedoch ein festes Vertrauen
entgegenzubringen. Zudem begünstigte der Kontakt, den die jeweils
verpflichteten
indios amigos
mit den indigenen Gruppen jenseits der Grenze
pflegten, indirekt auch den Handel innerhalb des uneroberten Territoriums
selbst. Viele
indios amigos
nutzten die Gelegenheit während ihrer gemeinsamen
Streifzüge mit den Spaniern ins Hinterland und brachten ihren Verwandten und
Freunden Waffen, Werkzeuge und Pferde mit.
11
Die steigende Nachfrage nach
europäischen Waren im Inneren des nicht unterworfenen Gebietes stellte aber
letztlich auch ein wichtiges Bindeglied dar und bot zusätzliche Kontaktpunkte,
die der Durchsetzung des spanischen Herrschaftsanspruches den Weg bereiten
konnten.
Aus einem anderen Blickwinkel heraus betrachtet kann die Bereitschaft der
Indigenen zu „Freunden der Krone“ zu werden zweifelsfrei auch als strategische
Antwort auf ihre Situation inmitten einer doppelten Konfrontation zwischen
Spaniern auf der einen und feindlich gesinnten indigenen Gruppen auf der
anderen Seite gesehen werden. Aus Sicht der Missionare des Franziskanerordens
war der Freundschaft der „Indios“ nicht zu trauen: „eine wirkliche Freundschaft
wird es nie geben, denn sie dauert nur an, solange Interesse besteht“.
12
Für die
Indigenen galt ihrerseits, dass die „Freunde der Spanier“ die Bräuche und Sitten
ihrer eigenen Gesellschaft missachteten, um sich selbst einen Vorteil zu
verschaffen. Die zu
indios amigos
gewordenen Kaziken wurden von den
restlichen Gruppen als gierig und habsüchtig verurteilt, wie Boccara zuletzt
anhand eines Vorfalls gegen Ende des 17. Jahrhunderts dokumentiert hat, als
einige Kaziken ein Komplott gegen andere, den Spaniern freundlich gesinnte
Kaziken, schmiedeten.
13
Während „Freundschaft“ von der Krone als ein Mittel zur Erfassung und
Unterwerfung benutzt wurde, handelt es sich doch zusätzlich auch um eine
10
Andrea Ruíz-Esquide Figeroa: Los indios amigos en la frontera araucana. Santiago de
Chile 1993, S. 14.
11
Cerda Pincheira Hegerl: Fronteras del sur, S. 87.
12
"no podrá verificarse jamás una amistad verdadera, porque esta dura mientras dura el
interés” Archivo Franciscano de Chile (AFCH), Sección Chillán, Fondo Asuntos Varios
(FAV), Vol. 0, f. 27. Descripción del obispado de la Concepción, 1776. Alle Zitate aus
diesem Artikel wurden an die moderne Ortographie angepasst.
13
Guillaume Boccara: Los Vencedores. Historia del pueblo mapuche en la historia
colonial. Antofagasta 2007, S. 145-146.
117Die ‚Indios Amigos’
119
Kategorie, die den subjektiven Raum der Person umfängt und in ihr kulturelles
Sein eingreift. Aus diesem Grund war der Gebrauch kultureller Faktoren so
wichtig, unter denen die Macht der Gefälligkeiten und der Belohnungen als eine
Form der Überzeugung besonders hervortrat.
14
Unter dem Deckmantel der
Belohnung verbarg sich stets Überzeugungskraft oder Zwang
15
, und nur so lässt
sich erklären, warum eine Kolonialmacht über einen eigenen
Verwaltungsbereich für „Geschenke“, den
ramo de agasajos
, verfügte, die für
die noch nicht unterworfenen indigenen Gruppen bestimmt waren. Einerseits
waren die Geschenke und Ehrerbietungen an die
indios amigos
Teil einer
Strategie, die Symbole und Rituale als Medium für ihren Herrschaftsanspruch
gebrauchte. Andererseits implizierten diese auch eine interkulturelle
Kommunikation, innerhalb derer die dominante Gruppe sich bewusst machen
musste, welche Art von Austausch von der Gruppe, die sie zu unterwerfen
trachtete, gewünscht und akzeptiert wurde. Aus welchen Beweggründen aber
nahmen die Indigenen die Geschenke entgegen?
Es bleibt eine umfangreiche und komplizierte Aufgabe, die Rolle der
indios amigos
während der Zeit der bourbonischen Reformen darzulegen, da die
indigenen Gruppen, die ein außerordentlich großes und geografisch höchst
diverses Territorium bewohnten, eine
multikephale16
Gesellschaftsstruktur
aufwiesen. Zunächst soll aber erst einmal die Situation der Indigenen an der
Südgrenze Chiles genauer dargestellt werden. Im Folgenden wird daher die
Bedeutung der
Fuertes
und der
Plazas Fuertes
als Orte der Begegnung
analysiert, an denen die Politik der „Freundschaftsgewinnung“ verwirklicht
werden sollte.
14
Eugenio Alcamán: Los Mapuche - huilliche. Del Futahuillimapu septentrional:
expansión colonial, guerras internas y alianzas políticas (1750 - 1792). In: Revista de Historia
Indígena Nr.2 (1997), S. 29–75, S. 44.
15
Eduardo Cavieres: Frontera y Marginalidad: otra lectura de la relación centro - periferia.
El Camino Valdivia-Chiloé. In: Julio Retamal Ávila (Hg.): Estudios Coloniales. Santiago
2000, S. 238.
16
Der Begriff “multikephale Gesellschaftsstruktur” stammt von Guillaume Boccara. Er
erklärt “multikephale” Organisationsstrukturen als Strukturen, die “hierarchisiert sind nach
ihrer Funktion von Mechanismen multipler Verständigung, die durch Imperative der Identität,
Wirtschaft und des Krieges determiniert werden und nicht trennbar voneinander sind.”
Guillaume Boccara: Los Vencedores, S. 32; Tom D. Dillehay: Monuments, empires, and
resistance. The Araucanian polity and ritual narratives. Cambridge 2007, S. 18, S. 337.
118
120
Mónika Contreras Saiz
DER FUERTE UND DIE PLAZA FUERTE
Abb. 1: Anonym (Alonso Villanueva Soberal?): Planta de la nueva población de Angól, 1637.
Quelle: Archivo General de Indias, Sevilla, MP-Perú-Chile, 23 - 1741,09,2.
Die militärischen Wehrbauten
fuertes
und die
plaza fuerte
wurden in den
Grenzzonen des kolonialen Herrschaftsbereiches errichtet. Umgeben von einem
Festungsgraben bewohnte das Militär dort geschlossene Gebäude. Die von
diesen Befestigungsanlagen markierte Verteidigungslinie wurde von der
Kolonialverwaltung offiziell als „Grenze“ bezeichnet. Die
fuertes
wurden zwar
im Rahmen der kriegerischen Auseinandersetzungen im Grenzgebiet errichtet,
jedoch wurden viele von ihnen ab der Mitte des 17. Jahrhunderts und
insbesondere während der bourbonischen Reformen in urbane Zentren
umgewandelt, mit dem Ziel, die in der Umgebung verstreut lebende ländliche
Bevölkerung zusammenzuführen.
17
Um die Kontrolle der Flussüberquerungen
zu gewährleisten, waren die
fuertes
meist an den Furten oder an anderen zur
Überquerung geeigneten Stellen des Biobío gelegen.
18
17
Der Gouverneur Amat y Juniet verwandelte die Festungen (
fuertes
) von Nacimiento und
Santa Juana, Hualqui und Santa Bárbara in Städte (
villas
). Sein Nachfolger Guill y Gonzaga
tat dasselbe mit den
fuertes
San Luis Gonzaga de Rere, Tucapel und San Carlos de Yumbel.
Cerda Pincheira Hegerl: Fronteras del sur, S. 72.
18
Ebenda, S. 63.
119Die ‚Indios Amigos’
121
Die spanischen
fuertes
in Chile waren im Zuge des “Arauco-Krieges”
errichtet worden, wurden allerdings in einem Bericht von 1785 als in einem
dürftigen und schwachen Zustand beschrieben.
19
Tatsächlich waren nur wenige
spanische Soldaten dort stationiert, die jedoch von einer bemerkenswert hohen
Anzahl an
indios amigos
unterstützt wurden. die in den umliegenden Missionen
angesiedelt und den spanischen Offizieren und Missionaren unterstellt waren.
20
Obwohl die
fuertes
und die
plazas fuertes
im 18. Jahrhundert mehr einer
defensiven als einer offensiven Militärpolitik dienten, war der Krone dennoch
daran gelegen, ihre Wehranlagen ebenfalls als ein Mittel zur Durchdringung des
Hinterlandes zu nutzen, sei es um strategische Plätze zu kontrollieren,
21
oder um
einen Kontakt mit unabhängigen indigenen Gruppen herzustellen. Die
fuertes
an
der Küste befanden sich in einem vergleichsweise besseren Zustand, da sie
jederzeit für den Einfall europäischer Feinde gewappnet sein mussten.
22
Die
Plaza Fuerte
, architektonisch auch als
castillo
bezeichnet, war ein meist
viereckiges Kastell mit vier oder mehr Schutzwehren
23
. Der in den Quellen
häufig wiederkehrende Begriff der
plazas∗
ist im militärischen Sprachgebrauch
eine Bezeichnung für „Städte“, und in der Tat handelt es sich hierbei um kleine
Zitadellen, die im Grenzgebiet als Zentren der lokalen Machtausübung
aufgefasst werden können. Derselbe Beamte, der im Jahr 1785 den Bericht über
die
fuertes
verfasste, hielt zudem fest, dass die
plazas
den Ursprung vieler Städte
bildeten.
24
19
ANCH, Fondo Antiguo, (FA), Vol. 32, f.44. Leandro Badarán: Copia del informe sobre
las plazas fuertes de la frontera austral de Chile, 1785.
20
Obregón Iturra: Concepciones hispanas en torno a un territorio disputado en Chile, S. 79
21 Ebenda, S. 86.
22
Ebenda.
23
Gabriel Guarda: Historia de la iglesia en Valdivia. Valdivia 2000, S. 105.
∗
Im Folgenden bezeichne ich die
Plaza Fuerte
als
plaza
.
24
ANCH, FA, Vol. 32, f. 44.
120
122
Mónika Contreras Saiz
Abb. 2: Anonym: Plaza de Tucapel, 1755. Quelle: Archivo Nacional, Santiago.
Die
plaza
erhielt ihre Bedeutung als Schauplatz des Zusammentreffens
diverser Institutionen und Akteure, die zwischen der Krone und den Indigenen
vermittelten. Missionen wurden in der Umgebung einer
plaza
gegründet, und
auch all die militärischen und zivilen Rangträger, die zur Steuerung der
121Die ‚Indios Amigos’
123
indigenen Bevölkerungen ernannt wurden, agierten von den
fuertes
und den
plazas
aus: die
capitanes de amigos
, der
comisario de naciones
und die
lenguaraces
(Dolmetscher). Insbesondere der Aufbau der Franziskaner-
missionen wurde mithilfe der
fuertes
erleichtert. Der Unterweisung in den
katholischen Glaubensdoktrinen sollte durch eine regelmäßige Anwesenheits-
pflicht in den Festungen Vorschub geleistet werden
25
, wobei dem
capitán de amigos
die Aufgabe zukam, für eine Teilnahme der Indigenen am Gebet zu
sorgen und ihre Arbeitsdienste für die Spanier zu koordinieren.
26
Neben der Institution der
parlamentos
bildeten der
fuerte
und die
plaza
auch
eine Plattform, um gegenüber den Indios „die Freundschaft der Krone zu
beweisen“:
„Der Kommandant der
plazade los Ángeles
teilt mit, dass die häufigen Überquerungen der
Andenpässe durch die Pehuenche den Kommandanten der dort befindlichen Wehranlagen
Príncipe Carlos und Vallenar einige unabdingbare Kosten für die Ehrerweisung dieser und
ihrer Anführer verursachen, da es Brauch ist,
zum Beweis unserer Freundschaft
ein Glas
Wein oder Fleisch anzubieten, und da hier weder Steuerabgaben noch andere Mittel für diese
Ausgaben zur Verfügung stehen, erscheint es mir angemessen, die drei
Pesos
und ein
Real
,
die der
plaza de Tucapel
für diesen Zweck monatlich zustehen, je zur Hälfte den genannten
fuertes
zukommen zu lassen, da in letzterem keine Indios auf der Durchreise festzustellen
sind.“
27
Ein weiteres wichtiges Charakteristikum der
fuertes
und
plazas
ist ihre Rolle
als Ort der Entwicklung einer hispanokreolisch- mestizischen Gesellschaft im
Inneren des indigenen Territoriums. Die große Anzahl an Mestizen wurde von
Pater Fray Francisco Alday und anderen Missionaren der Franziskaner
hervorgehoben, die die schlechte Behandlung der Indigenen durch die Mestizen
für deren kriegerisches Auftreten verantwortlich machten. Die Präsenz der
mestizischen Bevölkerung an der Südgrenze Chiles ist ein Streitpunkt innerhalb
der Historiographie, die sich mit dem Gebiet auseinandersetzt. Die Debatte
kreist um den zentralen Fragenkomplex, ob es dort wirklich ein friedliches
Zusammenleben gab, und wie der Einfluss der Mestizenbevölkerung auf die
25
María Pía Poblete S.: Misiones franciscanas en valdivia: cartas de fray Antonio
Hernández Calzada (1823-1844). Santiago de Chile 2007, S. 13.
26
Ebenda.
27
Eigene Hervorhebung. “El comandante de plaza de los Ángeles dice que la continua
salida de Peguenches por los precisos pasos de las cordilleras, en que se hallan situados los
fortines del Príncipe Carlos y Vallenar, originan a sus comandantes algunos gastos
indispensables en obsequio de los y demás indios de respeto, a quien es costumbre darles un
trago de vino, o carne en demostración de nuestra amistad, y como aquí no hay arbitrio ni
fondo para este gasto me parecería conveniente que los tres pesos un real que tiene mensuales
para este efecto, la plaza de Tucapel se traslade por mitad a dichos fuertes, respecto que a ella
no se verifica salida alguna de indios." In: ANCH, Fondo Capitanía General (CG) Vol. 636. f.
60.
122
124
Mónika Contreras Saiz
Entwicklung der Beziehungen zwischen den Indigenen und der Krone
einzuschätzen ist. Ein neuerer Forschungsansatz schlägt etwa eine Chronologie
vor, nach der die Grenzbeziehungen in zwei Perioden zu unterteilen sind: Im
Zeitraum von 1536 bis 1655 herrschten demnach kriegerische Auseinander-
setzungen vor, während der Zeitraum von 1655 bis 1883 als eine Phase
friedlichen Zusammenlebens interpretiert wird. Die zentrale These dieses
Ansatzes gründet auf der Interpretation, dass die
reche
-Bevölkerung nicht
gewaltsam dezimiert wurde, sondern in einem fortschreitenden Prozess von
einer überlegenen Gesellschaft und Kultur während der republikanischen
Epoche assimiliert wurde, und das die
reche
-Gesellschaft ihrerseits technisch
und kulturell überlegene Güter inkorporierte. Mit anderen Worten, die Indigenen
widerstanden zwar den Streitkräften, jedoch nicht der westlichen Zivilisation.
Luz María Méndez betont etwa, dass die bourbonische Politik der
Zusammenführung von Indigenen in Dörfern von den Indigenen akzeptiert
wurde, da die „Kreolen und Indigenen eine Form des Zusammenlebens und
einen Grad gegenseitiger Kenntnis erreicht hatten, dass der Gouverneur sein
Vorhaben ihrer Zusammenführung in Dörfern mit aller Ernsthaftigkeit planen
und durchführen konnte“
28
. Diese Darstellung wird von Patricia Cerda bestätigt,
die den sozialen Charakter der
fuertes
hervorhebt, und zeigt, wie diese Orte die
Bedingungen für die Bildung einer mestizischen Gesellschaft schufen. Sie
versichert, dass dort mit den nicht unterworfenen Indigenen friedliche
Beziehungen aufgebaut wurden.
29
Als wesentlicher Kritikpunkt an diesem Ansatz wird von Autoren wie
Guillaume Boccara und Rolf Foester angeführt, dass nach dieser Deutungsweise
die Indigenen während des Assimiliationsprozesses unsichtbar gemacht und ihre
eigenen Defensivkräfte und Aktivitäten ignoriert werden. Zudem werden bei
dieser Sichtweise der Anspruch auf Herrschaft der dominanten
Mestizengesellschaft verneint und die Grenzbeziehungen auf ein friedliches
Zusammenleben reduziert, was dem Konzept der
frontier
an sich widerspricht.
Es ist bekannt, dass die Militärs, die ausgehend von der
plaza
und des
fuerte
zwischen den Indigenen und dem Staat zu vermitteln hatten, sowohl die Sprache
der Indigenen beherrschten, als auch sehr genaue Kenntnisse über deren Gebiete
besaßen. Wie wäre dies ohne eine kontinuierliche Interaktion beider Seiten
möglich gewesen? Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang auch die
28
“criollos e indígenas, habían logrado una convivencia y un grado de conocimiento
mutuo, que el gobernador pudo programar y realizar con toda seriedad su proyecto de
agruparlos en pueblos”. Méndez: Relación anónima de los levantamientos de indios, S. 172.
29
Cerda Pincheira Hegerl: Fronteras del sur, S. 62.
123Die ‚Indios Amigos’
125
Handelsbeziehungen zwischen den Angehörigen des Militärs und den
Indigenen.
„Im Verlauf des 18. Jahrhunderts erkoren viele Soldaten zusammen mit ihren mestizischen
Familien die Landwirtschaft und den Handel mit den Indigenen zu ihrer Hauptbeschäftigung
und vernachlässigten dabei oft ihre militärischen Pflichten. Indem sich die
fuertes
in einen Ort
des kommerziellen und kulturellen Austauschs zwischen beiden Gesellschaften verwandelten,
florierte in Chile der Handelsverkehr und weitete sich bis in die Provinzen von Tucumán,
Paraguay und Buenos Aires aus“.
30
Im Zusammenhang mit der Entwicklung der mestizischen Gesellschaft im
Inneren des indigenen Gebietes gewann der Herrschaftsanspruch der Krone
einen neuen Aspekt hinzu und neue Möglichkeiten der Durchdringung
eröffneten sich, zu denen die erwähnten Handelsbeziehungen zählten.
31
An
ihrem Aufbau waren die Angehörigen des Militärs stark beteiligt, die zu einem
großen Teil als Händler, so genannte
conchavadores
, tätig wurden. Der
fuerte
stellteals zentraler Handelsknotenpunkt ein bedeutendes Kontaktforum dar,
32
und die Soldaten schlossen sich dort den Expeditionen der Krämer und
Kleinhändler an, um in die indigenen Gebiete vorzudringen und mit
überwiegend billigem Trödel Handel zu treiben. „Wenn aus dem militärischen
Beruf ein Vorteil zu ziehen war, so war es dieser: die Gelegenheit“.
33
Mithilfe
des Handels eröffnete sich zudem ein Weg, die "Freundschaft“ der Indigenen zu
erlangen und tatsächlich werden die Händler in den Anordnungen der
plaza de Valdivia
als „Mittel um die Freundschaft mit den Indios zu festigen, ihre Gunst
zu erwerben und sie in ein geordneteres und sogar christliches Leben
einzuführen“
34
gewürdigt.
Nach der Unabhängigkeit gewann der
fuerte
als Standort lokaler
Machtausübung seine ursprünglich militärische Ausrichtung in größerem
Umfang wieder zurück. Im Zeitraum von 1872 bis 1881, dem Jahr in dem der
30
“Durante el siglo XVIII muchos soldados y sus familias mestizas llegaron a hacer de la
agricultura y del comercio con los indígenas su actividad principal, abandonando a menudo la
actividad militar. Los fuertes se convirtieron en un punto de contacto comercial y cultural
entre ambas sociedades, así floreció en Chile el tráfico comercial que se extendió hasta las
provincias de Tucumán, Paraguay y Buenos Aires” Cerda Pincheira Hegerl: Fronteras del sur,
S. 89.
31
Obregón Iturra: Concepciones hispanas en torno a un territorio disputado en Chile, S.
86.
32
Cavieres: Frontera y Marginalidad, S. 122-123.
33
“Si alguna ventaja daba el oficio militar era esa: la oportunidad”. Gustavo Favéron
Patriau: Rebeldes. Sublevaciones indígenas y naciones emergentes en Hispanoamérica en el
siglo XVIII. Madrid 2006, S. 44.
34
“medio de asegurar la amistad de los indios, solicitarlos y entablar con ellos vida más
regular y aún cristiana”. Alcamán: Los Mapuche – huilliche, S. 42.
124
126
Mónika Contreras Saiz
letzte
fuerte
in dieser lange Zeit uneroberten Region errichtet wurde, gelang es
mit seiner Hilfe die Grenze weiter voranzutreiben.
DER FALL DES RÍO BUENO
Bei der im Folgenden dargestellten Fallstudie über den Ort
Río Bueno
handelt
es sich um eine Rekonstruktion der Geschehnisse zwischen 1759 und 1796 in
der Region südlich von Valdivia, die von den
reches del sur35
bewohnt wurde,
jener Bevölkerungsgruppen, die als Vorfahren der heutigen Mapuche gelten und
die von den Spaniern
huilliches
genannt wurden. Der Einflussbereich Valdivias
erstreckte sich am Ende des 18. Jahrhunderts über die Region zwischen dem
Fluss
Toltén
im Norden und dem Fluss
Bueno
im Süden. Dennoch blieb die
wirksame Kontrolle im Jahr 1782 auf ein sehr viel kleineres Gebiet beschränkt.
Die den
Río Bueno
umgebenden Gebiete bildeten die Südgrenze Valdivias.
Innerhalb dieses Raumes hatte sich der Handel der
conchavadores
bereits in der
Mitte des 18. Jahrhunderts intensiviert; wie bereits erwähnt, spielten dabei die
capitanes de amigos
eine bedeutende Rolle; gleichermaßen war die spanische
Expansionspolitik nach und nach vorangeschritten.
36
Der Krone war sehr daran
gelegen die Stadt Osorno neu zu gründen, die Herrschaft über die angrenzenden
Gebiete zu konsolidieren und den Handel zwischen der Plaza de Valdivia und
der Provinz Chiloé zu ermöglichen.
37
Da zur Durchführung dieses Vorhabens
die persönlichen Verhandlungen mit den Indigenen von entscheidender
Bedeutung waren, erhöhte der Gouverneur Antonio de Guill y Gonzaga (1762 -
1768) in jenem Zeitraum die Anzahl der
capitanes de amigos
und die der
Dolmetscher und stattete ihre Ämter mit den nötigen Geldmitteln aus.
38
35
“Reche” ist das Wort in mapudungun (“Sprache der Erde”, Name der Sprache der
Indigenen, die heute als Mapuche bekannt sind), mit dem sich die Vorfahren der Mapuche
selbst benannten. So bestätigen es Arbeiten der jesuitischen Missionare Luis de Valdivia
(1606), Andrés Febrés (1765) und Bernardo Havestadt (1777) über die Sprache mapudungun.
Die Forscher Guillaume Boccara, Gilberto Sánchez und Horacio Zapater haben dieses Thema
noch ausführlicher behandelt. Boccara: Los Vencedores, S. 15; Gilberto Sánchez: “¿Cómo se
autodenominaban los mapuche y cómo llamaban a su suelo natal (patria, país) y a su lengua,
durante la colonia?”, In: Revista de Historia Indígena Nr. 10 (2007), S. 7-28, S. 15-16.;
Horacio Zapater: La búsqueda de la paz en la guerra del Arauco: padre Luis de Valdivia,
Santiago 1992, S. 128 (zitiert nach Boccara).
36
Ebenda, S. 52.
37
Cavieres: Frontera y Marginalidad, S. 232.
38
Favéron Patriau: Rebeldes, S. 51.
125Die ‚Indios Amigos’
127
Abb. 3
Karte von Chile
mit dem ungefähren Verlauf des Landweges zwischen Valdivia
und Chiloe
126
128
Mónika Contreras Saiz
a. Schutzleistungen für die Indigenen
Die ersten Anzeichen der expansiven Politik machten sich im Jahr 1758
bemerkbar, als sich der
lonko
(„Kazike“ in der Sprache Mapudungun
)
Huarán
aus der Ebene des
Río Bueno
in die Stadt Valdivia begab, um von Ambrosio
Sáez de Bustamante “Hilfe seitens der Spanier zur Verteidigung gegen ihre
Feinde
, die juncos,
” zu erbitten und im Gegenzug “Land zur Besiedelung
anzubieten und Missionaren, die sie unterrichten würden,” die Gewähr zu
erteilen. Die Spanier kamen der Bitte nach indem sie den
fuerte Río Bueno
errichteten.
39
Jener Zeitpunkt wird in der Forschung als der Beginn der
politischen und territorialen Unterordnung der
reches del sur
angesehen. Die
Vereinbarungen beinhalteten die Einrichtung neuer Missionen im Gebiet südlich
des
Río Bueno
, die gemeinsam mit der Neugründung der Stadt Osorno 1792 zur
Konsolidierung der spanischen Herrschaft in diesem Gebiet beitrugen.
40
Die drei
Hauptelemente spanischer Machtausübung - Festung, Siedlung und Mission –
wurden durchgeführt. Doch geschah dies wirklich auf Wunsch der Indigenen?
Es gibt zahlreiche Belege für Fälle, in denen die Indigenen den Schutz der
Krone erbaten. Dies war zum Teil einem der zentralen Probleme der
Regierbarkeit im Inneren des
reche
-Gebietes geschuldet: den Konflikten und
Rivalitäten zwischen den einflussreichen
reche
-Familien, den so genannten
linajes.
Der Bericht eines Missionars des Franziskanerordens gibt Aufschluss
über die Situation:
“[...] es ist bekannt, dass der einzige Beweggrund, den diejenigen Indios besaßen, die die
Ankunft der Spanier in ihren Gebieten wünschten, in der Angst vor ihren Feinden zu suchen
ist, und dass ihr Motiv, dem Bau des
fuerte
zuzustimmen, nur dem Wunsch entsprach, in
Frieden zu leben, frei von den
malocas∗
und ständigen Feindseligkeiten, die sie alle Tage von
ihren Nachbarn zu erleiden hatten, und sie sich auf diese Weise die Hilfe der Spanier bei
jeglichen Vorkommnissen erhofften[...] so dass jener
fuerte
unter der Abmachung und der
ausdrücklichen Bedingung errichtet wurde, dass die Spanier sie vor den Invasionen ihrer
Feinde zu schützen hätten.”
41
39
“auxilio de españoles que los sostuviesen contra las incursiones de sus enemigos los
juncos, ofreciendo tierras en que poblarse y demandado misioneros que los doctrinasen”,
Alcamán: Los Mapuche – huilliche, S. 40.
40
Poblete: Misiones franciscanas en Valdivia, S. 13.
∗
Im Originaldokument unterstrichen.
Maloca
ist der indigene Begriff für einen
bewaffneten Streifzug. Die Bezeichnung wurde von den Spaniern übernommen und auf ihre
eigenen kriegerischen Expeditionen in das Territorium der
reche
angewendet.
41
"no hay cosa más sabida, como que el único motivo que tuvieron aquellos indios de
pedir fuesen españoles a sus tierras, fue el miedo que tenían concebido a sus enemigos, y que
todo su fin para consentir que se estableciere el fuerte, no fue otro que el deseo de vivir con
sosiego libres de las Malocas∗ u hostilidades repentinas que todos días experimentaban de sus
vecinos, esperando por este medio ser auxiliados de los españoles en cualquier
acontecimiento… de modo que dicho fuerte se puso con pacto y condición expresa de que los
127Die ‚Indios Amigos’
129
Der
fuerte
wurde zwar auf den von den Indigenen zur Verfügung gestellten
Ländereien errichtet, die spanische Krone erfüllte jedoch ihre Seite des
Vertrages hinsichtlich des Schutzes der
reche
nicht. Bereits bei dem ersten
Hilfegesuch brach der Pakt auseinander, denn obwohl die Krone eine Garnison
zum Schutz der
reche
schickte, eröffnete die königliche Garde bei dem ersten
Angriff nicht das Feuer und ließ damit zu, dass den verbündeten Indigenen ein
Großteil ihres Besitzes geraubt wurde. Die Krone entschied sich zu dieser
Handlungsweise, da sie nicht zu Gunsten einer
linaje
intervenieren wollte,
sondern es vorzog sich alle verschiedenen
linajes
“zum Freund zu machen”, um
ihre Ziele zu erreichen.
Diese Art von Hilfegesuchen bot den Militärs und der Krone jedenfalls
Gelegenheit, in die Belange der
reche
einzugreifen. Den Festungs-
kommandanten kamen solche Abmachungen ohnehin sehr entgegen, da sie ihrer
„
plaza
mehr Handel und eine bessere Versorgung mit Vieh ermöglichten“.
42
Die
lonkos
der
reche
sahen in “ihren Freunden”, den Spaniern, mithin nicht nur eine
Art Schutzmacht, sondern baten die Spanier darüber hinaus auch, sie bei den
Überfällen auf ihre internen Rivalen zu begleiten.
43
.
Im Zusammenhang mit dem geplanten Wiederaufbau der Siedlungen südlich
des Flusses Bíobío berichtete ein
capitán de amigos
:
„der alte Kazike äußerte sein großes Verlangen danach, jene plaza principal wiederaufgebaut
zu sehen und versprach sich von dem Anblick der vollendeten Festung großen Trost, denn die
Erfahrung seiner vielen Lebensjahre hatte ihm gezeigt, dass die Indios ohne die Hilfe der
Spanier keine Linderung erleben konnten“.
44
Dennoch wurde den Kaziken des
Río Bueno
rasch bewusst, dass eine der
größeren Unannehmlichkeiten des “Schutzes” der Krone in der zunehmenden
Ausbreitung von Mestizen bestand, die mit der sozialen Entwicklung der
fuertes
eng verbunden war. Der Franziskanerpater Alday hielt bezüglich des
Zusammenlebens der Spanier mit den Indigenen eine weitere Beobachtung fest:
“Es ist wahr, dass während die Indios ihre Freiheit bewahren und nur einen spärlichen
politischen Umgang mit den Spaniern pflegen, sie mit der größten wünschbaren Ehrerbietung,
Höflichkeit und dem größten Respekt behandelt werden. Mit jenen Versprechungen,
Schmeicheleien, guten Manieren und soviel edler Art von Vernunft, die man von den
españoles habían de defenderlos de las invasiones de sus enemigos.” AFCH, Chillán, AV,
Vol. 0. ff. 51-62. Fray Francisco Alday: Manifiesto del Alzamiento de los indios de Valdivia,
1792.
42
Alcamán: Los Mapuche – huilliche, S. 44.
43
Ebenda.
44
"exponiendo dicho cacique anciano el grande deseo que tenía de ver reedificada aquella
principal plaza, y el grande consuelo que de verlo cumplido resultaría, pues la experiencia de
sus muchos años le enseñaba no podían los indios vivir con alivio sin el arrimo de los
españoles". Méndez: Relación anónima de los levantamientos de indios, S. 180.
128
130
Mónika Contreras Saiz
Spaniern erwarten kann; doch von all dem lassen sie ab, sobald die Ländereien freigegeben
sind und ihnen Zutritt zu ihnen gewährt wurde.”
45
In einem anderen Bericht über den Zustand der Grenze fügte der Militär
Leandro Badarán hinzu:
“[...] am tauglichsten zur Bekämpfung (der Indios) sind jene Milizen, deren Mitglieder in
denselben Grenzgebieten und nahe gelegenen Provinzen geborenen wurden und
aufgewachsenen sind, die ihnen gleich sind und sie an Eifer, Geschicklichkeit und Reitkunst
übertreffen, und deren Erfahrung ihnen einen gewissen Einfluss eingebracht hat"
46
.
Das Konfliktpotenzial im Zusammenleben von spanischer, mestizischer und
indigener Bevölkerung, auf das in den vorangegangenen Kommentaren
hingewiesen wird, hat dazu beigetragen, die zitierte Hauptthese der
Historiografie, nach der an den befestigten Grenzposten friedliche Beziehungen
vorgeherrscht hätten, in einem anderen Licht zu betrachten. Wenn die Kaziken
den “Schutz” der Krone suchten, nutzte diese jedenfalls die Gelegenheit nicht
nur, um neue Festungen im
reche
- Territorium zu errichten, sondern auch um
ihre Siedlungspolitik auf jene Gebiete auszuweiten. Mit dieser Vorgehensweise,
die implizit dem alten Motto „Regieren ist Bevölkern“ (
gobernar es poblar
) der
spanischen Kolonialmacht folgte, verband sich zudem die Vorstellung, dass eine
Zusammenführung der indigenen Bevölkerung an einem bestimmten Ort auch
ihre Kontrolle erleichtern würde und damit „der Friede gefestigt werde”.
47b. Der Bau des Verkehrsweges zwischen Valdivia und Chiloé
Das Fehlen eines Verbindungsweges zwischen Chiloé und Valdivia stellte in
der Mitte des 18. Jahrhunderts ein gravierendes Sicherheitsproblem für die
Krone dar. Vernachlässigte sie die Südgrenze ihres Territoriums, hatte sie mit
der wiederkehrenden Bedrohung durch englische und holländische Piraten zu
rechnen. Aus diesem Grund war eine Verlegung der Missionen geplant, um sich
auf „der anderen Seite des Río Bueno“ niederzulassen, denn wie die
Franziskaner in einem Bericht von 1776 bestätigten, „wurde jene Verbindung
schon immer erhofft, aber nie versucht, in dem Glauben, dass das ganze Gebiet
45
“Lo cierto es que mientras los indios se mantienen en su libertad sin admitir, más que un
escaso trato político con los españoles son tratados con el mayor agasajo, respecto y
urbanidad que es deseable. Allí con las promesas, las caricias, los buenos modos y toda cuanta
buena forma de racionalidad puede desearse de la nación española; pero todo esto se acaba en
ellos luego en el punto que franquician las tierras y los admiten en ellas.” AFCH, Chillán,
FAV, Vol. 0. ff. 51-62.
46
"..los más adecuados para reprimirlos (a los indios) son las mismas milicias de los
nacidos y criados en aquellas fronteras y provincias de su inmediación, que les igualan y
exceden en el brío, agilidad y destreza en el manejo de los caballos, y que en realidad la
experiencia les han hecho cierta especie de ascendiente”. ANCH, FA, Vol. 21. f.12v.
47
AFCH, Chillán,AV, Vol 0. f. 27.
129Die ‚Indios Amigos’
131
von Ungläubigen bewohnt ist, die sich einer Überquerung widersetzen würden“.
Gleichzeitig wurde jedoch auch festgehalten, dass „jene diesem
Regierungsbezirk unterstellten Indios [die indigene Bevölkerung des Río Bueno]
eine bessere Veranlagung und Fähigkeit besitzen, den christlichen Glauben
ernsthaft anzunehmen, als die an der Grenze zu Concepción, südlich des Bíobío
[die
reche central
, die zu jener Zeit
araucanos
genannt wurden].“
48
Um mit
dem Bau des Weges beginnen zu können, nutzte die Krone die Schutzgesuche
der Indigenen und trieb den Bau von Festungenund die Gründung von
Missionen in dem Gebiet voran.
Missionen Gründungsjahr
Valdivia 1769
Mariquina 1769
Arique 1776
Niebla 1777
Nanihue 1777
Quinchilca 1778
Río Bueno 1778
Dallipulli 1787
Cudico 1788
Abb. 4:
Missionsgründungen zwischen dem Río Toltén und dem Río Bueno. Nach Roberto
Lagos: Historia de las misiones del Colegio de Chillán. Barcelona 1908, S. 373.
Im Zeitraum zwischen 1781 und 1782 reagierten die
reche
des
Río Bueno auf
die Übergriffe der Soldaten der
fuertes
, indem sie sich mit anderen indigenen
Gruppen, darunter auch solche, die als ihre Feinde eingestuft wurden,
verbündeten, und planten die Zerstörung der jüngst errichteten Festungen. Der
Aufstand wurde letztendlich zwar nicht durchgeführt, angesichts der Bedrohung
entschied die lokale Verwaltung dennoch, die Besatzung der Festung
Río Bueno
abzuziehen, um Ausschreitungen zu verhindern und die Indigenen zu beruhigen;
das Vorhaben der Konstruktion eines Verbindungsweges konnte so weiter
verfolgt werden und die Missionen vor Ort bleiben.
Vor diesem Hintergrund befahl die Krone im Jahr 1784 dem Intendanten von
Chiloé in Zusammenarbeit mit Ambrosio O’Higgins, zu jener Zeit
Oberbefehlshaber der Grenzgarnisonen (
comandante de fronteras)
, die
Erschließung des Weges von Chiloé aus in Richtung Valdivia durchzuführen,
wobei hinsichtlich der Bewohner der Region südlich des Biobío „entweder
ihre
48
Ebenda, f.33.
130
132
Mónika Contreras Saiz
Freundschaft gewonnen
oder gegen sie Krieg geführt werden sollte“.
49
Der
Intendant von Chiloé entschied sich für den Krieg. Die lokalen Gouverneure
waren allerdings aufgrund ihrer Kenntnis der Indigenen überzeugt, dass ein
Kampf weniger Erfolg einbrächte als ihre Freundschaft. Als bestes Beispiel
kann der Gouverneur von Valdivia, Mariano Pusterla (1785 – 1791), gelten, der
wusste, wie wichtig es war, die Autorität und die Jurisdiktion der
lonkos
zu
respektieren, um ihre Unterstützung zu erhalten.
50
Um den Bau des Weges zu
ermöglichen war es notwendig, mit jedem einzelnen Kaziken der zu
durchquerenden Gebiete zu verhandeln. Die größte Schwierigkeit bestand darin,
dass zwischen einigen
lonkos
Feindschaften bestanden.
Die Missionare des Franziskanerordens waren die ersten, die beauftragt
wurden die
lonkos
zur Zusammenarbeit zu bewegen, und zu diesem Zweck
wurden 1787 die Mission
Daillipulli
und 1788 die Mission
Cudico
gegründet.
Nichtsdestotrotz trieben der Intendant und der
comandante de fronteras
von
Chiloé aus den Bau von
fuertes
innerhalb des Territoriums voran, ohne eine
Zustimmung der
reches del sur
abzuwarten, die zu diesem Zeitpunkt diesem
Vorhaben bereits ablehnend gegenüber standen. Angesichts dieser aggressiven
Politik verbündeten sich die vormals verfeindeten
lonkos
der
reche
aus der
Ebene der zerstörten Stadt Osorno, des Río Bueno und des Río Ranco, um vom
Gouverneur Valdivias ein
parlamento
zu erbitten, das im Jahr 1788 auch
tatsächlich angesetzt wurde. Bei diesem
parlamento
erbaten sie erneut den
Schutz der Krone vor anderen, ihnen feindlich gesinnten
reche
(den Gruppen
aus Quilacahuín und Rehue), und drangen weiterhin darauf, dass „sie von Chiloé
aus nicht mehr angegriffen würden“. Im Gegenzug waren sie bereit, die Ruinen
der Stadt Osorno zu übergeben und ihre „Zustimmung zur Freigabe des Weges
nach Chiloé“ zu geben. Ein Jahr später hielt der Gouverneur von Valdivia ein
weiteres
parlamento
mit den Indigenen von Quilacahuin und Rehue ab, um eine
Einstellung der Feindseligkeiten zwischen all jenen Gruppen zu erreichen, durch
deren Gebiete der Weg führen würde.
51
Aufgrund dieser Umstände verzögerte sich der Baubeginn des Weges
Valdivia-Chiloé bis Februar 1789. Im Mai des darauf folgenden Jahres notierte
der Fiskal in Santiago, dass die Erschließung des ehemaligen “
Camino de Osorno
“, der Valdivia mit Chiloé verband, zur größten Zufriedenheit vollendet
worden sei.
52
Die Überzeugungskunst, mit der die Zustimmung der
lonkos
49
Eigene Hervorhebung. “al modo de cultivar su amistad o de hacerles preciso la guerra”.
Alcamán: Los Mapuche – huilliche, S. 57.
50
Ebenda, S. 58.
51
Ebenda, S. 56.
52
Cavieres: Frontera y Marginalidad, S. 237.
131Die ‚Indios Amigos’
133
eingeholt wurde, basierte dabei offenbar auf den Kenntnissen des Gouverneurs
Pusterla vonValdivia über die Empfindlichkeiten der Indigenen, die „ängstlich
den Verlust ihrer Freiheit und eine Rückführung in die Knechtschaft fürchteten,
was seinerzeit auch den Generalaufstand
53
ausgelöst hat, den sie sich stets
vergegenwärtigen, weil die Erinnerung von einem zum anderen weitergegeben
wird…, und dass raue Umgangsformen sie schnell verärgern und sie sich zum
Schutz und ihrer Verteidigung versammeln lässt”.
54
Die Anerkennung der Autorität der
lonkos
war die Essenz des Plans von
Gouverneur Pusterla; die Zuweisungen von Sold und weiteren materiellen
Ehrerbietungen stellten komplementäre Handlungen mit demselben Ziel dar,
55
so dass Pusterla in der Folge von der königlichen Finanzverwaltung eine
Aufstockung jener Mittel verlangte, die zur Beschenkung und Ehrerbietung der
Indigenen vorgesehen waren, um sie für ihre Mitarbeit bei der Erschließung des
Weges zu entschädigen „und damit sie über einen größeren Anreiz zu seiner
Erhaltung verfügen“. Seinem Gesuch wurde stattgegeben und ab dem Jahr 1792
wurden lebenslange Zahlungen an diejenigen Kaziken geleistet, die zur
Zusammenarbeit bereit waren.
56c. Die Auseinandersetzungen zwischen Mestizen und Indigenen und die Personalpolitik
Trotz allem blieben die alten Probleme bestehen, die 1766 in einen Aufstand
und 1786 in einen versuchten Aufstand gemündet hatten. Am 22. und 26.
Oktober, sowie am 4. November 1792 kam es zu Erhebungen im Gebiet des Río
Bueno
57
, die von den indigenen Gruppen aus der Ebene des Ranco, Río Bueno
und Quilacahuín angeführt wurden, allerdings „gewaltsam von den spanischen
Kräften niedergeschlagen wurden“. Der Franiskanerpater Alday bestätigte, dass
“der derzeitige Aufstand kein kürzlich geschehenes Ereignis zum Anlass hat, sondern bereits
in den Anfängen, bzw. in den ersten Tagen der Niederlassung der Spanier
58
in der Ebene des
Río Bueno wurzelt und seitdem Tag für Tag bis zur Gegenwart gewachsen ist“.
59
53
Gemeint ist der Generalaufstand von 1598.
54
“recelosos de perder la libertad y que los quieran volver a la servidumbre que ocasionó
la sublevación general que tiene siempre presentes por tradición unos a otros… y que la
aspereza fácilmente los altera y reúne en su conservación y defensa”. Cavieres: Frontera y
Marginalidad, S. 238.
55
Alcamán: Los Mapuche – huilliche, S. 58.
56
Ebenda, S. 59.
57
AFCH, Chillán, AV, Vol 0. ff. 51–62.
58
Die Bezeichnung „Spanier“ umfasste ebenfalls die mestizische Bevölkerung.
59
AFCH, Chillán, AV, Vol 0. ff. 51–62.
132
134
Mónika Contreras Saiz
Die schlechte Stimmung unter den Indigenen war einerseits auf die
Missbräuche einer Vielzahl an Mestizen und Angehörigen des Militärs
zurückzuführen, die sich mittels der Errichtung von Festungen und dem
Vorrücken der Missionen in den Gebieten der Indigenen ausbreiteten.
Andererseits spielte ein Wechsel in der Lokalverwaltung von Valdivia eine
große Rolle, da Gouverneur Pusterla, der die Erschließung des Weges Chiloé -
Valdivia erfolgreich vermittelt hatte, „in guter Freundschaft“ verstarb und sein
Nachfolger nicht beabsichtigte, die gleichen „politischen Gewohnheiten“
aufrecht zu erhalten. Hinsichtlich dessen betonte Pater Fray Alday die
Wichtigkeit eines guten Umgangs mit den Autoritäten der
reche
, denn sobald
dieser vernachlässigt werde, wäre leicht ein weiterer Anlass für den Ausbruch
eines Aufstandes gegeben. Von einem indigenen Informanten erfuhr der
Gottesmann:
"als ich mich in jener Provinz aufhielt, hörte ich den Kaziken Callvungurir sagen, er
habe sich nach dem Tod des Herrn Pusterla aufgemacht um den neuen Gouverneur zu
besuchen, und als er darum bat, ihm die gleichen Ehren zuteil werden zu lassen, welche dem
Brauch nach
allenseinen Vorfahren (so ist bekannt) zuteil wurden, indem man bei ihrem Ein- und Auszug einen Kanonenschuss abfeuerte, wurde ihm dies verweigert
. Dass ihn
der Gouverneur zudem mit derartiger Schroffheit empfing, nahm er zum Anlass, nach Hause
zurückzukehren, ohne sich von Euer Ehren zu verabschieden […] aber sagte mir noch, er
habe verkünden lassen, was er [von den Spaniern] erwarte, und sollten diese keine
Kursänderung hinsichtlich ihres Verhaltens gegenüber den Indios vornehmen, so würden in
Kürze ihre Niederlassungen zerstört sein, wie wir es heute tatsächlich zu beklagen haben
[…]“.
60
Der Vergleich der Handlungen des Intendanten von Chiloé und des
Gouverneurs von Valdivia, die von Amts wegen beide einer regionalen Politik
verschrieben waren, zeigt im Hinblick auf ihren Umgang mit den Indigenen wie
die Praxis lokaler Politik, d.h. die Machtausübung in bestimmten Mikroräumen,
ganz entschieden von persönlichen Entscheidungen geprägt wurde.
An anderer Stelle beschreibt Pater Fray Alday:
“und wenn zusätzlich zu den Niederträchtigkeiten und Geringschätzungen, die die [indigenen]
Oberhäupter erlitten haben und erleiden, die Spanier, die sich auf jenen Ämtern festgesetzt
haben, ohne höhere Autorität als ihre eigenen Launen, die Indios auspeitschen lassen, weil sie
60
Eigene Hervorhebung. Die Klammersetzung wurde aus dem Originaldokument
übernommen. "pero estando yo por esta provincia oí decir que el cacique Callvungurir había
bajado a visitar al nuevo gobernador después de la muerte del Señor Purterla y que habiendo
pedido se hicieren los honores que eran costumbre hacerles, como a todos los antepasados (es
a saber) de dispararle a la entrada y salida un cañón, se le negó. Como también que le trató el
gobernador con tal aspereza, que tomó de esto motivo, para volverse a sus tierras sin
despedirse de sus señoría [...] pero me dijo el sujeto que dio noticia de lo esperado, que si los
españoles no mudaban de rumbo en el trato con aquellos indios, en breve se arruinarían sus
establecimientos, así hoy día lo lloramos […]”. Ebenda.
133Die ‚Indios Amigos’
135
ihnen ein Pferd oder eine Kuh gestohlen haben, wie ihr wohl wisst (wobei mancher das Maß
überzogen und mit dieser Tortur den Tod eines der ihrigen verursacht hat)“
61
.
Die Ausführungen des Paters Alday deuten auch auf eine andere Art von
Spannungen hin, einerseits zwischen den Missionaren und denjenigen Militärs,
die mit den Indigenen verhandelten, den
capitanes de amigos
, und andererseits
gab es Konflikte zwischen den Missionaren und der mestizischen Gesellschaft,
wie das folgende Zitat unterstreicht:
„Ach! Vater meiner Seele! Es fordert nicht unsere größte Anstrengung uns mit den Indios,
diesen barbarischen Heiden, herumschlagen zu müssen, sondern was die Bürde unseres Amtes
fast untragbar macht, ist die geringe Christlichkeit, das Fehlen jeglicher Manieren und das
völlig ruinöse Verhalten seitens der Spanier, deren Gesellschaft an jenen Orten entbehrlich
ist.“
62
Er klagte ebenso, dass es in der Mission des Río Bueno einen Offizier gebe,
„der anstatt die Indios dazu anzuhalten, die Doktrin mit folgsamem Gemüt anzuhören und den
Ermahnungen, die man ihnen vorträgt, den gehörigen Respekt zuteil werden zu lassen, die
Kühnheit besaß, in meiner Gegenwart dem Kaziken Theuqueguru, welcher zu jener Zeit
Gouverneur meiner Mission war, zu sagen er solle dem keinen Glauben schenken, was immer
er von den Missionaren und Spaniern gesagt bekäme, da wir alle ein Haufen Lügner seien“.
63
Auch Queypul, der
lonko
aus Río Bueno und Rädelsführer des Aufstandes
von 1792, habe “immer einen herzlichen Umgang mit den Padres” gepflegt, bis
er von den
capitanes de amigos
gegen die Missionare aufgebracht und „sie eine
vollständige Ablehnung der Missionare in sein Herz eingepflanzt hatten”.
64
Der Aufstand von 1792 führte schließlich zum Abschluss des
Friedensvertrages von Canoas im Jahr 1793. Die heutigen Mapuche südlich von
Valdivia sehen in dem Moment des Abschlusses dieses Vertrages den Beginn
ihrer Verbindungen zum Staat, denn seither kam es zur Akzeptanz der
61
Die Klammersetzung wurde aus dem Originaldokument übernommen. “y si sobre las
vejaciones y desprecios que han experimentado y experimentan la cabezas principales, una
que los españoles cimentados en aquellos destinos, sin más autoridad que su propio capricho,
azotan a los indios porque les roban un caballo o una baca, como vuestro padre no lo ignora
(habiendo llegado alguno hasta el exceso de causar con este tormento a uno de ellos la
muerte).”Ebenda.
62
“Ah! padre de mi alma! no es nuestro mayor trabajo el haber de lidiar con los indios,
gentes bárbaras, lo que si hace casi insoportable la cruz de nuestro ministerio, es la poca
cristiandad, la ninguna política y el total desbarato de los españoles, cuya compañía no es
indispensable en aquellos destinos.” Ebenda.
63
“que en vez de exhortar a los indios a recibir con docilidad de ánimo la doctrina y hacer
el debido aprecio de las exhortaciones, que se le daban, tuvo la osadía de decir en mi
presencia al cacique, gobernador entonces de aquella reducción, que no hiciese el menor caso,
de cuanto podían decirle los padres, y españoles, por que todos éramos un harto de
mentirosos.” Ebenda.
64
Ebenda.
134
136
Mónika Contreras Saiz
„Zugehörigkeit und Unterordnung unter den Staat, innerhalb dessen jedoch auch
ein eigener Handlungsspielraum eingefordert wird“
65
; Rolf Foerster fügt hinzu,
dass „der Vertrag für die Mapuche – Huilliche, insbesondere für die Kaziken
und Intellektuellen, ein fundamentales Ereignis für ihr Eigenverständnis als
Volk darstellte und noch immer darstellt.“
66SCHLUSSFOLGERUNGEN a. Kritik an der Unterwerfung der Huilliche
Im Fall des Río Bueno verblieb das große Territorium der
reche
seit 1793 in
zwei Teile geteilt: ein Teil war “offiziell” dem Staat unterworfen, eine im 18.
Jahrhundert auf die Verwaltung von Valdivia beschränkte Region; der andere
Teil, d.h. das Auraukanien genannte Gebiet zwischen den Flüssen Biobío und
Toltén, verblieb bis 1881 in den Händen der Indigenen
67
. Dessen ungeachtet
scheint die konsultierte Dokumentation aber eine tiefer gehende Analyse der
vermeintlichen Unterwerfung der Indigenen der Südgrenze notwendig zu
machen. Im Jahr 1834 bestand etwa weiterhin die Gefahr eines Aufstandes, wie
von José de la Cavareda, dem damaligen Intendanten der Provinz Valdivia,
geschildert:
“[...] ich berichtete der obersten Regierung zuletzt, dass
der Ausbruch einer Revolte der Indios des Río Bueno unter der Führung ihres Kaziken Caipul
kurz bevorstehe, der sich,
wie man sagt mit den Kaziken aus Osorno und den Pehuenches vereinigte. Durch die
Verhaftung dieses Kaziken und anderer, die man für Komplizen hielt, wurde die Ordnung in
der Provinz aber gewahrt.“
68
65
Jorge Vergara: La herencia colonial del Leviatán. El estado y los mapuche-huilliches
(1750 - 1881). Iquique 2005, S. 12.
66
Rolf Foerster González: El tratado de paz de 1793. Una aproximación a la gramática de
la memoria Mapuche – Huilliche. In: Revista Austral de Ciencias Sociales Nr. 2 (1998), S. 63.
67
Jorge Vergara del Solar: La matanza de Forrahue y la ocupación de las tierras huilliche.
Tesis para optar por el título de licenciado en antropología, Universidad Austral de Chile,
Facultad de Filosofía y Humanidades. Valdivia 1991, S. 7. Rolf Foerster vertritt ebenfalls
diesen Standpunkt, da sowohl er, als auch Jorge Vergara, die Studie von Donoso y Velasco
“la propiedad austral” von 1928 zitieren, um darzulegen, dass die Indigenen südlich von
Valdivia seit 1793 von der spanischen Krone mithilfe des Abschlusses des “tratado de paz de
las Canoas“ unterworfen wurden.
68
Eigene Hervorhebung. “[…] último di cuenta al supremo gobierno de que estaba
próximo a estallar un motín de los indios de Río Bueno capitaneado por su cacique Caipul,
que se decía hallarse en unión con los de igual clase de Osorno y Pehuenches, en nada se
alteró el orden que reinaba en toda la provincia. Por la aprensión de este cacique y los demás
que se creían cómplices en la sublevación.” “Intendencia de Valdivia (concluye nota suspensa
en le número anterior” in El Araucano Nr. 233 (1835), S. 3. Der Bericht trägt das Datum des
2. August 1834 und wurde mit einem Zusatz des Herausgebers publiziert, welcher besagt:
135Die ‚Indios Amigos’
137
Kazike Caipul, auf den sich Cavareda bezieht, ist mit Sicherheit der Sohn von
lonko
Juan Queipul vom Río Bueno, der im Jahr 1793 als einziger Kazike nicht
an dem Abschluss des Friedensvertrages von Canoas teilgenommen hatte. Die
anderen Kaziken, die den Vertrag unterschrieben, mussten sich darin
verpflichten, Queipul zur Unterwerfung unter die Spanier zu zwingen.
69
Intendant Cavareda trat im selben Bericht für eine Verstärkung des Militärs und
der
fuertes
ein, da sich „Valdivia ohne diese Maßnahme nie vor den Invasionen
der Barbaren sicher fühlen könne“,
70
und verweist dazu auf die Indigenen der
Region, die 1793 nur vermeintlich beschlossen hatten, den Frieden zu wahren.
Angesichts dieser Äußerungen des Intendanten erscheint es notwendig, den
Prozess der „Beherrschung“ der Indigenen in dieser Region neu zu verstehen.
Auch die Einschätzungen des deutschen Wissenschaftlers Rudolph Philippi, der
zwischen 1858 und 1862 in dem Gebiet tätig war, regen dazu an: „Der Indigene
aus der Provinz Valdivia war absoluter und freier Herr über sein Land, bezahlte
keine Steuern, und war nicht in der Pflicht, Militärdienst zu leisten“. Er fügt
hinzu, dass im Umgang mit den chilenischen Autoritäten „der Kazike nur seine
eigene Sprache gebrauchen muss“, (obwohl viele zu jener Zeit die spanische
Sprache beherrschten). Philippi, der bei einer Verhandlung zwischen einem
Kaziken und dem Gouverneur von Osorno zugegen war, wunderte sich, dass die
Verhandlungen über einen Dolmetscher geführt wurden, obwohl der Kazike das
Spanisch eben so gut wie der Dolmetscher verstand.
71
In anderen Teilen seines bereits zitierten Berichts legt Caraveda Zeugnis
darüber ab, dass im Fall von indigenen Aufständen die Ansiedlung von Mestizen
innerhalb der Territorien der
huilliche
als Medium ihrer Kontrolle dienen sollte:
„die Stadt Osorno ist fast gänzlich frei von einer Invasion der Indios, da ihr Zustand und ihre
Lage ausreichend Verteidigungselemente bieten: der Stamm der Cuyunco ist heutzutage
nichtig, und die übrigen, jene aus San Juan de la Costa, Ralme und Quilacahuin, können
nichts unbemerkt versuchen, denn die vielen Spanier, die unter ihnen wohnen, würden
rechtzeitig Alarm geben […]“
72
“Die Wichtigkeit dieses außergewöhnlichen Dokumentes rechtfertigt seine Veröffentlichung
trotz des langen Zurückliegens seines Entstehungsdatums[...]”.
69
Vergara del Solar: La matanza de Forrahue, S. 58. In einer späteren Arbeit beschreibt
Vergara , dass Queipul einige Tage nach Abschluss des Vertrages nach Santiago reiste um
dort die Abmachungen des Vertrages zu ratifizieren, zitiert nach Foerster González: El tratado
de paz de 1793, S. 62.
70
“Intendencia de Valdivia (continuación del número anterior)” in El Araucano N. 232
(1835) , S. 2.
71
Rudolph Amando Philippi: El orden prodigioso del mundo natural. Valdivia 2004, S.
85.
72
“la ciudad de Osorno está casi del todo libre de una invasión de indios, porque su
situación y ubicación cuenta con suficientes elementos de defensa: la tribu de Cuyunco en el
136
138 Mónika Contreras Saiz
Den Aussagen Caravedas zufolge scheint die koloniale Strategie einer
Besiedlung der indigenen Gebiete dieser Region während der republikanischen
Epoche ihre Früchte getragen zu haben.
b. Der Fortbestand von kolonialen Institutionen und Probleme der Regierungsführung
Nach der Gründung des republikanischen Staates wurden die gleichen
kolonialen Institutionen, die zwischen dem Staat und den Indigenen vermittelt
hatten, fast bis zum Ende des 19. Jahrhunderts beibehalten.
73
Während der
reformistischen Phase während der ersten Jahre der Unabhängigkeitsregierung
wurde zwar ein neues Justizsystem eingerichtet, der Intendant von Valdivia
klagte jedoch schon 1835, dass dieses System sich nicht eigne, um die
juristischen Belange der Indigenen in der Region zu regeln. Er ordnete daher an:
“[...] dass sie unterdessen zum Gewohnheitsrecht, das sie seit Beginn des Bündnisses mit den
Spaniern pflegten, zurückkehren mögen: sie sollen der Jurisdiktion der Gouverneure, der
capitanes de amigos
und dem
comisario de indios
unterstellt werden, der für sie eine
Vertrauensperson ist, denn dies erscheint mir angemessen, wenn es darum geht, Verträge
zwischen Menschen zu schließen, die die Gesetze nicht kennen und nicht einmal Schreiben
können”
74
Hinsichtlich der Erschließung eines Wegenetzes, das die Verwaltungszentren
der republikanischen Regierung miteinander verbinden sollte, war die staatliche
Machtausübung mit ähnlichen Schwierigkeiten wie in der kolonialen Periode
konfrontiert, allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, dass der neue
republikanische Staat um seine Souveranität und Anerkennung auf
internationaler Ebene kämpfen musste und dabei der Integration des nationalen
Territoriums eine besondere Rolle zukam. Die Kollaboration der Indigenen bei
dem Bau von Wegen war unentbehrlich, wenngleich zu dieser Zeit zwar keine
offene Opposition gegen die Durchführung von öffentlichen Baumaßnahmen
bestand, so war die Kooperation seitens der Kaziken dennoch unerlässlich für
día de hoy es nula, y las demás que la rodean que son las de San Juan de la Costa, Ralme y
nada pueden intentar sin ser sentidos, porque muchos españoles que viven en ellas darían
aviso oportunamente [...]”, El Araucano, N. 233 (1835), S. 3.
73
Beispielsweise stammt der bis dato jüngste Hinweis in Bezug auf die Institution der
capitanes de amigos
aus dem Jahr 1897. Es handelt sich um drei Dienstschreiben, die einem
capitán de amigos
geschickt wurden, der in Rechtsstreitigkeiten um Landbesitz vermitteln
sollte, in denen die Indigenen aus der näheren Umgebung Valdivias verwickelt waren,
ANCH, Intendencia de Valdivia, Vol. 117. ff. 367, 411, 412.
74
“[…] que volvieran mientras tanto a la costumbre en la que habían permanecido desde
el principio de su alianza con los españoles: de ser juzgados por los gobernadores con los
capitanes de amigos y el comisario de indios que es como un ministro de fe entre ellos, y me
parece lo más conforme cuando se trata de legalizar los contratos entre hombres que ignoran
las leyes y desconocen hasta el arte de escribir.” El Araucano, N. 230 (1835), S. 3.
137Die ‚Indios Amigos’
139
die Durchführung. José de la Cavareda schrieb im Jahr 1834, dass „der Bau der
Wege unter sehr geringem Kostenaufwand vollzogen werden kann, wenn die
Indios selbst beschäftigt werden, was die befreundeten Kaziken nicht
verweigern werden, sofern man ihnen eine bescheidene Vergütung in Aussicht
stellt; ohne Gehalt und mit nur einer Essensration am Tag […]“
75
. Die Kategorie
der
indios amigos
blieb weiterhin bestehen und spielte für die Realisierung der
Staatsaufgaben eine wichtige Rolle und diente gleichfalls dazu, aus den
Indigenen selbst einen Nutzen zu ziehen. Im Jahr 1850 etwa schloss der
Intendant von Concepción, General Don José María de la Cruz, ein Abkommen
über die Erschließung des Verbindungsweges zwischen der Provinz Concepción
und der Provinz Valdivia mit den Kaziken Don Felipe Paillao und Don Pascual
Santander Paineñancu. Er verfügte über eine Summe von 300 Pesos, die er dazu
einsetzte, „die Kaziken Paillao y Paineñancu gleichermaßen mit jeweils
einhundertfünfzig Pesos zu vergüten”
76
.
Die „Eroberung der Freundschaft“ war keine einseitige Regierungsweise, mit
der der Staat Kontrolle über die indigenen Gruppen ausüben konnte. Vielmehr
lag ihre Funktionalität in einer gegenseitigen Nutzbarmachung der Kategorie
indio amigo
begründet, von der beide Seiten profitieren konnten. Die indigenen
Gruppen wussten, dass der Staat auf ihre Kooperation angewiesen war und
nutzten diesen Umstand, um sich selbst Vorteile zu verschaffen. Angesichts
dieser Entwicklung hat es aber auch den Anschein, dass die
reche
graduell an
Unabhängigkeit und Autonomie verloren, wenn sie ihre internen Streitigkeiten
nicht selbst lösen konnten oder wollten, da sie dem kolonialen Staat damit Raum
zur Intervention boten. Die Möglichkeit, den Kolonialstaat um militärische Hilfe
zu bitten, wurde durch die Neugründung und den Ausbau der
fuertes
und
plazas
im Grenzgebiet zusätzlich erleichtert. Der Anreiz, spanische Schützenhilfe bei
der Bekämpfung interner Rivalen zu erhalten, beschränkte sich aber auf die
indios amigos
in der Umgebung dieser befestigten Siedlungen. Der Krone selbst,
deren Vorstellungen von “Frieden und Sicherheit” an die politische
Unterwerfung der indigenen Bevölkerung gekoppelt waren, bot sich auf diesem
Weg also eine Möglichkeit, ihren Herrschaftsanspruch in das
reche
- Territorium
zu transportieren.
75
“la obra de los caminos puede ejecutarse a muy poca costa empleando a los mismos
indios que los caciques amigos no negaran si se les atiende con un salario moderado; sin este
salario y con solamente una ración diaria de alimento […]”.“Intendencia de Valdivia
(concluye nota suspensa en le número anterior” in El Araucano, N. 232 (1835), S. 2.
76
“a fin de que compense oportunamente a los caciques Paillao y Painenñancu con ciento
cincuenta pesos cada uno”. Búlnes Perez, José Joaquin, “Departamento del Interior” in El
Araucano, N. 1045, 7. Februar 1850, S. 1.
138139JORGE PINTO RODRÍGUEZ
“Ellos fueron despojados, pero son la Patria Vieja,
el primer vagido nuestro y nuestra primera palabra.
Son un largo coro antiguo que no más ríe y ni canta.
Nómbrala tú, di conmigo, brava gente-araucana.
Sigue diciendo: cayeron. Di más: volverán mañana”.
(Gabriela Mistral, “Poema de Chile”)
EINLEITUNG
Die Mapuche wurden von den Konquistadoren, die im 16. Jahrhundert das
Gebiet des heutigen Chile erreichten, als
indios de la tierra, indios de Chile
und
Araucanos
bezeichnet. Sie bildeten eine aus mehreren Volksgruppen bestehende
Bevölkerung, die eine gemeinsame Sprache und ein einheitliches Symbolsystem
teilten. Zu diesen Gruppen gehörten die Mapuche, die im Tiefland westlich der
Anden leben, die Huilliche aus dem Süden, die Pehuenche der Andenkordillere
und die Aucas oder Moluche der argentinischen Pampa.
1
Die genaue Bevölke-
rungszahl zu Beginn der Unabhängigkeitsbewegung Anfang des 19. Jahrhun-
derts festzustellen, erweist sich als schwierig. Dennoch lässt sich die Zahl, der in
der Region Araukanien lebenden Mapuche, von denen diese Arbeit handeln soll,
auf etwa 100.000 bis 150.000 Bewohner schätzen. Im gesamten Land lebten zu
dieser Zeit etwa 1 Million Menschen.
2
∗
Dieser Artikel fasst Thesen aus zwei Kapiteln des Buches
La formación del Estado y la nación y el pueblo mapuche
(herausgegeben von der Dirección de Bibliotecas y Museos de
Chile) zusammen, zu denen neuere Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt “
Bases Econó-micas y Estructura Social. La Araucanía, 1900-1960
” (finanziert durch Fondeyct, Projekt Nr.
10603149), hinzugefügt wurden.
1
José Manuel Zavala: Los mapuches del siglo XVIII. Santiago 2008, S. 23-24.
2
1752 schätzte der Jesuit Joaquín de Villarreal die araukanische Bevölkerung auf 125.000
Personen. Ein Einwohnerverzeichnis, das Ambrosio Higgins 1796 erstellen ließ, dokumentiert
nur 96.504 Bewohner. Es ist möglich, dass diese Zahlen um 30 % unter der tatsächlichen in-
digenen Bevölkerung liegen.
140
142
Jorge
Pinto
Rodríguez
Araukanien ist eine Region, die sich etwa 600 Kilometer südlich von Santiago
de Chile zwischen den Flüssen Bío Bio und Tolten westlich der Andenkordille-
ren erstreckt. Ihr Gebiet umfasst verschiedene Landschaftsformationen, begin-
nend mit der Küstenebene, die von einer Gebirgskette durchzogen wird und de-
ren höchste Erbhebung 1.400 Meter misst (Cordillera de Nahuelbuta). Daran
schließt das Flachland an, das sich im Osten bis hin zum Küstenstreifen erstreckt
und in den Gebirgsausläufern der Anden endet. In diesem Teil des Landes gehen
die südlich von Santiago beginnenden Tiefebenen der
Zona Central
in eine Hü-
gellandschaft über, die von einigen Flüssen durchzogen wird, die von den An-
den ins Meer fließen. Die starke Regenzeit im Winter dauert oftmals bis in den
Frühling hinein an. Sie ermöglichte das Wachstum einer dichten Vegetation, die
zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen fast undurchdringbaren Wald bildete.
Wie die bereits erwähnte Untersuchung von Zavala gezeigt hat, ging die Ma-
puche-Gesellschaft gestärkt aus dem 18. Jahrhunderts hervor, was es ihr ermög-
lichte, sich weiter den spanischen Herrschaftsansprüchen zu widersetzen. Diese
Konsolidierung hatte mehrere Gründe. So können ihre räumliche Expansion in
die argentinische Pampa, der Reichtum einiger Gruppen aufgrund ihres intensiv
betriebenen Handels mit den Spaniern, aber auch das Bevölkerungswachstum,
das aus einigen zeitgenössischen Quellen abzuleiten ist, genannt werden.
3
Die
Stärkung der Mapuche wirkte sich auch auf den Widerstand aus, den sie wäh-
rend der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts der Unabhängigkeit Chiles ent-
gegenbrachten - mit der deutlichen Absicht, Veränderungen zu vermeiden, die
die Grundlagen der in der Region entstandenen Grenzgesellschaft gefährdeten.
Die liberale Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts diskreditierte diesen
Widerstand. Sie prägte den Begriff “
Guerra a Muerte
” und generierte so eine
negative Sichtweise, die bis heute besteht. Der Begriff betonte den blutigen Cha-
rakter einiger der Geschehnisse, ohne die Hintergründe des Konflikts näher zu
beleuchten. Unserer Meinung nach handelte es sich hierbei um eine komplexe
Akteurskonstellation, die sowohl Mapuche als auch Hispano-Kreolen, Spanier,
Bauern, Großgrundbesitzer, Händler, Missionare, Franziskaner, Angehörige des
Militärs sowie die alten kolonialen Autoritäten einschloss. Die Angst vor einer
Intervention in die seit der Kolonialzeit gewachsenen Handelskreisläufe und die
mit ihnen verbundenen wirtschaftlichen Interessen brachten diese Gruppen dazu,
die Waffen zu ergreifen, um dem 1810 in der Hauptstadt begonnenen Prozess zu
begegnen.
3
Zavala: Los mapuches del siglo XVIII, 2008, S. 122-123.
141Land ohne Indigene
143
Was die Mapuche betrifft, so zeigten die Ereignisse des restlichen 19. Jahr-
hunderts, dass ihre Befürchtungen berechtigt gewesen waren. Als im ersten
Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine Bilanz der Geschehnisse gezogen wurde,
hätte das Ergebnis nicht verheerender sein können. Nach der gewaltsamen und
blutigen Besetzung des Landes, bei der die Felder verwüstet wurden und viele
ihr Leben verloren, wurde die Araukania von widerrechtlichen Landenteignun-
gen und Misshandlungen jeglicher Art erschüttert. In weniger als 30 Jahren
brach die Grenzgesellschaft auseinander, die durch das komplementäre Zusam-
menleben der Indigenen und der Hispano-Kreolen zusammengehalten worden
war. Das Ergebnis war ein neuer, stark zersplitterter Grenzraum, geprägt von
den individuellen Interessen neuer Akteure der regionalen Geschichte (Mapu-
che, nationale Besetzer und ausländische Kolonisten), die sich nur in wenigen
Fällen vereinbaren ließen.
Obwohl die regionale Wirtschaft in diesen Jahren einen enormen Auf-
schwung erlebte, der mit dem Wachstum des Binnenmarktes und den in dieser
Epoche neu entstandenen Handelskreisläufen zusammenhing, litten die Mapu-
che unter den Auswirkungen der veränderten Situation, die sie nicht müde wur-
den, anzuklagen. Manuel Manquilef, einer der berühmtesten Anführer der Ma-
puche der ersten Generation nach der Staatsgründung, tat dies auf ganz ent-
schiedene Weise: „Was ihr hier lesen werdet, sind einige sehr bittere Wahrhei-
ten“, schrieb er 1915 im Prolog seines Werkes
Las Tierras de Arauco
und führte
weiterhin aus:
„Die Regierung Chiles hat Abkommen und Versprechen gebrochen. Und mit der Erklärung
des Arauko- Krieges brach sie auch die Verfassung, auf die heimtückischste und niederträch-
tigste Weise, in der eine Nation dies jemals getan hat. Sie trieb es so weit, dass sie Teile ihrer
eigenen Kraft vernichtete und heute gar Denkmäler für diese Konquistadoren errichtet, die ihr
durch die Verbreitung von Schändlichkeiten doch nur Land, Tiere und, noch viel schlimmer,
das Leben einer ganzen Nation genommen hatten. Unterdrückt von denselben Gesetzen, die
für ein versklavtes Volk geschaffen wurden, und die schwerwiegende Ungerechtigkeit ertra-
gend, verhielten sie sich wie Heilige - trotz so großer Schande, [...] ihrer Reichtümer beraubt,
sind sie heute arme, elende Opfer des Staates und der Gesellschaft, in der sie leben. Wie ist es
möglich, dass eine republikanische Regierung, wie die chilenische, so vorgehen konnte? Wa-
rum und wie ist es gelungen, dieses starke und mutige Volk zu zerstören, das ein Teil der Re-
publik werden sollte, nicht als erobertes Volk, das es niemals war, sondern aufgrund feierli-
cher Abkommen.”
4
4
„El gobierno de Chile violó tratados, promesas. Hizo pedazos la Constitución declarando
la guerra de Arauco en la forma más insidiosa y ruin que jamás una nación lo hiciera. Lo per-
virtió hasta matar en parte sus energías y hoi eleva estatuas a esos conquistadores que a fuerza
de propagar vicios, le permitió quitar tierras, animales y lo que es más, la vida a una nación.
„Oprimidos con leyes propias para un pueblo de esclavos, y soportando el duro peso de injus-
142
144 Jorge Pinto Rodríguez
Diese Anklage von Manuel Manquilef bezog sich auf den allmählichen Pro-
zess, der nach der Unabhängigkeit begann und in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte.
DER ANFANG DER GESCHICHTE: VERBÜNDETE, FEINDE ODER FREUNDE?
Die herrschende Klasse, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte Chile zu füh-
ren und eine Nation zu schaffen, beabsichtigte in der Gründungsphase des Staa-
tes nicht, die Mapuche verschwinden zu lassen, trotz der Probleme, die diese
während der Unabhängigkeit verursacht hatten. Aber sie differenzierte zwischen
der indigenen Bevölkerung, die im Valle Central und im Norte Chico überlebt
hatte, und den Mapuche in Araukanien. Der
Senado Conservador
von 1819 er-
ließ eine Erklärung, mit der die erste Gruppe in die Nation integriert und zu
Bürgern gemacht wurde, welche sie „[…] wie alle Chilenen dazu verpflichtete,
das Heimatland zu verteidigen und alle Pflichten eines Bürgers zu erfüllen.“
5
Im
Gegensatz dazu wurden für die Mapuche alle Einbeziehungsmechanismen bei-
behalten, die schon zur Kolonialzeit die Beziehungen zwischen ihnen und der
Krone reglementierten: die so genannten
parlamentos
und die Missionen.
ticias sin cuento, caminan como pontificados ante tanta ignominia […] arrebatadas sus riqu-
ezas, son hoi unos pobres, miserables víctimas del gobierno y de la sociedad en que viven;
¿cómo es posible que un gobierno republicano como el de Chile haya procedido así? ¿por qué
y cómo ha conseguido destruir a esta raza fuerte y valerosa que entró a formar parte de la
República, no como pueblo conquistado, que jamás lo fue, sino en virtud de solemnes trata-
dos?” Manuel Manquilef:
¡Las Tierras de Arauco! El último cacique.
Temuco 1915, S. 2-3.
5
“[…] obligados como todos los chilenos a defender la patria y prestar todos los servicios
de tales”.
Sesión Ordinaria
Nr. 31, 26. Februar 1819. In: Valentin Letelier: Sesiones de los
Cuerpos Legislativos de Chile 1811-1843, Band III. Santiago 1886, S. 302.
143Land ohne Indigene
145
Abb. 1: Das erste Wappen Chiles, 30.09.1812
Den Mapuche gegenüber eine aggressive Haltung einzunehmen war schwie-
rig, da man sich auf sie berief, um die Bewegung die zur Befreiung von Spanien
geführt hatte, zu rechtfertigen. Von der Tatkraft und dem Mut, mit dem die Ma-
puche ihre Freiheit und ihr Gebiet verteidigten, übernahmen die Chilenen Werte,
die sie im Kampf gegen die spanischen Truppen antrieben. Auf diese Weise öff-
nete sich in der Entstehungsphase der Nation ein weites Tor, durch das der
mythifizierte Mapuchekrieger des 16. Jahrhunderts Einzug halten konnte, dessen
Tapferkeit durch die Gedichte von Alonso de Ercilla y Zúñiga unsterblich ge-
macht worden war. Der Präsident Francisco Antonio Pinto (1775-1858) schrieb
später über seine Kindheit, dass ihn das Werk
La Araucana
begeisterte, nicht
weil ihm die Poesie gefallen hätte, „sondern aufgrund der heroischen Heldenta-
ten der Araukaner und Spanier, die wir als unsere eigenen verstanden, da wir die
Landsleute ersterer und die Nachkommenletzterer sind
.“6
Eine tatsächliche Garantie bezüglich ihrer definitiven Integration in die Nati-
on gab es allerdings nicht, und der Status ihrer Territorien blieb unklar. In den
Comisiones del Congreso General Constituyente
, die die Artikel der Verfassung
von 1828 diskutierten, entwickelte sich eine interessante Debatte, als einige der
6
“sino por las heroicas hazañas de los araucanos y españoles, que las considerábamos
como propias, por ser compatriotas de los primeros y descendientes de los segundos”.
Memo-rias de F. A. Pinto
. Zitiert von Fernando Casanueva: Indios malos en tierras nuevas. Visión y
concepción del mapuche según las elites chilenas del siglo XIX. In: Jorge Pinto (Hrsg.): Mo-
dernización, Inmigración y Mundo Indígena, Temuco 1998. S. 55-131, S. 58.
144
146
Jorge
Pinto
Rodríguez
Kommissionsmitglieder insistierten, dass sich die
araucanos
als Nachbarvölker
betrachteten, weshalb auch die Grenzziehungen zu ihren Territorien mit ihnen
einzeln festgelegt worden waren. Aus diesem Grund könne ihnen keine Verfas-
sung aufgezwungen werden, für die sie sich nicht selbst ausgesprochen haben.
7
Die Angelegenheit wurde jedoch weder bei dieser Versammlung noch bei der
Wiederaufnahme der Debatte 1833, als die Verfassung von 1828 reformiert
wurde, geklärt. Laut Ramón Sotomayor Valdés wählte der Autor des Original-
entwurfs, Mariano Egaña, den einfachsten Weg: er vereinte „alles, was die Nati-
on kennzeichnet und ausmacht, in dem Begriff der Republik“ und vermied da-
durch eine schwierige und komplexe Debatte.
8
Einige Jahre später, 1842, wurde
das Thema aber wieder zu einer heiklen Angelegenheit, als die Idee aufkam,
ausländische Kolonisten in Araukanien anzusiedeln. Ein Kommentator der Ta-
geszeitung
El Agricultor
, der seine Artikel mit M. M. unterzeichnete, fasste mit
großer Präzision die Ansichten verschiedener Intellektueller und Regierungsbe-
amten zu diesem Thema zusammen. Demnach gehörte das Gebiet, das die Ma-
puche besetzten, laut der Gründungserklärung Chiles von 1833 unmissverständ-
lich zum chilenischen Territorium. Daran gäbe es keinerlei Zweifel. Trotzdem
wurden die Mapuche als ein benachbartes Volk angesehen, als eine Nation star-
ker und kriegerischer Leute, die möglicherweise eines Tages eine Gefahr für
Chile darstellen könnten. Es handele sich zwar um ein anderes Volk, aber über
ihr Territorium könne beliebig verfügt werden, da die Verfassung ausdrücklich
besage, dass dieses zu Chile gehöre. Jedenfalls wird in diesen Jahren noch im-
mer der Respekt gegenüber den Mapuche deutlich, der auch den Schreiber des
erwähnten Artikels einräumen ließ, dass eine Besetzung nur mit der Zustim-
mung der Mapuche durchgeführt werden könne.
9
7
Der Autor dieser Äußerungen war José Gaspar Marín, Abgeordneter von Illapel und
Combarbalá. Sie erschienen in der Ausgabe Nr. 42 vom 9. Juni 1828. In: Sesiones de los
Cuerpos Legislativos de Chile 1811-1843, Band XVI. Santiago 1893, S. 70-75.
8
Ramón Sotomayor Valdés: Historia de Chile bajo el gobierno del Jeneral D. Joaquín
Prieto. Band I, Santiago 1900, S. 224. Diese Ansicht Sotomayors bezieht sich auf die Tatsa-
che, dass die
Convención
, die ursprünglich die Verfassung diskutierte, sie
Constitución Políti-ca de la Nación Chilena
betitelte. Bei einer Überprüfung des Begriffs Nación, verwandte
Egaña den Begriff
República
, um jegliche Probleme zu vermeiden. Deshalb ist der Titel der
Verfassung
Constitución Política de la República de Chile
.Vgl. Luis Valencia Avaria: Anales
de la República. Santiago 1986, S. 344.
9
„Necesidad de colonizar y poblar los terrenos baldíos y desiertos de la República, espe-
cialmente en el Arauco”, El Agricultor Nr. 22, Santiago April 1842.
145Land ohne Indigene
147
Diese respektvolle Einstellung wird die Intentionen einiger Mitglieder der
herrschenden Klasse gebremst haben, die eine eher aggressive Haltung gegen-
über den Mapuche einzunehmen gedachten. Sie bedingte auch eine Wiederauf-
wertung derjenigen Regierungsweisen, die schon von den Spaniern angewendet
worden waren, um die Beziehungen zu den Mapuche zu regulieren. In dem
Moment, als die Elite einen heroischen Diskurs über den Ursprung der Nation
konstruieren musste, wandelte sich der tapfere Mapuche zum Symbol der chile-
nischen Identität. Die Beziehung des sich im Aufbau befindenden Staates mit
den Mapuche war durch eine Mischung aus Respekt und Bewunderung geprägt
und bedingte die Entscheidung, nicht weiter in ihr Gebiet einzudringen.
Allerdings war wohl auch die Tatsache nicht unerheblich, dass ihrem Land
ein geringer Wert beigemessen wurde. Chile legte das Augenmerk in seiner
Gründungsphase auf die Gebiete des Nordens und des Valle Central. Im Norden
lagen die reichen Minen, die der Wirtschaft den Zugang zur Weltwirtschaft er-
möglicht hatten, und im Valle Central wurden weitere Güter produziert, die den
Export der Agrar- und Viehwirtschaft, den zentralen Motor der Ökonomie, för-
derten. Hinzu kam die Bedeutung des Güterverkehrs, dessen Ursprung in der
Expansion der Indigenen in die Pampa lag und durch den sich an der Grenze der
indigenen Gebiete große Viehherden konzentrierten, welche von dort aus in den
Norden gebracht wurden, um sie von den Landgütern im Valle Central aus wei-
ter zu exportieren. Ignacio Domeyko fügte einen weiteren Handelsweg hinzu,
der in Valdivia begann und von wo aus die Händler Viehherden durch die Wäl-
der Araukaniens in Richtung Concepción überführten.
10
Neben dem Vieh wur-
den auch Salz und Straußenfedern gehandelt, die ebenfalls den Grundstock eines
großen Gewerbezweiges bildeten, und den man nicht unterbrechen wollte.
Schlussendlich machte es der Erfolg des Modells ‘Wachstum nach außen’ in der
Frühphase der Republik unnötig, eine kriegerische Auseinandersetzung im Sü-
den zu provozieren.
Angesichts des im Norden entstandenen Konfliktes mit Peru, bei dem es sich
inoffiziell um einen Streit um den Zugang zum Pazifik handelte, schien es rat-
samer, in Araukanien auf die Politik der
parlamentos
zurückzugreifen, als weite-
re Konfliktfelder zu öffnen, die das Land hätten ausbluten lassen. Verschiedene
zwischen 1820 und 1830 sowie in den Jahren 1836 und 1837 abgehaltene
par-lamentos
führten zu einem Friedensabkommen, das am 29. Januar 1838 auch
vom
Parlamento Generalde Santa Fe
ratifiziert wurde. Daran nahmen „114 An-
10
Ignacio Domeyko: Araucanía y sus habitantes. Santiago 1846, S. 67.
146
148
Jorge
Pinto
Rodríguez
führer aus den vier
Butahalmapus
11
teil.“
12
Einige Jahre zuvor, 1835, präsentierte
Don José Javier de Bustamante, Kriegs- und Marineminister der Regierung Joa-
quín Prietos, dem Senat einen Bericht, der die Friedensabkommen, die mit den
Mapuche erreicht worden waren, erläuterte. „Der Himmel möge es zulassen“,
fügte der Minister abschließend hinzu, „dass wir in Zukunft nicht mehr von dem
ominösen Krieg mit den tapferen Araukanern hören werden.“
13
Gleichzeitig re-
aktivierte die Regierung die Missionsarbeit. Dazu wurde der argentinische Pries-
ter Zenón Badía 1835 mit der Aufgabe nach Rom gesandt, italienische Franzis-
kaner zu rekrutieren, die dazu bereit wären, das
Colegio de Propaganda Fide de Chillán
zu übernehmen. Außerdem sollten sie die Aufgaben wieder aufnehmen,
die ihre Ordensbrüder ausgeübt hatten, bis sie wegen ihrer Treue zum spani-
schen König des Landes verwiesen worden waren. Im Jahre 1849 bestärkte die
Regierung diesen Entschluss und beauftragte Kapuzinermönche, ebenfalls aus
Italien, die Missionen südlich des Flusses Cautín zu übernehmen.
Die
parlamentos
und Missionen ordneten das Grenzgebiet neu. Das koloniale
Abkommen ging in ein republikanisches über, und ließ die Region wieder auf-
atmen
14
. Einige überkommene Funktionsposten der kolonialen Regierungswei-
sen, wie die
comisarios de naciones
, die
capitanes de amigos15
und die Dolmet-
11
Die Butalmapus sind große territoriale Zusammenschlüsse der Mapuche. „Futa“ oder
„Buta“ bedeutet in ihrer Sprache „groß“, und „mapu“ Land. Die Butalmapus weisen eine lan-
ge Tradition auf. Vgl. José Bengoa: El tratado de Quillín. Documentos adicionales a la histo-
ria de los antiguos mapuches del sur. Santiago de Chile 2007, S. 101.
12
Comunicación de la Comandancia General de la Alta Frontera, Nacimiento, 2. Februar
1838. Archivo Nacional de Santiago, Fondo Gay-Morla, Vol. 232. Laut Ramón Sotomayor
Valdés wurde im März desselben Jahres eine weiteres
parlamento
in Arauco abgehalten, an
dem über 20 Kaziken und der
Intendente
von Concepción José Antonio Alemparte als Reprä-
sentant der chilenischen Regierung teilnahmen. Es scheint, dass es sich im Vergleich zu dem
parlamento
in Santa Fe um ein anderes handelte, dieses war kleiner und zielte darauf ab, mit
den Kaziken der Nahuelbutakordillere zu verhandeln. Vgl. hierzu Sotomayor Valdés:Historia
de Chile bajo el gobierno del Jeneral D. Joaquín Prieto, 1900, S. 258.
13
“¡Quiera el cielo permitir, agregaba el ministro, que en adelante no oigamos hablar más
de la ominosa guerra con los valerosos araucanos!” Bericht des Kriegsministers in der ordent-
lichen Sitzung der Senatskammer am 14. September 1835, Anexus 652, S. 441-451, S. 449.
Ebenfalls interessant ist die Bedeutung, die Valentín Letelier den
parlamentos
in der histori-
schen Entwicklung Chiles zuschrieb. Vgl. hierzu Génesis del Estado y sus Instituciones Fun-
damentales, Buenos Aires 1917. Die von ihm wiederholt angeführten Referenzen dieser Pra-
xis, zeigen die Bedeutung, die sie in den ersten beiden Jahren der Republik besaßen, um die
Beziehungen zwischen Mapuche und Nicht-Mapuche zu strukturieren.
14
Rolf Foerster: Del Pacto Colonial al Pacto Republicano. In: Revista Tefros, Band 2, Nr.
1 (2008), http://www.tefros.com.ar.
15
Zu diesen Funktionsposten siehe de Beitrag von Mónika Contreras in diesem Band
147Land ohne Indigene
149
scher wurden unverändert beibehalten.
16
Der Bericht von Don Antonio Varas aus
dem Jahre 1849, den er im Anschluss an eine Visite der Region verfasste, bestä-
tigt diese Einschätzung. Varas ließ sich von Personen beraten, die sich ausführ-
lich mit den Vorkommnissen in Araukanien beschäftigt hatten, und verließ die
Gegend mit der Erkenntnis, dass Indigene und Spanier nicht mit denselben Ge-
setzen und Konventionen regiert wurden. Während für die Indigenen weiterhin
die kolonialen Regierungsweisen beibehalten wurden, galten für die zweite
Gruppe die Gesetze der Republik. Indigene und Spanier, so der Bericht, erkann-
ten beide die Autorität der regionalen Regierungsvertreter an; die Mapuche aber
verhielten sich laut Varas weiterhin wie Untertanen des Königs von Spanien. Sie
einer Autorität zu unterwerfen, die sie immer als Fremdherrschaft betrachtet hat-
ten, hieße, sie ihrer geschätzten Unabhängigkeit zu berauben und würde nach
Ansicht Varas nur dazu führen, dass sie den Weg, der sie zum Guten leiten soll,
mit Hass zu betrachten lernen. Gewaltanwendung, so der
visitador
weiter, käme
einer tatsächliche Eroberung gleich, die den kriegerischen Stolz der Araukaner
wecken und somit einen Sieg über sie erschweren würde. Die Folgen einer sol-
chen Eskalation in den südlichen Provinzen wären unabsehbar, ganz zu schwei-
gen von dem schweren Unrecht, das eine Entscheidung dieser Art begleiten
würde. Vargas empfahl deshalb, die bereits existierende Ordnung beizubehalten.
Er nahm einige Überlegungen von Ignacio Domeyko und anderen Beobachtern,
die sich schon früher mit diesem Thema beschäftigt hatten, wieder auf und be-
tonte gerade auf lange Sicht die Wichtigkeit der Missionen, der Schulen und der
friedlichen Mittel im Allgemeinen, um die indigene Bevölkerung in die „Zivili-
sation“ integrieren zu können. Eine führende Rolle schrieb er hierbei den
parla-mentos
zu. Kurz gesagt, die Grenzgebiete sollten weiterhin nach denselben
Grundsätzen geregelt werden, die auch bislang vorgeherrscht hatten.
17
16
Jorge Vergara: El estado nacional chileno y los pueblos indígenas. El caso de los mapu-
che de Valdivia, Osorno y Llanquihue, 1840-1880. Berlin 1998.
17
Antonio Varas: Informe presentado a la Cámara de Diputados por el Visitador Judicial
de la República, Antonio Varas. Santiago 1849, S. 5-6.
148
150
Jorge
Pinto
Rodríguez
Abb. 2: Digitales Fotoarchiv des Forschungsprojektes
"Estereotipos en Dis-cursos Iconográfico sobre Indígenas, Fotografías de Mapuches, 1891-1920"
der
Universidad de La Frontera (Temuco), unter der Leitung von Alonso Azócar
und Jaime Flores.
18
Obwohl die
parlamentos
für ihre vielseitigen Verfahrensweisen bekannt wa-
ren, spielten sie bei der Lösung der Konflikte und der Umsetzung von Friedens-
abkommen, die den Frieden an der Grenze garantierten, eine wesentliche Rolle.
19
Ihr Ursprung lässt sich wohl auf politisch-rituelle Versammlungen der Mapuche
zurückführen, die schon vor der Ankunft der Spanier durchgeführt worden wa-
ren, und auch während der Kolonialzeit weiter abgehalten wurden. In dieser
Epoche durchliefen sie einige Veränderungen und Anpassungen, die sie zu einer
Institution werden ließen, deren Relevanz essentiell für das Verständnis des
Grenzgebietes ist.
20
Eine anschauliche Beschreibung findet sich in einem Doku-
ment, das Ende des 18. Jahrhunderts entstand, und welches die Bedeutung dieser
18
Mein Dank gilt Jaime Flores für die Bereitstellung des Bildmaterials.
19
Die Institution der
parlamentos
in Chile wurde von Historikern wie Leonardo León, Luz
María Méndez, Rolf Foerster und José Manuel Zavala ausführlich analysiert.
20
Zavala: Los mapuches del siglo XVIII, 2008, S. 162ff.
149Land ohne Indigene
151
Institution für die Indigenen wiedergibt. Wenn
parlamentos
einberufen wurden,
schreibt der Autor, oder Frieden mit uns geschlossen wurde:
„[…] sprechen zuerst diejenigen, die dem Ort, der für die Versammlung gewählt wurde, am
nächsten sind. Sie ernennen jemanden, der durch seine Kraft und Stimme prädestiniert dafür
ist, da den ganzen Tag geschrien werden muss. Dieser hört sich einen kurzen Vortrag eines
Kaziken an und hebt dann zu seiner Ansprache an. Und so geht es weiter mit allen Kaziken
dieses Butalmapu; zweifelsfrei macht die blumige und bedeutsame Sprache, die sie benutzen,
ihre Vorträge sehr unterhaltsam. Zu Beginn richten sie das Wort an den Oberbefehlshaber
(
Capitan General
) und versichern ihm, dass seine Anwesenheit ihnen die Größe des Königs
nahe bringe, da aus den Quellen nun mehr Wasser zu sprudeln und fließen scheine denn zu-
vor, was die Bäche anschwellen ließe und die Pflanzen weidlich wässere, so dass deren Grün
leuchte und die Vögel hoch oben auf ihren Ästen noch lieblicher und wohlklingender singen
würden. Dank dieser wunderlichen Dinge schlügen die Herzen aller so freudig und vergnügt,
dass ihnen nichts Weiteres vonnöten scheint, um noch mehr Freude und Vergnügen zu berei-
ten.”
Nachdem die Aufmerksamkeit der chilenischen Regierung auf andere Prob-
leme gelenkt wurde und die Mechanismen, die den Frieden an der Grenze garan-
tierten, wieder eingeführt waren, verloren die Probleme mit den Mapuche an
Bedeutung. In einem Moment, als man den Nachbarn im Norden mit mehr Miss-
trauen begegnete als der indigenen Bevölkerung des Südens, lag es nahe, sich
die Mapuche als Alliierte zu erhalten, statt sie sich zu Feinden zu machen.
„DIE MENSCHEN WURDEN NICHT GEBOREN, UM UNNÜTZ UND WIE WILDE TIERE ZU LEBEN“
1850 begann sich diese Situation zu verändern. Seitdem führten einige gleich-
zeitig einsetzende Faktoren zur Besetzung des Gebietes und zur Desintegration
des früheren Grenzraums. Araukanien bekam die gesamte Härte des Staates zu
spüren, als der Region das von den Machthabern in Santiago entwickelte Staats-
und Nationenprojekt aufgebürdet wurde.
21
Die Faktoren, die die Besetzung verursachten, waren von unterschiedlichem
Charakter – es gab interne und externe Auslöser. Zu den externen Faktoren ge-
hörte zweifelsfrei die Tatsache, dass ein Anstieg der Weltbevölkerung und die
Transformationen der Industriellen Revolution eine größere Nachfrage nach Le-
bensmitteln hervorbrachten. Dadurch wurden nun auch Gebiete besiedelt, die bis
dato zur Peripherie der Weltwirtschaft gezählt hatten. Das Vorrücken des engli-
schen Kapitalismus und der Ausbau der Transportsysteme beschleunigten diese
21
Eine Pionierstudie zur Situation in Araukanien Mitte des vergangenen Jahrhunderts führ-
te Jacques Rossignol durch: “Chiliens et indiens araucans au miliu du XIXe siecle”. In: Cara-
velle Nr. 20 (1973).
150
152
Jorge
Pinto
Rodríguez
Vorgänge und fügten sie in die zunehmenden Kolonisierungsprozesse in ande-
ren Regionen Amerikas, Afrikas, Asiens und Ozeaniens ein.
Die Situation Chiles förderte ebenfalls das Vorrücken in die indigenen Terri-
torien und die Verfassung des Staates schuf eine Instanz, mit der dieser Vorgang
gelenkt werden konnte. Die Begrenztheit des vermarktbaren Landes, das für die
von der Regierung forcierte Einwanderungspolitik essentiell war, und die Wirt-
schaftskrise von 1857 überzeugten die Machthaber schließlich, dass der Moment
zum Handeln gekommen sei, zumal die Küstengebiete der Region bereits auf
Möglichkeiten des Kohleabbaus hin erkundet wurden, an dem die Bergbauun-
ternehmern des Norte Chico Interesse gezeigt hatten. Schließlich sind die Revo-
lutionen von 1851 und 1859 zu nennen, die zugunsten der Regierung ausgingen
und die Idee vorantrieben, die Aufständischen, zu denen auch eine große Gruppe
Indigener gehörte, zu bestrafen, sowie der von den positivistischen Intellektuel-
len des 19. Jahrhunderts geführte Diskurs über die „Barbarei“. Die genannten
Faktoren scheinen den Anstoß für den Einmarsch des chilenischen Militärs in
die Grenzregion gegeben zu haben
22
, wobei die Wirtschaftskrise von 1857 und
das Aufstreben des Positivismus die bedeutendsten darstellen.
Die Krise war das Produkt verschiedener Umstände. An erster Stelle ist wohl
die abrupte Schließung des kalifornischen und des australischen Marktes für chi-
lenischen Weizen und Mehl zu berücksichtigen. Nach zwei Jahrzehnten wirt-
schaftlicher Blüte verursachte dies bei den Bauern unerwartete Einbußen, die
von einer Reihe schlechter Ernten noch verschlimmert wurden. Dazu kam, dass
die Silberproduktion, ein weiteres wichtiges Exportgut, schlagartig zurückging,
und die nationale Wirtschaft in einen beklagenswerten Zustand versetzte. Die
wirtschaftlich guten Zeiten hatten zu Spekulationen geführt, die die Situation
noch verkomplizierten. Die Sorge der Presse über die Entwicklungen äußerte
sich mit den ersten Anzeichen der Krise. Im Januar 1857 veröffentlichte die Ta-
geszeitung
El Araucano
einen Artikel, der die Krise auf die Unfähigkeit, die Im-
porte aus dem Ausland durch chilenische Waren zu ersetzen, zurückführte. Die
Einfuhr von Waren verursachte eine Verknappung der sich im Umlauf befindli-
22
Die Gesamtheit der Phänomene, die wir hier zusammengefasst haben, wurde auch von
anderen Autoren angesprochen. Insbesondere zu nennen sind Claudio Véliz: “La mesa de tres
patas”. In: Desarrollo Económico. Buenos Aires 1961; Sergio Villalobos (u.a.): Relaciones
fronterizas en la Araucanía. Santiago, 1982; Arturo Leiva: El primer avance a la Araucanía,
Angol
,
1862. Temuco 1984; José Bengoa: Historia del pueblo mapuche. Santiago 1985; Edu-
ardo Cavieres: Comercio chileno y comerciantes ingleses. Valparaíso 1988 und Patricia
Cerda: Fronteras del Sur. Temuco 1996.
151Land ohne Indigene
153
chen Zahlungsmittel.
23
Bereits ein Jahr zuvor hatte die Zeitung
El Ferrocarril
ihre Bedenken bezüglich des Verlustes des kalifornischen Marktes und des ho-
hen Preisniveaus für Agrarprodukte geäußert. Diese Entwicklungen hatten zu
Störungen geführt, die jetzt spürbar wurden.
24El Ferrocarril
betonte 1856 im-
mer wieder einen weiteren Punkt, der später weitaus weniger erwähnt wurde: die
Verwendung von Wertpapieren machte den Gebrauch des Geldes fast unnötig,
hieß es, und zeige große Auswirkungen auf die Wirtschaft, da der Export von
geprägtem Metall begünstigt würde und auf lange Sicht die Situation noch ver-
schlimmern werde.
25
In einem anderen Artikel, der im Januar des Folgejahres
erschien, fiel das Urteil noch lapidarer aus: wenn die Bauern weiterhin so viel
konsumierten, wie vor dem Ausschluss aus den externen Märkten, wenn sie sich
weiter verschuldeten und die hohen Preise aufrechterhielten, müsse entweder ein
Wunder geschehen oder die begangenen Fehler würden teuer zu stehen kom-
men.
26
Fast genau drei Jahre nach seiner Ankunft in Chile äußerte sich 1858 auch
Gustavo Courcelle Senuil zur Krise. Courcelle Senuil wurde von der Regierung
als Wirtschaftsprofessor und Berater des Finanzministeriums angestellt und war
darüber hinaus Kommentator in der Presse. Die Krise, sagte er in
El Ferrocarril
,
sei durch den Rückgang der Einfuhren und den übertriebenen Konsum der Pri-
vathaushalte verursacht worden.
27
Andere Analysten, die ebenfalls in der Presse
veröffentlichten, machten die Regierung für das Desaster verantwortlich. Sie
sahen diese als Verursacherin der überflüssigen Ausgaben, die der französische
Ökonom den Privatleuten zuschrieb. Einer der Gesprächspartner Courcelle Se-
nuils wies darauf hin, dass die Regierung der Verschwendung Einhalt gebieten
und ihre gesamten zur Verfügung stehenden Mittel dem Münzamt leihen solle,
um damit den Währungsumlauf zu vermehren. Dies bedeutete, alle nicht zwin-
gend notwendigen öffentlichen Ausgaben auszusetzen.
28
23
“La crisis comercial y la exportación de moneda”, El Araucano, 13. Januar 1857.
24
“Libertad Industrial”, El Ferrocarril, 7. Januar 1856.
25
Vgl. beispielsweise auch den Artikel in: “Causas de la exportación de monedas de pla-
ta”, El Ferrocarril, 24. November 1856, in dem auf die Gründe der Verknappung verwiesen
wird.
26
“La crisis comercial y la exportación de moneda”, El Ferrocarril, 16. Januar 1857.
27
G. Courcelle Senuil, “Estudio sobre la crisis económica”. El Ferrocarril, 1. Januar 1858.
28 Observaciones a los escritos de Mr. Courcelle Senuil sobre la crisis económica. In: El
Ferrocarril, 20. und 22. Januar 1858.
152
154
Jorge
Pinto
Rodríguez
Bei der Diskussion über einen Ausweg aus der Krise gab es zwei klar defi-
nierte Positionen. Die eine Seite stellte den monetären Charakter der Krise her-
aus. Als Grund für das fehlende Geld im Umlauf machten sie den Export von
Gold- und Silbermünzen verantwortlich. Die andere Seite glaubte, dass der
Rückgang der Geldmittel von den wohlhabenden Schichten verursacht worden
sei, die nicht bereit waren, trotz des Exportrückgangs ihre Ausgaben zu verrin-
gern. Beide Seiten vertraten natürlich auch bei der Frage nach einer Lösung der
Probleme gegensätzliche Positionen.
Die erste Gruppe, die Monetaristen, beobachteten die Regierung mit Unge-
duld und erwarteten von ihr einen Zuschuss für das sich im Umlauf befindende
Geld. Die anderen betonten, dass die Regierung nicht viel tun könne. Aus der
Krise könne man sich nicht retten, indem man auf ein Wunder warte, das das
Problem des Außenhandels löse, sondern durch eine Änderung des Lebensstils
und des ökonomischen Verhaltens der Chilenen. Tatsächlich betonte die erste
Gruppe ein Symptom der Krise, die zweiten hoben Grundsatzfragen der Wirt-
schaft und die Zerbrechlichkeit des Exportmodells hervor, das in Chile vor-
herrschte. In diesem Klima blühte die Debatte um Araukanien neu auf. Wir kön-
nen nicht definitiv sicher sein, ob nur die Krise das ausschlaggebende Moment
darstellte, aber die Zeugnisse der Epoche hinterlassen den Eindruck, dass das
Thema Araukanien aufgrund der Krise und der Revolution von 1859 auf natio-
naler Ebene relevant wurde.
1856 beschrieb
El Ferrocarril
Araukanien als eine Gegend der unerschöpfli-
chen Ressourcen, als Quelle des Reichtums, die Arbeitskräfte und Kapital erfor-
dere, um dort eine florierende Landwirtschaft zu konsolidieren.
29
Die Zeitung
begann noch im selben Jahr eine Kampagne, mit der die Autoritäten überzeugt
werden sollten, dass nun der richtige Moment gekommen sei, die indigenen Ge-
biete zu besetzen.
„Wir leben“ – so die Ausgabe des 13. März jenes Jahres – „in einer sehr praktischen Welt und
in einem Jahrhundert, in dem die Sophisten und Scholastiker ständig feststellen müssen, dass
die unwiderstehliche Macht der Tatsachen ihre Lehren widerlegt. Die Spekulation hat nicht
mehr Macht als die Geschehnisse des realen Lebens zulasse, und nur diese sind für uns der
Prüfstein aller Theorien.”
30
29
“Ojeada a la provincia de Arauco”, El Ferrocarril, 31. Mai 1856.
30
“Vivimos en un mundo eminentemente práctico, y en un siglo en que los sofistas y los
escolásticos tienen que ver a cada paso negadas sus doctrinas con el imperio irresistible de los
hechos. La especulación no tiene, pues otro poder que el que le dan los sucesos de la vida
real, que son para nosotros la piedra de toque de todas las teorías.” In: “Reducción de los
Araucanos”. El Mercurio, Valparaíso, 13. März 1856.
153Land ohne Indigene
155
Und welche Lehren zog
El Mercurio
aus der praktischen Anschauung der
Welt? Das Blatt folgerte, dass Araukanien besetzt werden müsse, dass die Vor-
sehung den Menschen auf die Welt gesetzt habe, damit er sie sich Untertan ma-
che und sich an ihr erfreue, dass es Unvernunft wäre, diese so fruchtbaren Ge-
biete nicht zu nutzen, dass Chile weder Arbeitskräfte noch Kapital benötige,
sondern Ländereien, in die investiert werden könne, für kommende Zeiten. So
entstand die Idee Araukaniens als Gelobtes Land, in deren Schoß die Zukunft
Chiles liege. Drei Jahre später, 1859, schlug
El Mercurio
vor, dass der Blick de-
finitiv vom Norden abgewandt werden müsse, um die Aufmerksamkeit auf den
Süden zu richten.
„Die industrielle Zukunft Chiles“ – behauptete die Tageszeitung Valparaísos – „liegt zwei-
felsfrei in der südlichen Region. Den trockenen Wüsten des Nordens gelang es nur durch ei-
nen Unfall, so zufällig wie der Fund der Mineralien und Metalle, so berühmt zu werden. Nur
deshalb kam ihnen eine Bedeutung zu, die weit davon entfernt ist, unvergänglich zu sein. Es
ist somit nur natürlich, dass sich die vorhersehenden Blicke auf diesen Teil richten, auf das
reichste und weitläufigste Gebiet Chiles.”
31
Die diesbezüglichen Artikel, die im Mai desselben Jahres veröffentlicht wur-
den, als die Krise und die Revolution von 1859 stärker spürbar wurden, plädier-
ten für eine sofortige Besetzung der Gebiete und beschworen deren Reichtum.
Laut José Bengoa stand hinter diesem Standpunkt José Bunster, ein Investor aus
Valparaíso, der in Mulchén und Angol Geschäfte machte, die durch die Haltung
der Mapuche während der Revolution von 1859 schwer geschädigt worden wa-
ren.
32
Abgesehen davon, wer tatsächlich hinter den Äußerungen im
El Mercurio
steckte, ist diese Meinung für das Klima der Zeit sehr bezeichnend.
Für den Autor des Artikels waren zwei Aspekte relevant: die Bewohner und
das Gebiet Araukanien.
„100.000 Menschen” – schrieb der Autor am 11. Mai – „auf diese Zahl ist die zwischen der
Süd- und der Nordgrenze lebende araukanische Bevölkerung angestiegen. Sie besetzen und
dominieren 4.000 (spanische) Quadratmeilen, ein Gebiet, das sich von der Küste bis zu den
Anden erstreckt. Diese Erstreckung ist nicht wenig und es gilt, sie nicht mit Desinteresse zu
betrachten. Und so ist zu bemerken und zu tadeln, dass immer noch keine energischeren und
31
“El porvenir industrial de Chile se encuentra a no dudarlo, en la rejión del Sur, no teni-
endo acia el Norte más que áridos desiertos que un accidente tan casual como el hallazgo de
ricos minerales ha logrado hacer célebres, dándoles una importancia que dista mucho de ser
imperecedera. Natural es, pues, que las miradas de la previsión se dirijan acia esa parte, la
más rica y extensa del territorio chileno.” La conquista de Arauco, 24. Mai 1859.
32
Bengoa: Historia del pueblo mapuche, 1985.
154
156
Jorge
Pinto
Rodríguez
wirksameren Mittel eingesetzt wurden um ihre Unterwerfung mithilfe eines raschen Einmar-
sches zu erreichen […].“
33
Es ist offenbar, dass die Regierung 1852 die Provinz Arauco gegründet hatte,
um jenes Gebiet, in das die staatliche Souveränität nicht hineinreichte, besser
kontrollieren zu können. Bereits der oben zitierte Bericht des Minister Varas von
1849 schlug vor, diese Gebiete mit Kolonisten zu besiedeln; dennoch war der
Ton in den Artikeln des
El Mercurio
1859 wesentlich drastischer als früher. Die
Stimmung hatte sich verändert.
El Mercurio
selbst nahm sich der Aufgabe an,
die neuen Umstände zu präzisieren:
„Tatsächlich“ – hielt er am 24. Mai fest – „haben wir die Eroberung von Arauco immer als
die Lösung eines großen Kolonialisierungsproblems betrachtet und darin einen Fortschritt für
Chile gesehen. Wir erinnern uns, auch gerade deshalb festgestellt zu haben, dass weder Ar-
beitskräfte noch Bevölkerung das sind, was das Land zu seiner Größe bedarf, sondern Territo-
rien; und das ist zweifelsfrei eine der wichtigsten Phasen dieses schwerwiegenden nationalen
Problems.”
34
Land war das, was Chile brauchte, vor allem in einem Moment der Krise, der
die Machthaber dazu zwang, über jene Gegenden, die ein Tor zu neuen externen
Märken öffnen könnten, nachzudenken.
El Mercurio
bekannte dies offen.
“Wir haben schon die Getreidemärkte in Kalifornien und Australien verloren – konstatierte
das Blatt am 10. Mai – aber es gäbe zweifelsfrei noch den großen Markt der argentinischen
Provinzen, wenn wir es schaffen würden, die früheren Beziehungen zwischen den beiden
Völkern wiederaufzubauen. Es ist bekannt, dass die Kommunikation mit der Provinz von
Buenos Aires in der Zeit der Spanier nur 15 Tage benötigte. Die Andenkordillere auf der Seite
von Arauco ist nicht so schwierig zu überqueren, wie es an den anderen Orten der Fall ist;
wenn wir dieses Gebiet erwerben, würden wir damit einen sicheren Markt für unsere Produkte
finden und hätten große Vorteile gegenüber den konkurrierenden Produkten aus den USA und
Brasilien, die dort konsumiert werden.“
35
33
“Cien mil personas más o menos a que asciende el número de araucanos entre las dos
fronteras de Sur a Norte, y cuatro mil leguas cuadradas que dominan y ocupan en esta latitud
y desde la costa del mar a la cordillera de los Andes, no es poca cosa para mirarlas con in-
diferencia, y hasta se hace notable y reprensible el que no se hayan tomado medidas más
enérgicas y eficaces para su reducción bajo una marcha más rápida [...].” “Los Araucanos”, El
Mercurio, 11. Mai 1859.
34
“En efecto siempre hemos mirado la conquista de Arauco como la solución del gran
problema de la colonización y del progreso de Chile, y recordamos haber dicho con tal motivo
que ni brazos ni población es lo que el país necesita para su engrandecimiento, sino territorio;
y esta es sin duda una de las fases más importante de esta grave cuestión nacional.” In: “La
conquista de Arauco”, El Mercurio, 24. Mai 1859.
35
“Hemos perdido ya los mercados de California y Australia para nuestros cereales; pero
tendríamos indudablemente otro abundante en las provincias arjentinas, si consiguiéramos
establecer las relaciones que antes existían entre uno y otro pueblo. Es sabido que en los
tiempos de los españoles, las comunicaciones con la provincia de Buenos Aires sólo tardaban
155Land ohne Indigene
157
Die Revolution von 1859 verkomplizierte die Sachlage noch mehr. Angestif-
tet von den beiden Konfliktparteien erreichten die Redeführer der Revolte, dass
sich einige Mapuchegruppen loyal gegenüber der Regierung von Präsident Ma-
nuel Mott zeigten und andere den General José María de la Cruz unterstützten.
Die Dokumentation der Zeit nannte diese „
montistas
” und „
crucistas
”, je nach-
dem welche Seite sie unterstützen.
36
Die Presse nutzte in diesen Jahren die politische Beteiligung aus, um das Ver-
halten der Mapuche in diesem Konflikt hart zu verurteilen. Wieder nahm
El Mercurio
bei der Kampagne, das Land zu überzeugen, dass in Araukanien un-
verzüglich gehandelt werden müsse, eine führende Rolle ein. Ein langer Kom-
mentar über “
Los bárbaros de Arauco
” fasst einen Standpunkt zusammen, der
sich als Beginn einer gegen die Mapuche gerichteten Bewegung begreifen lässt,
auf die im Folgenden noch eingegangen wird.
„Die Indigenen sind zurückgekehrt, um erneut in den Grenzgebieten zu plündern“, schrieb El
Mercurio. „Die Provinz von Arauco wird wieder einmal von diesen Barbaren heimgesucht.
Besorgnis und Unruhe haben sich in den Siedlungen des Südens ausgebreitet. Zu Beginn die-
ses Monats begingen sie ihren ersten spontanen Überfall, bei dem sie ganze Familien friedli-
cher Indigener hingerichtet haben, sie haben getötet und alles in Brand gesteckt. Jetzt ist der
Moment gekommen, den Feldzug gegen diese hochmütige und blutrünstige Rasse ernsthaft in
Angriff zu nehmen, deren bloße Anwesenheit in diesen Landstrichen eine pulsierende Gefahr,
eine Lebensbedrohung für die Reichtümer der fruchtbaren Provinzen des Südens ist. Welche
Familie könnte beruhigt sein oder sich vertrauensvoll ihrer Arbeit widmen, wenn an einem
Tag, an dem man es am wenigsten erwartet, ein Mob von kriminellen Wilden vor der Tür
steht, den gesamten Besitz anzündet und sie in einem Martyrium umkommen lässt, ohne die
Frauen, die älteren Menschen oder die Kinder zu verschonen? Es ist unmöglich diesen Zu-
stand länger beizubehalten, ohne die wesentlichsten Interessen der chilenischen Gesellschaft
zu Tode zu verletzen, ohne die Gefühle der Nation zu ignorieren, ohne die Gemüter zu reizen
und zu erzürnen.”
37
quince días, pues por el lado de Arauco la cordillera de los Andes no presenta las dificultades
para atravesarla que encontramos en los demás puntos; así, pues, adquiriendo ese territorio
encontraríamos un seguro mercado para nuestros productos, porque podríamos luchar con
ventaja con los de los Estados Unidos y el Brasil, que allí se consumen.” In: “Los Arauca-
nos”, El Mercurio, 10. Mai 1859. Carmen Norambuena betonte in einem Vortrag bei dem
Seminario Sociedad Agraria y Sociedad Minera Chilenas en la Literatura y en la Historia
(Universidad de Santiago, 1988), dass dieser Handel sich im letzten Viertel des vergangenen
Jahrhunderts stark intensivierte, und damit fast den Erwartungen der Artikel des
El Mercurio
aus Valparaíso entsprach
.
Zuvor hatte bereits Bengoa die Aufmerksamkeit auf diese Faktoren
gelenkt. Vgl. Bengoa: Historia del pueblo mapuche, 1985, S. 179.
36
Das meiner Meinung nach beste Werk über die Auswirkungen der Revolution von 1859
in Araukanien ist das von Leiva: El primer avance a la Araucanía, 1984.
37
„Han vuelto otra vez los indios a comenzar sus depredaciones en los pueblos de la
frontera. La provincia de Arauco es nuevamente amenazada por estos bárbaros y la inquietud
156
158 Jorge Pinto Rodríguez
Es war der Beginn eines Diskurses, den wir
antiindigenista
nennen können,
welcher in ganz Lateinamerika aufblühte und mit dem in Chile die Aggression
gegen die Mapuche gerechtfertigt wurde. Angelehnt an den Positivismus waren
die meisten Intellektuellen und Regierenden auf dem gesamten Kontinent uner-
bittlich in ihrer Haltung gegenüber der indigenen Bevölkerung. Die National-
staaten übten rücksichtslos ihre gesamte Macht über die indigenen Gemeinden,
die noch überlebt hatten, aus. Wenn schon die Menschen des 16. und 17. Jahr-
hunderts Unverständnis und Intoleranz gegenüber indigenen Gemeinschaften
gezeigt hatten, so prägte diese Einstellung auch das 19. Jahrhundert. Ihr Ethno-
zentrismus und ihre generelle Haltung, die teilweise bis zum Genozid führte,
erreichten ein bislang nie dagewesenes Ausmaß.
Der „Fortschritt“ schien mit der indigenen Welt unvereinbar. Besser gesagt,
die Indigenen wurden als ein Hindernis für das Erreichen des Fortschritts darge-
stellt. Also mussten sie eliminiert oder in Gebieten zusammengefasst werden, in
denen sie als Bauern leben sollten, mit der Bereitschaft, sich in die globale Ge-
sellschaft zu integrieren. Die Exklusion aus der Gesellschaft wurde somit zum
Kernpunkt der Indigenen-Politik in fast allen Ländern des amerikanischen Kon-
tinents. Chile war keine Ausnahme. Die Mapuche, die zu Beginn der Unabhän-
gigkeitsbewegung als eine Art Aushängeschild für die chilenische Nation prä-
sentiert worden waren und auf deren Werten sich die Nation angeblich gründete,
wurden nun von einer politischen Klasse und intellektuellen Vertretern ausge-
schlossen, denen sie unbequem geworden waren. Das Interesse an ihren Gebie-
ten führte schließlich zu einer Hetzjagd, die ihr nacktes Überleben gefährdete.
Als Grundlage benötigte man eine Rechtfertigung für die Besetzung ihrer Gebie-
te und wählte dazu die Exklusion der Mapuche aus dem Nationalprojekt. So
wurden sie als Wilde, als unverbesserliche Barbaren hingestellt, die es mit Ver-
nunft oder Gewalt zu dezimieren galt. Das Chile, welches in der ersten Hälfte
y la alarma se han estendido en las poblaciones del sur. Al principiar esta luna han dado su
primer malón, habiendo sacrificado familias enteras de indios pacíficos, matando e incen-
diando. Ya es llegado el momento de emprender seriamente la campaña contra esa raza so-
berbia y sanguinaria, cuya sola presencia en esas campañas es una amenaza palpitante, una
angustia para las riquezas de las ricas provincias del sur. ¿Qué familia puede estar tranquila ni
entregarse con confianza a sus trabajos, si el día menos pensado una turba de malhechores
salvajes llega a sus puertas, incendia sus propiedades y las hace perecer en el martirio, sin
respetar a las mujeres, a los ancianos y a los niños? Un estado de cosa semejante es imposible
que pueda permanecer por más tiempo sin herir de muerte los más caros intereses de la so-
ciedad chilena, sin sublimar los sentimientos de la nación, sin irritar los ánimos y exasperar.”
In dem Artikel “Los bárbaros de Arauco”, El Mercurio, 1. November 1860.
157Land ohne Indigene
159
des 19. Jahrhunderts aus der indigenen Welt hervorging, verwandelte sich in ein
Chile, das die Präsenz der Mapuche nicht mehr zuließ.
In Chile könnte man die Ideologie der Besetzung und den
antiindigenismo
,
der zeitgleich aufkam, in vier zentralen Konzepten zusammenfassen: 1) die nati-
onale Souveränität musste unbedingt auf das indigene Gebiet ausgedehnt wer-
den; 2) die Theorie einer unterlegenen Ethnie; 3) die Idee eines bedrohten und
gedemütigten Landes und 4) die Theorie einer überlegenen Ethnie. Diese Punkte
kennzeichneten das Verhältnis zwischen der Regierung und den Mapuche seit
1850 und trieben die Maßnahmen, die gegen sie ergriffen wurden, voran.
Bezüglich des ersten Konzepts wurde von den Befürwortern der Besetzung
Araukaniens hauptsächlich ein unterstützendes Argument vorgebracht, welches
für sie von äußerster Dringlichkeit war: die Souveränität des Staates sollte im
ganzen Territorium gefestigt werden. Man zielte darauf ab, ein Land zu „er-
schaffen“, das komplett der Regierung untergeordnet war und die Gegend, die
immer noch von den Mapuche verteidigt wurde, miteinschloss. Die Regierung,
so hieß es in einem Artikel im
El Mercurio
1856, müsse sich als wahrer Besitzer
von Arauco konstituieren, des
“schönsten und fruchtbarsten Teil unseres Landes, der von einer Horde Wilder bewohnt wird,
die keinerlei Hemmungen besitzen, Akte der Barbarei und brutale Gewalt zu begehen, die
wegen ihrer Straffreiheit die Autorität, welche die Regierung über sie haben sollte, null und
nichtig machen.”
38
Wenn die Indigenen nicht heute unsere Souveränität anerkennen, wurde wei-
ter argumentiert, könne morgen ein fremdes Volk in unser Land einfallen.
39
Die
Artikelschreiber des
El Mercurio
, die ständig die Argumente vermischten, stell-
ten das Problem wie folgt dar:
38
“parte más bella y fértil de nuestro territorio, habitada por hordas salvajes que no tienen
reparo alguno en cometer actos de barbarie y brutal violencia, que por su impunidad hacen
ilusoria y nula la autoridad que el gobierno pueda tener sobre ellos.” In: El Mercurio, Comu-
nicado de Arauco, 30. Januar 1856. Im Laufe dieses Artikels haben und werden wir uns auf
die vom
El Mercurio
von Valparaíso übermittelten Meinungen beziehen. Genau genommen
hatte die Tageszeitung nur jene Meinungen aufgenommen, die wir transkribiert haben, ohne
diese als eigene auszugeben. Verschiedene Chroniken, die wir wiedergeben werden, waren
sogar Notizen, die Mitwirkende von der Grenze geschickt hatten. Um der Tagezeitung aus
Valparaíso gerecht zu werden muss gesagt werden, dass
El Mercurio
auch Kommentare ver-
öffentlichte, die den Mapuche wohlgesonnen waren und die Vorschläge der Befürworter der
gewaltsamen Besetzung scharf verurteilten.
39
“La Campaña de Arauco”, El Mercurio, Valparaíso, 27. August 1859. Leiva weist darauf
hin, dass die Bedenken von einigen Menschen in dieser Zeit stark geprägt schienen von der
Anwesenheit des französischen Abenteurers Orelie Anoine, der sich selbst zum König Arau-
kaniens ernannte. Leiva: El primer avance a la Araucanía, 1984.
158
160
Jorge
Pinto
Rodríguez
“Es handelt sich nicht um den Erwerb eines unbedeutenden Teiles des Landes, denn es fehlt
Chile nicht an Land; es handelt sich auch nicht um die nominelle Souveränität über eine Hor-
de Barbaren, denn diese hatte man schon immer zu erreichen versucht: es geht darum, die
beiden getrennten Teile unserer Republik zu einer festverbundenen Gesamtheit zusammenzu-
setzen; es geht um die Erschließung einer unerschöpflichen Quelle neuer Ressourcen im Be-
reich der Landwirtschaft und des Bergbaus; um neue Wege für den Handel auf schiffbaren
Flüssen und leicht begehbaren Übergängen über die Andenkordillere [...] schlussendlich geht
es hierbei um einen Sieg der Zivilisation über die Barbarei, der Humanität über die Bestiali-
tät.”
40
Die Idee der Besetzung Araukaniens stützte sich auch auf die Überzeugung,
dass die Mapuche eine Horde Wilder waren. Sie wurden als niedere „Rasse“
eingestuft, die nicht in der Lage sei, ihre Bräuche an die neue Zeit anzupassen
und gegen die es legitim war, mit einem militärischen Feldzug anzugehen. Ge-
nau wie der oben zitierte Artikel zu verstehen gab, betrachtete man den Kampf
gegen die Mapuche als einen Kreuzzug der Zivilisation gegen die Barbarei, der
Menschlichkeit gegen die Bestialität. Darauf zu warten, dass die Araukaner sich
selbst zivilisieren, so
El Mercurio
1858, sei verlorene Zeit. Der
Indio
sei, laut
El Mercurio
im Jahr 1859, völlig unzivilisiert, denn “die Natur investierte alles in
die Entwicklung seines Körpers, während seine Intelligenz auf der Stufe eines
Raubtieres geblieben war, dessen Fähigkeiten er zwar in hohem Maße besitzt,
aber noch nie die Spur eines moralischen Empfinden hatte.”
41
So wurden die Mapuche als Raubtiere dargestellt, als eine Horde Wilder, die
zum Wohl der Menschheit verschwinden müsse. Die Sprache der Autoren des
El Mercurio
erreichte eine schier unglaubliche Bösartigkeit.
„Die Menschen“ – so ein Artikel von 1859 – „wurden nicht geboren um unnütz und gleich
den wilden Tiere zu leben, ohne einen Nutzen aus der Gattung des Menschen zu ziehen. Eine
Ansammlung von Barbaren, die so barbarisch sind wie die Pampavölker oder die Araukaner,
40
“No se trata sólo de la adquisición de algún retazo insignificante de terreno, pues no le
faltan terrenos a Chile; no se trata de la soberanía nominal sobre una horda de bárbaros, pues
esta siempre se ha pretendido tener: se trata de formar de las dos partes separadas de nuestra
República un complejo ligado; se trata de abrir un manantial inagotable de nuevos recursos en
agricultura y minería; nuevos caminos para el comercio en ríos navegables y pasos fácilmente
accesibles sobre las cordilleras de los Andes [...] en fin, se trata del triunfo de la civilización
sobre la barbarie, de la humanidad sobre la bestialidad” In: “Valdivia. Correspondencia de El
Mercurio. Una cuestión de primera importancia.”, El Mercurio, 5. Juli 1859.
41
“todo lo ha gastado la naturaleza en desarrollar su cuerpo, mientras que su inteligencia
ha quedado a la par de los animales de rapiña, cuyas cualidades posee en alto grado, no habi-
endo tenido jamás una emoción moral.” In: “La Conquista de Arauco”, El Mercurio, 24. Mai
1859.
159Land ohne Indigene
161
ist nicht mehr als eine Horde Raubtiere, die im Interesse der Menschheit und zum Wohl der
Zivilisation dringend angekettet oder zerstört werden muss.”
42
Dagegen wurde der Gedanke des bedrängten und gekränkten Landes anders
dargestellt. Nach den mühseligen Debatten der Verfassungsgeber und Intellek-
tuellen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezüglich des Territoriums und
dessen Bewohner, dachten nicht wenige Menschen in der zweiten Hälfte 19.
Jahrhunderts, dass Chile aus zwei Teilen bestehen würde: den einen Teil besie-
delten friedliche und arbeitsame Menschen; in dem anderen bewohnten Bestien
einen Wald, in dem lediglich Wildheit und Grausamkeit ihren Platz hatten. Dies
war die ewige Dichotomie zwischen Zivilisation und Barbarei. Der Kampf zwi-
schen den beiden wurde als eine historische Konstante charakterisiert, bei der
die Chilenen die Zivilisation repräsentierten und die Mapuche das Synonym für
die Barbarei waren. Es wurde gleich einem Aufeinandertreffen von Gut und Bö-
se, von Tugend und Laster, von Wissen und Ignoranz geschildert. Wenn Chile
sich für ein Handeln gegen die Mapuche entschließen würde, könne es sich auf
dem einzig möglichen Weg in die universelle Geschichte einfügen: die Anwen-
dung von Gewalt, um die Grenzen der Zivilisation zu erweitern. Damit wurde
eine Rechtfertigung gefunden und das Gewissen derjenigen, die eine Ausrottung
der Mapuche vorschlugen, beruhigt.
Aus dieser Überzeugung resultierte eine weitere: die in den Wäldern lebenden
Bestien bedrängten und schmähten die friedlichen Siedler der zivilisierten Welt.
Die armen Opfer waren die Chilenen und die Mapuche galten als die Täter. Dies
war das wahrscheinlich am häufigsten genutzte Argument der Befürworter einer
Besetzung Araukaniens und der Anwendung von Gewalt gegen die Indigenen.
Bereits 1855 waren die aus dem Süden kommenden Nachrichten alarmierend,
so meinten zumindest die Befürworter eines Einfalls in Araukanien. „Die Be-
drohung der Wilden“, war der Titel eines Artikels im
El Mercurio
vom 14. Ja-
nuar, der über die Furcht der benachbarten Siedler vor einer Attacke der Indios
berichtete. Im darauffolgenden Jahr schilderte
El Mercurio
erneut die Angst der
Bewohner von Valdivia vor einem Überfall der Indigenen aus der nördlichen
42
“Los hombres no nacieron para vivir inútilmente y como los animales selváticos, sin
provecho del jénero humano y una asociación de bárbaros, tan bárbaros como los pampas o
como los araucanos, no es más que una horda de fieras que es urjente encadenar o destruir en
el interés de la humanidad y en bien de la civilización.” In: “La civilización y la barbarie”, El
Mercurio, 25. Juni 1859. Es ist offensichtlich, dass dieser Artikel durch
Facundo
von Domin-
go Faustino Sarmiento inspiriert wurde, der im Großteil Chiles bekannt war. Hierbei soll dar-
an erinnert werden, dass Sarmiento die Publikation seines Werkes 1845 in der Tageszeitung
El Progreso
von Santiago begonnen hatte.
160
162
Jorge
Pinto
Rodríguez
Araukania, „die bösartigsten der Araukaner“.
43
Die Indigenen bedrängten Chile.
In den Jahren 1857 und 1858 bemühte sich
El Mercurio
diese Vorstellung auf-
recht zu erhalten und 1859 griff das Blatt aufgrund des indigenen Aufstandes,
der die Revolution begleitete, mit aller Macht die Mapuche weiter an. „Die Bar-
baren überfallen uns“ titelte ein Kommentar vom 30. November 1859, der von
den Übergriffen berichtete. Wie die Zeitung schon früher behauptete, wäre ein
Vorgehen gegen die Mapuche ein legitimer Gebrauch des Rechtes auf Selbstver-
teidigung, des Rechtes auf den eigenen Erhalt, ein Recht, das dem Leben eines
Menschen genau wie der Existenz eines Volkes zustehe.
44
Gegen diese Bedro-
hung müssten energische Maßnahmen ergriffen werden, erklärte ein weiterer
Autor und verlangte, um himmlischen Beistand flehend, die sofortige Bestra-
fung der Barbaren, die im Süden Angst und Schrecken verbreiteten.
45
„Es ist ei-
ne Schande für Chile“, wurde an anderer Stelle bemerkt, „dass es bis zu einem
gewissen Punkt diesen unbezähmbaren Horden ausgeliefert ist, die uns mit ihrer
Barbarei bedrohen und die Siedlungen an der Grenze in Schach halten.”
46
„Und wie wird die Republik auf die wiederholten Beleidigungen antworten, deren Opfer die
wehrlosen Siedlungen des Südens sind?“ – wurde 1860 geschrieben. „Wie wird sie die Mör-
der behandeln, die sich am Leben unserer Brüder nähren, um ihre bestialischen Instinkte wie
die Wilden zu befriedigen? Wie behandelt sie diese Diebe, die sich des Eigentums der chile-
nischen Bürger bemächtigen? Und wie diejenigen, die in einer Hand die Lanze tragen um zu
töten und in der anderen die brandstiftende Fackel um die christlichen Häuser anzuzünden?
Sollten wir ihnen ein Gehalt oder eine Belohnung anbieten, wie wir es bislang gemacht ha-
ben? Sollte sich die Flagge der Republik unterwürfig vor dem ungezähmten Werk eines
dummen und grausamen Aggressors niederwerfen? Sollten wir sie um Erbarmen anflehen und
die Gnade, uns nicht zu töten? Sollten wir sie um Verzeihung für ihre Demütigungen bitten
und ihnen damit eine Genugtuung für ihre Gewaltakte geben? Und wir, obwohl wir die Mög-
lichkeiten haben, sollen diejenigen sein, die unter ihren Demütigungen leiden werden.”
47
43
“Valdivia. Correspondencia de El Mercurio. Memoria sobre las necesidades de más ur-
jente remedio i medidas que convienen a la provincia de Valdivia”, El Mercurio, 30. Oktober
1856.
44
“Los Araucanos”, El Mercurio, 7. Juni 1859.
45
“Concepción. Correspondencia de El Mercurio”, El Mercurio, 15. Dezember 1859.
46
“Es una vergüenza para Chile que permanezca hasta cierto punto tributario de estas hor-
das indómitas que nos amenazan con su barbarie y que tiene en constante jaque a las pobla-
ciones fronterizas.” In: “Los Araucanos”, El Mercurio, 10. Mai 1859.
47
“¿Y cómo responderá la República a los repetidos ultrajes de que son víctimas los inde-
fensos pueblos del sur? ¿Cómo tratará a los asesinos que se ceban con la vida de nuestros
hermanos, satisfaciendo sus instintos feroces como salvajes? ¿Cómo a esos ladrones que se
apoderan de las propiedades de ciudadanos chilenos? ¿Cómo, en fin, a aquellos que llevan en
una mano la lanza para matar y en la otra la antorcha incendiaria para destruir las habitaciones
cristianas? ¿Iremos a ofrecerles paga y recompensas, como lo hemos hecho hasta aquí? ¿Irá la
161Land ohne Indigene
163
„Nein!“, fügte der Schreiber des Artikels weiter unten hinzu, die Geduld habe
ihre Grenzen und könne im Übermaß nur in Schwäche und Erniedrigung ausar-
ten. Und dazu, schrieb er, brächten uns diese Wilden, die aus unserer Souveräni-
tät eine Farce gemacht haben, ungeachtet der „offensichtlichen Überlegenheit
der Weißen“, die stets das ultimative Argument der
antiindigenistas
darstellte.
Der Blick richtete sich daraufhin nach Europa.
“Europa“, so ein Mitwirkender des El Ferrocarril 1858, „mit dieser übermäßigen Bevölke-
rung, scheint derzeit darauf abzuzielen, die menschliche Spezies mit einer kontinuierlichen
Auswanderung regenerieren zu wollen. Diese zwingt ihre Söhne dazu, sich auf dem gesamten
Erdball zu verbreiten, um ein weniger unsicheres Leben zu suchen. [...] Jeder der acht Staaten
Amerikas [sic], der diesen Auswanderern entgegenkommt und ihnen eine schützende Hand
reicht, ihnen den Transport in diese Gegenden erleichtert, wird dafür die höchste Entschädi-
gung an moralischen Werten und an unmittelbarem Wachstum seiner Reichtümer und seiner
Stärken erhalten; er wird mehr finden noch als das Geheimnis des wundervollen materiellen
Wohlstandes der USA.”
48
bandera de la República a prosternarse sumisa ante la planta indómita de un estúpido y cruel
agresor? ¿Iremos a decirles que tengan compasión de nosotros, y que por caridad no nos
maten? ¿Les pediremos perdón por sus ultrajes, dándoles una satisfacción por sus tropelías? Y
nosotros que tenemos la fuerza, seremos los que sufriremos la humillación.” In: “Los Arauca-
nos”, El Mercurio, 29. Juli 1860.
48
“La Europa, con una población superabundante, parece al presente destinada a rejenerar
la especie humana por una continua emigración que obliga a sus hijos a esparcirse por todo el
globo en busca de una posición menos precaria [...] Cualquiera de los 8 estados de América
que vaya a su encuentro, que les tienda una mano protectora, que les facilite el transporte a
estas rejiones, recibirá la más amplia indemnización en bienes morales, y en el desarrollo in-
mediato de su riqueza y de su fuerza; encontrará algo más que el secreto de la maravillosa
prosperidad material de los Estados Unidos.” In: “Observaciones a los escritos de Mr. Cour-
celle Senuil El Ferrocarril”, 20. Januar 1858.
162
164
Jorge
Pinto
Rodríguez
Abb. 3: Plano de Arauco y Validivia con la designación de la antigua i nueva
línea de frontera contra los indios (1870). Quelle: Sala Medina. Biblioteca Naci-
onal de Chile.
163Land ohne Indigene
165
Diese Punkte waren der erste Schritt zu einer noch radikaleren Auffassung,
die den
antiindigenismo
dieser Epoche noch verstärkte: die Idee einer angebli-
chen Überlegenheit der Weißen.
49
Als anderes Extrem wurde also dem unbe-
zähmbaren Araukaner, barbarisch und wild, dessen Gehirn die Entwicklungsstu-
fe eines Raubtieres besaß, der europäische Immigrant gegenüber gestellt, der die
Indigenen nicht nur zivilisieren könne, sondern auch den Fortschritt für all die
Landesbewohner mit sich bringen würde, die der Barbarei so nahe waren, wie
der Indigene selbst. Die Indigenen seien nicht so mutig wie man annähme, be-
hauptete ein Berichterstatter aus Valdivia in einer Ausgabe des
El Mercurio
von
1859. Außerdem treffe man auf Personen ohne Waffen und Disziplin, “und bei
einem Widerstand wäre es keine große Sache, ihnen eine wohlverdiente Lektion
zu erteilen
und sie die Überlegenheit der weißen Rasse spüren zu lassen.
”
50
„Schluss mit der Zurückhaltung“, forderte einige Jahre später Benjamín Vicuña
Mackenna, Historiker, Parlamentarier und einflussreiche Persönlichkeit in der
nationalen Politik, „hier müssen die Dinge beim Namen genannt werden. Und
das einzige Wort das zu Araukanien passt, ist Eroberung [
conquista
].“
51
Der europäische Ethnozentrismus, der sich bereits früh im 16. Jahrhundert
äußerte und die indigene Welt diskriminierte und negierte, blühte in der Mitte
des 19. Jahrhunderts erneut auf. Als sich die Regierung entschied, Araukanien
zu besetzen, ermutigte sie damit zur selben eskapistischen, realitätsverleugnen-
den Haltung, die wir Chilenen jedes Mal angenommen haben, wenn wir in einen
Spiegel schauen und unsere indigenen und mestizischen Gesichtszüge sehen, die
so schwierig zu verleugnen sind. Mit einem gewissen Stolz und die Meinung
49
Diese Ansichten beinhalteten Ideen, die A. de Gobineau in seinem Essay
Essai sur la inégalité des races humaines
vorstellt, der in Paris zwischen 1853 und 1855 publiziert wurde.
De Gobineau war überzeugt davon, dass die weiße Rasse, mit Vorliebe die arische, die über-
legene war und dass die
mestizaje
die Rassen verschlechtert. Deshalb glaubte er, dass Süd-
amerika degeneriert war und es kein Heilmittel gegen seinen Niedergang gab. Zu diesem
Punkt vgl. María Martínez Blanco: Identidad cultural de Hispanoamérica. Madrid 1988.
50
„y, en caso de resistencia no será gran cosa darles una lección bien merecida y‚
hacerles sentir la superioridad de la raza blanca
.” “Valdivia. Correspondencia del Mercurio. Los
Araucanos”, El Mercurio, 5. Juli 1859, Hervorhebungen vom Autor. Die Bewunderung für
die Europäer ließ sich im vergangenen Jahrhundert in fast allen Ländern Amerikas feststellen.
In Argentinien positionierte Esteban Echeverría die europäische Intelligenz auf dem höchsten
Niveau, das die Menschheit erreichen konnte. Juan Bautista Alberdi assoziierte den Fort-
schritt mit allem, was aus Europa kam. Vgl. Esteban Echeverría: Dogma socialista. Buenos
Aires 1915 und Juan Bautista Alberdi: Bases y puntos de partida para la organización política
de la república de Argentina. Barcelona 1914.
51
Segundo discurso, 11. August 1868. In: Vicuña Mackenna: Discursos Parlamentarios.
In: Obras Completas, Band XII. Santiago 1939, S. 413-415.
164
166
Jorge
Pinto
Rodríguez
vieler Menschen des 19. Jahrhunderts erfassend, wies Vicente Pérez Rosales
darauf hin, dass unsere oberste Tugend darin bestehe, dass wir der ‘Alten Welt’,
dem alten Europa, ähnlich seien; Chile sei ein „tatsächliches Bruchstück Euro-
pas, das 4.000 (spanische) Meilen entfernt in die andere Hemisphäre transplan-
tiert worden war“.
52
Die Leidtragenden dieser Sichtweise waren die Mapuche
des Grenzgebiets.
STIMMEN DER ANDERS DENKENDEN
Einige Grundstücksbesitzer im Grenzgebiet bejubelten die Entscheidung der
Regierung unter Präsident José Joaquín Pérez, den Indigenen den Krieg zu er-
klären, um die in der Revolution verlorenen Gebiete zurückzugewinnen. Diese
Ambitionen klagte Pedro Ruiz Aldea in der Zeitung
La Tarántula
an
.53
Bei die-
sen Ländereien handelte es sich, nebenbei bemerkt, um frühere Gebiete der Ma-
puche, die nationale Siedler besetzt hatten, und welche die indigene Bevölke-
rung 1859 versuchte zurückzubekommen. Pedro Ruiz Aldea drückte dies un-
missverständlich aus:
“Der Aufstand von 1859 im Grenzgebiet“ – schrieb er einige Jahre später – „war weder ein
Akt der Rebellion der Ureinwohner gegen die Autoritäten, noch ein gescheiterter Raubver-
such an wehrlosen Siedlungen, sondern der Schmerzensschrei einer Rasse, die in ihrem teu-
ersten Gut verwundet wurde und die das Opfer einer widerrechtlichen Aneignung ihrer Hei-
mat wurde.”
54
Einige Studenten der Universität machten ebenfalls darauf aufmerksam, dass
die Gewaltanwendung zur Besetzung der indigenen Gebiete völlig unangemes-
52
Zitiert nach Javier Pinedo: Visión de Chile en Vicente Pérez Rosales. In: Mario Berríos
(u.a.): El pensamiento en Chile, 1830-1910, Santiago 1987, S. 68. Obwohl Pérez Rosales eine
Idee vermittelt, die im Chile des 19. Jahrhunderts weitläufig verbreitet war, ist es dennoch
interessant darauf hinzuweisen, dass sich zu Beginn dieses Jahrhunderts einige Blicke gen
Osten wandten. Der Autor verweist in seinem Artikel, der in
Cartas Pehuenches
1819 publi-
ziert wurde, darauf hin, dass wir in Chile auf jene Nationen blicken müssen, die Großes er-
reicht haben, wie die Inkas und China. Wenngleich wir weder Indios noch Chinesen sein wol-
len, fügte er hinzu, könnten wir dennoch einige Bräuche von ihnen übernehmen. Siebtes
Schreiben. In: Colección de Antiguos Periódicos Chilenos, Band XIII. Santiago 1954-1966, S.
46.
53
“La Frontera”, La Tarántula, 16. April 1862. Zitiert nach Leiva: El primer avance a la
Araucanía, 1984, S. 97.
54
“El levantamiento de la frontera en 1859, no fue un acto de rebelión de los naturales con-
tra las autoridades, ni un conato de robo en poblaciones indefensas, sino el grito de dolor de
una raza herida en sus más caras afecciones, víctima de la usurpación de su patrimonio.” In:
Pedro Ruiz Aldea:La política de Arauco. 1867. Zitiert nach Bengoa:Historia del pueblo ma-
puche, 1985, S. 169.
165Land ohne Indigene
167
sen sei; andere, wie der Schriftsteller Aquinas Ried, rechtfertigten den Wider-
stand der Mapuche gegen die Absichten der Regierung, in deren Gebiete einzu-
fallen. In Chile, so Ried, gäbe es nur 1,5 Millionen Einwohner, obwohl 10 Mil-
lionen dort leben könnten. Warum also müsse Arauco erobert werden? Weiter
fügte er hinzu, dass das auf die chilenischen Münzen geprägte „durch Vernunft
oder Gewalt“ (
por la razon o la fuerza
), auf die Fundamente der Unabhängigkeit
anspiele. Hat nicht der Araukaner dieselben Rechte, sich auf dieses Prinzip zu
berufen, um seine Freiheit zu verteidigen?
55
Bei den unausweichlichen Konflik-
ten zwischen Zivilisation und der Barbarei, schloss er, „dass die Vernunft in der
Vorhut marschieren und der Gewalt einen Platz in der Reserve zuweisen sollte,
die nur zu Selbstverteidigungszwecken zum Einsatz kommt.”
56
Schließlich wa-
ren es aber die Redakteure der
Revista Católica
, einem offiziellen Organ der
Kirche, die am lautesten ihre Stimme zur Verteidigung der Mapuche erhoben.
Die
Revista Católica
wandte sich hartnäckig gegen die Anwendung von Ge-
walt. Der chilenische Bürger unterstütze die Idee, die Araukaner zu zivilisieren,
er wäre aber niemals damit einverstanden, ihnen ihre Unabhängigkeit als Preis
für die ihnen angebotene Zivilisation zu entreißen. Die Zeitung klagte den
Mer-curio
an, dass er eine Zivilisation der Grausamkeiten und Plünderung verkünde-
te, hinter der sich eine Habgier verberge, die auch dazu diente, die Eroberungen
in Asien, Afrika, Amerika und Ozeanien zu rechtfertigen und blutige Spuren
und leichenübersäte Felder zu hinterlassen. Wenn man die Seiten des
Mercurio
läse, so ein Autor der
Revista Católica
,
“in denen unsere Regierung um die Ausrottung der Araukaner gebeten wird, nur aufgrund
der Barbarei ihrer Bewohner und der Zweckmäßigkeit der Aneignung ihres fruchtbaren Lan-
des, so pocht unser Herz vor Empörung bei der Vorstellung, dass sich Namen der Zivilisation
ein See aus dem Blut der araukanischen Helden bilden soll. Dies ist ein bitterer Sarkasmus
unseres Jahrhunderts, es ist eine Beleidigung für den Ruhm Chiles; es ist das exhumierte Hei-
dentum, das aus seinem dunklen Grab seine Unheil verkündende Stimme erhebt, um dem ar-
men und vom Schicksal gebeutelten Wilden das Recht zum Atmen zu verbieten, nur weil die-
55 Bengoa: Historia del pueblo mapuche, 1985, S. 257.
56
„la razón debe marchar a la vanguardia, asignándose a la fuerza un lugar en la reserva,
puramente para los casos de defensa propia” In: “La Conquista de Arauco”, El Mercurio, 26.
März 1860. Aquinas Ried vertrat die Meinung, dass das Leitmotiv "por la razón o la fuerza",
das auf unseren Münzen neben dem Nationalwappen zu sehen ist, auch die Devise eines Stra-
ßenräubers sein könne, wenn es nicht neben einem Symbol zu finden wäre, das zeigt wie sich
die Chilenen von den Ketten der spanischen Krone befreiten.
166
168
Jorge
Pinto
Rodríguez
ser noch nicht seine aufrechte Haltung aufgeben hat, um sich dem Joch der Zivilisation zu
unterwerfen.”
57
Genau wie
El Mercurio
die Araukaner anklagte, Chile zu beleidigen und zu
demütigen, machte die
Revista Católica
der Tageszeitung von Valparaíso den-
selben Vorwurf.
“Die Ideen des Mercurio,“ – wurde an anderer Stelle gesagt – „können nur in durch Habgier
verblendeten Seelen auf wohlgesonnene Zustimmung stoßen. Diese haben sich wohl trauri-
gerweise von den ewigen Prinzipen der Gerechtigkeit, des Guten und des Ehrbaren verab-
schiedet; sie können nur Zuflucht suchen in kalten, blutrünstigen und grausamen Herzen, die
nur vor Freude schlagen, wenn sie die letzten Zuckungen eines Opfer sehen.”
58
Deshalb seien dies „Beleidigungen der Vernunft, der Würde des Menschen
und der nationalen Ehre, und außerdem eine inakzeptable Haltung“. Die Autoren
des
El Mercurio
, so die
Revista Católica
, seien Befürworter der Besetzung
Araukaniens aufgrund ihres Interesses an den Ländereien. Ihre Haltung stützten
sie auf ein Argument, das sie wiederholt vorbrächten: das von den Mapuche be-
setzte Gebiet sei chilenisch, aber die Mapuche selbst seien es nicht. Die Indige-
nen bildeten eine andere Nation, die sich von der Chiles, die den Weg des Fort-
schritts beschreite, unterscheide. Deshalb scheine nichts richtiger, als das Gebiet
gewaltsam zu besetzen, vor allem da die Geschichte gezeigt habe, dass friedli-
che Mittel nicht den gewünschten Erfolg brächten. Die Redakteure der
Revista Católica
gingen hingegen von anderen Prämissen aus. Erstens gestanden sie den
Araukanern das Eigentum ihres Landes zu und zweitens schrieben sie denjeni-
gen, die sich selbst zivilisiert nannten, eine enorme Verantwortung in der Füh-
rung der Indigenen zu. Aus diesem Blickwinkel heraus war die Eroberung un-
gerecht und ein Angriff auf die obersten Prinzipien, die über der Zweckmäßig-
keit stünden, welche häufig nur aus der Habgier rühre.
59
57
"en que se pide a nuestro gobierno el exterminio de los araucanos, sin más razón que la
barbarie de sus habitantes i la conveniencia de apoderarnos de su rico territorio, nuestro
corazón latía indignado al presentarse a nuestra imajinación un lago de sangre de los héroes
araucanos, i que anhela revolcarse en ella en nombre de la civilización, es un amargo sar-
casmo en el siglo en que vivimos, es un insulto a las glorias de Chile; es el paganismo exhu-
mado de su oscura tumba que levanta su voz fatídica negando el derecho de respirar al pobre i
desgraciado salvaje que no ha inclinado todavía su altiva serviz para recibir el yugo de la civi-
lización.” In: Independencia de Arauco. Santiago, 4. Juni 1859, S. 89-92.
58
"Las ideas del Mercurio, sólo pueden hallar favorable acojida en almas ofuscadas por la
codicia, i que han dado un triste adiós a los principios eternos de lo justo, de lo bueno, de lo
honesto; sólo pueden refugiarse en los corazones fríos, sanguinarios, crueles, que palpitan de
alegría cuando presencian las últimas convulsiones de una víctima." Ebenda, S. 91.
59
“Los Araucanos, II”, Revista Católica Nr. 590, 18. Juni 1859.
167Land ohne Indigene
169
Lasst uns nicht heidnisch sein, wurde auf ihren Seiten verbreitet, und nur der
Zweckmäßigkeit wegen eine Besetzung befürworten, darüber aber die Gerech-
tigkeit missachten; “Lasst uns weder Sozialisten noch Kommunisten sein, lasst
uns nicht den Barbaren zivilisieren, indem wir damit beginnen, ihm das zu rau-
ben, was er sich rechtmäßig angeeignet hat.”
60
Mit Waffengewalt zu zivilisieren
wäre völlig unangebracht und es sei ein verachtenswertes Schauspiel, die Zivili-
sation an den Spitzen der Bajonette zu führen.
“Der zivilisierte Mensch stellt sich mit dem Schwer in der Hand dem Wilden gegenüber und
sagt ihm: ich muss dich zum Teilhaber am Gefallen an der Zivilisation machen; ich muss dir
deine Unwissenheit veranschaulichen und obwohl du nicht verstehst, was die Vorteile von
dem sind, was ich dir verschaffe, solltest du begreifen, das einer davon ist, die Unabhängig-
keit deines Heimatlandes zu verlieren; aber, trotz allem, entscheide zwischen den beiden Al-
ternativen: entweder ich zivilisiere dich, oder ich töte dich. Dies ist, auf den Punkt gebracht,
die Zivilisation durch Waffengewalt.”
61
Dieselben Argumente wurden in
La Tarántula
aufgegriffen, einer regionalen
Tageszeitung, die in Concepción und dem Grenzgebiet verbreitet war. 1862
schrieb sie, dass das, “was im Grenzbiet passiert, kein Werk des Fortschrittes
oder der Gerechtigkeit ist; es ist ein niederträchtiges Verbrechen der Zivilisati-
on, das wir gegen uns selbst begehen.”
62
Auch in der
Cámara de Diputados
ließen sich Stimmen des Protestes gegen
die Vorgehensweisen in Araukanien vernehmen. Manuel Antonio Matta, Angel
Custodio Gallo, José Victorino Lastarria und Justo Arteaga Alemparte widerleg-
ten dort nicht nur die Argumente, die für die Eroberung Araukaniens sprachen,
sondern warnten auch vor den Schäden, die durch diese verursacht werden
könnten. „Was mich daran erschreckt“, so Matta 1868, „ist die Missachtung von
Gerechtigkeit, die einen dunklen Schatten auf die Besetzung der indigenen Ge-
biete wirft.“ Ein Vorhaben dieser Art „führe zu keinem anderen Resultat als der
Ausrottung oder der Flucht der Araukaner; denn wenn wir sie überall verfolgen
60
„no seamos socialistas ni comunistas, ni civilicemos al bárbaro comenzando por despo-
jarle de lo que justamente tiene adquirido.” “Los Araucanos I”, Revista Católica Nr. 588.
61
"El hombre civilizado se presenta al salvaje con espada en mano i le dice: yo te debo ha-
cer partícipe de los favores de la civilización; debo ilustrar tu ignorancia, i aunque no com-
prendas cuales son las ventajas que te vengo a proporcionar, ten entendido que una de ellas es
perder la independencia de tu patria; pero, con todo, elije entre esta disyuntiva: o te civilizo, o
te mato. Tal es en buenos términos la civilización a mano armada." In:“Los Araucanos I”,
Revista Católica Nr. 588.
62
“lo que ocurre en la Frontera no es obra de progreso y justicia; es un crimen nefando de
lesa civilización que cometemos contra nosotros mismos.” Isidoro Errázuriz: “Nuestra
política en la Frontera”, La Tarántula Nr. 72, 13. Dezember 1862.
168
170
Jorge
Pinto
Rodríguez
würden, bliebe ihnen keine andere Möglichkeit als unserer Überzahl an Waffen
und Kriegern zum Opfer zu fallen.”
63
Nicht sie wären dann die Barbaren,
schlussfolgerte Matta, sondern wir.
64
Zwei Jahre später sprach sich der Abge-
ordnete José Manuel Balmaceda erneut gegen die kriegerischen Aktionen im
Grenzgebiet aus. Für ihn handelte es sich dabei um einen “demoralisierenden
Krieg”, der eine Kolonialisierungspolitik hintansetzte, die „in diese Gegenden
die Industrie, den Handel und alles weitere bringen würde, das den Reichtum der
Provinz Arauco selbst und den der gesamten Republik ausmachen könnte.”
65DER PROTEST DER MAPUCHE
Seit Beginn der Besetzung Araukaniens bekundeten die Mapuche ihre Sorge
angesichts der Entwicklungen. Der Missionar des Franziskanerordens Victorino
Palavicino berichtete, dass einige Indigene, die 1850 an einer Junta in Purén
teilnahmen, um über diese Dinge zu diskutieren, in Gelächter ausbrachen und
meinten “Was haben die
huincas
[die Weißen] mit uns zu tun? Sie sollen sich
selbst regieren, wie sie wollen; wir werden machen, was uns angemessen er-
scheint.”
66
1862, einige Jahre später, nach der Gründung von Angol, wurde die
Hetze durch die direkten Interventionen des Staates und des Militärs offiziell.
Die Indigenen waren sich der Geschehnisse bewusst. Der
Mercurio
selbst
veröffentlichte die Schreiben einiger Kaziken, die uns ihre Äußerungen erhalten
haben. Eines der bezeichnendsten Schreiben war das von Mañil an den Präsiden-
ten Manuel Montt vom 21. September 1860. Darin bezog er sich auf den Auf-
stand von 1851 und ging auf die Gründe ein, die dazu geführt hatten. Bevor es
veröffentlicht wurde, bereitete
El Mercurio
seine Leser darauf vor: in diesem
Bericht gäben die Indigenen „auf ihre barbarische Art und Weise“ ihre Sicht der
63
“no traerá otro resultado que el exterminio o la fuga de los araucanos; porque per-
siguiéndolos por todas partes no tendrán más que perecer víctimas de la superioridad de nues-
tras armas i número”
64
Cámara de Diputados, Actas de Sesiones de 1868, S. 555.
65
“que llevaría a aquel territorio la industria, el comercio y todo lo que puede constituir la
riqueza particular de la provincia de Arauco y la riqueza general de la República” Wort-
meldung von Balmaceda im Abgeordnetenhaus, 23. August 1870. In: Discursos de José
Manuel Balmaceda. Gesammelt von Rafael Sagredo und Eduardo Devés, Band I, Santiago
1991, S. 31.
66
“¿qué tienen que ver los huincas con nosotros? Que se gobiernen ellos como quieran,
nosotros haremos lo que nos convenga.” In: Victorino Palavicino: Memoria sobre la Arau-
canía por un misionero del Colegio de Chillán. Santiago 1860, S. 31. Als ‚huinka’ bezeichnen
die Mapuche Personen, die nicht zu ihrem Volk gehören, oder als Feinde angesehen werden.
169Land ohne Indigene
171
Dinge bekannt. Man habe davon abgesehen, erklärte das Tageblatt, die falschen
Behauptungen Mañils zu streichen, da sie dem Schreiben eine gewisse Färbung
verliehen.
67
„Als wir von der Revolution von 1851 erfuhren“, schrieb Mañil dem Präsi-
denten, „und von dem Krieg den sie mit dir führten, stimmten wir Mapuche alle
überein, dass wir unseren Vorteil aus dieser Situation ziehen könnten‚ indem wir
die Christen, die all unser Land am diesseitigen Ufer des Bío Bío Flusses ge-
stohlen hatten, hinauswerfen, ohne auch nur einen einzigen umzubringen”.
68
Der
Intendente
Saavedra, fuhr Mañil fort, „wurde wütend darüber und ordnete an,
dass sich Truppen bereitmachen sollten, um zu rauben und zu töten. Diese wur-
den angeführt vom ‘Tiger’ González, eine andere Truppe von Nicolas Pérez,
eine von Salazar und eine weitere von Mansor.“
69
Nach einer gewissen Zeit,
schrieb Mañil, wurde Frieden geschlossen. Die eine oder andere Truppe hörte
mit den Überfällen und dem Raub auf; aber die Gefangennahme und Hinrich-
tung eines Indigenen, einem Verwandten des Kaziken Guenchumán, entflammte
die Gemüter aufs Neue. Die Reaktion der Indigenen wurde hart bestraft. Viele
Mapuche wurden ermordet, ihre Siedlungen dem Erdboden gleich gemacht und
ihr Land und ihre Tiere gestohlen. Es scheint, als ob der Chilene immer einen
Vorwand suche, die Indigenen einzuschüchtern.
„Du Intendente Villalón und du Salbo“, sagte Mañil ihnen, „gemeinsam habt ihr euch der
Tiere bemächtigt, aber damit gabt ihr euch nicht zufrieden, denn ihr habt große Bäuche. Des-
halb habt ihr erneut den Bío Bío überquert, um wieder mit Kanonen und viel anderem Kriegs-
gerät zu rauben, mit 1.500 Männern, sagt man; und alles, was getan wurde, war Häuser und
Felder anzuzünden, Familien gefangen zu nehmen und die Söhne von der Brust der Mütter zu
stehlen, welche in die Berge flüchteten um sich zu verstecken; sie ließen die Särge wieder
ausgraben, um die Silbergaben, mit denen die Toten nach indigenem Ritual beerdigt werden,
zu stehlen. Sie haben sogar christliche Frauen ermordet [...]“
70
67
“Carta del cacique Mañil al presidente de Chile, Manuel Montt, Mapu, septiembre 21 de
1860”. Dieser Brief ist Teil der Chronik des
El Mercurio
mit dem Titel “Cuestión de Arauco”,
El Mercurio, 31. Mai 1861.
68
“Cuando supimos de la revolución de 1851 y de la guerra que te hacían, acordamos todos los mapuche
aprovecharnos de la situación para botar a todos los cristianos que nos tenían robadas todas nuestras tierras de
esta banda del Bío Bío, sin matar a nadie.” Ebenda.
69
"se enojó por esto y ordenó se acomodasen partidas para que viniesen a robar y matar, que se llamaba el
tigre González, otro Nicolás Pérez, un Salazar y otro Mansor" Ebenda.
70
"Tu Intendente Villalón con Salbo, juntos quedaron llenos de animales, pero no se con-
tentaron, porque tienen su barriga mui grande, porque volvieron a pasar el Bio Bio a robar
otra vez con cañones y muchos aparatos para la guerra, trayendo, dicen, mil y quinientos
hombres; y todo lo que hizo fue quemar casas, sembrados, hacer familias cautivas quitándoles
de los pechos a sus hijos a las madres que corrían a los montes a esconderse, mandar cavar las
170
172 Jorge Pinto Rodríguez
Zahlreiche Mapuche befanden sich in der Gefangenschaft der Chilenen.
“Wenn dieser Intendente
,
“ – warnte Mañil bezüglich Villalón – „mich betrügt und erneut den
Bío Bío mit bewaffneten Männern überquert, und wenn er mir nicht meine Gefangenen über-
gibt, kann ich meine Indios nicht länger zurückhalten, und ich kann nicht sagen, welches der
beiden Gebiete dann stärker mit Blut befleckt sein wird.”
71
Der Diebstahl des Landes ist das Hauptmotiv für den Krieg, so Mañil, “öffne
dein Herz und höre was ich sage”. Der
Intendente
Villalón und die Männer um
ihn herum haben einen “starren Dickkopf und Bäuche, die nie zu füllen sind“.
Mit ihnen wird es niemals Frieden geben.
72
Wenn die Regierung um Frieden er-
suche, soll Mañil auf dem Sterbebett zu verschiedenen Kaziken gesagt haben, so
müsse dieser angenommen werden, auch wenn dies große Opfer bedeuten mag;
aber wenn ihnen der Krieg erklärt würde, um ihnen ihr Land zu entreißen, soll-
ten sie bis zum Tod kämpfen.
73
Ein Jahr nach dem Tod Mañils schrieb eine
Gruppe von Kaziken erneut an den Präsidenten, jetzt an José Joaquín Pérez.
Wieder waren es die Vorwürfe des Raubens, der Brandschatzung von Häusern
und Feldern und die Gefangennahme von Familien, die den Inhalt des Schrei-
bens bestimmten.
74
„Wir erwarten, Präsident“, betonten die Kaziken, „wenn dich die Übel, die uns allen in den
letzten zehn Jahren ohne Wiedergutmachung von der Regierung Montes angetan wurden,
überzeugen, dass du uns das gibst, was der Gerechtigkeit entspricht. Denn auch wenn ihr uns
Barbaren nennt, wissen wir was gerecht ist. Und du wirst sehen, dass uns die
Montistas
die-
selben Dinge angetan haben, wegen denen sie uns als Barbaren verurteilt haben.”
75
sepulturas para robar las prendas de plata con que entierran los muertos en sus ritos los indios,
y matando hasta mujeres cristianas [...]”. In: “Carta de Mañil al Presidente Montt.”
71
"Si este Intendente me engaña y vuelve a pasar el Bío Bío jente armada y no me entrega
mis cautivos, yo no podré contener a los indios y no se cual de los dos campos quedará más
ensangrentado" In: “Carta de Mañil al Presidente Montt”.
72
“Carta de Mañil al Presidente Montt.”
73
“Se inició la Guerra en Arauco-Frontera”, La Tarántula Nr. 4, 16. April 1862.
74
“Carta de los caciques al Presidente de la República, Mapu, septiembre 24 de 1861”, El
Mercurio, 9. November 1861.
75
"Esperamos, pues, Presidente que cuando te convenzas de los males que nos han hecho a
todos el gobierno de Monte y que durante diez años no ha puesto remedio, nos dirás lo que
sea de justicia pues deben conocer que aunque nos llaman bárbaros conocemos lo que es
justo, y verás que los Montistas han hecho las mismas cosas que nos desaprueban a nosotros
como bárbaros" In: “Carta de los caciques al Presidente de la República, Mapu, septiembre 24
de 1861”, El Mercurio, 9. November 1861.
171Land ohne Indigene
173
Horacio Lara schrieb die Worte eines anderen Kaziken nieder, der sich gegen
Cornelio Saavedra stellte, als das Militär gerade seinen Vormarsch Richtung
Süden begann. Es sind einfache Worte mit tiefsinnigem Inhalt:
“Pass auf, Oberst. Siehst du nicht diesen wasserreichen Fluss, diese weitläufigen Wälder und
diese ruhigen Felder? Na also. Dies alles hier hat noch keine Soldaten gesehen. Unsere Sied-
lungen sind oftmals alt geworden und wir haben sie immer wieder aufgebaut; unsere Bänke
wurden im Lauf der Jahre wurmstichig, aber wir haben neue gemacht, und auch die haben nie
Soldaten gesehen: auch unsere Großväter hätten das niemals zugelassen. Wie verlangt ihr nun
von uns, das zuzulassen? Nein! Nein! Geh weg, Oberst, mit deinen Soldaten; demütige uns
nicht länger damit, mit ihnen unser Land zu betreten.”
76
Nicht alle konnten sich gegenüber dem Oberst derart offen äußern. Laut einer
Chronik des
El Mercurio
, wandten sich einige Indigene in Vorahnung ihres
Schicksals an Saavedra, als sie sahen, wie dieser sich anschickte, Angol neu zu
besiedeln: “Jetzt sind deine Leute hier. Und wir, was sollen wir jetzt tun? Behal-
te es [das Land] und arbeite einfach.”
77
Die Frauen sprachen die gleiche Sorge
aus. Ein Chronist der Zeit berichtete:
„Es ist wirklich schmerzlich den Wehklagen und Schmerzensausrufen der araukanischen
Frauen beizuwohnen. Sie flüchteten angsterfüllt in die Wälder, als sie sahen wie unsere Sol-
daten ihre Positionen bezogen“.
78
Einige Jahre später, 1867, konfrontierten die Kaziken Saavedra erneut, um
sich dieses Mal über die Betrügereien zu beschweren, denen sie zum Opfer ge-
fallen waren. Am 19. November 1867, äußerte sich einer von ihnen im
parla-mento
von Malleco folgendermaßen:
“Wir wurden hier versammelt, um über den Frieden zu verhandeln, und jetzt kommt ihr uns
damit, dass wir unser Land verleihen sollen, um darauf Soldaten zu positionieren; das ist un-
76
"Mira, coronel. ¿No ves este caudaloso río, estos dilatados bosques, estos tranquilos
campos? Pues bien. Ellos nunca han visto soldados en estos lugares, nuestros ranchos se han
envejecido muchas veces y los hemos vuelto a levantar; nuestros bancos el curso de los años
los ha apolillado y hemos trabajado otros nuevos y tampoco vieron soldados: nuestros abuelos
tampoco lo permitirían jamás. Ahora ¿Cómo queréis que nosotros lo permitamos? ¡No! ¡No!
Vete coronel, con tus soldados; no nos humilles por más tiempo pisando con ellos nuestro
suelo" Zitiert von María Angélica Illanes: Del mito patriótico al positivismo militar. El
pensamiento del coronel Pedro Godoy. In: Mario Berríos (u.a.): El pensamiento en Chile,
1987.
77
“Diario militar de la última campaña y repoblación de Angol”, El Mercurio, 15. Juli
1863. Wiedergegeben in Leiva: El primer avance a la Araucanía, 1984, S. 177-203.
78
“Era verdaderamente penoso presenciar los llantos y esclamaciones de dolor de las mu-
jeres araucanas al ver que se instalaban nuestros soldados en sus posesiones de donde huían
despavoridas a los bosques” Horacio Lara: Crónica de la Araucanía, Band I, Santiago 1889, S.
265.
172
174
Jorge
Pinto
Rodríguez
möglich! Ein Pferd, eine Gespann Ochsen oder eine Kuh kann man verleihen; aber Land
nicht. Vor nicht langer Zeit gingen einige Kaziken nach Santiago, wir haben mit dem Präsi-
denten gesprochen und er hat uns versprochen, dass wir in Frieden auf unseren Besitztümern
unter seinem Schutz leben können. […] Die Regierung hat uns betrogen! Wenn sie uns so
sehr unterdrücken, wo sollen unsere Tiere weiden? Wo sollen wir unsere Kinder aufziehen?
Wir werden nochmals nach Santiago gehen, und der Präsident wird sein Wort halten.”
79
Die Stimmen der indigenen Bevölkerung rückten die Dinge zurecht, oder bil-
deten zumindest ein Gleichgewicht. Richtig betrachtet war das bedrängte und
gedemütigte Chile, das die Redakteure von
El Mercurio
und
El Ferrocarril
im
zentralen Chile sahen, dasselbe, das die Indigenen Araukaniens bedrängte und
demütigte. Und die Autoritäten in Santiago waren sich dessen bewusst.
“[...] Es ist uns nicht mehr möglich, die grausame Tyrannei, die uns erdrückt, weiter zu ertra-
gen“, schrieb ein Kazike 1896 dem Präsidenten Federico Errázuriz Echaurren. „Die den Staat
repräsentierenden Autoritäten arbeiteten zusammen mit den Spekulanten bei der Enteignung
der Ländereien und der Tiere im Grenzgebiet. Sie zwingen uns, das zu verlassen, was wir am
meisten lieben, wo wir mit unseren Eltern gelebt haben, wo ihre Überreste ruhen, das Land
mit dem wir unsere Kinder ernährt haben und das wir mit unserem Blut gegossen haben. […]
Wir alle“, – fuhr der Kazike fort – „haben uns dem Ackerbau und der Viehzucht verschrieben
und damit schon mehr Steuern gezahlt, als die Ausländer, die uns heute ersetzen sollen. Wir
haben schon mehr für das Wohl Chiles getan. Aber das ist jetzt nicht mehr möglich, denn wir
wurden unrechtmäßig unserer Mittel beraubt. [...] Uns wollen sie zu Tode martern und auf
jeden Fall ausrotten. Die ländliche Polizei schikaniert uns, nimmt uns unsere Pferde weg und
macht uns für jeglichen Raub verantwortlich, der im Grenzgebiet begangen wird; sie schleift
uns ins Gefängnis, wo wir auf grausame Art malträtiert werden, wo wir Hunger leiden müssen
und an Qualen und Stillstand sterben.”
80
79
“Se nos ha reunido para tratar la paz y ahora nos salen con que prestemos tierras para
colocar soldados: ¡esto es imposible! Un caballo, una yunta de bueyes, una vaca pueden
prestarse; pero tierras no. No hace mucho tiempo fuimos a Santiago algunos caciques,
hablamos con el Presidente y nos prometió que viviríamos tranquilos en nuestras posesiones
bajo su protección. [...] ¡El gobierno nos ha engañado! Si tanto nos oprimen ¿en donde
pastarán nuestros ganados? ¿Dónde criaremos a nuestros hijos? Iremos otra vez a Santiago y
el Presidente nos cumplirá su palabra”. In: “Parlamento de Malleco”, La Tarántula Nr. 584, 7.
Dezember 1867.
80
“[...] ya no nos es posible soportar más tiempo la cruel tiranía que sobre nosotros pesa. Las
autoridades en representación del estado cooperan en el despojo que nos hacen los especu-
ladores de tierras i animales en la frontera, obligándonos a abandonar lo que tanto amamos i
en que hemos vivido con nuestros padres, en la que sus restos descansan, con la que hemos
alimentado a nuestros hijos i regado con nuestra sangre. [...] Todos nosotros, nos dedicamos
al cultivo de la tierra y a la crianza de animales contribuyendo así más que los extranjeros que
hoi nos sustituyen, al bienestar del pueblo de Chile, pero ya no es posible hacer esto porque se
nos ha despojado con injusticia de nuestros elementos [...] A nosotros se nos martiriza y trata
de exterminar de todos modos. Los policías rurales nos vejan i quitan nuestros caballos i se
nos hace responsable de cualquier robo que en la frontera se efectúe; se nos arrastra a la cárcel
i allí se nos maltrata cruelmente i tenemos que sufrir el hambre i morir de pena i estagnación.”
173Land ohne Indigene
175
Nichtsdestotrotz wurden die Dinge in Santiago anders gesehen und, was noch
schlimmer ist, sie wurden zu einer unsichtbaren Geschichte gemacht, die nur
wenige Chilenen wirklich kennen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hörte Mañil
stillschweigend den Indigenen zu, die ihn begleiteten: Die Chilenen, sagte er
ihnen dann, sind arm und werden dir dein Land rauben. Kilapán verabscheute
sie: sie wollen Siedlungen schaffen “um uns wie Kühe einzuzäunen”, das wollen
sie, sagte er allen, die es hören wollten.
81
Unsere Vorfahren verfügten über aus-
reichend Land, um darauf Guanacos, Kühe und Schafe zu züchten, beschwerte
sich ein anderer Mapuche. Dann haben sie uns das Land weggenommen und las-
sen uns jetzt auf so wenigen Hektaren zusammengedrängt leben, dass wir Bau-
ern werden mussten. Die Regierung macht gar nichts für uns, schließen wir dar-
aus.
82
Es war eine Vorahnung des Untergangs der Indigenen, die weiterzuleben
entschlossen waren.
Pascual Coña erlebte und erzählte die Ereignisse jener Zeit. Seit der Beset-
zung Araukaniens wurde sein Leben zu einer Tragödie. Als erstes brannte seine
Hütte nieder, dann verließ ihn seine Frau und zuletzt musste er die Rechtsstrei-
tigkeiten und die schlechte Behandlung durch die Farmpächter ertragen, die sich
auf seinem Land niederließen. “Wenn ich doch nur jetzt sterben könnte, um all
dieses Elend nicht länger sehen zu müssen”, sagte er einem Kapuzinermönch,
der sein Leben aufzeichnete. „Was habe ich armer Mensch nur getan, um so lei-
den zu müssen? [...] Wenn ich nur sterben könnte, wie schön das wäre!“
83
Dieses Elend resultierte großteils aus dem Verlust des Landes, das heute nur
schwer zurückzugewinnen ist. Laut zuverlässigen Angaben haben die Familien
der Mapuche bis 1900 von den 3,2 Millionen Hektar, die die Region Araukanien
heute umfasst, nur 407.696 Hektar erhalten, also nur 12,8% des Landes, das ih-
nen ursprünglich gehörte. Das bedeutet, dass sie die Kontrolle über 87,2% ihres
Landes verloren haben. In dieser Rechnung sind die folgenden Ereignisse noch
nicht bedacht. Als der Prozess der Entwurzelung 1929 abgeschlossen war, be-
Schreiben des Kazike Truf Truf, Esteban Romero, an den Präsidenten der Republik, Chillán,
10. November 1896. Archivo Nacional, Ministerio de Relaciones Exteriores, Culto y Coloni-
zación, Solicitudes Particulares, Vol. 749. Mein Dank gilt Jaime Flores, der mir eine Kopie
dieses Dokumentes zur Verfügung gestellt hat.
81
Tomás Guevara: Las últimas familias y costumbres araucanas. Santiago 1912, S. 227-
284.
82
Ebenda, S. 427-428.
83
“¿Qué he hecho yo, pobre hombre, para tener que sufrir tanto? [...] ¡Si pudiera morir,
que bueno sería!” Pascual Coña: Testimonio de un cacique. Santiago 1984, S. 456-458.
174
176
Jorge
Pinto
Rodríguez
trug der durchschnittliche Besitz eines Familienoberhauptes der Mapuche 5,72
Hektar, während die Großgrundbesitzer durch Versteigerungen, Käufe oder Ge-
nehmigungen der Kolonisierung Land erwerben konnten, das sich zu hunderten
oder gar tausenden Hektar summierte.
84CHILE OHNE INDIGENE
Eines der Vorhaben der Elite, die Chile in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts regierte, war es, die indigene Bevölkerung verschwinden zu lassen, um
ein Land ohne sie aufzubauen. 1867 erklärte Benjamín Vicuña Mackenna in
stolzem Tonfall, dass Chile sich problemlos mit Mexiko vergleichen könne.
Denn “wenn wir auch nur 2 Millionen Menschen sind, bilden wir eine Bevölke-
rung, die fast so groß ist, wie die Mexikos. Denn dort leben 6 Millionen Indige-
ne, völlig nutzlos für die Zivilisation und dementsprechend mehr daran interes-
siert, die Zivilisation zu bekämpfen als sie anzunehmen.”
85
Wir Chilenen, meinte
der Chronist Crescente Errázuriz einige Jahre später, sind Nachfahren der Spa-
nier und ihr Ruhm “ist unser, da wir von ihnen abstammen.”
86
Im Übrigen, “sind
wir bei den Indigenen unter dieser Bezeichnung [Spanier] bekannt, ob wir nun
von den Konquistadoren oder von den Siedlern abstammen mögen.”
87
Der Mapuche wurde aus der Geschichte entfernt. Nur noch die Erinnerung an
den mythifizierten Krieger des 16. Jahrhunderts schmückte die Seiten der libera-
len Geschichtsschreibung, allerdings wurde sich bemüht, den Wert seiner Taten
84
Martín Correa, Raúl Molina und Nancy Yáñez: La Reforma Agraria y las tierras mapu-
ches. Chile 1962-1975. Santiago 2005, S. 50-52. Das erste Kapitel des Buches, “La constitu-
ción de la propiedad agraria en la Araucanía” (S. 17-70) ist eine der anschaulichsten Zusam-
menfassungen dieses Themas.
85
“aunque seamos sólo dos millones de almas, representamos una población casi tan
grande como la de Méjico, que tiene seis millones de indios, enteramente inútiles para la civi-
lización, i por consiguiente, más inclinados a combatirla que a aceptarla” Aus: “Conferencia
ante el ‘Club de los viajeros’ de Nueva York sobre la condición presente i porvenir de Chile”.
In: Benjamín Vicuña Mackenna: Diez meses de misión a los Estados Unidos de
Norteamérica, Band II, Appendix B. Santiago 1867, S. 14-34.
86
Crescente Errázuriz: Seis años de Historia de Chile, Band I. Santiago 1881, S. xii. Dieser
Diskurs kontrastiert auf interessante Art den des Ex-Präsidenten Francisco Antonio Pinto, auf
den im ersten Abschnitt des Artikels eingegangen wird. Pinto bezieht sich darauf, dass sich
die Verfechter der Unabhängigkeit als Nachfahren der Mapuche gesehen hatten und darauf
stolz waren.
87
“somos conocidos con esta designación [españoles] entre los indios cuantos descen-
demos de conquistadores o colonos” Errázuriz: Seis años de Historia de Chile, Band I, 1881,
S. 3-4.
175Land ohne Indigene
177
schmälern. Miguel Luis Amunátegui betonte beispielweise, dass der indigene
Widerstand immer „einer der Barbarei gegen die Zivilisation war” und dass die
Berufung späterer Kaziken auf die Mapuche Helden Caupolicán und Lautaro
„eine rein rhetorische Illusion“ waren, die sich auf die Unkenntnis der Fakten
stütze.
88
Ein anderer bedeutender Positivist des 19. Jahrhundert, Diego Barros
Arana, betonte fortwährend das Fehlen indigenen Blutes in den Chilenen. Nach
einer Anekdote, in der Carlos Orrego Barros über seine Zeit in Paris erzählte,
reagierte er erzürnt auf die Anspielung, die Araukaner hätten nach der Unabhän-
gigkeit die Regierung übernommen. Präsident Montt, belehrte er seinen zufälli-
gen Gesprächspartner, sei „sehr weiß und mit apollinischen Zügen”. Nichts, was
diese Wilden in Araukanien ausmache, könne mit den Chilenen in Verbindung
gebracht werden.
89
Dennoch fielen die Träume der Elite wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Trotz der Gewalt, die gegen die Mapuche angewandt wurde, antizipieren die
Verse von Gabriela Mistral – die dazu verwendet wurden, diesen Artikel einzu-
leiten – eine Realität, die sich diejenigen, die die Mapuche verschwinden lassen
wollten, niemals vorgestellt hatten. Etwa 130 Jahre nachdem die Politik der Ver-
folgung der Mapuche begonnen hatte, berichten die Tageszeitungen aus Santia-
go und Araukanien noch immer über Gewalttaten, die die Region und das Land
erschütterten. Die Rückgabe der Ländereien ist nach wie vor der gravierendste
Faktor in diesem Konflikt. Im Jahr 2008 zeigten einige Ereignisse wie der Tod
des Kommunenmitgliedes Matías Catrileoy, die brennenden Wälder und Last-
wägen auf den Straßen und die Angriffe auf die Besetzer der Ländereien, die
den Gemeinden widerrechtlich entrissen worden waren, wie schwerwiegend die-
ser Konflikt immer noch ist. Die Überzeugung, dass die Indigenen in Chile mit
der Zeit verschwinden würden, blieb bloße Fiktion.
Die Volkszählung, die im 20. Jahrhundert von der Republik durchgeführt
wurde, bewies genau dies. Von der ersten Zählung 1907 bis zur letzten im Jahre
2002 wurden die Indigenen separat von den Chilenen erfasst. Diejenigen, die
ihre Ländereien verlassen mussten, haben ihre Identität behalten und ihre Her-
kunft nicht vergessen. Auch die Illusion, Fortschritt zu bringen und die Region
regierbar zu machen, wurde zerschlagen. Niemand bezweifelt den Aufschwung,
den die letzten 100 Jahre seit der Besetzung gebracht haben. Nichtsdestotrotz
88
Die erste Beobachtung stammt aus Miguel Luis Amunátegui: Los precursores de la In-
dependencia de Chile, Band II. Santiago 1909-1910, S. 499; die zweite aus Miguel Luis
Amunátegui: La Crónica de 1810, Band I. Santiago 1876, S. 5.
89
Carlos Orrego Barros: Diego Barros Arana. Santiago 1922.
176
178
Jorge
Pinto
Rodríguez
bleibt Araukanien den Erhebungen des United Nations Development Program
und verschiedenen Ministerien der Regierung zufolge die Region mit den
schlechtesten Entwicklungsindikatoren des Landes.
Die historische Erinnerung in der Grenzregion selbst setzt sich überdies aus
den Ressentiments zusammen, die durch die aufeinander folgenden Invasionen
entstanden und im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichten, als der Staat zur
Unterwerfung der Mapuche das Militär in die Region schickte. Es ist eine Erin-
nerung, die aus Gewalt und unrechtmäßiger Enteignung besteht, aus gedemütig-
ter Würde, aus Angst vor dem Fremden und tiefem Misstrauen. Die “
escucha huinca
” (Hör mal huinca)- Studien junger Historiker aus Temuco, und die Poe-
sie von Juan Bautista Oñate, die beide in dem Buch “
RazaHerida
” erschienen
sind, fassen die Wut und den Schmerz zusammen, aber auch die Hoffnung, die
immer noch besteht.
90
„¡Resentidos!“, – schrieben die jungen Historiker aus Temuco – „wäre wohl der beste Aus-
druck, der das Gemüt unserer Feinde und derjenigen, die die Geschichte nicht kennen, be-
schreibt. Wir sind so daran gewöhnt über nichts mehr zu diskutieren, damit das Etablierte
(wie die Ideen) nicht auseinander genommen wird.“
91
Der Inhalt ihres Buches, fügten sie weiter unten hinzu,
“lässt sie an die neue Generation der Mapuche denken, die, falls sie sich einmal von der men-
talen Eroberung, die der Staat mit seiner Bildung vorantreibt, gelöst haben, und auf das auf-
merksam werden, was in diesem Moment nicht in unseren Händen lag: eine organisierte und
systematisierte Erinnerung, die denen gedenkt, die es verdienen, und die sie nicht mit der
Formatierung ihrer Vorstellungen durch eine Landkarte, ein Wappen oder tausend bedeu-
tungsloser Schlachten verwirrt.”
92
Das Projekt der Modernisierung und Integration in Araukanien scheiterte, da
der Staat die mestizische Gewalt nicht stoppen und den Übergriffen gegen die
90
Pablo Marimán, Sergio Caniuqueo, José Millalen und Rodrigo Levin: ¡...Escucha winka!
und Juan Bautista Oñate: RazaHerida. Temuco 2005.
91
“¡Resentidos! Seguramente será la mejor expresión que recoja el ánimo de nuestros
enemigos e incultos de la historia. Estamos tan habituados a que no se discuta nada para no
desarmar lo ya establecido (como las ideas)”. Der Ausdruck “resentido” beschreibt Gefühle
der Verbitterung, bzw. dass die Person nachtragend ist.
92
“se hicieron pensando en las nuevas generaciones de Mapuches que una vez que se
desencanten de la colonización mental que hace el Estado desde la educación, encuentren lo
que nosotros no tuvimos a manos en ese momento: memoria organizada y sistematizada que
les recuerde a quien se deben y que no los confundan formateando su imaginario con un
mapa, un escudo o cuantas batallas sin importancia.” Pablo Marimán, Sergio Caniuqueo, José
Millalen und Rodrigo Levin: ¡…Escucha winka!, 2005, S. 13, 16.
177Land ohne Indigene
179
Mapuche keinen Einhalt gebieten konnte, schrieb ein Historiker unserer Zeit.
93
Die staatliche Effizienz erschöpfte sich in der Besetzung des Gebietes. Von die-
sem Punkt an wusste der Staat nicht mehr, wie er weiter handeln sollte oder, ein-
fach ausgedrückt, er war nicht mehr in der Lage, die Interessen, die rund um das
Gebiet entbrannt waren, effektiv zu steuern.
“Ihr kommt von weit entfernten Orten“, – sagte Domingo Namuncura 1998
zu den versammelten Indigenen in Chiu Chiu beim ersten nationalen Kongress
der Völker Atacamas – „aber hier geht es nicht nur um Entfernungen. Ihr kommt
auch aus langer Ungerechtigkeit und habt viele Diskriminierungen erfahren.”
94
In Araukanien wurde dieser weite Weg noch dadurch erschwert, dass die Po-
sitivisten des 19. Jahrhundert mit ihrem Modernisierungsprojekt ein Land ohne
Indigene zu konstruieren versuchten, wo dies nicht möglich war.
93
Leonardo León: Tradición y modernidad: vida cotidiana en la Araucanía (1900-1935).
In: Revista Historia Vol. 40, Santiago (2006), S. 333-378.
94
„Ustedes vienen desde lugares muy remotos. Pero no es sólo un asunto de distancia.
Ustedes vienen desde largas injusticias y después de atravesar por muchas discriminaciones”
Domingo Namuncura: Ralco: ¿represa o pobreza?. Santiago 1999, S. 44.
178179JOAQUÍN FERNÁNDEZ ABARA*
VON DER KOLLABORATION MIT DEM STAAT ZUM REGIONALEN PROTEST: DIE JUNTA DE MINERÍA
VON COPIAPÓ UND DER URSPRUNG DES BÜRGERKRIEGS 1859
EINLEITUNG
Nach den Unabhängigkeitsbewegungen befanden sich die
lateinamerikanischen Staaten in einer Gründungsphase und versuchten ihre
Territorien regierbar zu machen. Sie mussten eine Situation der politischen
Stabilität schaffen, die es ihnen erlauben würde, staatliche Funktionen mit
Legitimität auszuüben, um die Kontinuität der neuen republikanischen Ordnung
zu gewährleisten
1
. Doch ihre Instabilität hinderte sie daran, selbständig diese
Herausforderungen anzunehmen, ein Problem, das sich besonders in peripheren
oder Grenzgebieten als dramatisch erwies. Aufgrund dieser Umstände mussten
die staatlichen Delegierten vor Ort mit verschiedenen lokalen Akteuren
Allianzen eingehen, um effektiv regieren zu können. Trotzdem kann diese
Situation in vielen Fällen als traumatisch bezeichnet werden: sowie die Staaten
versuchten, die lokalen Akteure, mit denen sie Abkommen geschlossen hatten,
zu kontrollieren oder deren Funktionen wieder zu übernehmen, entstanden
Konflikte.
Einige Körperschaften der alten Verwaltungsform, wie indigene
Gemeinschaften, Gemeinderäte oder Milizen, erwiesen sich gelegentlich als
nützlich für den neuen republikanischen Staat. Auf lange Sicht jedoch ergaben
sich hier Konflikte mit den sich formierenden Staaten, etwa bezüglich der
Zuweisung von Befugnissen und deren Tendenzen zur Zentralisierung
staatlicher Macht. Der Widerstand dieser korporativen Gruppen, ihre
*Absolvent des Magisterprogramms für Geschichte der Pontificia Universidad Católica,
Chile. Professor an der Universidad Alberto Hurtado. Mein Dank gilt Clara Guaita, des Liceo
José Antonio Carvajal in Copiapó und Danilo Bruna vom Museo Regional von Atacama, die
großzügigerweise Materialien zur Verfügung gestellt haben, durch welche diese
Forschungsarbeit ermöglicht wurde. Außerdem danke ich den Professoren Luís Ortega, Pablo
Rubio, Hernán Venegas, Hernán Cortés, Danny Ahumada, Enzo Videla und Jorge Molina für
die von ihnen beigesteuerten Informationen.
1
Antonio Camou: La múltiple (in)gobernabilidad. Elementos para un análisis conceptual.
In
:
Revista Mexicana de Sociología 6-24 (2000), S.185.
180
182
Joaquín Fernández Abara
Kompetenzen und Privilegien aufzugeben, könnte somit eine
Erklärungsmöglichkeit für die regionalen Konflikte des 19. Jahrhunderts sein
2
.
Im Fall Chiles zeigen die Bürgerkriege der 1850er Jahren die Gegenwärtigkeit
einiger dieser Konflikte, die vor allem in den nördlichen Bergbauprovinzen und,
wie in dem Beitrag von Jorge Pinto in diesem Band dargestellt, an der Grenze zu
den Mapuche häufig waren
3
.
Das schnelle Scheitern der Föderalisten 1826 und die Entscheidung für eine
zentralistische Ordnung durch die politischen Eliten führten ebenfalls dazu, dass
in der chilenischen Geschichtsschreibung Sichtweisen überwiegen, in denen die
regionalen Konflikte vernachlässigt werden. Das Beispiel Chile wird im
lateinamerikanischen Kontext zudem häufig als außergewöhnliche interpretiert
4
.
Durch diese Sichtweise wird die dem Staat zugeschriebene Macht aber
möglicherweise überbewertet, vor allem wenn man die
decenios pelucones
, die
Jahrzehnte zwischen 1830 und den frühen 1860er Jahren, betrachtet, in denen in
Chile eine konservative Regierung an der Macht war. Dieser Standpunkt wird
auch im Werk Alberto Edwards vertreten, einem Vertreter der national-
konservativen Historiografie, der die konservativen Regierungen jener Zeit als
stabile, zentralisierende, nicht personengebundene sowie abstrakte
Administration und Staatsmacht beschrieb
5
. Dabei bleibt fraglich, ob es in jener
Epoche möglich war, diese Ideale zu erreichen. Es ist anzunehmen, dass dies
2
Zu den korporativen Akteuren und deren Weiterbestehen nach der Unabhängigkeit
vergleiche Claudio Lomnitz: Nationalism as a practical system. Benedict Anderson’s theory
of nationalism from the vantage point of Spanish America. In: Miguel Ángel Centeno und
Fernando López-Alvez (Hrsg.): The other Mirror: Grand theory through the lens of Latin
America. Princeton 2001, S. 336-337; François-Xavier Guerra: La Identidad Republicana en
la Época de la Independencia. In: Gonzalo Sánchez (Hrsg.): Museo, Memoria y Nación.
Bogotá 2000, S. 5,6. (Transkription des Originaltextes); François-Xavier Guerra: Modernidad
e Independencias: Ensayos Sobre las Revoluciones Hispánicas. México 1993, S. 323–327;
José Carlos Chiaramonte: El federalismo argentino en la primera mitad del siglo XIX. In:
Marcello Carmagnani (Hrsg.): Federalismos latinoamericanos. México / Brasil / Argentina.
México 1993, S. 81-132 und außerdem Hira Gortari Rabiela: Los ayuntamientos en el
gobierno y organización territorial de los estados de la Federación Mexicana: 1824–1827. In:
Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 39 (2002), S. 253-273.
3
Pedro Pablo Figueroa: Historia de la Revolución Constituyente (1858-1859). Escrita
sobre documentos completamente inéditos. Santiago 1889; Luis Vitale: Las guerras civiles de
1851 y 1859 en Chile. Concepción 1971, S. 10-15 und 37-51; Maurice Zeitlin: The civil wars
in Chile (Or the burgeois revolutions that never were). Princeton 1984, S. 21-70; Simon
Collier: Chile. La construcción de una república. 1830-1865. Política e ideas. Santiago de
Chile 2005, S. 28, 171-172 und 288; Jorge Pinto Rodríguez: La formación del Estado, la
nación y el pueblo mapuche. De la inclusión a la exclusión. Santiago de Chile 2000, S. 144-
149.
4
Zu dem Konzept der Besonderheit Chiles vergleiche Edward Blumenthal: El mito de la
excepcionalidad chilena: un proyecto de construcción identitaria. Santiago de Chile 2004.
5
Alberto Edwards: La Fronda Aristocrática en Chile. Santiago 1945.
181Die Bergbau-Junta von Copiapó
183
nicht der Fall ist. Selbst Mario Góngora, Chronist jener Zeit, war der Meinung,
dass die nicht personengebundene Politik, als einer der Werte bürgerlicher
Gesellschaften, in einem von aristokratischen Tendenzen geprägten sozialen
Kontext, wie es das Chile des 19. Jahrhunderts darstellt, nicht erreicht werden
konnte
6
. Zusätzlich zu dieser Interpretation der sozialen Struktur zeigten auch
aktuellere Studien, dass die Schwäche des konservativen Chile dieser Zeit die
Regierung dazu brachte, verschwiegene – und manchmal explizite – Allianzen
mit den lokalen Eliten einzugehen, um in diesen „improvisierten
Repräsentanten” fähige Mitarbeiter zu finden, durch welche die Verwaltung und
die Regierbarkeit auf lokaler Ebene gesichert werden konnten
7
. Damit erlangten
einige Zweige der staatlichen Verwaltung, und auch der militärischen Macht,
den Status eines nicht eingegliederten Attachés der lokalen Institutionen, die in
großem Maß an der Ausübung der lokalen Macht beteiligt waren
8
.
In diesem Artikel soll das Beispiel Copiapó fokussiert werden, eine Stadt, der
im Rahmen des Bürgerkriegs der nördlichen Provinz Atacama von 1859 eine
führende Rolle beim bewaffneten Aufstand gegen die „Regierung von Santiago”
zukam. Die Analyse soll zeigen, wie der Konflikt, der aufgrund der delegierten
Kompetenzen entstand, welche die Verwaltungsbezirke über die Instanzen der
korporativen Repräsentationen lokaler Bergarbeiter haben sollten, eine starke
regionalistische Spannung auslöste, und warum dies einer der Faktoren war, die
den Bürgerkrieg entfesselten.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts förderte die bourbonische Gesetzgebung die
lokale Organisation der Bergarbeiter in korporativen Verbänden, an die wichtige
administrative und judikative Kompetenzen delegiert wurden. Mit der
Einführung des republikanischen Systems und der Hochblüte des Silberabbaus
in der Provinz Atacama in den 1830ern, ließen die Repräsentanten der
Zentralregierung diese Praktiken wiederaufleben. Damit förderten sie den
Zusammenschluss der Bergarbeiter zu Verbänden und die Gründung einer
Junta de Minería
, welche die Arbeiter in Copiapó repräsentieren sollte. Die
Bergbaumagnaten der Gegend kontrollierten die Institution und entwickelten
exzellente Verbindungen zu den staatlichen Autoritäten, die es dieser Junta
erlaubten, wichtige Funktionen zu übernehmen. Zu diesen Aufgaben gehörten
die Organisation und Entlohnung der polizeilichen Einheiten, sowie der
6
Mario Góngora: Ensayo histórico sobre la noción de Estado en Chile en los siglos XIX y
XX. Santiago de Chile 1981, S. 14-16.
7
Andrés Estefane: ”Un alto en el camino para saber cuantos somos…”.
Los censos de
población y la construcción de lealtades nacionales. Chile, siglo XIX. In: Historia 37 I (2004),
S. 38-44.
8
Joaquín Fernández Abara: Los Orígenes de la Guardia Nacional y la Construcción del
Ciudadano-Soldado. (Chile 1823-1833)
.
In: Mapocho. Revista de Humanidades56 (2003).
182
184
Joaquín Fernández Abara
politisch-administrativen, gerichtlichen und religiösen Autoritäten in den
Bergarbeitersiedlungen.
Genau wie die spätkoloniale Verwaltung, benötigten die neuen
republikanischen Regierungen die Unterstützung des Verbandes der
Bergarbeiter, um wirkungsvoll in den Bergbaugegenden regieren zu können. Mit
diesem Bestreben machte die Regierung diese lokalen Akteure zu ihren
Mitarbeitern, ohne allerdings die Situation formal festzulegen: so konnten der
Junta in weiten Bereichen Autonomie und sehr wichtige Aufgaben
zugesprochen werden, und dennoch wurde die Delegierung der Funktionen als
temporär und auf Gewohnheit basierend verstanden. Tatsächlich begannen die
Verwaltungsbeamten bald, ab Mitte der 1850er, in die Belange der Junta
einzugreifen, kontrollierten deren Geldmittel und ernannten deren Mitglieder.
Trotzdem kann die Reorganisation der
Junta de Minería
als ein
Wiederbeleben der korporativen Tradition verstanden werden, wie sie von der
Bergbaugesetzgebung des 18. Jahrhundertes geschaffen wurde. Die
zentralistischen Bestrebungen der Regierung kollidierten mit dieser Tradition
und lösten einen gravierenden regionalen Konflikt aus.
DIE BOURBONISCHEN REFORMEN UND DIE ENTSTEHUNG DER GREMIOS DE MINAS IN CHILE
Die bourbonische Gesetzgebung führte die Bildung von korporativen
Verbänden im Bergbau ein und stabilisierte sie, indem sie gleichzeitig die
Schaffung von Instanzen korporativer Repräsentation unter den Bergleuten
förderte. Im kolonialen Chile existierte bis dahin keine Tradition kollektiver
Organisation von Bergarbeitern. Laut Luz María Méndez arbeiteten die
chilenischen Kumpel in jener Zeit „[…] individuell und schafften es erst in der
Mitte des 18. Jahrhunderts kleine Gemeinschaften zu gründen, denen es aber an
jeglicher korporativen Organisationsstruktur fehlte”
9
.
Diese zersetzende Tendenz wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts
gebrochen, als die Gesetzgebung des Generalkapitanats von Chile durch die
Übernahme der Bergbauverordnungen des Vizekönigreiches von Neuspanien
reformiert wurde. Die Umsetzung der Verordnungen beinhaltete die Gründung
eines Bergbautribunals, einer Institution, deren Aufgaben die Verwaltung, Justiz
und Förderung der Minen umfasste. Es ist wichtig hervorzuheben, dass obwohl
die Entstehung dieser Institution die Schaffung eines zentralen, administrativen
9
Luz María Méndez Beltrán: Instituciones y problemas de la minería en Chile: 1787-1826.
Santiag de Chile 1979, S. 26. “[…] individual y apenas lograron conformar hacia mediados
del siglo XVIII, pequeñas colectividades mineras que carecían de la más mínima organización
gremial.”
183Die Bergbau-Junta von Copiapó
185
Organs bedeutete, sie gleichzeitig die Formierung einer “starken
Bergbauvereinigung” förderte. Laut der Verordnungen waren die Amtsträger
des Tribunals wählbar und sollten durch die Repräsentanten der lokalen Zünfte
gewählt werden. Diese Repräsentanten, oder
diputados territoriales
, wurden
wiederum in jeder Ortschaft ernannt
10
.
Der Impuls, der damit dem Bergbauverband gegeben wurde, war von einer
Stärkung ihrer Organisierung und ihrer Macht auf lokaler Ebene begleitet. Die
Verordnungen etablierten die Entstehung von lokalen Abordnungen in den
Bergbaugebieten, welche nicht nur eine repräsentative Funktion hatten, sondern
auch judikative und administrative Befugnisse, sowie die Förderung des
Berufsstandes zu ihren Aufgaben zählen sollten. Die Abgeordneten sollten im
Januar jeden Jahres von den lokalen Verbänden gewählt und von einer Bergbau
Junta ernannt werden
11
.
Dabei stellt sich die Frage, wer Mitglied dieses Bergbauverbandes sein
konnte. Die Gesetzgebung erlaubte eine relativ offene, soziale
Zusammensetzung dieser Zünfte, die sich auch über elitäre Grenzen
hinwegsetzte. Im zweiten Absatz der Verordnung wurde bestimmt, dass, um
sich als Bergarbeiter in den Verband einzuschreiben, „[…] es ausreicht, mehr als
ein Jahr in einer oder mehreren Minen gearbeitet zu haben, und dies als
alleiniger oder partieller Besitzer, als sein Vermögen, seine Industrie oder seinen
persönlichen Fleiß oder Bestreben anzugeben.“
12
Dadurch wird offensichtlich,
dass auch Besitzer kleinerer Minen in den Verband eintreten konnten. In dieser
Zeit war der Besitz der Minen jeder Person erlaubt, die „[...]
Mindestanforderungen der Meldung, Registrierung und Förderung zu
erfüllen“
13
. Außerdem unterstützte die Gesetzgebung des Bergbaus die Tendenz
zur Vermehrung kleinerer Besitztümer, indem sie alleinige Besitzurkunden an
die einzelnen Entdecker vergab und die Kumulation mehrerer Vermögen
derselben Entdecker unterband. Gleichzeitig wurde eine Einteilung des
10
Ebenda, S. 30-34.
11
Ebenda, S. 49.
12
Vergleiche “Título 2°. Art. II” aus der Reales ordenanzas para la dirección, régimen y
gobierno del importante Cuerpo de la Minería de Nueva España, y de su Real Tribunal
General. De orden de su majestad. Madrid 1783, S. 22.“[...] bastaba haber trabajado más de
un año una o muchas minas, espendiendo como dueños de ellas en todo, o parte, su caudal o
industria, o su personal diligencia o afán.”
13
In: Gabriel Salazar: Labradores, peones y proletarios. Formación y crisis de la sociedad
popular chilena del siglo XIX. Santiago 2000, S. 178. “[...] satisficiera [sic] los requisitos
mínimos de denuncia, registro y explotación.”
184
186
Joaquín Fernández Abara
Eigentums in Abschnitte festgelegt, die
barras
genannt wurden und von denen
es 24 gab
14
.
Die Gesetzgebung für die Minenbetriebe ist als ein interessantes Beispiel für
die Mechanismen der kolonialen Verwaltung in der Hochphase ihrer
reformistischen Bestrebungen während des 18. Jahrhunderts zu verstehen. Der
bourbonische Reformimpuls neigte dazu, sich mit der zunehmenden
Zentralisierung der Verwaltung zu verbinden
15
. Dennoch ist die
Bergbaugesetzgebung ein Beispiel dafür, wie widersprüchlich ihre
Auswirkungen waren. Im Interesse daran, eine Politik der Förderung
durchzusetzen und die Verwaltung, die Justiz und das Steueraufkommen der
Bergbaugebiete effizienter machen zu können, bemühte sich die koloniale
Administration Verbände zu gründen, diese zu organisieren und ihnen judikative
und administrative Kompetenzen zu übertragen. Die koloniale Verwaltung
benötigte die Unterstützung der Bergarbeiter, um die lokale Regierbarkeit
durchzusetzen, sie zu organisieren und Kompetenzen durch die Institutionen der
Zünfte zu delegieren. Dieser Prozess betraf auch soziale Sektoren, die nicht Teil
der Eliten waren
16
.
Dennoch muss daran erinnert werden, dass die Umsetzung der neuspanischen
Bergbaugesetzgebung in Chile langsam voranging. Somit können in der
spätkolonialen Zeit zwei Hauptphasen festgelegt werden: die erste bezieht sich
auf die Zeit zwischen 1787 und 1801, und die zweite auf die Jahre zwischen
1802 und 1818.
Während der ersten Phase begannen sich die neuspanischen
Bergbauverordnungen nur teilweise in Chile durchzusetzen. Statt eines
Tribunal de Minería
, eines Bergbautribunals, wurde eine
Real Administración del Importante Cuerpo de Minería
, eine königliche Verwaltung des wichtigen
Bergbausektors, eingesetzt. Im Gegensatz zum mexikanischen Modell war diese
Institution in Chile weiterhin der
Superintendencia General Subdelegada de Real Hacienda
, der Allgemeinen Oberen Verwaltung des königlichen
Finanzministeriums, untergeordnet. Auf lokaler Ebene war die Institution des
14
Hernán Venegas Valdebenito: Concertación empresarial y trabajadores mineros en una
economía en transición, Copiapó 1848-1865
.
Santiago 1989.
15
Dies ist eine der zentralen Thesen von John Lynch: Las revoluciones
hispanoamericanas. 1808-1826. Barcelona 1986. Vergleiche auch David Brading: Miners and
merchants in Bourbon México, 1763-1810.London 1971.
16
Das Konzept des Mechanismus, die lokalen Eliten in den Rahmen der bourbonischen
Reform einzufügen, wurde behandelt von Alfredo Jocelyn-Holt Letelier: La independencia de
Chile. Tradición, modernización y mito. Santiago de Chile 2001, S. 75-85. Vergleiche auch
Jacques A. Barbier: Elite and cadres in Bourbon Chile. In: The Hispanic American Historical
Review 52 Nr.3 (1972).
185Die Bergbau-Junta von Copiapó
187
Bergbaus an das Generalkapitanat Chile in einem eher zentralisierenden Modell
angegliedert. Tatsächlich wurden Wahlen für Gebietsabgeordnete nicht
umgesetzt und deshalb hatten die Juntas und Versammlungen der Bergarbeiter
nur einen beratenden Charakter. Diese Situation änderte sich grundlegend mit
Beginn des 19. Jahrhunderts, als in der zweiten Phase die neuspanische
Bergbaugesetzgebung wesentlich orthodoxer umgesetzt wurde. 1801 wurde die
königliche Verwaltung des Bergbaus durch einen königlichen Erlass der
spanischen Krone an das mexikanische Modell angepasst und zu einem Tribunal
des Bergbaus transformiert
17
. Diese Veränderung brachte auch lokale
Transformationen mit sich. Somit konnten sich vor allem im Norden des
Generalkapitanats territoriale Abordnungen organisieren, in die sich
Bergarbeiter einschreiben lassen konnten, um die Wahlen für die Abgeordneten
umzusetzen
18
.
Dadurch wird offensichtlich, dass die Bergbaugesetzgebung in Chile zu
einem eher zentralistischen Charakter neigte. Die von den Bergbauverordnungen
erfassten Institutionen wurden ursprünglich so adaptiert, dass sie von einem
kolonialen Verwaltungsorgan abhängig waren. Die Einschreibung der
Bergarbeiter und die Durchführung der Wahlen waren dahingegen langsame
Prozesse. Die vorhandenen Untersuchungen stimmen überein, dass die
Fortschritte in der Umsetzung vertikal von der Kolonialverwaltung
vorangetrieben wurden, da die Bergarbeiter eine nur geringe Tradition der
Organisation vorweisen konnten und die Wahlverfahren nicht kannten
19
.
Dennoch zeigte sich gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhundert,
unmittelbar vor Beginn der Unabhängigkeitskriege, dass die Tendenzen zur
Verbandsbildung in den Abordnungen des Nordens des Generalkapitanats
Wurzeln gefasst hatten.
17
Luz María Méndez Beltrán: Instituciones y problemas de la minería en Chile, 1979,
S.
29-45.
18
Antonio Dougnac Rodríguez: Proyección de las Ordenanzas de Minería de Nueva
España en Chile (1787-1874). In: Revista de estudios histórico-jurídicos 21 (1999), S. 6-7.
19
Vergleiche hierzu die interessante Untersuchung von Ulises Cárcamo Siriguiado:
Mineros y minería en el norte chico: La transición. Desde la colonia a las primeras décadas de
la república. Santiago de Chile 2004, Kapitel 1.2.
186
188
Joaquín Fernández Abara
Abb. 1: Peones Mineros. L. Simonin: Underground Life of Mines and Miners.
London 1869 (Cortesía del Museo Regional de Atacama).
DIE SCHAFFUNG EINER JUNTA DE MINERÍA
IN COPIAPÓ
Diese Tendenz ließ sich auch in Copiapó feststellen, obwohl betont werden
muss, dass die Verordnung und die Politik der Bergbauförderung in diesem
Gebiet nur langsam umgesetzt wurden. Auch die Wahlverfahren erreichten nie
die Gleichmäßigkeit, die von der Gesetzgebung vorgesehen war. Dennoch
zeichnete sich klar eine Tendenz zur Bildung von korporativen Verbänden ab.
Die Bergarbeiter gruppierten sich in Institutionen mit Verbandscharakter, und
die Möglichkeit zum Austausch mit anderen Institutionen, die für ihre
Aktivitäten von Bedeutung waren, gab den Anreiz zur kollektiven Artikulation
ihrer Anliegen.
In der Tat brauchte die Politik der Bergbauförderung, die von den
Gouverneuren im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts durchgesetzt wurde, die
Unterstützung des lokalen Bergbaus. Die Mithilfe der Bergarbeiter, als
einflussreiche lokale Akteure und Kenner ihrer Gegend, war fundamental
wichtig, um die Implementierung der Politik durchsetzen zu können und
gleichzeitig Kenntnis des Potenzials und der Probleme der Region zu erhalten.
Daraus entwickelte sich die Praxis der “Visitationen” durch höhere Autoritäten
der Kolonialverwaltung oder deren Abgesandten, um die einzelnen Orte des
187Die Bergbau-Junta von Copiapó
189
Generalkapitanats kennenzulernen und Kontakte mit lokalen Eliten herzustellen.
Innerhalb dieser Praxis der Visitationen der nördlichen Bezirke fällt der Besuch
des Gouverneurs Ambrosio O’Higgins ins Auge, der Ende 1788 Copiapó
besichtigte. Bei diesen Visitationen war ein Großteil der Zeit für die
Problemerkennung in der Zone vorgesehen und um Maßnahmen zur regionalen
Förderung zu entwickeln
20
. In den nördlichen Bezirken, vor allem in Copiapó,
bemühte man sich sehr um die Probleme des Bergbaus
21
.
Die Politik der Visitationen war der Schlüssel für die Organisation der
Bergbauarbeiter von Copiapó. Nach seinen Besuchen der nördlichen Bezirke
ordnete Gouverneur O´Higgins die Durchführung einer Generalvisite an, um die
Bergbauarbeiten zu inspizieren, und im Dezember 1789 erreichte Dr. Antonio
Martínez de Mata, Generalverwalter der Minen [des Königreichs Chile],
Copiapó, um diese Aufgabe durchzuführen. Nachdem er sich über den Zustand
der Bergbauindustrie der Gegend erkundigt hatte, berief er eine Versammlung
der Bergbauarbeiterinnung ein. Ziel des Treffens war es, den Bergarbeitern die
neuen Verordnungen zu erläutern. Gleichzeitig war es möglich, Klagen der
Bergarbeiter anzuhören und Verbesserungsvorschläge zur Förderung
entgegenzunehmen
22
. Diese Situation erlaubte es den Bergleuten, sich
gegenüber den Autoritäten als Gruppe zu präsentieren und Eingaben zu machen,
sowie ihre Beschwerden mit Aussicht auf Anhörung vorzutragen
23
.
Dabei stellt sich die Frage, wer diese Bergarbeiter waren, die sich in dieser
entwickelnden korporativen Identität vereinigten. Es gilt zu erwähnen, dass es
sich hierbei um Treffen von elitärem Charakter handelte. Tatsächlich war bei
20
Rafael Sagredo Baeza : Las visitas gubernamentales en Chile 1788-1861. In: Historia 31
(1998), S. 310-318. Vergleiche auch vom selben Autor: Vapor al norte, tren al sur. El viaje
presidencial como práctica política en Chile. Siglo XIX.Santiago de Chile 2001, S. 167-171.
Vergleiche auch Diego Barros Arana: Historia General de Chile
.
Bd. VII. Santiago de Chile
2001, S. 18-25.
21
Carlos María Sayago: Historia de Copiapó. Buenos Aires, Santiago 1973, S. 454. Die
erste Edition dieses klassischen Werks der regionalen Geschichte erschien 1874.
22
Oriel Álvarez Gómez: Etapa pionera de la minería atacameña y sus organizaciones
gremiales. In: Ingeniería. Universidad de Atacama10-11 (1998), S. 47-49.
23
Hierbei gilt es zu erwähnen, dass 1786, nur zwei Jahre davor, die lokalen Bergleute es in
einem Prozess geschafft hatten, einen Verwaltungsbeamten für Quecksilber zu benennen, der
von ihnen gewählt wurde -trotz des ursprünglich von dem königlichen Finanzministeriums
ernannten. Laut dem Historiker Claudio Barrientos handelte es sich hierbei um eine starke
Demonstration der “lokalen Macht”. Vergleiche hierzu Claudio Javier Barrientos Barría:
Minería y poder en el Norte Chico. La distribución del azogue en el partido de Copiapó und
Julio Pinto Vallejos: Episodios de historia minera. Santiago de Chile 1997, S. 95-109. Diese
kollektive Aktion der Bergarbeiter, die zur Nominierung einer Autorität führte, kontrastierte
frühere Handlungen beim Problem der Quecksilberversorgung, wie sie von Barrientos 1776
und 1739 dokumentiert wurden, bei denen die Bergarbeiter sich darauf beschränkten,
pünktlich Antäge gegen die Beamten der kolonialen Administration einzureichen.
188
190
Joaquín Fernández Abara
diesen Versammlungen der Bergleute, die unter der Leitung von Martínez de
Matta durchgeführt wurden, nicht der Bergbauverband im weiteren Sinn vereint,
wie es die neuspanischen Verordnungen vorsahen. Im Gegenteil kamen bei
diesen Treffen nur 33 Bergmänner zusammen, eine extrem geringe Zahl der
Minenbesitzer der Gegend. Es handelte sich dennoch um ein Treffen mit
wichtigen Teilnehmern, Mitgliedern der lokalen Elite, deren Mehrheit aus den
einflussreichen Familien der Gegend stammte
24
.
Abgesehen von dem Zustandekommen der kollektiven, solidarischen
Verbundenheit, die auf den gemeinsamen Anliegen basierte, hatte die Visitation
eine institutionelle Auswirkung von enormer Trageweite: Die Schaffung einer
Bergbau-Junta in Copiapó. Tatsächlich etablierte sich eine Versammlung
bedeutender Bergleute, die die korporative Repräsentation des
Bergbauverbandes übernehmen sollte: Das neue Organ würde Aufgaben der
oberen Bezirksverwaltung übernehmen, sich um die Bergbauförderung
kümmern, die Autoritäten über ihre aktuellen Aktivitäten informieren und sich
zum wertvollen Ansprechpartner für beide Seiten entwickeln. Die Junta sollte
aus sieben Mitgliedern zusammengesetzt werden, die jeweils für das kommende
Jahr ihre Nachfolger bestimmen sollten
25
.
Somit ergab sich ein Interessenausgleich zwischen den Autoritäten in
Santiago und den lokalen Eliten der Bergarbeiter, der jedoch den Intentionen der
bourbonischen Gesetzgebung widersprach. Die kolonialen Autoritäten in
Santiago ernannten aus den angesehensten Bergleuten Copiapós eine
Junta de Minería
, die autorisiert wurde, sich selbst zu reproduzieren, und dass obwohl die
Bergbauverordnungen bei der Bildung der Zünfte darauf hinwies, dass der
Beitritt jedem Minenbesitzer, ohne soziale Grenzen und mit offenen Wahlen
freistehen solle. Diese Vorgehensweise wurde für einige Zeit beibehalten.
Auch als sich 1802 in Chile die Diputaciones Territoriales
(Gebietsabordnungen) zu bilden begannen, öffneten sich die Institutionen des
lokalen Bergbaus des Bezirks von Copiapó nicht für alle. In diesem Jahr
vermeldete der Abgeordnete des Bergbaus von Copiapó, Pedro de Fraga y
Maquieira, dem erst kürzlich gegründeten Bergbautribunal, dass von der
Durchführung von Neuwahlen abzusehen sei
26
. Die homogenisierende Tendenz,
mit der offene Zünfte geschaffen werden sollten, hatte nur temporären Erfolg.
So wurde im Januar 1803 vom Tribunal des Bergbaus ein Gutachten erstellt, das
der
Junta de Minería
die Befugnis zugestand, in geheimen Wahlen einen
24
Álvarez Gómez: Etapa pionera de la minería atacameña, 1998. Ein extremer Fall zeigte
sich bei der Familie Mercado, die fünf Teilnehmer stellte -fast ein Sechstel aller Beteiligten.
25 Sayago: Historia de Copiapó, 1973, S. 456-457.
26
Dougnac Rodríguez: Proyección de las Ordenanzas de Minería, 1999, S. 7.
189Die Bergbau-Junta von Copiapó
191
Abgeordneten der Partei für den Bergbau zu ernennen. Aber schon im
November 1804 bestimmte das Bergbautribunal wieder eine
Junta de Minería,
die sich aus Familienangehörigen der lokalen Elite zusammensetzte und die
erneut eine Tendenz aufwies, sich selbst zu reproduzieren
27
.
Während der ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts blieb die
Bergbau-Junta als ein Organ der lokalen Elite bestehen, die selbst ihre
Nachfolger ernannte und die Bildung eines offenen Verbandes vermied. Die
Register von 1804 bis 1821 zeigen, dass der Kern der Junta unanfechtbar von
Mitgliedern bekannter Familien der lokalen Eliten besetzt war. Somit lässt sich
sagen, dass die Junta von den Familien Gallo, Mandiola, Ossa, Mercado,
Goyenechea, Sierra y Sierralta, und, später, auch von der Familie Matta ohne
größeres Gegengewicht kontrolliert wurde.
28DIE JUNTA DE MINERÍA
IM REPUBLIKANISCHEN SYSTEM UND DER INFORMELLE VERBAND DER BERGLEUTE
Die Existenz einer
Junta de Minería
in Copiapó, zusammengesetzt aus der
Elite der Minenbesitzer, die ihre Nachfolger selbst ernennen konnten, erhielt
sich auch während der ersten Jahre der republikanischen Regierung. Zu Beginn
der 1820er, derselben Epoche, in der die unabhängigen Regierungen begannen,
die Institutionen der bourbonischen Bergbauverordnungen aufzulösen, verlieren
sich jedoch die Spuren der Junta von Copiapó.
Trotzdem blieb eine Tendenz der Verbandsbildung – wenn auch eher
informell und auf sporadische Art und Weise – bestehen, die von den neuen
republikanischen Autoritäten unterstützt wurde. Dies lag hauptsächlich an dem
Silberboom von 1832, der durch die Funde in der Gegend um Chañarcillo
ausgelöst wurde. Die lokalen Autoritäten, die von der Zentralregierung ernannt
wurden - die Gouverneure der Region Copiapó, die dem Zuständigkeitsbereich
der Provinz Coquimbo unterstellt waren, und seit 1843 auch die
Verwaltungsbeamten der neuen Provinz Atacama – unterstützten bei
verschiedenen Gelegenheiten das Wiederaufleben des Bergbauverbandes, um
die öffentliche Ordnung aufrecht zu halten und die Einziehung von Steuern in
den Bergbauansiedlungen zu vereinfachen. An dieser Stelle soll darauf
27
Sayago: Historia de Copiapó, 1973, S.
459.
28
Ebenda, S. 460-461. Weitere Informationen zu den wichtigen Familien der lokalen
Eliten gegen Ende des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts finden sich in
dem Buch der Sayago, das uns erlaubt die Familien, die in der Chronik des Stattrates erwähnt
werden, näher zu bestimmen. Vergleiche hierzu Pilar Alamos Concha: Candelaria
Goyenechea de Gallo. Una mujer del Siglo XIX. Santiago de Chile 1995, S. 14-47 und Paula
Fernández Chadwick: Miguel Gallo Vergara. Una fortuna del Siglo XIX
.
Santiago de Chile
1993, S. 16-51.
190
192
Joaquín Fernández Abara
hingewiesen werden, dass die Entwicklung des Bergbaus diese Gegend zu
einem Magnet für viele wandernde und heimatlose Hilfsarbeiter machte, und sie
so in den Fokus wiederkehrender Episoden sozialer Gewalt rückte. Die Angst
vor der Masse der Tagelöhner verwandelte sich in ein regionales Übel für die
lokalen Minenbetreiber
29
. Laut der Meinung von Bruno Zavala, dem
Gemeindepriester von Copiapó, konnte in Gegenden mit großer “Leichtigkeit”
eine enorme Ansiedlung improvisiert werden. „Diese Leichtigkeit kam nicht nur
vom Charakter dieser Leute, sondern auch davon, dass Bergleute, wie andere
Abenteurer, nichts weiter brauchen als eine Decke und ihr Messer, um schnell
und mutig viele Meilen hinter sich zu bringen“
30
. Die Notwendigkeit,
Institutionen zu schaffen, um diese Zone zu „befrieden“ und die öffentliche
Ordnung zu erhalten, wurde dringlich. In diesem Rahmen verdeutlichte sich die
Schwäche der lokalen Vertreter der Zentralregierung -Verwaltungsbeamte und
Gouverneure-, die kaum die Mittel fanden, um die öffentliche Ordnung in
größeren, urbanen Zentren aufrecht zu erhalten. So scheint es auch nicht
befremdlich, dass diese Autoritäten zu wiederkehrenden Anlässen den
Bergbauverband zusammengerufen haben sollen: damit konnten die staatlichen
Beamten – temporär – ihre Funktionen „auslagern“ und diese interessierten
Unternehmern übertragen. Diese Situation lässt sich zu Beginn des Jahres 1841
nachweisen, als der Gouverneur von Copiapó des Öfteren die Versammlung des
Bergbauverbandes aufforderte, Kommissionen zu ernennen, welche die
Abgaben der Bergarbeiter der Minen von Chañarcillo, Pajonales und
Algarrobito eintreiben sollten. Mit diesem Steueraufkommen sollte dann besagte
Gegend mit Gendarmerietruppen und einem Richter versorgt und eine
polizeiliche Satzung eingesetzt werden. Die Kommissionen setzten sich fast
immer aus Mitgliedern der einflussreichen Familien der lokalen Minenbesitzer
zusammen
31
. Dieses Beispiel veranschaulicht allgemein die staatliche
Regierungsweise in den Bergbausiedlungen während der 1840er Jahre.
29
María Angélica Illanes Oliva: Azote, salario y ley. Disciplinamiento y rebeldía de la
mano de obra en la minería de Atacama. 1817-1852. María Angélica Illanes Oliva: Chile des-
centrado. Formación socio-cultural republicana y transición capitalista (1810-1910). Santiago
de Chile 2003, S. 26-31.
30
Carta de Bruno Zavala a Manuel Montt. Copiapó: 20 de junio de 1855. Archivo
Nacional de Chile. Fondo Fundación Manuel Montt (A.N.F.F.M.M). Bd. X, S. 222.
“Facilidad que proviene no sólo del genio característico de estas gentes, sino de que así los
mineros como los aventureros no necesitan más que la manta y su cuchillo para atreverse con
prontitud muchas leguas”
31
Libro de Acuerdos del Gremio de Minería. Copiapó: 13 de enero de 1841 y 20 de enero
de 1841, Archivo Nacional de Chile. Archivo de la Intendencia de Atacama (A.N.A.I.A.), Bd.
13, s/f.
191Die Bergbau-Junta von Copiapó
193
Genau wie in der spätkolonialen Zeit, allerdings in der Mitte des 19.
Jahrhunderts, benötigten die Autoritäten der Zentralregierung die Unterstützung
der Bergarbeiter. Auf diese Art wurden die lokalen Bergbaueliten von Copiapó
die tatsächlichen Agenten des Staates: Der Bergbauverband blieb ein
Schlüsselfaktor der lokalen Regierbarkeit.
Mit dem Fortschreiten der Dekade verstärkte sich auch die Tendenz zur
Bildung von Verbänden im Bergbau. Am Anfang wurde diese als eine Initiative
der einflussreichen Bergbaubetriebe der Gegend wieder aufgenommen - mit der
stillschweigenden Erlaubnis der Verwaltung. Im April 1846 wurde daher eine
selbsternannte
Comisión Representativa del Gremio de Minería
, eine
repräsentative Kommission der
Junta de Minería
, für die Region Copiapó
eingesetzt. Hierbei handelte es sich um eine private Vereinigung bedeutender
Minenbesitzer. Zu ihr gehörten auch Mitglieder der Familien Ossa, Edwards und
Gallo Goyenechea, deren Einfluss zu dieser Zeit auch bereits auf nationaler
Ebene spürbar wurde. Die Kommission entschied, sich auch um die Finanzen
der korporativen Verbände zu kümmern.
32
Neben Vorkehrungen zum Erhalt der öffentlichen Ordnung organisierte und
bezahlte die Kommission auch die Polizei in den Bergbaugebieten, legte die
Löhne der Subdelegierten von Chañarcillo fest und zahlte diese aus. Somit war
sie verantwortlich für die Entlohnung und kontrollierte damit auch auf gewisse
Weise die Regierungsautoritäten der Gegend. Ebenso machte die Kommission
der Verwaltung auch personelle Vorschläge für solche Positionen. Zusätzlich zu
all diesen Funktionen übernahm sie die Verantwortung, die Straßen der Gegend
in Stand zu halten
33
.
Bei einer Versammlung im Gemeindesaal von Copiapó, zu der auf Einladung
des Intendanten Manuel José Cerda mehr als 40 Bergleute erschienen, wurde die
Junta im Juli 1848 offiziell anerkannt. Die Teilnehmer beschlossen einstimmig
die Bildung einer Kommission, die sich aus sieben Sekretären und vier
Stellvertretern zusammensetzte und die die Interessen des Verbandes
repräsentieren sollte. Diese „Kommission“ bekam verschiedene Rechte
zugeschrieben: sie durfte gegenüber den Autoritäten Stellungnahmen und
Petitionen abgeben, die jegliche Maßnahmen und Neuerungen zum Schutz des
Bergbaus betrafen, des Weiteren sollte sie eine Satzung entwerfen, die eine
geregelte Verwaltung der Erzförderung und der Wasserwege ermöglichen
würde. Zu diesen Rechten gehörte auch das Eingreifen in die Finanzverwaltung,
die zu diesem Bereich zählte, sowie die Repräsentation der Minenbesitzer in
32
Sesión del gremio de mineros. Copiapó: 3 de abril de 1846. A.N.A.I.A., Bd. 71, f.1.
33
Sesión del gremio de mineros. Copiapó: 17 de abril de 1846. A.N.A.I.A., Bd. 71, f.1.vta.
192
194
Joaquín Fernández Abara
allen wichtigen Belangen
34
. Nach ihrer Gründung wurde die Kommission am
20. Oktober desselben Jahres feierlich ins Amt gesetzt. Zu ihren ersten
Amtshandlungen gehörte der einstimmige Beschluss, den Intendanten der
Provinz als Präsidenten einzusetzen und ihm – nach bourbonischer
Namensgebung – den Titel des „Abgeordneten des Bergbaus“ zu verleihen
35
.
Damit wiederholte sich die spätkoloniale Situation, in der eine Gruppe von
Minenbesitzern, die Großteils aus einflussreichen Familien stammten, sich der
Repräsentation der lokalen Verbände annahm, was durch die politischen und
administrativen Autoritäten der Gegend stillschweigend geduldet wurde.
Obgleich die Junta von der Verwaltung durchaus anerkannt wurde,
unternahm sie keinen ernsthaften Versuch, ihre Situation formell zu festigen. Es
handelte sich um eine Institution, die durch die Willkür interessierter Akteure
Bestand hatte und die ihre Normen durch Gepflogenheiten festlegte. Die
Zusammensetzung des Verbandes, die Wahlverfahren und seine Beziehung zur
Verwaltung wurden nicht reglementiert, obwohl er auf lokaler Ebene eine
Nahtstelle von größter Wichtigkeit für die staatliche Regierung darstellte, und
wegen deren wirtschaftlicher Schwäche und Distanz verschiedene staatliche
Funktionen übernahm
36
. Der sich konstituierende Staat konnte immer auf diese
Institutionen zurückgreifen, um sein Unvermögen auszugleichen, solange sie
noch informellen Charakter aufwiesen. Aber er konnte sie weder legalisieren
noch institutionalisieren, um sich selbst über kurz oder lang wegen der
übertragenen Kompetenzen nicht zu gefährden. Diese Situation weist auf eine
wichtige Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht staatlichen Akteuren
hin, und zeigt aber auch, dass die Übertragung staatlicher Aufgaben an nicht
staatliche Akteure als Ergebnis der lokalen Umstände angesehen wurde. Die
Versuche der Junta, legale Steuern zur Eigenfinanzierung zu erheben, die von
ihr selbst eingezogen werden sollten, wurden vom Kongress hingegen
abgelehnt. In dieser Instanz wurden die Abgaben der Bergleute des Verbandes
34
Ebenda. “[...] dar su opinión y hacer peticiones a las autoridades sobre todas las medidas
que sea conveniente adoptar en la protección de la minería”/ “[...] formar los reglamentos
necesarios para la buena administración de los minerales y aguadas”/ “[...] intervenir en la
administración de los fondos pertenecientes a este ramo”/ “[...] representar en todo lo que
fuese necesario a los dueños de las minas”.
35
Instalación de la Comisión de Minería. Copiapó: 20 de julio de 1848. A.N.A.I.A., Bd.
71, s/f.
36
Laut Hernán Venegas sollten „die Privatpersonen die Realisierung der Aktivitäten
übernehmen, die der Staat nicht in der Lage war umzusetzen“. Venegas Valdebenito:
Concertación empresarial, 1989, Kapitel 2.2.
193Die Bergbau-Junta von Copiapó
195
mehr erhöht als erwartet, und zusätzlich direkt vom nationalen Finanzhaushalt
einkassiert
37
.
Trotzdem hielt die Kooperation zwischen der
Junta de Minería
und der
Zentralregierung bis in die Mitte der 1850er Jahre an. Die Junta setzte sich im
Allgemeinen weiterhin aus großen Magnaten und “achtbaren Nachbarn”
zusammen, die Verbindungen zu den Minenbesitzern der Gegend hatten, und die
Verwaltung delegierte weiterhin Funktionen der öffentlichen Ordnung, des
Verkehrswesens sowie die Bezahlung der Priester und Beamten der
Bergbausiedlungen an den Bergarbeiterverbund.
REGIONALISTISCHE PROTESTE, LIBERALISMUS UND KORPORATIVE TRADITION
Im Verhältnis zwischen der
Junta de Minería
und der Regierung traten in der
zweiten Hälfte der 1850er Jahre erste Konflikte auf. Ein Schlüsselmoment dieser
Streitigkeiten, die sich um die Junta entfesselten, lässt sich im regionalen
Kontext finden. Die zweite Hälfte der 1850er war eine Zeit starker politischer
Bewegung in der Provinz Atacama. Vor allem in den nördlichen Regionen von
Copiapó und Caldera, in denen sich eine regionalistische, oppositionelle
Bewegung formierte, erreichte die politische Mobilisierung ein enormes
Ausmaß. Aus den Spannungen des Bürgerkriegs resultierte 1859 ein Aufstand in
der Provinz Atacama, im Zuge dessen die Provinz mit der Zentralregierung
brach und sich als aufständisch erklärte, bis eine verfassungsgebende
Versammlung einberufen worden sei.
Die politischen Unruhen wurden durch schwerwiegende wirtschaftliche
Probleme verstärkt. In der zweiten Hälfte der 1850er erlebte die Gegend eine
Wirtschaftskrise, die von dem Wertverlust und dem Rückgang des
Metallexportes herrührte. So verringerte sich der Export von Silber über den
Hafen von Caldera von 3.829.490 im Jahre 1855, auf 3.022.595 Dollar im
darauffolgenden Jahr, 1857 waren es 3.028.595 und 1858 nur noch 2.309.874
Dollar
38
. In diesem Kontext der Erschöpfung der Edelmetalladern und dem
Fortbestand einer “Wirtschaft des alten Regimes”, die sich durch nur wenige
technische Investitionen auszeichnete, war es die logische Konsequenz, dass die
37
Ebenda. Venegas machte eine interessante Forschung zur Entwicklung des
Abgabensystems der Junta, die zeigt, dass die Abgaben seit 1848 von einer regionalen
Zollbehörde eingezogen wurden. 1852 beantragte die Junta de Minería eine Besteuerung auf
schwer abbaubaren Metallen, wie Silber. Die Einnahmen sollten direkt in die Kasse der Junta
de Minería fließen. Dieser Antrag wurde von der Regierung nicht nur abgelehnt, sondern es
wurde sogar ein Gesetz erlassen, das die Erhebung von einer 5 % Steuer auf den Export dieser
Metalle einforderte.
38
Vergleiche auch den Anhang von A.N.A.I.A. Bd. 40.
194
196
Joaquín Fernández Abara
Minen mit geringerer Produktion geschlossen wurden
39
. Die sozialen
Konsequenzen wurden für weite Teile des Unternehmertums als auch für die
Bergarbeiter gleichermaßen spürbar. Berichte über die Zeit um 1859 zeigen,
dass “[…] sich wegen der schlechten Minen die Siedlung Copiapó mit
Kostgängern anfüllte, die nichts weiteres zum Überleben hatten, als ihre
früheren Ersparnisse”
40
. Diese Atmosphäre der Unsicherheit wurde Teil des
Lebensgefühls. Erzählungen der Zeit legen Zeugnis davon ab, dass die
„achtbaren Nachbarn“ begannen, das „gemeine Volk, von denen 2.000 bis 3.000
frei und unnütz in dem Ort herumliefen“
41
zu fürchten.
Der deutsche Reisende Paul Treutler hinterließ in seinen Memoiren eine
dramatische Beschreibung der Veränderungen, die das Leben der Minenbesitzer
und Händler Copiapós im April 1855 erfuhr. Eine Gefängnisstrafe wegen
Geldschulden wurde zu einer ständigen Befürchtung in diesen sozialen
Schichten. Dies ging soweit, dass der für die Schuldner reservierte
Gefängnistrakt in Copiapó zynischerweise als “Hotel Universo” bekannt wurde.
Treutler berichtet:
"Seit einigen Monaten war ich nicht mehr in Copiapo gewesen. Große Veränderungen waren
seitdem dort eingetreten, zwar nicht in Bezug auf Bauten und Verschönerungen, wohl aber in
Bezug auf die Bevölkerung. – Viele meiner Bekannten, welche ich bei meiner letzten Abreise
als reich verlassen hatten, waren in Folge des Verfalles des Silberbergbaues ruinirt und hatten
kaum die nöthigen Mittel, um sich und ihre Familien zu erhalten; viele derselben befanden
sich im Schuldarrest oder waren landesflüchtig. Mehrere Bergwerksbesitzer hatten während
dieser Zeit ihr bedeutendes Vermögen im Spiel verloren, sich und ihre Familien in Armuth
und Noth gestürzt und in Folge dessen das Leben genommen. Auch mehrere Kaufleute waren
bankerott geworden, während andere Copiapo heimlich verlassen hatten; andere befanden
sich im Schuldgefängnis."
42
39
Luis Ortega Martínez: Chile en ruta al capitalismo. Cambio euforia y depresión. 1850-
1880. Santiago de Chile 2005, S. 61-67 und Hernán Venegas Valdebenito: Minería y
transformaciones sociales y demográficas durante el primer ciclo de expansión de la
economía chilena. Atacama 1850-1880. In: Contribuciones científicas y tecnológicas. Área
ciencias sociales130 (2002), S. 159-196.
40
Anselmo Carabantes: Apuntes para la Historia de la Constituyente escritos por el señor
Anselmo de Carabantes y seis páginas en que se fija un plan para escribir dicha historia.
Archivo Nacional, Fondo Benjamín Vicuña Mackenna (A.N.F.B.V.M). Bd. 48-A, S. 73. “[...]
las minas malas habían hecho que el pueblo de Copiapó estuviese lleno de huéspedes, que no
tenían para vivir sino sus ahorros anteriores.” sich durch die schlechten Mine
41
Anonymer Autor: Apuntes de la revolución del cinco de enero de 1859 realizada en
Copiapó. A.N.F.B.V.M. Bd. 48, S. 27ff. Im Nationalen Historischen Archiv in Santiago
wurde diese Chronik fälschlicherweise als Werk José Nicolás Mujica katalogisiert.
Wahrscheinlich handelt es sich um einen Fehler der Katalogisierung, der vor den 1890er
gemacht wurde. S. 28ff.
42
Paul Treutler: Fuenfzehn Jahre in Sued-Amerika an den Ufern des Stillen Oceans, Band
1. Leipzig 1882, S. 178-179.
195Die Bergbau-Junta von Copiapó
197
Parallel zu der wirtschaftlichen Krise begann in der Region eine starke
politische Unruhe aufzukommen. Mehrere der bedeutendsten Familien der
Bergbau-Magnaten, die sich bis zu diesem Zeitpunkt großteils der Regierung
zugeneigt zeigten, begannen zur Opposition zu wechseln. Gleichzeitig
radikalisierten wichtige Handwerks- und kleinere Bergmannsgruppierungen ihre
politische Position
43
. Trotz der Versuche des Intendanten, die Wahl zu
beeinflussen, durchbrach die liberale Opposition bei den Parlamentswahlen
1855 die Kontrolle der bisherigen Regierung in dieser Gegend. Manuel Antonio
Matta, ein junger lokaler Bergbaumagnat, und José Victorino Lastarria, ein
bekannter Liberaler aus Santiago und Mentor einer rebellischen Jugend, die von
den Gedanken 1848er Revolutionen in Europa beeinflusst war, wurden zu
Abgeordneten gewählt. In den darauffolgenden vier Jahren kristallisierte sich in
Copiapó langsam eine wichtige oppositionelle Bewegung heraus. In ihr lassen
sich zwei Hauptstränge ausmachen, die sich gegen Mitte des Jahres 1858
verdeutlichten. Eine dieser Fraktionen wurde wegen ihres Zusammenschlusses
mit den Liberal-Konservativen als
fusionistas
bezeichnet. Zu ihr gehörten einige
der reichsten Minenbesitzer der Gegend, die untereinander verwandt waren und
deren Familien schon gegen Ende der Kolonialzeit Teil der lokalen Elite
gewesen waren, wie zum Beispiel die Familien Gallo, Matta und Carvallo. Diese
Gruppe, die die Bezeichnung
partido de familia
erhielt, konnte mit ihren
Geschäftsführern und Gutsverwaltern auf ein wichtiges Netz von Abhängigen in
der Welt des Bergbaus zurückgreifen. Gleichzeitig kontrollierte sie mit ihren
Darlehen wichtige Gruppen kleinerer Bergbauunternehmer. Einige dieser
Familien, wie die Gallos, kämpften in den Reihen des
peluconismo
, der
konservativen Regierung, bis in die späten 1850er. Die Fusionistas waren Teil
der nationalen Politik und hielten meistens an einem Liberalismus fest, der den
43
Zu den Wahlen 1855 waren die Familien Matta, Carvallo und Mandiola der Opposition
beigetreten. Bei den Parlamentswahlen 1858 kam auch die Familie Gallo hinzu. Die
Mitglieder der Familien Edwards und Ossa, die in Copiapó ansässig war, verhielten sich loyal
der Regierung Montt gegenüber, obwohl sie im Jahr 1858 ein geringes politisches Profil
zeigten. Diese Familien können als tatsächliche Kerne angesehen werden, aus denen sich ein
breites Netz konstruierte, das es ihnen erlaubte, Allianzen mit anderen wichtigen Familien, in
Atacama und dem Rest Chiles, durch eheliche, freundschaftliche oder wirtschaftliche
Verbindungen einzugehen. Außerdem konnten sie durch den Klientelismus, den sie
aufbauten, ein Netzwerk von Abhängigen mobilisieren. Hierbei gilt es auch zu erwähnen,
dass die Einflussreichen dieser Familien wegen des
cursus honorum
weiterhin politischen
Erfolg hatten. Wegen ihren lokalen Ämtern besetzten sie später in der nationalen Politik in
Santiago auch parlamentarische Ämter. Zwei interessante Fälle finden sich in den Artikeln
von Jorge Molina: La red familiar de los Gallo en Copiapó y su rol político en la primera
mitad del siglo XIX. und Pablo Rubio: ¿De revolucionario a moderado? Manuel Antonio
Matta y su influencia en la política chilena, 1859-1892. Beide Artikel finden sich in der
Revista de Historia y Geografía 22 (2008), S. 41-64 und S. 133-162.
196
198
Joaquín Fernández Abara
präsidialen Autoritarismus zu kontrollieren versuchte. An diese Opposition der
Elite reihte sich eine weitere oppositionelle Gruppierung, deren Mitglieder
einfach nur
liberales
,
rojos
[die Roten] oder die
populares
genannt wurden.
Angeführt von José Nicolás Mujica, dem Direktor der Tageszeitung
El Copiapino
, und des MineningenieursAnselmo Carabantes, versuchten sie die
Unterstützung der kleineren Minenbesitzer zu gewinnen und erreichten großen
Einfluss bei den Handwerkern der Stadt Copiapó. Ihre politische Position lässt
sich als ein radikaler Liberalismus mit demokratisierenden Tendenzen
beschreiben. Im November 1858 gründeten Mitglieder beider Oppositionen den
Club Constituyente
, eine politische Gruppierung, die dem republikanischen
Vorbild Frankreichs folgte. Seine öffentlichen Ziele waren es, für eine
Verfassungsreform zu werben und eine konstitutive Versammlung einzuberufen.
Damit stimmten sie in die öffentlichen Aufrufe der liberalen Opposition und der
Ultramontanos
44
mit ein, die diese gegen die autoritären Praktiken der
Regierung Manuel Montts und seiner autoritären Konservativen, auch bekannt
als
Partido Nacional
, richteten. In Zusammenarbeit mit der Opposition aus
Santiago schmiedeten sie einen Plan zum Aufstand gegen die Regierung
45
.
Unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Krise und der politischen
Bewegungen verschärfte sich der regionale Diskurs in Copiapó. Seit dem 18.
Jahrhundert entwickelte sich der Norden Chiles zu einer Region, die
hauptsächlich vom Bergbau dominiert wurde
46
. Auch der Silberboom von 1832
in Chañarcillo und 1848 in Tres Puntas führte zu einer wirtschaftlichen
Dynamik, die bedeutende soziale Veränderungen mit sich brachte und einen
Anstieg der Migration in diese Regionen auslöste. Die Zuwanderung rief
ihrerseits eine noch größere wirtschaftliche Dynamik und Mobilität der
Bevölkerung hervor. Somit ist es nicht erstaunlich, dass diese Phänomene
kulturellen Einfluss auf die regionalen Repräsentationsformen hatten, die die
Menschen aus dem Norden, vor allem die aus Copiapó, verinnerlichten. Die
44
Anm. d. Hrsg.:
Konservative, die klerikale Sonderrechte, die Ausschließlichkeit des
Katholizismus in Chile und eine stärkere Kontrolle im Bereich der Bildung seitens der
katholischen Kirche, sowie einen verstärkten Protagonismus der Legislative, einforderten.
45
Zu der Aufteilung der Parteien vergleiche die Briefe von José María Silva Chávez,
Verwaltungsbeamter von Atacama, an Manuel Montt, am 4., 16. und 20. April 1858 in
A.N.F.F.M.M. Bd. XIV, S. 33-38. Weitere Informationen zu diesem Thema und der
Gründung des
Club Constituyente
finden sich in fast allen Chroniken, die von Revolutionären
nach der Revolution geschrieben wurden; zu finden in A.N.F.B.V.M. Bd. 47 und 47ª.
Vergleiche auch Cristián Gazmuri: La influencia del club republicano francés en las formas
de sociabilidad política chilena de la segunda mitad del siglo XIX. Fundación Mario Góngora.
Formas de sociabilidad en Chile. 1840-1940.Santiago de Chile 1992.
46
Marcello Carmagnani: Los mecanismos de la vida económica en una sociedad colonial.
Chile. 1680-1830. Santiago 2001, S. 99-120.
197Die Bergbau-Junta von Copiapó
199
lokale Presse war voller Referenzen, die Copiapó ein tolerantes Image verleihen
sollten, die Stadt als offen für die Immigration, modern und dynamisch
bezeichneten, um so dem von Santiago vorgegebenen Bild eines rückständigen
und intoleranten ruralen Chiles zu widersprechen. Die
literatura costumbrista
des Schriftstellers José Joaquín Vallejo legt ein Zeugnis dieser
modernisierenden Identität ab:
“Ohne Zweifel hielt der Fortschritt erst in den letzten zehn Jahren Einzug in Copiapó und
dauert bis heute an. Der Abbau in Chañarcillo, San Antonio und anderer reicher
Mineralvorkommen; die häufige Kommunikation, die wir mit anderen Orten und Menschen
begonnen haben, die Zuwanderung der Argentinier, und andere wichtige Umstände haben
unserem Ort, der Wirtschaft, der Industrie und der Kultur einen großen Aufschwung gebracht;
Verbesserungen, die heute noch sehr gering wären, wenn sie nur unserer zivilisatorischen
Revolution zu verdanken wären”
47
.
Dieser Ausdruck des kulturellen Regionalismus und Identitätsbewusstseins
nahm auch politische Züge an. Die Situation wurde während der zweiten Hälfte
der 1850er Jahre noch spürbarer, als sich ein Großteil der Aktionen der
Opposition darauf fokussierte, die übermäßige Macht der Beamten der
Zentralregierung in der Provinz zu kritisieren. Die Verwaltungsbeamten wurden
stets angegriffen und in der liberalen Literatur als „Satrapen“ (persische
Statthalter, die für ihren Machtmissbrauch bekannt waren) karikiert. Gleichzeitig
wurde auch der Kontrolle, die sie über die Polizeibehörden ausüben konnten,
misstraut und diese als raffinierter Schachzug ausgelegt, um heimlich
militärische Einheiten im Dienste der Exekutivgewalt aufzustellen
48
. Diese
Streitereien fanden ihren Höhepunkt als der Verwaltungsbeamte Juan Vicente
Mira gegen Ende Februar 1858 drei Journalisten der Opposition auspeitschen
ließ und damit eine enorme Protestbewegung auslöst, die ihn schließlich zum
Rücktritt zwang
49
.
47
Jotabeche [José Joaquín Vallejo]: ¡Quien te vio y quien te ve! In: Jotabeche: Colección
de los artículos de Jotabeche, publicados en El Mercurio de Valparaíso, en El Semanario de
Santiago y en El Copiapino, desde abril de 1841 hasta septiembre de 1847. Santiago 1847, S.
223. “ Es indudable que Copiapó no ha empezado de veras la carrera de los adelantamientos
sino desde diez años a esta parte. La explotación de Chañarcillo, San Antonio y demás ricos
minerales; la comunicación frecuente en que hemos entrado con otros pueblos y otros
hombres, la inmigración de argentinos, y varias circunstancias de importancia han dado gran
impulso a nuestra población, comercio, industria y cultura de costumbres; mejoras que hoy
serían muy débiles, si se hubiesen obtenido por efecto solo de nuestra revolución
civilizadora.”
48
Diego Barros Arana (Hrsg.): Cuadro histórico de la administración Montt escrito según
sus propios documentos. Valparaíso 1861, S. 113.
49
Rafael Vial: Refutación al libelo publicado en La Serena por D. Juan Vicente Mira, en
defensa del atentado cometido por él en Copiapó el 27 de febrero de 1858
.
Santiago 1858.
198
200
Joaquín Fernández Abara
Die verschiedenen Fraktionen der Opposition forderten die Selbstbestimmung
der lokalen Körperschaften, um so der Macht der Exekutive Widerstand zu
leisten und ein größeres Maß an politisch-administrativer Autonomie behalten
zu können. Der Regionalismus in Atacama, der die Beteiligten des Krieges 1859
leitete, war deutlich von einem korporativen Charakter geprägt. Angesichts des
Fehlens einer Tradition der Provinzvertretungen, konnten die regionalen
Munizipalverwaltungen als Institutionen auftreten, die die lokalen Interessen
repräsentierten, und bildeten damit ein Gegengewicht zur Exekutivmacht der
Zentralregierung. Im Laufe des Jahres 1858 häuften sich die Konflikte um die
Zuständigkeiten zwischen der zentralen Verwaltung und den Gemeinden von
Copiapó und Caldera und ebneten den Weg für den Bürgerkrieg.
Eine der Innungen, die als Organ für die lokale Interessensvertretung und als
Widerstand gegen die Regierung eingesetzt wurde, war die Bergbau-Junta. An
dieser Stelle soll daran erinnert werden, dass sich die Junta in den 1850ern des
Öfteren stellvertretend für die Aufhebung der Besteuerung der Bergbaugegend
eingesetzt hatte, was allerdings von der Zentralregierung immer wieder
abgelehnt worden war
50
. Anfang 1855 gab es zum ersten Mal zwei Wahllisten.
So stand der von der zentralen Verwaltung unterstützten Liste eine andere
gegenüber, die die unabhängigen Interessen „der Bergleute“ repräsentierte.
Beide wurden von Bergbaumagnaten angeführt, doch das Programm der
Opposition präsentierte sich bei der Wahl kritisch gegenüber den bestehenden
Autoritäten: Ihr Programm zirkulierte am 31. Dezember 1854 auf einem
Flugblatt, das von der lokalen Tageszeitung
El Copiapino
gedruckt wurde und
den Titel
Mejoremos el personal administrativo
, „Lasst uns das
Verwaltungspersonal verbessern“, trug. Die Liste beinhaltete auch eine Agenda,
die laut Überschrift von den Bergleuten vorgeschlagen und von der Zunft
umgesetzt werden sollte (
Programa de trabajos que ejecutará la junta que proponen los mineros)
. In ihrem Programm verteidigte die Liste der Opposition
staatliche Eingriffe zur Unterstützung kleinerer und mittlerer Minenbetriebe.
Hauptsächlich zielte sie darauf ab, das chronische Problem der fehlenden
Kredite zu beheben. Dafür sollten staatliche Darlehen mit „tragbaren“ Zinsen
gewährt werden und die Tradition der „Darlehen-Banken“ wiederaufgenommen
werden. Das Programm verteidigte auch die Notwendigkeit, den kleineren
Minen einige grundlegende Investitionen für die schwere Arbeit im Bergbau zu
ermöglichen und bestand darauf “[…] eine Verringerung der staatlichen Rechte
bezüglich der Rohstoffe und Mineralien herbeizuführen, Rechte, die den
50
Sesión de la Junta de Minería. Copiapó: 4 de julio de de 1853. A.N.A.I.A., Bd. 137, s/f.
199Die Bergbau-Junta von Copiapó
201
Industriellen in der Entwicklung seiner Industrie extrem hemmten”
51
. Die
Wahlen wurden am Nachmittag des 1. Januars im Gemeindesaal mit einer
„großen Beteiligung der Bergleute“ durchgeführt. Obwohl der Intendant
versuchte, die Wahl um einen Tag zu verschieben, hatte sein Unterfangen
keinen Erfolg und die unabhängige Liste unter der Führung des jungen
Magnaten Pedro León Gallo konnte einen triumphalen Wahlsieg verzeichnen.
Die große Wahlbeteiligung lässt sich auch auf die Teilnahme der
unterschiedlichen Sektoren des Bergbaus zurückführen. Zum ersten Mal konnte
eine offene, breite Verbandsbildung und ein konkurrenzorientiertes Wahlsystem
effektiv durchgeführt werden.
Am 2. Januar 1856 veränderte sich die Stimmung jedoch abrupt, als sich die
neue Junta in der Verwaltungskammer mit nur wenigen ihrer Wortführer
versammelte. Bei diesem Treffen verlas der stellvertretende Intendant Juan
Vicente Mira folgendes Dekret:
“Die Praxis, die Mitglieder der Junta de Minería durch alle Personen, die an der Ernennung
teilnehmen wollen, wählen zu lassen, wird als informell und gefährlich für die Interessen der
Bergleute eingestuft und somit abgeschafft”
52
.
Die Regierungsverwaltung griff in die Belange der
Junta de Minería
ein und
ging dazu über, die Mitglieder der Junta selbst zu ernennen. Dieser Beschluss
beruhte darauf, dass es „weder Vorschriften oder eine Verfassung gab“, die die
Richtlinien für die Wahl der Mitglieder der Institutionen vorgaben, noch wurde
die „Wahlberechtigung für die Wähler festgelegt“. Dies würde für gewöhnlich
zu einer Maßlosigkeit führen, die Personen zuließe, die „keinerlei Titel oder
Qualifikation aufwiesen“, als lediglich „Bergmann“ zu sein. Dies würde in der
Praxis so ausgedehnt, dass das Wahlrecht auch „den Faulen, den Kindern und
wer auch immer sich als Bergmann ausgab“, zugesprochen würde. Angesichts
dieser Situation erklärte die Verwaltung, dass sie sich darum kümmern müsse,
dass die Gelder des Verbandes tatsächlich von „[…] Personen verwaltet werde,
die garantiert ihren Eifer, ihr Eigentum und ihre Sorgfalt einbringen würden“.
Deshalb müsse auch „vermieden werden, dass aus der Informalität, mit der die
51
El Copiapino. Copiapó, 2. Januar 1855. Zu diesen traditionellen Ansprüchen bezüglich
der regionalen Wirtschaft vergleiche Steven Volk: Mine owners, moneylenders, and the State
in mid-nineteenth-century Chile: Transitions and conflicts. In: Hispanic American Historical
Review 73 I (1993). “[...] solicitar al gobierno la disminución de los derechos sobre las pastas
y minerales, derechos que afligen en extremo al industrial en prejuicio del desarrollo de la
industria.”
52
Instalación de la Junta de Minería. Copiapó: 2. Januar 1856, A.N.A.I.A., Bd. 137, s/f.
“Se suprime como informal y peligrosa para los intereses mineros la práctica indebida de
elegir a los miembros de la Junta de Minería por todos los individuos que quieran presentarse
a nombrarlos.”
200
202
Joaquín Fernández Abara
Juntas […] gewöhnlich ernannt wurden, eine für den Verband nachteilige Wahl
erfolgen könnte“
53
.
Daraus wird ersichtlich, welche Bedeutung die Exekutive der Provinz den
lokalen Bergbau-Korporativen beimaß, vor allem wegen ihrer finanziellen
Beiträge an die Regierung. Dennoch wurde versucht, deren Funktion als
beratendes Organ aufzuheben, um auf Regierungsebene jegliche Art der
Opposition zu vermeiden. Die Intervention der Verwaltung wurde nur durch den
Respekt gegenüber wichtigen Personen der Gegend beschränkt. Die soziale
Schicht, zu der diese Personen gehörten, wurde in diesem Fall hauptsächlich
durch deren sozialen Einfluss definiert, der sich vorwiegend aus deren Reichtum
ergab, aber durch die Zugehörigkeit zu aristokratischen Familien, die schon
relativ lang in der Gegend ansässig waren. Deshalb wurde beim Eingriff in die
Wahl der Junta darauf geachtet, dass zwar wichtige Positionen von
Regierungsanhängern besetzt, gleichzeitig aber die Ansprüche einflussreicher
Familien respektiert würden, auch wenn sie abweichende politische Haltungen
angenommen hatten. In dieser Situation schwacher Staatlichkeit zielte die
Zentralisierung der Verwaltung nicht darauf ab, die Institutionen der
Gebietsverwaltung und ihre finanziellen Mittel zu ersetzen, wohl aber sie zu
kontrollieren.
Dennoch kollidierte dieses Konzept der Verwaltung mit der sozialen
Komplexität, die in der Provinz vorzufinden war. In Atacama hatte sich eine
Wirtschaftsform etabliert, in der die kleineren und mittleren Minenbetriebe eine
wichtige und sichtbare Position innehatten. Schon seit der spätkolonialen Zeit
neigte die Gesetzgebung bezüglich des Bergbaus dazu, die Voraussetzungen für
das Wachstum kleinerer und mittlerer Betriebe zu schaffen. Unter diesen
Umständen wurden durch den Bergbauboom und dem daraus folgenden Anstieg
der Migration auch andere Schichten bedeutender, die nicht zur Elite gehörten.
Diese Schichten können als eine Art Proto-Mittelschicht verstanden werden
deren Alphabetisierungsniveau und Einkommen ihnen den Erhalt der
Staatsbürgerschaft ermöglichten
54
. In diesem sozialen Umfeld war es nicht
53
Ebenda. “[...] por personas que presten toda garantía de celo, probidad y diligencia”/
“[...] evitar que de la informalidad con que se ha acostumbrado nombrar las juntas […] resulte
una elección perjudicial para el gremio”
54
Während in Chile 17,3 % der Menschen Alphabeten waren, erreichte die Region von
Copiapó 29,4 %. Vergleiche hierzu Censo general de la República de Chile. Levantado en
abril de 1854
.
Santiago de Chile 1858. Bezogen auf die Einwohnerzahl kam in Copiapó ein
Wahlberechtigter auf 32 Einwohner, in der Hafenstadt Caldera kam einer auf 21. Diese
Zahlen lagen weit über dem Durchschnitt der Nation, bei der ein Wahlberechtigter auf 75
Einwohner kam. Anuario estadístico de la República de Chile
.
Santiago de Chile 1863, S.
450. Soweit sich aus dem Kataster, das von der Verwaltung erstellt wurde, ableiten lässt,
wurden 1854 rund 200 Männer genannt, die Beteiligungsgesellschaften des Bergbaus
201Die Bergbau-Junta von Copiapó
203
ungewöhnlich, dass die Mitglieder dieses Sektors – viele von ihnen kleinere
Händler oder Selbstständige –, Anteile an den Bergbaugesellschaften hielten.
Aus diesem Grund löste der Beschluss der Regierungsverwaltung erzürnte
Proteste aus. Diese wurden von der Tageszeitung
El Copiapino
angeführt, deren
Herausgeber jene Schichten mobilisieren wollten, die von der Verwaltung
ausgeschlossen waren. Die Zeitung, unter der Leitung von José Nicolás Mujica,
einem aus Santiago stammenden Journalisten, der einige kleinere Minen besaß,
bezog eine offen oppositionelle Position gegenüber der Regierung. Die Zeitung
offenbarte einen Liberalismus, der volksnah und antioligarchisch gefärbt war.
Mujica selbst entwickelte gleichzeitig starke Verbindungen zu Handwerkern und
kleineren Minenbesitzern, und gewann neue Kundenkreise, indem er Bergleute,
die wegen Schulden angeklagt waren, schützte und verteidigte
55
. Auf diese
Weise bildete er eine radikale Spitze der liberalen Opposition, die nur zwei
Jahre später, 1858, unter dem Namen
Popular
oder
Rojo
bekannt werden sollte.
Somit war es nicht verwunderlich, dass die Tageszeitung eine kämpferische
Stellung einnahm, die sich für die Interessen der kleinen Bergbaubetriebe
einsetzte und diese mit den Ideen der liberalen Opposition in Einklang brachte.
Nach diesem Konzept wurden anklagende Artikel in Briefform gegen die
Haltung der Regierung publiziert, die mit
Mineros
oder
Liberales
unterschrieben
waren.
Die demokratisierenden Bestrebungen der
El Copiapino
verschmolzen mit
der Forderung nach Autonomie. In oppositionellen Kampagnen gegen den
Verwaltungsbeamten beabsichtigte die Zeitung, die Rechte derjenigen
Körperschaften zu verteidigen, die durch Gewohnheitsrecht und die
Zustimmung der früheren Autoritäten legitimiert waren. Gleichzeitig betonte sie
das Recht aller Minenbesitzer, an der Wahl ihrer Repräsentanten teilnehmen zu
dürfen und die Kontrolle über ihre Steuergelder auszuüben.
vorstanden. Diese Ziffer dokumentiert jedoch nicht die große Anzahl der weiteren beteiligten
Besitzer der “barras”, der Teilgebiete der Minen. Vergleiche hierzu: Memoria que el
Intendente de la Provincia de Atacama presenta al Señor Ministro de Estado en el
Departamento de Interior dando cuenta de todos los ramos de la administración.Copiapó
1854, S. 103-111.
55
Sehr interessant ist auch die Art und Weise wie Mujica seine Führungspositionen
bildete. Parallel dazu, dass er die Forderungen des Handwerks und kleinerer Minenbesitzer in
seiner Zeitung
El Copiapino
einforderte, verbürgte er sich für verschuldete, mittelständische
Unternehmer des Bergbaus als “fiador de cárcel segura”. Damit ist gemeint, dass er Personen
in seinem Haus als Gefangene unterbrachte, die sonst wegen ihrer Schulden ins Gefängnis
müssten. Anselmo Carabantes, ebenfalls ein Anführer der
liberales rojos
oder
populares
, bot
ebenfalls diese Alternative an. Die bearbeiteten Quellen zeigen, dass diese Personen viel eher
dazu neigten, diese Art der Unterstützung zu leisten, als die Mitglieder der Opposition, die zu
den einflussreichen Familien gehörten oder regierungstreu waren. Vergleiche hierzu: Archivo
Nacional. Archivo Notarial de Copiapó. (A.N.A.N.C.), Bd. 106-131.
202
204
Joaquín Fernández Abara
„Es war ein unbedachter Schritt des stellvertretenden Intendanten der Provinz, die
rechtmäßige Wählbarkeit der Junta de Minería abzuschaffen, die bei die Verbandsgründung
von allen Minenbesitzern und unter der Schirmherrschaft der damaligen Regierung
beschlossen und, könnte man sagen, von einer langen Praxis sanktioniert wurde. Er hat damit
einer Serie willkürlicher Handlungen, mit denen seit einigen Jahren ununterbrochen in unsere
Belange eingegriffen wurde, einen weiteren Fall hinzugefügt.”
56
.
Das Plädoyer des
El Copiapino
griff eigene Elemente der korporativen
Tradition, wie die Legitimierung der lokalen Institutionen durch
Gewohnheitsrecht, auf, und verknüpfte diese mit einem demokratisierenden
Liberalismus, der sich für die Aufnahme einiger nicht zur Elite gehörenden
Schichten einsetzte. Die Reklamationen des
Copiapino
verbanden die
wirtschaftlichen Interessen der kleinen Minenbetriebe mit der politischen
Verteidigung lokaler Freiheiten. Somit verteidigte sie die Autonomie der Junta
und gleichzeitig die bereits traditionellen wirtschaftlichen Proteste der
Bergleute. An diesem Punkt ist es wichtig zu betonen, dass die Beanspruchung
größerer wirtschaftlicher Autonomie eng mit einem Lokalpatriotismus
verbunden war, der ebenfalls korporativen Charakter besaß. In ihrem Protest
forderte die Zeitung
El Copiapino,
dass die
Junta de Minería
, gemeinschaftlich
von allen Minenbesitzern gewählt, unabhängig einen Großteil der lokalen
Einnahmen verwalten und die wirtschaftlichen Belange der Bergleute
kanalisieren solle. In diesem Sinne würden die Steueraufkommen der Bergleute
dazu übergehen, als eine Art „freiwillige Spende“ angesehen zu werden, und der
lokale Bergbauverband könnte an ihrer Verwaltung einen entscheidenden Anteil
haben
57
.
Diese Polemik kann als Ergebnis der Entstehung einer öffentlichen Meinung
verstanden werden. Diese wurde von sozialen Schichten mitbestimmt, die zwar
der Elite fern waren, aber Zugang zu Bildung, zur Staatsbürgerschaft und
oftmals auch zum Minenbesitz hatten. Die Repräsentanten dieser Schichten
nahmen in ihren Diskursen in der Presse oder in „politischen Clubs“ auch
Elemente aus der Tradition der elitären Korporativen mit auf, die aus dem 18.
Jahrhundert stammten. Sie erfanden diese Tradition jedoch neu und verbanden
sie mit der Vorstellung einer offeneren und leichter zugänglichen
Staatsbürgerschaft. Dieses Vorgehen, das sich aufgrund des informellen
56
Junta de Minería. In: El Copiapino, Copiapó: 3. Januar 1856. “ El desacertado paso dado
últimamente por el Intendente Interino de la provincia, relativo a la supresión del derecho de
elegibilidad de la Junta de Minería acordado a todo propietario de minas por el acto de
formación de un gremio de mineros, realizado en otro tiempo bajo los auspicios de la
autoridad, y sancionado, puede decirse, por una larga práctica, ha venido a agregar un caso
más a esa serie de hechos arbitrarios que se están sucediendo sin interrupción entre nosotros
desde algunos años a esta fecha.”
57
Lo que estamos viendo. Ebenda.
203Die Bergbau-Junta von Copiapó
205
Charakters der korporativen Institutionen der Minenbetriebe Copiapós teilweise
umsetzen ließ, verweist auf die Formbarkeit des liberalen Diskurses
58
.
Obwohl die Intendanten bis Ende 1858 die Kontrolle über die
Junta de Minería
behielten, milderte sich die Art und Weise der Kontrollausübung. Die
Durchführung offener Wahlen wurde zwar weiterhin unterlassen, aber da die
Ansichten einiger angesehener Minenbesitzer respektiert werden mussten,
wurde versucht, die Wahlen zu unterwandern. Gegen Ende des Jahres 1856
wurden zur Einberufung der Wahl einige „achtbare Minenbesitzer“, die in der
Stadt wohnten, durch "namentliche Einladung“ aufgefordert, an der
Versammlung im Gemeindesaal von Copiapó teilzunehmen
59
. Damit blieben die
Formalitäten des Wahlaktes gewahrt, und trotzdem konnte die Möglichkeit einer
Intervention in den Verband mit der Ernennung von Anhängern der Regierung
erhalten werden. Die Opposition wurde damit auf eine reduzierte Gruppe lokaler
Familien, deren Teilnahmerecht unangefochten war, beschränkt.
Somit nahmen an den Wahlen im Dezember 1856 genau 20 Personen teil. Der
Intendant Mira, der den Vorsitz der Versammlung führte, hielt an seiner
Argumentation des Vorjahrs fest, rechtfertigte das Wahlverfahren und betonte,
dass „das Fehlen eines Verzeichnisses derjenigen Bergleute, aus denen sich der
Verband zusammensetzen und die ein Mitsprachrecht in den Beratungen haben
sollten“, in den letzten Jahren zu Ausschweifungen bei den Ernennungen in der
Junta geführt habe. Laut Mira hatte dieser Missstand ihn dazu gezwungen, bei
der letzten Wahl einzuschreiten und „zwölf der achtbarsten und kompetentesten
Mitglieder“ der Stadt zu ernennen. Trotzdem seien um eine “für den Verband
zufriedenstellendere Nominierung” zu finden, “[...] alle daran interessierten
Personen eingeladen worden“, mit dem Vorschlag, „dieselben Mitglieder der
scheidenden Junta, bis auf fünf Personen, auch für die neue Junta
beizubehalten“
60
.
Die namentliche Einladung der achtbaren Minenbesitzer durch den
Intendanten wurde bei den Wahlen im März 1858 beibehalten
61
. Obwohl in
58
Vergleiche hierzu die Überlegungen von Antonio Annino: El paradigma y la disputa.
Notas para una genealogía de la cuestión liberal en México y América Hispánica. Nicht
ediert
.
Vergleiche auch vom selben Autor: Ciudadanía ‘versus’ gobernabilidad republicana en
México. Los orígenes de un dilema. In: Hilda Sábato: Ciudadanía política y formación de las
naciones. Perspectivas históricas de América Latina. México 1999.
59
Al señor Presidente de la Junta de Minería. Copiapó: 10. März 1863. A.N.A.I.A., Bd.
92, s/f.
60
Sesión del Gremio de Mineros. Copiapó: 14 de diciembre de 1856. A.N.A.I.A., Bd. 137,
s/f. “[...] invitado a todos los sujetos interesados en él [...] para vocales de la junta que debe
funcionar el año entrante los mismos sujetos que han funcionado en la que expira, con sólo la
variación de cinco.”
61
Al señor Presidente de la Junta. Copiapó: 10. März 1863.
204
206
Joaquín Fernández Abara
diesem Jahr der Zuwachs der Opposition in Copiapó offensichtlich war, wurde
die Wahl mit nur sieben Teilnehmern durchgeführt.
El Copiapino
stellte
daraufhin ironischerweise fest, es gäbe „keinen besseren Beweis für die enorme
Popularität, die der Herr Intendant unter uns genießt”
62
. Trotz der Intervention
des Intendant und der geringen Zahl teilnehmender Wähler, kam es bei der Wahl
zu Zwischenfällen. Es scheint, dass während der Versammlung drei der
Anwesenden, deren Namen wir nicht herausfinden konnten, „[…] mitgeteilt
hatten, dass sie sich nicht in der Lage sahen, die Wahl durchzuführen“. Sie
machten geltend, dass der gesamte Verband mit einer öffentlichen Einladung
über die Presse zusammengerufen werden sollte. Die anderen vier Mitglieder
sollen geschwiegen und die von dem Intendanten vorgeschlagene Liste
genehmigt haben
63
.
Während des gesamten Zeitraums wurden die Verfahren zur Erneuerung der
Junta de Minería
schwer von der Opposition kritisiert. Besondere Empörung
rief die Tatsache hervor, dass die Junta nach Belieben Bergleute durch private
Anschreiben einlud, die sie für angemessen hielt, an den Wahlen
teilzunehmen
64
. Diese „Anschreiben“, die von der oppositionellen Presse als
„Einladungskärtchen“ bezeichnet wurden, waren wegen ihres privaten
Charakters verrufen
65
.
Der Intendant Mira wurde angeklagt, die
Junta de Minería
in eine „[…]
handlungsunfähige Körperschaft, eine Scheinkorporative verwandelt zu haben,
die alles autorisiert, was der Intendant will und alles ablehnt, was ihm missfällt,
auch wenn es im allgemeinen Interesse wäre“.
El Copiapino
erklärte daraufhin
die Nichtigkeit des Wahlverfahrens der Junta und sprach sich für eine
„populäre“ Wahl aus, die Gültigkeit hätte und mit der vermieden werden könne,
dass die Wahl innerhalb einer Gruppe von Personen stattfindet, die „gewählt
wurden um zu wählen“. Nur auf diese Weise wäre die Junta ein Produkt des
„unabhängigen Stimmrechts einer Mehrheit, die dazu berechtigt ist, ein bereits
anerkanntes Recht auszuüben“
66
. In dieser Kritik des
Copiapino
wurde der
Regierung auch die willkürliche Ernennung von Vertretern vorgeworfen, die
eingesetzt wurden, um Gelder zu verwalten, die von den Bergarbeitern freiwillig
62
El Copiapino
.
Copiapó:
4. Januar 1858. “[…] nada más elocuente para probar la
inmensa popularidad de que el señor Intendente goza entre nosotros.”
63
Ebenda. “[...] hicieron presente que no se consideraban aptos para hacer la elección.”
64
El Copiapino
.
Copiapó:
2. Januar 1858.
65
Ebenda.
66
Ebenda. “[...] cuerpo indeliberativo, un simulacro de corporación, que autorice todo lo
que el intendente quiera y rechace lo que le desagrade, aunque convenga a los intereses de la
comunidad.”/ “[...] voto independiente de una mayoría apta para el ejercicio de un derecho ya
reconocido.”
205Die Bergbau-Junta von Copiapó
207
gezahlt worden waren. Auch wurde das Prinzip verteidigt, dass „[…] die
Summen, die vom Volk in eigener Sache eingezahlt werden, dem selben Volk
nützen sollen“
67
. Es war nicht verwunderlich, dass die
Junta de Minería
im
Copiapino
als eine lokale Körperschaft dargestellt wurde, die aus einer
freiwilligen Vereinigung entstanden war, mit dem Ziel, die Interessen von allen
Bergleuten -in einem sozial breiteren Verständnis- zu vertreten
68
.
Abb.2: “Trapiche” o molino de minerales. L. Simonin: Underground Life of
Mines and Miners. London 1869. (Cortesía del Museo Regional de Atacama)
Gegen Ende 1858 veränderte sich die Situation. Die am 30. Dezember diesen
Jahres durchgeführte Wahl der Junta zeigte eine Wendung hin zu einem deutlich
offeneren Wahlverfahren.
69
Der neue Intendant, José María Silva Chávez, in
dem Versuch, die Gemüter der Opposition zu besänftigen und Beschwerden
wegen Einmischung zu vermeiden, lud „für den offiziellen Zeitraum einer
Generalversammlung am 30. Dezember, um 12 Uhr in den Gemeindesaal“ ein.
Abgesehen von der Einberufung der Versammlung, versuchte er einen Überhang
67
El Copiapino. Copiapó: 28 de marzo de 1857. “[…] las sumas que el pueblo deposita en
su poder sirvan para el mismo pueblo.”
68
El Copiapino
.
Copiapó: 11 de enero de 1858.
69
Al señor Presidente. Copiapó: 10. März 1863.
206
208
Joaquín Fernández Abara
für die Regierung zu erreichen, indem er sich besonders darum bemühte,
Mitteilungen an Personen zu schicken, von denen anzunehmen war, dass sie der
Regierung nahe standen. Dennoch blieb gegenüber der
Mobilisierungsmöglichkeiten der Oppositionellen machtlos. Tatsächlich kamen
auf die Einladung des Intendanten nur vier Personen. Auf der anderen Seite
erschienen Pedro León Gallo, wohlhabendes Mitglieder einer der wichtigsten
Familien der Gegend, in Begleitung von 20 bis 25 Männern. Alle waren
Mitglieder des
Club Constituyente
, einer „Partei“, die an die Opposition
angegliedert war und aus populären Liberalen und abtrünnigen Konservativen
bestand. Folgerichtig konnte die Opposition eine überwältigende Mehrheit
verzeichnen und stellte die gewählten Mitglieder der sich neu
zusammensetzenden Junta. Es ist hervorzuheben, dass mit Ausnahme von Blas
Ossa und José Antonio Moreno der komplette Rest der Junta Mitglieder des
Club Constituyente
waren. Nur sechs Tage später griffen sie zu den Waffen und
die
Revolución Constituyente
in Atacama brach aus.
Laut dem Intendanten Silva Chávez handelte es sich hierbei um die
„lächerlichste Junta“, die Copiapó haben konnte. Dieses Urteil des Intendanten
hob auf die Mitglieder der neuen
Junta de Minería
ab, die nun hauptsächlich
von Persönlichkeiten der Opposition vertreten wurde, wobei viele von ihnen,
wie Anselmo Carbantes und Nicolás Mujica, den radikalen Sektoren angehörten.
Gleichzeitig verwies es auf die soziale Zusammensetzung der neuen Junta, denn
der Intendant behauptete, dass „abgesehen von Ossa Varas, Gallo, Matta,
Carballo y Moreno und ein oder zwei weiteren Ausnahmen, sind alle anderen
‚arme Teufel’, die kein Geld haben“. Tatsächlich aber waren einige der
gewählten Mitglieder Vorstände von kleineren Abbaubetrieben oder besaßen
eine Mitteilhaberschaft im Bergbau oder damit verbundenen Betrieben.
Silva Chávez informierte Präsident Manuel Montt, er habe daran gedacht,
einfach den Saal zu verlassen, da er die Wortführer als nicht qualifiziert
betrachtete, aber
„[D]as hätte ja nichts als Missfallen geweckt und den Vorwurf der Tyrannei aufkommen
lassen, wobei auf diese Weise nicht mal eine Stimmengleichheit zustande gekommen wäre,
denn die Differenz, der ich mich fügen und die ich erleiden musste, ist so groß, dass ich, hätte
ich so einen Fall vorhergesehen, diese Wahl nie durchgeführt und die Junta von 58 einfach
auch für 59 beibehalten hätte, denn es gibt weder eine Satzung noch eine Vorschrift, alles
wird auf Grundlage des Gewohnheitsrechts gemacht”
70
.
70
Carta de José María Silva Chávez a Manuel Montt. Copiapó: 1. Januar 1859.
A.N.F.F.M.M. Bd. XV, S. 1-2. “Esto no habría producido más que un desagrado y material
para hablar de tiranía, cuando con esta medida no podría ni empatar el sufragio, pues es tan
grande la diferencia que tuve que resignarme a sufrir, que al haber previsto yo un caso
semejante no habría hecho tal elección y habría dejado la junta de 58 para 59, pues no hay
estatutos ni reglamento alguno, y todo se hace por costumbre.”
207Die Bergbau-Junta von Copiapó
209
Sechs Tage später brach der Bürgerkrieg von 1859 aus, und die Provinz
Copiapó erklärte ihre „Abspaltung“ von der „Regierung in Santiago“. Der
Bürgerkrieg zeigte deutliche dezentralisierende Tendenzen und führte zu einer
Reform der Verfassung. Eine der ersten Handlungen der Revolutionsführer war
es, sich die Unterstützung der kommunalen Körperschaft und des lokalen
Bergbauverbandes zu sichern.
Die politische Ritualhandlung, der die Rebellen Copiapós folgten, zeigt die
Bedeutung, die den lokalen Verbänden zugeschrieben wurde. Die
Junta de Minería
versammelte sich unter der Präsidentschaft des revolutionären
Intendanten Pedro León Gallo am 8. Januar. Nachdem die neue Körperschaft
eingesetzt worden war, ernannten ihre Mitglieder eine Kommission, die die
Bücher und Kassen auf vorhandene Geldmittel hin prüfen sollte, und
ermächtigte den Intendanten, „…die Gelder der Junta in den Bereichen des
Gemeinwohls zu investieren, in denen sie gebraucht werden“, und überließ es
seinem Ermessen, diese Finanzen einzusetzen
71
. Die Gelder der Körperschaft
wurden zwar dem neuen revolutionären Regime übergeben, diese Übergabe der
Gelder wurde aber als freiwillig bezeichnet, da die Junta das Recht hatte, frei
darüber zu verfügen. Die Revolutionären nannten die Übertragung des Geldes
einen „beredtes Zeugnis des Vertrauens“ von Seiten des Bergbauverbandes
72
.
Diese Ereignisse zeigen erneut die Vermischung von Liberalismus und
Regionalismus, und betonen gleichzeitig den korporativen Charakter, den
letztere Strömung im Norden Chiles des 19. Jahrhundert angenommen hatte.
Soziale Schichten, die zwar nicht zur Elite gehörten, aber Teil Öffentlichkeit
waren, interpretierten diese korporative Tradition neu und verfeinerten sie mit
einem demokratisierenden Liberalismus. Die
Junta de Minería
, eine Institution,
die seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts ein Bollwerk der
Magnatenfamilien des Bergbaus und der lokalen Eliten gewesen war, wurde nun
als Schutzwall gegen die zentralistischen Bestrebungen der Regierung und als
repräsentative Pattform für verschiedene Sektoren des Bergbauwesens
angesehen.
71
Vergleiche hierzu die Eröffnungssitzung der Junta de Minería, Copiapó, 8. Januar 1859,
in A.N.A.I.A., Bd. 137, s/f. “[…] facultó al intendente para “que invirtiera los fondos de la
junta en aquellos ramos del servicio público que con preferencia lo reclamen” y dejó a su
“arbitrio” el manejo de dichos fondos.”
72
Anonymer Autor: Apuntes de la revolución del cinco de enero de 1859 realizada en
Copiapó, S. 30f. Zu den Übergaben der Finanzen von der Junta an die neuen revolutionären
Autoritäten vergleiche A.N.A.I.A., Bd. 218, S. 371 f. “[…] voto elocuente de confianza.”
208209AUTORINNEN UND AUTOREN
Mónika Contreras Saiz (monikacs@zedat.fu-berlin.de) ist wissenschaftliche
Mitarbeiterin am SFB 700 im Projekt “Herrschaftslegitimierung über
Partizipation im kulturell heterogenen Raum: Lateinamerika zwischen Kolonie
und postkolonialem Staat, 1759-1865” unter der Leitung von Stefan Rinke am
Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Ihr Promotionsvorhaben
untersucht die “Herstellung von Sicherheit im interkulturellen Kontext. Die
Allianzen für den Frieden zwischen den Mapuche und dem Staat Chile, 1767-
1881”.
Joaquín Fernández Abara (jrfernan@uc.cl) ist Dozent für Geschichte, Journa-
lismus und Soziologie an der Universidad Alberto Hurtado, Santiago de Chile.
Derzeit arbeitet er an seiner Magisterarbeit. Zu seinen Forschungsschwerpunk-
ten zählen die Geschichte des republikanischen Chiles, die Staatsbildung, der
Regionalismus sowie die Bürgerkriege des 19. Jahrhunderts und der Po-
pulismus des 20. Jahrhunderts.
Justo Flores Escalante (jflores@colmex.mx) studierte Anthropologie mit dem
Schwerpunkt Geschichte an der Universidad Autónoma de Yucatán. Derzeit ist
er Doktorand des Colegio de México und promoviert über die Integration der
Halbinsel Yucatán und die Bildung von Campeche innerhalb des mexikanischen
Staates 1821-1857. Er ist Stipendiat des Consejo Nacional de Ciencia y
Tecnología de México (Conacyt).
Lasse Hölck (hoelckl@yahoo.de) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 700
im Projekt “Herrschaftslegitimierung über Partizipation im kulturell heterogenen
Raum: Lateinamerika zwischen Kolonie und postkolonialem Staat, 1759-1865”.
Sein Promotionsvorhaben am Lateinamerika-Institut der Freien Universität
Berlin untersucht "Die politische Einbeziehung indigener Gemeinschaften über
Bildungseinrichtungen in Sonora, 1767- 1857".
Jorge Pinto Rodríguez (jpinto@ufro.cl) ist Professor für Sozial- und
Bevölkerungsgeschichte am Institut für Sozialwissenschaften der Universidad
de La Frontera, Temuco/Chile. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die
Geschichte Chiles seit der Kolonialzeit und im Besonderen die Erschließung und
Entwicklung der Araucania sowie die Wechselbeziehungen zwischen dem
chilenischen Staat und den Mapuche.
Cynthia Radding (radding@email.unc.edu) ist Professorin für Kolonialge-
schichte Lateinamerikas, für Umweltgeschichte sowie die Geschichte Mexikos
an der University of North Carolina, Chapel Hill. Ferner ist sie Gussenhoven
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Autorinnen
und
Autoren
Distinguished Professor of Latin American Studies daselbst. Zu ihren
Forschungsschwerpunkten zählen die iberoamerikanischen
frontiers
während
der Kolonialzeit und der frühen nationalen Epoche. Ihr Fokus liegt auf dem
Norden Mexikos und den inneren Grenzräumen des Tieflandes von Bolivien,
Brasilien und Paraguay.
Stefan Rinke (rinke@zedat.fu-berlin.de) ist Professor für Geschichte
Lateinamerikas am Lateinamerika-Institut und am Friedrich-Meinecke-Institut
der Freien Universität Berlin. Er ist Projektleiter des Projekts “Herr-
schaftslegitimierung über Partizipation im kulturell heterogenen Raum: Latein-
amerika zwischen Kolonie und postkolonialem Staat, 1759-1865” im SFB 700.
Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte Lateinamerikas im
19. und 20. Jahrhundert, Lateinamerika im globalen Kontext sowie die
vergleichende Geschichte der Amerikas.
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