Die "Violencia" in Kolumbien
Verbotene Erinnerung? Der Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1948-2008
9
V
ORWORT
Obwohl Kolumbien in unseren Medien noch immer als Land unermesslich rei-
cher Drogenbarone, linksgerichteter Rebellen und ewiger Gewalt verkauft wird,
hat es diese einseitige und arrogante Einschätzung nicht verdient. Vom euro-
zentrischen Standpunkt aus handelt es sich um einen relativ unbedeutenden Staat
in Südamerika, der aufgrund fehlender politischer "Kultur" sowie der "Gewalt-
mentalität" seiner Bevölkerung zum Scheitern verurteilt scheint; ein typischer
failed state
, wie es im Jargon der Politologen heißt.
Die Oberflächlichkeit derartiger "Analysen" zu zeigen, war das eigentliche
Ziel meiner Arbeit. Anhand eines konkreten Phänomens, nämlich der
Violencia
,
wollte ich veranschaulichen, dass all die schlagzeilenträchtigen Vermutungen
über Kolumbien zwar ein Teil der Wirklichkeit sind. Das ganze Bild entzieht
sich jedoch einer solch beschränkten Perspektive.
Mein Dank gilt all denen, die mich bei der Erstellung dieser Dissertation un-
terstützt haben. Zuerst möchte ich meinen Doktorvater Prof. Dr. Hans-Joachim
König nennen, der nicht nur dieses Vorhaben kritisch betreut hat, sondern auch
für meine bisherige akademische Laufbahn entscheidend gewesen ist. Ebenfalls
zu großem Dank verpflichtet bin ich der Friedrich-Ebert-Stiftung, die dieses
Projekt finanziell und ideell gefördert hat, sowie der Eichstätter Universitätsge-
sellschaft e. V. und der
Asociación de Colombianistas
, die mir beide den Preis
für die beste Doktorarbeit verliehen haben. Dadurch wurde es mir ermöglicht,
wesentliche Teile dieser Arbeit in Kolumbien zu veröffentlichen.
Weitere Personen, die zum guten Gelingen beigetragen haben und denen ich
ebenfalls zu Dank verpflichtet bin, sind mein Zweitgutachter Prof. Dr. Stefan
Rinke und mein derzeitiger "Lehrmeister" Prof. Dr. Thomas Fischer. In Kolum-
bien danke ich insbesondere César Augusto Ayala Diago, María Victoria Uribe,
Gonzalo Sánchez, Jorge Orlando Melo, Guillermo Gärtner sowie den Angestell-
ten und Forschern der
Biblioteca Luis Ángel Arango
, der
Universidad Nacional
,
des IEPRI, des INER, des
Instituto Pensar
, der
Universidad de Antioquia
, des
Museo Nacional
, des
Museo de Arte Moderno de Bogotá
, des
Museo Botero
und
des
Museo de Arte Moderno de Medellín
.
Zuletzt möchte ich auch die erwähnen, die mich während dieser Arbeit in vie-
lerlei Hinsicht unterstützt haben, meine Eltern, meine Schwiegereltern, meine
Freunde und natürlich meine Frau, Natalia Gutiérrez Alonso, die eine direkte
Verbindung zu meiner
segunda patria
darstellt und der ich diese Arbeit widme.
Nürnberg, im August 2009 Sven Schuster
10
11
I. Die Violencia: verbotene Erinnerung?
Memoria prohibida, nadie reclama un monu-
mento a las víctimas, no hay héroes a los cua-
les erigirles una estatua. Puesto que no se trata
de una muerte voluntaria por una causa enco-
miable, no hay cómo dotarla de sentido, ni pa-
ra los muertos ni para los sobrevivientes. Las
dimensiones espaciales y de tiempo de la me-
moria son suprimidas. Nadie puede construir
un discurso que la justifique. Se ha impuesto la
visión de los vencedores.1
(
Gonzalo Sánchez, Historiker
)
1.
E
INFÜHRUNG
Der von 1948 bis 1963 wütende Bürgerkrieg, die so genannte
Violencia
2
, gilt als
das dunkelste Kapitel der kolumbianischen Geschichte. Obwohl die meisten Ko-
lumbianer eine vage Vorstellung vom grausamen Charakter der Epoche haben,
herrscht merkwürdiges Schweigen, sobald es um die Deutung der historischen
Ereignisse geht. Über 45 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs ist die blutige
Vergangenheit zum unüberwindbaren Trauma erstarrt. Denn im Unterschied zu
anderen Ländern der Region wird Kolumbien noch immer von der Gewalt be-
waffneter Gruppen heimgesucht. Zwar handelt es sich heutzutage um einen völ-
lig anders gearteten Konflikt, der nach Meinung mancher Beobachter gar kein
"Bürgerkrieg" mehr im eigentlichen Sinne ist.3 Die Wurzeln der aktuellen Aus-
einandersetzung reichen jedoch eindeutig in die Zeit der
Violencia
zurück.
1
Sánchez, Gonzalo.
2
2006.
Guerras, memoria e historia
. Medellín: La Carreta Histórica,
S. 83 f.
2
La Violencia
in Großschreibung ist ein feststehender Ausdruck, der in Kolumbien für die
Zeit von 1948 bis 1963 steht. Die meisten Zeitgenossen sahen sich angesichts der unbe-
schreiblichen Grausamkeiten außer Stande, das Geschehene in Worte zu fassen und empfan-
den den Bürgerkrieg als eine Art Naturgewalt. Im Unterschied zu einem "klassischen" Bür-
gerkrieg herrscht im Falle der
Violencia
jedoch keine Einigkeit über den exakten Zeitpunkt
ihres Beginns und ihres Endes. Zur Entstehungsgeschichte des Begriffs siehe ebd., S. 42 ff.
3
In einem Bürgerkrieg kämpfen weite Teile der Bevölkerung um die politische Macht,
wobei der Staat als handelnder Akteur oder als "Beute" im Mittelpunkt steht. Da der kolum-
bianische Staat während des 19. und 20. Jahrhunderts meist sehr schwach war, prägte er die
12
12
Kapitel I
Aufgrund dieser Tatsache hat eine öffentliche Diskussion um die Ursachen
und Folgen der Gewalt bis heute nur vereinzelt stattgefunden. Einige Intellek-
tuelle haben daraus den Schluss gezogen, dass hierfür eine "Politik des Verges-
sens" verantwortlich gewesen sei. Der Staat und seine Organe hätten im Interes-
se der Herrschaft versucht, die Erinnerung an die
Violencia
auszulöschen.4 Im
Folgenden will ich herausfinden, ob diese These wirklich zutrifft oder ob es in
Kolumbien vielleicht doch ein historisches Bewusstsein über den Ursprung der
bewaffneten Auseinandersetzung gibt. Welche Rolle spielt die
Violencia
heute,
angesichts der nicht enden wollenden Gewalt und einer zunehmend polarisierten
Gesellschaft?
Seit mehr als vier Jahrzehnten destabilisieren bewaffnete Gruppen Kolum-
bien. Unter dem blutigen Binnenkonflikt, der von der internationalen Presse
kaum mehr wahrgenommen wird, leidet vor allem die Zivilbevölkerung. Zahl-
reiche Friedensbemühungen von Seiten des Staates und der demokratischen Zi-
vilgesellschaft sind bislang ohne Erfolg geblieben. Gleichgültig gegenüber
internationaler Kritik und den meisten Vermittlungsangeboten abgeneigt, kämp-
fen die linksgerichteten Guerillagruppen FARC (
Fuerzas Armadas Revoluciona-
rias de Colombia
) und ELN (
Ejército de la Liberación Nacional
) gegen den
verhassten "Oligarchen-Staat".5 Dass sie dabei längst ihre "revolutionären" Ziele
aus dem Auge verloren haben und sich mit dem Status Quo zufrieden geben, ist
in erster Linie auf die Produktion und den Vertrieb von Drogen zurückzuführen.
Genau wie ihre härtesten Widersacher, die rechtsgerichteten Paramilitärs, ver-
dienen die Guerilleros heutzutage glänzend am Export von Kokain.6
Ausübung kollektiver Gewalttaten nur in begrenztem Maße. Zudem ist der Staat für die heuti-
gen Rebellen, die nur einen Bruchteil der Bevölkerung repräsentieren und sich durch illegale
Aktivitäten wie Drogenhandel oder Entführungen finanzieren, als "Beuteobjekt" zunehmend
uninteressant geworden. Vgl. hierzu
Riekenberg, Michael.
2003.
Gewaltsegmente. Über ei-
nen Ausschnitt der Gewalt in Lateinamerika
. Leipzig: Universitätsverlag, S. 32 f.
4
Vgl.
Alape, Arturo.
1983.
El Bogotazo: memorias del olvido
. La Habana: Casa de las
Américas,S. 16.
5
Zum Selbstbildnis der Guerilleros siehe auch deren jeweilige Homepage im Internet:
www.farcep.org u. www.eln-voces.com.
6
Den Zusammenhang zwischen Drogenproduktion und bewaffnetem Konflikt analysiert
Kurtenbach, Sabine.
2004.
Estudios para el análisis de conflictos de carácter nacional: Co-
lombia
. In: http://library.fes.de/pdf-files/iez/02955.pdf (26. Januar 2008). Zur Drogenökono-
mie im Allgemeinen siehe
Thoumi, Francisco.
2004. Die Drogenwirtschaft in den Anden-
ländern. Ähnlichkeiten und Unterschiede. In: Kurtenbach, Sabine/Mechthild Minkner-
Bünjer/Andreas Steinhauf (Hgg.).
Die Andenregion – neuer Krisenbogen in Lateinamerika
.
Frankfurt a. M.: Vervuert, S. 35–66.
13
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
13
Während die Guerillagruppen gelegentlich Anschläge gegen staatliche Ein-
richtungen verüben oder Politiker entführen, sind bzw. waren die Paramilitärs
eher für ihre Kooperation mit den staatlichen Sicherheitskräften bekannt. Die in
den 80er Jahren von Großgrundbesitzern zur Verteidigung gegen die Guerilla
gegründeten Milizen schlossen sich 1997 zum paramilitärischen Dachverband
AUC (
Autodefensas Unidas de Colombia
) mit angeblich politischen Zielen zu-
sammen. Seither taten sie sich durch exemplarische Grausamkeit, Entführungen
und systematischen Terror gegen die Zivilbevölkerung hervor.7 Aufgrund ihrer
Unterstützungsfunktion im Kampf gegen die Guerilla kam es in den letzten Jah-
ren zu einer regelrechten Vernetzung staatlicher und paramilitärischer Kräfte.
Obwohl die AUC seit Ende 2004 einen vom Staat gesteuerten Demobilisie-
rungsprozess durchlaufen, befürchten internationale Beobachter eine schlei-
chende "Legalisierung" des Paramilitarismus. Selbst die der kolumbianischen
Führung freundlich gesonnene US-Regierung hegt mittlerweile den Verdacht,
dass demobilisierte Paramilitärs weite Teile des Staats unterwandert haben
könnten. Die unter dem Schlagwort der
parapolítica
bekannt gewordenen Ver-
bindungen zwischen Kongressabgeordneten und Paramilitärs haben in jüngster
Zeit dem internationalen Ansehen des kolumbianischen Präsidenten schweren
Schaden zugefügt.8
Da die bewaffneten Gruppen einer direkten Konfrontation in der Regel eher
aus dem Weg gehen, suchen sie sich ihre Opfer zumeist unter der wehrlosen
Landbevölkerung. Dahinter steht die perverse Logik, "dem Fisch das Wasser
abzugraben".9 Nach diesem Schema löschten die Gewaltakteure in der Vergan-
7
Zu Geschichte und Selbstbild der Paramilitärs siehe
Romero, Mauricio.
2003.
Paramili-
tares y autodefensas, 1982–2003
. Bogotá: Planeta.
8
Vgl.
El Tiempo
vom 20. April 2007. Darin finden sich schwere Anschuldigungen gegen
Präsident Uribe, der direkt mit den von den USA und der EU als Terroristen eingestuften Pa-
ramilitärs kollaboriert haben soll. Aufgrund der ungeklärten Sachlage sagte in der Folge der
ehemalige US-Präsidentschaftskandidat Al Gore ein Treffen mit dem kolumbianischen Präsi-
denten ab.
9
Diese Losung haben Regierungstruppen in Zentralamerika während der 1980er Jahre
ausgegeben. Damals ging die Armee zu einer Taktik der "verbrannten Erde" über, um der
linksgerichteten Guerilla ihre zivile Basis zu entziehen. In Kolumbien hingegen sind es vor
allem die Aufständischen, die sich einer solch menschenverachtenden Strategie bedienen.
Einen interessanten Vergleich zwischen der Situation in El Salvador und Kolumbien liefert
Zinecker, Heidrun.
2001. Gewalt als Legat. Überlegungen zur Präfiguration unvollendeter
Transition in Kolumbien und El Salvador. In: Höpken, Wolfgang/Michael Riekenberg (Hgg.).
Politische und ethnische Gewalt in Südosteuropa und Lateinamerika
. Köln: Böhlau, S. 149–
172.
14
14
Kapitel I
genheit ganze Dorfgemeinschaften aus, nur weil sie ihrer Meinung nach als po-
tenzielle "Förderer" der Guerilla bzw. des Paramilitarismus in Betracht kamen.
Aufgrund ihrer Inhaltsleere und ihrer brutalen Praktiken haben vor allem die
Guerilleros jeglichen Rückhalt in der Bevölkerung verloren, wohingegen eine
etwas größere Minderheit die Legitimität der Paramilitärs anzuerkennen
scheint.10
Wie bereits erwähnt, hat vor allem der Drogenhandel dazu beigetragen, die
bewaffneten Akteure finanziell und militärisch zu stärken, da nach der Zerschla-
gung der berüchtigten "Kartelle" von Medellín und Cali ein Großteil der Dro-
gen-Infrastruktur unter die Kontrolle der Aufständischen geriet.11 Dem Staat fiel
es angesichts dieser komplizierten Situation zunehmend schwerer, sein Gewalt-
monopol durchzusetzen. Am Ende begnügten sich die einzelnen Regierungen
damit, zumindest in den von der Mittel- und Oberschicht bewohnten Stadtvier-
teln für Sicherheit zu sorgen. In historischer Perspektive ist die gegenwärtige
Schwäche des Staates am ehesten mit den von starken Desintegrationstendenzen
und inneren Kriegen gekennzeichneten Zuständen des 19. Jahrhunderts ver-
gleichbar. Das politische System Kolumbiens – eine kartellhafte Konkordanz-
Demokratie unter der Führung dynastischer Parteieliten (Liberale und Konserva-
tive) – befindet sich spätestens seit den 1980er Jahren in einer tiefen Legitimati-
onskrise.12 Trotz politischer Reformen und einer neuen Verfassung (1991) ist
eine partizipative Demokratie Wunschdenken geblieben. Ebenso sind die Distri-
bution öffentlicher Güter oder die Herstellung von Sicherheit und Ordnung als
mögliche Legitimationsquellen ausgeschieden. Stattdessen eskaliert die Gewalt
seit Beginn der 80er Jahre.
In dem Maße, wie die illegale Drogenökonomie wuchs und immer weitere
Bereiche in Staat und Gesellschaft erfasste, zerbrach auch die Illusion eines de-
mokratischen Rechtsstaats. In der Folge sahen sich die USA genötigt, den Ko-
lumbianern zu "helfen". Trotz massiver Militärunterstützung und ökonomischer
Drohungen ist es den verschiedenen US-Regierungen jedoch bis heute nicht ge-
lungen, die Macht der so genannten "Narco-Terroristen" (Guerilleros, Paramili-
tärs und Drogenhändler) zu brechen. Im Gegenteil, mit über drei Millionen Bin-
10 Vgl.
El Tiempo
vom 20. April 2007.
11
Vgl.
Kurtenbach.
2004, S. 10.
12
Zum politischen System Kolumbiens siehe überblicksartig
König, Hans-Joachim/Sven
Schuster.
2008. Kolumbien. In: Rinke, Stefan/Klaus Stüwe (Hgg.).
Die politischen Systeme
in Nord- und Lateinamerika
. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 342–362.
15
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
15
nenflüchtlingen steht Kolumbien zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor einer hu-
manitären Katastrophe, die in der westlichen Hemisphäre ohne Beispiel ist.13
Doch während sich militärische Konfrontationen eher auf die ländlichen Zo-
nen beschränken, leiden heutzutage vor allem die Städte unter dem rasanten
Anstieg "gewöhnlicher" Kriminalität.14 Dort, wo die große Mehrheit der Bevöl-
kerung lebt, (Urbanisierungsgrad 2007: 74%15) haben Anschläge, Entführungen
oder Schutzgelderpressungen oftmals keinen politischen Hintergrund mehr. Ko-
lumbien belegt mit durchschnittlich 20.000 Morden und 2000 Entführungen pro
Jahr einen der vordersten Ränge in der weltweiten Verbrechensstatistik.16 Ein
trauriger Rekord, der vielfach zur Vermutung geführt hat, dass die Kolumbianer
aufgrund des jahrzehntelangen Ausnahmezustands eine Art "Gewalt-Mentalität"
entwickelt hätten.17
Diese These stützt sich auf Studien, deren Ausgangspunkt oftmals die Zeit der
Violencia
ist.
18
Denn bereits damals waren angestaute Konflikte in den ländli-
13
Über Ausmaß und Folgen der Flüchtlingskatastrophe informiert der jährlich aktualisierte
UNHCR-Bericht. Dazu im Internet: www.unhcr.org.
14
Die gegenwärtige Ausweitung der Gewalt beschreibt
Waldmann, Peter.
1999. Verall-
täglichung der Gewalt – das Beispiel Kolumbien. In: Sevilla, Rafael/Christian von Halde-
wang/Eduardo Pizarro (Hgg.).
Kolumbien – Land der Einsamkeit?
Bad Honnef: Horlemann,
S. 259–281.
15
Vgl.
CEPAL.
2007.
Indicadores de distribución territorial. Grado de urbanización Co-
lombia
. In: http://celade.cepal.cl/cgibin/WebUtilities.exe/reporte.pdf?LFN=RpBases\Tempo\
~wrp114.pdf (26. Januar 2008).
16
Zu den Mord- und Entführungsraten von 1996 bis 2002 siehe
DNP.
2007.
Estadísticas
históricas de Colombia.
In: http://www.dnp.gov.co/archivos/documentos/DEE_Estadis-
ticas_Historicas/Cap8_Violencia.zip (26. Januar 2008). Seit dem Amtsantritt von Álvaro Uri-
be Vélez ist dieser Negativtrend allerdings rückläufig. Angaben des Verteidigungsministe-
riums und der Polizei zufolge betrug die Zahl der Entführten im Jahre 2006 weniger als 300,
die der Ermordeten "nur" ca. 17.000. Vgl. hierzu
Nasi, Carlo.
2007.
Percepciones ciudada-
nas y negociaciones de paz
. In: http://www.indepaz.org.co/index2.php?option=com_con-
tentido_pdf =1&id=438 (27. Januar 2008).
17
Die These von der "Gewaltkultur" formulieren u. a.
Mansilla, Hugo.
1993.
Ursachen
und Folgen politischer Gewalt in Kolumbien und Peru
. Frankfurt a. M.: Vervuert u.
Peña-
randa, Ricardo.
2001. The War on Paper: A Balance Sheet on Works Published in the 1990s.
In: Bergquist, Charles/Ricardo Peñaranda/Gonzalo Sánchez (Hgg.).
Violence in Colombia,
1990–2000
. Wilmington: Scholarly Resources, S. 179–194. Peñaranda vertritt sogar die Auf-
fassung, dass die Erforschung der Gewaltkultur das wichtigste Aufgabenfeld zukünftiger Stu-
dien sein müsse.
18
Ein Beispiel hierfür ist der vielgelesene und polemische Essay von
Ospina, William.
1997.
¿Dónde está la franja amarilla?
Bogotá: Norma. Darin wird die kolumbianische Ge-
schichte als eine "Geschichte der Gewalt" dargestellt.
16
16
Kapitel I
chen Regionen zu einer verheerenden Auseinandersetzung eskaliert, die schließ-
lich weite Teile des Landes erfasste und bis etwa 1963 andauerte. Etwa 200.000
Menschen verloren während dieser Jahre des Bürgerkriegs ihr Leben.19 Obwohl
sich der historische Konflikt zunächst entlang der Parteilinie (Liberale gegen
Konservative) entwickelt hatte, steht die
Violencia
heute in erster Linie für spon-
tane Gewaltausbrüche und blinden Hass. Ihr ursprünglich politischer Charakter
geriet mit zunehmender zeitlicher Distanz in den Hintergrund. Gegenwärtig ist
zu beobachten, wie die Zuspitzung des bewaffneten Kampfes vielen Zeitzeugen
und Nachgeborenen der
Violencia
einen historischen Vergleichgeradezu auf-
drängt. Obgleich ihre Erinnerungen recht heterogen und teilweise widersprüch-
lich sind, existiert zwischen den Generationen ein Konsens hinsichtlich der An-
nahme einer sich zyklisch wiederholenden Vergangenheit.20
Angesichts der geschilderten Umstände wundert es daher nicht, dass viele
Kolumbianer die Hoffnung auf eine friedliche Beilegung der Krise längst verlo-
ren haben. Die Rede von einer spezifisch kolumbianischen "Gewalttradition",
welche die Gesellschaft von innen her zersetzte und gegen die es kein Mittel ge-
be, ist hingegen zum Gemeinplatz geworden.21 Ein Blick in die Medien dürfte
diese pessimistische Analyse bestätigen: tägliche Kriegshandlungen, kaum nen-
nenswerte Erfolge im Kampf gegen die Drogenmafia22, Repression gegen Ge-
werkschafter,
indígenas
und "Linke" sowie ein politisches System, das lediglich
den formalen Merkmalen eines demokratischen Rechtsstaates genügt, die Mehr-
heit der Bürger jedoch vom politischen Prozess ausschließt. Das ist die Lage im
Kolumbien des Jahres 2008; ebenso hätte diese Einschätzung jedoch auch für
das Jahr 1948 gelten können (mit Ausnahme der Drogenökonomie). Hat sich
also nichts geändert? Leiden
die
Kolumbianer wirklich an einer endemischen
Gewaltkultur, die geradezu pathologische Züge trägt und einen dauerhaften
Frieden verhindert?
19
Zur Schwierigkeit, die
Violencia
als "Bürgerkrieg" im klassischen Sinne zu definieren,
eine klare Periodisierung vorzunehmen sowie die beteiligten Akteure zu benennen siehe
Ramírez, William.
2002. ¿Guerra civil en Colombia? In:
Análisis Político
, Nr. 46 (Mai–
August, Bogotá), S. 153–157.
20
Diese These entnehme ich
Sánchez.
2006, S. 28 ff.
21
Eine besonders pessimistische Variante liefert
Gómez Buendía, Hernando.
2000. La
hipótesis del almendrón. In: ders. (Hg.).
¿Para dónde va Colombia?
Bogotá: Tercer Mundo,
S. 3–42.
22
Einer Studie des UNODC (
United Nations Office on Drugs and Crime
) zufolge sind
trotz der massiven Anti-Drogen-Kampagne unter Präsident Uribe die Koka-Anbauflächen
wieder gewachsen. Vgl.
Neue Zürcher Zeitung
vom 22. November 2006.
17
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
17
Ich meine, dass dieses negative Bild nur ein kleiner Ausschnitt der Wirklich-
keit ist. Die kolumbianische Konfliktgeschichte ist in ihrer Gesamtheit derart
komplex und widersprüchlich, dass eine rein kulturalistische Betrachtung dem
Land und seiner Bevölkerung nicht gerecht wird. Aus diesem Grund weise ich
auch jene systemtheoretisch fundierten Analysen zurück, die Kolumbien als
"Narco-Demokratie" charakterisieren und alleine das Versagen staatlicher Insti-
tutionen zum Maßstab nehmen. Das Ausblenden kultureller Faktoren ist zur Be-
schreibung der kolumbianischen Realität genauso ungeeignet wie ihre Überbe-
wertung, die stets die Gefahr der Stereotypisierung in sich trägt.
Ich richte meinen Blick stattdessen auf jene Bereiche, die für gewöhnlich
durch das Raster einer rein systemisch oder kulturalistisch orientierten Analyse
fallen. Es gilt zu klären, wie die kolumbianische Gesellschaft in Vergangenheit
und Gegenwart mit ihrer Geschichte umgegangen ist. Welche Rolle spielt die
Geschichte in einem Land, in dem politische Herrschaft auf einem paternalisti-
schen Diskurs gründet, der wesentlich durch historische Legitimationsfiguren
gestützt wird?
In diese Richtung geht auch der provokative Kommentar des kolumbiani-
schen Historikers Gonzalo Sánchez, den ich als Motto der Einleitung voraus ge-
stellt habe. Seiner Meinung nach liegt es seit jeher im Interesse der politischen
Eliten, die
Violencia
zu vergessen. Jahrzehntelange Repression, die gezielte
Vernichtung historischer Dokumente und das Schweigen der Schulbücher hätten
demnach eine kollektive Amnesie bewirkt.23 Sánchez spielt auf Versuche an, die
gemeinsame Erfahrung des Bürgerkrieges im Interesse der Herrschaft aus dem
öffentlichen Diskurs zu verbannen. Bis zu welchem Grad die verschiedenen Ak-
teure dabei erfolgreich waren, ist meines Wissens noch nie gründlich erforscht
worden. Mir drängt sich in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob und inwie-
weit die Erinnerung an diese Zeit tatsächlich "ausgelöscht" ist. Gelang es den
Kolumbianern vielleicht trotz aller Widerstände, die
Violencia
auf irgendeine
Art und Weise zu erinnern? Gibt es möglicherweise eine Verbindung zwischen
der historischen
Violencia
und der Gewalt der Gegenwart?
Schließlich interessiert mich, welche Funktion Geschichtsbildern im Prozess
der Demokratisierung zukommt. Neben den üblicherweise von Transformations-
forschern24 festgestellten Defiziten, die in Kolumbien besonders dort erkennbar
23 Vgl.
Sánchez.
2006, S. 30. u. 83 ff.
24
Grundlegende Gedanken zu einer spezifisch lateinamerikanischen Transformationsfor-
schung finden sich bei
Linz, Juan/Alfred Stepan.
1997. Toward Consolidated Democracies.
18
18
Kapitel I
sind, wo demokratische Praktiken oder eine demokratische Kultur in die Gesell-
schaft hineinreichen sollen, richte ich mein Augenmerk daher auf die historische
Dimension des "unvollendeten" Transformationsprozesses, wie ihn Heidrun Zi-
necker genannt hat.25 Sie bemerkt, dass in Kolumbien weniger die Gefahr eines
Rückfalls in formal-autoritaristische Herrschaftsformen gegeben ist, sondern
eher eine Art autonomisierter Gewalt, die als "überbindendes Legat" das Fort-
schreiten der Transformation behindert. Das Besondere bestehe darin, dass
"anomisch-violente" Strukturen aus erlerntem und repetitivem, jedoch nicht
mehr aus politisch gebündeltem violentem Handeln "geronnen" seien.
Der nach der "offiziellen" Beendigung der
Violencia
erreichte Integrations-
fortschritt ist spätestens seit Beginn der 80er Jahre in einen Prozess beschleunig-
ter Desintegration umgeschlagen. Gerade die Exklusion großer Bevölkerungstei-
le und der politischen Opposition, die während der
Violencia
und in späteren
Zeiten zu einer Entfesselung der Gewalt beigetragen hat, ist nun wieder zum
Hauptproblem geworden. Aufgrund dieser gefährlichen historischen Kontinuität
müssen Demokratisierungs- und Friedensbemühungen mit einer Aufarbeitung
der gewalttätigen Vergangenheit einhergehen. Exemplarisch zeigt dies die Ar-
beit der staatlichen
Comisión Nacional de Reparación y Reconciliación
(CNRR), die der kolumbianische Präsident im Oktober 2005 eingesetzt hat und
die Vorschläge in Bezug auf die Bestrafung der Täter, die Kompensation der
Opfer, die Reintegration bewaffneter Akteure sowie die Wahrheitsfindung erar-
beiten soll. Im Rahmen des letztgenannten Aufgabenbereichs hat die Kommissi-
on einen Bericht über die historischen Ursachen der politischen Gewalt in Auf-
trag gegeben.26 Obwohl derartige Vorhaben auf die Kritik verschiedener Men-
schenrechtsorganisationen stoßen – ob zu Recht oder zu Unrecht, sei vorerst da-
hin gestellt – zeigen sie dennoch, welch wichtige Rolle die Geschichte im Pro-
zess der demokratischen Transformation spielt.
In: Diamond, Larry (Hg.).
Consolidating the Third Wave Democracies. Themes and Perspec-
tives
. Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press, S. 14–33.
25
Vgl. hierzu
Zinecker.
2001, S. 149–172.
26
Der vom Kommissions-Präsidenten Eduardo Pizarro in Auftrag gegebene Bericht er-
scheint voraussichtlich im Jahre 2009. Als Koordinator fungiert der bekannte
Violencia
-
Forscher Gonzalo Sánchez. Nähere Informationen finden sich auf der Homepage der CNRR:
www.cnrr.org.co.
19
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
19
2.
T
HEORETISCHE
G
RUNDLAGEN
Um darzustellen, wie Kolumbien mit seiner Vergangenheit umgegangen ist und
welche Akteure maßgeblich an der Herausbildung von Geschichtsbewusstsein
beteiligt waren, sind einige theoretische Vorüberlegungen notwendig. Zur Ein-
grenzung des Themas habe ich mich entschieden, Erkenntnisse der Politologie
mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen zu kombinieren. Weiterhin ist ein Theo-
riemodell erforderlich, mit dem sich die Funktion der Geschichte beim Über-
gang von autoritären zu demokratischen Systemen erklären lässt.
Ich hoffe, dass es mir damit gelingt, die Idee einer quasi naturwüchsigen, in
der Mentalität des Volkes verwurzelten "Gewaltkultur" zu überwinden und den
Blick für tiefer liegende Ursachen zu schärfen. Denn die Vorstellung einer en-
demischen Gewaltkultur beruht nicht zuletzt auf der Annahme, dass sich die ei-
gendynamische und unkontrollierte Ausbreitung der Gewalt allein aus kulturel-
len Faktoren herleitet. Wie Michael Riekenberg unter Rückgriff auf den Anthro-
pologen Clifford Geertz bemerkt, ist es jedoch fragwürdig, einen nicht eindeuti-
gen Kulturbegriff zur kausalen Erklärung gesellschaftlicher Phänomene heran-
zuziehen.27 Er stellt weiterhin fest, dass das Konzept der Gewaltkultur letztlich
nur zu einer neuen Unübersichtlichkeit beitrage. Kulturwissenschaftliche Stu-
dien würden in letzter Zeit zwar immer stärker die Komplexität von Kulturen
betonen und eine differenzierte Beobachtung einfordern. In der Praxis führe die-
ses Postulat jedoch häufig zu unbrauchbaren, weil diffusen Ergebnissen. Eine
beliebige Ausweitung und Generalisierung des Kulturbegriffs berge zudem die
Gefahr, ganze Kulturen nach vorgefertigtem Maßstab zu beurteilen – und im
Falle der Gewaltkultur – letztlich in Misskredit zu bringen.28
Neben einem übertriebenen Kulturalismus lehne ich weiterhin solche Theo-
rien ab, nach der die kolumbianische Gesellschaft über lange Zeit Erfahrungen
der Rebellion und der gewaltsamen Selbsthilfe im kollektiven Gedächtnis ge-
speichert, aber nicht reflektiert habe.29 Die im Zusammenhang mit periodischen
Gewaltschüben oftmals vorgebrachte These von der "Sonderentwicklung" des
27 Vgl.
Riekenberg.
2003, S. 12.
28
Riekenberg zufolge fürchten gerade Ethnologen die missbräuchliche Verwendung des
Begriffs "Gewaltkultur". Vgl. ebd.
29
Diese These findet sich z. B. bei
Waldmann.
1999. Seine Auffassung wird u. a. kriti-
siert von
Uribe, María Victoria.
2001. El conflicto armado en Colombia. Una guerra sin
reglas de juego. In: Bodemer, Klaus/Sabine Kurtenbach
/
Klaus Meschkat (Hgg.).
Violencia y
regulación de conflictos en América Latina
. Caracas: Nueva Sociedad, S. 161 ff.
20
20
Kapitel I
Landes möchte ich genauso relativieren, wie die Annahme einer "kollektiven
Amnesie" der Kolumbianer.30 Obwohl die Geschichte Kolumbiens zumeist als
eine Geschichte der Kriege geschrieben worden ist, dürfen darüber nicht die "zi-
vilen Räume" vergessen werden.31 Denn eine tiefer gehende Betrachtung derje-
nigen Werte und Prinzipien, die aus dem Krieg den bestimmenden Faktor bei
der Konstruktion einer spezifisch kolumbianischen Identität gemacht haben,
verweist auch auf Widerstände und Gegenbewegungen.32 Von Seiten der demo-
kratischen Zivilgesellschaft, aber auch innerhalb der Institutionen, hat es zu je-
der Zeit Akteure gegeben, die eine Überwindung der Gewalt anstrebten. Es ist
daher unzulässig, den kolumbianischen Binnenkonflikt als "rationales System"
zu erklären, das eine nicht mehr zu bremsende Eigendynamik entwickelt habe.33
Diese These geht davon aus, dass alle am Krieg Beteiligten an einer Verlänge-
rung und Ausweitung des Krieges im Sinne einer politischen Ökonomie interes-
siert seien. Eine Veränderung von innen wäre demnach nicht mehr möglich. Das
Hauptproblem bei solchen Theorien ist, dass die Kategorie des Systems immer
eine gewisse Rationalität bzw. rationale Kontrollierbarkeit durch gesellschaftli-
che Gruppen voraussetzt.34 In Kolumbien zeigt sich hingegen eher eine "syste-
matische Irrationalität", deren Dynamik nicht kalkulierbar ist.
Dass eine Eindämmung der Gewalt nur durch die konsequente Aufarbeitung
der Vergangenheit erreicht werden kann, haben kolumbianische Forscher und
Politiker bereits in den 50er Jahren erkannt. Trotzdem sind sämtliche Versuche
gescheitert, mit der Gründung von Wahrheitskommissionen, unabhängigen
Gremien und internationaler Hilfe zwischen den Krieg führenden Parteien zu
vermitteln. Die Last der Vergangenheit hat eine nationale Aussöhnung bislang
verhindert, da die verschiedenen Akteure sich beharrlich weigern, von einer be-
stimmten Deutung der Geschichte abzuweichen. Stattdessen versuchen sie, die
Stimmen aus der Vergangenheit zum Schweigen zu bringen oder für die eigenen
Zwecke zu instrumentalisieren. Je nach Bedarf kann und konnte die
Violencia
30
Die Annahme einer kollektiven Amnesie findet sich z. B. bei
Cepeda Castro,
Iván/Claudia Girón Ortiz.
2005a.
La galería de la memoria
. In: http://www.desapare-
cidos.org/colombia/galeria/comple.html (26. Januar 2008).
31
Vgl.
Sánchez.
2006, S. 29 f.
32
Vgl. ebd., S. 18.
33
Diese These formuliert u. a.
Richani, Nazhi.
1997. The Political Economy of Violence.
The War-System in Colombia. In:
Journal of Interamerican Studies and World Affairs
, Nr. 39
(Februar, Miami), S. 37–81.
34
Vgl.
Sánchez.
2006, S. 80.
21
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
21
als Folge exogener oder endogener Prozesse interpretiert werden.35 Während
eine Seite den internationalen Kommunismus als Alleinschuldigen ausmachte,
handelte es sich für die andere Seite um ein hausgemachtes Problem, das seine
Wurzeln in sozioökonomischen Disparitäten hatte. Legitimierende Mythen wur-
den sowohl vom Staat als auch von seinen bewaffneten Widersachern in Umlauf
gebracht. Einige von ihnen haben bis heute ihre Geltungskraft behalten. Kolum-
biens aktueller Binnenkonflikt ist in diesem Sinne als Fortsetzung der histori-
schen
Violencia
zu verstehen.
Der Streit um die "richtige" Interpretation der
Violencia
wurde und wird so-
wohl in der politischen Arena als auch auf dem Feld der Wissenschaften ausge-
fochten. Angesichts der nach wie vor unversöhnlichen Positionen scheint mir
daher eine Synthese erforderlich, in der sowohl die historischen Vor- und Rah-
menbedingungen als auch die spezifischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte
Berücksichtigung finden. Obwohl ich in dieser Arbeit auch auf die historiografi-
sche Kontroverse um die Deutung der
Violencia
eingehe, liegt mein Schwer-
punkt auf der institutionellen und gesellschaftlichen Verarbeitung der Ereignisse
nach der "offiziellen" Beendigung des Bürgerkrieges (ab 1957/58). Selbst in Ko-
lumbien gibt es bislang nur wenige Autoren, die sich mit diesem schwer ein-
grenzbaren Feldbeschäftigt haben. Neben den wichtigen Studien von Elsa Blair
Trujillo, Daniel Pécaut und María Victoria Uribe, die zumindest im Ansatz auf
die kulturellen Folgen der
Violencia
verweisen und auf die ich mich stütze, lie-
gen bislang kaum tiefergehende Abhandlungen über die institutionelle und ge-
sellschaftliche Verarbeitung des Bürgerkrieges vor.36 Lediglich Gonzalo
Sánchez hat unlängst den Versuch unternommen, den Platz der
Violencia
im
historischen Gedächtnis zu verorten.
In einem Aufsatz über die Rolle der Intellektuellen in Kolumbien hat er dar-
auf hingewiesen, dass die
Violencia
neben der physischen Vernichtung auch ei-
ne kulturelle Auslöschung bedeutet habe.37 Aufgrund des politischen Terrors
35
Zu den politisch motivierten Deutungen der
Violencia
siehe
Bushnell, David.
2003.
Co-
lombia. Una nación a pesar de sí misma
. Bogotá: Planeta, S. 276 ff.
36
Siehe
Blair Trujillo, Elsa.
2005.
Muertes violentas. La teatralización del exceso
. Me-
dellín: Univ. de Antioquia;
Pécaut, Daniel.
2003.
Violencia y política en Colombia. Elemen-
tos de reflexión
. Medellín: Hombre Nuevo;
Uribe, María Victoria.
1991.
Matar, rematar y
contramatar
. Bogotá: CINEP u. dies. 2004.
Antropología de la inhumanidad
. Bogotá: Norma.
37
Bei den folgenden Ausführungen stütze ich mich auf
Sánchez, Gonzalo.
2000a.
El
compromiso social y político de los intelectuales
. In: http://www.mamacoca.org/san-
chez_intelectuales.htm (26. Januar 2008).
22
22
Kapitel I
verließen zahlreiche Intellektuelle das Land. Akademien, universitäre Einrich-
tungen, Zeitungen und Museen wurden geschlossen. Ein "kulturelles Schwei-
gen", das zwei Jahrzehnte (ca. 1945–1965) andauerte, sei die Folge gewesen. In
dieser Zeit wurden Gewalt- und Repressionserfahrungen mündlich weitergege-
ben oder literarisch verarbeitet. Erst nach Beendigung der Gewalt begann ein
nachholender Modernisierungsprozess, der eine Ausweitung kultureller Aktivi-
täten begünstigte. Dabei verdienen vor allem drei Felder Beachtung: die Erwei-
terung kultureller Institutionen (Universitäten, Bibliotheken, Museen, Verlage,
Zeitschriften), die Erweiterung des "Marktes" an symbolischen Gütern (Bücher,
Presseprodukte, Galerien, Programmkinos, Schallplatten etc.) und der gestiege-
ne Bedarf an spezialisierten Akademikern.
In diesen Bereichen, die ich im Folgenden betrachte, manifestieren sich
"Erinnerungskulturen".38 Auch außerhalb der Institutionen wurde die
Violencia
zum Gegenstand heftiger Debatten. Es haben sich sub-, semi- und kontrainstitu-
tionelle Strukturen herausgebildet, die das Vergessen "unliebsamer" Wissensbe-
stände bis heute verhindert haben. Sánchez’ kürzlich erschienenes Buch mit dem
Titel
Guerra, memoria e historia
, in dem er sich skizzenhaft mit dem histori-
schen Gedächtnis der Kolumbianer beschäftigt, setzt genau hier an.39 Es ist der
erste Versuch, die Erinnerungsarbeit der kolumbianischen Gesellschaft inner-
halb ihrer "zivilen Räume" zu problematisieren. Obgleich ich nicht alle Ein-
schätzungen des Autors teile, dient mir die Schrift als wichtiger Leitfaden.
Anzumerken ist, dass es sich eher um einen Essay, als um eine auf Quellen
gestützte, wissenschaftliche Darstellung handelt. Auf weniger als 140 Seiten
stellt Sánchez insbesondere die Dringlichkeit gesamtgesellschaftlicher Erinne-
rungsanstrengungen fest. Sie seien ein notwendiger Bestandteil des demokrati-
schen Transformationsprozesses.40 Anschließend wirft er wichtige Fragen auf,
die sich auf Art und Sinn der kollektiven Erinnerung beziehen. Da er bewusst
Anregungen für zukünftige Forschungen geben will, verzichtet er auf spezifi-
sche Methoden oder Theorien. Gestützt auf diese Pionierarbeit sowie unter Be-
rücksichtigung der bereits erwähnten Aspekte, ergibt sich für mich folgender
Fragenkatalog:
38
Im Weiteren werde ich den Begriff genauer bestimmen. Vorläufig weise ich darauf hin,
dass ich "historisches Gedächtnis" als übergeordnete Kategorie betrachte, "Erinnerungskultu-
ren" hingegen als Teilbereiche bzw. irgendwie organisierte Erinnerungspraktiken sozialer
Gruppen.
39
Siehe
Sánchez.
2006.
40
Vgl. ebd., S. 115 f.
23
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
23
Wie und was "erinnern" verschiedene soziale Akteure, und welchen "Sinn"
schreiben sie der Vergangenheit zu? Wie bringen sie die Erfahrung von Gewalt
und Repression mit der Wahrnehmung der Gegenwart und den Erwartungen für
die Zukunft in Verbindung?
Werden diese Erinnerungen in Institutionen und Normen inkorporiert? Und
wenn ja, wie? Welchen Einfluss haben soziale und politische Akteure bei der
Formierung "kollektiver Erinnerung" bzw. bei dem Versuch, bestimmte Normen
und Institutionen mitzugestalten?
Auf welche Weise wird die Erinnerung in symbolische Kategorien (räum-
lich/zeitlich) transformiert, was sowohl die öffentlich-konventionellen als auch
die informell "anerkannten" betrifft? (Literatur, Musik, Archive, Theater, Film,
Kunstobjekte und andere Formen).
Welche gesellschaftlichen Funktionen haben Amnestien und "organisiertes
Vergessen"? Welche Medien und Kanäle sind als Träger der individuellen oder
kollektiven Erinnerung besonders geeignet? Wie können Erinnerungen auf indi-
vidueller und kollektiver Ebene analytisch getrennt werden?
Diese Fragen lassen sich nur selektiv und mit Hilfe eines entsprechenden Ord-
nungsrasters beantworten. Eine Trennung zwischen der institutionellen und der
gesellschaftlichen Erinnerungsebene soll zunächst den übergeordneten Rahmen
bilden.
2.1 Die institutionelle Ebene: "Geschichtspolitik"
Seit Jahrzehnten denken Historiker systematisch über die Rolle ihrer Disziplin
außerhalb des akademischen Raumes nach. Im Zentrum des Interesses steht da-
bei die Erforschung des Geschichtsbewusstseins, dem die Forscher eine wichtige
Rolle bei der Lösung aktueller Probleme beimessen. Dahinter steht die Annah-
me, dass historische Inhalte über den Schulunterricht oder die Massenmedien an
die Menschen weitergegeben werden, die damit über eine Quelle zur Konstruk-
tion kollektiver Identität verfügen. Von mancher Seite heißt es sogar, dass ohne
24
24
Kapitel I
Geschichtsbewusstsein überhaupt keine Identitätsbildung möglich sei.41 Prob-
lematisch ist jedoch die empirische Bestimmung dieses Bewusstseins. Denn sie
erfordert quantitative Untersuchungen, die nur mit hohem Aufwand an Kosten
und Personal zu bewältigen sind.42
Zur Lösung dieses Problems hat der Historiker Jörn Rüsen Anfang der 90er
Jahre die Kategorie der "Geschichtskultur" eingeführt, die auf die praktischen
Formen und Äußerungen des Geschichtsbewusstseins abzielt.43 Die neue Beto-
nung der "Kultur" ist vor dem Hintergrund einer seit Mitte der 70er Jahre ge-
führten Diskussion um die Erneuerung des Kulturbegriffs zu verstehen, die
maßgeblich unter dem Einfluss der
Cultural Studies
und dem Werk des Anthro-
pologen Clifford Geertz steht. Demnach sei es für die Erforschung kultureller
Phänomene fruchtbarer, auf eine Unterscheidung zwischen elitärer "Hochkultur"
und einer tendenziell minderwertigeren "Populärkultur" zu verzichten. Des Wei-
teren sei "Kultur" als Autokonstrukt des menschlichen Bewusstseins zu betrach-
ten, das fortwährenden Wandlungen unterworfen ist. Ein statischer Kulturbegriff
verstelle also den Blick auf das Wesentliche, nämlich den Symbolcharakter kul-
tureller Systeme.44
Geschichtskultur ist Rüsen zufolge das Bindeglied zwischen Geschichtswis-
senschaft und historischem Gedächtnis, was sie empirisch fassbar macht. Bis-
41
So z. B. bei
Rüsen, Jörn/Klaus Große-Kracht/Bernhard Hanenkamp/Hans-Günter
Schmidt.
1994. Geschichtsbewusstsein von Schülern und Studenten im internationalen und
interkulturellen Vergleich. In: Borries, Bodo von/Jörn Rüsen (Hgg.).
Geschichtsbewusstsein
im internationalen und interkulturellen Vergleich. Zwei empirische Pilotstudien
. Pfaffenwei-
ler: Centaurus, S. 79–206.Den Zusammenhang von Geschichtsbewusstsein und Identität in
Kolumbien beleuchtet
König, Hans-Joachim.
1994a. Colombia: país político – país nacional.
El problema de la conciencia histórica. In: Kohut, Karl (Hg.).
Literatura colombiana hoy
.
Frankfurt a. M.: Vervuert, S. 47–66.
42
Bei Untersuchung dieser Art rechtfertigt der Aufwand mitunter kaum die Resultate. Ei-
ne teils quantitative, teils qualitative Studie zum kollektiven Gedächtnis der Deutschen kam
so unlängst zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass der Zweite Weltkrieg für die meis-
ten Deutschen das prägende Erlebnis im 20. Jahrhundert gewesen sei. Die unterschiedlichen
Erinnerungen an die Ereignisse der Zeit von 1939 bis 1945 lassen sich jedoch nur mit Hilfe
qualitativer Methoden offenlegen. Siehe hierzu
Heinrich, Horst-Alfred.
2002.
Kollektive
Erinnerung der Deutschen
. Weinheim: Juventa.
43
Im Sinne einer Einführung siehe
Rüsen, Jörn.
1992. Geschichtskultur als Forschungs-
problem. In: Fröhlich, Klaus/Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen (Hgg.).
Geschichtskultur
.
Pfaffenweiler: Centaurus, S. 39–50.
44
Vgl.
Geertz, Clifford.
1987.
Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller
Systeme
. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 9 ff. "Symbole" sind Geertz folgend "[...] alle Ge-
genstände, Handlungen, Ereignisse, Eigenschaften oder Beziehungen, die Ausdrucksmittel
einer Vorstellung sind, wobei diese Vorstellung die 'Bedeutung' des Symbols ist." Ebd., S. 49.
25
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
25
lang voneinander getrennt betrachtete Bereiche wie wissenschaftlichen For-
schung, Kunst, Elemente und Faktoren politischer Machtkämpfe, massenmedia-
le Öffentlichkeit, schulische und außerschulische Erziehung oder Freizeitaktivi-
täten können somit als Einheit erforscht werden:
Geschichtskultur wird jetzt als Praxis, als Faktor von Erfahrung, Deutung und Orientierung,
von Weltaneignung durch Erfahrungsdeutung, von Kommunikation und Selbstverständigung
und von Handlungsmotivation begriffen. Sie lässt sich als Gesamtbereich von Erinnerungsar-
beit im Leben einer Gesellschaft definieren oder – komplexer formuliert – als Inbegriff der
Deutungen von Zeit durch historische Erinnerung, die für eine Gesellschaft notwendig ist, um
ihre Lebensformen und -vollzüge im aktuellen Prozess des zeitlichen Wandels sinnhaft zu
organisieren, sich selbst im Verhältnis zu anderen zu verstehen und so Handeln als absichts-
volle Veränderung von Mensch und Welt zu ermöglichen.45
Dabei unterscheidet Rüsen eine ästhetische, eine politische und eine kognitive
Dimension.46 Während er die Geschichtsschreibung der ästhetischen Dimension
zuordnet, ist unter der politischen Dimension die Inanspruchnahme der Ge-
schichte durch die Politik zu verstehen. Dies geschehe fortlaufend zur Legiti-
mierung der Herrschaft. Die kognitive Dimension schließlich ist ebenfalls auf
die Geschichtswissenschaften fixiert, da diese nach Meinung Rüsens in einer
modernen Gesellschaft die Wahrnehmungs-, Deutungs-, und Orientierungsleis-
tung des Geschichtsbewusstseins steuere.
Das Konzept der Geschichtskultur hat sich als sehr einflussreich erwiesen und
forderte in der Folge zahlreiche Kritiker heraus. Ich möchte an dieser Stelle je-
doch nur auf die Thesen des Historikers Edgar Wolfrum eingehen, weil sie mir
im Hinblick auf meine Arbeit besonders nützlich erscheinen. Dieser konstatiert
zu Recht eine Schieflage im Modell Rüsens, der den gesellschaftlichen Einfluss
der Geschichtsschreibung überbewertet habe.47 Wolfrum zufolge sind Verände-
rungen im Geschichtsbewusstsein der Menschen nicht so sehr auf die neuesten
historischen Forschungen zurückzuführen, sondern vielmehr auf neue Erfahrun-
gen des Alltags, neue Problemkonstellationen sowie das Nachwachsen neuer
Generationen. Im Mittelpunkt müsse daher die aktiv betriebene Politik mit der
Geschichte stehen. Insgesamt betrachtet seien es weniger professionelle Histori-
45
Rüsen.
1992, S. 40.
46
Vgl. ders. 1995. Geschichtskultur. In:
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
, Nr. 46
(Seelze), S. 515 f.
47
Vgl.
Wolfrum, Edgar.
1999.
Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland
.
Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung
. Darmstadt: wissenschaftliche Buchgesell-
schaft, S. 22.
26
26
Kapitel I
ker, als vielmehr politische und gesellschaftliche Eliten, von denen nachhaltige
und breitenwirksame Impulse auf die Geschichtsbilder in der Bevölkerung aus-
gehen.48
Gerade in Lateinamerika ist zu beobachten, welch großen Einfluss die tradi-
tionellen Eliten bei der Konstruktion kollektiver Identität ausgeübt haben und
noch immer ausüben. Im Wechselspiel mit Publizistik, Wissenschaft und öffent-
licher Meinung bedienen sie sich unterschiedlicher Erinnerungsstrategien, In-
szenierungen, (des-)integrierender Rituale und polarisierender Diskurse. Sie be-
treiben somit Geschichtspolitik und prägen die Geschichtskultur. Obwohl sich
Wolfrum vorrangig mit der Entstehung des Geschichtsbewusstseins in Deutsch-
land befasst hat, erkennt er die Vorreiterrolle der Lateinamerikaforschung auf
diesem Gebiet an. Studien, die sich mit der Rolle der Politik im Prozess der Na-
tionsbildung in Lateinamerika beschäftigt haben, hätten den Beweis erbracht,
dass die Erkenntnisfähigkeit gesteigert werden kann, wenn man die verschiede-
nen Funktionszuweisungen von Geschichte in der Politik analysiert und deren
kulturelle Orientierungsleistung ergründet.49
Geschichtspolitik ist jedoch nicht mit Vergangenheitspolitik zu verwechseln.
Denn letztere bezieht sich vornehmlich auf praktisch-politische Maßnahmen,
wie sie in Kolumbien etwa von der CNRR umgesetzt werden. Ziel und Aufgabe
der Vergangenheitspolitik, die meist im Umgang mit dem institutionellen und
personellen Erbe eines überwundenen Systems eine Rolle spielt, sind demnach
die Bestrafung von Tätern, deren Disqualifikation und die Kompensation der
Opfer.50 Geschichtspolitik ist dagegen weiter gefasst. Sie ist das Feld, auf dem
verschiedene Akteure Geschichte mit ihren spezifischen Interessen befrachten
und politisch zu nutzen versuchen. Geschichtspolitische Akteure sind zum Bei-
spiel Politiker, Journalisten, Intellektuelle und Wissenschaftler, die sich in einem
steten Kampf um die Deutungsmacht befinden. Ihr Ziel ist es, legitimierende,
mobilisierende, politisierende, skandalisierende oder diffamierende Wirkungen
auf die Öffentlichkeit zu erzielen.51 Insgesamt stellt Wolfrum fünf Dimensionen
der Geschichtspolitik fest:
48
Vgl. ebd., S. 20.
49
Vgl. ebd., S. 15.
Wolfrum verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf
Rie-
kenberg, Michael (Hg.).
1990.
Lateinamerika. Geschichtsunterricht, Geschichtslehrbücher,
Geschichtsbewusstsein
. Frankfurt a. M.: Diesterweg.
50
Vgl. ebd., S. 32.
51
Vgl. ebd., S. 26.
27
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
27
Sie ist – erstens – als Handlungs- und Politikfeld zu verstehen, bei dem die
Interessen verschiedener Akteure den Umgang mit der Vergangenheit bestim-
men.52 Deutungseliten ringen in der Öffentlichkeit um Zustimmung für ihre
Interpretation, wobei es zu Wechselwirkungen zwischen Politik, Publizistik,
wissenschaftlicher und öffentlicher Meinung kommt. Geschichtspolitik ist –
zweitens – eine politisch-pädagogische Aufgabe der Herrschenden, die entweder
aufklärerisch-kritisch oder legitimatorisch-regressiv gelöst werden kann. Drit-
tens steht sie in einem Spannungsverhältnis zur Wissenschaft, das aus dem wis-
senschaftlichen Anspruch der Historiker und dem "Wahrheitsanspruch" der Poli-
tiker resultiert. Dabei unterstellt Wolfrum, dass es eine wissenschaftlich-neutrale
Fachöffentlichkeit gibt, die in "objektiver Weise" über die Ergebnisse der For-
schung wacht. Demokratisch bestimmte Machthaber seien hingegen "potenzielle
Rechthaber", die notwendigerweise mit der Vereinfachung und Verkürzung ge-
schichtswissenschaftlicher Aussagen arbeiten. Weiterhin unterscheide sich die
Geschichtspolitik – viertens – von der Vergangenheitspolitik, die lediglich zur
Überwindung eines bestimmten Systems beitragen soll. Im Unterschied dazu
bezieht sich das Konzept der Geschichtspolitik – fünftens – auf sehr lange Zeit-
räume und ist, im Falle Deutschlands, vor dem Hintergrund der NS-Zeit
und
der
DDR-Vergangenheit zu verstehen.
Mit Hilfe dieser Unterteilung hat Wolfrum überzeugend und quellennah ge-
zeigt, wie bestimmte Eliten das Geschichtsbewusstsein der Menschen "von
oben" beeinflussen. Dennoch ist auch sein Modell vielfach kritisiert worden.
Zwei prominente Vorwürfe lauten, dass er die Seite der Rezipienten völlig ver-
nachlässigt habe und außerdem eine wissenschaftlich-objektive Fachöffentlich-
keit annehme, die in dieser Form nicht existiert.53
Beide Vorwürfe sind meiner Meinung nach berechtigt. Ich will daher in dieser
Arbeit auch jene "subalternen" Geschichtsversionen aufnehmen, die für gewöhn-
lich in der "offiziellen" Geschichte untergehen.54 Im Hinblick auf die angenom-
52 Zu den fünf Dimensionen der Geschichtspolitik vgl. ebd., S. 25 ff.
53
Die Vorwürfe finden sich in zusammengefasster Form bei
Klundt, Michael.
2000.
Ge-
schichtspolitik. Die Kontroversen um Goldhagen, die Wehrmachtsausstellung und das
"Schwarzbuch des Kommunismus".
Köln: PapyRossa, S. 13 ff.
54
Der Begriff der "subalternen Klassen" geht auf den italienischen Kommunisten Antonio
Gramsci zurück, der damit die aktuelle Postkolonialismus-Debatte um Jahrzehnte vorwegge-
nommen hat. Er legt Wert darauf, die "Beherrschten" nicht einfach als machtlose Befehlsemp-
fänger, sonder immer auch als handelnde Subjekte zu betrachten. In diesem Zusammenhang
hat er das heute weit verbreitete Konzept der "Zivilgesellschaft" wesentlich mitgeprägt. Siehe
28
28
Kapitel I
mene wissenschaftlich-neutrale Fachöffentlichkeit, welcher bei der Geschichts-
interpretation eine zentrale Rolle zukommt, ist ebenfalls eine Relativierung not-
wendig. Denn auch im Bereich der wissenschaftlichen Forschung existieren ge-
sellschaftliche Herrschaftsstrukturen. Politische und soziale Interessen bestim-
men wesentlich darüber, in welchem Maße materielle Ressourcen an verschie-
dene wissenschaftliche Disziplinen und Forschungsrichtungen weitergeleitet
werden. Sie prägen den allgemeinen "Wissenschaftsdiskurs", der bestimmte
Fragestellungen favorisiert, andere dagegen tabuisiert. Dies gilt, wie Michel
Foucault und Edward Said an mehreren Beispielen gezeigt haben, auch und ge-
rade für den Bereich der Geschichtswissenschaften.55 Eine kritische Auseinan-
dersetzung mit der Entwicklung und der Funktion der kolumbianischen Histo-
riografie ist in diesem Zusammenhang unerlässlich. Ferner gilt es zu fragen,
welche Eliten Einfluss auf staatliche "Kulturpolitik" im weitesten Sinne haben
und wie diese institutionell abgefedert ist. Nur so lässt sich erkennen, ob der ko-
lumbianische Staat in den vergangenen Jahrzehnten eine aktive "Politik des
Vergessens" praktiziert hat.
2.2 Die gesellschaftliche Ebene: "Erinnerungskulturen"
Die kulturwissenschaftliche Theoriebildung auf dem Gebiet der Erinnerungsfor-
schung ist mittlerweile recht fortgeschritten, aber auch sehr heterogen und kaum
überschaubar. Ich habe daher nur solche Ansätze ausgewählt, die sich im Hin-
blick auf die Beantwortung meiner Leitfragen gut operationalisieren lassen. Da
die wissenschaftliche Literatur zum Thema "Erinnerung und Gedächtnis" in den
hierzu
Buckel, Sonja/Andreas Fischer-Lescano.
2007.
Hegemonie gepanzert mit Zwang.
Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis
. Baden-Baden: Nomos.
55
Als eigentlicher Begründer der
Postcolonial Studies
gilt indes Edward Said. In dem
bahnbrechenden Werk
Orientalism
beschreibt er, wie westliche Historiker ein bestimmtes
Bild vom "Orient" konstruieren, um daraus Ansprüche politischer Herrschaft abzuleiten
(
Said, Edward.
1979.
Orientalism
. New York: Random House). Die theoretische Grundlage
dieses Werks bildet die Diskurstheorie von Michel Foucault. Unter Verweis auf die strukturie-
rende, präfigurierende, auf Wissen basierende Verknüpfung mit Macht beschreibt der franzö-
sische Philosoph den Diskurs als eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formations-
system zugehören. (Vgl.
Foucault, Michel.
1973.
Die Archäologie des Wissens
. Frankfurt a.
M.: Suhrkamp, S. 48 ff.). Diskursive Formationen sind dabei jene Regeln, die festlegen, über
welche Gegenstände Aussagen gemacht werden, wer unter welchen Bedingungen und auf
welche Weise (fragend oder betrachtend, mündlich oder schriftlich, theoretisch, statisch usw.)
reden darf, welche Begriffe und Strategien verwendet werden.
29
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
29
letzten 20 Jahren gewaltig angeschwollen ist, kann ich an dieser Stelle keinen
Gesamtüberblick geben. Ich möchte stattdessen auf das einführende Werk von
Astrid Erll verweisen, in dem sie die wichtigsten Autoren und Strömungen vor-
stellt.56 Das Buch enthält darüber hinaus viele Anregungen und Beispiele, die
den interdisziplinären Charakter der Erinnerungsforschung beschreiben und zu-
künftigen Projekten den Weg ebnen. Die Rede vom gegenwärtigen "Erinne-
rungsmarathon", wie ihn Aleida Assmann in Deutschland beobachtet hat, ist im
Hinblick auf die Vielzahl der Publikation sowie die mediale Bedeutung des
Themas sicher keine Übertreibung.57 Vor allem in Frankreich und Deutschland
hat die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit Erinnerung und Gedächtnis
zu interessanten Ergebnissen und fruchtbaren Methoden geführt. Wie Hans Gün-
ther Hockerts zu Recht bemerkt, ist mittlerweile jedoch eine gewisse Redundanz
erkennbar.58
Der zentrale Begriff des "kollektiven Gedächtnisses" (
mémoire collective
)
geht im Wesentlichen auf den französischen Soziologen Maurice Halbwachs
zurück, der ein Schüler Henri Bergsons und Emile Durkheims war.59 Bereits in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat er festgestellt, dass jede individuelle
Erinnerung die Folge sozialer Kontakte sei. Soziale Gruppen und die von allen
Mitgliedern des Kollektivs geteilten Überzeugungen bilden in diesem Sinne den
Bezugsrahmen, mit deren Hilfe der Einzelne in der Lage ist, seine "persönliche"
Erinnerung zu rekonstruieren. Eine gewissermaßen "autistische", das heißt ohne
Bezug zum sozialen Rahmen entworfene Erinnerung, ist demzufolge unmöglich.
Halbwachs’ Grundaussage ist, dass es ohne soziale Prägung überhaupt keine
Erinnerung gebe. Das Individuum sei immer auf gesellschaftliche Instanzen der
Sozialisation angewiesen, die ihm ein Bezugssystem für persönliche Erfahrun-
gen vermitteln. Da das Basismedium menschlicher Gruppenbildung die Sprache
ist, hängt die subjektive Konstruktion von Wirklichkeit immer auch mit deren
sprachlicher Ausformung zusammen. Mittels der Sprache könne das Individuum
56
Siehe
Erll, Astrid.
2005.
Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen
. Stuttgart:
Metzler.
57
Vgl.
Assmann, Aleida/Ute Frevert.
1999.
Geschichtsvergessenheit – Geschichtsver-
sessenheit
.
Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945
.Stuttgart: Deutsche Ver-
lags-Anstalt, S. 10.
58
Vgl.
Hockerts, Hans Günther.
2001. Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung,
Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft. In:
Aus Politik und Zeitgeschichte
, Nr. 28 (Juli,
Bonn), S. 17.
59
Im Folgenden stütze ich mich auf
Halbwachs, Maurice.
1967.
Das kollektive Gedäch-
tnis
. Stuttgart: Enke, S. 34–77.
30
30
Kapitel I
zwischen den verschiedenen kollektiven Gedächtnissen jener Gruppen, denen
die jeweilige Person angehöre, als Schaltstelle fungieren. Eine einzelne Person
könne dadurch zum innovativen Austausch von Gedanken und Erfahrungen
zwischen Gruppen beitragen.
Von diesen Erkenntnissen ausgehend unterscheidet Halbwachs zwischen dem
autobiografischen und dem kollektiven Gedächtnis. Bei ersterem handelt es sich
um die spezifischen und subjektiven Erinnerungen einer einzelnen Person,
gleichwohl in Abhängigkeit des sozialen Rahmens. Das kollektive Gedächtnis
setzt sich hingegen nur aus solchen Erinnerungen zusammen, die unpersönlichen
Charakter haben und in irgendeiner Weise für die Gruppe von Bedeutung sind.
Wesentliche Determinanten des kollektiven Gedächtnisses sind die Gruppen-
größe, die Art der Erinnerung und die Vermittlung der Erinnerung. In Abgren-
zung zu dem, was Halbwachs "historisches Gedächtnis" nennt, forme sich das
kollektive Gedächtnis in relativ kleinen Gruppen, baue auf einer lebendigen, nur
wenige Generationen umfassenden Erinnerung auf und sei zudem auf die münd-
liche Vermittlung der Erinnerung angewiesen. Sein Gegenstück, das historische
Gedächtnis, kennzeichne sich durch den Bezug auf Großgruppen, eine abstrakte
Art der Erinnerung sowie die mediale Vermittlung der Erinnerung.
Das Problem bei dieser Unterteilung ist, dass Halbwachs eine radikale Tren-
nung von Zeitgeschichte und kollektivem Gedächtnis vornimmt. Während letz-
teres eine Art intergenerationelles Phänomen darstelle, das auf dem Austausch
lebendiger Erinnerungen basiere, sei die Geschichte gänzlich "abstrakt". Sie be-
ginne genau an dem Punkt, an dem die Tradition ende und sich das kollektive
Gedächtnis zersetze. Mit der Auflösung einer überschaubaren sozialen Gruppe
löse sich auch das mündlich überlieferte Gruppengedächtnis automatisch auf.
Dies sei der Beginn einer distanzierten, entsubjektivierten Form der Erinnerung.
Während das kollektive Gedächtnis stark selektiv und wertend sei, zeichne sich
das historische Gedächtnis durch "Objektivität" und Unparteilichkeit aus. Dabei
blendet Halbwachs jedoch die Kategorie der Zeitgeschichte aus, bei der sich au-
tobiografischer und gesellschaftlicher Erinnerungszeitraum überschneiden.
Dass die angenommene "Objektivität" der Geschichte nicht zu halten ist,
wurde spätestens in den 70er Jahren offensichtlich. Im Zuge des
linguistic turn
wiesen Hayden White und andere Kritiker auf den Konstrukt-Charakter und die
Standortgebundenheit der Geschichtsschreibung hin, deren größte Einschrän-
31
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
31
kung sich aus den inhärenten Regeln des Textes ergebe.60 Whites ausgeprägter
Textualismus diente als Vorlage für zahlreiche Studien, die zusammengenom-
men nachweisen, dass auch Geschichte bestimmten stilistischen und narrativen
Regeln unterworfen ist. Sprache wirkt selbst strukturierend und macht eine "ob-
jektive" Geschichtsschreibung unmöglich. Um dennoch die Wissenschaftlichkeit
des Faches zu wahren, weicht man heutzutage gern auf den Begriff der "Inter-
subjektivität" aus, der auf die Möglichkeit öffentlicher Anfechtbarkeit und Kri-
tik der Forschungsergebnisse verweist.61
Dies ist jedoch nicht die "Objektivität", die Halbwachs im Sinn hatte. Seine
Auffassung ist noch stark am Historismus des 19. Jahrhunderts orientiert, was in
Anbetracht seiner Schaffensperiode (1920er und 30er Jahre) verständlich ist.
Nicht jedoch bei Pierre Nora, dem bekanntesten Nachfolger von Halbwachs.62
Nachdem das Konzept des kollektiven Gedächtnisses über Jahrzehnte hinweg
kaum wahrgenommen wurde, erweckte es der französische Historiker Anfang
der 80er Jahre zu neuem Leben. Noch stärker als Halbwachs betont Nora den
Gegensatz zwischen Geschichte und Gedächtnis. Im Unterschied zu diesem
stellt er allerdings fest, dass es kein kollektives Gedächtnis mehr gebe. Im Vor-
wort seiner monumentalen
Lieux de
mémoire
beschreibt er lediglich die vergan-
genen Formen kollektiver Gedächtnisse (zum Beispiel der bäuerlichen Gemein-
schaften), um anschließend deren definitives Ende zu erklären.63 Demnach be-
finde sich die moderne Gesellschaft in einem Übergangsstadium, in dem die
Verbindung zur lebendigen, gruppen- und nationsspezifischen Erinnerung im-
mer schwächer werde. Um eine "kollektive Amnesie" zu verhindern, würden die
Menschen "Erinnerungsorte" als künstliche Platzhalter für das nicht mehr vor-
handene kollektive Gedächtnis errichten.64 Dabei sind nicht unbedingt nur geo-
grafische Orte, wie etwa Gebäude oder Denkmäler, sondern auch immaterielle
"Orte" gemeint. Das wesentliche ist also nicht die Form, sondern die Funktion.
60
Als maßgebendes Werk dieser Strömung gilt
White, Hayden.
1973.
Metahistory: The
Historical Imagination in Nineteenth Century Europe
. Baltimore u. a.: Johns Hopkins Univ.
Press.
61
Siehe hierzu
Rüsen, Jörn.
3
1985. Objektivität. In: Bergmann, Klaus (Hg.).
Handbuch
der Geschichtsdidaktik
. Düsseldorf: Schwann, S. 123–127.
62
Hierzu
Nora, Pierre.
1990.
Zwischen Geschichte und Gedächtnis
. Berlin: Wagenbach.
Es handelt sich dabei um die deutsche Übersetzung des einleitenden Aufsatzes zu
Les
lieux de
mémoire.
63
Vgl. ebd., S. 11 ff.
64
Vgl. ebd., S. 17 ff.
32
32
Kapitel I
Erinnerungsorte können zwar verschiedene historische Ereignisse symbolisch
repräsentieren bzw. abrufbar machen (zum Beispiel Gedenkveranstaltungen).
Sie sind aber nicht in der Lage, ein kollektives Gedächtnis im Sinne Halbwachs’
zu konstituieren. Noras erklärtes Ziel ist es daher, die Erinnerungsorte der fran-
zösischen Nation aufzuspüren und ihre Funktionen sichtbar zu machen, keines-
wegs jedoch das "Gedächtnis der Nation" zu erfassen.
Obwohl er wegen seiner romantisierenden und zivilisationskritischen Be-
schwörung vergangener Gedächtnisgemeinschaften scharf angegriffen wurde, ist
sein Konzept in der Praxis sehr hilfreich. Als Voraussetzungen eines Erinne-
rungsortes unterscheidet er drei Dimensionen: die materiale Dimension (Denk-
mäler, Statuen, Gebäude, Kunstwerke; aber auch vergangene Ereignisse und
Schweigeminuten sind denkbar, da sie den "materiellen Ausschnitt einer Zeit-
einheit" darstellen), die funktionale Dimension (gesellschaftliche Aufgabe und
Wirkung, zum Beispiel eines Schulbuches) und die symbolische Dimension
(durch Transformation einer Handlung zum Ritual; die intentionale symbolische
Überhöhung eines Ortes oder Gegenstandes).65
Wie bereits angesprochen, sind die von Halbwachs und Nora entwickelten
Konzepte auch in Deutschland auf fruchtbaren Boden gefallen. Insbesondere Jan
und Aleida Assmann haben mit der Erfindung des "kulturellen Gedächtnisses"
die Aufmerksamkeit des Fachpublikums auf sich gezogen. Dieses mittlerweile
um zahlreiche Subkategorien erweiterte Konzept gilt gemeinhin als eines der
elaboriertesten Modelle zur Einordnung verschiedener Erinnerungsformen.66
Die Überlegungen der Assmanns haben in der Folge zu einer wahren Flut von
interdisziplinären und länderübergreifenden Studien geführt, deren zentrales
Element die analytische Trennung von "kulturellem" und "kommunikativem"
Gedächtnis ist. Letzteres entsteht durch alltägliche Interaktionen, wobei ihm die
gelebte oder mündlich vermittelte Geschichtserfahrung der Zeitgenossen zu
Grunde liegt. Deshalb beschränkt sich sein Zeithorizont auch auf relativ über-
schaubare Zeiträume von zwischen 80 und 100 Jahren. Seine Inhalte sind kaum
geformt und variieren in gleichem Maße wie ihre Träger.67
65
Zu den drei Dimensionen des Erinnerungsortes vgl. ebd., S. 32.
66
Im Sinne einer Auswahl:
Assmann, Jan.
1988. Kollektives Gedächtnis und kulturelle
Identität. In: ders./Tonio Hölscher (Hgg.).
Kultur und Gedächtnis
. Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
S. 9–19; ders. 1992.
Das kulturelle Gedächtnis
. München: Beck;
Assmann, Aleida.
1999.
Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses
. München: Beck
u. dies. 2001. Wie wahr sind Erinnerungen? In: Welzer, Harald (Hg.).
Das soziale Gedäch-
tnis
. Hamburg: Hamburger Edition, S. 103–122.
67
Vgl.
Assmann.
1992, S. 56.
33
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
33
Dem gegenüber ist das kulturelle Gedächtnis an feste Objektivationen gebun-
den und verfügt über einen unabänderlichen Bestand an Inhalten und Sinnbil-
dern, der über Jahrtausende hinweg transportiert werden kann.68 Wesentliches
Medium des kulturellen Gedächtnisses ist daher die Schrift. Darüber hinaus sind
auch Zeremonien oder Feste geeignet, die Erinnerung an bestimmte Ereignisse
aus einer lange zurückliegenden Vergangenheit präsent zu halten. Bei diesen
Ereignissen handelt es sich meistens um gründerzeitliche Mythen, die der Identi-
tätsstiftung und der Herrschaftslegitimation dienen. Aus diesem Grund sind die
Träger des kulturellen Gedächtnisses fast immer hoch spezialisierte "Wissens-
verwalter" (Priester, Archivare oder Historiker), während die Träger des kom-
munikativen Gedächtnisses keiner besonderen Qualifikation bedürfen.
Dass sich die
Violencia
mit dem Modell des kulturellen Gedächtnisses kaum
adäquat erfassen lässt, resultiert aus dem Bezug auf eine lange zurückliegende,
mythisch geformte Vergangenheit. Auch wenn das Konzept seit Mitte der 90er
Jahre kontinuierlich weiterentwickelt wurde, ist das Grundproblem der zeitli-
chen Distanz geblieben. Im Gegensatz dazu ist die Kategorie des kommunikati-
ven Gedächtnisses prinzipiell zur Erfassung des zeitlichen Nahhorizonts geeig-
net. Denn gerade die Erinnerung an die
Violencia
stützt sich in hohem Maße auf
individuelle Erfahrungen, die oftmals vom "offiziellen" Diskurs abweichen. Im
Rahmen lokal verorteter Gruppengedächtnisse, die durchaus Merkmale der
Formung aufweisen können, stellt die mündliche Überlieferung aber nur einen
Teil dar.
Das größte Problem bei der Bestimmung von Gruppengedächtnissen, die je
nach Gesellschaftsschicht oder lokalen Charakteristika variieren, ist ihre thema-
tisch-methodische Eingrenzung. Denn während sich das Konzept der Ge-
schichtspolitik relativ eindeutig auf jene institutionellen Bereiche erstreckt, die
vom Staat gesteuert oder indirekt beeinflusst werden, und insofern mit Halb-
wachs’ "historischem Gedächtnis" gleichzusetzen ist, bezieht sich das kommu-
nikative Gedächtnis der Assmanns auf unklar definierte soziale Äußerungen. In
der Realität kommt es jedoch oft zu Überschneidungen der gesellschaftlichen
und der institutionellen Sphäre. Im methodischen Teil dieses Kapitels werde ich
daher genau festlegen, welche Bereiche im Rahmen der Geschichtspolitik bzw.
des historischen Gedächtnisses und welche auf einer untergeordneten Ebene un-
tersucht werden müssen.
68
Vgl. ders. 1988, S. 13 ff.
34
34
Kapitel I
Während das Konzept der Geschichtspolitik also nur die Makroebene erfasst,
fehlt nach wie vor ein geeigneter Rahmen zur Erforschung der Mikroebene. Hier
bietet sich das umfassendere Modell der "Erinnerungskulturen" an, das auf den
bisher genannten Überlegungen basiert und diese weiterentwickelt.69 Die Ver-
wendung des Plurals – Erinnerungskultur
en
– weist auf die Vielfalt sowie die
historisch-kulturelle Variabilität von Erinnerungspraktiken hin. Genau wie Jörn
Rüsens "Geschichtskultur" setzt das Konzept, das im Wesentlichen von Mitglie-
dern des Sonderforschungsbereiches 434 der Universität Gießen konzipiert wur-
de, einen anthropologisch-semiotischen Kulturbegriff voraus. Zur Eingrenzung
des Untersuchungsbereichs lassen sich drei Dimensionen der Erinnerungskultur
festhalten, die die Vereinigung verschiedener Forschungsrichtungen widerspie-
geln:
Die materiale Dimension bezieht sich – erstens – auf die Kodierung der Erin-
nerungen in kulturelle Objektivationen, wodurch Inhalte des kollektiven Ge-
dächtnisses für die Mitglieder von Erinnerungsgemeinschaften zugänglich wer-
den.70 In den Blick rücken daher Medien und andere kulturelle Artefakte (zum
Beispiel Geschichtsschreibung, Denkmäler, Dokumente, Fotos). Die soziale
Dimension hat – zweitens – die Trägerschaft des Gedächtnisses zum Ziel. Es
geht um Personen und gesellschaftliche Institutionen, die an der Produktion,
Speicherung und dem Abruf des für das Kollektiv relevanten Wissens beteiligt
sind. Im Fokus stehen daher gesellschaftliche Praktiken und Institutionen (zum
Beispiel Nichtregierungsorganisationen71, Universitäten, Gedenkrituale). An
dritter Stelle ist die mentale Dimension zu nennen. Sie beinhaltet alle kulturspe-
zifischen Schemata und kollektiven Codes, die gemeinsames Erinnern durch
symbolische Vermittlung ermöglichen und prägen. Zu erforschen sind in diesem
Zusammenhang alle Auswirkungen der Erinnerungstätigkeit auf die in einer
Gemeinschaft vorherrschenden mentalen Dispositionen – etwa auf Vorstellun-
gen und Ideen, Denkmuster und Empfindungsweisen, Selbst- und Fremdbilder
oder Werte und Normen (zum Beispiel Werthierarchien, Geschichtsbilder, kul-
turelle Stereotypen).
Dass ich mich im Folgenden auf die Beschreibung
lokaler
Erinnerungskultu-
ren beschränke, hat in erster Linie methodische Gründe: Die von mir gewählten
Beispiele sollen die Pluralität vorhandener Erinnerungsformen innerhalb der
69
Hier stütze ich mich auf eine Zusammenfassung der Forschungsergebnisse des SFB 434
der Universität Gießen. Vgl. hierzu
Erll.
2005, S. 34–39.
70
Zu den drei Dimensionen der Erinnerungskultur vgl. ebd., S. 102.
71
Im Folgenden als NROs abgekürzt.
35
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
35
"zivilen Räume" verdeutlichen und nicht etwa einen Repräsentationsanspruch
im quantitativ-empirischen Sinne untermauern. Angesichts der Materialfülle und
der methodischen Vielfalt könnte eine solche Aufgabe unmöglich von einer Ein-
zelperson bewältigt werden. Der Zweck meiner Untersuchung besteht vielmehr
darin, auf Lücken im offiziellen Geschichtsbild hinzuweisen. Im nächsten Ab-
schnitt werde ich zeigen, warum die Darstellung alternativer Geschichtsversio-
nen ein wichtiger Beitrag zum Prozess der demokratischen Transformation ist.
2.3 Geschichtsbilder im Prozess der demokratischen Transformation
Wie ich bereits dargelegt habe, ist der kolumbianische Transformationsprozess
bis heute "unvollendet" geblieben, weil die aus der Zeit der
Violencia
überkom-
mene Gewalt in anderen Formen "weiterlebt" und zu Verdrängungseffekten
führt. Gonzalo Sánchez und Daniel Pécaut haben darauf hingewiesen, dass der
andauernde bewaffnete Kampf bei einem Großteil der Bevölkerung zu einem
antichronologischen Zeitbewusstsein geführt habe.72 Durch die allmähliche
"Routinisierung" des Krieges, der in seinen barbarischen, entideologisierten
Formen immer mehr den historischen Auseinandersetzungen gleicht, ver-
schwimmen die zeitlichen Trennungslinien. Da ein Ende des Kampfes nicht ab-
sehbar ist, sehen sich viele Kolumbianer mit einer ständig wiederkehrenden
Vergangenheit konfrontiert, in der die
Violencia
nahtlos aufgeht. Sie ist nur eine
Episode im endlos erscheinenden Konflikt.
Eine kollektive Anstrengung, das historische Trauma der
Violencia
zu über-
winden, hat es bisher nicht gegeben, obwohl verschiedene Sektoren der Gesell-
schaft (besonders Akademiker und NROs) seit langem darauf hinarbeiten. Ohne
institutionalisierte Kanäle der Vergangenheitsaufarbeitung, die eine offene
Anerkennung der kollektiven Erfahrung von Gewalt und Repression ermögli-
chen würden, kann es jedoch weder zu einer individuellen noch zu einer kollek-
tiven "Heilung" der Gesellschaft kommen.73
Die bruchstückhaften und teilweise widersprüchlichen Erinnerungen sozialer
Gruppen sind weit davon entfernt, in einem einheitlichen sowie allgemein aner-
kannten Geschichtsbild zu konvergieren. Im Gegenteil, die Vergangenheit ist
72 Vgl.
Sánchez.
2006, S. 98 f. u.
Pécaut.
2003, S. 121 ff.
73
Vgl.
Jelin, Elizabeth.
2002. Los sentidos de la conmemoración. In: dies. (Hg.).
Las
conmemoraciones: las disputas en las fechas "in-felices"
. Madrid: Siglo XXI, S. 245–252.
36
36
Kapitel I
heute genauso umkämpft wie vor 50 Jahren. Dieser Umstand hängt möglicher-
weise damit zusammen, dass es dem Staat niemals vollständig gelungen ist, die
Erinnerung an den Bürgerkrieg aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Die
"Politik des Vergessen", wie sie der Schriftsteller Arturo Alape genannt hat,
zeichnet sich nämlich durch den weitgehenden Verzicht auf eine gegensätzliche
Interpretation der
Violencia
aus.74 Stattdessen sparten die Verantwortlichen die
Jahre von 1948 bis 1963 in den Schulbüchern einfach aus oder reduzierten die
Epoche auf einzelne, besonders prägnante Ereignisse. Lediglich auf einer höhe-
ren, akademischen Ebene sowie in bestimmten Presseprodukten wurden und
werden intellektuelle Debatten über die Interpretation der
Violencia
geführt. Da-
bei gilt es jedoch zu beachten, dass die Mehrheit der Kolumbianer weder Zu-
gang zum akademischen Sektor hat, noch als Rezipient "intellektueller" Medien
in Betracht kommt.75
Obwohl ich die Einschätzung teile, dass eine öffentliche Reflexion über die
Violencia
und ihre Folgen, die Angst, die Straflosigkeit und den wachsenden
Schmerz der kolumbianischen Gesellschaft nur vereinzelt stattfindet und ein
"nationales Trauma" die individuellen und kollektiven Möglichkeiten zur Ver-
gangenheitsbewältigung einschränkt, halte ich die These von der "generellen
Amnesie" für verfehlt. Denn nur weil institutionelle Kanäle das Thema weitge-
hend ausklammern oder mit einer Interpretation befrachten, die dem Herr-
schaftsinteresse der traditionellen Eliten entgegenkommt, schließt das die Exis-
tenz gegensätzlicher Positionen nicht aus. Zahlreiche soziale Akteure haben er-
kannt, dass die Erinnerung andie
Violencia
am Beginn einer erfolgreichen Ver-
gangenheitsaufarbeitung stehen muss. Sie sehen in der Dekonstruktion einseiti-
ger Geschichtsbilder die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche demokrati-
sche Transformation; oder wie es Jaime Zuluaga Nieto unter Verweis auf die
anhaltenden Kämpfe zwischen Regierung und Aufständischen formuliert hat:
"Es geht darum, zu den entfernten, aber weiter existierenden Ursprüngen der
Gewalt zurückzukehren, um die Situation zu überwinden, die seit 30 Jahren das
soziale und politische Fundament der Guerilla darstellt [...]."76
74
Vgl.
Alape.
1983, S. 15 ff.
75
Siehe hierzu Kap. II, 6.1.
76
Zuluaga Nieto, Jaime.
2001. Das kolumbianische Labyrinth: Annäherung an die Dy-
namik von Krieg und Frieden. In: Kurtenbach, Sabine (Hg.).
Kolumbien zwischen Gewaltes-
kalation und Friedenssuche
. Frankfurt a. M.: Vervuert, S. 33.
37
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
37
Auch im konzeptuellen Rahmen der "Geschichtspolitik" spielt der Aspekt der
Vergangenheitsaufarbeitung eine wichtige Rolle.77 Obwohl Edgar Wolfrum die
Vergangenheitspolitik nur als Teil der weiter gefassten Geschichtspolitik be-
trachtet, hebt er die immense Bedeutung der Vergangenheitsaufarbeitung bei der
Neubildung von Institutionen und normativen Wertstrukturen hervor. Darüber
hinaus sei ein solcher Prozess nutzbar, um aus ihm Strategien für die Politikfol-
genbewältigung zu gewinnen.78 Er lässt jedoch unerwähnt, dass der Umgang mit
"belasteter" Vergangenheit, wie dies sowohl in Deutschland als auch in Kolum-
bien der Fall ist, nicht zwangsläufig eine heilsame Wirkung entfaltet.
In einer interessanten Studie hat der französische Linguist Tzvetan Todorov
darauf verwiesen, dass uns die Beispiele Jugoslawien und Ruanda auf drastische
Weise verdeutlicht hätten, wie gefährlich das Entstehen einer "negativen Erinne-
rungskultur" sei.79 Davon ausgehend unterscheidet Todorov zwischen
mémoire
exemplaire
(vorbildhafter Erinnerung, der ein paradigmatischer Wert zukommt)
und
mémoire littérale
(roher, unreflektierter Erinnerung). Der vorbildhafte Ge-
brauch der Erinnerung erlaubt es, das Vergangene im Lichte der Gegenwart zu
betrachten, wobei die aus dem einst erlittenen Unrecht gezogenen Lektionen in
einen konstruktiven Bezug zum Unrecht von heute gebracht werden. Man löst
sich vom "Ich" und geht auf den "Anderen" zu. Der unreflektierte Gebrauch der
Erinnerung führt jedoch zum Gegenteil, indem er das Geschehene in etwas
Unüberwindliches verwandelt und damit bewirkt, dass die Vergangenheit die
Gegenwart in einem negativen Sinne einholt.
Diese Einsicht ist gerade mit Blick auf die kolumbianische Konfliktgeschichte
von Bedeutung. Da Kolumbien in der Vergangenheit kaum Kriege gegen seine
Nachbarn führte, stellten vor allem die inneren Konflikten einen wesentlichen
Faktor bei der Herausbildung nationaler Identität dar.80 Wie Angelika Hennecke
in diesem Zusammenhang bemerkt, kam es dadurch zu einer Teilung des natio-
nalen Systems in zwei Untersysteme, die einander feindselig gegenüberstehen.81
77 Vgl.
Wolfrum.
1999, S. 29–32.
78
Vgl. ebd., S. 14.
79
Hierzu
Todorov, Tzvetan.
1998.
Les abus de la mémoire
. Paris: arléa, S. 28 ff.
80
Im 20. Jahrhundert stellte lediglich der Konflikt mit Peru (1933/34) eine Ausnahme dar.
Dass dieser Krieg um ein relativ wertloses Gebiet am Amazonas dennoch ausreichte, bei vie-
len Kolumbianern einen kämpferischen Patriotismus zu entfachen, beschreibt eindrucksvoll
García Márquez, Gabriel.
2002.
Vivir para contarla
. Bogotá: Norma, S. 115 f.
81
Vgl.
Hennecke, Angelika.
2006.
Zwischen Faszination und Gewalt: Kolumbien – unser
gemeinsamer Nenner
. Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 26 f.
38
38
Kapitel I
Im heutigen Kontext ist der historische Dualismus Liberale vs. Konservative
durch die neue Dichotomie vom "guten, friedliebenden Kolumbianer" gegen den
"bösen, gewalttätigen Kolumbianer" ersetzt worden. Letzterer ist der "Andere",
den die Mehrheit mit der Guerilla, den Paramilitärs oder der Drogenmafia asso-
ziiert. In Distanz und Abgrenzung zu diesen Akteuren neigen viele Kolumbianer
dazu, das Versagen des politischen Systems alleine den "unkolumbianischen"
Minderheiten anzukreiden. Ohne das Zugehen auf den "Anderen", das heißt oh-
ne ein tieferes Verständnis für die strukturellen und historischen Gründe der
Gewalt, wird ein Friedensschluss aber kaum möglich sein. Dass sich dieser un-
heilvolle Dualismus auch in der Gegenwart fortsetzt, zeigt die polarisierende
Politik des Präsidenten Álvaro Uribe (seit 2002). Im Bewusstsein, dass eine neo-
liberale Öffnung und die Zerschlagung der alten Parteibürokratie den gesell-
schaftlichen Zusammenhalt noch stärker als bisher gefährden könnten, setzt er
auf Nationalismus als verbindendes Element. Zum "Feind der Nation" hat er die
Guerilla erklärt.82
Wie ich bereits erwähnt habe, halte ich strukturalistisch-funktionale Ansätze
zur Erforschung von Transformationsprozessen für unzureichend; mit wenigen
Ausnahmen messen sie kulturellen Faktoren zu wenig Bedeutung bei. In diesem
Sinne beschränken sich die "klassischen" Studien auf formale Demokratiekrite-
rien wie Meinungs- und Parteienpluralismus, direkte oder indirekte Partizipati-
onsrechte sowie Institutionen und Verfahrensrechte. Zu den inhaltlicher Krite-
rien, die einer stabilen demokratischen Ordnung zugrunde liegen müssen, zählen
sie einen aktiven Pluralismus, die Legalität der Opposition, Partizipation und
Interessenartikulierung weiter Bevölkerungsteile, die Anwendung demokrati-
scher Prinzipien sowie eine partizipative Entscheidungsfindung in möglichst
vielen gesellschaftlichen Bereichen.83
In neuerer Zeit wurden diese Grundkriterien von Juan Linz und Alfred Ste-
pan, besonders im Hinblick auf Lateinamerika, um drei wichtige Zusätze erwei-
tert.84 Demnach ist die endgültige Konsolidierung der Demokratie erst dann ge-
geben, wenn keine signifikante Gruppe den Umsturz des demokratisch legiti-
mierten Systems betreibt und auch keine gewaltsame Änderung anstrebt. Des
82
In zahlreichen Reden hat Uribe auf Formulierungen zurückgegriffen, die der antikom-
munistischen Rhetorik des Kalten Krieges ähneln. Im Einklang mit der Sicherheitsdoktrin der
USA bezeichnet er die linksgerichteten Guerilleros ausschließlich als "Narco-Terroristen".
83
Als Vorlage und "klassisches" Beispiel dient mir
Dahl, Robert.
1971.
Polyarchy. Par-
ticipation and Opposition
. New Haven u. a.: Yale Univ. Press.
84
Vgl. hierzu
Linz/Stepan.
1997, S. 14–33.
39
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
39
Weiteren muss bei politischen und wirtschaftlichen Krisen eine Mehrheit der
Bevölkerung Veränderung mit demokratischen Mitteln wünschen. Drittens müs-
sen alle politischen Akteure die Spielregeln der Demokratie akzeptieren und
Verstöße gegen diese Regeln als nicht lohnend angesehen werden.
Insgesamt gesehen ist diese Erweiterung aber immer noch unbefriedigend.
Die neuere, "genetische" Transformationsforschung, auf die ich mich im Fol-
genden stütze, betont stattdessen die unterschiedlichen Strategien sozialer und
politischer Akteure und legt ein stärkeres Gewicht auf kulturelle Faktoren.85
Dahinter steht die Erkenntnis, dass so genannte
rational choice-
Theorien (etwa
im Hinblick auf rationale Entscheidungen bei Wahlen oder beim Konsum)
komplexe Phänomene wie ethnische Kriege oder scheinbar spontane Gewalt-
ausbrüche nicht ausreichend erklären. Im Zentrum meines Forschungsinteresses
stehen daher auch Werte und Normen, an denen sich einzelne Gruppen zu be-
stimmten Zeiten an bestimmten Orten orientieren. Strategische Optionen der
Akteure sind zwar immer stark von ihrer Wahrnehmung des politischen Prozes-
ses abhängig. Andererseits ist diese Wahrnehmung aber auch durch situations-
abhängige Erinnerungen beeinflusst, die gewissermaßen als Vergleichsgröße
dienen.
So hat Paloma Aguilar Fernández am Beispiel Spaniens gezeigt, dass die his-
torische Erinnerung an die Franco-Zeit bei der Schaffung demokratischer Insti-
tutionen und der Niederschrift einer neuen Verfassung im Jahre 1978 eine maß-
gebliche Rolle gespielt hat. Vorbedingung der spanischen Transformation war
interessanterweise ein eliteninterner Pakt des Stillschweigens ("pacto tácito ent-
re las élites"), wie ihn in ganz ähnlicher Form auch die kolumbianischen Eliten
zu Beginn des so genannten
Frente Nacional
(1958–1974) aushandelten.86 Auf
Dauer konnten Spaniens politische Eliten aber nicht verhindern, dass abwei-
chende Meinungen und Stimmen an die Oberfläche drangen. Die Gegenüberstel-
lung von individueller und offizieller Erinnerung hat Aguilar Fernández zu der
These geführt, dass diese nicht allzu sehr voneinander abweichen dürfen, wenn
85
Eine kritische Gegenüberstellung von "klassischer" und kulturalistischer Transformati-
onsforschung liefert
Krischke, Paulo.
2000. Problems in the Study of Democratization in
Latin America. Regime Analysis vs. Cultural Studies. In:
International Sociology
, Nr. 15
(März, Amsterdam), S. 107–125. Für eine Synthese beider Strömungen am Beispiel Kolum-
biens siehe
Herrera, Martha Cecilia/Alexis Pinilla Díaz/Carlos Díaz Soler (Hgg.).
2005.
La construcción de una cultura política en Colombia. Proyectos hegemónicos y resistencias
culturales
. Bogotá: Univ. Pedagógica Nacional.
86
Vgl.
Aguilar Fernández, Paloma.
1996.
Memoria y olvido de la Guerra Civil españo-
la
. Madrid: Alianza, S. 21 f.
40
40
Kapitel I
politische Stabilität erreicht werden soll.87 Die gegenwärtigen Entwicklungen in
Spanien bestätigen ihre Vermutung.
Nicht ohne Grund ist mehr als 30 Jahre nach dem Tod Francos eine heftige
öffentliche Diskussion um die Interpretation des Bürgerkrieges entbrannt. Im
Mittelpunkt stehen dabei die Dekonstruktion des Geschichtsbildes der Sieger
sowie die nachträgliche Würdigung der Unterlegenen.88 Verschiedene Forscher-
gruppen und (nicht)staatliche Einrichtungen beschäftigen sich in diesem Zu-
sammenhang mit der Verfolgung und dem "Verschwindenlassen" von Regime-
gegnern. Obwohl der Erfolg des spanischen Transformationsprozesses wesent-
lich auf dem Konsens der ehemals verfeindeten Gruppen beruhte, hat sich
schließlich in den Medien, im akademischen Sektor und seit dem Regierungs-
wechsel vom 14. März 2004 sogar in Teilen des Staats eine revisionistische
Grundhaltung durchgesetzt: die Geschichte des Bürgerkrieges muss neu ge-
schrieben werden. Wie das Beispiel Spanien zeigt, kann sich die "offizielle"
Deutung der Vergangenheit schnell ändern. Dies gilt insbesondere dann, wenn
die am historischen Geschehen beteiligte Generation noch lebt und zahlreiche
ihrer Mitglieder eine gegensätzliche Interpretation vertreten.
Im Gegensatz zu anderen Ländern der Region ist in Kolumbien vom "Boom
der Erinnerung" noch wenig zu spüren. Mit Ausnahme einiger bereits erwähnter
Studien wurde die Relevanz der Erinnerungsforschung für den Prozess der de-
mokratischen Transformation bislang verkannt. Insofern verhält sich in Kolum-
bien der Stand der Forschung umgekehrt proportional zur gesellschaftlichen Be-
deutung des Themas. Angesichts der Dringlichkeit eines Friedensprozesses, des-
sen Grundlage die kollektive Verarbeitung des historischen Unrechts sein müss-
te, wirkt dies auf den ersten Blick befremdlich. Es wird jedoch umso verständli-
cher, wenn die komplexe kolumbianische Konfliktgeschichte Berücksichtigung
findet. Denn im Gegensatz zu Ländern wie Argentinien, Chile oder Spanien ist
eine Aufarbeitung der Vergangenheit in Kolumbien derzeit nur bedingt möglich,
was wesentlich mit der Schwäche der Zivilgesellschaft und dem anhaltenden
Konflikt zusammenhängt.
Obwohl sich seit Mitte der 1970er Jahre gesellschaftliche Gruppen organisiert
haben, die weder die inhaltsleere "Revolution" der Guerilla noch den Status Quo
akzeptieren wollen, ist ihr Einfluss im Vergleich zu anderen Ländern der Region
87 Vgl. ebd., S. 26.
88
Siehe hierzu
Bernecker, Walther/Sören Brinkmann
.
2
2006.
Kampf der Erinnerungen:
Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft, 1936–2006
. Nettersheim: Verlag
Graswurzelrevolution, S. 315–337.
41
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
41
außerordentlich gering. Weil sich die demokratische Zivilgesellschaft dem ver-
hängnisvollen Freund/Feind-Schema entzieht, hat sie gegen enorme Widerstän-
de zu kämpfen. Aufgrund der anhaltenden Gewalt sind die meisten Bürger- und
Regionalbewegungen in ihrer Arbeit und Wirkung eingeschränkt. Zusammen-
schlüsse ethnischer Minderheiten oder der Landbevölkerung geraten nicht selten
ins Fadenkreuz der bewaffneten Akteure, die sich zynischerweise selbst als Teil
der "Zivilgesellschaft" betrachten.89
Der Sinn dieser Arbeit besteht jedoch nicht darin, Vorschläge zur Erarbeitung
einer "besseren" Erinnerungskultur zu machen. Im Gegenteil, solche Modelle
existieren bereits in großer Zahl, wobei die meisten Ideen von der betroffenen
Bevölkerung selbst stammen. Es geht mir vielmehr darum, die unterschiedlichen
Erinnerungskulturen auf gesellschaftlicher und institutioneller Ebene einander
gegenüberzustellen. In einem weiteren Schritt will ich die Konzepte derjenigen
Akteure analysieren, die eine Neugestaltung oder die Festigung des "dominan-
ten" Erinnerungsdiskurses anstreben. Denn nur wenn die Pluralität der Erinne-
rungskulturen anerkannt und auf der Makroebene repräsentiert wird, hat der
Prozess der demokratischen Transformation eine Chance. Als normativer Maß-
stab dienen mir dabei die Kriterien Tzvetan Todorovs. Ich schließe mich seiner
Einschätzung an, dass die Kultivierung "unreflektierter" Erinnerung große Ge-
fahren birgt; insbesondere wenn sie als Grundmotiv aggressiver Nationalismen
auftritt. Solche Erinnerungen schaden der Gesellschaft, perpetuieren das histori-
sche Freund/Feind-Schema und schlagen nicht selten in Hass und Vergeltung
um.
3.
H
ISTORISCHER
A
BRISS
Da ich mich in den folgenden Kapiteln mit der Inanspruchnahme der Geschichte
durch institutionelle und gesellschaftliche Akteure beschäftige, ist zunächst
einmal eine historische Darstellung der
Violencia
und ihrer Vorgeschichte not-
wendig. Dabei fließen lediglich solche Fakten ein, die von der internationalen
Forschung der letzten drei Jahrzehnte in weitgehender Übereinstimmung ermit-
telt wurden. In diesem Sinne dient mir der ereignisgeschichtliche Teil als Ver-
gleichsrahmen, vor dessen Hintergrund sich die Geschichtsauslegungen der poli-
tischen Eliten, die offizielle Historiografie sowie die in Schul- und Lehrbüchern
89 Vgl.
Sánchez.
2006, S. 79.
42
42
Kapitel I
verbreiteten Versionen besser beurteilen lassen. Soweit bei der Interpretation der
Geschehnisse extreme Abweichungen vorliegen, weise ich darauf hin.
Im Anschluss – jedoch in deutlich geraffter Form – gehe ich auf die politische
Geschichte nach dem Bürgerkrieg ein. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Perio-
de des
Frente Nacional
(1958–1974), wobei vor allem dessen Anfangsphase von
Interesse ist. Ebenso steht damit das nötige Kontextwissen zur Verfügung, um
an späterer Stelle die Wirkung und Funktion alternativer Geschichtsbilder (Kap.
III) bzw. deren Einfluss auf den Prozess der demokratischen Transformation
(Kap. IV) zu diskutieren.
3.1 Liberale vs. Konservative
Nach Erlangung der Unabhängigkeit von Spanien im Jahre 1819 beschlossen die
siegreichen Kreolen die Gründung des Staates Großkolumbien.90 Zwei Jahre
darauf kam es zur Auseinandersetzung über die Frage, ob das neue Staatsgebilde
nach föderalistischen oder zentralistischen Prinzipien zu regieren sei. Simón
Bolívar, der wichtigste Akteur der Befreiungskriege und entschiedener Anhän-
ger des Zentralismus, setzte sich in dieser Angelegenheit durch. Von Beginn an
waren starke Desintegrationstendenzen zu beobachten, die in erster Linie auf
den großen regionalen Unterschieden der Region fußten. In den folgenden Jah-
ren zeigte sich die Zentralregierung unfähig, ein derart großes und ethnisch-
geografisch fragmentiertes Territorium gegen die Interessen regionaler Eliten zu
kontrollieren. Schließlich zerfiel mit Bolívars Tod auch der großkolumbianische
Staat in seine ursprünglichen Bestandteile Venezuela, Ecuador und Neu-
Granada (Kolumbien).91
Im Anschluss verschärfte sich der eliteninterne Streit um die "richtige" Regie-
rungsform. Während der Unabhängigkeitsbewegung hatten sich zwei große poli-
tische Strömungen herausgebildet, die sich besonders in der Frage des Födera-
lismus und des Zentralismus unterschieden. Diese Auseinandersetzung erhielt
90
Die Bezeichnung "Großkolumbien" wurde von Historikern eingeführt, um das damalige
Staatsgebilde vom heutigen Kolumbien zu unterscheiden.
91
Einige Überblicksdarstellungen zum 19. und 20. Jahrhundert, auf die ich mich im Fol-
genden stütze:
Bushnell.
2003;
König, Hans-Joachim.
1997. Staat und staatliche Entwick-
lung in Kolumbien. In: Altmann, Werner/Thomas Fischer/Klaus Zimmermann (Hgg.).
Ko-
lumbien heute
. Frankfurt a. M.: Vervuert, S. 111–136; ders. 2008.
Kleine Geschichte Kolum-
biens
. München: Beck u.
Palacios, Marco/Frank Safford.
2002.
Colombia, país fragmenta-
do, sociedad dividida: su historia
. Bogotá: Norma.
43
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
43
1849 durch die Parteiengründungen der Liberalen (föderalistisch) und der Kon-
servativen (zentralistisch) ihre formale Basis. In programmatischer Hinsicht gab
es keine großen Unterschiede. Beide vertraten die Interessen der Oberschicht
und erlangten durch starke parteipolitische Mobilisierung rasch eine Basis in der
Gesamtbevölkerung. Während die Konservativen jedoch bis weit ins 20. Jahr-
hundert hinein an die katholische Kirche gebunden waren, zeichnete sich die
Liberale Partei eher durch antiklerikale Politik und sozialprogressive Tendenzen
aus.92 Anstatt auf der politischen Ebene trugen die Parteien ihre Rivalitäten zu-
nehmend auf dem Schlachtfeld aus, was eine allgemeine Destabilisierung des
politischen Systems zur Folge hatte. Die Mobilisierung gewaltbereiter Parteian-
hänger führte zu bewaffneten Aufständen und Bürgerkriegen, die sich durch das
gesamte 19. Jahrhundert zogen. Allein zwischen 1863 und 1885, einer Zeit libe-
raler Hegemonie, kam es zu über 50 Rebellionen gegen die Regierung.
Kurz nach dem Ende eines weiteren verheerenden Bürgerkrieges gelangte
1885 der ursprünglich liberale Politiker Rafael Núñez an die Macht. In Zusam-
menarbeit mit den Konservativen und dem anti-föderalistischen Flügel der Libe-
ralen Partei, den so genannten
independientes
, schlug er einen konservativ-
technokratischen Kurs ein. Zentralistische Maßnahmen, ein Programm zur "Re-
generierung" des Landes sowie der Versuch einer im Katholizismus fundierten
Identitätsstiftung sollten den Frieden bringen. Der repressive Charakter des Re-
gimes bewirkte aber, dass die Mehrheit der Liberalen nur noch gewaltsamer ge-
gen die Regierung aufbegehrte. Im "Krieg der Tausend Tage", der mehr als
100.000 Menschenleben forderte, standen sich Liberale und Konservative mehr
als drei Jahre lang gegenüber, ohne dass eine der beiden Seiten einen klaren Sieg
erringen konnte. Den Liberalen, die den Krieg im Jahre 1899 begonnen hatten,
gelang es am Ende nicht, die Hegemonie der Konservativen zu brechen. Obwohl
der Konflikt 1902 mit einem für beide Seiten akzeptablen Friedensvertrag ende-
te, hatte er neben der allgemeinen Verwüstung des Landes eine weitaus tragi-
schere Folge:
Die überwiegend liberal dominierte Provinz Panama löste sich mit Hilfe der
USA von Kolumbien los und erklärte sich 1903 für unabhängig.
93
Teile der dor-
92
Zur Entwicklung der Parteien siehe
König, Hans-Joachim
. 1992. Ecuador, Kolumbien,
Venezuela. In:
Handbuch der Geschichte Lateinamerikas
. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 590
ff.
93
Den Zusammenhang zwischen dem "Krieg der Tausend Tage" und der Separation Pa-
namas beleuchtet
Fischer, Thomas.
2001. De la guerra de los Mil Días a la pérdida de Pa-
44
44
Kapitel I
tigen Oligarchie hatten schon länger mit Autonomie und Sonderrechten speku-
liert, um ihre ehrgeizigen wirtschaftlichen Ziele besser umsetzen zu können. Der
straffe Zentralismus Bogotás machte diese Pläne, die unter anderem die Kons-
truktion eines interozeanischen Kanals vorsahen, jedoch zunichte. Die lokalen
Eliten zogen daher eine Abspaltung unter dem Schutz der USA vor, gegen die
Kolumbien aufgrund seiner politischen und militärischen Schwäche nichts aus-
richten konnte. Noch im gleichen Jahr begannen die Vereinigten Staaten – von
Anfang an die treibende Kraft hinter der Separation – mit dem Bau des Panama-
kanals.
Entgegen anfänglicher Zusagen, die Liberalen am politischen Prozess teilha-
ben zu lassen, bauten die Konservativen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts
ihre Hegemonie weiter aus und drängten die Opposition durch Repression,
Wahlbetrug und Klientelismus94 zurück. Der gegen Ende des 19. Jahrhunderts
einsetzende Kaffeeboom und die daraus resultierenden Deviseneinnahmen hal-
fen den Konservativen bei der Konsolidierung ihrer politischen Macht und bil-
deten zugleich das Fundament einer partiellen Industrialisierung. Begleitet von
einem enormen Wirtschaftswachstum veränderte sich Kolumbiens Sozialstruk-
tur und der Urbanisierungsgrad nahm zu. In den Städten artikulierte sich nun
erstmals das entstehende Industriebürgertum, stellte jedoch im Gegensatz zu den
Großgrundbesitzern und den Kaffeeplantagenbesitzern noch keine gewichtige
organisierte politische
pressure group
dar. Auch das Aufkommen einer urbanen
Arbeiterklasse sowie die Präsenz organisierter Landarbeiterverbände deuteten
die gesellschaftliche Umwälzung im Rahmen der Modernisierung an.
namá. In: Sánchez, Gonzalo/Mario Aguilera (Hgg.).
Memoria de un país en guerra. Los Mil
Días 1899–1902
. Bogotá: Planeta, S. 75–104.
94
Der Begriff beschreibt das traditionell asymmetrische Abhängigkeitsverhältnis zwischen
Patron und Klient. In Kolumbien ist es der Oligarchie gelungen, Handel und Landwirtschaft
weitgehend zu monopolisieren. Die daraus folgende Abhängigkeit und Immobilität der auf
dem Land lebenden Bevölkerung wurde durch die topografische Fragmentierung des Landes
noch verstärkt. In Bürgerkriegszeiten mussten sich die Campesinos den Schutz eines Patrons
sichern, da die bewaffneten Parteien keine Neutralität duldeten. Im 20. Jahrhundert wandelte
sich der Klientelismus schließlich zur tragenden Säule von Politik und Verwaltung. Während
der Wahlkämpfe wurde die Abgabe der "richtigen" Stimme häufig mit politischen und be-
hördlichen Gefälligkeiten belohnt. Hierzu grundlegend
Leal Buitrago, Francisco.
1984.
Es-
tado y política en Colombia
. Bogotá: Siglo XXI u.
Martz, John
. 1997.
The Politics of Clien-
telism. Democracy and the State in Colombia
. New Brunswick u. a.: Transaction Publishers.
45
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
45
Trotz einiger arbeiterfreundlicher Gesetze gelang es den Konservativen insge-
samt aber nicht, die aus den strukturellen Veränderungen resultierenden sozialen
Probleme zu lösen. Vor allem die Landfrage sowie die dauerhafte Benachteili-
gung der Lohnabhängigen führten zu sozialem Protest, dem die Oligarchie in
den meisten Fällen mit Unverständnis und Repression begegnete. Die staatliche
Unterdrückung sozialer Forderungen konnte langfristig jedoch nicht verhindern,
dass im Zeitraum bis 1930 erste Gewerkschaften, politische Klubs und sozialis-
tische Parteien entstanden. Trotz ihrer teilweisen Illegalität übten diese Gruppen
erheblichen Einfluss auf bestimmte Sektoren der Liberalen Partei aus, die das
herrschende Modell des "passiven" Staates und das bis dahin propagierte Agrar-
Export-Modell zu hinterfragen begannen. Einer der wichtigsten Vertreter dieser
Richtung war der charismatische Anwalt und Politiker Jorge Eliécer Gaitán.
Nachdem die Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 das Scheitern der bisheri-
gen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung offenbar gemacht hatte, schlug
die Stunde der Liberalen. Unterstützt von Teilen des Industriebürgertums, den
Intellektuellen und den Gewerkschaften gelang es ihnen, die politische Macht zu
übernehmen und mit dem bisherigen Entwicklungsparadigma zu brechen. Die
neue Politik sollte eine "Entwicklung nach innen" anstoßen und hatte eine stär-
kere Einflussnahme des Staates zum Ziel. Besonders unter der ersten Präsident-
schaft von Alfonso López Pumarejo (1934–1938) wurde diesem Postulat unter
dem Slogan
revolución en marcha
Rechnung getragen. Bei seiner radikalen
Umgestaltung der bisherigen Ordnung von Staat und Gesellschaft, die unter an-
derem eine Landverteilung sowie die Entmachtung der Oligarchie vorsah, schei-
terte er jedoch. Einflussreiche Teile der traditionellen Eliten verweigerten sich
dem "revolutionären" Programm und sabotierten den Prozess der Umverteilung
mit allen Mitteln. Die Absicht, große Teile der Bevölkerung weiterhin von wirk-
licher politischer Aktivität und sozialer Teilhabe fernzuhalten, führte zu schwe-
ren sozialen Spannungen, die sich vor allem auf dem Land bemerkbar machten.
Eine politische Zersplitterung der Liberalen Partei ermöglichte schließlich im
Jahre 1946 die erneute Machtübernahme der Konservativen. Deren Präsident-
schaftskandidat, Mariano Ospina Pérez (1946–1950), hatte bereits vor seiner
Amtsübernahme eine Regierung der "Nationalen Einheit" angekündigt, an der
sich Konservative und Liberale gleichberechtigt beteiligen sollten. Da sich je-
doch die große Mehrheit der Konservativen gegen die Integration des politi-
schen Gegners aussprach, flammte der alte Zwei-Parteien-Konflikt wieder auf.
Während aus ländlichen Gebieten bereits seit 1946 Kämpfe zwischen den be-
waffneten Parteianhängern gemeldet wurden, spitzte sich zwei Jahre später die
46
46
Kapitel I
Lage auch in der Hauptstadt dramatisch zu. Als am 9. April 1948 ein geistig
verwirrter Attentäter den populären Repräsentanten des sozial-reformerischen
Flügels der Liberalen Partei, Jorge Eliécer Gaitán, erschoss, kam es in Bogotá zu
gewalttätigen Auseinandersetzungen, Plünderungen, Mord und Totschlag, dem
so genannten
bogotazo
.95 Den meisten Kolumbianern gilt daher bis heute das
Jahr 1948 als eigentlicher Beginn des Bürgerkrieges.
Obwohl Gaitáns Anhänger den sofortigen Rücktritt von Ospina Pérez forder-
ten, verweigerte sich dieser. Die konservative Führung reagierte stattdessen mit
Repression, indem sie die gefürchtete Spezialpolizei POPOL (
Policía Política
)
einsetzte. Zu deren Aufgabe gehörte es unter anderem, die Gewerkschaften zu
überwachen sowie jegliche politische Aktivität der
gaitanistas
und anderer op-
positioneller Gruppen zu melden. Im November 1949 ließ Ospina zudem das
Parlament auflösen, nachdem es dort zu einer Schießerei gekommen war.
Da die Liberalen durch Repression und fehlende politische Garantien von den
folgenden Präsidentschaftswahlen ferngehalten wurden, hatte der Kandidat der
Konservativen leichtes Spiel. Laureano Gómez (1950–1953), der sich wie kaum
ein Politiker vor ihm durch politischen Radikalismus und religiösen Eifer aus-
zeichnete, stützte seine Macht vor allem auf die Streitkräfte. Durch die konse-
quente Politisierung von Polizei und Armee gelang es ihm, die bewaffnete
Staatsmacht von unliebsamen Liberalen zu "säubern" und ganz in den Dienst der
Konservativen zu stellen. Sein erklärtes Ziel war es, den Liberalismus auch auf
nationaler Ebene zu zerstören, was in vielen Landesteilen zu einer bis dahin un-
bekannten Eskalation der Gewalt führte. Aufgrund seiner schlechten Gesundheit
wurde Gómez zwar zeitweilig durch Roberto Urdaneta (1951–1953) ersetzt,
blieb aber bis Juni 1953 die bestimmende Kraft im Hintergrund.
In der Historiografie ist nach wie vor umstritten, inwieweit Gómez die Gewalt
auf dem Land ganz bewusst angeheizt hat und bis zu welchem Grad der "Staats-
terrorismus" jener Jahre zentral gesteuert war. Auch die Person Gómez’ wird je
nach ideologischer Richtung unterschiedlich charakterisiert, wobei die Band-
breite vom "religiösen Fanatiker mit faschistischen Anleihen" bis hin zum "Mo-
dernisierer" reicht.96 Da der Präsident nichts zur Beendigung der
Violencia
un-
95
Zum Beginn der
Violencia
sowie zu den genauen Umständen der Ermordung Gaitáns
siehe
Braun, Herbert.
1985.
The
Assassination of Gaitán. Public Life and Urban Violence in
Colombia
. Madison: Univ. of Wisconsin Press, S. 132–204.
96
Mittlerweile ist es zwar geläufig Laureano Gómez als fundamentalistischen Hardliner zu
charakterisieren, wie etwa bei
Uribe, María Victoria.
2004, S. 27 ff. In einigen neueren Stu-
dien wird dieses Bild jedoch teilweise revidiert. So stellt der US-Historiker James Henderson
fest, dass Gómez auch das Opfer politischer Propaganda und einer voreingenommenen libera-
47
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
47
ternahm, die politische Macht zunehmend auf seine Person konzentrierte und
weiterhin ohne die Legislative regierte, schuf er sich auch in den eigenen Reihen
zahlreiche Feinde. Vor allem moderate Konservative sahen sich ihrer politischen
Partizipationsmöglichkeiten beraubt und überlegten, wie sie das verlorene
Machtmonopol zurückerobern konnten. Um einem drohenden Staatsstreich
durch liberale und konservative Verschwörer zuvorzukommen, kehrte Gómez
am 13. Juni 1953 in den Präsidentenpalast zurück. Jedoch musste er am gleichen
Tag sein Amt wieder abgeben, als ihm General Gustavo Rojas Pinilla (1953–
1957) in einem unblutigen Militärputsch die Macht entriss. Dieser von dem libe-
ralen Politiker Darío Echandía als
golpe de opinión
bezeichnete Staatsstreich
wurde zwar von weiten Teilen des Volks begrüßt, war aber in erster Linie das
Werk der traditionellen Parteieliten sowie der neuen Machtelite des Militärs.
Paradoxerweise hatte die Zeit von 1945 bis 1956 auch eine positive Seite,
zumindest in makroökonomischer Hinsicht. Denn nach der Beendigung des
Zweiten Weltkrieges reagierte Kolumbien mit seinen Primärprodukten recht er-
folgreich auf die steigende Nachfrage des europäischen und des US-
amerikanischen Marktes, wobei insbesondere der steigende Kaffeepreis stimu-
lierend wirkte. In der Folge nahm die Kapitalakkumulation im Inland stark zu
und der wachsende industrielle Sektor konnte seine Produktionskapazität um
mehr als 56% steigern. Die Auslandsinvestitionen nahmen ebenfalls zu, da aus-
ländisches Kapital weitgehend steuerfrei importiert werden durfte. Hauptnutz-
nießer dieser Politik waren ausländische Unternehmen (v. a. US-amerikanische
Ölkonzerne) und die nationalen Eliten, wohingegen die unteren Schichten nur
bedingt vom Wirtschaftsboom profitierten.97
len Geschichtsschreibung geworden sei. Seine großen Leistungen als "Modernisierer" seien
hingegen in Vergessen geraten. Vgl.
Henderson, James.
2001.
Modernization in Colombia:
the Laureano Gómez Years, 1889–1965
. Gainesville u. a.: Univ. Press of Florida, S. 418–421.
97
Zum Paradoxon von Bürgerkrieg und Wirtschaftswachstum siehe
Palacios, Marco.
2
2003.
Entre la legitimidad y la violencia. Colombia, 1875–1994
. Bogotá: Norma, S. 191–235
u.
Tirado Mejía, Álvaro.
1991.
Colombia: siglo y medio de bipartidismo
. In: http://www.la-
blaa.org/blaavirtual/historia/colhoy/colo6.htm (26. Januar 2008).
48
48
Kapitel I
3.2 Von der
Violencia
zu den
violencias
Der als
Violencia
bekannt gewordene Bürgerkrieg begann unter der Regierung
von Mariano Ospina Pérez im Jahre 1946.98 Zunächst handelte es sich um einen
politischen Konflikt zwischen den Anhängern der Liberalen und der Konserva-
tiven, der überwiegend auf dem Land ausgefochten wurde. Bereits seit Beginn
der 30er Jahre, in einer Phase liberaler Hegemonie, war es gelegentlich zu Zu-
sammenstößen zwischen den Anhängern beider Parteien gekommen. Obwohl
viele Konservative sich unter der liberalen Herrschaft marginalisiert fühlten,
stellten die Auseinandersetzungen noch keine Gefährdung der öffentlichen Ord-
nung dar; wohl auch deswegen, weil die liberale Regierung auf übertriebene
Repressionsmaßnahmen verzichtete. Nichtsdestotrotz führte der Ausschluss der
Konservativen vom politischen Prozess zu einer steigenden Unzufriedenheit un-
ter den Parteianhängern, von denen einige nach einer gewaltsamen Lösung rie-
fen. Die konservative Machtübernahme im Jahre 1946 bot schließlich Gelegen-
heit zur Rache. Mit fortschreitender Radikalisierung und Mobilisierung durch
die Parteien verlagerten sich die Auseinandersetzungen zunehmend in die Städ-
te. Hierbei war zu beobachten, dass die staatlichen Autoritäten immer öfter Par-
tei für die Konservativen ergriffen. Diese Haltung äußerte sich vor allem in der
Unterdrückung der liberalen Gewerkschaften und der Verfolgung ihrer Führer.
In dieser angespannten Situation gewann der populistische Politiker Jorge
Eliécer Gaitán die Unterstützung der unteren Schichten und der Arbeiter.99 Als
begabter Redner fiel es ihm leicht, die Unzufriedenheit der Massen zu kanalisie-
ren und alle sozialen Missstände der kolumbianischen Oligarchie anzulasten.
Gaitán konnte zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine lange und erfolgreiche Kar-
riere als Akademiker und Politiker zurückblicken. Nach dem Studium der
Rechts- und Politikwissenschaften an der Nationaluniversität in Bogotá hatte er
von 1926 bis 1928 im Fachbereich Rechtswissenschaften an der
Sapienza
in
98
An historischen Darstellungen zur Zeit der
Violencia
herrscht kein Mangel. Bei der fol-
genden Darstellung stütze ich mich auf die Standardwerke von
Guzmán Campos,
Germán/Orlando
Fals Borda/Eduardo Umaña Luna.
81977.
La Violencia en Colombia.
Estudio de un proceso social
. 2 Bde. Bogotá: punta de lanza;
Oquist, Paul.
1978.
Violencia,
conflicto y política en Colombia
. Bogotá: Instituto de Estudios Colombianos;
Pécaut, Daniel.
1987.
L’ordre et la violence
. Paris: École des Hautes Études en Sciences Socialesu.
Sánchez,
Gonzalo/Donny Meertens.
1983.
Bandoleros, gamonales y campesinos. El caso de la vio-
lencia en Colombia
. Bogotá: El Áncora.
99
Zu Leben, Werk und Denken des liberalen
caudillo
siehe
Sierra Montoya, Jorge Emi-
lio.
1997.
El pensamiento político de Jorge Eliécer Gaitán
. Bogotá: Plaza & Janes.
49
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
49
Rom promoviert. Anschließend war er als liberaler Kongressabgeordneter be-
kannt geworden, der sich besonders für eine gerechtere Landverteilung einsetz-
te. Daneben hatte er in Bogotá als Jura-Professor an der Nationaluniversität so-
wie an der
Universidad Libre
unterrichtet. Als Bürgermeister von Bogotá
(1936), Erziehungsminister (1940–1942) und Arbeitsminister (1943/44) war er
für eine Serie wichtiger sozialer Reformen verantwortlich gewesen. Von beson-
derer Bedeutung in dieser Zeit war seine groß angelegte Alphabetisierungskam-
pagne.
Gaitáns anti-oligarchischer Diskurs, der sowohl mit nationalistischen als auch
mit sozialistischen Elementen angereichert war, rief in zunehmendem Maße den
Unmut der Führungsriege der Liberalen Partei hervor. So kam es, dass die Par-
teispitze für die Präsidentschaftswahlen von 1946 den eher gemäßigten und li-
nientreuen Kandidaten Gabriel Turbay aufstellte. Der bei den Volksmassen po-
pulärere Gaitán widersetzte sich dieser Entscheidung, indem er sich als Gegen-
kandidat positionierte. Nur aufgrund der daraus resultierenden Zersplitterung der
Liberalen Partei gelangten die Konservativen nach mehr als 16 Jahren an die
Macht.
Aufgrund seiner stetig wachsenden Anhängerschaft gelang es Gaitán in der
Folgezeit, die Liberale Partei unter seiner Führung zu einen. Bei den Kongress-
wahlen von 1947 erlangten die
gaitanistas
die Mehrheit in beiden Kammern,
und am 24. Oktober proklamierten ihn die Liberalen endgültig zum
jefe único
.
Für die Präsidentschaftswahlen des Jahres 1950 galt er somit als aussichtsreich-
ster Kandidat.
Die Hauptachse seines politischen Diskurses bildete die manichäische Unter-
scheidung zwischen dem
país nacional
und dem
país político
. Ihm zufolge be-
fand sich das "politische" Kolumbien im Würgegriff oligarchischer Partikular-
interessen und stand kurz davor, an den internen Streitigkeiten der korrupten
Machteliten zugrunde zu gehen. Das "nationale" Kolumbien hingegen, das heißt
die Masse der einfachen Bürger, sei von der Oligarchie vernachlässigt worden.
Es sei daher die Aufgabe der Politik, einen Ausgleich zwischen den Klassen
herzustellen und die sozioökonomischen Bedingungen der einfachen Menschen
zu verbessern.100
100
Vgl. hierzu
Green, John.
1997. Kolumbianische Volksbewegungen und Massenmobi-
lisierungen. In: Altmann, Werner/Thomas Fischer/Klaus Zimmermann (Hgg.).
Kolumbien
heute
. Frankfurt a. M.: Vervuert, S. 188 ff. sowie
Pécaut.
2003, S. 37 ff. u. 126.
50
50
Kapitel I
In der Historiografie herrscht indes Uneinigkeit bezüglich der wahren politi-
schen Intentionen Gaitáns. Vor allem seine Vorstellung vom
país nacional
ist in
jüngster Zeit kritisiert worden. Verschiedene Quellen weisen darauf hin, dass er
den "unzivilisierten" Massen insgeheim ablehnend gegenüber stand. Von ande-
rer Seite ist Gaitán hingegen zum mythischen "Mann des Volkes" erhoben wor-
den, der sowohl liberale als auch konservative Tugenden repräsentiert habe.101
Da die unteren Schichten trotz des enormen Wirtschaftswachstums keine
Verbesserung ihrer materiellen Lebensbedingungen erfuhren und auch vom poli-
tischen Prozess ausgeschlossen waren, gewann Gaitáns Diskurs an sozialer
Sprengkraft. Im Jahre 1948 herrschte bereits ein allgemeines Klima der Unruhe
und in einigen Landesteilen war die öffentliche Ordnung zusammengebrochen.
Gaitán machte sich diese explosive Situation zunutze und rief zu gewaltigen
Protestmärschen gegen die Regierung auf. Einige dieser Versammlungen, wie
die
marcha del silencio
oder die
marcha de las antorchas
sind der Bevölkerung
Bogotás bis heute im Gedächtnis geblieben. Im Januar 1948 präsentierte er der
Öffentlichkeit schließlich sein so genanntes
Memorial de Agravios
102, in dem er
die staatliche Repression sowie die besondere Schuld einiger Minister anpran-
gerte.
Am 9. April 1948 um 13:05 Uhr, als er gerade seine Anwaltskanzlei im Zent-
rum Bogotás verlassen hatte, fiel Gaitán den Schüssen des geistig verwirrten
Juan Roa Sierra zum Opfer. Sofort stürzte sich eine Menschenmenge auf den
Attentäter und lynchte ihn. Anschließend verbreitete sich die Nachricht von
Gaitáns Tod wie ein Lauffeuer durch die Stadt, und in kürzester Zeit scharten
sich die Anhänger des liberalen
caudillo
zusammen, um ihrem Zorn freien Lauf
zu lassen. Für die meisten
gaitanistas
bestand kein Zweifel, dass die Konserva-
tiven für die Ermordung ihres Führers verantwortlich waren. Aus diesem Grund
wurde der Präsidentenpalast, in dem sich Ospina Pérez mit seiner Familie ver-
schanzt hatte, zum primären Angriffsziel der Meute. Während sich Gruppen von
gaitanistas
Straßenschlachten mit der Polizei lieferten, gingen andere dazu über,
101
Bislang haben es nur wenige Autoren gewagt, am "Mythos" Gaitán zu rütteln. So z. B.
Vásquez Higuera, Julio César.
1992.
Gaitán: mito y realidad de un caudillo
. Tunja: Servi-
cios Gráficos.
102
Diese "Beschwerdeschrift" ist eine Anspielung auf das berühmte gleichnamige Doku-
ment des Neu-Granadiners Camilo Torres, in der dieser im Jahre 1809 die Verfehlungen des
spanischen Mutterlandes öffentlich anprangerte und eine Gleichbehandlung von Amerika-
Spaniern (
criollos
) und gebürtigen Spaniern (
peninsulares
) einforderte. Hierzu
König, Hans-
Joachim.
1988.
Auf dem Wege zur Nation: Nationalismus im Prozess der Staats- und Nation-
bildung Neu-Granadas 1750 bis 1856
. Stuttgart: Steiner, S. 102–109.
51
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
51
bestimmte Gebäude, die sie für Symbole der Oligarchie hielten, anzuzünden.
Mehr und mehr artete die Situation zu einer Schlacht aller gegen alle aus. Zahl-
reiche Soldaten und Polizisten waren bald auf die Seite der
gaitanistas
gewech-
selt, so dass regierungstreue "Spezialpolizisten" aus dem nördlich der Hauptstadt
gelegenen Departement103 Boyacá, die so genannten
chulavitas
, nach Bogotá
beordert wurden. Die anfänglichen Schießereien steigerten sich im Laufe des
Tages zu einem unkontrollierten Blutvergießen, und im gesamten Zentrum von
Bogotá, das fast vollständig in Flammen aufging, kam es zu Plünderungen,
Mord und Totschlag. Schätzungen zufolge kostete der
bogotazo
etwa 2.500
Menschenleben.104
Es blieb aber nicht bei der Verwüstung der Hauptstadt. Wie ein Flächenbrand
breitete sich die Nachricht von der Ermordung Gaitáns in den nächsten Tagen
über das gesamte Land aus. Ähnliche Szenen wie in Bogotá ereigneten sich in
der Folge auch in zahlreichen Provinzhauptstädten, wobei es mancherorts zur
Gründung revolutionärer Juntas kam. Trotz der vorübergehenden Ausnahmesi-
tuation wehrte Präsident Ospina Pérez alle Rücktrittsforderungen erfolgreich ab.
Unter Aufbietung sämtlicher bewaffneter Einheiten gelang es ihm sogar, die
meisten lokalen Aufstände im Keim zu ersticken. Als Auslöser des
bogotazo
machten die Konservativen im Anschluss aber nicht etwa ihre eigene repressive
Politik aus, sondern den "internationalen Kommunismus". Der Grund für diese
Behauptung, die sich bis heute in Teilen der Historiografie hält, liegt in den be-
sonderen Umständen der Revolte. Denn von März bis Mai 1948 war Bogotá Sitz
der IX. Panamerikanischen Konferenz, auf der die Gründung der Organisation
Amerikanischer Staaten (OAS) beschlossen wurde. Wie konservative Ideologen
nach 1959 zusätzlich hervorhoben, befand sich außerdem der junge Fidel Castro
als Mitglied einer Studentendelegation in Bogotá. Da die Delegation angeblich
die Konferenz sprengen wollte, sei ihm und anderen "Kommunisten" die Ermor-
dung Gaitáns sehr gelegen gekommen. Von linker Seite wird – erwartungsge-
mäß – nicht selten das genaue Gegenteil vermutet. Demnach habe die konserva-
tive Regierung (mit Hilfe der USA) die Gelegenheit ergriffen, einen unliebsa-
men "Revolutionär" loszuwerden.105
103
Als
departamentos
(Departements) werden die 32 politischen Verwaltungseinheiten
Kolumbiens bezeichnet. Hinzu kommt der
Distrito Capital
(Hauptstadtdistrikt) von Bogotá.
104
Vgl.
Braun.
1985, S. 170 f. Eine eindrucksvolle, anhand von Zeitzeugeninterviews re-
konstruierte Geschichte des
bogotazo
liefert
Alape.
1983.
105
Einen guten Überblick zu dieser Kontroverse bietet
Bushnell.
2003, S. 276 ff.
52
52
Kapitel I
Gaitáns Tod löste eine Welle der Gewalt aus, die sich von Bogotá ausgehend
über das gesamte Hochland ausbreitete. Ab diesem Zeitpunkt entschieden sich
die Liberalen, die konservativen Kräfte systematisch zu bekämpfen und die libe-
rale Parteiführung griff aktiv in den Konflikt ein. Nicht zuletzt aus diesem
Grund gilt den Kolumbianern der 9. April 1948 als tatsächlicher Beginn der
Violencia
, obwohl vereinzelte Kampfhandlungen schon vorher stattgefunden
hatten.
Die Ausschreitungen vom 9. April bewirkten nicht nur eine Ausweitung der
Gewalt, sondern auch eine allgemeine Radikalisierung. So hatte, wie bereits an-
gesprochen, mit dem Wirtschaftsboom die soziale Ungleichheit zugenommen.
Aufgrund dieses Umstandes entwickelte sich bei immer größeren Teilen der un-
teren und mittleren Schichten das Bewusstsein, unter der Herrschaft einer kor-
rupten und ausbeuterischen Oligarchie zu leben. Auch wenn konservative Politi-
ker und Vertreter der katholischen Kirche mit allen Mitteln versuchten, dieses
"gefährliche", weil ihrer Meinung nach destabilisierende Denken, zu unterdrü-
cken, kam es zur Radikalisierung eines Teils der Arbeiter und Bauern. Es ent-
standen die ersten liberalen Guerillas.106
Die verschiedenen Guerillagruppen wiesen in der Anfangsphase noch keine
deutlich strukturierte Ideologie auf, obwohl einige ihrer Mitglieder bereits mit
marxistischen bzw. sozialistischen Ideen in Kontakt gekommen waren. Die Gue-
rilleros jener Jahre sahen sich in erster Linie noch als Anhänger des diffusen
gaitanismo
, in dem sie eine Art sozialreformerischen Liberalismus sahen. Eine
Radikalisierung nach sozialistischem Muster setzte auf breiter Front erst nach
1959 ein, das heißt im Anschluss an die kubanische Revolution. Die tragende
Rolle der Liberalen Partei äußerte sich zum Beispiel darin, dass ihre Vorsitzen-
den Darío Echandía Olaya und Carlos Lleras Restrepo höchstpersönlich Mittel
für die Aufständischen beschafften. Die Zentren der liberalen Guerillas befanden
sich schwerpunktmäßig in den Departements Tolima, Antioquia, Cundinamarca,
Santander sowie in der weitläufigen Region der Llanos Orientales. Den höchsten
Bekanntheitsgrad erlangten dabei die Guerilleros letzterer Region, die unter an-
derem von Eliseo Velásquez, Eduardo Franco Isaza, Dumar Aljure und Guada-
lupe Salcedo geführt wurden; Persönlichkeiten, um die sich bis heute zahlreiche
Legenden ranken. Als bemerkenswerteste Taten der Guerilleros blieben jedoch
weniger ihre zahlreichen Siege gegen die Regierungstruppen in Erinnerung. Im
Gegenteil, was sich bis heute in einigen kolumbianischen Geschichtsbüchern
106 Zur Entstehung der liberalen Guerillas siehe
Sánchez/Meertens.
1983, S. 29–61.
53
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
53
findet, ist die so genannte
Ley del Llano
.107 Dabei handelte es sich um eine Art
"Provinz-Verfassung", die im Jahre 1952 entstand, nach dem Bruch der Gueril-
leros mit der Liberalen Partei. Das Dokument enthält zahlreiche Bestimmungen
zum Aufbau einer regionalen Verwaltung, einen Vorschlag zur Reform des
Straf- und Zivilrechts sowie verschiedene Anregungen zur Schaffung neuer Ge-
setze mit sozialreformerischem Charakter. Sowohl die Interpretation dieses Tex-
tes als auch die politischen Intentionen der Guerilla nach 1952 werden von der
Historiografie unterschiedlich beurteilt.
Um den liberalen Guerillas Einhalt zu gebieten, setzte Laureano Gómez ab
1950 ganz auf militärische Mittel. Anstatt den soziopolitischen Hintergrund des
Konfliktes zu analysieren, verschrieb er sich der Bekämpfung des Liberalismus
in all seinen Ausprägungen. Zu diesem Zwecke setzte er vor allem die gefürch-
tete
chulavita
-Polizei ein. Dabei handelte es sich keineswegs um staatlich aus-
gebildete Polizisten, sondern vielmehr um radikalisierte Anhänger der Konser-
vativen, die keine Hemmungen hatten, für "Gott und Vaterland" zu töten. In den
meisten Fällen waren die aus einem sehr konservativen Teil des Departements
Boyacá stammenden
chulavitas
gewöhnliche Verbrecher, die von den staatli-
chen Autoritäten aus dem Gefängnis entlassen wurden, um Jagd auf Liberale zu
machen. Priester versprachen ihnen dafür zusätzlich noch das "Seelenheil".
Denn, wie die meisten Historiker mittlerweile anerkennen, waren auch diverse
Funktionsträger der katholischen Kirche in die Gräueltaten der 1940er und 50er
Jahre verstrickt. So herrscht kein Mangel an Quellen, in denen katholische
Geistliche den konservativen "Polizisten" einprägen, dass es keine Sünde sei,
einen "gottlosen" Liberalen umzubringen.108
In mindestens gleichem Maße berüchtigt wie die
chulavitas
waren auch die so
genannten
pájaros
.109 Diese konservativen Banden arbeiteten ebenfalls eng mit
Lokalpolitikern und der katholischen Kirche zusammen, wobei ihr Aktionsge-
biet vor allem den nördlichen Teil des Departements Valle del Cauca umfasste.
107
Abgedruckt und kommentiert in
Guzmán/Fals Borda/Umaña Luna.
1977, Bd. 2, S.
55–151.
108
Hierzu
Guzmán/Fals Borda/Umaña Luna.
1977, Bd. 1, S. 270–274. Zur wider-
sprüchlichen Rolle der katholischen Kirche während der
Violencia
bzw. im Verlauf des sich
anschließenden bewaffneten Konflikts siehe auch
LaRosa, Michael.
2000.
De la derecha a la
izquierda: la iglesia católica en la Colombia contemporánea
. Bogotá: Planeta.
109
Anhand von Zeitzeugeninterviews schildert der Schriftsteller, Journalist und Soziologe
Alfredo Molano die von
chulavitas
und
pájaros
verübten Grausamkeiten. Hierzu
Molano,
Alfredo.
1985.
Los años del tropel. Relatos de la violencia
. Bogotá: CEREC u. a.
54
54
Kapitel I
Als berühmtester und zugleich berüchtigtster Führer der
pájaros
ging León
María Lozano, alias "El Cóndor", in die Geschichte ein. Noch Jahrzehnte nach
seinem gewaltsamen Tod wurde er zum Protagonisten eines Romans und eines
überaus erfolgreichen Kinofilms, denn in exemplarischer Weiser verkörpert sei-
ne Figur die Besonderheit jener Phase der
Violencia
: exzessive Grausamkeit.110
So war es durch die Radikalisierung der Liberalen und den Einsatz der konser-
vativen Banden zu einer beispiellosen Ausweitung des Terrors gekommen.
Weil es die bewaffneten Banden in der Regel vermieden, sich frontal anzug-
reifen, suchten sie sich ihre Opfer vornehmlich unter der Zivilbevölkerung, um
dem "Fisch das Wasser abzugraben". Den Familien des Gegners – in der Regel
mittellose Campesinos – ließen die Banden eine geschriebene Nachricht zu-
kommen, in der sie aufgefordert wurden, binnen einer bestimmten Frist die Re-
gion zu verlassen. Wenn die Betroffenen dieser Aufforderung nicht nachkamen,
brachten die zumeist konservativen Täter sie grausam um. Mit der Zeit wurde
diese in Kolumbien noch heute übliche Methode des
boleteo
zum landesweiten
"Standard", wobei jedoch die politische Komponente immer mehr an Bedeutung
verlor.111 Begünstigt durch die allgemeine Gesetzlosigkeit nutzten die bewaffne-
ten Banden stattdessen ihre militärische und politische Macht, um sich persön-
lich zu bereichern. In vielen Fällen griffen die Täter nicht einmal mehr zum Mit-
tel des
boleteo
, wenn sie sich fremdes Land aneignen wollten. Als Vorwand ge-
nügte es dann, bei einem konservativen Lokalpolitiker auf die Parteizugehörig-
keit des Opfers zu verweisen. Auf diese Weise kam es zu unzähligen Massakern
an der Zivilbevölkerung, während vor allem konservative Politiker ihren Groß-
grundbesitz erheblich erweitern konnten.
Gemessen an der Zahl der Toten stellte die "erste Phase" der
Violencia
, die in
etwa den Zeitraum von 1948 bis 1953 umfasst, den Höhepunkt des Terrors ge-
gen die Zivilbevölkerung dar.112 Da die einzelnen Banden oft zu schlecht ausge-
rüstet waren, um die reguläre Armee oder die gegnerische Guerilla auf dem Feld
zu schlagen, hatten die Kämpfe zwischen Liberalen und Konservativen einen
stark asymmetrischen Charakter angenommen. Neben der Guerillataktik erwies
110 Siehe auch Kap. III, 2.1.3 u. 4.2.
111
Vgl. hierzu
Waldmann, Peter.
2007.
Guerra civil, terrorismo y anomía social. El caso
colombiano en un contexto globalizado
. Bogotá: Norma, S. 308 ff.
112
Die nicht nach Regionen aufgeschlüsselten Opferstatistiken lassen zumindest den
Schluss zu, dass es verschiedene Phasen der Gewalt gab. Demnach starben während der "frü-
hen
Violencia
" (1945–1953) ca. 194.000 Personen und während der "späten
Violencia
"
(1954–1966) ca. 35.000 Personen eines gewaltsamen Todes. Vgl.
Oquist.
1978, S. 322 ff.
55
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
55
sich vor allem die Verbreitung von Furcht als geeignetes Mittel, den Gegner ab-
zuschrecken und die Zivilbevölkerung zu kontrollieren.113 Aus diesem Grund
gingen die Banden dazu über, ihre vermeintlichen Feinde exemplarisch zu be-
strafen und deren Leichen nach bestimmten Ritualen zu verstümmeln. In zahl-
reichen Fällen zündeten sie das Haus des Gegners an, nachdem sie alle darin le-
benden Personen getötet und in Stücke gehackt hatten. Frauen und Mädchen
wurden in der Regel vorher vergewaltigt. Anschließend stellten die Banditen
einzelne Körperteile an gut sichtbaren Orten aus oder "verschickten" sie an
eventuelle Hinterbliebene.
Mit der Zeit kam es so zu einer regelrechten "Theatralisierung" des Schre-
ckens, wobei die Bandenmitglieder auf ein umfangreiches Repertoire bizarr an-
mutender Tötungsmethoden und Todesrituale zurückgriffen.114 Die Namen be-
stimmter Schnitte mit der Machete, wie zum Beispiel der berüchtigte
corte de
corbata
, sind vielen Kolumbianern bis heute geläufig.115 Dabei wurde dem be-
reits toten Opfer mit der Machete ein faustgroßes Loch zwischen Kinn und Hals
geschnitten, durch das anschließend die Zunge gezogen wurde. So entstand der
Eindruck einer "Krawatte". Ebenfalls bekannt sind der
corte de mica
und der
corte de franela
. In diesen Fällen wurde der Kopf des Opfers abgetrennt, wobei
er bei letzterer Variante an einigen Sehnen oder Muskeln mit dem Rumpf ver-
bunden blieb. Daneben spielten auch bestimmte Anordnungen der Leichen oder
burleske Tötungszeremonien, wie zum Beispiel das Musizieren während der
Hinrichtungen, eine wichtige Rolle. In den ländlichen Zonen Kolumbiens, wo
viele Leute zwar katholisch, in nicht geringem Maße jedoch auch abergläubisch
sind, verfehlten diese grausamen Tötungen ihre Wirkung nicht. Aufgrund der
Unmöglichkeit, das Gesehene in Worte zu fassen, verwandelten sich die "per-
versen" Gewalttäter in eine nahezu mythische Kraft, die mit finsteren Mächten
im Bunde zu stehen schien. Die Anthropologin María Victoria Uribe weist in
diesem Zusammenhang darauf hin, dass zum Beispiel die "unerklärlichen" Mas-
113
Eric Lair ist der Meinung, dass dem Mittel der Furcht eine wichtige Rolle in Kolum-
biens Binnenkonflikt zukommt. Denn der Kampf gegen einen übermächtigen Feind – z. B. die
reguläre Armee – zwinge bewaffnete Banden und
warlords
geradezu, zum Mittel der exemp-
larischen Abschreckung zu greifen. Hinter der Drohkulisse verberge sich jedoch militärische
Schwäche sowie das Unvermögen, weitläufige Territorien zu kontrollieren. Vgl.
Lair, Eric.
1999. El terror, recurso estratégico de los actores armados. Reflexiones en torno al conflicto
colombiano. In:
Análisis Político
(Mai–August, Bogotá), Nr. 37, S. 60–72.
114
Hierzu
Uribe.
1991.
115
Zu den verschiedenen Tötungsarten siehe
Guzmán Campos/Fals Borda/Umaña Lu-
na
. 1977, Bd. 1, S. 226–230.
56
56
Kapitel I
saker der
chulavitas
in den Departements Tolima und Valle del Cauca zu einem
Teil des kollektiven Gedächtnisses der dortigen Bevölkerung geworden sind.116
Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass ähnliche Tötungsrituale auch im be-
waffneten Konflikt der Gegenwart anzutreffen sind. So ist es beispielsweise zum
"Markenzeichen" der rechtsgerichteten Paramilitärs geworden, ihre Opfer mit
der Motorsäge zu zerteilen.
Neben den Bezeichnungen der einzelnen Todesarten haben auch andere Be-
griffe aus der Zeit der
Violencia
überlebt. Die bis heute am bekanntesten und
umgangssprachlich am häufigsten verwendeten Termini dürften "sapo" und "pa-
sar al papayo" sein. Während mit "sapo" ein Verräter qualifiziert wird, steht "pa-
sar al papayo" für die Tötung eines Menschen. Gemeinsam mit einer großen
Zahl von Kunstwerken und literarischen Verarbeitungen weisen diese sprachli-
chen Überreste auf die kulturellen Folgen jener Epoche hin. Nicht wenige Auto-
ren sehen deshalb in der
Violencia
den Beweis für die Existenz einer endemi-
schen "Gewaltkultur", die bis heute die sozialen Beziehungen in Kolumbien
präge und neben der eindeutig feststellbaren Kultur der politischen Gewalt zum
eigentlichen Übel des Landes geworden sei.117 Auf die kulturellen Nachwirkun-
gen jener Zeit, die von der Historiografie bisher weitgehend ignoriert worden
sind, komme ich an späterer Stelle ausführlich zu sprechen.
Obwohl die Anfangsphase der
Violencia
von einer gewissen Irrationalität ge-
prägt war, spielten im Hintergrund stets auch ökonomische Motive eine Rolle.
Trotz der plakativen Grausamkeit war nicht zu übersehen, dass viele bewaffnete
Banden im Auftrag mächtiger Einzelpersonen handelten, deren Interessen nur
selten rein politischer Natur waren. Bei genauem Hinsehen wird vielmehr offen-
sichtlich, dass sich die
Violencia
zu Beginn der 50er Jahre von einem ursprüng-
lich politischen zu einem zunehmend sozioökonomischen Konflikt wandelte.
Dazu passt, dass die bewaffneten Banden zunächst nur in bestimmten Zonen
des Hochlandes agierten. Insbesondere in Kaffeeanbau-Regionen sowie in Ge-
genden mit hoher Grundbesitzkonzentration ereigneten sich die grausamsten
Vorfälle.118 Da Kaffee auch auf relativ begrenzten Flächen gewinnbringend an-
gebaut werden konnte, hatte sich in einigen Regionen Kolumbiens die Subsis-
116 Vgl.
Uribe.
2004, S. 52 f.
117
In diesem Sinne
Waldmann.
2007, S. 293–320.
118
Zur Verbindung von Kaffeeökonomie und
Violencia
siehe
Arocha, Jaime
. 1979.
La
Violencia en el Quindío: determinantes ecológicos y económicos del homicidio en un munici-
pio caficultor
. Bogotá: Tercer Mundo u.
Bolívar, Ingrid Johanna.
2003.
Violencia política y
formación del Estado
. Bogotá: CINEP, S. 67–84.
57
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
57
tenzbewirtschaftung kleiner Parzellen durch einzelne Familien etabliert. Diese
Campesinos mussten sich im Unterschied zu den so genannten
jornaleros
nicht
als saisonale Arbeitskräfte auf großflächigen Haziendas oder Plantagen verdin-
gen. Mit dem steigenden Kaffeepreis auf dem Weltmarkt wuchsen allerdings
auch die Begehrlichkeiten vieler Großgrundbesitzer. Die
Violencia
lieferte ihnen
schließlich den willkommenen Vorwand, ihre bereits vorhandenen Besitzungen
zu "arrondieren". Ein Zusammenhang, der größtenteils auch von der Historio-
grafie anerkannt wird. Demnach war es kein Zufall, dass die
Violencia
in den
Departements Huila, Santander, Valle del Cauca und Tolima begann und sich
zwischen 1951 und 1953 auf das gesamte Hochland sowie die Großregion der
Llanos Orientales ausbreitete. Ab 1954, in der so genannten "zweiten Phase" des
Bürgerkrieges, konzentrieren sich die Massaker vor allem auf Antioquia, Caldas,
Cauca, Valle del Cauca und Tolima. Die meisten anderen Landesteile, insbeson-
dere die Küstenregionen sowie der äußerste Süden Kolumbiens, hatten hingegen
nur wenige Opfer zu beklagen oder blieben ganz verschont.119
Durch die direkte oder indirekte Beteiligung der beiden Traditionsparteien
begünstigte die
Violencia
auch die Konstruktion klar definierter Parteienidentitä-
ten auf dem Land. Da die Kampfgruppen der Liberalen und der Konservativen
stets versuchten, "ihre" Zonen vom mutmaßlichen Feind zu "säubern", wurden
ganze Departements zu Hochburgen der einen oder der anderen Partei. Nach der
gewaltsamen Vertreibung des Gegners setzten lokale Parteiführer den Kliente-
lismus als Mittel zur Absicherung der Gefolgschaft ein. Jahrzehntelang zwangen
sie so der ungebildeten Landbevölkerung ihre Parteizugehörigkeit auf, dämoni-
sierten die Anhänger der gegnerischen Partei und erklärten sie in letzter Konse-
quenz zu "Erbfeinden". Als Liberaler oder Konservativer wurde man sprich-
wörtlich "geboren".120
Auf nationaler Ebene trug insbesondere die manichäische Politik des konser-
vativen Machthabers Laureano Gómez dazu bei, den für Kolumbien charakteris-
tischen
bipartidismo
zu verfestigen und eine Verhandlungslösung unmöglich zu
machen. Sein letztes politisches Manöver im Jahre 1953 war in dieser Hinsicht
besonders vielsagend: Mit einer Reform der Verfassung von 1886 wollte Gómez
die konservative Hegemonie für immer festschreiben lassen und einen korpora-
119
Eine detaillierte Karte zur Ausbreitung der
Violencia
im Jahre 1962 findet sich bei
Sánchez/Meertens.
1983, S. 17.
120
Zu Entstehung und Tradierung gewaltbereiter politischer Subkulturen siehe
López de
la Roche, Fabio.
1995. Condicionamientos culturales de la violencia en Colombia. In:
Uni-
versitas Humanística
, Nr. 42 (Juli–Dezember, Bogotá), S. 67–80.
58
58
Kapitel I
tistischen Staat unter der Führung eines absolutistisch regierenden Präsidenten
errichten. Vorbild für dieses System, das sich im wirtschaftlichen Bereich para-
doxerweise an liberalen Vorstellungen wie Handelsfreiheit und unbeschränktem
Kapitalverkehr orientierte, war erklärtermaßen die Diktatur Francos in Spanien.
Obwohl die
Violencia
von 1948 bis 1953 proportional am meisten Todesopfer
forderte, ist Gómez’ Verantwortung recht schwierig zu erfassen, da er mit Aus-
nahme des Jahres 1950 keine direkte politische Macht ausübte. Unbestritten ist
allerdings, dass der charismatischste Repräsentant der Konservativen Partei
durch seine Reden, seine Zeitung
El Siglo
sowie über das Radio zur Verbreitung
der dualistischen Version vom Kampf der "gottesfürchtigen" Konservativen ge-
gen die "kommunistischen" Liberalen beitrug. Den kolumbianischen Liberalis-
mus betrachtete er als Vorhut einer internationalen Bewegung, die von Moskau
aus gesteuert wurde. Geschickt bediente er sich der Massenmedien, um das
"Volk", das er im Grunde zutiefst verachtete, vom "heimlichen Kommunismus"
der Liberalen zu überzeugen. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang
sein vielfach zitierter Vergleich der Liberalen Partei mit der mythologischen Fi-
gur des "Basilisken": "Nuestro basilisco camina con pies de confusión y de inse-
guridad, con piernas de atropello y de violencia, con un inmenso estómago
oligárquico, con pecho de ira, con brazos masónicos y con una pequeña, diminu-
ta cabeza comunista pero que es la cabeza."121
Obgleich es nicht einfach ist, Gómez eine direkte Beteiligung an den zahlrei-
chen Morden, Vertreibungen und Verwüstungen der frühen 50er Jahre nachzu-
weisen, war sein Einfluss als "geistiger Brandstifter" beträchtlich. Zwar mögen
bewaffnete konservative Gruppen auf regionaler und lokaler Ebene teilweise
autonom gehandelt haben, doch agierten sie in einem gewalttätigen Klima, das
Politiker wie Gómez erst heraufbeschworen und angeheizt hatten. Der von un-
zufriedenen Anhängern der Liberalen und der Konservativen orchestrierte
golpe
de opinión
machte seine autoritären Pläne jedoch definitiv zunichte.
Bis auf einige treue Gómez-Anhänger waren sich die wichtigsten Persönlich-
keiten beider Parteien einig, den populären Gustavo Rojas Pinilla als "Über-
gangsdiktator" zu akzeptieren. Der als "Retter des Vaterlandes" titulierte Gene-
ral sollte die liberalen Guerillas zum Aufgeben bewegen und der willkürlichen
Gewalt von staatlicher Seite ein Ende setzen. Des Weiteren hatte seine Regie-
rung die Aufgabe, Voraussetzungen für demokratische Wahlen zu schaffen. So-
fort nach seiner Machtergreifung widmete sich Rojas daher der dringendsten
121
El Siglo
vom 27. Juni 1949.
59
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
59
aller Fragen: der Beendigung der
Violencia
. Zu diesem Zweck bot er zunächst
den liberalen Guerilleros eine Amnestie an, die von den meisten Kämpfern auch
angenommen wurde. Lediglich einige radikale Liberale sowie die sich selbst als
"kommunistisch" bezeichnenden Guerillas verweigerten sich dem Angebot. Die-
se Gruppen wiesen stattdessen darauf hin, dass sie den
golpe de opinión
als ex-
klusive und daher unglaubwürdige Angelegenheit der Parteieliten ansahen. Al-
ternative Meinungen, wie etwa die der Kommunistischen Partei, waren zu ihrem
Unmut nicht eingeholt worden. Diese Guerilleros hatten ihr Vertrauen in den
Staat bereits verloren und waren nicht an einer Verhandlungslösung interessiert.
Für sie kam zu diesem Zeitpunkt nur noch die gewaltsame Überwindung der
etablierten Ordnung in Frage.
In der öffentlichen Meinung kamen die Befriedungsversuche des Militärs
dennoch gut an, weswegen General Rojas bald auch mit den übrigen an der
Vio-
lencia
beteiligten Gruppen verhandelte. Am 13. Juni 1954 trat schließlich ein
generelles Amnestiegesetz in Kraft, das für liberale und konservative Banden-
mitglieder gleichermaßen galt. Die erhoffte Friedens-Begeisterung in der Bevöl-
kerung hielt sich allerdings in Grenzen. Denn nur wenige Tage zuvor, am 8. und
9. Juni, war es in Bogotá zu Massakern der Armee an demonstrierenden Studen-
ten gekommen. Mit dieser blutigen Tat begann die so genannte "zweite Phase"
der
Violencia
, die im Unterschied zur "ersten Phase" durch die stärkere Einbe-
ziehung der Armee gekennzeichnet war.
So sahen es die Streitkräfte ab 1954 als ihre Hauptaufgabe an, die verbliebe-
nen Guerillas gewaltsam zu vernichten. Den Anfang machte die Bombardierung
der Dörfer Villarica und Cunday, die als Stützpunkte der Kommunisten galten.
In Wirklichkeit handelte es sich bei den meisten Opfern der Offensive um de-
mobilisierte liberale Ex-Guerilleros, die an der Legitimität der Regierung ge-
zweifelt hatten. Verständlicherweise bewirkten derartige Militäraktionen das
Gegenteil des Intendierten; denn nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Rep-
ression formierten sich neue Widerstandsgruppen auf dem Land, die sich zwar
zum Teil aus ehemaligen liberalen Guerilleros rekrutierten, im Wesentlichen
aber den traditionellen Parteien ablehnend gegenüber standen. In diesen Ge-
meinden des ländlich-bäuerlichen Widerstandes, den so genannten
autodefensas
campesinas
, bewirkte Rojas’ antikommunistische Rhetorik im Verbund mit Mi-
litärschlägen, dass sich viele Guerilleros nun erst recht sozialistischen Ideen an-
60
60
Kapitel I
näherten.122 Zwischen 1954 und 1957 spielten sich die Kämpfe zwischen den
Regierungstruppen und der linksgerichteten Guerilla vor allem in den Departe-
ments Tolima, Huila, Caldas, Valle del Cauca, Cauca und Santander ab. Trotz
der allgemeinen Politisierung existierten zu diesem Zeitpunkt aber immer noch
Banden, für die ethnische oder religiöse Motive eine Rolle spielten. So kam es
beispielsweise in mehreren Landesteilen zur Verfolgung und Ermordung von
Protestanten. Wie eine neue Studie zur
Violencia
im DepartementAntioquia
zeigt, wurden so zumindest in der Zeit bis 1953 Hunderte von Schwarzen und
Indianern alleine aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu Opfern des be-
waffneten Konflikts.123
Insgesamt betrachtet waren die "Befriedungsmaßnahmen" der Militärregie-
rung kaum von Erfolg gekrönt. Spätestens ab 1956 zeigte sich vielmehr, dass
eine Diktatur noch lange kein Garant für die Aufrechterhaltung der öffentlichen
Ordnung war. Erschwerend für Rojas kam weiterhin hinzu, dass er sich mit den
alteingesessenen Eliten überwarf. So hatte er bereits kurz nach der Machtergrei-
fung erkennen lassen, dass er nicht gewillt war, als deren Erfüllungsgehilfe zu
fungieren. Zum Beweis unternahm die Militärregierung gewaltige Anstrengun-
gen, Kolumbien zu modernisieren. Hierzu zählten vor allem Infrastrukturmaß-
nahmen auf dem Land, der Bau des Großflughafens
Eldorado
in Bogotá, die
Einführung des Fernsehens und die Ausweitung der Gesundheitsversorgung.
Durch eine Politik der maßvollen Umverteilung erhoffte sich Rojas zudem, von
den traditionellen Parteien unabhängig zu werden und eine eigene Massenbasis
aufbauen zu können. Zum Zwecke seiner Wiederwahl gründete er sogar eine
eigene Partei mit der Bezeichnung
Tercera Fuerza
. Dahinter stand die Absicht,
eine klassenübergreifende Allianz aus Arbeitern, mittleren Schichten und der
Armee zu schmieden. In programmatischer Hinsicht orientierte er sich dabei vor
allem an der katholischen Soziallehre und einem diffusen "Bolivarismus", das
122
Zu den kontraproduktiven Folgen der Militärschläge unter Rojas siehe
Palacios
. 2003,
S. 228 ff. Anfangs handelte es sich bei den meisten
autodefensas campesinas
um autonome
Notgemeinschaften vertriebener liberaler Bauern, die lediglich über eine rudimentäre politi-
sche und soziale Organisation nach vage definierten sozialistischen Prinzipien verfügten. Der
Politikwissenschaftler Eduardo Pizarro weist jedoch darauf hin, dass einige dieser angebli-
chen "Selbstverteidigungsgruppen" direkt von der Kommunistischen Partei ins Leben gerufen
worden seien. Vgl.hierzu
Pizarro, Eduardo.
2004.
Una democracia asediada. Balance y
perspectivas del conflicto armado en Colombia
. Bogotá: Norma, S. 85 f.
123
Siehe
Roldán, Mary.
2003.
A sangre y fuego. La Violencia en Antioquia, Colombia,
1946–1953
. Bogotá: Instituto Colombiano de Antropología e Historia, S. 145–282.
61
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
61
heißt an der "Notwendigkeit" einer nationalen Einigung unter zentralistischer
Führung.124
Obwohl Rojas im Jahre 1957 noch über einen gewissen Rückhalt in der Be-
völkerung verfügte, wollten ihn die traditionellen Machteliten um jeden Preis
loswerden. Der Widerstand gegen seine Regierung ging dabei nicht allein von
den Parteien aus, sondern wurde auch von einer Protestbewegung aus Kirche,
Gewerkschaften und Studenten getragen. Es handelte sich jedoch keineswegs
um einen alle Schichten erfassenden "Volksaufstand", wie manche Historiker
bis heute behaupten. Tatsächlich fanden die Proteste ausschließlich in den grö-
ßeren Städten statt und wurden zumeist von den politischen Eliten geschürt, wo-
hingegen die unteren Schichten nachweislich nur wenig Anteil an den Vorgän-
gen hatten. Selbst die Gewerkschaften zeigten sich gegenüber den Protestaufru-
fen von Seiten der Parteien eher skeptisch.125 Was Rojas am meisten Probleme
bereitete, waren ohnehin nicht die Demonstrationen auf der Straße, sondern die
von den Eliten inszenierte Wirtschaftsblockade. Seine Gegner kontrollierten
nämlich nicht nur wichtige politische Institutionen, sondern auch einen großen
Teil des Banken- und Industriesektors, der sich dem "zivilen Ungehorsam" füg-
sam anschloss. Dies hatte zur Folge, dass Anfang Mai 1957 so gut wie alle Ban-
ken und die meisten Geschäfte geschlossen blieben. Daneben kam es zu emp-
findlichen Ausfällen in der Industrieproduktion, zu Einschränkungen im Trans-
port- und Verkehrswesen sowie zur Bestreikung sämtlicher Bildungseinrichtun-
gen.
Die Gründe für den Streik waren offensichtlich: Rojas hatte nicht nur den
verhängnisvollen Fehler begangen, die traditionellen Parteieliten aus dem Staat
zu verdrängen, sondern mit seinen autoritären Maßnahmen auch die übrigen
Interessen-Gruppen brüskiert. So hatte er missliebige Zeitungen126 schließen
lassen, Demonstrationen gewaltsam niedergeschlagen, die Bürgerrechte fort-
während missachtet, die Kommunistische Partei verboten sowie seine politi-
schen Gegner von Planung und Ausführung seines Modernisierungsprogramms
ausgeschlossen.
124
Zu Rojas’ "Ideologie" siehe
Bushnell.
2003, S. 292–301.
125
Vgl.
Dávila Ladrón de Guevara, Andrés.
2002.
Democracia pactada. El Frente Na-
cional y el proceso constituyente del 91
. Bogotá: CESO, S. 63.
126
Dabei handelte es sich um die konservative Zeitung
El Siglo
sowie um die liberalen
Blätter
El Tiempo
und
El Espectador
. Seltsamerweise interessierte sich Rojas aber kaum da-
für, dass die letzten beiden weiterhin unter anderem Namen erschienen.
62
62
Kapitel I
Da die traditionellen Parteieliten von Rojas "enttäuscht" waren, schlossen sie
sich ein weiteres Mal zusammen, um eine politische Intervention vorzubereiten.
Die beiden wichtigsten Parteiführer, Alberto Lleras für die Liberalen und Lau-
reano Gómez für den einflussreichsten Flügel der Konservativen, einigten sich
am 24. Juli 1956 im katalanischen Benidorm auf die Ablösung der Militärregie-
rung. Nach mehreren Folge-Treffen kamen sie zu dem Schluss, dass an die Stel-
le der Diktatur das neue System des
Frente Nacional
treten sollte.127 Dieses
Koalitionsabkommen sah einen automatisch alternierenden Regierungswechsel
vor, wobei die Legislative sowie die öffentlichen Organe unabhängig vom
Wahlergebnis paritätisch besetzt werden sollten.128 Die Dauer des
Frente Na-
cional
wurde auf 16 Jahre begrenzt, und den Liberalen die erste Legislaturperio-
de zugesprochen, da sich die in mindestens fünf Flügel zersplitterten Konserva-
tiven, die ursprünglich zuerst regieren wollten, auf keinen Kandidaten hatten
einigen können.
Am 10. Mai 1957 gab Rojas schließlich dem Druck von allen Seiten nach und
trat zurück. Bevor er ins Exil ging, setzte er eine fünfköpfige Militärjunta ein,
die ein mögliches Blutvergießen verhindern sollte. Diese neue, "demokratisie-
rungswillige" Junta arbeitete eng mit den traditionellen Parteieliten zusammen
und bereitete für den 1. Dezember 1957 ein Plebiszit vor, das dem System des
Frente Nacional
als Legitimationsgrundlage diente. Doch obwohl Rojas seinen
Posten geräumt hatte, fühlte er sich gänzlich unschuldig. Er berief sich hingegen
darauf, mehr für die unteren Schichten getan zu haben, als alle seine Vorgänger
zusammen. In diesem Sinne behauptete er wenige Jahre später vor einem Tribu-
nal des Kongresses, dass es den armen Kolumbianern – immerhin zwei Drittel
der Bevölkerung – unter seiner Herrschaft eher besser als schlechter ergangen
sei; zumindest in materieller Hinsicht.129 Dass diese Einschätzung tatsächlich
zutreffend war, glauben viele Kolumbianer bis heute. In aktuellen Zeitungen
wird Rojas daher nicht selten als ein "Freund des Volkes" beschrieben.130 Ob-
wohl die nachfolgenden Regierungen die Hauptschuld an der
Violencia
mit Vor-
127 Das alternierende System wurde zunächst
Frente Civil
genannt.
128
Zur genauen Funktions- und Wirkungsweise des Zwei-Parteien-Paktes siehe
Hartlyn,
Jonathan.
1988.
The Politics of Coalition Rule in Colombia
. Cambridge: Cambridge Univ.
Press.
129
Vgl.
Rojas Pinilla, Gustavo.
1959.
Rojas Pinilla ante el Senado. El gobierno militar
ante la historia
. Bogotá: Excelsior, S. 175.
130
So bezeichnet der Soziologe Carlos Castillo Cardona den Diktator in einer aktuellen
Zeitungskolumne als "tirano benévolo". Vgl.
El Tiempo
vom 13. August 2006.
63
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
63
liebe dem Ex-Diktator zuschoben, schadete dies seinem Ansehen erstaunlich
wenig. Im Gegenteil, sämtliche Vorwürfe und Drohungen konnten nicht verhin-
dern, dass Rojas nach Kolumbien zurückkehrte und eine neue Partei gründete.
Mit seinem links-populistischen Bündnis
Alianza Nacional Popular
(ANAPO)
gelang es ihm 1970 sogar beinahe, die traditionellen Eliten von der Macht zu
verdrängen.131 Es wundert daher nicht, dass die historiografische Kontroverse
über Leistungen und Verfehlungen der Militärregierung noch immer anhält.
Während Rojas im Exil bereits seine Rückkehr nach Kolumbien vorbereitete,
begannen die Eliten mit dem Aufbau des neuen Systems. Die von den Parteien,
den Gewerkschaften, der Kirche sowie den Wirtschafts- und Berufsverbänden
beworbene Volksabstimmung wurde zum großen Erfolg für ihre Initiatoren: mit
mehr als 90% Zustimmung und einer Wahlbeteiligung von über 70% wurde der
Frente Nacional
eingeführt.132 Damit war die
Violencia
jedoch nicht zu Ende.
Unter der Regierungszeit von Alberto Lleras (1958–1962) trat sie vielmehr in
ihre "dritte Phase" ein. Diese bis ca. 1963 andauernde Epoche wird in der Histo-
riografie als Zeit des
bandolerismo
bezeichnet. Trotz neuer Amnestiegesetze
gelang es der Regierung nicht, eine Antwort auf die sozialen und politischen
Forderungen der zunehmend radikalen Guerillas zu finden. Im Unterschied zu
den liberalen Guerillas früherer Zeiten verlangten diese zum Teil von der Kom-
munistischen Partei abhängigen Gruppen nämlich eine groß angelegte Landre-
form; das politische System Kolumbiens zweifelten sie nun prinzipiell an. Wäh-
rend einige dieser Gruppen in abgelegenen Landesteilen daran arbeiteten, die
Landbevölkerung in ihre sozialistischen Projekte einzubinden, wandten sich an-
dere Guerilleros von ihren ursprünglich politischen Idealen ab. Als marodieren-
de Banden – motiviert von Rache und der Aussicht auf schnellen Reichtum –
durchstreiften sie das Hochland Kolumbiens.
Angesichts dieser gegenläufigen Tendenzen ist es schwierig, das Bandenun-
wesen jener Zeit auf einen Nenner zu bringen: die Bandbreite reichte dabei vom
populären Anführer mit "Robin Hood"-Attitüde bis zum grausamen Sadisten.
131
Nach Ansicht vieler in- und ausländischer Beobachter
ist
es ihm gelungen, die traditio-
nellen Eliten zu besiegen. Als am Wahlabend die ANAPO mit deutlichem Vorsprung führte,
beschloss die amtierende Regierung eine Informationssperre. Am folgenden Tag hatte der
offizielle Kandidat des
Frente Nacional
mit einer hauchdünnen Mehrheit von 1,6% "gewon-
nen". Obwohl sofort von Wahlbetrug und Manipulation die Rede war, akzeptierte Rojas das
Ergebnis. Vgl. hierzu
Bushnell.
2003, S. 313.
132
Vgl.
Cámara de Representantes (Hg.).
1959.
Por qué y cómo se forjó el Frente Na-
cional
. Bogotá: Imprenta Nacional, S. 45.
64
64
Kapitel I
Legendäre
bandoleros
, die Fantasienamen wie "Capitán Venganza", "Sangre-
negra" oder "Desquite" trugen, wurden nach ihrem gewaltsamen Tod in zahllo-
sen Geschichten, Gedichten und Liedern verewigt. Ihre Namen und Taten sind
vielen Kolumbianern bis heute geläufig.133
Gegen Ende des Jahres 1963 gaben die meisten
bandoleros
schließlich dem
wachsenden Druck der Staatsmacht nach und kehrten unter dem Schutz von
Amnestiegesetzen in die Gesellschaft zurück. Diejenigen, die sich weigerten,
bezahlten zumeist mit ihrem Leben. Es gelang der Regierung hingegen nicht,
auch die Enklaven der
autodefensas campesinas
einzunehmen. Denn im Gegen-
satz zu den oftmals parteigebundenen
bandoleros
"traditioneller" Prägung er-
wiesen sich die autonomen Bauerngemeinschaften als ungleich hartnäckiger und
radikaler. Zwar hatte das System des
Frente Nacional
den blutigen Zwist der
beiden Großparteien weitgehend entschärft. Dritte Akteure, wie die kommunis-
tisch orientierten Bauerngemeinschaften, sahen jedoch keine Möglichkeit, mit
demokratischen Mitteln am politischen Prozess teilzunehmen. Aus diesem
Grund lehnten sie den Staat prinzipiell ab und schufen eigene, unabhängige Ge-
meinwesen.
Als die Armee im Mai 1964 die autonome Siedlung Marquetalia bombardier-
te, die eine Hochburg der
autodefensas
im Grenzgebiet zwischen den Departe-
ments Huila und Tolima war, hatte dies weitreichende Folgen: die militärische
Aktion führte nur zwei Jahre später zur Gründung der linksgerichteten
Fuerzas
Armadas Revolucionarias de Colombia
(FARC; derzeit ca. 10.000–17.000
Kämpfer), die bis heute aktiv gegen die Regierung kämpft und maßgeblich für
die Destabilisierung des kolumbianischen Staates verantwortlich ist.134 In den
folgenden Jahren – ebenfalls provoziert durch den monolithischen Charakters
des politischen Systems – entstanden noch weitere Widerstandsgruppen mit un-
terschiedlicher, meist "linker" Ideologie. So gründete sich im Jahre 1965 der
Ejército de la Liberación Nacional
(ELN; momentan ca. 5000 Kämpfer), im
Jahre 1967 der
Ejército Popular de la Liberación
(EPL; 1991 zum größten Teil
demobilisiert), im Jahre 1974 der
Movimiento 19 de Abril
(M-19; gegen Ende
der 1990er Jahre in eine politische Partei umgewandelt) und im Jahre 1984 die
133 Vgl.
Sánchez/Meertens.
1983, S. 60 f. u. 186.
134
Zur Entstehung der FARC siehe
Pizarro, Eduardo.
1991.
Las FARC (1949–1966): de
la autodefensa a la combinación de todas las formas de lucha
. Bogotá: IEPRI u. a.
65
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
65
indigenistische
Quintín Lame
-Guerilla (zu Beginn der 1990er Jahre demobili-
siert).135
Als letzte Gewaltakteure traten schließlich in den 1980er Jahren die mächti-
gen Drogenbanden ("Kartelle" bzw.
narcos
) und die rechtsgerichteten Paramili-
tärs auf. Somit ist Kolumbien das einzige Land Lateinamerikas, in dem rechts-
oder linksgerichtete Gruppen noch immer das Gewaltmonopol des Staates un-
tergraben und einen Krieg auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausfechten.
Aus der historischen
Violencia
ist mittlerweile ein komplexes Geflecht ver-
schiedener
violencias
geworden. Zur Gewalt der Paramilitärs, Guerilleros und
Drogenkartelle ist in den letzten Jahrzehnten noch ein dramatischer Anstieg der
Bandenkriminalität hinzugekommen, was sich vor allem in den Großstädten
bemerkbar macht.136 Dennoch steht die Zahl der Opfer des aktuellen Konflikts
in keinem Verhältnis zum immensen Blutzoll der 1940er und 50er Jahre.137
3.3 Der
Frente Nacional
und seine Nachwirkungen
Obwohl die erste
Frente Nacional
-Regierung unter Albero Lleras noch auf die
Zustimmung weiter Teile der Gesellschaft bauen konnte, nahm die Zufriedenheit
mit dem alternierenden System rasch ab. Den nachfolgenden Präsidenten Guil-
lermo León Valencia (1962–1966), Carlos Lleras Restrepo (1966–1970) und
Misael Pastrana (1970–1974) gelang es immerhin, den kolumbianischen Staat zu
modernisieren und die Wirtschaft kräftig anzukurbeln. Bis 1974 befand sich das
Land zudem in einer relativ friedlichen Phase, obwohl sich in entlegenen Lan-
desteilen marxistische Guerillagruppen halten konnten. Diese zahlenmäßig un-
bedeutenden Rebellenverbände wurden allerdings lange Zeit kaum beachtet.
135
Zu den Guerillas im Allgemeinen siehe ders. 1996.
Insurgencia sin revolución: la gue-
rrilla en Colombia en una perspectiva comparada
. Bogotá: Tercer Mundo u. a.
136
Zur Dimension der "gewöhnlichen" Kriminalität siehe
Ziss, Roland.
1997. Gewalt in
Kolumbien: eine Gesellschaft im Notstand. In: Altmann, Werner/Thomas Fischer/Klaus
Zimmermann (Hgg.).
Kolumbien heute
. Frankfurt a. M.: Vervuert, S. 213–234.
137
Schätzungen zufolge fordert der Konflikt zwischen Regierung, Paramilitärs und Gueril-
la jährlich mehr als 3000 Todesopfer. Die Zahl der Opfer der
Violencia
beläuft sich hingegen
auf über 200.000. Siehe hierzu
Alta Comisionada de las Naciones Unidas para los Dere-
chos Humanos
. 2006.
Informe sobre la situación de los derechos humanos en Colombia.
In:
http://www.hchr.org.co/documentoseinformes/informes/altocomisionado/Informe2005_esp.pd
f (26. Januar 2008).
66
66
Kapitel I
Warum kam es angesichts dieser tendenziell positiven Entwicklung dennoch zu
einem massiven Vertrauensverlust in der Bevölkerung?
Zum einen war das Verhältnis der Bevölkerung zum
Frente Nacional
mehr
und mehr von Desinteresse und Desillusion geprägt. Der exkludierende Charak-
ter des politischen Systems hatte bewirkt, dass die Wahlbeteiligung auf teilweise
unter 30% gefallen war. Der entscheidende Faktor für den Verlust der politi-
schen Glaubwürdigkeit war jedoch die gescheiterte bzw. fehlende Sozialpolitik.
Obwohl die Wirtschaft jährlich um bis zu 6% wuchs, hatte der stark bürokrati-
sierte Staat keine Antwort auf die Massenarmut gefunden. Zwar war die Mittel-
schicht breiter geworden, die Gesellschaftsstruktur glich insgesamt aber noch
immer stark der Zeit vor 1958.138
Nur so ist es zu erklären, warum es dem populären Ex-Diktator Rojas Pinilla
im Jahre 1970 beinahe gelungen wäre, die alteingesessenen Eliten vom Thron zu
stürzen. Genau wie während seiner ersten Regierung versprach er, die Armen
und die untere Mittelschicht am Wohlstand teilhaben zu lassen. In einer diffusen
Mischung aus Katholizismus, Konservatismus und Sozialismus gelang es der
ANAPO, zahlreiche Anhänger zu mobilisieren. Bei den Wahlen vom 19. April
1970 unterlag Rojas jedoch völlig unerwartet dem offiziellen Kandidaten Misael
Pastrana. Da der Stimmenunterschied nur 1,6% betrug und während der Wahl
zahlreiche Unregelmäßigkeiten aufgetreten waren, kam es zu heftigen Protesten
gegen die Regierung. Obwohl sich die ANAPO niemals von der "Niederlage"
erholen konnte und mit Rojas’ Tod im Jahre 1974 endgültig zerfiel, hatte das
Ereignis weitreichende Konsequenzen. Angesichts der als wahrscheinlich ge-
ltenden Wahlmanipulation waren viele Kolumbianer überzeugt, dass es keine
legale Möglichkeit gab, die Hegemonie der traditionellen Parteieliten zu bre-
chen. Eine im Jahre 1974 gegründete Guerillagruppe machte das Datum der
mutmaßlichen Wahlfälschung sogar zu ihrem Namen:
Movimiento 19 de Abril
(M-19).
Obwohl das alternierende System des
Frente Nacional
im Jahre 1974 offiziell
zu Ende ging, war seine Wirkung bis weit in die 90er Jahre spürbar. Seine
Schöpfer hatten zwar die formale Stabilität des Systems erreicht, in negativer
Hinsicht trug der Pakt jedoch zur strukturellen Verfestigung des Zwei-Parteien-
Systems bei. So kam es auch in den 80er und 90er Jahren weder zu einer Partei-
endifferenzierung noch zu einem partizipatorischen Staat. Für das
state building
zusätzlich erschwerend hat sich seit Beginn der 80er Jahre die steigende Bedeu-
138 Vgl. hierzu
Dávila Ladrón de Guevara.
2002, S. 50 f. u. 96 f.
67
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
67
tung der Drogenökonomie ausgewirkt. In diesem Wirtschaftszweig, der einen
nicht unwesentlichen Teil des Volkseinkommens ausmacht, ist Kolumbien
weltweit führend.139 Die negativen Implikationen des illegalen Geschäfts sind
bezüglich ihrer Auswirkungen auf Staat, Gesellschaft und Wirtschaft kaum ab-
zuschätzen.
Hinsichtlich der international angeprangerten Menschenrechtsverletzungen,
offensichtlicher Demokratiedefizite sowie der anhaltenden Gewalt hat auch Ko-
lumbiens moderne Verfassung von 1991 keine Abhilfe geschaffen. Klientelis-
mus und Partikularismus sind weiterhin die bestimmenden Determinanten des
politischen Systems und das Austarieren der politischen Richtungen ist die Re-
gel. Unter dem aktuellen Präsidenten Álvaro Uribe, einem Dissidenten der Libe-
ralen Partei, hat sich daran nur wenig geändert. Obwohl er zahlreiche Reformen
zur Entbürokratisierung sowie zur Effizienzsteigerung der Institutionen auf den
Weg gebracht hat, ist deren Implementierung mit großen Schwierigkeiten ver-
bunden. Um dem staatlichen Gewaltmonopol Geltung zu verschaffen, setzt er
auf die Rücknahme verfassungsmäßiger Rechte, die Einschränkung bürgerlicher
Freiheiten, die Militarisierung vormals ziviler Bereiche sowie die Intensivierung
des Kampfes gegen die Guerilla. Es ist ihm damit gelungen, die Gewalt in den
Städten spürbar zu senken und den meisten Bürgern ein Gefühl der Sicherheit zu
vermitteln. Daneben wächst die Wirtschaft gegenwärtig um ca. 7–8%, die Dro-
genmafia hat an Boden verloren, ein Prozess zur Demobilisierung der Paramili-
tärs ist im Gange und Verhandlungen mit der Guerilla scheinen möglich.140 Die
Popularität des Präsidenten ist in Folge dessen außerordentlich hoch, obwohl die
Nachhaltigkeit seiner Politik schwer abzuschätzen ist.141
4.
Q
UELLEN
,
M
ETHODEN UND
A
UFBAU
Um die verschiedenen Formen der Erinnerung adäquat zu erfassen, halte ich ei-
ne Erweiterung der konventionellen Quellenbasis für notwendig. Die Rolle der
139
Aktuell werden die Drogen-Einkünfte auf etwa 20–30% der Exporteinnahmen bzw. 4–
5% des BIP geschätzt. Sie entsprechen damit fast dem an erster Stelle stehenden Erdölexport.
Siehe
Thoumi.
2004, S. 35–66.
140
Menschenrechtsgruppen vermuten, dass es sich bei der Demobilisierung in Wirklich-
keit um eine schleichende "Legalisierung" handelt. Verbindungen zwischen Armee, Paramili-
tärs und Regierung sind seit längerem bekannt. Vgl.
El Tiempo
vom 20. April 2007.
141
Seit seinem Amtsantritt liegt die Zustimmung konstant bei etwa 70%.
68
68
Kapitel I
Massenmedien werde ich daher ebenso berücksichtigen wie die Funktion litera-
rischer Werke oder politischer Kunst. Denn Symbole und Allegorien, auf die
Kollektive zurückgreifen, um ihre Identität als gemeinsames Deutungsmuster
von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu konturieren, können genauso gut
die Form von Kalenderblättern oder Wandgemälden annehmen.142 Die Arten der
Vergangenheitsdarstellung sind potenziell unbegrenzt. Mit Blick auf die Seite
der Rezipienten möchte ich jedoch einräumen, dass es prinzipiell unmöglich ist,
die kollektive Erinnerung
der
Kolumbianer in ihrer Gesamtheit zu erfassen.
Auf der staatlich-institutionellen Ebene beschäftigt mich die Frage, welche
(in)formellen Beziehungen zwischen den einzelnen Entscheidungsträgern im
Bereich der Kultur- bzw. Geschichtspolitik existieren. Es handelt sich hierbei
vielfach um "ungeschriebenes Wissen", das durch das Raster einer quantitativen
Erhebung fallen würde. Auf der gesellschaftlichen Ebene untersuche ich darüber
hinaus, welchen konkreten Sinn soziale Akteure der Vergangenheit zuschreiben.
Aus diesem Grunde sowie zur besseren Lesbarkeit habe ich mich entschieden,
eine quellennahe Darstellung zu liefern, die sich an qualitativen Methoden
orientiert.
Methodische und theoretische Details vertiefe ich in den folgenden Kapiteln
anhand schriftlicher und bildlicher Quellen. Informelle Interviews, die ich zum
Zwecke der Informationsgewinnung geführt habe, dienen ausschließlich der Er-
weiterung des kontextuellen Rahmens. Auf eine Transkription dieser Interviews
habe ich daher verzichtet. In der zugehörigen Fußnote erfolgt lediglich ein Hin-
weis auf Ort und Datum des Gesprächs. Herausragende Ereignisse – wie etwa
der
bogotazo
vom 9. April 1948 – stehen stets am Anfang der jeweiligen Ab-
schnitte und werfen ein Schlaglicht auf die sich anschließenden Interpretationen.
Die Beantwortung der Leitfragen erfolgt immer eingebettet in ein kontextuelles
Datengerüst sowie im Rahmen der bereits besprochenen Theorien.
Aufgrund der vorausgegangenen Überlegungen halte ich eine Aufteilung der
Arbeit in vier Kapitel für sinnvoll. Nachdem ich im ersten Kapitel auf die theo-
retischen und methodischen Grundlagen sowie die historische Entwicklung ein-
gegangen bin, stehen sowohl die heuristischen Instrumente als auch die Ver-
gleichsgrundlagen zur Verfügung. Da die Darstellung der institutionellen Ebene
ebenfalls zahlreiche Kontextinformationen enthält, bildet sie das zweite Kapitel.
142
Dass eine derartig erweiterte Quellenbasis das Verständnis kultureller Prozesse fördern
kann, zeigt die Arbeit von
Rinke, Stefan.
2004.
Begegnungen mit dem Yankee. Nordameri-
kanisierung und soziokultureller Wandel in Chile, 1898–1990
. Köln: Böhlau. Besonders de-
ren theoretischer Teil (S. 1–31) verdient hier Beachtung.
69
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
69
Darauf aufbauend beschreibe ich im dritten Kapitel die Ausformung lokaler
Erinnerungskulturen, wobei es sich jeweils nur um Fallbeispiele handelt. Das
vierte Kapitel enthält schließlich eine Gegenüberstellung beider Ebenen sowie
die unterschiedlichen Vorschläge zur Gestaltung eines "sinnvollen" Erinne-
rungsdiskurses, verstanden als Beitrag zum Prozess der demokratischen Trans-
formation.
In methodischer Hinsicht ist die Erfassung der institutionellen Ebene am ein-
fachsten zu bewerkstelligen, da sie auf das Wirken der politischen Eliten fixiert
ist. Nachdem ich bereits einen historischen Überblick über die
Violencia
und
ihre Vorgeschichte gegeben habe (Kap. I, 4), werde ich klar definieren, wer die
politischen Eliten sind und auf welche Weise sie den Staat kontrollieren (Kap.
II, 1). Anschließend lege ich dar, wie die Eliten im Zeitraum von 1957 bis 1962
Geschichtspolitik betrieben haben. In dieser Zeit, die mit dem Beginn des
Frente
Nacional
zusammenfällt, sind die teilweise bis heute gültigen Interpretationen
der
Violencia
entstanden. Für diese Rekonstruktion haben sich insbesondere
Pressequellen als hilfreich erwiesen. Denn die Verbindungen zwischen politi-
scher Macht und Medien sind in Kolumbien so ausgeprägt wie in kaum einem
anderen Land der Region. Neben einer intensiven Quellenlektüre, bei der ich
mich vor allem auf Kongressakten, politische Reden und Memoiren stütze, steht
daher eine Presseanalyse zum Thema der
Violencia
im Mittelpunkt (Kap. II, 2).
Als historische Quelle können Presseprodukte zwar keinen Aufschluss bezüg-
lich der "öffentlichen Meinung" in einem bestimmten Zeitraum geben. Sie zei-
gen jedoch ausschnittartig,
worüber
nachgedacht und diskutiert wurde.143 Damit
unterstelle ich, dass sich die Gesellschaft in der "veröffentlichten Meinung" bis
zu einem gewissen Grad ein Bild von sich selbst macht. Politische Debatten und
Kommentare interpretiere ich somit als Ausdruck der politischen Auseinander-
setzung um die Vergangenheit.144
Anschließend befasse ich mich speziell mit den Gedenkveranstaltungen rund
um das Datum des 9. April 1948, der von gesellschaftlichen und politischen Ak-
teuren als Erinnerungsort beansprucht wird. Da dieser Tag für viele Kolumbia-
ner den eigentlichen Beginn der
Violencia
markiert, gibt die Beobachtung der
offiziellen Gedenkveranstaltungen Auskunft über den Wandel des politischen
Diskurses in der Zeit. Die dabei sichtbar werdenden Kämpfe um die Deutungs-
143
Vgl. hierzu
Kusche, Dagmar.
2002.
Nationale Identität und Massenmedien in Kolum-
bien, 1900–1930
. Stuttgart: Heinz, S. 37–43.
144
Vgl.
Klundt.
2000, S. 17.
70
70
Kapitel I
hoheit erlauben es, Rückschlüsse auf die kulturelle Verarbeitung der
Violencia
in der kolumbianischen Gesellschaft zu ziehen. Zu diesem Zweck habe ich die
konservative und liberale Berichterstattung zum 9. April im Abstand von jeweils
zehn Jahren (1958–2008) ausgewertet (Kap. II, 3).
Ein wichtiges geschichtspolitisches Werkzeug waren auch die unmittelbar
nach dem Beginn des
Frente Nacional
eingesetzten
Violencia
-Kommissionen
sowie die von der Regierung erlassenen Amnestiegesetze. Diese Maßnahmen
dienten zwar in offizieller Lesart der "Befriedung" des Landes, hatten aber zu-
gleich den Zweck, die historische Schuld der Eliten aus dem kollektiven Ge-
dächtnis zu löschen und einen Schlussstrich unter die blutige Vergangenheit zu
ziehen. Um die These von der "Politik des Vergessens" zu überprüfen, ist eine
genaue Analyse dieser politischen Instrumente unerlässlich (Kap. II, 4).
Obwohl Geschichtspolitik zwar primär von politischen und gesellschaftlichen
Eliten betrieben wird, kommt auch dem Bereich der historischen Forschung eine
wichtige Rolle zu. So können die Erkenntnisse der Historiker als Bestandteile
herrschaftslegitimierender oder herrschaftskritischer Diskurse auftreten. In Ko-
lumbien ist außerdem zu beobachten, dass sich mancher Politiker nebenbei als
"Historiker" betätigt. Auf der Implementierungsseite rücken daher vor allem
Bildungs- und Kultureinrichtungen sowie die geschichtswissenschaftliche For-
schung an den Universitäten ins Blickfeld.
Nachdem ich die grundlegenden Strukturmerkmale der Bereiche Wissen-
schaft, Kultur und Erziehung dargelegt habe, gehe ich zunächst auf die Rolle der
offiziellen Historiografie ein. Der Vollständigkeit halber beschreibe ich in die-
sem Abschnitt auch die allmähliche Erneuerung der Geschichtswissenschaften
durch die Anhänger der so genannten
Nueva Historia
. Da Geschichtspolitik wei-
terhin eine pädagogische Dimension hat, will ich im Anschluss die verschiede-
nen Schulgeschichtsbücher kritisch betrachten. Dabei werde ich Wandel und
Kontinuität der
Violencia
-Darstellung im Rahmen des Geschichtsunterrichts an
öffentlichen und privaten Schulen thematisieren. Zuletzt beleuchte ich schließ-
lich die Geschichtsdidaktik im Bereich der staatlichen Museen. Dabei steht die
Darstellung der
Violencia
im
Museo Nacional de Colombia
im Mittelpunkt
(Kap. II, 5).
Am Ende des zweiten Kapitels gehe ich nochmals auf die zuvor analysierten
Bereiche der Geschichtspolitik ein und fasse die wichtigsten Merkmale zusam-
men. Dieser kurze Abschnitt dient als Übergang und versucht zugleich eine
Antwort auf die Frage nach dem Charakter der seit 1957 in Kolumbien imple-
mentierten Geschichtspolitik zu geben. Handelte es sich dabei primär um eine
71
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
71
Strategie, das Wissen über die
Violencia
aus dem kollektiven Gedächtnis zu lö-
schen? Oder waren die Eliten vielmehr von dem Wunsch geleitet, die histori-
schen Ereignisse im Sinne einer aktiven Geschichtspolitik umzudeuten und eine
herrschaftslegitimierende Version der Vergangenheit durchzusetzen? An dieser
Stelle werde ich festhalten, ob in Bezug auf die Epoche der
Violencia
von einer
"dominanten Erinnerung" die Rede sein kann, oder ob vielmehr die Bezeichnung
"verbotene Erinnerung" angebracht ist (Kap II, 6).
Nach dieser Darstellung der institutionellen Ebene widme ich mich im dritten
Kapitel der gesellschaftlichen Verarbeitung der
Violencia
. Dabei ist jedoch eine
Konzentration auf die wirkungsmächtigsten Repräsentationen notwendig. Mein
Ziel ist es nicht, die kollektive Erinnerung der "subalternen Klassen" in ihrer
Gesamtheit darzustellen, was angesichts der fragmentarischen und höchst unter-
schiedlichen Interpretationen ohnehin ein unmögliches Unterfangen darstellen
würde. Es geht mir vielmehr darum, anhand einiger Fallbeispiele auf die Exis-
tenz alternativer Geschichtsversionen zu verweisen, die sich deutlich vom offi-
ziellen Diskurs abheben. Bevorzugt habe ich in diesem Zusammenhang jene
Repräsentationen der
Violencia
, die in Kolumbien ein breites Publikum gefun-
den haben und zusätzlich eine explizite Kritik an den politischen Eliten enthal-
ten. Im Feld der lokalen Erinnerungskulturen haben sich die Literatur, das Thea-
ter, der Film und die bildende Kunst als besonders wirkungsmächtig erwiesen
(Kap. III, 1).
Die Rolle der so genannten
Violencia
-Literatur analysiere ich auf der Grund-
lage ihrer gesellschaftlichen Zirkulation und ihrer Aneignung durch die Leser-
schaft. Vor allem Verkaufs- und Auflagenzahlen sowie der Einsatz als Schullek-
türe sind hierbei ein wichtiges Selektionskriterium gewesen. Daneben gibt es
aber auch bestimmte formale Aspekte, die ein literarisches Werk als Medium
des kollektiven Gedächtnisses auszeichnen. Als Beispiele für weithin bekannte
und vielgelesene
Violencia
-Romane gehe ich im Folgenden auf die Bücher
El
Cristo de espaldas
(1952),
El día señalado
(1963) und
Cóndores no entierran
todos los días
(1971) ein (Kap. III, 2.1). Anschließend behandle ich die wich-
tigsten Werke der Autoren Alfredo Molano und Arturo Alape, die als Vertreter
der so genannten Testimonial-Literatur gelten. Dieser Gattung, die im Wesentli-
chen auf der literarischen Umformung von Zeitzeugenberichten basiert und in
Kolumbien sehr populär ist, kommt eine besondere erinnerungskulturelle Funk-
tion zu (Kap. III., 2.2).
Im nächsten Abschnitt beschäftige ich mich ausführlich mit der Rolle des so
genannten
Nuevo Teatro Colombiano
, das sich vom "klassischen" Theater vor
72
72
Kapitel I
allem im Hinblick auf seine politischen Inhalte und Intentionen unterscheidet.
Das Medium Theater gewinnt in Kolumbien eine große Bedeutung, da das Land
im Vergleich zu den Nachbarstaaten über eine ausgeprägte Theaterkultur ver-
fügt, die sich an den Bedürfnissen der mittleren und unteren Schichten orientiert.
In diesem Sinne konzentriere ich mich an dieser Stelle auf die Arbeit der Grup-
pen TEC und
La Candelaria
, die bis heute als wichtigste Stellvertreter eines
volksnahen und politischen Theaters gelten. Im Zentrum der Analyse stehen die
Stücke
Los papeles del infierno
(1968) sowie
Guadalupe años sin cuenta
(1975), die sich beide mit der
Violencia
beschäftigen (Kap. III, 3).
Der vierte Abschnitt ist dem Medium Film gewidmet. Obwohl die kolumbia-
nische Filmindustrie außerordentlich schwach entwickelt ist und im Vergleich
zu den großen Hollywoodproduktionen kaum Marktanteile erreicht, sind Kino-
filme aufgrund ihrer hohen Verbreitung über das Fernsehen dennoch ein wichti-
ges erinnerungskulturelles Medium. Zwar konzentrieren sich die meisten aktuel-
len Kinoproduktionen auf Phänomene wie die alltägliche Gewalt oder die Aus-
wirkungen des Drogenhandels, dennoch existiert ein so genanntes
Cine de la
Violencia
, dessen Wurzeln in die 60er Jahre reichen. Allerdings sind die meisten
Produktionen, die sich explizit mit dem historischen Konflikt beschäftigen,
technisch mangelhaft und kaum bekannt. Trotzdem halte ich zumindest drei
Werke für erwähnenswert, da sie heutzutage als "Klassiker" des kolumbiani-
schen Films gelten. Es handelt sich dabei um
El río de las tumbas
(1964), die
Romanverfilmung
Cóndores no entierran todos los días
(1984) sowie
Confesión
a Laura
(1991), die direkt oder indirekt eine Deutung des Bürgerkrieges enthal-
ten (Kap. III, 4).
Darauf hin wende ich mich der bildenden Kunst zu, deren Wirkungsweise am
schwierigsten messbar ist. Lediglich Besucherzahlen, Kataloge und die Verbrei-
tung über unkonventionelle Medien wie Kalenderblätter oder Werbeartikel kön-
nen Aufschluss über die gesellschaftliche Bedeutung bestimmter Kunstwerke
geben. Obwohl der Begriff "bildende Kunst" ein weites Spektrum verschiedener
Gattungen insinuiert, konzentriere ich mich in diesem Abschnitt ganz auf die
Malerei. Die Epoche der
Violencia
haben malende Künstler wie Débora Arango,
Alejandro Obregón und Fernando Botero am wirkungsmächtigsten interpretiert
(Kap. III, 5).
Zuletzt widme ich mich der Sicht der bewaffneten Akteure. Obgleich weder
die linksgerichtete Guerilla noch die rechtsgerichteten Paramilitärs größere Teile
der Gesellschaft repräsentieren, ist die Darstellung ihrer Perspektive im Bezug
auf einen zukünftigen Friedensprozess dennoch unverzichtbar. Da jedoch die
73
Die Violencia: verbotene Erinnerung?
73
Epoche der
Violencia
lediglich im Geschichtsverständnis der FARC eine größe-
re Rolle spielt, konzentriere ich mich in diesem Abschnitt auf den Gründungs-
mythos dieser Organisation (Kap. III, 6).
Am Ende des Kapitels werde ich festhalten, warum die Betrachtung der alter-
nativen Erinnerungskulturen sich auf die Bereiche Literatur, Theater, Film und
Kunst beschränkt hat. Weitere Felder wie Musik, Fernsehen oder Radio wären
zwar denkbar, jedoch aufgrund formaler und inhaltlicher Aspekte viel schwerer
zu erfassen gewesen. Gleiches gilt für die erinnerungskulturelle Arbeit mancher
NROs. Nichtsdestotrotz zeigt die in diesem Kapitel vorgenommene Auswahl,
dass es in der Gesellschaft durchaus Stimmen gab und gibt, die den vorherr-
schenden politischen Diskurs kritisch hinterfragen. Zwar sind diese Stimmen
bislang nicht in der Lage, auf institutioneller Ebene den offiziellen Diskurs zu
ersetzen. Dennoch bilden sie die Grundlage eines zukünftigen Erinnerungsdis-
kurses, von dem der Erfolg der demokratischen Transformation wesentlich ab-
hängt (Kap. III, 6).
Ziel des vierten und letzten Kapitels ist es, das bis dahin Diskutierte in Form
einer Synthese zusammenzufassen und zu bewerten (Kap. IV, 3). Zuvor gilt es
jedoch, die Bedeutung der
Violencia
für den Prozess der demokratischen Trans-
formation in Kolumbien herauszuarbeiten. Es stellt sich die Frage, welche Ak-
teure gegenwärtig daran interessiert sind, diese lange vergessene und oftmals
fehlinterpretierte Epoche über institutionelle Kanäle zu verbreiten, und ob damit
ein Demokratisierungseffekt verbunden ist (Kap. IV, 1). Von besonderer Bedeu-
tung ist in diesem Zusammenhang die Tätigkeit der von der Regierung einge-
setzten CNRR (Kap. IV, 2). Handelt es sich dabei um den ersten ernsthaften
Versuch einer staatlichen Anerkennung des vor über 50 Jahren geschehenen Un-
rechts?
74
75
II. Geschichtspolitik seit 1957
Entonces no cabe la palabra agresiva, no cabe
la palabra que invite al rencor, no cabe sino la
palabra buena que invite al olvido […]1
(
Carmenza Rocha, Abgeordnete der Liberalen
Partei, im August 1959
)
1.
K
OLUMBIENS TRADITIONELLE
E
LITEN UND DAS POLITISCHE
S
YSTEM
Da der bewaffnete Konflikt noch immer die zentrale Determinante des politi-
schen und gesellschaftlichen Lebens in Kolumbien ist, hat es bislang von staatli-
cher Seite nur wenig Interesse gegeben, die problematische Vergangenheit auf-
zuarbeiten. Bevor ich mich jedoch im vierten Kapitel der Arbeit mit der aktuel-
len Situation auseinandersetze, möchte ich zunächst herausfinden, auf welche
Weise Politiker, Journalisten, Historiker und Lehrer in der Anfangszeit des
Frente Nacional
mit dem Thema der historischen
Violencia
umgegangen sind.
Es geht mir im Folgenden darum, die politische Instrumentalisierung bzw. Ta-
buisierung des Themas in der Zeit unmittelbar nach 1957 herauszuarbeiten. Da-
bei wird sich zeigen, ob die staatliche Geschichtspolitik tatsächlich eine Auslö-
schung des historischen Bewusstseins über die
Violencia
zum Ziel hatte; und
wenn ja, ob sie dabei erfolgreich war. In diesem Zusammenhang ist es unerläss-
lich, einen kurzen Blick auf die wichtigsten Akteure dieser Politik zu werfen:
die politischen Eliten. Denn nur wenn eindeutig geklärt ist, welche Gruppen bis
heute aktiv Geschichtspolitik betreiben, welche Instrumente ihnen hierfür zur
Verfügung stehen und unter welchen Rahmenbedingungen sie ihre Herrschaft
ausüben, werden die verschiedenen Auslegungen der
Violencia
überhaupt ver-
ständlich.
1.1 Die Wiederherstellung des
país político
Marco Palacios schreibt, dass die grundlegenden Bilder und Konzeptionen über
die Epoche der
Violencia
, so wie sie bis heute wirken, in der Anfangszeit des
Frente Nacional
geformt worden seien. Demnach sei es den politischen Eliten
gelungen, den Konflikt der 1940er und 50er Jahre als eine Auseinandersetzung
der "unzivilisierten" Volksmassen auf dem Land umzudeuten. Es sei ihnen nur
1
Anales del Congreso.
1959, Nr. 160, S. 2027
76
76
Kapitel II
wenig daran gelegen, die nationale Dimension der
Violencia
zu diskutieren, ge-
schweige denn aufzuarbeiten. Im Gegenteil, die durch die Massenmedien infor-
mierte Stadtbevölkerung sollte in erster Linie vom "irrationalen Krieg" der
Campesinos erfahren. Dabei, so Palacios, stellten die maßgeblichen "Mei-
nungsmacher" die verübten Verbrechen vielfach so dar, als ob sie nicht der
Menschheitsgeschichte, sondern eher der "Naturgeschichte" zuzuordnen seien.2
Dass während der Militärdiktatur von Rojas Pinilla keine Aufarbeitung der
Verbrechen erfolgte, ist nachvollziehbar. Da der Diktator eng mit einem Teil der
traditionellen Eliten3 zusammenarbeitete und in nicht geringem Maße selbst zur
weiteren Eskalation beitrug, kam eine öffentliche Diskussion über Ursachen und
Folgen der
Violencia
in dieser Zeit kaum in Betracht. Ebenso wenig war an die
Durchführung gerichtlicher Untersuchungen oder die Einrichtung von Wahr-
heitskommissionen zu denken. Stattdessen erließ Rojas Amnestiegesetzte, die in
gewissem Sinne einem staatlich verordneten Vergessen gleichkamen. Es stellt
sich allerdings die Frage, warum
nach
1957 immer noch keine Anstrengungen
unternommen wurden, das Thema ernsthaft anzugehen. Wie ist dieses Verhalten
der politischen Entscheidungsträger zu erklären? Kann in diesem Zusammen-
hang von einer "Politik des Vergessens", einem "Pakt des Schweigens" oder gar
einer "kollektiven Amnesie"4 die Rede sein; oder ist vielmehr Palacios’ Behaup-
tung zutreffend, der zufolge es den politischen Eliten gelungen sei,
eine
Erinne-
rung durchzusetzen? Welche Gruppen waren überhaupt im
Frente Nacional
ver-
treten; welche waren ausgeschlossen?
Allgemein formuliert stellte das alternierende System einen Triumph derjeni-
gen Sektoren dar, die bereits vor 1953 über politischen Einfluss verfügt hatten.
Es profitierten daher die Parteien und ihre verschiedenen Flügel, die Wirt-
schaftsverbände, die Kirche und zum Teil auch die Streitkräfte. Kurzum, eben
jene Gruppen, die Jorge Eliécer Gaitán als
país político
angeprangert hatte.
2 Vgl.
Palacios.
2003, S. 191 ff.
3
Vor allem die Anhänger des als gemäßigt geltenden konservativen Ex-Präsidenten Ma-
riano Ospina Pérez unterstützten die Diktatur in den Anfangsjahren. Als ihnen jedoch klar
wurde, dass Rojas am Aufbau einer eigenen Massenbasis arbeitete, wandten sich viele
ospi-
nistas
von ihm ab.
4
Vgl.
Alape.
1983,
S. 16
, Sánchez.
2006, S. 82 ff. u.
Caballero, Antonio.
3
1986. Prólogo.
In: Behar, Olga. (Hg.).
Las guerras de la paz
. Bogotá: Planeta, S. 7 ff. Letzterer findet beson-
ders deutliche Worte: "El Frente Nacional, ese pacto de olvido, se hizo precisamente para extirpar de la memoria colectiva esa década atroz. Y en su lugar hay un gran pozo negro […].
Y después de la violencia, bajo ese pacto de amnesia colectiva entre los dos partidos […] ¿qué
ha sucedido? Eso lo sabemos menos todavía."
77
Geschichtspolitik seit 1957
77
Durch den Fall des Diktators war insbesondere die Liberale Partei gestärkt wor-
den, die sich von Anfang an gegen das Militärregime gestellt hatte und aufgrund
ihrer erzwungenen Machtenthaltung relativ geeint die Regierungsgeschäfte
übernehmen konnte. Doch auch der größte Teil der Konservativen, vor allem die
Fraktion um Laureano Gómez, durfte mit dem Pakt zufrieden sein. Lediglich für
diejenigen Konservativen, die bis zuletzt mit der Militärregierung zusammen
gearbeitet hatten sowie für eine kleine Gruppe von Liberalen, die Anhänger des
so genannten
liberalismo popular
5, war kein Platz im Bündnis. Da die Wirt-
schaftsverbände ebenfalls aktiv am Sturz des Regimes beteiligt waren und zu-
dem die Wahl von Alberto Lleras unterstützt hatten, erlangten auch sie ihren al-
ten Einfluss wieder. Ähnliches galt für die Kirche. So machte der anfänglich mit
Rojas paktierende Klerus erfolgreich geltend, dass die katholische Kirche recht-
zeitig die "wahre Natur" des Regimes erkannt und sich auf die Seite der demo-
kratischen Opposition geschlagen habe. Nur für die Streitkräfte, aus denen Rojas
ja direkt hervorgegangen war, gestaltete sich der Machterhalt schwieriger.
Schließlich fand sich aber auch hier eine Lösung, die den Generälen das politi-
sche Überleben sicherte: Da die fünfköpfige Militärjunta den demokratischen
Übergang überhaupt erst ermöglicht hatte, wurde die Armee zur "Bewahrerin
der Demokratie" stilisiert.
1.2 Konsolidierung des
bipartidismo
Trotz seiner insgesamt exkludierenden Natur war es den Machern des
Frente
Nacional
gelungen, den größten Teil der beiden Traditionsparteien in ihr politi-
sches Projekt einzubinden. Definitiv ausgeschlossen blieben hingegen die oben
erwähnten Parteiflügel sowie die Kommunistische Partei, die ohnehin nur weni-
ge Mitglieder hatte.6 Das gleiche galt auch für all jene Organisationen und
5
Die mit dem unsozialen Kurs der Liberalen unzufriedenen Parteimitglieder vereinten sich
im Jahre 1960 zum
Movimiento Revolucionario Liberal
(MRL) unter Führung von Alfonso
López Michelsen, dem Sohn des sozialreformerischen Ex-Präsidenten Alfonso López Puma-
rejo (1934–1938 u. 1942–1945). Obwohl der MRL in seiner Anfangszeit einen aggressiven
Oppositionskurs fuhr, wurde er gegen Ende der 1960er Jahre von der Liberalen Partei "aufge-
sogen". Alfonso López Michelsen wurde schließlich 1974 selbst zum Präsidenten gewählt;
tiefgreifende soziale Reformen blieben jedoch weiterhin aus.
6
Während des
Frente Nacional
wurde zwar das von Rojas Pinilla ausgesprochene Verbot
der Kommunistischen Partei aufgehoben. Dennoch gab es für ihre Mitglieder keine legale
78
78
Kapitel II
Gruppen, die in irgendeiner Weise Beziehungen zu den Kommunisten pflegten,
wie beispielsweise die linksgerichteten Guerillas. Obwohl sich die traditionellen
Parteien im neuen System repräsentiert fanden, bedeutete dies noch nicht, dass
damit auch der Partizipationsgrad der Bevölkerung zunahm. Im Gegenteil, han-
delte es sich doch bei beiden Parteien um Sprachrohre der Oligarchie, die weder
entlang sozialer Konfliktlinien entstanden waren noch über eine organisierte
Massenbasis verfügten. Obwohl oberflächlich betrachtet programmatische Un-
terschiede existierten – etwa zu Fragen wie der gesellschaftlichen Funktion der
Kirche oder der Staatsinterventionen in die Wirtschaft – hatten ihre öffentlichen
Streitigkeiten meistens einen anderen Hintergrund.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erfüllten die Parteien vor allem die Aufga-
be, wirtschaftliche Partikularinteressen auf nationaler Ebene durchzusetzen und
entsprechende Gesetze auf den Weg zu bringen. Des Weiteren wurde es zum
Strukturmerkmal des politischen Systems, dass sich die Führungsriege beider
Parteien fast ausschließlich aus der gesellschaftlichen Oberschicht rekrutierte,
die bis heute kaum mehr als 5% der Bevölkerung ausmacht. Den Kern dieser
Oligarchie, die seit über 150 Jahren den Staat kontrolliert, bilden wenige hundert
alteingesessene Familien. Insbesondere der Agro-Export-Sektor, die Groß-
grundbesitzer, die Großkaufleute sowie die neuen Gruppen der Industriellen und
der Finanzelite waren und sind über vielfältige familiäre und informelle Bezie-
hungen mit der politischen Sphäre verbunden. Von Anfang an nutzten sie die
Parteien, um ihre wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen und den Zugang zu
politischer Macht zu kontrollieren. Dahinter stand jedoch selten ein nationales
Projekt.7
Während des
Frente Nacional
beruhte der innere Zusammenhalt der politi-
schen Parteien weniger auf straffer Organisation, als auf der Selbstzuschreibung
bestimmter kultureller und ideologischer Merkmale. In Wahlkampfzeiten erfolg-
te eine "Aktivierung" des Parteiapparats, wobei die Bildung von Allianzen und
die Massenmobilisierung eine wichtige Rolle spielten. Interne Strukturen waren
dagegen schwach ausgeprägt und die Fraktionsdisziplin gering. Politische und
persönliche Unterschiede ließen zudem zahlreiche Flügel entstehen, in denen
sich die unterschiedlichsten Strömungen repräsentiert fanden. Es ist anzuneh-
men, dass dieser Sachverhalt im Zusammenspiel mit der bürokratischen Forma-
Möglichkeit, am politischen Prozess teilzunehmen. Viele Kommunisten schlossen sich daher
dem MRL oder der Guerilla an. Hierzu
Dávila Ladrón de Guevara
. 2002, S. 92 ff.
7
Bei den folgenden Ausführungen stütze ich mich im Wesentlichen auf
König/Schuster.
2008.
79
Geschichtspolitik seit 1957
79
lisierung des alternierenden Systems zu einer dauerhaften Verfestigung des
bi-
partidismo
beigetragen hat.
Seit einigen Jahren befinden sich die beiden Traditionsparteien jedoch in ei-
nem schleichenden Prozess der Auflösung. Korruption, Nepotismus, die sinken-
de Effizienz der Verwaltung, der Strukturwandel der Gesellschaft und die damit
nachlassende Bedeutung klientelistischer Netzwerke auf dem Land haben so-
wohl die Konservativen als auch die Liberalen geschwächt. Aufgrund nachlas-
sender Parteiidentifikation haben sie stark an Rückhalt verloren. Vor diesem
Hintergrund ist es verständlich, dass der aktuelle Präsident Álvaro Uribe keiner
Partei mehr angehört. Gestützt auf verschiedene, neu entstandene Wahlbündnis-
se sowie einen Teil der Konservativen verfügt er dennoch über eine stabile
Mehrheit im Kongress.
Trotz oberflächlicher Veränderungen – wie dem erwähnten Aufbrechen des
starren Zwei-Parteien-Systems – ist es der kolumbianischen Oberschicht bislang
gelungen, die Kontrolle über Staat, Wirtschaft und Gesellschaft auszuüben. Da-
bei manifestiert sich ihre Macht besonders in den zahlreichen Querverbindungen
und Verflechtungen zwischen Politik, Wirtschaftsverbänden – zum Beispiel
Verband der Kaffeepflanzer (
Federación Nacional de Cafeteros de Colombia
,
FEDECAFE), der Landwirte (
Sociedad de Agricultores de Colombia
, SAC), der
Viehzüchter (
Federación Nacional de Ganaderos
, FEDEGAN), der Industrie
(
Asociación Nacional de Industriales
, ANDI), des Handels (
Federación Nacio-
nal de Comerciantes
, FENALCO), des Bank- und Finanzsektors (
Asociación
Bancaria
sowie
Asociación Nacional de Institutos Financieros,
ANIF), der Mit-
tel- und Kleinindustrie (
Asociación Colombiana Popular de Industriales
,
ACOPI) – und den Massenmedien.
Vor allem während des
Frente Nacional
griffen Vertreter der Wirtschaftsver-
bände direkt in die Wirtschaftspolitik ein. Es entsprach der Modernisierungs-
ideologie jener Zeit, der Meinung von Ökonomen höchsten Stellenwert beizu-
messen. Unter dem technokratischen Vorzeichen der Epoche kam es innerhalb
der Eliten sogar zu einer Neubewertung der bis dato als "standesgemäß" gelten-
den Berufe. Waren die politischen Machthaber früher nicht selten in lateinischer
Grammatik oder den Rechten bewandert, so wurde ab Mitte des 20. Jahrhun-
derts der Ingenieur bzw. der Ökonom zum Symbol für Fortschritt und politische
Macht.8 Mariano Ospina Pérez, Laureano Gómez und Gustavo Rojas Pinilla
waren daher nicht zufällig ausgebildete Ingenieure, während Carlos Lleras Rest-
8 Vgl.
Palacios.
2003, S. 243 ff.
80
80
Kapitel II
repo und Misael Pastrana neben anderen Fächern auch Wirtschaft studiert hat-
ten.
Obwohl die Parteien und die wirtschaftlichen Interessengruppen im System
des
Frente Nacional
einen Großteil der politischen Macht auf sich konzentrier-
ten, spielten auch die Kirche und die Streitkräfte eine wichtige Rolle. So gelang
es der Kirche, den durch eine Verfassungsreform im Jahre 1936 angestoßenen
Säkularisierungsprozess vorläufig zu stoppen. Nachdem sich die Kirchenoberen
öffentlich von Rojas Pinilla sowie vom fanatischen Anti-Liberalismus früherer
Tage distanziert hatten, wandelte sie sich zu einem der wichtigsten Stützpfeiler
des
Frente Nacional
. In den folgenden Jahrzehnten nahm sie zwar nicht mehr
direkt Einfluss auf die Politik, verhielt sich aber dennoch oft im Sinne eines
Interessenverbandes. Die politische Macht der kolumbianischen Kirche, die im
regionalen Vergleich als eine der konservativsten und einflussreichsten gilt, fuß-
te dabei stets auf guten Verbindungen zur Konservativen Partei, den Gewerk-
schaften und Verbänden. Als politischer Akteur scheut die Kirche bis heute
nicht davor zurück, Regierungsentscheidungen im Bereich der Familien- und
Bildungspolitik zu beeinflussen.
Im Gegensatz zur Kirche hatten die Streitkräfte mit dem Beginn des
Frente
Nacional
eine deutlichere Machtbeschneidung erleben müssen. Nach dem fried-
lichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie verzichteten sie freiwillig auf
eine direkte Beteiligung an der Politik und betrachteten sich fortan als institutio-
nelle Stütze des neuen Systems. Dabei sicherten sie sich zugleich eine relativ
autonome Position gegenüber der Regierung. Aus der neuen Priorität der Auf-
stands-Bekämpfung ergaben sich weiterhin strukturelle Veränderungen des Mi-
litärapparats, die einen zukünftigen Macht- und Regierungsanspruch unwahr-
scheinlich werden ließen. So passten sich die Generäle seit der Beendigung der
Violencia
graduell den Taktiken der Guerilla an, was lockere Hierarchien und
einen dezentralisierten Aufbau begünstigte. Im Unterschied zu vielen Nachbar-
ländern sollte Kolumbiens Armee das Machtmonopol des Staates nie wieder in
Frage stellen.
Als letzte wichtige Interessengruppe blieben schließlich noch die Gewerk-
schaften übrig. Selbst denjenigen Interessenvertretern der Arbeiter, die am Sturz
von Rojas Pinilla beteiligt waren, erwuchs daraus jedoch kein Vorteil. Weil sich
die konservativen, liberalen, katholischen oder kommunistischen Gewerk-
schaftsbünde schon vorher im Kampf um politischen Einfluss aufgerieben hat-
ten, konnten sie kaum Druck auf die Regierung ausüben. Die Architekten des
neuen politischen Systems wiederum fürchteten eine zu mächtige Gewerk-
81
Geschichtspolitik seit 1957
81
schaftsbewegung, wie sie sich beispielsweise im Argentinien Peróns herausge-
bildet hatte. Deswegen taten sie wenig bis nichts, um die Arbeiter in ihr politi-
sches Projekt einzubinden. Dafür, dass auch nach dem Ende des alternierenden
Systems die Bedeutung der Gewerkschaften weiter abgenommen hat, sind je-
doch eher aktuelle Entwicklungen verantwortlich. Da heutzutage immer mehr
Kolumbianer im informellen Sektor beschäftigt sind (bis zu 60%) oder gar keine
Arbeit haben (2006: 12%; mit Unterbeschäftigung ca. 30%), macht gewerk-
schaftliche Organisation für viele Menschen schlicht keinen Sinn mehr.9
Wie bereits angesprochen, führte die Exklusion unter dem
Frente Nacional
bei breiten Bevölkerungsteilen zu Desinteresse und Desillusion. Die politische
Kultur Kolumbiens, traditionell von Personalismus und Klientelismus gekenn-
zeichnet, wurde dadurch nachhaltig geprägt. Während die Parteienidentifikation
vor allem in den Städten allmählich nachließ, nahm das Misstrauen in den Staat
allgemein zu. Denn dem
Frente Nacional
war es nicht gelungen, eine Antwort
auf die soziale Frage zu finden, stabile Institutionen zu errichten und eine effi-
ziente Verwaltung aufzubauen. Im Gegenteil, der aufgeblähte bürokratische
Staatsapparat entwickelte sich mit der Zeit zum eliteninternen Reservoir für be-
gehrte Posten und "öffentliche" Finanzmittel; Korruption und Nepotismus blüh-
ten wie nie zuvor.
In dem Maße, wie sich die beiden Parteien als korrupt und reformunfähig er-
wiesen, fiel die Mittlerrolle zwischen Staat und Gesellschaft anderen Akteuren
zu. Insbesondere Medienmacher und Journalisten übernahmen immer häufiger
die Aufgabe, zwischen Regierung und Volk für angemessene Repräsentation zu
sorgen. Die Verbreitung gesellschaftlich relevanter Informationen, verstanden
als Beitrag zur Bildung der öffentlichen Meinung und somit zum politischen
Entscheidungsprozess, war damit aber nicht gewährleistet.
2.
D
ER POLITISCHE
D
ISKURS
Wie eingangs erwähnt, gehe ich im Folgenden vor allem auf die Sichtweise der
politischen Eliten ein und beschreibe anhand ihrer eigenen Aussagen, wie sie in
der Anfangsphase des
Frente Nacional
mit der historischen
Violencia
umgingen.
9
Diese Daten wurden von der staatlichen Statistikbehörde DANE (
Departamento Admi-
nistrativo Nacional de Estadística
) erhoben. Vgl.
DANE.
2007.
Indicadores promedio móvil
últimos 12 meses, abril 2006–marzo 2007
. In: http://www.dane.gov.co/files/investigaciones/
boletines/ech/indice/seis/total-nal.pdf (26. Januar 2008).
82
82
Kapitel II
Als wichtiger Leitfaden und heuristisches Hilfsmittel dient mir dabei Edgar
Wolfrums Konzept der Geschichtspolitik, an dem sich auch die Gliederung der
einzelnen Abschnitte grob orientiert. In diesem Sinne steht zunächst die Dimen-
sion der Geschichtspolitik als Handlungs- und Politikfeld im Mittelpunkt, bei
deren Darstellung ich mich insbesondere auf zwei Quellenarten stütze: die na-
tionale bzw. hauptstädtische Presse sowie die
Anales del Congreso
.
Die Relevanz der Pressequellen ergibt sich daraus, dass dieselben Gruppen,
die in den politischen Parteien das Sagen hatten und ihre wirtschaftlichen Inter-
essen über die Verbände artikulierten, in der Anfangszeit des
Frente Nacional
auch die wichtigsten Medien steuerten. Sie standen damit in der Tradition der so
genannten
presidentes letrados
des 19. Jahrhunderts, die, weil sie großen Wert
auf "Kultur" und mediale Selbstinszenierung legten, nicht selten ihre eigene Zei-
tung gründeten.10 Der daraus resultierende parteipolitische Charakter nahezu
aller großen Tageszeitungen besteht in Kolumbien bis heute fort, wohingegen
eine unabhängige bzw. überparteiliche Presse fehlt.
Obwohl Radio und Fernsehen in den vergangenen Jahrzehnten eindeutig den
wichtigsten Stellenwert in der Medienlandschaft eingenommen haben, sind sie
im Rahmen dieser Arbeit als historische Quellen zu vernachlässigen. Denn in
der Anfangsphase des
Frente Nacional
waren es vor allem die großen nationalen
und regionalen Tageszeitungen, die so genannte
gran prensa
, die den politischen
Eliten als Sprachrohr dienten. Das erst unter Rojas Pinilla eingeführte Fernsehen
war zu diesem Zeitpunkt einer kleinen Minderheit vorbehalten, während das
Radio zwar weit verbreitet, jedoch mit Beginn des
Frente Nacional
seltener zur
Verbreitung politischer Botschaften genutzt wurde. Zudem existieren nur weni-
ge Aufzeichnungen von Radiosendungen aus der Zeit der
Violencia
.11
Von den wichtigsten Zeitungen des Landes finden gegenwärtig nur zwei auf
nationaler Ebene Verbreitung:
El Tiempo
und
El Espectador
. Weitere auflagen-
starke Blätter wie
La República
,
El Siglo
,
El Espacio
,
La Prensa
,
El País
,
El
Colombiano
und
El Heraldo
erscheinen dagegen regional oder lokal. Sie alle
sind im Wesentlichen nach dem Schema europäischer bzw. US-amerikanischer
10
Dieses Phänomen vertieft
Deas, Malcolm.
1993
.
Gramática y poder en Colombia. In:
ders.
Del poder y la gramática, y otros ensayos sobre historia, política y literatura colombia-
na
. Bogotá: Tercer Mundo, S. 25–60.
11
Zur Entwicklung des Fernsehens und des Radios in Kolumbien siehe
Zapata, María
Isabel/Consuelo Ospina de Fernández.
2004. Cincuenta años de la televisión en Colombia.
Una era que termina. Un recorrido historiográfico. In:
Historia Crítica
(Juli–Dezember, Bo-
gotá), Nr. 28, S. 105–126 u.
Múnera, Luis Fernando.
1992.
La radio y la televisión en Co-
lombia
. Bogotá: APRA.
83
Geschichtspolitik seit 1957
83
Tageszeitung aufgebaut. Für die persönlichen Ansichten und Diskurse einfluss-
reicher Persönlichkeiten sind insbesondere die Meinungsseiten (
editoriales
) re-
levant, die sowohl politische Kommentare als auch Leitartikel enthalten. Dane-
ben finden sich politische Stellungnahmen auch in den wöchentlich erscheinen-
den Beilagen (
suplementos
) sowie in unregelmäßig erscheinenden Sonderspar-
ten. Die Quellenbasis des sich anschließenden Abschnitts über die Darstellung
der
Violencia
in der Presse bilden die Zeitungen
El Tiempo
,
El Espectador
,
La
República
und
El Siglo
, die auch in Bezug auf die übrigen Presseprodukte als
Leitmedien angesehen werden können.12
El Tiempo
, die auflagenstärkste Tageszeitung Kolumbiens (Auflage ca.
250.000; insgesamt etwa 1.000.000 Leser), wurde im Jahre 1911 gegründet und
befindet sich seit 1913 im Besitz der liberalen Familie Santos.13 Wie auch die
übrigen Zeitungen hat sich
El Tiempo
stets als Sprachrohr bestimmter Regierun-
gen verstanden. Besonders während der liberalen Präsidentschaften von Eduardo
Santos (1938–1942), Alberto Lleras (1958–1962), Carlos Lleras Restrepo
(1966–1970) und Alfonso López Michelsen (1974–1978) war die Berichterstat-
tung stark von einseitiger Parteinahme geprägt. Erst seit den 1980er Jahren hat
sich
El Tiempo
allmählich von politischen Vorgaben entfernt und einen unab-
hängigeren Kurs eingeschlagen. Im August 2007 wurde die Zeitung von der
spanischen Verlagsgruppe
Planeta
übernommen.
Wesentlich regierungskritischer als
El Tiempo
zeigte sich von Beginn an
El
Espectador
, die älteste Zeitung des Landes (seit 1887). Da die Besitzerfamilie
Cano lange Zeit über keine direkten Verbindungen zu Wirtschaft und Politik
verfügte, entwickelte sich
El Espectador
zu einem relativ unabhängigen Me-
dium. Dennoch ist die Zeitung, die aufgrund finanzieller Probleme zwischen
2001 und 2008 nur noch als Sonntagszeitung erschien, insgesamt ebenfalls libe-
ral orientiert. Ihre Auflage lag vor der Umwandlung in eine Sonntagszeitung bei
ca. 240.000 Exemplaren, wohingegen die gegenwärtige Leserschaft auf nurmehr
260.000 geschätzt wird.
Als drittwichtigste Tageszeitung gilt
La República
, die vom konservativen
Politiker und Präsidenten Mariano Ospina Pérez (1946–1950) gegründet wurde.
12 Vgl.
Kusche.
2002, S.52 ff.
13
Die hier angegebenen Zahlen beruhen auf Schätzungen der
Asociación Colombiana de
Investigación de Medios
(ACIM). In der Regel weigern sich die großen Tageszeitungen und
Verlage nämlich, exakte Angaben über die Auflagenhöhe machen. Vgl.
ACIM.
2006.
Estudio
general de medios Colombia. Resultados generales. Segunda ola
. In: http://www.acimcolom-
bia.com/Documentos/PRESENTACI%D3N%20EGM%202-2006.pdf (26. Januar 2008).
84
84
Kapitel II
Im Unterschied zum liberalen
El Espectador
war
La República
, die nur in der
Hauptstadtregion erscheint, von Anfang an als Sprachrohr eines Flügels der
Konservativen Partei konzipiert und legte einen Schwerpunkt auf Wirtschafts-
themen. Dies hing auch damit zusammen, dass die Familie Ospina selbst in zahl-
reichen Wirtschaftszweigen aktiv war und über Unternehmensbeteiligungen ver-
fügte. In der Anfangszeit des
Frente Nacional
griff
La República
jedoch weni-
ger die Liberale Partei an, sondern attackierte vielmehr die ultra-konservative
Fraktion um Laureano Gómez. Dieser Flügel der Partei verfügte mit
El Siglo
(seit 1936) über ein eigenes, sensationalistisches Blatt und sah sich in den ersten
beiden Jahren des
Frente Nacional
privilegiert. Als die Fraktion um Gómez je-
doch bei den Kongresswahlen ihre Mehrheit verlor und daraufhin Guillermo
León Valencia (1962–1966), der Kandidat des ospinistischen Flügels der Kon-
servativen, zum nächsten Präsidenten "bestimmt" wurde, verstummte sowohl die
anfängliche Kritik an Gómez als auch am
Frente Nacional
. Im Gegensatz dazu
schlug
El Siglo
ab diesem Zeitpunkt einen etwas regierungskritischeren Kurs
ein. Gegenwärtig lesen weniger als 100.000 Menschen
La República
, die mit
einer Auflage von ca. 40.000 erscheint. Die Auflage des seit 1990 unter dem
Namen
El Nuevo Siglo
erscheinenden Rivalenwird auf 35.000 Exemplare ge-
schätzt.
Wie gezeigt, waren und sind die Verbindungen zwischen politischer Macht
und Massenmedien in Kolumbien besonders ausgeprägt. Im Rahmen des Kon-
zepts der Geschichtspolitik ist es daher geradezu zwingend, einen genauen Blick
auf die Presse zu werfen. Dabei erhebe ich jedoch keineswegs den Anspruch,
den
politischen Diskurs in seiner gesamten Bandbreite darzustellen oder gar zu
dekonstruieren. Dazu wäre eine umfassende Diskursanalyse auf linguistischer
oder inhaltsanalytischer Basis notwendig, die den Rahmen dieser Arbeit spren-
gen würde. Versuche, den politischen Diskurs der Eliten vor und zu Beginn der
Violencia
auf seine inhaltlichen bzw. terminologischen Muster hin zu untersu-
chen, wurden in jüngster Zeit außerdem von Darío Acevedo Carmona und Car-
los Mario Perea Restrepo unternommen.14 Dem Konzept der Geschichtspolitik
folgend ist es zwar wichtig, die politischen Intentionen hinter diesen Diskursen
zu erkennen. Entscheidend ist aber nicht ihre Struktur, sondern ihre Wirkung auf
die Öffentlichkeit.
14
Siehe
Acevedo Carmona, Darío.
1995.
La mentalidad de las élites sobre la violencia
en Colombia, 1936–1949
. Bogotá: El Áncora u.
Perea Restrepo, Carlos Mario.
1996.
Por-
que la sangre es espíritu. Imaginario y discurso político en las élites capitalinas (1942–
1949)
. Bogotá: Santillana.
85
Geschichtspolitik seit 1957
85
Diesbezüglich scheint zunächst Vorsicht geboten. Denn obwohl kommunika-
tionswissenschaftliche Theorien häufig eine direkte Verbindung zwischen Me-
dienangebot und öffentlicher Meinung formulieren, lässt sich daraus noch kein
kausaler Zusammenhang ableiten. Im Gegenteil betonen die Schöpfer der be-
kannten Agenda-Setting-Theorie, dass der Medienrezipient eben kein "Automat"
sei, der mediale Informationen unhinterfragt aufnehme und sich danach sein
Weltbild forme.15 Maxwell McCombs, Don Shaw und David Weaver fanden bei
ihrer ersten Studie im Jahre 1968 vielmehr heraus, dass die Medien zwar keinen
großen Einfluss darauf hatten,
was
das Publikum zu einzelnen Themen dachte.
Durch Umfragen wiesen sie allerdings nach, dass es den Medien insbesondere in
Zeiten des Wahlkampfs gelungen war, dem Publikum vorzugeben,
worüber
es
sich Gedanken machte. Demnach sei es eine wichtige Funktion der Massenme-
dien, durch das Setzen konkreter Themenschwerpunkte und Einschätzungen die
"öffentliche Agenda" zu bestimmen.
In der Folge wurde die Agenda-Setting-Theorie in mehr als 400 internationa-
len Studien empirisch untermauert, wenngleich auch kritische Stimmen laut
wurden. So meldeten sich beispielsweise Wissenschaftler zu Wort, die gar das
Gegenteil behaupteten und darauf hinwiesen, dass im Grunde die Publikums-
agenda die Medienagenda bestimmen würde und nicht umgekehrt. Wenngleich
die Ausgangstheorie in den letzten Jahren mehrfach verändert, ausgebaut und
zum Teil auch verworfen wurde, stimmt die Mehrheit der Medienwissenschaft-
ler heute darin überein, dass die mediale Agenda mit der Publikumsagenda kor-
reliert.
Dem "klassischen" Ansatz von McCombs, Shaw und Weaver folgend, wird
der Rezipient zunächst über die Medien auf bestimmte Themen aufmerksam.
Die Wichtigkeit, die er einem Thema zubilligt, wird dabei durch die unter-
schiedliche Einstufung und Hervorhebung in den Medien beeinflusst. Hat der
Rezipient eine bestimmte Rangfolge erkannt, so übernimmt er sie entsprechend
der Vorgabe. Wie wirksam der Agenda-Setting-Effekt ist, hängt dabei zusätzlich
von der Aufdringlichkeit (
obtrusiveness
) des Themas ab. Denn typischerweise
stellt sich der Effekt bei nicht direkt erfahrbaren Themen eher ein, als bei direkt
erlebbaren Sachverhalten. Wie die Väter der Theorie ebenfalls betonen, spielt in
diesem Zusammenhang auch die Art des Mediums eine große Rolle. So weist
McCombs darauf hin, dass das Fernsehen in den meisten Fällen nur einen eher
15
Vgl. zum Folgenden
McCombs, Maxwell.
2004.
Setting the Agenda. The Mass Media
and Public Opinion
. Cambridge: Polity Press, S. 1–20 u. 134–145.
86
86
Kapitel II
kurzfristigen "Scheinwerfereffekt" zur Folge habe. Die Berichterstattung der
Printmedien führe hingegen zu längerfristigen Agenda-Setting-Effekten.
Auch wenn ich die Ideen von McCombs, Shaw und Weaver grundsätzlich tei-
le, so ist im Falle Kolumbiens zu fragen, wen die Berichterstattung der Printme-
dien gegen Ende der 1950er bzw. zu Anfang der 60er Jahre überhaupt erreicht
haben könnte. Denn zum einen weisen die statistischen Daten für diesen Zeit-
raum auf einen hohen Anteil von Analphabeten hin; zum anderen war der Ver-
breitungsgrad der Presse so niedrig, dass die höchste Auflage einer Tageszeitung
im angegebenen Zeitraum wohl kaum die 100.000er Marke übersprungen haben
dürfte.16 Wie jüngere Untersuchungen zum Leseverhalten und zum Zeitungs-
konsum in Kolumbien bestätigen, ist die Begeisterung für Printmedien aller Art
bis heute relativ gering. So lassen die seit der Jahrtausendwende erhobenen Sta-
tistiken erkennen, dass im Jahre 2005 mehr als 63% der Kolumbianer keine Bü-
cher, 73,6% keine Zeitschriften und 68,5% keine Zeitungen konsumiert haben;
bei insgesamt sinkender Tendenz.17
Obwohl in den letzten Jahrzehnten das Fernsehen zum wichtigsten Medium in
Kolumbien geworden ist, darf die Rolle der Presse im Untersuchungszeitraum
nicht unterschätzt werden. Selbst wenn die Masse der Bevölkerung keinen Zu-
gang zu gedruckten Informationen hatte, konsumierte die sich zu Beginn des
Frente Nacional
konsolidierende Mittelschicht in zunehmendem Maße Presse-
produkte. Dies belegen unter anderem die rapide steigenden Auflagezahlen jener
Jahre.18 Da in den Augen der politischen Eliten die "unzivilisierten" Volksmas-
sen ohnehin zu vernachlässigen waren bzw. erst "erzogen" werden mussten,
konnten sie also über die Presse zumindest die "öffentliche Agenda" der mittle-
ren Schichten beeinflussen. Dieser Tatbestand sollte bedacht werden, wenn in
den folgenden Artikeln und Kolumnen häufig von der "öffentlichen Meinung"
und "den Kolumbianern" die Rede ist. Für das Konzept der Geschichtspolitik,
das ja ohnehin von der Deutungsmacht einer politischen Elite ausgeht, ist diese
Reduktion von "Öffentlichkeit" jedoch unerheblich.
Im Folgenden will ich anhand von Pressequellen zeigen, wie die Eliten auf
besonders einschneidende Ereignisse reagierten oder eben nicht reagierten. Da-
16
Vgl.
Arnove, Robert.
1980. Education Policies of the National Front. In: Berry, Al-
bert/Ronald Hellmann/Mauricio Solaún(Hgg.).
Politics of Compromise. Coalition Govern-
ment in Colombia
. New Brunswick: Transaction Books, S.385 u. 399 f.
17
Vgl. hierzu
Ministerio de Cultura.
2006.
Hábitos de lectura, asistencia a bibliotecas y
consumo de libros en Colombia
. Bogotá: Fundalectura.
18
Vgl.
Sánchez.
2000a.
87
Geschichtspolitik seit 1957
87
bei konzentriere ich mich auf diejenigen Kommentare und Debatten, die sich in
wertender oder interpretierender Weise mit der
Violencia
beschäftigen. Wesent-
liches Selektionskriterium ist dabei jedoch nicht die "objektiv-historische" Be-
deutung eines konkreten Ereignisses, sondern die subjektive Einordnung der Ge-
schehnisse durch die politischen Eliten. Als wichtigste Quellen haben sich daher
mit normativen Aussagen angereicherte Kommentare, Meinungskolumnen und
Sondersparten erwiesen.19
Komplementär zu den Pressequellen habe ich die Debatten zur
Violencia
im
Parlament ausgewertet. Seit 1958 – nach einer mehr als achtjährigen Zwangs-
pause – kam es dort zu interessanten Diskussionen über die Gründe und Folgen
der
Violencia
. Viele der in den
Anales del Congreso
20 festgehaltenen Reden von
Abgeordneten und Senatoren spiegeln sowohl die offizielle Sichtweise als auch
die inneren Brüche wider. Insbesondere seit den Kongresswahlen von 1960, bei
denen die "doktrinäre" Fraktion der Konservativen um Laureano Gómez ihre
Mehrheit verlor und als Koalitionspartner der Liberalen durch die gemäßigten
ospinistas
ersetzt wurde, nahm die ultra-konservative Kritik am
Frente Nacional
zu. Als wichtigste Gegenstimme etablierten sich ab 1960 jedoch die 17 Ab-
geordneten des linksliberalen MRL, die auch über Kontakte zur Kommunisti-
schen Partei und zu einigen linksgerichteten Guerilleros verfügten. Doch nicht
nur die Kommentare und Reden von profilierten Spitzenpolitkern, sondern auch
die Ansichten von Fachleuten, Kirchenmännern oder Lokalpolitkern fanden
Eingang in die
Anales
, die somit in gewisser Weise auf die nationale Dimension
der
Violencia
verweisen.
Aus den Pressquellen und den
Anales
lässt sich weiterhin herauslesen, dass
die Debatten zwischen 1957 und 1962 mit zunehmender Härte geführt wurden.
Während es den Politikern des
Frente Nacional
anfangs noch gelungen war, ei-
ne einheitliche Linie zum Thema des Bürgerkriegs durchzusetzen, nahm die
Überzeugungskraft des offiziellen Diskurses von Jahr zu Jahr ab. Mit dem Er-
scheinen des skandalträchtigen Buches
La Violencia en Colombia
21 wurde die
offizielle Sichtweise schließlich so fragwürdig, dass es in allen Medien und im
Kongress zu Diskussionen über den kontroversen Inhalt des Buches kam. Denn
die Autoren des Werks hatten es gewagt, dem offiziellen Diskurs von "Eintracht
19
Im Sinne einer an Clifford Geertz angelehnten "dichten Beschreibung" ist es notwendig,
die verschiedenen Eliten-Diskurse möglichst mehrfach zu belegen.
20
In den folgenden Quellenangaben als
AdC
abgekürzt.
21
Siehe
Guzmán Campos/Fals Borda/Umaña Luna
. 1977.
88
88
Kapitel II
und Versöhnung" eine wissenschaftliche Studie über die sozioökonomischen
Hintergründe der Gewalt entgegenzusetzen. Darin machten sie auf die Verant-
wortung der politischen Eliten aufmerksam und stellten die individuelle Schuld
bestimmter Persönlichkeiten fest. Die von den Eliten favorisierten Thesen zur
Violencia
, nämlich die "Barbarei" der Massen als Auslöser und die Strategie des
Vergessens als Gegenmittel, waren hingegen ins Wanken geraten. Der Untersu-
chungszeitraum der folgenden Abschnitte erstreckt sich daher auf die Periode
zwischen den beiden wichtigsten Zäsuren in Bezug auf die
Violencia
-
Diskussion: dem Fall des Diktators Rojas Pinilla am 10. Mai 1957 und der Ver-
öffentlichung des ersten Bandes von
La Violencia en Colombia
(Juli–Oktober
1962). Das in diesem Zeitraum entstandene Bild von der
Violencia
prägt in we-
sentlichem Maße die heutige Sichtweise des Bürgerkrieges. Die an späterer Stel-
le zu klärende Frage ist nur, ob sich langfristig die kritische oder die offizielle
Version durchsetzen konnte.
2.1 Frieden, Versöhnung und Vergessen
Am Tag nach dem Sturz des Diktators, am 11. Mai 1957, reagierten nahezu alle
Zeitungen des Landes in euphorischen Schlagzeilen auf den Machtwechsel. Mit
der militärischen Übergangsregierung und dem geplanten
Frente Nacional
schien eine Zeit des Friedens, des Fortschritts und des Wohlstands anzubrechen.
Insbesondere die unter Rojas verfolgten und zensierten Tageszeitungen
El
Tiempo
,
El Espectador
22 und
El Siglo
sahen in dem Pakt der Parteien die Lö-
sung aller Probleme. Weiterhin machten sie den gestürzten Diktator für sämtli-
che Verfehlungen der jüngsten Vergangenheit verantwortlich. Anstatt die Frage
nach den Wurzeln der
Violencia
zu stellen, war in den ersten Monaten nach dem
Übergang viel von "Frieden und Versöhnung" die Rede.23 Schließlich war die
blutige Vergangenheit noch zu präsent, um einen neuerlichen Ausbruch der Ge-
walt zwischen den Parteien zu riskieren. Eine Ansicht, die auch von konservati-
ver Seite geteilt wurde. So verkündete etwa der konservative Politiker Álvaro
22
Anders als die Zeitung
El Tiempo
, die bald nach dem Ende der Militärdiktatur wieder
ihren alten Namen annahm, behielt
El Espectador
noch bis Mai 1958 den Namen
El Indepen-
diente
bei.
23
An dieser Stelle beziehe ich mich nur auf explizite Darstellungen des Diskurses von
"Frieden, Versöhnung und Vergessen", wie er sich in über 150 Kommentaren, Leitartikeln
und Beilagen der großen Tageszeitungen zwischen Mai 1957 und Oktober 1962 findet.
89
Geschichtspolitik seit 1957
89
Gómez Hurtado, der Sohn von Laureano Gómez, schon einen Tag nach dem
Machtwechsel seine Bereitschaft zu überparteilicher Zusammenarbeit:
Los colombianos ya hemos escarmentado bastante. A quienes siguen las enseñanzas políticas
del partido conservador y a los ciudadanos del país, les proponemos elevar sus propósitos en
los actuales momentos para que, sin descuidar la guarda de los principios éticos, esenciales a
la convicción, procuren deponer los odios y buscar una fraternal reconciliación.24
Neben der Rede von "Frieden und Versöhnung", wie sie fast alle führenden
Politiker des
Frente Nacional
in den folgenden Jahren gebetsmühlenartig wie-
derholen sollten, existierten freilich auch andere Ansichten. Diese überlappten
sich zwar meist mit der offiziellen Sichtweise, standen ihr bisweilen aber auch
diametral entgegen. Zumindest im ersten Jahr des Zwei-Parteien-Paktes gab es
jedoch kaum Gegenstimmen und nahezu einhellig akzeptierten die Eliten aller
politischen Richtungen die These des zukünftigen Präsidenten Alberto Lleras,
nach der es unter dem
Frente Nacional
für politisch motivierte Gewalt keinen
Vorwand mehr geben durfte. In diesem Sinne erklärte Lleras, dass die Toten der
Vergangenheit keine Parteizugehörigkeit hätten:
No hay muertos conservadores o liberales, sino muertos colombianos arrasados por una ola de
delincuencia abominable en la cual para nuestra desgracia se entrenó y creció una generación
entera de niños y adolescentes que no conocen hoy otra ley que la de la selva ni otro trabajo
que el crimen.25
Im Interesse des Vaterlandes sollten deshalb die alten Streitigkeiten zwischen
den Parteien beigelegt und das Volk in einem langen Umerziehungsprozess zum
friedlichen Miteinander befähigt werden. Nach Ansicht des liberalen Denkers
war dies die einzige Möglichkeit, die weiterhin tobende
Violencia
auf dem Land
zu beenden. Denn erst nach der Eindämmung der politisch motivierten Gewalt
habe die Regierung überhaupt eine Chance, auch die sozioökonomischen Ursa-
chen des Banditentums zu beseitigen.26 In seiner Ansprache vom 27. September
1957, die von allen wichtigen Zeitungen des Landes in Auszügen oder komplett
gedruckt wurde, legte Lleras das Programm des
Frente Nacional
in Grundzügen
dar und ging dabei auch auf die Wurzeln der
Violencia
ein. In diesem Zusam-
menhang forderte er unter anderem, dass die Vergangenheit zwar stets präsent
sein müsse, auf keinen Fall jedoch zu gegenseitigen Schuldzuweisungen führen
dürfe. Bei künftigen Debatten über die
Violencia
sei es demnach angebracht, auf
24
La República
vom 11. Mai 1957.
25
El Tiempo
vom 13. Februar 1958.
26
Vgl.
El Tiempo
vom 26. Juni 1958.
90
90
Kapitel II
seine Wortwahl zu achten und der Öffentlichkeit "überflüssige" Details zu er-
sparen.27 Im Juni 1958, anlässlich der Wiedereröffnung des unter Gómez und
Rojas Pinilla geschlossenen Kongresses, schärfte er den Parlamentariern daher
ein, auf allzu "leidenschaftliche" Debatten über die Vergangenheit besser zu
verzichten.28
Damit erklärte Lleras die blutige Vergangenheit zwar nicht zum Tabu. Die
genaue Erforschung individueller Schuld und die Analyse politischer Faktoren
sah er jedoch mit Gefahren verbunden. Er zog es stattdessen vor, von der Schuld
"aller" zu sprechen. Anstatt die Verantwortlichen aus den Reihen der Konserva-
tiven und der Liberalen Partei bei ihren Namen zu nennen, sprach er lieber von
"ciertas gentes de mal":
El remoto origen de esta criminalidad que estamos pagando todavía y cuyos estertores sufrirá
la nación aún por largo tiempo es, sin duda, la irresponsabilidad con que se permitió que la
violencia fuera un instrumento de predominio político, ofensivo o defensivo, y que ciertas
gentes de mal tomaron en sus manos protegidas por la impunidad, la supuesta defensa de cau-
sas políticas nacionales o locales.29
Lleras, der aufgrund des vorgezogenen Rücktritts von Alfonso López Pumare-
jo bereits für kurze Zeit das Amt des Präsidenten bekleidet hatte (1945/46),
stand wie kaum ein anderer Politiker für die symbiotische Verbindung von Poli-
tik und Massenmedien. Um die "Friedensbotschaft" des
Frente Nacional
unter
das Volk zu bringen, konnte er sich auf den Großteil der kolumbianischen Pres-
se stützen. Während die Mehrheit der Politiker von den Medien oft nach partei-
politischen Kriterien beurteilt und angegriffen wurde, wagte es kaum ein Journa-
list gegen Lleras zu polemisieren, der von vielen Menschen als Personifizierung
des "zivilisierten" Kolumbien angesehen wurde. Bereits zu Beginn des
Frente
Nacional
schlugen einige Journalisten und Politiker sogar vor, ihn für den Frie-
densnobelpreis zu nominieren.30 Eine verfrühte Forderung, wie sich zeigen soll-
te.
Das Fundament für seine außergewöhnliche Hochachtung durch die Presse
hatte Lleras selbst gelegt, da er bereits in jungen Jahren für die maßgeblichen
Zeitungen und Zeitschriften des Landes geschrieben hatte. So war er Journalist
bei
La República
und
El Espectador
, Direktor des kurzlebigen
El Independiente
27 Vgl.
El Tiempo
vom 28. September 1957.
28
Vgl.
El Independiente
vom 28. September 1957.
29
Ebd.
30
Vgl.
El Independiente
vom 9. April 1958.
91
Geschichtspolitik seit 1957
91
sowie Chefredakteur von
El Tiempo
. Weiterhin gründete er im Jahre 1946 das
wöchentlich erscheinende Magazin
Semana
, das bis heute als einflussreichste
politische Zeitschrift Kolumbiens gilt. Trotz ständiger Ausflüge in den Journa-
lismus und die Schriftstellerei verzichtete Lleras darauf, seine Medienmacht zur
Durchsetzung partikularer Interessen zu nutzen. Als Staatsmann und Architekt
des
Frente Nacional
hatte er vor allem das Erreichen eines dauerhaften Friedens,
basierend auf institutioneller und personeller Stabilität, vor Augen. In seinem
Denken war das "Volk" allerdings noch nicht bereit, an einer "richtigen" Demo-
kratie teilzunehmen. Zuerst sollte der
Frente Nacional
die hierzu erforderlichen
Voraussetzungen schaffen, um dann eines Tages die Öffnung des politischen
Systems zu ermöglichen.31
Im Gegensatz zu Laureano Gómez, der zu dieser Zeit eher im Hintergrund
agierte, galt Alberto Lleras sowohl in politischen Kreisen als auch in der breite-
ren Öffentlichkeit als unbestrittener "Chefideologe" des
Frente Nacional
. Denn
während sich Gómez nach seiner "Wende" gerne als geläuterter Pragmatiker
präsentierte, war Lleras schon zu Zeiten der Diktatur damit beschäftigt gewesen,
politische Pamphlete gegen Rojas oder Aufsätze über die Vorteile des alternie-
renden Regierungssystems zu verfassen. Es wundert daher nicht, dass er sich
auch während seiner zweiten Präsidentschaft regelmäßig in
El Tiempo
und
El
Espectador
zu Wort meldete. Seine dabei verwendete Rhetorik lässt sich auf
drei Kernelemente reduzieren: Frieden, Eintracht und Versöhnung. Wie persön-
liche Aufzeichnungen des Präsidenten zeigen, stand dahinter jedoch nicht nur
politisches Kalkül, sondern auch die ernstgemeinte Überzeugung, dass das
"Volk" die Botschaft des
Frente Nacional
verinnerlichen müsste, um in Frieden
leben zu können.32 Unter dem "Volk" verstand Lleras in erster Linie die unteren
Schichten, denen er zwar nicht ablehnend gegenüberstand, ihnen jedoch ein er-
hebliches Potenzial an Irrationalität und Gewaltbereitschaft zuschrieb.33
Der Historiker Herbert Braun weist in diesem Zusammenhang darauf hin,
dass die politischen Eliten bereits während der 30er Jahre, in einer Phase libera-
ler Hegemonie, all jene als "pueblo" bezeichneten, die im "öffentlichen Leben"
31
Vgl.
Lleras, Alberto.
1994.
Reflexiones sobre la historia, el poder y la vida internacio-
nal
. Bd. 2. Bogotá: Tercer Mundo, S. 107.
32
Vgl. ebd., S. 107 ff.
33
Vgl.
AdC
. 1961, Nr. 25, S. 354 ff. An dieser Stelle kritisiert Alfonso López Michelsen,
als Sprecher des MRL, den übertriebenen Kulturalismus des Präsidenten. Hierzu zitiert er aus einem Brief Lleras’, in dem dieser die Schwäche des Staates auf die "rückständige" Mentalität
des Volkes zurückführt.
92
92
Kapitel II
keine Rolle spielten. Nichtsdestotrotz habe die Bezeichnung nicht für Groß-
grundbesitzer oder städtische Kaufleute gegolten, sondern nur für Bauern, Land-
arbeiter sowie die städtische Arbeiterschaft. Braun zufolge sei es die Strategie
der Eliten gewesen, die sozialen Unterschiede zu verdecken und im politischen
Diskurs keine klare Grenze zwischen der Unter- und der Oberschicht zu ziehen.
Der Begriff des "Volkes" konnte dabei je nach politischem Nutzen sowohl posi-
tiv als auch negativ besetzt sein. Während gelegentlich vom "pueblo sano" bzw.
von "lo mejor del pueblo" die Rede war, häuften sich jedoch vor allem zu Be-
ginn der
Violencia
abwertende Ausdrücke wie "la gente torpe", "la chusma", "la
gleba", "la plebe", "las turbas", "los truhanes" oder "los guaches", die teilweise
noch aus der Kolonialzeit stammten. Dahinter stand die Überzeugung eines
Großteils der Eliten, Lleras mit eingeschlossen, dem "pueblo" in rassischer und
kultureller Hinsicht überlegen zu sein.34
Neben Alberto Lleras übernahmen auch andere Persönlichkeiten die "öffentli-
che" Rhetorik von Frieden und Versöhnung. Insbesondere der Führungszirkel
der Liberalen Partei verschrieb sich ganz der medialen Verbreitung dieser Bot-
schaft, wie das Beispiel des Parteivorsitzenden Carlos Lleras Restrepo zeigt, der
gleichzeitig einer der wichtigsten Architekten des alternierenden Systems war:
Este partido liberal que así se levanta después de todas las persecuciones y sufrimientos, sin
una sola voz de retaliación para predicar la paz y la concordia, representa la mayor fuerza de
la gran coalición que se ha constituido entre liberales y conservadores para dar al país la paz y
el progreso que reclaman. Esta coalición política no tiene delante de sí sino unos pocos grupos
que se le oponen.35
Wie Alberto Lleras in späteren autobiografischen Aufzeichnungen anmerkte,
war er sich stets darüber im Klaren, dass es sich bei der offiziellen Festlegung
auf die Trias "paz, concordia y reconciliación" um eine indoktrinierende Maß-
nahme "von oben" handelte. Er betonte jedoch, dass er niemals angestrebt habe,
die vorangegangene Epoche aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Es sei
ihm vielmehr darum gegangen, den durch den
Frente Nacional
eingeleiteten
Transformationsprozess auf keinen Fall durch das Aufleben alter Feindschaften
oder den neuerlichen Ausbruch politischer Grabenkämpfe zu gefährden.36 So
äußerte er sich beispielsweise anlässlich der Ermordung des ehemaligen Gueril-
leros Guadalupe Salcedo am 6. Juni 1957, indem er die unbedingte Aufklärung
34 Vgl.
Braun.
1985, S. 27.
35
El Tiempo
vom 26. Januar 1958.
36
Vgl.
Lleras, Alberto.
1987.
Obras selectas
. Bd. 4. Bogotá: Biblioteca de la Presidencia
de la República, S. 258 ff.
93
Geschichtspolitik seit 1957
93
der Ursachen der
Violencia
anmahnte. Nur die Suche nach den Gründen könne
Kolumbien den Frieden bringen.37
Ebenso ausdrücklich wies Lleras jedoch darauf hin, dass diese Beschäftigung
mit der Vergangenheit keineswegs kollektive oder institutionelle Dimensionen
annehmen dürfte. Eine solche Form der Erinnerung hielt er für ungünstig, da sie
seiner Meinung nach den nationalen Zusammenhalt gefährdete. Den Campesi-
nos empfahl er daher, all jenen zu misstrauen, die die vergangene Katastrophe
zu ihren Zwecken instrumentalisieren würden. In einer Rede vom Februar 1959
stellte er insofern jedoch klar, dass dies nicht für die Regierung gelte:
Por eso quiero decir y quiero que me escuchen bien los campesinos de Colombia, que ni por
causa ni por culpa del gobierno, mientras yo lo presida y hasta donde yo pueda evitarlo, se
volverá a verter su sangre. Quiero aconsejarles, también, que miren con desconfianza a quien-
quiera que vaya a remover los escombros de la pasada catástrofe con la intención de revivir-
la.38
Aufgrund dieser und ähnlicher Aussagen kann man Lleras kaum zum Vor-
wurf machen, er habe das Vergessen gewissermaßen staatlich verordnet. Die
von ihm ausgesprochenen Warnungen bezüglich einer zu "gründlichen" Ver-
gangenheitsaufarbeitung wurden jedoch von anderen Politikern durchaus als ei-
ne Art "Schweigegebot" verstanden. Obwohl Lleras selbst nur höchst selten von
der Notwendigkeit sprach, das Geschehene völlig zu verdrängen, sahen es viele
seiner Parteigenossen und die meisten konservativen Politiker als eine Tatsache
an, dass der
Frente Nacional
im Grunde als "Pakt des Vergessens" konzipiert
worden war. Insofern trägt Lleras sicher nicht die alleinige Verantwortung für
die Unterdrückung der geschichtlichen Aufarbeitung während dieser Epoche. Er
war es jedoch, der mit seinen Vorgaben über "vorsichtige" Diskussionen und
individuelles Gedenken die allgemeine Linie vorgab. Der Großteil der politi-
schen Eliten wiederum – teils aus echter Überzeugung, teils weil sie während
der
Violencia
schwere Schuld auf sich geladen hatten – übernahm dieses Diktum
nur allzu gerne.
Die Ansicht, dass bestimmte Ereignisse der
Violencia
besser dem Vergessen
anheim fallen sollten, wurde in der von Anfang bis Mitte Mai 1959 geführten
Parlamentsdebatte über
Orden público y porte de armas
besonders deutlich.
Nachdem der "unabhängige" Abgeordnete Soriano González auf die anhaltende
37 Vgl.
La República
vom 8. Juni 1957.
38
Lleras, Alberto.
1976.
Escritos selectos
. Bogotá: Instituto Colombiano de Cultura, S.
199.
94
94
Kapitel II
politische Gewalt auf dem Land hingewiesen hatte, intervenierte Justizminister
Germán Zea Hernández, um auf den seiner Meinung nach "offensichtlichen"
Unterschied zwischen der damaligen Gewalt und der gegenwärtigen Epoche des
Friedens aufmerksam zu machen. Demnach habe das Unterbewusstsein dem
Abgeordneten González einen Streich gespielt:
Yo creo que lo que le ha ocurrido al señor Soriano González, es que lo ha traicionado un poco
el subconsciente. El seguramente cuando hablaba aquí de los muertos y de los atropellos y de
la violencia y de la sangre en torrentes por el territorio nacional, sin querer, le saltaban a la
memoria las épocas en que él ejercía la Gobernación en Santander. Estas son otras épocas,
señor senador. Aquí no se hace violencia por las autoridades.39
Anschließend setzte der Justizminister seine Intervention fort, indem er vor
den Gefahren einer unbedachten Verbreitung politischer Deutungen warnte. Ins-
besondere Radio und Presse hätten in der Vergangenheit dazu beigetragen, dass
sich politische Botschaften in Gewalt, Rache und Hass entluden.40
Um diesen verhängnisvollen Zusammenhang zwischen Medien, politischem
Diskurs und Gewalt zu stoppen, sei der
Frente Nacional
erfunden worden. Denn
das Bündnis der Parteien basiere auf der Grundüberzeugung, dass Eintracht und
Vergessen die Grundvoraussetzungen für die endgültige "Befriedung" Kolum-
biens seien. Die Namen jener Politiker, die während der
Violencia
eine unrühm-
liche Rolle spielten, sollten daher am besten dem Vergessen anheimfallen:
Nosotros queremos la concordia. Que no se hable aquí de muertos liberales ni de muertos
conservadores. Hacía poco le decía a uno de los senadores amigos míos que no hiciera ningu-
na alusión a las afirmaciones que se habían hecho sobre el pasado, en relación con algunas
actuaciones políticas, porque queremos olvidar todo aquello, queremos que se hable de ciuda-
danos colombianos y de ciudadanos del Frente Nacional, y no de aleve golpe contra unos,
para que se suscite inmediatamente en los otros el ansia de la venganza homicida.
[Nuestra] meta fija es la de recobrar a Colombia, la de restaurarla, la de hacer que Colombia
vuelva a ser lo que fue antes, y no esa Colombia mancillada y envilecida por gentes que ten-
ían la conciencia dañada, de algunos políticos de los cuales debemos olvidarnos.41
In den ersten Jahren nach Rojas’ Sturz erschienen regelmäßig Presseartikel, in
denen der Zusammenhang zwischen der Gewalt auf dem Land und den politi-
schen Diskursen der Vergangenheit zur Sprache kam. Meistens wurden diese
Diskurse jedoch als das Werk unverantwortlicher Extremisten präsentiert, wo-
39
El Espectador
vom 14. Mai 1959.
40
Vgl. ebd.
41
Ebd.
95
Geschichtspolitik seit 1957
95
hingegen die große Mehrheit der Politiker als nicht direkt verantwortlich für die
Eskalation der Gewalt dargestellt wurde. In diesem Sinne stilisierten die Mei-
nungsmacher das Programm des
Frente Nacional
zu einer Art "Allheilmittel" im
Kampf gegen das "Krebsgeschwür" der
Violencia
. Anstatt die Ursachen und
Gründe des Bürgerkrieges zu ergründen, erklärten die Eliten das Geschehene
kurzerhand zu einer Krankheit, welche die "Gesundheit der Republik" bedrohen
würde.42
Mit derartigen Metaphern, die in der Folge vielfach wiederholt und bekräftigt
werden sollten, untermauerten die Eliten die populäre Auffassung, nach der die
Violencia
einer "Naturgewalt" gleichkam, deren Ursache für den gewöhnlichen
Menschen unergründlich war.43 Dass die Eliten eine solche Deutung bereitwillig
teilten und sogar zu ihrer Verbreitung beitrugen, kann als Indiz für die eigene
Verantwortung während der
Violencia
betrachtet werden. Denn ein klares
Schuldeingeständnis der Eliten hätte dem
Frente Nacional
die Legitimations-
grundlage entzogen. Obwohl mit Alberto Lleras zwar ein relativ integrer Politi-
ker die Geschicke des Landes bestimmte, war doch ein Großteil der alten Eliten,
von denen einige schwerste Verbrechen zu verantworten hatten, weiterhin im
Staatsapparat vertreten. Die personelle Kontinuität war derart absolut, dass eine
offene Diskussion über Schuld und Sühne das ideelle Fundament des
Frente
Nacional
erschüttert hätte. Ausführliche Debatten über die gewalttätige Vergan-
genheit waren daher eine Seltenheit.
Wenn also gelegentlich dennoch von den Schrecken der Vergangenheit die
Rede war, dann in erster Linie, um einen Vergleich zur "positiven und friedli-
chen" Gegenwart zu schaffen. Den Gegnern des Zwei-Parteien-Paktes sollte vor
Augen geführt werden, dass es keine Alternative zum alternierenden System
gab. Jedwede Abweichung vom eingeschlagenen Weg würde unweigerlich zu
einer Wiederholung früherer Gewaltexzesse führen. In diesem Sinne warnte zum
Beispiel
La República
in einem Leitartikel mit dem Titel
El Origen de la Vio-
lencia
, dass eine zu "gründliche" Erforschung der Vergangenheit nur negative
Folgen haben würde. Ein solches Unterfangen sei hingegen den "Historikern der
Zukunft" vorbehalten.44
Weiterhin merkte der Verfasser des Leitartikels an, dass sich
La República
in
der Vergangenheit stets "neutral" verhalten und unbedachte Kampfaufrufe gegen
42 Vgl.
El Independiente
vom 31. März 1958.
43
Vgl.
Pécaut.
2003, S. 121.
44
Vgl.
La República
vom 27. September 1962.
96
96
Kapitel II
politische Gegner weitgehend vermieden habe. Offensive Stellungnahmen hätte
man nur abgedruckt, wenn Provokationen durch die Anhänger von Laureano
Gómez oder linksradikale Kräfte voraus gegangen waren. Es bestehe nämlich
kein Zweifel daran, dass das Land Vergebung, Reue und Vergessen benötige.45
Insgesamt betrachtet war der in verschiedenen Zeitungsartikeln und politi-
schen Reden verwendete Diskurs von der
Violencia
als "Drohung" allerdings
höchst widersprüchlich. Denn während die politischen Eliten einerseits verlang-
ten, die
Violencia
möglichst schnell zu vergessen, bemühten sie andererseits die
Vergangenheit, wenn es darum ging, die Gegner des
Frente Nacional
einzu-
schüchtern.
Da Verweise auf Gräueltaten während der
Violencia
– auch wenn sie gegen
Feinde des
Frente Nacional
gerichtet waren – immer mit einem politischen Ri-
siko verbunden waren, hielten sich derartige Darstellungen in der Zeit nach 1957
in engen Grenzen. Lleras’ quasi-offizieller Richtlinie folgend war eine detaillier-
te Darstellung der Vorfälle eher unerwünscht. Die Regel war im Gegenteil die
gezielte Verharmlosung der Gewalt auf dem Land. So finden sich zahlreiche
Leitartikel und Politiker-Interviews, in denen der große Erfolg militärischer
Operationen beschworen wird. Die
Violencia
sei demnach an ihr definitives En-
de gelangt, was sich einzig und allein dem Wirken des
Frente Nacional
verdan-
ke. In einem Interview mit
El Espectador
ging der Gouverneur des Departe-
ments Valle del Cauca sogar so weit, die
Violencia
als "Geschichte" zu bezeich-
nen, wobei er einen obskuren Vergleich mit der "Schwarzen Pest" des europä-
ischen Mittelalters zog. Ebenso wie die Pest lasse sich auch die
Violencia
durch
"moderne" Maßnahmen beenden.46
Wider besseres Wissen verstiegen sich manche Politiker sogar zu der Behaup-
tung, dass viele
Violencia
-Tote in Wirklichkeit eines "natürlichen" Todes ge-
storben seien. Opferzahlen seien von der Presse übertrieben worden, um dem
Ansehen des
Frente Nacional
zu schaden.47 Der heutigen Forschung folgend
war die Zahl der Todesopfer während der Schlussphase der
Violencia
zwar we-
sentlich geringer als im Zeitraum von 1948 bis 1953. Im Vergleich zur Regie-
rungszeit von Rojas Pinilla (1953–1957) nahm sie zwischen 1957 und 1963 je-
doch wieder zu.48 Die Aktivitäten der
bandoleros
leugnend, riefen regionale und
45 Vgl. ebd.
46
Vgl.
El Espectador
vom 1. November 1958.
47
Vgl.
El Tiempo
vom 14. Januar 1961.
48
Vgl.
Molano, Alfredo.
1978.
Amnistía y violencia
. Bogotá: CINEP, S. 52.
97
Geschichtspolitik seit 1957
97
lokale Politiker dennoch regelmäßig das "Ende" der
Violencia
aus. So behaupte-
ten beispielsweise die Gouverneure der Departements Caldas und Valle del
Cauca, dass von einer Zunahme der
Violencia
keine Rede sein könne. Es würde
sich nur um sporadische Fälle unorganisierter Gewalt handeln, die mit der bluti-
gen Vergangenheit in keinerlei Zusammenhang stünden.49 Den Gipfel derartiger
Verharmlosungen stellte jedoch ein Zeitungsartikel vom 11. März 1961 dar.
Darin berichteten mehrere Gouverneure, die ihre Departements unter den beson-
deren Bedingungen des Ausnahmezustands50 regierten, über die angebliche Ab-
nahme gewalttätiger Vorfälle. Sie stellten fest, dass es sich bei der jüngsten Wel-
le des Verbrechens in Wirklichkeit um eine unzulässige Übertreibung durch die
Medien handeln würde, was in der öffentlichen Meinung zu einer regelrechten
"
Violencia
-Psychose" ("sicosis de la violencia") geführt hätte.51
Davon abgesehen, dass die ohnehin überwiegend systemtreuen Medien es
kaum wagten, die Zunahme der Gewalt mit eindeutigen Worten anzuprangern
oder gar das System als solches anzugreifen, war die anschließende Erklärung
der Gouverneure auch im Übrigen völlig unglaubwürdig. Um ihr eigenes Un-
vermögen zu rechtfertigen, reduzierten sie die anhaltende
Violencia
auf ein so-
zioökonomisches Problem, das sich nur sporadisch in unpolitischen Gewalttaten
manifestieren würde. Die zusammenfassende Erklärung der Gouverneure kann
somit als Musterbeispiel eines "Verharmlosungsdiskurses" gelten, wie er seit
1957 immer häufiger formuliert wurde:
1. La violencia, como fenómeno nacional, no constituye un problema de enorme magnitud.
Está afectando más al país la creencia de que la situación es grave, que la propia situación en
sí.
2. Existe una tendencia generalizada de exagerar los hechos violentos que se producen es-
porádicamente.
3. Se comete muy comúnmente el error de confundir incidentes personales y muertes acciden-
tales con actos de violencia.
49
Vgl.
El Tiempo
vom 14. Januar 1961.
50
Gemäß Artikel 121 der Verfassung von 1886 (gültig bis 1991) war der Präsident nach
Ausrufung des so genannten
estado de sitio
befugt, per Dekret am Parlament vorbei zu regie-
ren. Nach dem Ende des Ausnahmezustandes wurden die erlassenen Dekrete vom Obersten
Gerichtshof (
corte suprema
) geprüft und auf diese Weise häufig in Gesetze umgewandelt,
ohne das der Kongress daran beteiligt war. Vgl. hierzu
Heinz, Wolfgang.
1997. Die kolum-
bianische Verfassung. In: Altmann, Werner/Thomas Fischer/Klaus Zimmermann (Hgg.).
Ko-
lumbien heute
. Frankfurt a. M.: Vervuert, S. 137 f.
51
Vgl.
El Tiempo
vom 11. März 1961.
98
98
Kapitel II
4. Los debates políticos y las divergencias de la misma índole no constituyen causa funda-
mental de hechos sangrientos.
5. Por encima de los problemas políticos, y del orden público, existe una situación delicada
que es necesario atender a tiempo para evitar que conduzca, en el futuro, a acontecimientos
verdaderamente imprevisibles: la de vastas zonas de la población que sufren serios problemas
económicos y sociales.52
Dass die von den Gouverneuren beschuldigte Presse in Wirklichkeit keine
Schuld an der angeblichen "
Violencia
-Psychose" hatte, bestätigen zahlreiche
Artikel, in denen sich die Journalisten von
El Tiempo
,
El Espectador
,
La
República
und
El Siglo
eine Art Selbstzensur auferlegten. Stellvertretend für die
gran prensa
formulierte etwa ein Kolumnist in
El Espectador
, dass die detail-
lierte
Violencia
-Berichterstattung früherer Jahre (von ihm als "género literario"
bezeichnet), nicht länger erstrebenswert sei:
Sobra decir que los periodistas no tenemos la menor culpa de que este mal nacional nos im-
ponga la ocasión de perfeccionarnos en el manejo especializado de tan indeseable género lite-
rario. Nadie podrá negar que el lenguaje bravío que antes caracterizara cierto tipo de refriegas
periodísticas, y que estaba reconocido como uno de los factores incendiarios del orden públi-
co nacional, sea hoy una etapa superada casi totalmente en nuestras costumbres de política
pasional.53
La República
fügte dem noch die Forderung nach Vergebung und Vergessen
hinzu und folgte damit der Auffassung, die nach 1957 in der "öffentlichen Mei-
nung" dominierte: "Este diario es ajeno a toda clase de polémicas personales, y
trabaja con abnegación por la unión conservadora. Respetamos a los que han
disentido de nosotros y comprendemos que la patria necesita de grandes dosis de
perdón y de olvido".54
Obwohl die Rede von "Frieden, Eintracht und Versöhnung", das Heraufbe-
schwören der Vergangenheit als "Drohung" oder die Verharmlosung der Ge-
walttaten häufig Anwendung fanden, stellte der "Diskurs des Vergessens" ohne
Zweifel die beliebteste Strategie der Eliten dar. Die
Violencia
war zwar zwi-
schen 1957 und 1962 zum Thema unzähliger Zeitungsberichte, Leitartikel, Mei-
nungskolumnen und Kongressdebatten geworden. So gut wie nie ging es dabei
jedoch um eine ernsthafte Aufklärung der Gründe und Ursachen, sondern fast
immer um deren Auslöschung aus dem historischen Gedächtnis.
52
Ebd.
53
El Espectador
vom 23. Januar 1961.
54
La República
vom 13. Juli 1957.
99
Geschichtspolitik seit 1957
99
Insbesondere in der konservativen Presse wurde der "Diskurs des Vergessens"
seit dem Ende der Militärdiktatur zu einem festen Bestandteil der täglichen Be-
richterstattung. Die Forderung nach Vergessen ging dabei nicht selten mit der
Ausblendung historischer Verantwortung einher. So beschrieb etwa ein Leitarti-
kel in
La República
den hohen Wert "symbolischen Vergessens" ausgerechnet
am Beispiel von Gustavo Salazar García. Bei ihm handelte es sich immerhin um
einen Politiker, der allgemein als rechte Hand des gefürchteten León María Lo-
zano, alias "El Cóndor", bekannt war.55 Obwohl Lozano zu diesem Zeitpunkt
bereits tot war, hatten viele Menschen in den Departements Huila und Valle del
Cauca seine grausamen Taten noch längst nicht vergessen. Angesichts der neuen
Politik der "Versöhnung" und des "Vergessens" sah die Redaktion von
La
República
darin jedoch keinen Grund, dem "verdienstvollen" Parteimitglied Sa-
lazar die Ehrerbietung für seine "großen Leistungen" zu verweigern.56 Zwar teil-
ten so gut wie alle Meinungsmacher und Politiker die Überzeugung, dass die
anhaltende
Violencia
verabscheuenswert sei und daher unbedingt beendet wer-
den müsse. Doch sobald die Rede auf ihre Ursachen und Gründe kam, folgte
schnell der Hinweis auf das Grundprinzip des
Frente Nacional
: "totales Verges-
sen":
Nada justifica hoy la violencia, sobre la cual sólo florecen el despotismo y la anarquía. El
acuerdo de las dos colectividades históricas se ha hecho sobre la base de un total olvido del
pasado a base de la condenación implacable del bandolerismo y del delito. La venganza y la
retaliación harán de Colombia un vasto cementerio, un campo de desolación y de ruina.57
Sofern Kritiker des Zwei-Parteien-Systems den Versuch unternahmen, dieses
ungeschriebene Gesetz zu hinterfragen, drohte ihnen der Ausschluss vom politi-
schen Prozess. Als Folge der eingeschränkten Meinungsfreiheit hatten die meis-
ten Parlamentsdebatten zur
Violencia
einen oberflächlichen Charakter und han-
delten lediglich von der Zerstörung der Infrastruktur, der schlechten sozioöko-
nomischen Lage der Bevölkerung oder den zu ergreifenden Wiederaufbaumaß-
nahmen. In den wenigen Fällen, in denen Abgeordnete oder Senatoren auf die
historischen Gründe der Auseinandersetzung eingingen, wurden sie von den
Repräsentanten der "Mehrheit" sofort auf die "offizielle" Linie verwiesen. In
diesem Sinne griff etwa der konservative Abgeordnete Hugo Escobar Sierra in
55
Vgl.
Molano.
1985, S. 76 u. 85 sowie
Guzmán/Fals Borda/Umaña Luna
. 1977, Bd. 1,
S. 165 ff.
56
Vgl.
La República
vom 26. August 1957.
57
La República
vom 29. Sept. 1957.
100
100
Kapitel II
eine Diskussion um die Bedeutung des 9. April ein, indem er die Kontrahenten
vom MRL und der Konservativen Partei daran erinnerte, dass eine Vertiefung
der Materie dem
Frente Nacional
schaden würde:
Aquí se dan muchas interpretaciones del 9 de abril; particularmente no me conduce entrar en
el debate, porque comprendo muy bien, que teniendo origen en el ala revolucionaria liberal
comunista, interesada en destruir el Frente Nacional, es apenas explicable que procuren im-
pulsar ciertos estímulos de reyerta entre los dos partidos para dar una sensación de que se
acaba la política del Frente Nacional. Por eso este debate no me resulta grato, ni agradable ni
satisfactorio, porque el Frente Nacional está montado sobre un mutuo acuerdo de los partidos
para olvidar esas diferencias y esos agravios que nos mueven por igual, nos agitan pasional-
mente para controvertir hechos históricos que aquí se exhiben en esta tarde.58
Dass der hier formulierte "Pakt des Vergessens" auch nach dem Ende der Re-
gierungszeit von Alberto Lleras weiter Bestand haben sollte, verdeutlichte eben-
so beispielhaft eine Rede des Kongresspräsidenten Víctor Mosquera Chaux, der
anlässlich der Amtseinführung von Guillermo León Valencia erklärte, dass die
Regierung ihre Pflicht erfüllt habe, indem sie die Aufarbeitung der Vergangen-
heit verhindert und sich stattdessen auf die Beseitigung der Folgenschäden des
Bürgerkrieges konzentriert hätte. Er sei sich jedoch nicht sicher, ob auch die üb-
rigen Staatsbürger ihren Beitrag leisten würden.59
Mit seiner Befürchtung, dass das Volk die Botschaft des
Frente Nacional
womöglich nicht angenommen haben könnte, war der Kongresspräsident nicht
alleine. Zudem verlor die These, der zufolge eine zu intensive Erforschung der
Violencia
schädlich sei und letztlich zu neuer politischer Gewalt führen könne,
gegen Ende der Amtszeit von Alberto Lleras immer mehr an Überzeugungs-
kraft. Dennoch beharrten die Traditionsparteien weiterhin auf dem "Pakt des
Vergessens", wenngleich einige ihrer Mitglieder den Sinn dieser Doktrin in zu-
nehmendem Maße bezweifelten. So äußerte etwa der Kriegsminister Alberto
Ruiz Novoa die Sorge, die
Violencia
hätte bereits ihren Weg in die Literatur und
in die Kunst gefunden.60 Es erfüllte ihn zwar mit Zufriedenheit, dass die Aktio-
nen der
bandoleros
bei fast allen Parlamentariern auf Ablehnung stießen. Jedoch
hielt er die "neue"
Violencia
in den rapide wachsenden Armenvierteln der Städte
sowie die damit einhergehende Ausbreitung einer regelrechten Gewaltkultur für
weitaus schlimmer als die frühere "Subversion". Diesen bedenklichen Zustand
58
AdC
. 1960, Nr. 91, S. 1370.
59
Vgl.
AdC.
1962, Nr. 71, S. 946.
60
Vgl.
AdC.
1962, Nr. 73, S. 979 ff.
101
Geschichtspolitik seit 1957
101
sah er durch ein Bild des Malers Alejandro Obregón (
La Violencia
61) sowie
durch die mittlerweile weit verbreitete
Violencia
-Literatur bestätigt:
Es tal la cronicidad de la violencia en Colombia, que ya ella se está proyectando sobre, inclu-
sive, en las formas de la cultura colombiana. La mayoría de la literatura colombiana habla de
la violencia; en el último salón de artistas colombianos fue dado el primer premio a un cuadro
titulado 'La Violencia' que representaba a una mujer yacente, desnuda y preñada de peligros.
Yo quisiera imaginarme a esa mujer ya muerta, y si no lo está, quisiera que esta noche la con-
denáramos a muerte.62
2.2 Zivilisation vs. Barbarei
Wenngleich die Rede von "Frieden, Versöhnung und Vergessen" in quantitativer
Hinsicht am bedeutendsten war, gab es zwischen 1957 und 1962 auch Stimmen,
die eine aktivere Geschichtspolitik forderten. Verschiedene Persönlichkeiten aus
den Parteien oder dem Mediensektor weigerten sich, die Vergangenheit einfach
totzuschweigen oder einen Schlussstrich zu ziehen. Um dem
Frente Nacional
eine neue Legitimationsgrundlage zu verschaffen, zogen sie bewusst die Ge-
schichte heran. Da aber insbesondere die Konservativen erhebliche Schwierig-
keiten hatten, ihre "ruhmreiche" Rolle während der
Violencia
herauszustreichen,
mussten sie die historischen Fakten entsprechend "anpassen". Dabei handelte es
sich jedoch keineswegs um eine Form des Protests gegen das von Lleras aus-
gesprochene "Vertiefungsverbot". Im Gegenteil, die historischen Differenzen
zwischen den Traditionsparteien blieben von einer gründlichen Erforschung
ausgenommen.
Insgesamt lassen sich drei Hauptargumentationslinien der politischen Eliten
ausmachen, mit denen die Herrschaft des
Frente Nacional
historisch unter-
mauert werden sollte. Dies war zum einen die vielfach verbreitete These, der
Diktator Rojas Pinilla habe die Hauptschuld an der Ausweitung der
Violencia
getragen. Der von ihm gestürzte Laureano Gómez – jetzt als Mitbegründer des
Frente Nacional
geschätzt – käme hingegen nicht als Verantwortlicher für die
Gewaltwelle zu Beginn der 50er Jahre in Frage. Weiterhin behaupteten vor al-
lem rechtsgerichtete Kreise innerhalb der politischen Eliten, die Ermordung
Gaitáns und der sich anschließende
bogotazo
seien vom "internationalen Kom-
61 Siehe auch Abb. 15. auf S. 386.
62
Ebd., S. 980.
102
102
Kapitel II
munismus" geplant und ausgeführt worden. Schließlich stand noch die Theorie
im Raum, dass die eigentliche Ursache der
Violencia
im "barbarischen Charak-
ter" der Volksmassen zu suchen sei.63
Im Sinne der quasi-offiziellen Ideologie des
Frente Nacional
war es den poli-
tischen Eliten durchaus "erlaubt", über solche Themen zu diskutieren. Sofern sie
nämlich die Schuld bei Rojas, den Kommunisten oder dem "Volk" ausmachten,
bestand keine Gefahr für die Stabilität des Systems. In der Folge machten daher
Teile der politischen Eliten regen Gebrauch von diversen Formen der Ge-
schichtsklitterung.
Am Beginn aller Debatten stand jedoch zunächst die Frage, wie die jüngste
Vergangenheit überhaupt zu benennen sei. Anstatt ständig von "La Violencia"
zu sprechen, forderte etwa der konservative Senator José Antonio Montalvo,
über die historische Einordnung des Geschehenen zu diskutieren. Obwohl seine
Rede nicht auf nennenswerten Widerhall stieß, zeigt sie dennoch, dass Teile der
politischen Eliten dem Status Quo skeptisch gegenüber standen. Als Anhänger
des
Frente Nacional
ging es Montalvo in erster Linie darum, die
Violencia
als
das Produkt einer kommunistischen Verschwörung zu interpretieren. In der Re-
gierungszeit von Ospina Pérez hatte er als Innenminister (
ministro de Gobierno
)
einen harten Kurs gegen aufständische liberale Gruppen vertreten, die er bereits
damals als "Kommunisten" einstufte. Seiner Strategie der militärischen Unter-
werfung gab er bezeichnenderweise den Namen "política de sangre y fuego", die
heute jedoch vor allem mit der Regierungszeit von Gómez und Urdaneta in Ver-
bindung gebracht wird.64 Trotzdem fragte er sich, ob insgesamt von einer Epo-
che des "Verbrechens" oder einer Zeit der "sozialen Revolution" die Rede sein
sollte.65
Als besonders unpassend wertete es die Führungsriege des
Frente Nacional
,
wenn jemand aus ihren eigenen Reihen die anhaltende
Violencia
auf politische
Faktoren zurückführte. Schließlich galt der Grundsatz, dass weder die momen-
tane Gewaltwelle noch die vergangene
Violencia
einen ausgesprochen politi-
schen Charakter gehabt hätten. So warnte etwa der Gouverneur von Antioquia
63
Diese Thesen fanden sich zwischen Mai 1957 und Oktober 1962 nahezu wöchentlich in
der
gran prensa
.
64
Vgl.
Alape, Arturo.
1989.
Las vidas de Pedro Antonio Marín, Manuel Marulanda
Vélez, Tirofijo
. Bogotá: Planeta, S. 38.
65
Vgl.
AdC.
1959, Nr. 196, S. 2577.
103
Geschichtspolitik seit 1957
103
eindringlich die Presse davor, gegen diese ungeschriebene Regel zu verstoßen,
um nicht den
bandoleros
in die Hände zu arbeiten.66
Wenn Angehörige der Eliten dennoch politisierten, wurden sie für gewöhnlich
schnell zur "Vernunft" gebracht. So hatte beispielsweise die liberale Abgeordne-
te Carmenza Rocha in einem Bericht an den Kongress geschrieben, dass es in
einigen Departements nach wie vor zu politischen Gewalttaten käme. Insbeson-
dere in den Gemeinden Villarica und Cunday sei der liberale
bandolero
"Resor-
tes" der einzige Akteur, der die dortigen Liberalen vor den Übergriffen der Kon-
servativen zu schützen vermöge.67 Daraufhin warfen ihr gleich mehrere Ab-
geordnete vor, unnötig Partei für die Liberalen ergriffen sowie das Justizsystem
des
Frente Nacional
diskreditiert zu haben. Die derart angegriffene Carmenza
Rocha sah sich im Anschluss gezwungen, vor dem Kongress Rede und Antwort
zu stehen. Indem sie darauf verwies, dass sie falsch zitiert worden sei, entschärf-
te sie zunächst den Vorwurf der einseitigen Parteinahme. Anschließend forderte
sie "Versöhnung und Vergessen", um zusätzlich ihre Systemtreue zu bekräftig-
ten:
Entonces no cabe la palabra agresiva, no cabe la palabra que invite al rencor, no cabe sino la
palabra buena que invite al olvido y que si usted y yo con los demás del Tolima nos resolve-
mos a esta cruzada, creo que nuestras consciencias quedarán en paz y que los frutos de recon-
ciliación seguramente llegarán.68
Die einzige Möglichkeit einigermaßen systemkonform zu argumentieren, da-
bei aber gleichzeitig den politischen Charakter der früheren
Violencia
zuzuge-
ben, bestand darin, die ganze Schuld auf Rojas Pinilla zu schieben. Schließlich
habe dieser vor seinem Sturz am 10. Mai 1957 nichts getan, um die Gewalt ein-
zudämmen. Politisch motivierte Verbrechen seien im Übrigen niemals direkt
von den Parteimitgliedern verübt worden. Einem Leitartikel in
El Espectador
zufolge sei es daher besonders schwer zu verstehen, warum die Gewalttäter auch
noch
nach
dem 10. Mai ihr Unwesen trieben:
La violencia se fue así deformando tanto en el sentido profundo como en sus manifestaciones
y no fueron pocos los que de la condición de guerrilleros pasaron a la de simples bandidos.
Los partidos políticos los desautorizaron como no podían dejar de hacerlo, pero algunos insis-
tieron en cubrir con banderas ilustres propósitos inconfesables y crímenes impunes. Todo eso
66 Vgl.
El Espectador
vom 25. März 1959.
67
Vgl.
AdC.
1959, Nr. 160, S. 2026 f.
68
Ebd., S. 2027.
104
104
Kapitel II
era antes del 10 de mayo, pero después, al iniciarse la transformación del país, la explicación
de estos hechos resulta más difícil todavía.69
Eine weitere Strategie zur Betonung von Rojas’ "Schuld" bestand darin, einen
Vergleich mit dem "zu Unrecht" angegriffenen Laureano Gómez herzustellen.
Dem konservativen Repräsentanten Carlos Sardi zufolge waren somit sämtliche
Anspielungen falsch, die Gómez als Hauptschuldigen der
Violencia
ausmachten.
Derartige Stellungnahmen seien vielmehr als Angriff auf den
Frente Nacional
bzw. den Staat in seiner Gesamtheit zu werten.70 Rojas, der nach seiner Rück-
kehr aus dem Exil von einem Sondertribunal des Senats angeklagt wurde, habe
sich zudem als Geschichtsfälscher entpuppt:
Como todo un estratega, desde el banquillo de los acusados, les dice [Rojas] que la mejor ma-
nera de defensa es el ataque, y viene, efectivamente, el ataque mendaz y calumnioso contra la
administración anterior al golpe de cuartel, que ellos tildan de 'la otra dictadura' y contra el
Jefe del partido conservador, doctor Laureano Gómez, quien es, como ya vimos y como lo
sabe todo el país, uno de los pilares en que se apoya el Frente Nacional.71
Ebenso wenig mangelte es an Kommentatoren, die sogar den Ursprung der
Gewalt auf Rojas zurückführten. Da sich dieser seit Oktober 1958 auf der An-
klagebank befand, beschäftigten sich Konservative und Liberale gleichermaßen
mit seiner Rolle während der
Violencia
. Die dabei vorgetragenen Klagen er-
schöpften sich jedoch in Allgemeinheiten und zielten lediglich darauf ab, den
ehemaligen
jefe supremo
zum Alleinverantwortlichen für alle Übel zu erklären.
Die Zeit vor 1953 kam dabei so gut wie nie zur Sprache, wohingegen Laureano
Gómez von
El Siglo
zum "Widerstandskämpfer" verklärt wurde.72
Insgesamt ließen die politischen Eliten nur wenig Bedarf erkennen, die ge-
nauen Hintergründe der Diktatur aufzuklären, denn in diesem Falle hätten nicht
wenige von ihnen auf die eigenen Verbindungen zum gestürzten Regime einge-
hen müssen.73 So kam es, dass Rojas trotz einer Reihe schwerwiegender Vor-
würfe den Prozess nahezu unbeschadet überstand. Am Ende entzog ihm das Tri-
bunal lediglich seine politische Rechte; ein Urteil, das der Oberste Gerichtshof
kurze Zeit später wieder aufhob. Im Anschluss konnte sich der ehemalige Dikta-
tor daher ungestört dem Aufbau seiner neuen populistischen Partei (ANAPO)
widmen, mit der er den alteingesessenen Eliten das Leben schwer machen sollte.
69
El Espectador
vom 21. April 1958.
70
Vgl.
AdC.
1959, Nr. 31, S. 310 f.
71
Ebd., S. 311.
72
Vgl.
El Siglo
vom 12. Oktober 1957.
73
Vgl.
Bushnell.
2003, S. 311 f.
105
Geschichtspolitik seit 1957
105
Eine weitere beliebte Variante der Geschichtsklitterung durch die Eliten be-
stand darin, die
Violencia
allgemein auf die "Mentalität" des Volkes zurückzu-
führen. Nach der damaligen (teilweise auch der heutigen) Auffassung existierte
nämlich ein klarer Gegensatz zwischen den "barbarischen" Volksmassen und der
"zivilisierten" Elite des Landes. Am deutlichsten hatte diese herablassende Hal-
tung gegenüber dem Volk im Jahre 1953 Laureano Gómez formuliert, als er das
Schlagwort vom "oscuro e inepto vulgo" prägte. Die unteren Schichten seien
demnach nicht in der Lage rationale Entscheidungen zu treffen, weswegen das
allgemeine Wahlrecht für Kolumbien ungeeignet sei:
El sufragio universal, inorgánico y generalizado interviniendo en toda la vida social para defi-
nir la dirección del Estado, contradice la naturaleza de la sociedad. El manejo del Estado es
por antonomasia obra de la inteligencia. Una observación elemental demuestra que la inteli-
gencia no está repartida en porciones iguales entre los sujetos de la especie humana. Por este
aspecto la sociedad semeja una pirámide cuyo vértice ocupa el genio si existe en un país dado,
o individuo de calidad destacadísima por sus condiciones intelectuales. Por debajo encuén-
transe quienes por menos capacidades son más numerosos. Continúa así una especie de estra-
tificación de capas sociales, unas abundantes en proporción inversa al brillo de la inteligencia,
hasta llegar a la base [...] la más amplia y nutrida que soporta toda la pirámide y está integrada
por el oscuro e inepto vulgo donde la racionalidad apenas aparece para diferenciar los seres
humanos de los brutos [...].74
Auch bei den zu Beginn des
Frente Nacional
geführten Diskussionen über die
Ursachen der Gewalt eignete sich der Verweis auf die Manipulierbarkeit der
analphabetischen Campesinos vorzüglich, um von der eigenen Verantwortung
abzulenken. In diesem Sinne spielte es keine Rolle mehr, dass im Grunde erst
die von den Eliten verhinderte
revolución en marcha
zu schweren sozialen
Spannungen auf dem Land geführt hatte, die schließlich in die
Violencia
münde-
ten.75 Die Architekten des
Frente Nacional
waren vielmehr darauf aus, dem
"Volk" insgesamt negative Eigenschaften wie Faulheit, Dummheit oder geneti-
sche Degeneriertheit zu unterstellen. Der Zweck dieser "Theorien" bestand in
erster Linie darin, den Zusammenhang zwischen politischen Entscheidungen auf
der höchsten Ebene und den scheinbar irrationalen Gewaltakten der Campesinos
zu verdunkeln. Diese Absicht war jedoch derart offensichtlich, dass sie sogar
zum Thema eines Leitartikels von
El Espectador
wurde. Dessen Verfasser mein-
te, dass bezüglich der im Kongress geführten
Debate sobre la Violencia
zwei
74
El Siglo
vom 21. März 1953.
75
Vgl.
König.
1997, S. 128.
106
106
Kapitel II
Tendenzen festzustellen seien. Zum einen gebe es Abgeordnete, denen daran
gelegen sei, die "wahren" Ursachen der nationalen Katastrophe um jeden Preis
aufzudecken und zu analysieren. Zum anderen seien da aber noch jene Parla-
mentarier, die nichts anderes im Sinn hätten, als eine solche Analyse nach Kräf-
ten zu verhindern.76 Nach Meinung von
El Espectador
ging es den Parlamenta-
riern entweder darum zu beweisen, dass das Sektierertum noch immer das Han-
deln der politischen Eliten bestimmte und darüber hinaus tief in der Mentalität
des "Volkes" verwurzelt sei, oder aber sich längst auf dem Rückzug befinde und
im Grunde keine Rolle mehr spiele.77
Dabei unterstellten die Eliten, dass es gewissen "zivilisierten" Persönlichkei-
ten durchaus gelungen sei, den parteigebundenen Hass früherer Tage zu begra-
ben. Beim "Volk" schienen diesbezüglich jedoch Zweifel angebracht. In einer
Meinungskolumne in
La República
bestätigte der Gerichtsmediziner Guillermo
Uribe Cualla diese Auffassung in ungleich schärferer Form. Im Rahmen einer
Sonderspalte zum Problem der
Violencia
(
La Violencia y el Frente Nacional
)
schrieb er, dass ein klarer Zusammenhang zwischen der
Violencia
und der "De-
generiertheit" der Massen bestehe. Dabei ließ er keinen Zweifel, dass insbeson-
dere "kulturelle" Faktoren für die Exzesse des 9. April 1948 verantwortlich ge-
wesen seien:
Nunca pudiera uno imaginarse que en el pueblo existiera tal capacidad delictiva en estado
latente, porque sólo en un medio corrompido, sin educación, sin cultura religiosa, sin moral,
degenerado y mil veces tarado, pueden registrarse actos de tanta barbarie y crueldad como el
vil y mil veces execrable asesinato de Gaitán, y la destrucción de Bogotá.78
Bei derartigen Ansichten, die von einer "niederen Kultur" der Volksmassen
ausgingen und die
Violencia
ausschließlich als Phänomen der unteren Schichten
betrachteten, schwang nicht selten eine gehörige Portion Rassismus mit. In zahl-
reichen Meinungskolumnen und Leitartikeln zogen Journalisten und Politiker
immer wieder Vergleiche zwischen den Campesinos Kolumbiens und den oft als
"cafres" ("Wilde") bezeichneten Bewohnern Afrikas. Daneben erschienen diver-
se Karikaturen, in denen das "degenerierte" Volk ebenfalls in der Gestalt afrika-
nischer Stammesangehöriger auf die unterste Stufe der so genannten "Zivilisati-
76 Vgl.
El Espectador
vom 30. Januar 1961.
77
Ebd.
78
La República
vom 8. Oktober 1957.
107
Geschichtspolitik seit 1957
107
on" gestellt wurde.79 Den Machern von
El Tiempo
fiel so beispielsweise auf,
dass ein barbarisches Gemetzel wie die
Violencia
eigentlich nur beim "Zivilisa-
tionsstand" kongolesischer Stämme erklärbar sei.80
An pseudoanthropologischen Theorien, nach denen sich die Gewalt im "Vol-
ke" direkt von den indianischen Vorfahren herleiten würde, herrschte ebenfalls
kein Mangel. So zeigte sich etwa der Kolumnist Rafael Bernal Jiménez über-
zeugt davon, dass die Entstehung einer "gewaltsamen Rasse" in Kolumbien ih-
ren Ursprung in vorspanischer Zeit habe. Im Fortbestehen einer über mehrere
Generationen vererbten Gewaltkultur sah er das größte Hindernis für die weitere
Entwicklung Kolumbiens:
La persistencia de modos de vida rudimentaria y de conceptos morales ya superados por for-
mas de comportamiento social más civilizadas, en todos los pueblos cultos de nuestros días,
es uno de los factores que, sin duda, vienen contribuyendo a retardar el ritmo del armónico
progreso del pueblo colombiano. Es presumible que mientras tales factores no se eliminen,
continuará vigente el problema de la violencia y la barbarie […]81
In einem Leitartikel mit dem Titel
Etiología de la Violencia
ging die Redakti-
on von
La República
sogar noch ausführlicher auf den "ethnischen" Hintergrund
der Gewalt ein. Denn nicht das indianische Element alleine, wie vom Kolumnis-
ten Bernal behauptet, sondern erst die Vermischung von Iberern, Indianern und
Afrikanern habe zur Entstehung einer endemischen Gewaltkultur geführt:
Desde luego, el fenómeno de la violencia no es de los que pueden examinarse en un artículo
de periódico. Su etiología es vasta y compleja. Hay factores étnicos de indiscutible importan-
cia. Nuestra raza es la ibero-indo-africana. Los iberos se contagiaron del fanatismo moro; al-
gunos de nuestras tribus indígenas eran caníbales; los negros no son ejemplo de ecuanimidad
y tolerancia, como se está viendo ahora en el continente africano. Tenemos una tradición de
violencia y sectarismo […]82
Am häufigsten wurden zur Begründung der
Violencia
jedoch nicht endogene,
sondern exogene Faktoren ins Feld geführt. Im Sinne einer aktiven Geschichts-
politik versuchten die Eliten in Zeitungsartikeln und Parlamentsdebatten die
"Öffentlichkeit" vom negativen Einfluss "fremder", das heißt kommunistischer,
Kräfte zu überzeugen. Dahinter stand die kaum verhüllte Absicht, sowohl die
79
Bei der Veröffentlichung rassistischer Karikaturen taten sich im untersuchten Zeitraum
besonders die Zeitungen
La República
und
El Siglo
hervor; zu ähnlichen Abbildungen im
Zeitraum von 1936 bis 1949 siehe
Acevedo Carmona.
1995, S. 193–220.
80
El Tiempo
vom 3. März 1962.
81
La República
vom 9. Februar 1958.
82
La República
vom 4. Mai 1961.
108
108
Kapitel II
aktuelle Gewaltwelle als auch die Ursprünge des Konflikts auf Faktoren zurück-
zuführen, die unmöglich mit dem Wirken der Eliten in Verbindung stehen konn-
ten. Denn im Unterschied zu den Diskursen von der "endemischen Gewaltkul-
tur" oder der "Schuld des Diktators" brauchte die politische Klasse nicht zu be-
fürchten, sich einer Zusammenarbeit mit den Kommunisten verdächtig zu ma-
chen. Bis auf einige Abgeordnete des MRL gab es keinen politischen Akteur,
der den teilweise abstrusen Theorien über das Wirken der Kommunisten wider-
sprochen hätte. Zwar stimmt die neuere Forschung darin überein, dass spätestens
seit der kubanischen Revolution der Einfluss marxistischer Ideologien in Ko-
lumbien zunahm.83 Das von den Eliten gezeichnete Bild, nach dem die Kommu-
nisten bereits die Ermordung Gaitáns in Auftrag gegeben hätten, war jedoch nur
schwer mit der Realität vereinbar.
Seit dem Sieg der kubanischen Revolution (1. Januar 1959) erschien fast jede
Woche eine neue Nachricht über die revolutionären Veränderungen auf der ka-
ribischen Insel und die Auswirkungen auf die westliche Hemisphäre. Die Reak-
tionen auf den von Fidel Castro eingeleiteten Umgestaltungsprozess waren dabei
zu Beginn durchaus positiv. Erst als sich im Laufe der Jahre 1960/61 die Bezie-
hungen zwischen Washington und Havanna dramatisch verschlechterten und
sich Castro im April 1961 offiziell zum Sozialismus bekannte, nahm auch in
Kolumbien die Zahl seiner Kritiker zu. Insbesondere von konservativer Seite
wurde nun eindringlich vor den Auswirkungen des "internationalen Kommu-
nismus" gewarnt. Meist war jedoch in einer ziemlich allgemeinen Form vom
diffusen Wirken "dunkler Kräfte" die Rede. In einem typischen Versuch die
Vio-
lencia
in der Region Valle del Cauca zu erklären, sprach Gouverneur Absalón
Fernández de Soto etwa von "fuerzas oscuras de raíz comunista".84 Ansonsten
beschränkte er sich in einem Interview mit
El Espectador
darauf, die Ursprünge
der Gewalt auf den "Import" verbrecherischer Elemente aus anderen Landestei-
len zurückzuführen. Auf keinen Fall wollte er jedoch, dass in der öffentlichen
Meinung der Eindruck entstünde, es handle sich bei seiner Region um eine "bar-
barische".
Dabei insinuierte der Gouverneur, dass die Gewalttaten der Vergangenheit
hauptsächlich von Gruppen wie den aus Boyacá stammenden
chulavitas
verübt
worden wären. Mit keinem Wort ging er hingegen auf die Taten der gefürchte-
ten
pájaros
ein, welche vornehmlich im Departement Valle del Cauca aktiv
83 Zur Entwicklung der radikalen Linken siehe
Bushnell.
2003, S. 326–336.
84
Vgl.
El Espectador
vom 25. August 1959.
109
Geschichtspolitik seit 1957
109
waren. Die anhaltende
Violencia
führte er im Übrigen auf das Wirken marxisti-
scher Guerillas zurück.
Gewissermaßen als Musterbeispiel für diese Art von "Vergangenheitsaufar-
beitung" kann auch eine Rede des konservativen Politikers Gustavo Salazar
García gelten, in der dieser die blutigen Taten der
pájaros
vor dem Kongress
beschönigte. Salazar García – allgemein bekannt als Handlanger des berüchtig-
ten
pájaro
-Führers José María Lozano ("El Cóndor") – reagiert darin auf An-
griffe von Seiten der Liberalen. Diese hatten ihm und anderen Abgeordneten
vorgeworfen, den offiziellen Kurs des
Frente Nacional
zu missachten und wei-
terhin an einer dualistischen Version der Vergangenheit festzuhalten. Salazar
García bekannte daraufhin offen, dass er das Geschehene nicht ignorieren wolle,
weil er der Partei angehöre, "die den 9. April nicht vergessen könne".85
Des Weiteren sei es eine Schande, wie manche Politiker mit der Geschichte
umgingen. Offenbar sei es gewissen Leuten entgangen, dass das Wort "pájaro"
keineswegs mit Tod und Vernichtung gleichzusetzen sei, sondern vielmehr die
Tugenden des Konservatismus repräsentiere. Genau wie das ursprünglich für die
Konservativen verwendete Schimpfwort "godo", solle nun endlich auch die des-
pektierliche Bezeichnung "pájaro" als Ehre verstanden werden. Große Männer
der Konservativen Partei wie Gilberto Alzate Avedaño86, Laureano Gómez oder
Mariano Ospina Pérez seien schließlich ebenfalls mit diesen Attributen belegt
worden:
Se habla mucho de la palabra pájaro. Ya Gilberto Alzate Avedaño en una hermosa página
describía la evolución poética de esa palabra, su noble abolengo y su dignidad literaria; y
cómo había iniciado en la historia política de Colombia a aparearse con el dictado de 'godo',
que un día fue una denominación ofensiva y humillante, para pasar después a nombrar a quien
era un auténtico conservador, vertical y leal, a ser un título de entereza humana. ¿Y así no han
llamado también a los dos hombres más grandes que mi partido ha tenido en los últimos 30
años, y que ya son gloria de Colombia, Laureano Gómez y Mariano Ospina Pérez? ¿Y así no
llamaron a Gilberto Alzate Avedaño? Entonces qué nos importa a los conservadores de Co-
lombia y del Valle de Cauca, que nos coloquan en tan honrosa compañía.87
85
Vgl.
AdC.
1962, Nr. 58, S. 749.
86
Gilberto Alzate Avedaño war ein Vertreter des extrem rechten Flügels der Konservati-
ven Partei. Zwischen 1936 und 1939 führte er die so genannte
Acción Nacionalista Popular
,
eine konservative Splittergruppe mit faschistischen Tendenzen. Hierzu
Palacios.
2003, S.
148.
87
AdC.
1962, Nr. 58, S. 749.
110
110
Kapitel II
Während Politiker wie Salazar García auf recht plumpe Weise versuchten, ih-
re persönliche Schuld durch Wortspielereien und teilweise recht eigenwillige
Geschichtsinterpretationen zu kaschieren, erklärten andere vorbelastete Persön-
lichkeiten den Kommunismus zum alleinigen Auslöser der
Violencia
. Nachdem
anfangs von "dunklen Kräften" oder der "Fernsteuerung aus Moskau" die Rede
war, geriet zunehmend die Person Fidel Castros ins Kreuzfeuer der Eliten. Mit
fortschreitender Konsolidierung des sozialistischen Projekts in Kuba nahmen
auch diejenigen Stimmen zu, die einen direkten Zusammenhang zwischen der
Violencia
und dem Wirken Castros erkannten. In diesem Sinne brachte es die
"unabhängige" Tageszeitung
La República
sogar fertig, Castro auf dem Titel-
blatt als "Feind Amerikas" (
Fidel: Enemigo de América
) zu bezeichnen.88 Es
handelte sich dabei wohlgemerkt weder um einen Leitartikel noch um eine Mei-
nungskolumne. Ausgangspunkt des "Berichts" waren vielmehr der Abbruch der
diplomatischen Beziehungen zwischen Kuba und den USA sowie die Ernennung
Che Guevaras zum Industrieminister im Februar des Jahres 1961. Anstatt sich
jedoch auf eine wirklich überparteiliche Berichterstattung zu beschränken, er-
klärte
La República
den neuen Machthaber in Havanna "zum blutigsten Tyran-
nen der Menschheitsgeschichte", der sich schon während des
bogotazo
in nega-
tiver Weise hervorgetan habe:
[Castro] detenta el gobierno de la isla antillana, donde ha establecido la tiranía más sangrienta
de la historia humana. Desde allí exporta revoluciones a toda América, inclusive a nuestra
patria que recibió su primer zarpazo el 9 de abril de 1948 cuando contribuyó a los incendios y
'hasta mató un cura', según la conocida frase.89
Die hier vorgegeben Linie, der zufolge Castro maßgeblich an den blutigen
Ereignissen des 9. April 1948 beteiligt gewesen sei, wurde für einen Teil der
Eliten zu einem festen Bestandteilihres
Violencia
-Diskurses. Demnach habe
Castro, der sich im April 1948 als Mitglied eines internationalen Studenten-
Komitees in Bogotá aufhielt, aktiv gegen die Staatsgewalt gekämpft und kom-
munistische Propaganda betrieben. In diesem Zusammenhang ist häufig auch die
Rede von einem Haftbefehl, der am 10. April 1948 gegen Castro erlassen wurde.
Wie der konservative Abgeordnete Hugo Escobar Sierra zu Beginn des Jahres
1960 im Parlament erklärte, sei es daher Castros Pflicht, zu einer Aufklärung der
88 Vgl.
La República
vom 25. Februar 1961.
89
Ebd.
111
Geschichtspolitik seit 1957
111
Ereignisse beizutragen. Schließlich würde der Haftbefehl seine aktive Beteili-
gung am
bogotazo
zweifelsfrei belegen.90
Doch obwohl die neuere Historiografie den Vorwurf einer maßgeblichen Be-
teiligung Castros am
bogotazo
längst entkräftet hat und der spätere Revolutions-
führer im Jahre 1948 noch längst kein "Kommunist" war, findet diese Version
bis heute Anhänger.91 Besonders rechtsgerichtete und konservative Kreise hal-
ten die Theorie aufrecht, dass der 9. April ohne die Anwesenheit des kubani-
schen Studenten anders verlaufen wäre. Das Überdauern dieses Denkens weist
in gewissem Sinne auf die bemerkenswerte Kontinuität bei der Rekrutierung und
Zusammensetzung der politischen Eliten hin. So schreibt etwa der ehemalige
Innen- und Justizminister Fernando Londoño Hoyos (2002/03) in einer Zei-
tungskolumne vom 2. August 2006, dass Castro nicht nur der Drahtzieher hinter
den blutigen Ereignissen vom 9. April 1948 gewesen sei, sondern auch für die
weitere Gewaltgeschichte des Landes verantwortlich zeichne:
Y los colombianos, por lo menos los que no perdimos enteramente la memoria, [a Castro] lo
recordaremos como la mayor de nuestras pesadillas. Desde cuando siendo un mozalbete vino
a desencadenar y a dirigir los días horrendos de abril de 1948, que nos condenaron a años de
violencia y a trescientos mil víctimas que ardieron en la pira levantada con el asesinato de
Jorge Eliécer Gaitán. Después, cuando títere de la Unión Soviética armó la guerrilla horrenda
de 'Tirofijo' y 'Chispas' y 'Desquite' y 'Pedro Brincos' y 'Mariachi'.92
Dass Londoño gleich im ersten Satz des Zitates die fehlende Erinnerung der
Kolumbianer beklagt, stellt freilich einen gewaltigen Widerspruch dar. Denn
wie die vorangegangene Betrachtung gezeigt hat, waren es in der Vergangenheit
gerade Akteure wie er, die ihre politische Macht durch eine verzerrte Darstel-
lung der Geschichte zu legitimieren trachteten. Wenn also heutzutage tatsächlich
eine Lücke im kollektiven Gedächtnis der Kolumbianer klafft, so hängt dies
nicht zuletzt mit den von der Elite verbreiteten Interpretationen der
Violencia
zusammen.
90
Vgl.
AdC.
1960, Nr. 31, S. 387.
91
Zu Castros Rolle während des
bogotazo
siehe
Braun.
1985, S. 177 f. Der US-Historiker
legt überzeugend dar, dass Castro zwar eine Waffe ergriffen habe, um mit einer Gruppe von
gaitanistas
zum Präsidentenpalast zu marschieren. Die Lage sei jedoch derart chaotisch gewe-
sen, dass das Unternehmen von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, was schließlich auch
Castro eingesehen hätte. Nachdem er die Nacht auf einer Polizeiwache im Westen der Haupt-
stadt verbracht hatte, wurde er am 10. April des Landes verwiesen. Der kubanische Delegierte
auf der IX. Panamerikanischen Konferenz hatte auf diese Maßnahme gedrängt.
92
El Tiempo
vom 2. August 2006.
112
112
Kapitel II
2.3 Gegenstimmen
Im Hinblick auf die bislang verwendeten Quellen ist festzustellen, dass die offi-
ziellen Interpretationen der
Violencia
klar überwiegen. In den großen Tageszei-
tungen und den
Anales del Congreso
finden sich nur selten Kommentare, die
den allgemeinen Kurs des
Frente Nacional
in Frage stellen.93 Der Vollständig-
keit halber ist es dennoch wichtig, auch auf die Existenz dieser Gegenstimmen
zu verweisen.
Zwar verfügten die Führer des
Frente Nacional
über gute Kontakte zur Presse
und gaben den Journalisten eine klare politische Linie vor. Dennoch konnten sie
nicht dauerhaft verhindern, dass sich auch Widerstand gegen ihren elitären Poli-
tikstil formierte. Die von diversen "Abweichlern" geäußerte Meinung fand sich
jedoch nur höchst sporadisch in gedruckter Form wieder. Während der Zivilge-
sellschaft praktisch kein Kanal zur Verfügung stand, über den sie sich an die
"Öffentlichkeit" wenden konnte, befanden sich der Mediensektor und das politi-
sche System fest in der Hand der traditionellen Eliten. Die Einführung einer
Pressezensur, wie sie kurzzeitig unter der Militärdiktatur bestanden hatte, erüb-
rigte sich deshalb. Bis auf oberflächliche politische Scharmützel zwischen den
Anhängern der Konservativen und der Liberalen – wobei jedoch der Grundkon-
sens des
Frente Nacional
nicht zur Debatte stand – kam es nur höchst selten zu
"öffentlichem" Protest.
Lediglich einige Abgeordnete des linksliberalen MRL waren bis zu einem
gewissen Grad in der Lage, ihre Meinung über die Medien zu artikulieren. Eben-
falls deutlich vernehmbar war daneben die Kritik der Zeitung
La República
.
Diese – obwohl grundsätzlich systemtreu – fuhr in den ersten beiden Jahren des
Frente Nacional
einen harten Kurs gegen die Regierung.
Neben einer Reihe von Abgeordneten des MRL sowie den Machern von
La
República
verschafften sich gelegentlich auch Schriftsteller sowie "einfache"
Leute Gehör. Aber auch deren Stimmen waren aufgrund ihrer quantitativen Be-
deutungslosigkeit und ihrer inhaltlichen Heterogenität weit davon entfernt, einen
einheitlichen "Gegen-Diskurs" zu bilden. Die einzelnen Beispiele verdeutlichen
allerdings, dass unter der "heilen" Oberfläche des
Frente Nacional
durchaus
93
Im Zeitraum zwischen Mai 1957 und Oktober 1962 finden sich in den Kolumnen,
Kommentaren und Sondersparten der Zeitungen nur etwa 20 explizite Gegenstimmen. Die
Anzahl der offiziellen Darstellungen und Kommentare zur
Violencia
im gleichen Zeitraum
beläuft sich hingegen auf über 200.
113
Geschichtspolitik seit 1957
113
Konflikte bestanden.94 So ist in vielen Fällen bereits der Keim einer neuen ge-
walttätigen Auseinandersetzung erkennbar, die spätestens seit den 80er Jahren
bedrohliche Dimensionen für Staat und Gesellschaft annehmen sollte.
Eine große Debatte über die
Violencia
setzte erst im Juli 1962 ein, als der ers-
te Band von
La Violencia en Colombia
erschien. Die darin enthaltenen Hinweise
und Anspielungen auf die Mitverantwortung der Eliten provozierten heftige
Reaktionen von Politikern, Intellektuellen und Kirchenleuten. Es folgte eine
kontrovers geführte Diskussion im Parlament und in der Presse, die mehrere
Monate andauerte.
Zu diesem Zeitpunkt war die Zeitung
La República
längst wieder auf die Seite
der systemtreuen Medien übergewechselt und griff die Autoren des Buches in
harschen Worten an. Dies war ein Jahr zuvor noch völlig anders, als die Macher
der Zeitung sich selbst zu den härtesten Kritikern der Regierung zählten. Im Ge-
gensatz zu den Dissidenten des MRL verbarg sich dahinter jedoch keine funda-
mentale Ablehnung, sondern vielmehr der Wunsch nach politischer Anerken-
nung. Nachdem die Eliten im April 1958 überraschend entschieden hatten, Al-
berto Lleras als ersten Präsidentschaftskandidaten des
Frente Nacional
zu nomi-
nieren, protestierten die Herausgeber von
La República
auf das Schärfste. Ihrem
Gründer Mariano Ospina Pérez verpflichtet, konnte es die Zeitung auf keinen
Fall zulassen, dass sich die Liberalen gemeinsam mit ihrem Erzfeind Laureano
Gómez die politische Macht teilen wollten. Die in mehrere Flügel zersplitterte
Konservative Partei wies vor allem eine tiefe Spaltung zwischen den Anhängern
des radikalen Gómez und denen des eher gemäßigten Ospina auf. Der von Ospi-
na bevorzugte Kandidat Guillermo León Valencia hätte daher nach Meinung
von
La República
auch das Präsidentenamt erhalten sollen, keinesfalls jedoch
der mit Gómez verbündete Lleras.
Insgesamt betrachtet griffen die Journalisten des Blattes ab April 1958 jedoch
stets die personelle Seite der Regierung oder deren negative Leistungsbilanz an.
Das System als solches hinterfragten sie nicht. In diesem Sinne weigerte sich
La
94
Zu den verschiedenen Formen des Protests gegen das System des
Frente Nacional
siehe
ausführlich
Archila Neira, Mauricio.
1997. Protesta social y Estado en el Frente Nacional.
In:
Controversia
, Nr. 170 (Mai, Bogotá), S. 9–56. Darin weist Archila anhand von Presse-
quellen nach, dass Proteste der Gewerkschaften, der Studenten oder der Campesinos in der
Anfangszeit des
Frente Nacional
sehr selten waren, seit 1962 jedoch sprunghaft zunahmen.
Als Ursache der steigenden Unzufriedenheit nennt er vor allem das Anwachsen der Mittel-
schichten. Diese hätten einerseits die höchsten Erwartungen an das System gestellt, anderer-
seits aber aufgrund der anhaltenden politischen Exklusion und der fehlenden Sozialpolitik
auch die größte Enttäuschung erlebt. Vgl. ebd., S. 52 ff.
114
114
Kapitel II
República
auch, Lleras’ "Erfolge" im Kampf gegen die
Violencia
anzuerkennen.
In einem besonders provokanten Leitartikel werteten die Herausgeber der Zei-
tung den "Verharmlosungsdiskurs" des
Frente Nacional
sogar als "engañosa pa-
labrería".95
Diese Kritik richtete sich insbesondere gegen die liberalen Politiker Carlos
Lleras Restrepo und Alfredo Araújo Grau, die sich weigerten, die Situation auf
dem Land als "dramatisch" einzustufen. Nach Meinung von
La República
war
der Konflikt jedoch nicht nur dramatisch, sondern vor allem "politisch". Entge-
gen der offiziellen Linie, bei der medialen Darstellung der
Violencia
auf eine
"überflüssige" Politisierung zu verzichten, betonten die Zeitungsmacher ganz
gezielt die Parteizugehörigkeit der zumeist liberalen
bandoleros
. Nachdem sich
La República
aufgrund ihrer parteiischen Berichterstattung schnell den Zorn der
Regierung zugezogen hatte, legten auch die regierungstreuen Konkurrenzblätter
El Tiempo
und
El Espectador
nach. Gegen die Kritik von allen Seiten wehrte
sich die Redaktion von
La República
und wies darauf hin, dass selbst die
Frente
Nacional
-Führung einige der oftmals angeführten Ursachen der
Violencia
einge-
räumt habe. Nichtsdestotrotz verdiene der politische Faktor die größte Aufmerk-
samkeit:
La violencia que hoy existe tiene muchas causas, entre ellas la miseria, el desempleo, la codi-
cia, la ignorancia, el alcoholismo, la retaliación, la venganza, la paganización de las costum-
bres, la 'lejanía de Dios'. Pero en la raíz de todos estos males están latentes el odio y la pasión
política. Fue la política la que dio origen a la 'guerra civil más prolongada que hemos tenido'
según El Tiempo, la que desencadenó la fiera humana.96
In dem Maße wie die offizielle Kritik am politisierenden Journalismus von
La
República
zunahm, stieg auch die Zahl anklagender Artikel gegen die Politik des
Frente Nacional
. Berichte, Leitartikel und Kommentare mit Titeln wie
Ante el
drama de la violencia absoluta indiferencia oficial
97 oder
La violencia sí es
política
98 erschienen nun kontinuierlich bis zum Beginn des Jahres 1960. Gele-
gentlich berief sich
La República
dabei auch auf andere Quellen, wie etwa die
konservative Tageszeitung
El Colombiano
aus Medellín. Deren Macher teilten
ebenfalls die Unzufriedenheit mit der aktuellen Regierung, der sie vorwarfen,
jedwede Kritik sofort als "Sektierertum" zu werten. In einem von
La República
95 Vgl.
La República
vom 10. Juni 1958.
96
La República
vom 3. Juli 1958.
97
Vgl.
La República
vom 4. Juli 1958.
98
Vgl.
La República
vom 7. Juli 1958.
115
Geschichtspolitik seit 1957
115
zitierten Leitartikel verglich
El Colombiano
die politische Exklusion unter der
so genannten "lauro-liberalen" Regierung sogar mit der politischen Verfolgung
unter Senator McCarthy in den USA.99
Insgesamt waren die Herausgeber von
El Colombiano
aber ebenfalls der Mei-
nung, dass das System des
Frente Nacional
grundsätzlich richtig war. Refor-
men, insbesondere im strukturellen Bereich, hielten sie jedoch für zwingend
notwendig. Obwohl
La República
eindeutig damit begonnen hatte, gegen den
offiziellen Grundsatz des "Vergebens und Vergessens" zu verstoßen, sahen die
Macher des Blattes die Verantwortung hierfür bei der liberalen Presse.
La
República
sei schließlich durch politische Attacken provoziert worden.100
Gleichzeitig waren die zahlreichen Verweise auf das angebliche Ende des
"Schweigegebotes" die letzten regierungskritischen Artikel in
La República
.
Nach mehreren gegen Gómez gerichteten Texten zu Anfang des Jahres 1960
verstummte plötzlich die Kritik an der angeblichen "lauro-liberalen" Verschwö-
rung.101 Der unmittelbare Grund hierfür war, dass Guillermo León Valencia im
Januar 1960 als Präsidentschaftskandidat der Konservativen feststand. Ab die-
sem Moment veröffentlichte
La República
keinen einzigen Artikel mehr, der in
irgendeiner Weise dem "Geist" des Zwei-Parteien-Paktes zuwidergelaufen wäre.
Die Macher der Zeitung unternahmen hingegen gewaltige Anstrengungen, das
zuvor Geschriebene aus dem Gedächtnis zu tilgen und die Vorzüge des
Frente
Nacional
bzw. des zukünftigen Präsidenten Valencia anzupreisen.
In einer geradezu paradoxen Umkehrung der Verhältnisse ging hingegen ab
Januar 1960 das konservative Konkurrenzblatt
El Siglo
dazu über, den
Frente
Nacional
zu attackieren. Obwohl zurückhaltender als
La República
, kritisierten
Gómez’ Anhänger die Kandidatur Valencias und sahen das Ende des Zwei-
Parteien-Paktes nahen. Während
La República
alles daran setzte, die vorange-
gangenen Schmähungen vergessen zu machen, spielte
El Siglo
nunmehr die Rol-
le der "Opposition". Die von persönlichen und partikularen Interessen geleitete
Kritik am
Frente
Nacional
blieb jedoch ebenso oberflächlich wie zuvor in
La
República
. Obwohl die Macher von
El Siglo
seit 1957 stets den politischen Cha-
rakter der
Violencia
bzw. deren Existenz geleugnet hatten, machten sie seit Be-
ginn des Jahres 1960 explizit die Regierung für die Zunahme der Gewalt ver-
99
Vgl.
El Colombiano
vom 31. August 1958 zitiert in
La República
vom 1. September
1958.
100
Vgl.
La República
vom 29. Januar 1960.
101
Zur Kritik an Gómez vgl.
La República
vom 11./12. Januar sowie vom 11. Februar
1960.
116
116
Kapitel II
antwortlich. Sogar nach dem Ende der Amtsperiode von Alberto Lleras wies die
Zeitung daher auf dessen Versäumnisse bei der Eindämmung der
Violencia
hin:
Y el otro hecho no menos cierto es que cuando se deterioró el Frente Nacional y se vino al
suelo el principio de autoridad, aumentó la violencia. El ex presidente puede ser una gloria de
la patria y de las letras, pero nadie puede negar que el gobierno actual, objetivamente hablan-
do, encontró matanzas en todos los departamentos.102
Im Gegensatz zu
La República
und
El Siglo
wichen die liberalen Blätter
El
Tiempo
und
El Espectador
zu keiner Zeit von ihrer systemtreuen Grundhaltung
ab. Obgleich auch sie gelegentlich bestimmte Aspekte der exkludierenden Poli-
tik kritisierten, blieben Hinweise auf den politischen Charakter der aktuellen
Violencia
tabu. Trotzdem gelang es einem kleinen Kreis von Intellektuellen, ge-
legentlich kritische Ansichten in diesen Zeitungen zu veröffentlichen.
So schrieb etwa der Kolumnist Gonzalo Canal Ramírez im Juni 1958 in
El
Tiempo
, dass die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen zur Aufklärung der
Gründe der
Violencia
kaum ausreichen dürften.103 Unter dem Titel
Causas de la
Violencia
ging er vor allem auf die von der Regierung eingesetzte
Comisión In-
vestigadora de las Causas de la Violencia
ein. Seiner Meinung nach sei es zwar
an der Zeit gewesen, eine solche Kommission einzuberufen. Bezüglich der rea-
len Ergebnisse brauche man sich aber gar keine Illusionen machen. Schließlich
sei die Kommission viel zu klein (sechs Personen), unterfinanziert und verfüge
außerdem über zu wenig Zeit (zwei Monate). Dabei handele es sich bei der Ver-
gangenheitsaufarbeitung um das wichtigste Thema überhaupt. Neben der "Poli-
tik" gebe es nämlich noch eine ganze Reihe weiterer Gründe für die exzessive
Gewalt:
Las causas de la violencia son múltiples, pero el camino de menor resistencia nos ha llevado a
aceptar las más simplistas: la política. En el espantoso fenómeno cuentan factores políticos,
sociales, económicos, morales, sicológicos, militares y otros estimulantes de deformaciones
penales, civiles (la clásica cojera de la justicia), administrativas y aun, en algunos pequeños
sectores, religiosas.104
Im Anschluss an diese Aufzählung kritisierte Canal Ramírez die Eliten auf
ungewöhnlich direkte Art, womit er sich deutlich von sämtlichen bis dahin ver-
öffentlichten Artikeln absetzte. Seiner Ansicht nach seien die traditionellen Eli-
102
El Siglo
vom 11. Juli 1962.
103
Vgl.
El Tiempo
vom 5. Juni 1958.
104
Ebd.
117
Geschichtspolitik seit 1957
117
ten nämlich nicht nur die Hauptverantwortlichen für das "Gemetzel" gewesen,
sondern müssten nun auch entsprechend bestraft werden:
[…] vamos a conocer cuán grande ha sido y es la participación en la carnicería de las clases
dirigentes, mucho más merecedora de ser procesadas que la banda de malhechores lanzadas a
los caminos del crimen, en muchas ocasiones, porque la voz de sus dirigentes – esos que nun-
ca han ido a la cárcel (porque en este país hay doscientos sesenta mil muertos en treinta años,
sin que en ese tiempo haya habido un verdadero dirigente preso) – atizaba sus pasiones con
toda clase de argumentos, a veces incluso religiosos, o no se levantaba a clamar por sus nece-
sidades.105
Von der Einrichtung einer Kommission, die allerdings noch deutlich mehr
Unterstützung erfahren müsse, versprach er sich vor allem eine Auslöschung der
Violencia
aus der von der Gewalt geprägten Kultur des Volkes. Angesichts die-
ser stark vom offiziellen Diskurs abweichenden These ist es verständlich, dass
Canal Ramírez zu Beginn des
Frente Nacional
ziemlich alleine da stand.
Erst im Februar des Jahres 1960 sollte es wieder ein Kolumnist wagen, die
Führung des
Frente Nacional
in ähnlich unverfrorener Weise anzugreifen. Die
Rede ist von dem Schriftsteller Eduardo Caballero Calderón, der zu diesem
Zeitpunkt bereits durch die Romane
El Cristo de espaldas
(1952),
Siervo sin
tierra
(1954) und
La penúltima hora
(1955) in Erscheinung getreten war. Vor
allem ersteres Werk, auf das ich im dritten Kapitel dieser Arbeit gesondert ein-
gehe, gilt heute als einer der wichtigsten
Violencia
-Romane. Nebenbei schrieb
Caballero auch eine Reihe von Artikeln für
El Tiempo
und
El Espectador
, wo
seine oft "radikalen" Thesen jedoch nicht immer auf Gegenliebe stießen. So ging
seiner Kolumne mit dem Titel
Divagaciones sobre la Violencia
eine distanzie-
rende Bemerkung der Redaktion von
El Tiempo
voraus.106 Angesichts der von
Caballero ausgebreiteten Fundamentalkritik an Staat und Kirche verwundert es
allerdings, dass die Zeitung es überhaupt wagte, den Text zu veröffentlichen.
Denn ohne Aussparungen ging Caballero darin auf die negative Rolle der Eliten
ein, denen er die alleinige Schuld am Ausbruch der
Violencia
zuschob. Die Un-
terdrückung des zur Unmündigkeit verdammten Volkes habe eine gewaltsame
Eruption unvermeidlich werden lassen. Dies sei am 9. April 1948 in Form des
bogotazo
geschehen:
Mal educado el pueblo colombiano por un Estado inepto y arbitrario, que ha sido siempre
extraño y hostil a la nación; concebido el Estado como una presa por los partidos; sin que la
105 Ebd.
106
Vgl.
El Tiempo
vom 8. Februar 1960.
118
118
Kapitel II
doctrina cristiana haya servido para morigerar las costumbres de los ciudadanos, para civili-
zarlos, para darles una conciencia del bien y del mal: era de presumir que el día en que ese
pueblo reaccionara lo haría en forma salvaje y violenta. Se tuvo una primera muestra de lo
que eran esas reacciones populares colombianas, verdaderamente sin Dios ni ley, cuando el 9
de abril se rompieron las esclusas y sobre el pueblo no pudo nada la acción de un Estado des-
acreditado e incompetente, ni le sirvió de freno una tradición religiosa y cristiana tan endeble
que se le había olvidado.107
Weiterhin bemerkte er, dass das Volk sich seither seiner Stärke bewusst ge-
worden sei und daher auch künftig mit revolutionärer Gewalt reagieren würde.
Bewaffnete Banden,
Violencia
und Guerillas seien nur die Vorboten eines
unaufhaltsamen Prozesses der Emanzipation. Nicht das Volk müsste umerzogen
werden, sondern die Eliten.
Neben einigen kleineren und in der Regel gemäßigteren Artikeln blieben die
gewagten Kommentare von Canal Ramírez und Caballero Calderón in der Zeit
von 1957 bis 1962 Ausnahmeerscheinungen. Aufgrund der starken Medienkon-
zentration war es kritischen Schriftstellern oder Intellektuellen nur selten mög-
lich, derartige Texte in der
gran prensa
unterzubringen. Hierzu bot sich ledi-
glich eine Reihe linksgerichteter Blätter wie
La Calle
,
La Gente
,
Voz de la De-
mocracia
,
Liberación Obrera
,
Voz Proletaria
oder
Tribuna Roja
an. Deren Auf-
lagen waren jedoch derart gering, dass sie die wie auch immer definierte öffent-
liche Meinung kaum beeinflusst haben dürften.108
Ein ganz außergewöhnliches Beispiel für eine von den Massenmedien ver-
breitete Gegenstimme "von unten" stellt indes ein Zeitungsartikel vom 9. Januar
1960 dar. Unter dem Titel
Sumapaz Denuncia Brotes de Violencia
veröffentlich-
te
El Espectador
auf der Titelseite ein von den Campesinos der Region Sumapaz
verfasstes Manifest, das einen Katalog von Forderungen an die Regierung
enthielt.109 Eine Gruppe mehrerer Campesinos, darunter viele Frauen, war extra
nach Bogotá gereist, um den Führern des
Frente Nacional
das Manifest persön-
lich zu überreichen. Bei dem Text handelt es sich um eine der wertvollsten
Quellen zur
Violencia
aus der Perspektive der Opfer. Die krisengeschüttelte Re-
107 Ebd.
108
Vgl. hierzu
Archila Neira
. 1997, S. 11. Bei seiner Darstellung des sozialen Protests
während des
Frente Nacional
stützt sich dieser Autor u. a. auf linke Zeitungen als Quellen.
109
Vgl.
El Espectador
vom 9. Januar 1960.
119
Geschichtspolitik seit 1957
119
gion Sumapaz – nicht ohne Grund ein Zentrum der linksgerichteten Guerillas110
– sei demnach seit über zehn Jahren das Ziel staatlicher Willkür und Gewalt:
[…] nuestros hogares, campos y bienes fueron arrasados y tomados por el Gobierno; centena-
res de niñas y mujeres violadas; miles de personas asesinadas y otros sometidos a los campos
de concentración, hechos todos que nos obligaron a organizar nuestra legítima defensa, ya que
en ningún momento el Gobierno ni las entidades eclesiásticas escucharon nuestros clamores
angustiosos, nuestras ahincadas peticiones de paz y de respeto a nuestra vida.111
Wie die Campesinos weiterhin betonten, seien die Zustände unter dem
Frente
Nacional
nicht wesentlich besser geworden. Noch immer sei die Regierung da-
von überzeugt, dass die Bewohner von Sumapaz allesamt "kommunistische"
Guerilleros seien, was sich im Grunde nur mit der Politik des Militärdiktators
Rojas Pinilla vergleichen ließe. Nach dem besonderen Hinweis auf die gegen
Frauen verübte Gewalt fordern die Campesinos von der Regierung, in Zukunft
unparteiische Autoritäten in die Region zu entsenden:
[Exigimos] el establecimiento de un equipo de autoridades imparciales sin consignas de privi-
legio para unos y de discriminaciones y menosprecio y abandono para los más, con el muy
gastado y mezquino pretexto anticomunista bajo el cual se han cometido los más atroces y
aberrantes atropellos, siendo desgraciadamente el sexo femenino el que ha soportado el más
alto porcentaje de vilipendios, vejámenes y desprecios, olvidando que constituimos la parte
más sensible de nuestra sociedad.112
Obwohl der Aufruf der Campesinos bei den Eliten kaum auf Widerhall stieß,
zeigt er deutlich, wie enttäuscht verschiedene Sektoren der Gesellschaft vom
Frente Nacional
waren. In dem Dokument ist ferner ein großes Misstrauen ge-
genüber dem Staat und seinen Institutionen zu spüren. Insofern wird verständ-
lich, warum sich gerade in Regionen wie Sumapaz linksgerichtete Guerillas
entwickeln konnten. Weil der Staat es in diesen Zonen versäumte, sich durch
distributive und ordnungsstiftende Maßnahmen zu legitimieren und auch sonst
nur wenig zur Beendigung der
Violencia
unternahm, entstand ein idealer Nähr-
boden für die Guerillabewegungen der 1960er Jahre. In späteren Jahren sollte es
den Aufständischen sogar gelingen, parastaatliche Strukturen zu schaffen und
die Bevölkerung weiter Landesteile unter ihre Herrschaft zu zwingen.113
110
Zur besonderen Problematik der Region Sumapaz siehe
González, José Jairo/Elsy
Marulanda.
1990.
Historia de frontera. Colonización y guerras en el Sumapaz
. Bogotá:
CINEP.
111
El Espectador
vom 9. Januar 1960.
112
Ebd.
113
Siehe hierzu
Kurtenbach.
2004.
120
120
Kapitel II
Neben diesen wenigen Stimmen des Protests, die wohl eher durch Zufall ihren
Weg in die Presse fanden, gab es noch die Abgeordneten des linksliberalen
MRL. Unter Vorsitz von Alfonso López Michelsen machten diese der Regie-
rung des
Frente Nacional
im Parlament schwerste Vorwürfe. Einige ihrer Mitg-
lieder traten außerdem offen für die Übernahme des sozialistischen bzw. kubani-
schen Modells ein. Aus diesem Grund kritisierte beispielsweise der MRL-
Abgeordnete Hernán Villamaría Gutiérrez die Haltung des
Frente Nacional
, al-
les "Revolutionäre" von Grund auf zu verdammen. Außerdem sei es offensich-
tlich, dass die Führer der traditionellen Parteien dem "Volk" mit Abscheu und
Hass begegnen würden.114 Auf ähnliche Weise äußerte sich auch MRL-Mitglied
Alberto Galindo, der des ermordeten liberalen Guerilleros Rafael Rangel Gómez
gedachte. Dieser war zuvor von regierungstreuen Politikern als "gewöhnlicher
Verbrecher" bezeichnet worden. Gleichzeitig warf er den Eliten vor, ihre eigene
historische Schuld zu vertuschen:
[…] aquí no hay quién pueda decir que tiene las manos limpias, a la hora de la violencia y
porque las voces cimarrones que se alzan en este recinto para protestar en nombre de la moral
contra una innocua proposición de cortesía a la memoria de un guerrillero liberal que estaba
ungido como miembro del Parlamento, no vacilan en tratar de exonerar a su propio partido de
toda culpa en una tragedia espantosa que humilló a Colombia y la condujo a la ruina y a la
servidumbre.115
Noch einen Schritt weiter ging schließlich der Abgeordnete José Ignacio Vi-
ves Echeverría. So sei die Kritik der Eliten am "unmenschlichen" System Kubas
und seinen regelmäßigen Erschießungen politischer Gegner, symbolisiert durch
den
paredón
, letztlich verlogen. Denn hatten sich nicht während der
Violencia
viel schlimmere Grausamkeiten ereignet? Aus diesem Grund forderte Vives
Echeverría, die Konservativen am besten gleich selbst vor ein Erschießungs-
kommando zu stellen:
Y hablar de Paredón, honorables Representantes, quienes como los señores conservadores no
se conmovieron ante los 300.000 muertos liberales que dejó la violencia política y la consigna
de Sangre y Fuego. Hablar de Paredón quienes precisamente debieron haber sido pasados por
él, para cobrar desde el asesinato de Gaitán hasta la violencia y castración de hombres y muje-
res que pagaron cara su adhesión a las ideas liberales.116
114
Vgl.
AdC.
1960, Nr. 17, S. 187 ff.
115
AdC.
1960, Nr. 15, S. 163.
116
AdC.
1960, Nr. 31, S. 387
121
Geschichtspolitik seit 1957
121
Ähnlich argumentierten auch die meisten anderen Abgeordnete des MRL,
wobei sie stark polemisierten und ihre ideologische Nähe zu Castro betonten.117
Dieser habe sich während des
bogotazo
nichts zu Schulden kommen lassen, wo-
hingegen Laureano Gómez und Mariano Pérez Ospina die Hauptverantwortli-
chen der
Violencia
seien. Als weiteres gemeinsames Element in den Reden der
MRL-Anhänger kann außerdem der Verweis auf die hohe Zahl liberaler Opfer
gelten. Einige, wie etwa der oben zitierte Vives Echeverría, verstiegen sich so-
gar zu der Behauptung, dass ausschließlich Liberale verfolgt und getötet worden
seien. Den Ursprung der
Violencia
führten die MRL-Abgeordneten typischer-
weise auf ökonomische Faktoren zurück. Im marxistischen Sinne sahen sie die
ungelöste Agrarfrage sowie den historisch determinierten Klassenkampf als
zentrale Auslöser der Gewalt, wie beispielsweise der Abgeordnete Alfonso Bar-
berena im Kongress erklärte.118
Alfonso López Michelsen, der intellektuelle Kopf hinter dem MRL, beteiligte
sich hingegen nur selten an den polemischen Abrechnungen seiner Kollegen.
Die meisten seiner Reden waren vielmehr durchdrungen von dem Wunsch, die
ideologischen Grundlagen des
Frente Nacional
ad absurdum zu führen. Als
Grund der politischen Exklusion machte er insbesondere die Einstellung der füh-
renden Politiker gegenüber dem "Volk" zum Thema. So prangerte er beispiels-
weise die überhebliche Haltung des Präsidenten Lleras an, der in einem Brief an
die Kongressabgeordneten auf die negativen Attribute der kolumbianischen
"Rasse" hingewiesen hatte. Eine solche Einstellung sei zwar von europäischen
Forschungsreisenden vergangener Zeiten bekannt gewesen, nicht jedoch von
einem lateinamerikanischen Präsidenten der Gegenwart zu erwarten:
[…] el Conde Mollien o el Barón de Humboldt podían pasar horas enteras estudiando los de-
fectos de las distintas razas colombianas y decir: 'perezoso es el negro, ladino el indio, inepto
el cuarterón, indigno de confianza el zambo', pero una cosa son los visitantes que ocasional-
mente llegan a este país, otra cosa es que el Presidente de la República se incline tanto y con
tanta facilidad a hacer análisis de nuestros defectos.119
Viel wichtiger als sämtliche polemischen Reden des MRL sowie die wenigen
regierungskritischen Presseartikel war jedoch das Erscheinen eines Buches:
La
Violencia en Colombia
von Germán Guzmán Campos, Orlando Fals Borda und
117
Weitere polemische Reden des MRL in den
Anales del Congreso
: 1960, Nr. 103, S.
1648 ff.
118
Vgl.
AdC.
1961, Nr. 14, S. 181 ff.
119
AdC.
1961, Nr. 25, S. 358.
122
122
Kapitel II
Eduardo Umaña Luna.120 Bereits kurz nach der Veröffentlichung des ersten
Bandes im Juli 1962 – der zweite erschien 1964 – löste das Werk eine heftige
Kontroverse aus, die alle bisherigen Debatten über die Gründe und Ursachen der
Violencia
an Intensität weit übertraf. Obwohl ich mich im Abschnitt zur Rolle
der Historiografie näher mit dem Inhalt des Buches beschäftige, will ich an die-
ser Stelle gesondert auf seine öffentliche Wirkung eingehen. Denn angesichts
der heftigen Reaktionen im Parlament und in der Presse stellt
La Violencia en
Colombia
zweifellos die wichtigste aller Gegenstimmen dar.
Dass die Studie einen derartigen Skandal provozieren würde, war für die Au-
toren zu Beginn ihrer Forschungsarbeit nicht absehbar. So hatte die von der Re-
gierung im Jahre 1958 eingesetzte
Comisión Investigadora de las Causas y Si-
tuaciones Presentes de la Violencia en el Territorio Nacional
, deren Ergebnisse
dem vier Jahre später veröffentlichten Buch als Grundlage dienen sollten, be-
züglich der "Vergangenheitsaufarbeitung" einen klaren Auftrag erhalten. Gemäß
Dekret 0942 sollten sich die Mitglieder der Kommission auf die Analyse der
aktuellen Gewalt beschränken, keineswegs jedoch deren historische Hintergrün-
de beleuchten.121 Germán Guzmán Campos, der der Kommission in seiner
Funktion als katholischer Priester angehörte, bemerkte hierzu im Nachhinein:
En el Decreto se detecta una connotación inmediatista que podía sesgar el cometido de la
Comisión: identificar causas 'presentes' de la violencia: es decir, no escudriñar su etiología
anterior, ni su precedente de los años treinta como lo señalo en documentos incluidos en la
edición de la parte de que soy autor, publicada en 1968.122
In die Kommission berief die Regierung außerdem zwei Militärs, zwei Politi-
ker und einen weiteren Priester, die für zwei Monate in die am schwersten von
der
Violencia
betroffenen Gebiete reisen sollten. Wie Guzmán mehr als zwei
Jahrzehnte später feststellte, war die Kommission schon aufgrund ihrer Zusam-
mensetzung ein getreues Spiegelbild der damaligen Machtverhältnisse. Denn im
Grunde sei der
Frente Nacional
-Regierung nichts oder nur wenig daran gelegen
gewesen, die Rolle der politischen Eliten genauer zu erforschen. Aus diesem
Grund habe man auch keine Vertreter der Opfer, der Campesinos oder der Ar-
beiter in die Kommission berufen. Guzmán zufolge sei es das oberste Ziel der
Regierung gewesen, das Bild Kolumbiens im Ausland zurechtzurücken, die
120 Siehe
Guzmán Campos/Fals Borda/Umaña Luna.
1977.
121
Vgl.
Guzmán Campos, Germán.
1986. Reflexión crítica sobre el libro "La Violencia
en Colombia". In: Sánchez, Gonzalo/Ricardo Peñaranda (Hgg.).
Pasado y presente de la vio-
lencia en Colombia
. Bogotá: CEREC, S. 350.
122
Ebd.
123
Geschichtspolitik seit 1957
123
gleichmäßige Verteilung der öffentlichen Posten zu garantieren und das alternie-
rende System zu stabilisieren.123 Psychologischen, gesellschaftlichen und kultu-
rellen Folgen der
Violencia
durfte die Gruppe daher keine größere Beachtung
schenken.
Doch obwohl von der Arbeit der Kommission kaum Breitenwirkung zu er-
warten war, hatte die Tätigkeit Guzmáns indirekt weitreichende Folgen. Dieser
sammelte nämlich Hunderte von Zeugenaussagen und Fotos zur
Violencia
,die
er anschließend in einem Archiv in der Pfarrei von
El Líbano
(Tolima) organi-
sierte. Sein nach der Auflösung der Kommission (Ende 1959) als
Coordinador
de Paz
fortgeführtes Archivierungsprojekt weckte schnell das Interesse ver-
schiedener
Violencia
-Forscher aus der Hauptstadt, die über keine vergleichbare
Quellenbasis verfügten.124 So kam es, dass sich der Soziologe Orlando Fals
Borda von der staatlichen
Universidad Nacional
und der Rechtsgelehrte Eduar-
do Umaña Luna mit Guzmán zusammentaten, um das bis dahin wichtigste ge-
sellschaftswissenschaftliche Werk in Kolumbien zu verfassen.
La Violencia en Colombia
, das im Unterschied zu sämtlichen Vorgängerwer-
ken die Hauptschuld bei den Eliten ausmachte und dabei auch wissenschaftli-
chen Kriterien genügte, wurde zu einem großen Erfolg. Wichtiger als die zahl-
reichen Auflagen waren jedoch die heftigen Reaktionen, die es bei seinen Lesern
hervorrief. Wie Gonzalo Sánchez anmerkt, war es das größte Verdienst des Bu-
ches, das Thema der
Violencia
erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich
gemacht zu haben.125 Große Teile der städtischen Bevölkerung erfuhren durch
die Lektüre des Werks überhaupt erst von der grausamen Realität auf dem Land.
Für die Autoren selbst hatte der Erfolg des Buches jedoch überwiegend negative
Konsequenzen, wie sich Fals Borda im Vorwort der Neuausgabe von 2005 erin-
nert:
Esperamos demasiado de lo que sería el libro a los ojos del país. Todo lo contrario. A los au-
tores se nos insultó en forma soez durante meses continuos en el Senado de la República. Al-
gunos nos amenazaron de muerte y otros hicieron todo lo que estaba en sus manos para des-
acreditar, sepultar y callar la edición. Monseñor Guzmán hubo de colgar los hábitos y murió
en el exilio; pero nos dejó el impresionante catálogo de recomendaciones al final del segundo
tomo, que sería saludable volver a considerar. Umaña Luna fue desplazado poco a poco de sus
123 Vgl. ebd., S. 353.
124
Vgl.
Sánchez, Gonzalo.
1988.
Rehabilitación y violencia bajo el Frente Nacional
. In:
http://www.lablaa.org/blaavirtual/revistas/analisispolitico/ap4.pdf (27. Januar 2008).
125
Vgl.
El Tiempo
vom 13. Juli 2004.
124
124
Kapitel II
posiciones oficiales y universitarias; […] Hubiéramos esperado una superior dosis de inteli-
gencia y patriotismo en los dirigentes, más compasión y comprensión en las Iglesias, una ma-
yor generosidad en los poderosos.126
Dabei war ein Teil der Presse durchaus der Meinung, dass
La Violencia en
Colombia
ein lesenswertes Werk war. So zeigte sich etwa
El Tiempo
in einem
Leitartikel grundsätzlich mit einigen Thesen des Buches einverstanden, warnte
jedoch gleichzeitig vor falschen Schlussfolgerungen; die von den Autoren fest-
gestellte Schuld der politischen Eliten dürfe nicht zur Strafverfolgung führen
oder zu einer neuen Politisierung beitragen. Der Grundkonsens des
Frente Na-
cional
, nämlich "perdón y olvido", müsse um jeden Preis eingehalten werden.127
Wesentlich euphorischer als die in
El Tiempo
oder
El Espectador
erschiene-
nen Leitartikel war indes ein Beitrag von Gonzalo Canal Ramírez, der sich ja
schon zuvor als scharfer Kritiker des
Frente Nacional
erwiesen hatte. In einer
Meinungskolumne mit dem Titel
Un Libro sobre Violencia
beschrieb er zu-
nächst seinen persönlichen Schmerz beim Lesen des Buches, um anschließend
auf sein eigenes Projekt einer Vergangenheitsaufarbeitung in Buchform auf-
merksam zu machen. Schon zu Zeiten der militärischen Übergangsregierung ha-
be er auf die Notwendigkeit eines "Schwarzbuches" der
Violencia
verwiesen,
das bei den Machthabern jedoch auf Ablehnung gestoßen war:
Se consideró útil, pero escandalosa y contraproducente en un país infantilista, de ampollada
epidermis y confusa conciencia, a quien se considera hoy también, incapaz de poder conocer
cierta porción de sus realidades, como si fuera un menor de edad o un convaleciente en peli-
gro.128
Seine damals erfolglosen Anstrengungen sah Canal Ramírez daher in exemp-
larischer Weise von Fals Borda, Umaña Luna und Guzmán Campos verwirk-
licht. Deren herausragende Darstellung sei sogar in der Lage, die bislang ver-
schwiegenen Gründe der
Violencia
endlich ins Bewusstsein der Kolumbianer zu
rufen. Insofern stehe das Werk in keinem Zusammenhang zur unsäglichen
Vio-
lencia
-Literatur vergangener Tage, in der er ein Musterbeispiel für Parteilichkeit
und Propaganda sah.129
Mit Ausnahme dieser sehr positiven Kritik von Canal Ramírez stimmten die
meisten Journalisten der liberalen Presse jedoch darin überein, dass
La Violencia
126
Guzmán Campos, Germán/Orlando Fals Borda/Eduardo Umaña Luna.
2005.
La
Violencia en Colombia. Estudio de un proceso social
. 2 Bde. Bogotá: taurus, S. 21.
127
Vgl.
El Tiempo
vom 26. Juli 1962.
128
El Tiempo
vom 29. Juli 1962.
129
Vgl. ebd.
125
Geschichtspolitik seit 1957
125
en Colombia
mit Vorsicht zu genießen war. Schließlich hatten dessen Autoren
das offizielle "Dogma" der Entpolitisierung in Frage gestellt. Aus eben diesem
Grund stieß das Buch auch in der gesamten konservativen Presse auf offene Ab-
lehnung.130 Bei einem Großteil der im ersten Band geschilderten Verbrechen
während der
Violencia
handelte es sich nämlich um die Taten konservativer
Banden und Politiker.
Noch bevor
La República
und
El Siglo
allerdings näher auf das Werk eingin-
gen, das zuvor bereits in einigen kleineren Artikeln Erwähnung gefunden hatte,
präsentierten beide Zeitungen im August 1962 eine Studie des aus Caldas stam-
menden Rechtsgelehrten Horacio Gómez Aristizábal mit dem Titel
Teoría Gor-
gona
.131 Darin sahen die konservativen Meinungsmacher genau das, was ihrer
Ansicht nach
La Violencia en Colombia
nicht war: ein unparteiisches und objek-
tives Werk.132 Dass die Redaktion von
La República
das Buch von Gómez Aris-
tizábal gleich in mehreren Leitartikeln anpries, während sie Fals Bordas frühere
Arbeiten als "Pseudo-Soziologie" schmähte, ist auf die unterschiedlichen Ziel-
setzungen der beiden Autoren zurückzuführen.133 Denn während Fals Borda be-
reits in anderen Werken Kritik an Staat und Kirche geübt hatte134, schrieb
Gómez Aristizábal ganz im Sinne des
Frente Nacional
. Schon zu Beginn des
ersten Abschnitts bemerkte er etwa, dass er eine Diskussion über die Vergan-
genheit für sinnlos halte:
El clima de convivencia que hoy satura al país, nos incita a guardar piadoso silencio sobre
este tramo de la historia de Colombia en que ambos partidos tienen su lote de responsabilida-
des. Y está bien que así sea; no ocurra que por discutir sobre el pasado perdamos el porve-
nir.135
Am 23. September folgte dann der beinahe schon überfällige Totalverriss von
La Violencia en Colombia
. Auf einer Doppelseite titulierte
La República
zu-
130
Zu den allgemeinen Reaktionen der Presse siehe
Guzmán Campos.
1986, S. 355–358.
Die Reaktionen der "Öffentlichkeit" beschreibt auch Orlando Fals Borda im zweiten Band
von
La Violencia en Colombia
. Siehe dazu
Guzmán Campos/Fals Borda/Umaña Luna.
1977. Bd. 2, S. 15–52.
131
Siehe
Gómez Aristizábal, Horacio.
1962.
Teoría Gorgona. Causación de la violencia
y estructuración de un sistema para erradicarla
. Bogotá: Iqueima.
132
Vgl.
La República
vom 21. August und
El Siglo
vom 2. September 1962.
133
Vgl. hierzu
La República
vom 24. August und vom 1. September 1962.
134
Besonders heftig kritisierte die Zeitung folgendes Werk:
Fals Borda, Orlando.
1962.
La Educación en Colombia
:
bases para su interpretación sociológica
. Bogotá: Universidad
Nacional de Colombia.
135
Gómez Aristizábal.
1962, S. 19.
126
126
Kapitel II
nächst unter vorgeblicher Neutralität
La Violencia en Colombia – análisis de un
libro
.136 Jedoch gab der Autor des Artikels, ein Jesuitenpater namens Miguel
Ángel González, bereits im Untertitel seinen Unmut zu erkennen. Dort hieß es:
"La historia, por lo menos debe parecerse a la verdad." An Fals Borda, Guzmán
Campos und Umaña Luna kritisierte er in erster Linie, dass sie kein wissen-
schaftliches Werk, sondern ein politisches Pamphlet vorgelegt hatten. Vor allem
die Konservativen und die Kirche seien zu Unrecht angegriffen worden, weswe-
gen
La Violencia en Colombia
ein Buch sei, das zur Gewalt aufrufe, anstatt zu
ihrer Beendigung beizutragen:
No puede atribuírsele a la obra ni siquiera la virtud de despertar, con espíritu constructivo, la
dormida conciencia nacional o destruir la 'atonía moral' de que habló el señor presidente Va-
lencia en su discurso de posesión, y que se contempla en el país, sobre el asunto, ya que lo
único que consigue es caldear los ánimos y responsabilizar exclusivamente al partido conser-
vador y a las fuerzas armadas de la hecatombe. Por ella se ha dicho que 'La violencia en Co-
lombia' es un libro que incita a la violencia.137
Weiterhin befürchtete González, dass von dem Buch ein negativer Einfluss
auf die Jugend ausgehen könnte. So handle es sich schlicht um einen weiteren
Violencia
-Roman, der sich zwar gut verkaufen würde, aber im Grunde mit ju-
gendgefährdendem "Schund" gleichzusetzen sei. Neben diesen polemischen
Aussagen enthielt der Artikel des Priesters aber auch eine Reihe ernsthafter Kri-
tikpunkte, die
La República
und
El Siglo
in den folgenden Tagen in mehreren
Leitartikeln wiederholen und bekräftigen sollten.138 Laut der Redaktion von
El
Siglo
war die soziologische Studie etwa mit den reißerischen und parteiischen
Violencia
-Romanen der 50er Jahre vergleichbar. In einem Leitartikel mit dem
Titel
Los Apologistas de la Violencia
hieß es dazu:
Los fines partidistas de quienes escribieron 'La Violencia en Colombia', un sociólogo protes-
tante, un abogado liberal y un cura párroco católico, le quitan toda respetabilidad a la obra.
Nos han entregado en escrito de la clase de 'Viento Seco', 'Las Guerrillas del Llano' o 'Lo que
el Cielo no Perdona', cuyos autores un liberal apasionado, un bandolero del llano y un sacer-
136
Vgl.
La República
vom 23. September 1962. Dieser Artikel erschien in gleicher oder
ähnlicher Form auch in anderen konservativen Zeitungen wie
El Siglo
oder
El Colombiano
.
Einige Beobachter vermuteten dahinter eine von Laureano Gómez gesteuerte Kampagne. Vgl.
hierzu
Guzmán Campos/Fals Borda/Umaña Luna.
1977. Bd. 2, S. 26 f.
137
La República
vom 23. September.
138
Vgl. hierzu
La República
vom 24., 26. und 27. September 1962 sowie
El Siglo
vom 26.
August und 15. September 1962.
127
Geschichtspolitik seit 1957
127
dote renegado, al menos no pretenden encubrir su alegato sectario con pretextos científi-
cos.139
Weiterhin hätten die Autoren von
La Violencia en Colombia
bewusst die libe-
rale Gewalt der 1930er Jahre unterschlagen, um den Bürgerkrieg erst 1946 be-
ginnen zu lassen.140 Dies sei nicht gerechtfertigt, da die Epoche der liberalen
Hegemonie der "wahre Ursprung" der Gewalt gewesen sei. Zudem seien die
Vorfälle vom 9. April 1948 unterbewertet worden, da sich an diesem Tage deut-
lich die Verantwortungslosigkeit der "liberalen Massen" gezeigt habe. Stattdes-
sen sei die falsche These formuliert worden, nach der die konservative Repressi-
on den
bogotazo
provoziert habe. Auf den "offensichtlichen" Zusammenhang
zwischen dem internationalen Kommunismus und den Ereignissen des 9. April
seien die Autoren ebenso wenig eingegangen wie auf das persönliche Wirken
Fidel Castros. Darüber hinaus habe insbesondere der "Pseudo-Soziologe" Fals
Borda jegliche kohärente Methodologie vermissen lassen. Um seinen "vulgären
Generalisierungen" und Spekulationen den Anschein von Wissenschaftlichkeit
zu geben, habe er sich "fremdartiger" Terminologie und nichtssagender Wort-
hülsen bedient. Guzmán hingegen habe sich vor allem durch die Selektion des
Materials nach parteipolitischen Gesichtspunkten disqualifiziert. Seine Quellen-
basis beruhe überwiegend auf Interviews mit liberalen Guerilleros sowie auf di-
versen Artikeln aus der liberalen Presse. Zu allem Überfluss hätten alle drei Au-
toren auch noch die Statistiken gefälscht. Da keine genauen Zahlen über Opfer
und Zerstörungen vorlagen, hätten sie einfach die bekannten Ziffern verdoppelt.
Am schärfsten verurteilte González jedoch die Kritik an der Kirche, die er von
persönlichen Werturteilen geleitet sah. Religiöse Motive seien allgemein über-
bewertet worden. Für die Zukunft forderte er daher eine "aufrichtige" Studie zur
Violencia
, die im Unterschied zum vorliegenden Werk frei von Vorurteilen und
"moralisch gerecht" sein solle:
Una investigación sociológica, para que sea verdadera, además de ser auténticamente científi-
ca, debe ser ante todo moralmente justa, útil para un fin honesto, y constructiva en relación al
bien particular o al bien común de la sociedad. ¿Sería posible afirmar, sincera y cristianamen-
te, que el libro comentado reúne estas cualidades? Ciertamente no. ¿Le sirve al país, quebran-
tado ahora por tanto crimen y miseria, una incitación al resentimiento, a la cólera, a la renova-
ción de las pasadas recriminaciones, al sectarismo político?141
139
El Siglo
vom 15. September 1962.
140
Vgl. zum Folgenden
La República
vom 23. September 1962.
141
Ebd.
128
128
Kapitel II
Obgleich viele der von González angeführten Kritikpunkte völlig aus der Luft
gegriffen waren, übernahmen konservative Zeitungen wie
La República
,
El Sig-
lo
oder
El Colombiano
bereitwillig seine Argumentation.142 In der Tat war
La
Violencia en Colombia
kein besonders ausgewogenes Werk, was mit den unter-
suchten Regionen und der dort stark ausgeprägten konservativen Gewalt zu-
sammenhing. Doch im Hinblick auf die angewandten Methoden stellte die Stu-
die einen Meilenstein für die Gesellschaftswissenschaften in Kolumbien dar.
Wie Germán Guzmán Campos zu Recht betonte, war es den zahlreichen Kriti-
kern auch in den folgenden Jahren nicht möglich, auf ein ebenbürtiges Werk zu
verweisen.143
Daneben wurde
La Violencia en Colombia
auch zum Gegenstand erbitterter
Auseinandersetzungen im Kongress, wobei das Buch jedoch häufig zum Zwecke
der Diffamierung politischer Gegner herangezogen wurde.144 Selten hatten Se-
natoren und Repräsentanten die Studie tatsächlich gelesen, bis auf den Politiker
Alfonso López Michelsen, der als einziger ausführlich auf die wichtigsten Aus-
sagen einging.145 In den meisten Fällen rissen die Parlamentarier lediglich be-
stimmte Textstellen aus ihrem Zusammenhang, um auf die historische Schuld
des politischen Gegners zu verweisen. Aus eben diesem Grund erfreute sich
La
Violencia en Colombia
besonders unter den Anhängern des MRL und bei eini-
gen Liberalen großer Beliebtheit. Eine typische Debatte, bei dem das Buch als
politisches Kampfmittel eingesetzt wurde, war zum Beispiel der durch eine Re-
de des konservativen Abgeordneten Gustavo Salazar García ausgelöste Streit
vom 25. Juli 1962.146 Nachdem Salazar García, der während der
Violencia
als
Berater des berüchtigten "Cóndor" in Erscheinung getreten war, die Verbrechen
der
pájaros
im Valle del Cauca beschönigt hatte, regte sich Widerspruch. Der
Abgeordnete Ciro Ríos Nieto führte hierzu
La Violencia en Colombia
ins Feld:
Ya que el honorable Representante [Salazar García] ha hecho orgullosamente alusión a los
'pájaros', deseo conocer su opinión respecto de lo que se dice en esta famosa obra: 'La Violen-
cia en Colombia', patrocinada por la Universidad Nacional, escrita por Monseñor Hernán
[Germán] Guzmán, Orlando Fals Borda y Eduardo Umaña Luna, cuando al describir los fa-
mosos El Cóndor, León María Lozano, Pájaro Azul, Pájaro Verde, Pájaro Negro, Lamparilla,
142 Vgl.
Guzmán Campos.
1986, S. 356 f.
143
Vgl. ebd., S. 359.
144
Im Einzelnen
AdC.
1962, S. 584, 597, 744–750, 859, 995 ff., 836 f.
145
Vgl.
AdC.
1962, Nr. 74, S. 995 ff.
146
Vgl. hierzu
AdC.
1962, Nr. 58, S. 744–750.
129
Geschichtspolitik seit 1957
129
Turpial, Bola de Nieve, todos con un récord delictivo increíble, dicen los autores, refiriéndose
al asesinato de Luis Germán Pulgarín, a manos de los pupilos de El Cóndor Lozano: 'Elimina-
do el apoderado de la parte civil, la familia Pulgarín nombró en su reemplazo al doctor Daniel
Valois Arce, quien al llegar a Buga a estudiar el expediente, tuvo que salir huyendo ante el
peligro de perder su vida que quiso quitarle la 'pajarería' encabezada por el doctor Gustavo
Salazar García, abogado y consejero del Cóndor.'147
Der Beschuldigte entgegnete einige Tage später, dass die
Violencia
aufgrund
der hohen Arbeitslosigkeit entstanden sei und sich die Kritik daher gegen den
Ex-Präsidenten López Pumarejo richten müsse. Im Übrigen sei das zitierte Werk
von Lügen und Halbwahrheiten entstellt. Nach einer Reihe weiterer Einschübe,
wobei die Studie sowohl auf Zustimmung als auch auf Widerspruch stieß, ergriff
schließlich wieder Salazar das Wort. Sarkastisch verglich er das Werk mit einer
"Bibel" und warf den Autoren vor, sich intellektuell "prostituiert" zu haben.148
Obwohl es Salazar zwar gelang, die Debatte um Schuld und Sühne vorläufig
abzuwürgen, trug
La Violencia en Colombia
dennoch dazu bei, das Thema des
Bürgerkriegs sowohl in der Presse als auch im Kongress langfristig am Leben zu
halten. Der offizielle Diskurs des
Frente Nacional
war damit zwar noch lange
nicht zerbrochen, verlor jedoch erheblich an Wirkung. Daran änderte auch ein
letzter verzweifelter Versuch der Eliten nichts mehr, das Thema ein für alle mal
aus der "Öffentlichkeit" zu verbannen. So kam es am 4. Oktober 1962 zu einem
Treffen der Direktoren der wichtigsten Tageszeitungen, auf dem eine verbindli-
che Richtlinie bezüglich des Umgangs mit der
Violencia
gesucht wurde. Die Di-
rektoren einigten sich schließlich darauf, in Zukunft jedwedes Urteil über die
Rolle der Parteien zu vermeiden und dies einer anderen, "unbelasteten" Genera-
tion zu überlassen.149 Jahre später wies Germán Guzmán Campos in diesem Zu-
sammenhang jedoch darauf hin, dass sich die Diskussion um
La Violencia en
Colombia
auch nach dem Treffen noch für eine Weile fortsetzte.150
Ausschlaggebend hierfür war, dass das Buch den Eliten und den Mittelschich-
ten erstmals vor Augen hielt, wie sehr die im
Frente Nacional
organisierten
Gruppen in die Gewalttaten der Vergangenheit verstrickt waren. Inspiriert durch
das Werk rief etwa der MRL-Abgeordnete Hernán Isaías Ibarra zur Besonnen-
heit auf und forderte, die
Violencia
auch außerhalb des Kongresses zum Thema
147 Ebd. S. 749 f.
148
Vgl.
AdC.
1962, Nr. 65, S. 859.
149
Vgl.
Guzmán Campos.
1986, S. 356.
150
Vgl. ebd. S. 357 f.
130
130
Kapitel II
zu machen. Schließlich würde es sich um die wichtigste Diskussion der Gegen-
wart handeln, die zugleich auf das Scheitern des
Frente Nacional
verweise.151
Obwohl zahlreiche Intellektuelle diese Ansicht geteilt haben dürften, ist es
den progressiven Kräften im Grunde bis heute nicht gelungen, die
Violencia
im
historischen Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten zu verankern. Trotz
einer Reihe von Gegenstimmen ist eine kritische Wahrnehmung der Konfliktge-
schichte eher die Ausnahme geblieben. Besonders deutlich wird dies im Hin-
blick auf die Evolution des politischen Diskurses, wie er sich beispielhaft in den
offiziellen Gedenkveranstaltungen zum 9. April manifestiert. Dabei hat es den
Anschein, als ob alle Ereignisse des Bürgerkrieges in diesem symbolischen Da-
tum konvergieren. Der sozioökonomische Kontext der
Violencia
und das Wissen
um die Verantwortung der politischen Eliten geraten dagegen immer mehr in
Vergessenheit.152
3.
K
ONTINUITÄT UND
W
ANDEL
:
DAS OFFIZIELLE
G
EDENKEN AN DEN
9.
A
PRIL
1948
Bereits im ersten Jahr nach der Ermordung Jorge Eliécer Gaitáns kam es zu gro-
ßen Gedenkveranstaltungen in Bogotá. Interessanterweise waren es die Konser-
vativen, die zuerst auf das symbolische Datum reagierten. So riefen sie ihre An-
hänger schon am 2. April 1949 zu einer Demonstration auf, bei der sie des Sie-
ges der staatlichen Autoritäten sowie der Niederlage des liberalen "Mobs"
(
chusma
) gedachten. Gleichzeitig sollten die Parteimitglieder auf Laureano
Gómez eingeschworen werden, der für die Präsidentschaftswahlen des Jahres
1950 kandidierte. Wenige Tage später, am 9. April 1949, folgte dann die Kund-
gebung der
gaitanistas
. Dabei gelang es der Liberalen Partei, eine gewaltige
Menschenmenge von schätzungsweise 100.000 Personen zu mobilisieren. Bei
Versammlungen, Umzügen und sogar kirchlichen Messen bekräftigten die Par-
teiführer ihren Willen, die politische Nachfolge des ermordeten
caudillo
anzu-
treten und die anstehenden Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Dass es sich
bei den selbsternannten "Nachfolgern" im Grunde um Repräsentanten der von
Gaitán angeprangerten Oligarchie handelte, stand nicht zur Debatte.153
151
Vgl.
AdC.
1962, Nr. 65, S. 864.
152
Vgl.
Sánchez.
2006, S. 87.
153
Vgl. hierzu
Melo Moreno, Vladimir.
2006.
Conmemorar el 9 de abril: la batalla de
los sentidos
. In: http://unperiodico.unal.edu.co/ediciones/89/04.htm (27. Januar 2008).
131
Geschichtspolitik seit 1957
131
Im Gegensatz zur heute in Kolumbien weit verbreiteten Auffassung, dass der
9. April traditionell der Gedenktag des Liberalismus gewesen sei, ist dessen Be-
deutungszuweisung ursprünglich heftig umstritten gewesen. Denn zu Zeiten des
Frente Nacional
legten auch dritte Kräfte wie der MRL, die ANAPO, die Kom-
munistische Partei oder die linksgerichtete Guerilla das fragliche Datum nach
ihren eigenen Vorstellungen aus. Dabei ging es in verdichteter Form stets um
die Deutung einer ganzen Epoche: der
Violencia
. Während eine Seite die Gele-
genheit nutzte, um auf die Schuld der Eliten aufmerksam zu machen, sprach die
andere Seite von legitimer Selbstverteidigung oder einem Komplott der Kom-
munisten. Insgesamt betrachtet ist der 9. April daher ein "Erinnerungsort"
par
excellence
, so wie ihn Pierre Nora definiert hat.154 Es handelt sich um einen
symbolischen Raum, den soziale und politische Akteure mit ihrer jeweils eige-
nen Vorstellung vom Sinn der Vergangenheit befrachten. Die dabei sichtbar
werdenden Kämpfe um die Deutungshoheit erlauben es, Rückschlüsse auf die
kulturelle Verarbeitung der
Violencia
in der Gesellschaft zu ziehen.
Weiterhin eignet sich das Datum hervorragend, um Veränderungen und Kon-
tinuitäten im politischen Diskurs der Elitenzu beschreiben. Elisabeth Jelin zu-
folge sind Gedenktage in erster Linie als soziale Praktiken zu verstehen, die sich
aufgrund ihrer regelmäßigen Wiederkehr besonders gut zur Analyse der gesell-
schaftlichen und politischen Spannungen im Hinblick auf die Interpretationen
eines bestimmten historischen Ereignisses eignen. In konzentrierter Form wür-
den sie die Kontinuität von Sinn- und Identitätskonstruktionen, aber auch die
Brüche und Veränderungen der Praktiken und Bedeutungszuweisungen sichtbar
machen.155
Aus Platzgründen habe ich an dieser Stelle jedoch auf eine umfassende Pres-
seanalyse verzichtet und stattdessen die Darstellungen zum 9. April von 1958
bis 2008 im Abstand von jeweils zehn Jahren beobachtet. Dabei zeigt sich, dass
einige Diskurse bis heute Geltung behalten haben, wohingegen andere mit dem
Ende des
Frente Nacional
praktischverschwunden sind. Trotz der eingeschränk-
ten Quellenbasis fällt weiterhin auf, dass die Presse dem Thema seit dem "offi-
ziellen" Ende der
Violencia
zwar weiterhin Beachtung schenkt, bei genauerem
Hinsehen wird jedoch offenbar, dass sich die Artikel in inhaltlicher Hinsicht
immer ähnlicher werden und teils wiederholen.
154
Vgl.
Nora.
1990, S. 17 ff.
155
Vgl.
Jelin.
2002, S. 2.
132
132
Kapitel II
Im Unterschied zur Zeit des
Frente Nacional
war die Durchführung von Ge-
denkveranstaltungen während der
Violencia
gewissen Beschränkungen unter-
worfen. So war es etwa den
gaitanistas
im April 1953 untersagt, sich in der Öf-
fentlichkeit zu versammeln und politische Reden zu halten. Der autoritär regie-
rende Laureano Gómez gestattete ihnen lediglich, Gaitáns Grab aufzusuchen
und für den Ermordeten zu beten.156 Angesichts der gewaltigen Mobilisierung
des Jahres 1949 hatten insbesondere die Konservativen Angst vor einem erneu-
ten Aufstand der Massen. Aus diesem Grund versuchte auch die nachfolgende
Militärregierung, das Gedenken an Gaitán möglichst klein zu halten. Im Unter-
schied zu Gómez griff Rojas Pinilla dabei allerdings direkt in die Berichterstat-
tung über Gedenkveranstaltungen zum 9. April ein, indem er die Presse aus-
drücklich vor "unnötigen" Provokationen warnte.157
3.1 Die konservative Sicht
Als sich im Jahre 1958 der Todestag des liberalen
caudillo
zum zehnten Mal
jährte, konnten erstmals seit 1949 wieder Gedenkveranstaltungen unter halb-
wegs demokratischen Bedingungen stattfinden. Die unter Rojas Pinilla zensier-
ten und zeitweise verbotenen Zeitungen
El Tiempo, El Espectador
und
El Siglo
sahen sich nun in der Lage, mehrseitige Artikel über Gaitáns politisches Ver-
mächtnis zu veröffentlichen und über die Gedenkveranstaltungen zu informie-
ren. Die Herausgeber von
La República
hingegen ließen sich auch nach dem
Ende der Militärdiktatur nicht von ihrer "patriotischen" Sicht des 9. April ab-
bringen, die sich während der
Violencia
noch verfestigt hatte. Dabei handelte es
sich um eine Art von "Gegengedenken", in dessen Zentrum die Wiederherstel-
lung der öffentlichen Ordnung durch den damaligen Präsidenten Mariano Ospi-
na Pérez stand. Dieser habe sich am 9. April heldenhaft gegen den liberalen
"Mob" verteidigt und das Vaterland durch seine Umsicht gerettet, was ihm sogar
sein politischer Gegner Laureano Gómez bescheinigte.158
Als weiterer Topos der konservativen Berichterstattung findet sich der regel-
mäßig wiederkehrende Hinweis auf die Machenschaften des internationalen
Kommunismus. So hatte Ospina selbst bereits kurze Zeit nach dem
bogotazo
156 Vgl.
Melo Moreno.
2006.
157
Vgl.
Galvis, Silvia/Alberto Donadio.
1988.
El jefe supremo.
Rojas Pinilla en la Vio-
lencia y el poder
. Bogotá: Planeta, S. 283 ff.
158
Vgl.
La República
vom 9. April 1958.
133
Geschichtspolitik seit 1957
133
erklärt, dass die schrecklichen Ereignisse nicht ohne den Einfluss "fremder"
Kräfte zu erklären seien.159 Da marxistisch inspirierte Gruppen im Laufe der
Zeit in Kolumbien tatsächlich an Bedeutung gewannen, griff die konservative
Presse immer häufiger auf diesen Diskurs zurück. Im April des Jahres 1958, als
alle Medien über die revolutionäre Situation auf Kuba berichteten, war das
Thema bereits zum zentralen Bestandteil eines konservativen "Mythos" gewor-
den. Ebenso heldenhaft wie Präsident Ospina sei demzufolge auch die Armee
ihrer verfassungsmäßigen Aufgabe nachgekommen, indem sie Kolumbien vor
dem Zugriff der "Kommunisten" geschützt habe:
El nueve de las páginas más sombrías en la historia de América. En esta fecha se abatieron
sobre Colombia, en breves horas, los horrores y los crímenes que se realizaran en largos años
en las más crueles y sangrientas revoluciones de la historia. Entonces entró en acción una ge-
neración formada en la Universidad bajo el signo del materialismo ateo, eficazmente asesora-
da por agentes del comunismo internacional […].
Dentro de la lógica de los hechos el asesinato del doctor Gaitán no pudo tener sino un origen
comunista, y entendemos que por este aspecto es por el único que no se ha profundizado la
investigación.160
Im Gegensatz zur "Helden-These" und zur "Kommunismus-These", die den
Frente Nacional
überdauert haben und noch heute anzutreffen sind, verlor die
offizielle Vorgabe von "perdón y olvido" mit der Zeit an Bedeutung. Am 9. Ap-
ril 1958 sahen die Macher von
La República
allerdings noch keine Veranlas-
sung, das von Alberto Lleras und anderen hochrangigen Politikern verkündete
Schweigegebot in Zweifel zu ziehen. Etwa zehn Tage bevor bekannt wurde,
dass Lleras und nicht Valencia als erster Präsident des
Frente Nacional
antreten
würde, mahnte ein Leitartikel den verantwortungsbewussten Umgang mit dem
symbolischen Datum an. Obwohl die Zeitungsmacher kurz darauf für mehr als
18 Monate ins "Oppositionslager" wechseln sollten, bestand für sie zu diesem
Zeitpunkt noch kein Zweifel am Charakter der kolumbianischen "Demokratie":
Certeramente se ha dicho que el nueve de abril divide en dos épocas la vida de la República.
Salvadas transitoriamente las instituciones, la nación quedó herida de muerte. Los partidos se
perdieron la confianza y a lo largo de nuestro suelo ya no se escucharon en los años siguientes
sino los gritos que resonaban en los campos de Munda y de Tolosa: 'Hiere y mata'. Todo lo
que vino después, las interminables amarguras de la patria, este manantial de sangre que no
159 Vgl.
El Tiempo
und
El Espectador
vom 11. Juli 1948.
160
La República
vom 9. April 1958.
134
134
Kapitel II
cesa, tiene su origen en los crímenes y sacrilegios cometidos en aquellas jornadas horripilan-
tes. Pero, como se ha dicho, la democracia es el olvido.161
Zehn Jahre später war dieser Konsens aus den Leitartikeln und Kolumnen der
Zeitung verschwunden. Die ursprünglich gemäßigte Darstellung der kommunis-
tischen Infiltration hatte sich hingegen verschärft. Denn während sich die sieg-
reiche kubanische Revolution stabilisiert und institutionalisiert hatte, waren von
Castro geförderte Guerillagruppen wie der ELN mittlerweile auch in Kolumbien
aktiv.162 Viele Konservative hielten es daher für möglich und wahrscheinlich,
dass der
máximo líder
auch den
bogotazo
zu verantworten hatte. In der konser-
vativen Presse wurde darüber hinaus auch über mögliche Verbindungen zwi-
schen Juan Roa Sierra, dem Attentäter Gaitáns, und dem kubanischen Revolu-
tionär nachgedacht. All diesen Darstellungen war jedoch eine diffuse und
schwer nachvollziehbare Argumentationsweise gemeinsam, die sich so gut wie
nie auf glaubwürdige Quellen stützte. Es kursierten wilde Verschwörungstheo-
rien, wie etwa die des Obersten Germán Uribe Jaramillo, der am 9. April 1948
für die Verteidigung des Präsidentenpalastes zuständig war. Seiner Ansicht nach
hätten die "Kommunisten" den
bogotazo
schon länger vorbereitet und zu diesem
Zweck die Häuser im Zentrum Bogotás vorsorglich mit Benzin übergossen:
La presencia en Bogotá de Fidel Castro y de otros tipos de su laya no son una coincidencia, ni
es coincidencia la presencia del avión extranjero carguero de ganado en que se fugaron, cuan-
do las cosas se les pusieron mal; tampoco fue coincidencia el hecho comprobado de que en la
primera década de abril, la venta de gasolina en las bombas de la capital había tenido un au-
mento desusado, ni que tal gasolina fuera lanzada con fumigadores contra los edificios esco-
gidos para ser pasto de las llamas, por los grupos de incendiarios precisamente estrenados y
equipados. No, en el 9 de abril se hizo patente la aplicación de tácticas y trucos comunistas
bien conocidos.163
Während die Macher von
La República
ein vitales Interesse daran hatten, von
ihrer Zusammenarbeit mit dem Regime des Generals Rojas Pinilla abzulenken,
sahen die Verantwortlichen von
El Siglo
in der Militärdiktatur sowie der "Irra-
tionalität der Massen" die Hauptauslöser der
Violencia
. Insofern wundert es
nicht, dass in
El Siglo
der Kommentar zum
bogotazo
mit einem Hinweis auf die
Machtergreifung des Militärs verbunden ist. Denn im Denken der Anhänger von
Laureano Gómez ließen sich Parallelen zwischen dem "unverantwortlichen" Po-
161 Ebd.
162
Siehe hierzu
Bushnell.
2003, S. 331 f.
163
La República
vom 10. April 1968.
135
Geschichtspolitik seit 1957
135
pulismus des Generals, der sich selbst als
jefe supremo
titulierte, und dem Auf-
stand des "Mobs" am 9. April erkennen. So wie das "Volk" am 9. April schwere
Schuld auf sich geladen habe, sei es auch für die Machtergreifung des Generals
verantwortlich gewesen. Vom negativen Wirken der traditionellen politischen
Klasse, deren Mitglieder die Diktatur überhaupt erst ermöglicht hatten, war hin-
gegen keine Rede: "En primer término aparece la tremenda falla del pueblo, al
que se habían predicado las más cristianas doctrinas. Falla que encuentra repeti-
ción en el trece de junio de 1953 […]"164
Mit Ausnahme der verschärften "Kommunismus-These" weisen die Presse-
darstellungen rund um den 9. April 1968 noch keine größeren Veränderungen
im Vergleich zu den Artikeln des Jahres 1958 auf. So legte
La República
zehn
Jahre später immer noch großen Wert darauf, den 9. April 1948 als Ursprung der
Violencia
darzustellen, wobei die Liberalen den Konservativen gewissermaßen
den "Krieg erklärt" hätten. Die nachfolgenden Verwüstungen, Morde und Ver-
treibungen während des Bürgerkrieges interpretierte die Redaktion der Zeitung
als "legitime" Selbstverteidigung. Den Gedenkveranstaltungen der Liberalen
setzte sie – wie bereits in den zwei Jahrzehnten zuvor – die Verklärung Ospinas
entgegen, der als "Retter des Vaterlandes" tituliert wurde. Im Rahmen dieser
Darstellung kam dem "Volk" lediglich die Rolle einer von kollektivem Wahn-
sinn befallenen Meute zu. Ospina hingegen erschien als einsamer Verteidiger
der "Zivilisation".165 In stärkerem Maße als bisher versuchten die Konservativen
allerdings, das Datum auch in einen funktionalen "Erinnerungsort" zu verwan-
deln. Entgegen der wirkungsmächtigen linksliberalen These, nach der es sich
beim
bogotazo
um eine "verhinderte Revolution" gehandelt habe, proklamierte
zum Beispiel
El Siglo
den 9. April zum Tag des nationalen Widerstands gegen
den Kommunismus. Weiterhin solle das Datum all jenen Gruppen als Mahnung
dienen, die noch immer den
Frente Nacional
anzweifeln würden. Angesichts der
permanenten "Bedrohung" durch sektiererische Gruppen sei die Zeit für ein En-
de des Zwei-Parteien-Paktes noch nicht reif: "La ambición hegemónica, contra-
ria al auténtico interés patrio, aún subsiste en algunos estratos. Todo hace pre-
sumir, por ello, que el regreso prematuro al libre juego de los partidos no es la
fórmula apropiada para un país que apenas se encuentra en convalecencia."166
164
El Siglo
vom 9. April 1958.
165
Vgl.
La República
(Beilage) vom 9. April 1968.
166
El Siglo
vom 9. April 1968.
136
136
Kapitel II
Paradoxerweise war jedoch die Figur Gaitáns von etwaigen Schuldzuweisun-
gen ausgenommen. Wie sich bereits zu Beginn des
Frente Nacional
angedeutet
hatte, arbeiteten die Vertreter aller politischen Richtungen vielmehr darauf hin,
den
caudillo
zu einem der Ihren zu machen. Dabei half es, dass sich Gaitáns dif-
fuse "Ideologie" hervorragend zur politischen Instrumentalisierung eignete.
Denn genauso wie ihn beispielsweise die Linken als "Sozialisten" vereinnahmen
konnten, weil er eine groß angelegte Landreform und drastische Umvertei-
lungsmaßnahmen angestrebt hatte, sahen die Rechten in ihm einen Befürworter
der "harten Hand".167 In einem weiteren Leitartikel von
La República
wurde
Gaitán daher als "authentischer" Volkstribun beschrieben, der im Grunde ein
"Rechter" mit den Ideen eines "Linken" gewesen sei:
Gaitán sobrevive en el recuerdo del pueblo, como una figura de caudillo. Hubiera sido más
larga su vida y habríamos, sin duda, visto a Jorge Eliécer en el pináculo de una carrera que ya
desbordaba las márgenes del liberalismo y se imponía como un movimiento popular auténti-
co. Pero Gaitán habría gobernado como un hombre de la derecha con ideas de izquierda.168
Weitere zehn Jahre später, im April 1978, waren die bislang aufgeführten
Thesen noch immer gültig. Lediglich vom damals propagierten Diskurs des
Vergessens distanzierte sich
La República
nun ausdrücklich und wies stattdes-
sen auf die Verfehlungen der kolumbianischen Historiker hin. Demnach habe
zwar auch die liberale Historiografie ihre Mängel, schon immer sei es jedoch ein
Manko der konservativen Geschichtsschreibung gewesen, unangenehme Tatsa-
chen unter den Tisch zu kehren.169
Trotz dieses Bekenntnisses fiel die anschließende Darstellung zum Verlauf
des
bogotazo
wie gewohnt aus. So begann etwa die als Sonderbeilage erschiene-
ne Chronik zum 9. April mit einer ausführlichen Analyse der "ersten
Violencia
"
während der 1930er Jahre. Unter dem Hinweis strenger Wissenschaftlichkeit
167
Hierzu
Braun.
1985, S. 77–103. In diesem Kapitel legt Braun dar, wie Gaitáns diffuse
Ideologie gegen Mitte der 40er Jahre den Widerspruch sowohl der Linken als auch der Rech-
ten erregte. Den Konservativen und den meisten Liberalen erschien sein Diskurs als "sozialis-
tisch und klassenkämpferisch", wohingegen die Kommunisten in ihm einen "gefährlichen
Faschisten" sahen. Auch lange nach dem Tod des
caudillo
herrscht keine Klarheit über die
politische Richtung seiner Bewegung. Seine frühe Schrift
Las ideas socialistas en Colombia
(1924) lässt jedoch den Schluss zu, dass Gaitán in ideologischer Hinsicht eher ein Pragmati-
ker war. Entgegen dem Titel propagiert er darin eine Gesellschaft der Handwerker und klei-
nen Unternehmer, deren verdienstvollste Mitglieder an der Spitze des Staates stehen sollten.
Nach Meinung Brauns reflektiert diese Idee einer "Meritokratie" Gaitans kleinbürgerlichen
Hintergrund. Vgl. ebd., S. 53 ff.
168
La República
(Beilage) vom 9. April 1968.
169
Vgl.
La República
(Beilage) vom 9. April 1978.
137
Geschichtspolitik seit 1957
137
betonten die Autoren darin, dass sich die Konservativen an diesem Tag nur zur
Wehr gesetzt hätten. Denn der "erste Schlag" sei ohne Zweifel von den Libera-
len ausgegangen. Von den verheerenden Folgen des sich anschließenden Bür-
gerkrieges und der Verantwortung der konservativen Partei war hingegen keine
Rede.170
Auch in den Jahren 1988 und 1998 sollte sich an dieser Sicht der Dinge nichts
Wesentliches ändern. Überzeugt von der heroischen Rolle ihres Gründers Ospi-
na Pérez und der drohenden Intervention der Kommunisten, forderte
La
República
auch in diesen beiden Jahren, mit den "Mythen" der Vergangenheit
aufzuräumen und dem Ex-Präsidenten nicht länger seinen verdienten Platz in der
Geschichte Kolumbiens vorzuenthalten. Bei der am 9. April 1988 eingeforderten
"Wahrheit" handelte es sich folgerichtig um die konservative Sicht der Dinge:
Eso es lo que hemos querido relievar en las páginas que destinamos a la memoria del nueve
de abril 1948. Porque es tiempo de que la versión falaz y el mito proclive dejen de ser historia
patria. Y que sea la verdad la que ocupe los textos que recuerden y la memoria que dure.171
Zum fünfzigsten Jahrestag fasste schließlich der Kolumnist Jaime Arias
Ramírez noch einmal die von den Konservativen vertreten Interpretationen zu-
sammen, ohne sie einer angemessenen Kritik zu unterziehen. Damit bestätigte
er, wie wichtig der 9. April inzwischen für das Selbstverständnis des Konserva-
tismus geworden war. Denn obgleich die Historiografie in den vergangenen
Jahrzehnten, spätestens jedoch seit den 80er Jahren, die Beteiligung kommunis-
tischer Agenten am
bogotazo
mehrfach widerlegt hatte, pflegten konservative
Kreise gegen Ende des 20. Jahrhunderts noch immer die These von der kommu-
nistischen Verschwörung:
Algunos dicen que en esos episodios se frustró el gran cambio revolucionario que requería el
país. Según esa opinión Gaitán encauzaba los sentimientos y aspiraciones de las masas ospi-
nistas por la oligarquía conservadora y liberal. Otros analistas consideran que el triunfo Gai-
tanista hubiese llevado al país a una verdadera anarquía pues el caudillo no tenía claridad so-
bre la manera como podía redimir a los 'decamisados' y su ideología navegaba entre las aguas
del fascismo y las de un populismo desenfrenado. En los planteamientos expuestos se desco-
noce que una cosa es la posición doctrinaria del líder popular y el fenómeno político que a su
alrededor se fue creando, y otra su lamentable muerte, en la que nada tuvo que ver el gobierno
170 Vgl. ebd.
171
La República
(Beilage) vom 9. April 1988.
138
138
Kapitel II
y que fue aprovechada, y tal vez planeada, por anarquistas comunistas como el joven Fidel
Castro, que no tenía relación ideológica ni política con el caudillo liberal.172
In der konservativen Konkurrenz-Zeitung von
La República
, die seit Beginn
der 90er Jahre unter dem Namen
El Nuevo Siglo
erscheint, wiesen zwar eben-
falls zahlreiche Kolumnen und Artikel auf das negative Wirken der Kommunis-
ten hin. Der allgemein euphorische Tonfall früherer Ausgaben, der eng mit dem
Kult um Laureano Gómez und der Glorifizierung des "konservativen Wider-
standes" zu tun hatte, war jedoch einer geradezu fatalistischen und von Hoff-
nungslosigkeit geprägten Grundhaltung gewichen. Wahrscheinlich in Zusam-
menhang mit der bis heute unaufgeklärten Ermordung des konservativen Politi-
kers Álvaro Gómez Hurtado – dem Sohn von Laureano und Miteigentümer von
El Siglo
– schien es seit 1995 keinen Grund mehr für eine weitere Mystifizie-
rung des 9. April zu geben. Stattdessen zeichneten die Macher der Zeitung nun-
mehr das Bild von der "ewigen Wiederholung" der Gewalt, wie das Titelblatt
vom 6. April 1998 suggerierte: "El país en su laberinto. El eterno retorno del 9
de Abril. A 50 años de una parábola que no termina, Colombia sigue anclada en
la misma encrucijada que surgió con el asesinato de Jorge Eliécer Gaitán."173
Dass das Gedenken an Gaitán auch im Kolumbien der Gegenwart noch eine
Konstante ist, zeigen die Feierlichkeiten anlässlich des sechzigsten Jahrestages.
Im Unterschied zu früher fand das Thema im April 2008 sogar etwas mehr
Aufmerksamkeit an Universitäten, Kulturinstituten und Museen. Während bei-
spielsweise an der
Universidad Nacional
ein Kongress zum Thema
Mataron a
Gaitán: 60 años del 9 de abril
stattfand, marschierten einige Studenten am
Abend des 9. April mit Fackeln durch das Zentrum der Hauptstadt, um an die
legendäre
marcha de las antorchas
zu erinnern. Darüber hinaus strahlte der pri-
vate Fernsehsender
Caracol
eine neue Dokumentation über die Ermordung
Gaitáns aus, die in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Kanal
The
History Channel
entstanden war. Entgegen der Ankündigung, bislang unbekann-
tes Material sowie nie gehörte Zeitzeugen in die Reportage einfließen zu lassen,
erwies sich das Ergebnis jedoch als recht unkritisch und ohne jeden Erkenntnis-
gewinn im Vergleich zur konventionellen Geschichtsschreibung.
In der konservativen Presse herrschte angesichts der unerwartet zahlreichen
Gedenkveranstaltungen und Beiträge eine gewisse Ratlosigkeit. Während zum
Beispiel
La República
darauf hinwies, dass derartige Fernsehbeiträge vor allem
172
La República
vom 8. April 1998.
173
El Nuevo Siglo
vom 6. April 1998.
139
Geschichtspolitik seit 1957
139
für die Jüngeren unerlässlich seien, da sich diese nicht mehr an die Figur des
caudillo
erinnern würden, äußerte sich der liberale Ex-Präsidentschaftskandidat
Horacio Serpa in
El Nuevo Siglo
ganz anders.174 Seiner Meinung nach sei
Gaitán geradezu wieder eine "Modeerscheinung" geworden, was auch die Me-
dien erkannt hätten:
Gaitán está de moda. En épocas de unanimismo y héroes de papel, todos hablan de su lucha.
60 años atrás una conspiración lo quitó del camino. Y los colombianos lo extrañan, lo necesi-
tan, lo echan de menos. Los medios han centrado la atención en su parábola vital, precisamen-
te en momentos en que en Colombia la violencia que parió a los magnicidas del 9 de abril de
1948 mantiene secuestrada la esperanza de todo un pueblo.175
3.2 Die liberale Sicht
Wie die vorangegangene Betrachtung gezeigt hat, war und ist der 9. April kei-
neswegs ein Gedenktag mit festgelegter Bedeutung. Diverse soziale und politi-
sche Akteure haben seit 1949 und verstärkt mit Beginn des
Frente Nacional
ver-
sucht, den Sinn des Datums an ihre eigenen Strategien und Projekte anzupassen.
Im Gegensatz zu den Konservativen, die eher auf eine Art "Gegengedenken"
setzten und den negativen Charakter der gewaltsamen Ereignisse betonten, kon-
zentrierte sich die Erinnerung der Liberalen vor allem auf die Figur Gaitáns. Das
Gedenken an den
caudillo
nahm dabei immer stärker "offizialistische" Züge an.
So wurde der Ermordete im Laufe der Jahre zunehmend zu einem "Helden der
Partei" stilisiert, dessen "Ideologie" sich nach Belieben auslegen ließ. Besonders
deutlich wurde die Konstruktion des "Mythos Gaitán" während der verschiede-
nen Gedenkveranstaltungen zum 9. April, bei denen sich liberale Spitzenpoliti-
ker auf die angeblichen Überzeugungen ihres "Vorbilds" beriefen. Obwohl die
Liberalen den Ursprung des
bogotazo
nicht auf kommunistische Kräfte zurück-
führten, hielten auch sie die gewalttätige Reaktion des Volkes für "barbarisch"
und verabscheuenswert. In einer paternalistischen Haltung strebten die Führer
der Liberalen Partei daher die allmähliche Umerziehung der unmündigen Mas-
sen an.
Ganz anders sahen dies Akteure wie die ANAPO, die Kommunisten oder die
linksgerichtete Guerilla. Denn ihrer Ansicht nach war am 9. April die große Re-
174 Vgl.
La República
vom 9. April 2008.
175
El Nuevo Siglo
vom 9. April 2008.
140
140
Kapitel II
volution der unterdrückten Volksmassen gescheitert. Die Oligarchie hatte sich in
ihren Augen zusammengeschlossen, um einen unliebsamen Gegner zu beseiti-
gen und das Volk weiterhin in Knechtschaft zu halten. Obwohl Stimmen wie
diese nur selten in der
gran prensa
zu finden waren, erreichten sie gelegentlich
über unkonventionelle Kanäle ein breiteres Publikum.
Zehn Jahre nach dem Tod Gaitáns waren solche alternativen Gruppen aller-
dings noch nicht aktiv. Die Gedenkveranstaltungen rund um den 9. April 1958
waren daher ganz von der Vereinnahmung Gaitáns durch die Ideologen des
Frente Nacional
geprägt. Am 8. April erging der Aufruf der liberalen Zeitungen,
an den Gedenkveranstaltungen zu Ehren des ehemaligen Parteiführers teilzu-
nehmen: "Se recomienda a los miembros del partido que participen en los
homenajes y peregrinaciones que se harán en el país, a su tumba o a los monu-
mentos que conmemoran al antiguo jefe del liberalismo."176
Dabei ließ die Führung der Liberalen Partei
keinen Zweifel, dass es sich um
ihren
Tag handelte. Alberto Lleras und andere Vertreter der zukünftigen Regie-
rung legten Blumen am Grab Gaitáns nieder und nutzten die Gelegenheit, in po-
litischen Reden auf angebliche Gemeinsamkeiten zwischen dem Denken Gaitáns
und der Idee des
Frente Nacional
hinzuweisen. Politiker aller Altersgruppen tra-
fen sich an diesem Tag in Bogotá und an anderen Orten des Landes, um über das
Vermächtnis des Ermordeten zu diskutieren. Dabei ging es hintergründig um die
Legitimierung des neuen Systems. In diesem Sinne behaupteten die Liberalen,
das Volk und seine legitimen Forderungen zu repräsentierten, wie es Gaitán zu-
vor getan hatte. Um die Menschen von diesem Anliegen zu überzeugen, kons-
truierten sie eine historische Kontinuität zwischen der Politik des
caudillo
und
den Vorhaben des
Frente Nacional
. So zeigt sich etwa der liberale Politiker Jor-
ge Uribe Márquez überzeugt, dass Gaitán an der Seite von Alberto Lleras "Frie-
den und Eintracht" gepredigt hätte, wenn er noch leben würde:
En los años de la dictadura abatida el 10 de mayo, Gaitán hubiera sido paladín de la resisten-
cia, al lado de Alberto Lleras Camargo, y hoy – si viviera – estaría con éste predicando la paz
y la concordia entre los colombianos, como único camino para conseguir la consolidación de
la segunda república.177
Zehn Jahre später war diesbezüglich noch keine Änderung eingetreten. Die
Gedenkveranstaltungen zum 9. April 1968 wurden wiederum mehrere Tage im
Voraus durch die Presse angekündigt und konzentrierten sich im Wesentlichen
176
El Independiente
vom 8. April 1958.
177
El Independiente
vom 9. April 1958.
141
Geschichtspolitik seit 1957
141
auf zwei Orte: Gaitáns Wohnhaus bzw. sein Mausoleum und die Stelle seiner
Ermordung im Zentrum Bogotás. Während im Bereich des Wohnhauses meist
nur ausgewählte Politiker und wichtige Persönlichkeiten zusammentrafen, rief
die Liberale Partei auch zu Großveranstaltungen in Parks oder großen Sälen auf.
Dabei wurden einige der von Gaitán eingeführten Formen des Protests gegen die
Regierung, wie die
marcha del silencio
oder die
marcha de las antorchas
rituell
wiederholt. Im Jahre 1968 hatten diese Veranstaltungen jedoch längst keinen
"revolutionären" Charakter mehr, sondern waren vielmehr zu gewöhnlichen Par-
teitagen geworden. Bei den Reden ging es vor allem um die großen Erfolge des
Frente Nacional
und in Bezug auf den 9. April gaben die Liberalen das Motto
aus, man hätte die "Lektion" gelernt. In diesem Sinne stellt auch ein Leitartikel
in
El Tiempo
fest, dass die Kolumbianer 20 Jahre nach dem
bogotazo
definitiv
das Ziel von "Eintracht und politisch rationalem Verhalten" erreicht hätten:
Infortunadamente después de aquel viernes sombrío, hubo otros hechos que perturbaron y
conturbaron al país hasta aproximarnos a un abismo de disolución y de vergüenza del cual por
fortuna logramos salir en instante estelar de la patria. Y ya, luego de estos años de entendi-
miento y de colaboración entre los partidos, podemos proclamar orgullosamente en este 9 de
Abril de 1968, que la lección ha sido aprendida y que es posible señalar ahora la certidumbre
de que los colombianos hemos alcanzado definitivamente la meta de la concordia y la civili-
zada certeza de una conducta política racional y nacional.178
Gegen diese offizielle Darstellung erhob sich in der Regel kein Widerspruch,
zumindest nicht in der
gran prensa
. Während die Macher von
La República
an
die heldenhafte Rolle des Ex-Präsidenten Ospina erinnerten, schrieb die liberale
Presse bevorzugt über das Leben und Wirken Gaitáns oder druckte mehrseitige
Chroniken zum Verlauf des
bogotazo
ab. Dass jedoch keineswegs alle mit der
politischen Vereinnahmung Gaitáns durch den Liberalismus einverstanden war-
en, zeigt beispielhaft eine Meinungskolumne des bereits erwähnten Schriftstel-
lers Eduardo Caballero Calderón. Entgegen der offiziellen Sichtweise war dieser
der Auffassung, dass eigentlich keine Partei Anspruch auf das politische Erbe
des
caudillo
erheben könne. Er ging vielmehr davon aus, dass es mit der Zeit zu
einer politisch gewollten Mystifizierung Gaitáns gekommen wäre. Erst zukünf-
tige Historiker würden über die nötige Unbefangenheit verfügen, den "Mythos"
zu dekonstruieren:
El 9 de abril su nombre se confundió con el liberalismo. Pero del análisis de los antecedentes
y las consecuencias de la muerte de este hombre, cuyo apellido está escrito con sangre en la
178
El Tiempo
vom 9. April 1968.
142
142
Kapitel II
memoria de los colombianos, se encargarán los historiadores del mañana, cuando se hayan
serenado los ánimos y su figura se purifique de las nieblas, los vahos de la pasión política y
las falsas leyendas que todavía la oscurecen. Gaitán ya no pertenece a un partido y a un mo-
mento aciago de la vida de los colombianos. Veinte años después de su muerte, Gaitán le per-
tenece a la historia.179
Im Gegensatz zum relativ "reibungslos" verlaufenen Gedenkjahr 1968 zeigten
sich 1978 bereits deutliche Brüche. Obwohl die Liberalen auch diesmal wieder
versuchten, das Datum für politische Zwecke zu nutzen, drangen vermehrt kriti-
sche Stimmen an die Öffentlichkeit. Bereits einige Jahre zuvor hatten die Kom-
munisten sowie die ab 1974 im Zerfallsprozess befindliche ANAPO den offi-
ziellen Kurs hart kritisiert und den 9. April als "revolutionäres" Ereignis inter-
pretiert. Die aus unzufriedenen Anhängern der ANAPO hervorgegangene Gue-
rillagruppe M-19 hing im Jahre 1978 ebenfalls dieser These an. Im Unterschied
zu den meisten anderen oppositionellen Gruppen, gelang es den Mitgliedern die-
ser Stadtguerilla immer wieder, durch spektakuläre Aktionen auf sich aufmerk-
sam zu machen. Dadurch fanden ihre Botschaften auch in den wichtigsten Me-
dien Verbreitung. So hatte die Gruppe beispielsweise den Säbel Simón Bolívars
aus einem Museum gestohlen und anschließend verlauten lassen, ihn erst wieder
zurückzugeben, wenn der "Traum des Befreiers" erfüllt sei.180 Auch den 9. April
1978 wusste die Guerilla für sich zu nutzen, indem sie in der Nacht zum 10. Ap-
ril in das zu einem Museum umfunktionierte Wohnhaus Gaitáns eindrang und
dort ihre Spuren hinterließ.
In der von Gaitáns Tochter Gloria verwalteten
Casa Museo Gaitán
legten die
Guerilleros Flugblätter aus und malten politische Botschaften an die Wände.
Darin stellten sie einen Bezug zwischen der Mobilisierung der Massen durch
den linksliberalen
caudillo
und der "revolutionären" Aufgabe des M-19 her. Die
liberale und konservative Presse sah in dem Vorfall hingegen einen "Akt des
Terrorismus".181 Den kolumbianischen Zeitungslesern bot sich am 10. April je-
doch auch in anderer Hinsicht ein ungewohnt disharmonisches Bild im Hinblick
auf das ritualisierte Gedenken. Nachdem der
Frente Nacional
im Jahre 1974
sein "offizielles" Ende gefunden hatte, beschwerten sich die Konservativen zu-
nehmend über den "unerträglichen Missbrauch" des Datums durch die Libera-
len. Im April 1978 schien in dieser Hinsicht der Höhepunkt erreicht, als der libe-
179 Ebd.
180
Vgl.
Bushnell.
2003, S. 333.
181
Vgl.
El Tiempo
,
El Espectador
,
La República
und
El Siglo
vom 10. u. 11. April 1978.
143
Geschichtspolitik seit 1957
143
rale Präsidentschaftskandidat César Turbay Ayala mit der Tochter Gaitáns auf
eine landesweite "Tournee" ging. Auf zahlreichen Gedenkveranstaltungen
machte er sich dabei das Erbe seines historischen "Vorbilds" zu Eigen. Als er
etwa am 8. April 1978 zusammen mit Gloria Gaitán einen Blumenkranz vor der
Büste des liberalen
caudillo
in Girardot niederlegte, erinnerte er öffentlichkeits-
wirksam an die "gemeinsame" politische Überzeugung. Genau wie Gaitán vor
ihm sei auch er ein Kämpfer für die soziale Gerechtigkeit und ein Vertreter des
"modernen" Liberalismus:
[Quisiera] rememorar ante la conciencia pública la trayectoria intelectual y humana del gran
caudillo sacrificado y exaltar el significado de sus luchas en pro de la justicia social y a favor
de los desheredados. Pertenece Gaitán a la auténtica tradición revolucionaria del liberalismo y
su existencia se identifica con los valores de la izquierda democrática que caracterizan al mo-
derno liberalismo.182
Ganz im Gegensatz dazu sollte sich Turbay nach seiner Wahl zum Präsiden-
ten allerdings weder einen Namen als "Mann des Volkes" noch als erfolgreicher
Sozialpolitiker machen. Seine oft sarkastisch als
dictablanda
bezeichnete Präsi-
dentschaft war vielmehr von schweren Menschenrechtsverletzungen und chroni-
scher Instabilität gekennzeichnet. Nachdem er allen linken Guerillagruppen –
insbesondere jedoch dem M-19 – den Krieg erklärt hatte, waren das "Ver-
schwindenlassen" politischer Gegner sowie Folterungen durch die (Militär-) Po-
lizei an der Tagesordnung.183
Dass von konservativer Seite bereits zu Beginn der Kandidatur Turbays Zwei-
fel an dessen "gaitanistischer" Gesinnung bestanden, belegen zahlreiche Artikel
und Kommentare in der Presse. Darin äußerten sich die Macher und Journalisten
der Zeitungen
La República
und
El Siglo
abschätzig über die von Turbay insze-
nierte "Tournee" und unterstellten ihm, dass Erbe Gaitáns zu missbrauchen bzw.
zu verfälschen. In diesem Sinne machte etwa
El Siglo
am 10. April 1978 mit
dem Titel
Turbay usa la memoria de Gaitán para hacer política
auf.184
Anhand dieser drei in der
gran prensa
veröffentlichten Sichtweisen – der des
Liberalismus, des M-19 und des Konservatismus – zeigt sich besonders deutlich,
wie wenig Konsens zu diesem Zeitpunkt bezüglich der Auslegung des Datums
unter den sozialen und politischen Akteuren bestand. Obwohl die liberalen Ge-
denkveranstaltungen in den Folgejahren stark an Bedeutung verloren und immer
182
El Tiempo
vom 8. April 1978.
183
Vgl.
Bushnell.
2003, S. 340 u. 344 ff.
184
Vgl.
El Siglo
vom 10. April 1978.
144
144
Kapitel II
weniger Parteimitglieder den Aufrufen ihrer Führer folgten, sollte im Jahre 1988
noch einmal auf monumentale Weise das Erbe Gaitáns evoziert werden. Zu die-
sem Zweck beschloss die liberale Regierung von Virgilio Barco (1986–1990),
den Leichnam Gaitáns umzubetten und ihm ein "würdiges" Grabmal zu errich-
ten. Rechtzeitig zum 9. April war die neue Gedenkstätte im anliegenden Garten
des Wohnhauses fertig. Die
Casa Museo
, in der sich das Grab vorher befand,
sollte darüber hinaus in den nächsten Jahren zu einem großen Dokumentations-
zentrum umgebaut werden. Bis heute existiert von diesem Gebäude allerdings
nur der Torso aus Beton.185
Im Vergleich zu vergangenen Veranstaltungen unterschied sich das Gedenken
im April 1988 in zwei Punkten: Zum einen legten die Verantwortlichen der neu-
en Grabstätte größten Wert auf den symbolischen Gehalt des Ortes. Zum ande-
ren mischten sich diesmal unter die zahlreichen Reden und Presseartikel auch
nachdenkliche Töne.
Bei der Umgestaltung des Grabs zu einem "würdigen" Erinnerungsort überbo-
ten sich die von der Regierung beauftragten Kuratoren geradezu mit kreativen
Vorschlägen. Am Ende einigten sie sich darauf, den
caudillo
senkrecht in der
Erde aus den über 1000 Gemeinden Kolumbiens zu bestatten. Diese Erde war
bereits zuvor von Abgesandten der einzelnen Gemeinden nach Bogotá gebracht
worden. Weiterhin wurden am 9. April 1988 zwölf symbolische Objekte mit
Gaitán beerdigt, die ebenfalls im Vorfeld des Ereignisses in die Hauptstadt ge-
bracht worden waren. Dabei handelte es sich um eine kleine Truhe, in der sich
die "Träume Bolívars" befanden; eine getrocknete Rose, die aus der Residenz
des ehemaligen chilenischen Präsidenten Salvador Allende stammte; ein Fläsch-
chen mit Wasser aus dem Panamakanal; ein Stein aus Nicaragua, dem Land
Sandinos; ein Skapulier der Jungfrau von Guadalupe, der Nationalheiligen Me-
xikos; einige Tabakblätter aus der Region des Vorkämpfers der kolumbiani-
schen Unabhängigkeit, dem
comunero
José Antonio Galán; eine Machete von
den Bananenplantagen der Atlantikküste; ein Rosenkranz des legendären Gueri-
lleros und Priesters Camilo Torres; eine Keramik aus vorspanischer Zeit sowie
185
Der ursprünglich für dieses Projekt vorgesehene Name lautete
Centro Nacional de Par-
ticipación Ciudadana Jorge Eliécer Gaitán
. Nach einer sehr kurzen Bauphase gingen den
Verantwortlichen jedoch bald die Geldmittel aus. Hinzu kamen Streitigkeiten mit Gloria
Gaitán, der Verwalterin der
Casa Museo
. Im Moment befindet sich das Projekt unter der
Schirmherrschaft der
Universidad Nacional
und soll in den nächsten Jahren zu Ende geführt
werden. Unter Abschnitt 6.4 gehe ich näher auf das Vorhaben ein.
145
Geschichtspolitik seit 1957
145
Erde, die von dem Ort stammte, an dem der Leichnam Gandhis eingeäschert
worden war.186
Abb. 1: Grabmal von Jorge Eliécer Gaitán in der
Casa Museo Gaitán
in Bogotá
(Fotografie im Privatbesitz des Autors).
Ganz im Sinne seiner liberalen Vorgänger ließ es sich auch Präsident Barco
nicht nehmen, Gaitáns Erbe für sich zu beanspruchen. In seiner Gedenkrede
vom 9. April wies er unter anderem darauf hin, dass die unter ihm eingeführte
Direktwahl der Bürgermeister im Grunde ein Plan Gaitáns gewesen sei. Auch
sonst sei Gaitán ein Mann mit guten Ideen gewesen, die sich jedoch keiner be-
stimmten politischen Richtung zuordnen ließen.187 Zum Abschluss der Gedenk-
veranstaltung stiegen schließlich 5000 rote Luftballons in den Himmel, um an
die von Gaitán organisierten Volksversammlungen des Jahres 1948 zu erinnern.
Bei einer Lektüre der im April 1988 erschienen Zeitungsartikel fällt weiterhin
auf, dass die vormaligen Differenzen bezüglich der politischen Vereinnahmung
Gaitáns stark nachgelassen hatten. Stattdessen überwogen nun Artikel, die auf
die gegenwärtige schlechte Situation des Landes anspielten. Kolumbien, das seit
186 Vgl.
El Espectador
vom 9. April 1988.
187
Vgl.
El Espectador
vom 10. April 1988.
146
146
Kapitel II
Beginn der 80er Jahre vom blutigen Terror der Drogenkartelle heimgesucht
wurde, habe demnach nur wenig aus seiner Vergangenheit gelernt.188 Bei dieser
Art von Darstellungen handelte es sich um eine verbreitete Tendenz, die in Be-
zug auf den
bogotazo
oder die Epoche der
Violencia
sogar noch gegen Ende des
20. Jahrhunderts anzutreffen war. Auch zehn Jahre später, rund um das Datum
des 9. April 1998, machten die Medien auf den ihrer Meinung nach unüberseh-
baren Zusammenhang von historischer und aktueller Gewalt aufmerksam. So
begann eine Chronik über die Ermordung Gaitáns mit folgenden Worten: "Vol-
ver hoy sobre la memoria de aquel nefasto acontecimiento que terminó con la
vida del ilustre caudillo liberal, sólo sirve para advertir a los colombianos de los
peligros de la intolerancia política que no debiera repetirse."189
In vielen Fällen beschränkten sich die Kommentare in
El Espectador
und
El
Tiempo
jedoch nicht auf einen bloßen Vergleich, sondern prangerten explizit die
Folgen des
bogotazo
und die Schuld der Parteien an. Besonders der wesentlich
kritischere
El Espectador
betonte die negativen Implikationen des Zwei-
Parteien-Paktes und warnte vor einer Wiederkehr des 9. April. Wie folgender
Ausschnitt aus einem Leitartikel zeigt, revidierte die Zeitung damit im Grunde
ihre eigene Sichtweise der vergangenen Jahrzehnte:
Todo terminó dentro de lo previsible: con el sempiterno pacto para repartirse el poder bu-
rocrático, a nombre del orden y del mantenimiento de unas instituciones que tienen la virtud
de hacer creer que nada las puede destruir. Es una fórmula colombiana, que por lo menos has-
ta el momento ha resultado infalible. ¿Hasta cuándo? Nadie seguramente podrá adivinarlo.
Como tampoco nadie podrá prever la ocurrencia de otro 9 de abril […].190
Daniel Pécaut spricht unter Bezugnahme auf diese und ähnliche Texte von der
allmählichen Herausbildung einer "mythischen Erinnerung", die zunehmend
ahistorisch und anti-chronologisch geprägt sei. Zeitungsartikel und Essays über
die
Violencia
würden demnach in jüngster Zeit immer stärker die historische
Kontinuität der Gewaltepisoden hervorheben, wodurch die Grenzen zwischen
den unterschiedlichen Ereignissen und Epochen verschwimmen würden. Zwi-
schen der
Violencia
der Vergangenheit und den
violencias
der Gegenwart sei so
bald kein Unterschied mehr festzustellen. Am auffälligsten zeige sich dies in der
ahistorischen Konstruktion einer "Serie der Gewalt", die mit Gaitáns Tod ihren
Anfang nehme und zu Beginn der 90er Jahre mit der Ermordung einer Reihe
188 Vgl.
El Tiempo
vom 8. u. 9. April sowie
El Espectador
vom 9. April 1988.
189
El Espectador
vom 9. April 1998.
190
Ebd.
147
Geschichtspolitik seit 1957
147
wichtiger Politiker ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht habe. Besonders die
Ermordung des linksliberalen Präsidentschaftskandidaten Luis Carlos Galán im
Jahre 1989, der Mord an Carlos Pizarro im Jahre 1990 (Präsidentschaftskandidat
des in eine Partei umgewandelten M-19) sowie die "Eliminierung" sämtlicher
Mitglieder der linksgerichteten Partei UP (
Unión Patriótica
) seit Mitte der 80er
Jahre hätten bei vielen Menschen den Eindruck permanenter politischer Gewalt
entstehen lassen. In diesem Kontext sei auch die
Violencia
zum Bruchstück ei-
ner unergründlichen Gewaltgeschichte ohne Anfang und ohne Ende gewor-
den.191 Im Extremfall ist heutzutage sogar zu beobachten, dass manche Kolum-
bianer Gaitán und Galán für ein und dieselbe Person halten.192
Zuletzt gingen
El Tiempo
und
El Espectador
im April 2008 auf die verschie-
denen Seminare und Gedenkveranstaltungen anlässlich des sechzigsten Todes-
tages von Gaitán ein, wenngleich weniger ausführlich als noch vor zehn Jahren.
In mehreren Beilagen wiesen beide noch einmal auf den Verlauf des
bogotazo
und die Folgen für Kolumbien hin, wobei selbstverständlich keine neuen Er-
kenntnisse hinzukamen. Insgesamt überwog auch diesmal ein kritischer Tonfall,
der am besten in einer Kolumne von Jorge Restrepo zum Ausdruck kam. Dieser
stellte den "Verrat" an Gaitáns Idealen durch die Liberale Partei gar in eine Rei-
he mit der Evolution des hermetischen
bipartidismo
und seiner vorläufigen
Kulmination, dem autoritären
uribismo
:
Esta sociedad vio frustrada la posibilidad de liberalización modernizante, mucho por culpa del
partido vocero de esa tarea, que además de refundirla se opuso larvadamente a Gaitán, el 9 de
abril azuzó y luego abandonó al pueblo y después se alió con el conservatismo monopolizan-
do el desarrollo político, deformando el económico, aumentando la dependencia, yugulando el
relevo del liderazgo, hasta la actualización de esa castración democrática en el uribismo de
hoy. La unidad y movilización populares alrededor de Gaitán sólo se han repetido fugazmente
en el populismo anapista, dejando sin participación a las grandes mayorías, desequilibrando la
decisión política, macartizada la muy poca oposición, abandonado mucho de su espacio al
extremoizquerdismo. El pueblo sigue inmovilizado, hoy por la polarización artificial entre
unanimismo oficial o terrorismo, por el militarismo de ambos signos, corrompido y privatiza-
191
Vgl.
Pécaut.
2003, S. 121–133 u.
Posada Carbó, Eduardo.
2007.
La nación soñada
.
Bogotá: Norma, S. 51 ff. u. 66 f.
192
Dies war eines der Ergebnisse einer
Oral History
-Studie der
Universidad de Antioquia
in den Außenbezirken von Medellín. Siehe hierzu
Blair, Elsa/Alejandro Pimienta/Santiago
Gómez.
2003.
Imágenes del otro en la(s) violencia(s) colombianas: por una antropología de
la violencia
. Informe final. Medellín: INER.
148
148
Kapitel II
do el Estado en áreas como educación o salud, el Congreso bordeando la ilegitimidad, los
partidos sin más vocación que su reelección, la república sin sentido de su historia.193
Aufgrund der Zuspitzung der Gewalt in der jüngsten Vergangenheit, aber
auch wegen des enormen Bedeutungsverlustes der beiden Traditionsparteien seit
Beginn der 90er Jahre, haben die öffentlichen Gedenkveranstaltungen zum 9.
April in den letzten beiden Jahrzehnten an Bedeutung verloren.194 Es ist anzu-
nehmen, dass jüngere Generationen dem Datum in Bezug auf die anhaltende
Gewalt keine Erklärungskraft mehr zuschreiben. Darüber hinaus ist auch
Gaitáns politischer Diskurs längst in Vergessenheit geraten, weil liberale Politi-
ker in den vergangenen Jahrzehnten zwar die "mythischen" Aspekte seiner Per-
sönlichkeit, nicht jedoch seine Forderungen nach Umverteilung, Land und Bil-
dung berücksichtigten. Da Gaitáns Ideen in der aktuellen Politik praktisch keine
Rolle mehr spielen, sind es heutzutage in erster Linie ältere Menschen sowie die
verbliebenen Angehörigen der Generation der so genannten
nueveabrileños
, die
das Grab des
caudillo
aufsuchen.195 Die Erinnerung an den 9. April, und somit
auch an die von diesem Datum "vereinnahmte" Epoche der
Violencia
, droht
langsam zu verblassen.196 Dieser Prozess lässt sich vermutlich auch nicht durch
Gedenkveranstaltungen, gelegentliche Symposien an den Universitäten oder die
bereits erwähnte Fernseh-Dokumentation aufhalten.
193
El Tiempo
vom 4. April 2008.
194
Vgl.
Melo Moreno.
2006.
195
Interview mit Sylvia Suárez, in der Sektion
divulgación cultural
der
Universidad Na-
cional
zuständig für die
Casa Museo Gaitán
(Bogotá), am 12. Juli 2006.
196
Neben der
Casa Gaitán
wird die Erinnerung an den
caudillo
auch in einer Reihe von
Statuen, Inschriftentafeln und Graffiti wachgehalten. Von besonderer Bedeutung ist hierbei
der Ort, an dem Gaitán erschossen wurde. Vor seiner ehemaligen Anwaltskanzlei – im Schat-
ten einer McDonald’s-Filiale – befinden sich heute zahlreiche Gedenktafeln, die oftmals von
Politikern gestiftet wurden bzw. werden. In etwas geringerer Zahl finden sich jedoch auch
Statuen und Gedenktafeln für Laureano Gómez über das ganze Land verteilt.
149
Geschichtspolitik seit 1957
149
Abb. 2 u. 3: Gaitán-Gedenktafeln und Gómez-Büste in Bogotá
(Fotografien im Privatbesitz des Autors).
150
150
Kapitel II
4.
I
NSTITUTIONALISIERUNG DES
V
ERGESSENS
Zu Beginn des
Frente Nacional
existierte ein breiter Konsens bezüglich der
Interpretation der
Violencia
. Die in den Traditionsparteien organisierten Eliten
waren sich einig, dass die "Befriedung" Kolumbiens nur durch "Vergebung und
Vergessen" zu erreichen sei. Aus diesem Grunde erließen die Führer des
Frente
Nacional
zwar keine speziellen Gesetze, die den Umgang mit der jüngsten Ver-
gangenheit verbindlich geregelt hätten. Wohl aber bestimmten sie durch Reden,
Schriften und interne Empfehlungen den politischen Diskurs, wie er sich bei-
spielhaft in der Presse oder den Parlamentsdebatten darstellte. Eine regelrechte
"Schlussstrichgesetzgebung" war hierzu nicht notwendig, da sich die wichtigsten
Medien ohnehin zu einer Art Selbstzensur verpflichtet hatten und die politischen
Debatten im Rahmen eines elitären Systems abliefen. Dass gelegentlich trotz-
dem kritische Stimmen an die Oberfläche drangen, war verschmerzbar und galt
allgemein als Indiz für eine "erfolgreiche demokratische Entwicklung".197
Neben diesen dezentralen und relativ unkoordinierten Maßnahmen existierten
allerdings auch "Strategien des Vergessens", die vom Staat direkt gesteuert
wurden. Zwar hatten die Eliten nicht den Mut, eine staatliche Institution mit der
"Auslöschung des historischen Bewusstseins" zu beauftragen. Dennoch boten
sich zum Erreichen dieses Zwecks verschiedene Werkzeuge an, die ebenso ef-
fektiv sein konnten. Einmal handelte es dabei um die zu Beginn des
Frente Na-
cional
eingerichteten
Violencia
-Kommissionen (
Comisiones de Rehabilitación y
de Investigación
). Zum anderen spielten Amnestiegesetze, die der "Befriedung"
des Landes dienen sollten, eine wichtige Rolle. Zwar hatten diese Maßnahmen
offiziell stets "humanitären" bzw. "friedensstiftenden" Charakter, in Wirklich-
keit sollten sie jedoch auch dazu dienen, den
Frente Nacional
historisch zu legi-
timieren und die Schuld der Eliten herunterzuspielen.
4.1 Die Kommissionen
In den ersten drei Jahren des
Frente Nacional
war es das erklärte Bestreben der
Regierung, die bedrohliche Zunahme des
bandolerismo
unter Zuhilfenahme po-
197
Vgl.
Lleras, Alberto.
1960a.
El primer gobierno del Frente Nacional
. Bd. 1. Bogotá:
Imprenta Nacional S. 34 ff. In dieser Rede vom 19. September 1959 betont der Präsident, dass
der
Frente Nacional
aufgrund seines "offenen" Charakters auch gegensätzliche Ansichten in
Bezug auf die Vergangenheit tolerieren würde.
151
Geschichtspolitik seit 1957
151
litischer und sozialer Maßnahmen zu beenden. Da sich Alberto Lleras und seine
Untergebenen vom vorangegangenen Militärregime in positiver Weise unter-
scheiden wollten, betonten sie zunächst ihre Zurückweisung repressiver Aktivi-
täten.198 Als Teil einer neuen Strategie zur Eindämmung der anhaltenden Gewalt
setzte die Regierung vielmehr auf Kommissionen und soziale Projekte. Dabei
handelte es sich um die so genannte
Comisión Especial de Rehabilitación
, die
bereits erwähnte
Comisión Nacional Investigadora de las Causas y Situaciones
Presentes de la Violencia en el Territorio Nacional
sowie um diverse Organis-
men der sozialen Fürsorge und der technischen Zusammenarbeit (
Acción Comu-
nal
und
Equipos Polivalentes
).199
Angesichts des geringen Erfolgs derartiger Programme entschied sich die Re-
gierung erst gegen Mitte des Jahres 1959, diese "weichen" Maßnahmen mit mili-
tärischen Optionen zu kombinieren. Des Weiteren beschloss die Führungsriege
des
Frente Nacional
, das Strafrecht zu verschärfen und den Justizapparat im
Allgemeinen zu stärken. Als wichtiges Mittel zur Eindämmung des gefürchteten
bandolerismo
galt außerdem die Umstrukturierung der lokalen Verwaltungen in
den am schwersten von der
Violencia
betroffenen Gebieten. In diesen Regionen,
die unter Verweis auf Artikel 121 der Verfassung unter den besonderen Bedin-
gungen des
estado de sitio
regiert wurden, übernahmen häufig Militärs die poli-
tische Verantwortung. Der Staat versuchte, durch die Bereitstellung einer Reihe
öffentlicher Güter die angespannte Situation zu entschärfen. Hierzu gehörten
Straßenbauprojekte, die Errichtung von Krankenhäusern oder die Gründung von
Schulen.200
Als weitere "Befriedungsmaßnahme" wurden die
Tribunales de Conciliación
y Equidad
geschaffen, die ab Februar 1960 ihre Arbeit aufnahmen. Zu ihren
Aufgaben gehörte es, zwischen Grundbesitzern und
bandoleros
zu vermitteln,
um die gewaltsame Aneignung von Ländereien, die erzwungene Veräußerung
von Landbesitz sowie illegale Landbesetzungen zu verhindern. Da es für die
meisten Bürger jedoch ein hohes Risiko darstellte, sich der Kommission anzu-
vertrauen und illegale Aktivitäten zu denunzieren, hatten die
Tribunales
kaum
nennenswerte Erfolge vorzuweisen. Aufgrund der fehlenden Garantien für Klä-
ger und Zeugen stellten sie ihre Arbeit daher gegen Ende des Jahres 1961 ein.201
198 Vgl.
El Espectador
vom 13. Juni 1958.
199
Vgl.
Sánchez/Meertens.
1983, S. 227.
200
Vgl.
Bushnell.
2003, S. 314 f.
201
Vgl.
Sánchez/Meertens
. 1983, S. 167.
152
152
Kapitel II
Im Gegensatz dazu erwiesen sich die
Comisiones de Rehabilitación
y de
In-
vestigación
, die im September 1958 ihre Arbeit aufnahmen, als wichtiger Be-
standteil des "Befriedungsprozesses". Zentrale Aufgabe der "Rehabilitations-
Kommission" war es, die durch den Bürgerkrieg verursachten materiellen Schä-
den festzustellen und konkrete Vorschläge zu ihrer Behebung zu machen. Ihre
Mitglieder gehörten selbst der Regierung an und konzentrierten sich daher ganz
auf einen schnellen Wiederaufbau und die militärische Komponente der "Be-
friedung". Die "Forschungs-Kommission" hatte hingegen einen weniger offiziel-
len Charakter, da sie zwar von der Regierung ins Leben gerufen worden war,
jedoch über mehr Handlungsspielraum und eine gewisse Interpretationsfreiheit
verfügte. Ihre Hauptaufgabe war es, Kontakt zu den aufständischen Gruppen
herzustellen und über die Bedingungen eines Waffenstillstandes bzw. einer
möglichen Demobilisierung zu verhandeln. Außerdem sollte sie die Gründe der
aktuellen Gewalt erforschen.202
In der Rehabilitations-Kommission, die bis Dezember 1960 regelmäßig zu-
sammentraf, waren der Innenminister (
ministro de Gobierno
), der Kriegsminis-
ter, der Erziehungsminister, der Minister für öffentliche Aufgaben (
ministro de
Obras Públicas
), der Landwirtschaftsminister, der Finanzminister, der Gesund-
heitsminister und der Justizminister vertreten. Als Koordinator fungierte ein Be-
vollmächtigter des Präsidenten, der in erster Linie für den wirtschaftlichen Wie-
deraufbau der von der
Violencia
betroffenen Gebiete verantwortlich war. Tat-
sächlich flossen die meisten Gelder jedoch in militärische Maßnahmen, die der
Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung dienen sollten. In wesentlich gerin-
gerem Maße förderte die Kommission hingegen humanitäre Projekte oder die
Rückgabe unrechtmäßig erworbener Ländereien. Insbesondere bei den Verhand-
lungen um widerrechtlich angeeigneten Besitz sowie bei der Bestrafung der
bandoleros
zeigte sich die Kommission unentschlossen. Denn ihre Mitglieder
hatten den klaren Auftrag erhalten, nichts zu unternehmen, was den im Oktober
und Dezember des Jahres 1958 erlassenen Amnestiegesetzen zuwiderlaufen
könnte. Die sozialen Folgen dieser Unterlassungshaltung sollten hingegen durch
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im öffentlichen Sektor und in der Landwirt-
schaft abgemildert werden. Weiterhin weitete die Kommission ihren Aktionsra-
dius auch auf Regionen aus, die nicht unter ihren ursprünglich per Dekret festge-
legten Wirkungsbereich gefallen waren. Dabei handelte es sich um Teile des
202 Vgl.
El Independiente
vom 21. Februar 1958.
153
Geschichtspolitik seit 1957
153
Departements Chocó, Teile der Llanos sowie die Regionen Sumapaz und Mag-
dalena Medio.203
Obwohl es von Anfang an das Ziel der Kommission gewesen war, sämtliche
bandoleros
zum Aufgeben zu bewegen und die öffentliche Ordnung wiederher-
zustellen, hatten auch soziale Maßnahmen zu ihrem Aufgabenspektrum gehört.
Dafür, dass die Kommission auf diesem Gebiet scheiterte, waren in erster Linie
das Versagen der lokalen Bürokratien und das Fortbestehen klientelistischer
Strukturen verantwortlich. Zwar hatten die Minister relativ früh erkannt, dass
mit repressiven Maßnahmen alleine keine Friedenssicherung möglich war. Doch
zur Umsetzung flankierender sozialer Maßnahmen fehlten die institutionellen
und personellen Voraussetzungen. Auf dem Land waren politisch einflussreiche
Großgrundbesitzer, die so genannten
gamonales
, nach wie vor die mächtigsten
Akteure. Auch das System des
Frente Nacional
war auf das Wohlwollen dieser
Persönlichkeiten angewiesen, die zumeist über Grund, Vermögen, politische
Macht und eine große Gefolgschaft von abhängigen Landarbeitern verfügten.
Indem die
gamonales
den Traditionsparteien Wählerstimmen garantierten und
für soziale Kontrolle sorgten, erhielten sie von der Regierung politische und
ökonomische Privilegien. Die besitzlosen Landarbeiter wiederum konnten gegen
Abgabe ihrer Stimme auf gewisse Versorgungsleistungen und den Schutz des
patrón
bauen.204
An diesem wechselseitigen Patron/Klient-Verhältnis änderte auch die Einfüh-
rung eines "neuen" politischen Systems auf nationaler Ebene nichts. Ressourcen
der lokalen und regionalen Verwaltung, Sozialprogramme und Hilfsgelder be-
trachteten die
gamonales
weiterhin als "Gegenleistungen" der Regierung. Über
ihre parlamentarischen Vertreter erreichten sie zudem, dass viele "Hilfsgelder"
in Gebiete transferiert wurden, die kaum oder gar nicht von der
Violencia
betrof-
fen waren. Andere Regionen, wie beispielsweise das schwer vom Bürgerkrieg
gezeichnete Departement Chocó, erhielten hingegen immer weniger Unterstüt-
zung. Ausschlaggebend dafür war die Tatsache, dass dort mehrheitlich die
Nachfahren schwarzer Sklaven lebten und eine politisch einflussreiche Groß-
203 Vgl.
Sánchez/Meertens.
1983, S. 23.
204
Zum
gamonalismo
am Beispiel des Departements Valle del Cauca siehe ausführlich
Atehortúa Cruz, Adolfo.
1995.
El poder y la sangre
:
las historias de Trujillo (Valle)
. Bo-
gotá: CINEP.
154
154
Kapitel II
grundbesitzerkaste weitgehend fehlte. Im politischen System Kolumbiens waren
und sind solche "peripheren" Regionen daher oft nur nominell repräsentiert.205
Insgesamt betrachtet gelang es der Kommission zwar, einige
bandoleros
zum
Aufgeben zu bewegen und dem staatlichen Gewaltmonopol Geltung zu ver-
schaffen. Der Preis für diese "Befriedungsmaßnahmen" war jedoch außerordent-
lich hoch. Noch vor dem Inkrafttreten der Amnestiegesetze hatte die Kommissi-
on bereits vielen
bandoleros
Straffreiheit versprochen und ihnen zusätzlich
staatliche Kredite angeboten. Darüber hinaus kam es in mehreren Fällen zur Le-
galisierung unrechtmäßig erworbener Ländereien. Dieses Vorgehen, das einige
der schlimmsten Verbrechen "belohnte", während die Opfer des Bürgerkrieges
leer ausgingen, rief nicht nur auf lokaler und regionaler Ebene Empörung her-
vor. Selbst in der
gran prensa
und im Kongress erhoben sich Stimmen, die mehr
Gerechtigkeit einforderten.206
Zwar hatte die Rehabilitations-Kommission nicht die explizite Aufgabe, das
Geschehene aus dem historischen Gedächtnis zu löschen oder die Verbrechen
der
Violencia
zu bagatellisieren. Im Ergebnis war aber genau dies der Fall. Im
Sinne von "perdón y olvido" zogen die Mitglieder der Kommission einen
Schlussstrich unter die blutige Vergangenheit, wodurch zahlreiche Verbrechen
und Ungerechtigkeiten ungesühnt blieben. Entgegen der ursprünglich angestreb-
ten "Befriedung" des Landes schuf die Regierung damit die Grundlage für neuen
Hass und neue Gewalt.
Die
Comisión de Investigación
war im Vergleich dazu eher konsultativ ausge-
richtet. Die Regierung erwartete von ihr nur eine Analyse der gegenwärtigen
Situation, nicht jedoch einen konkreten Plan zur Eindämmung der
Violencia
. Zu
diesem Zweck sollten die Mitglieder der Kommission persönlich in die am
meisten betroffenen Gebiete reisen, um vor Ort mit Opfern und Tätern zu spre-
chen. Wie bereits erwähnt, sollte sich das Ergebnis auf die unmittelbaren Zu-
sammenhänge der Gewalt beschränken, die historischen Ursachen jedoch aus-
klammern. Die Kommission setzte sich aus zwei Militärs, zwei Priestern und
205
Vgl.
Sánchez/Meertens.
1983, S. 40. Zur historischen Marginalisierung der schwarzen
Bevölkerung in Kolumbien siehe
Wade, Peter.
1997. Die Schwarzen, die Schwarzenbewe-
gung und der kolumbianische Staat. In: Altmann, Werner/Thomas Fischer/Klaus Zimmer-
mann (Hgg.).
Kolumbien heute
. Frankfurt a. M.: Vervuert, S. 89–107.
206
Vgl. z. B.
El Espectador
vom 11. Mai 1959,
El Tiempo
vom 21. Juli 1959 und
La
República
vom 4. Juli 1959. Letztere schreibt zum Thema der Straffreiheit: "Se ha tratado de
reincorporar a la vida civil a los antiguos bandoleros, con auxilios económicos y de otras
órdenes. Aunque ello nos cubra de rubor tenemos que confesar que lo que aquí sucede es
oprobio para la humanidad."
155
Geschichtspolitik seit 1957
155
zwei Mitgliedern der Parteien zusammen. Entgegen dem ursprünglichen Plan,
die Feldforschung auf wenige Monate zu beschränken, war die Kommission seit
September 1958 mehr als ein Jahr mit der Datensammlung, der Auswertung und
dem Erstellen eines abschließenden Berichtes beschäftigt, bevor sie sich gegen
Ende des Jahres 1959 auflöste. Nach Möglichkeit sollten ihre Mitglieder mit de-
nen der Rehabilitierungs-Kommission zusammenarbeiten, sofern sich die Ziel-
setzungen beider Gruppen deckten. Denn beide hatten den Zweck, einen Beitrag
zu erfolgreichen Verhandlungen mit den
bandoleros
zu leisten, eine Grundlage
für die geplanten Amnestiegesetze zu schaffen und durch persönliche Kontakt-
aufnahme ein "günstiges" Klima für einen Waffenstillstand herzustellen.207
In diesem Sinne stellte die
Comisión de Investigación
gewissermaßen die
"Vorhut" der
Comisión de Rehabilitación
dar. Nachdem die Mitglieder der For-
schungskommission eine bestimmte Region "erschlossen" hatten, indem sie
Kontakt zu den
bandoleros
herstellten und spezifische Machtstrukturen aufdeck-
ten, folgten die von der Rehabilitierungs-Kommission angeregten Repressions-
maßnahmen. Alfredo Molano hat die
Comisión de Investigación
in diesem Zu-
sammenhang als "trojanisches Pferd" bezeichnet, das unter dem Vorwand der
soziologischen Ursachenforschung in Wirklichkeit Informationen über "loh-
nenswerte" militärische Ziele liefern sollte.208
Die Tätigkeit beider Kommissionen war stark vom Wunsch der Traditionspar-
teien und der Wirtschaftsverbände bestimmt, in den von der
Violencia
betroffe-
nen Gebieten in Zukunft wieder wirtschaftlich aktiv werden zu können. Unter
"Befriedung" verstanden die Führer des
Frente Nacional
daher in erster Linie
die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung. Die Bestrafung der Schuldigen
stellte hingegen keine Priorität dar. Als problematisch erwies sich allerdings,
dass die Gewalt in dieser späten Phase der
Violencia
oftmals ökonomisch moti-
viert war. So hatten sich nicht wenige Großgrundbesitzer mit illegalen Gruppen
verbündet, die Druck auf andere Grundbesitzer ausüben sollten, um deren Län-
dereien unter Marktpreis erwerben zu können. Um die offensichtlichen Verbin-
dungen zwischen
gamonales
und
violentos
zu unterbrechen, empfahlen die
Kommissionen der Regierung eine ungewöhnliche Maßnahme: die Verbannung
(
extrañamiento
).209 In der Folge war es verurteilten Verbrechern verboten, sich
im Umkreis des Tatorts aufzuhalten bzw. dorthin zurückzukehren, sofern es sich
207 Vgl.
Molano.
1978, S. 65.
208
Vgl. ebd., S. 65 f.
209
Vgl. ebd., S. 80 ff.
156
156
Kapitel II
um bestimmte Verbrechen handelte. Gemäß Dekret 0326 vom 8. Oktober 1958
fielen darunter Delikte wie Einschüchterung, Bedrohung, Störung der öffentli-
chen Ordnung, Aufruhr, Untergrabung der staatlichen Autorität, Bestechung,
Anstiftung zu einer Straftat, Bildung einer kriminellen Vereinigung sowie illega-
ler Besitz und Verkauf von Waffen.210
Angesichts des klar eingegrenzten Katalogs an Straftaten steht außer Frage,
dass sich das Dekret vornehmlich gegen die
gamonales
richtete. Zum einen war
der Regierung daran gelegen, die Verbindung zwischen den bewaffneten Grup-
pen und ihren heimlichen Auftraggebern zu kappen. Zum anderen wollte sie die
gamonales
jedoch auf keinen Fall öffentlich als Schwerverbrecher anprangern,
da sie aufgrund ihrer Mobilisierungsmacht die Stabilität des
Frente Nacional
gefährden konnten. Anstatt also harte Maßnahmen zu ergreifen, die in den Au-
gen der Regierung nur für Unruhe gesorgt hätten, griff man zum Mittel der Ver-
bannung, das in gewissem Sinne einem Akt der Straflosigkeit gleichkam. Denn
gemessen an den von einigen
gamonales
begangenen Kapitalverbrechen, die
sich häufig hinter Bezeichnungen wie "Anstiftung zu einer Straftat" verbargen,
war die Verbannung eine außerordentlich milde Sanktion.211
In der Praxis zeigte sich jedoch, dass selbst "verbannte" Personen, die gegen
ihre Auflagen verstießen, so gut wie nie bestraft wurden. Aufgrund des korrup-
ten und ineffizienten Justizsystems war auch diese Maßnahme zum Scheitern
verurteilt und trug nur wenig zur Beendigung der
Violencia
bei. Offensichtlich
wurde hingegen, dass der
Frente Nacional
harte Strafen nur gegen
bandoleros
,
Guerilleros und "gewöhnliche" Verbrecher verhängte, mächtige Politiker und
gamonales
jedoch mit Nachsicht behandelte.212
Obwohl beide Kommissionen den "Befriedungsdiskurs" der Regierung in die
Praxis umsetzen sollten, gelang es ihnen weder, die sozioökonomischen Ursa-
chen der
Violencia
auszuräumen, noch die Grundlage für einen echten Frieden
zu schaffen. Denn obwohl die repressiven Maßnahmen der Regierung gegen
Ende des Jahres 1963 erste Erfolge zeigten, blieb die soziale Situation auf dem
Land angespannt. Zwar hatten sich die meisten
bandoleros
unter dem Schutz der
Amnestiegesetze demobilisiert oder dem militärischen Druck nachgegeben. Ei-
nige der auslösenden Ursachen der
Violencia
, wie etwa die ungerechte Landver-
teilung, das System des Klientelismus, die militanten Parteikader, die fehlende
210 Vgl.
Dekret 0326
vom 8. Oktober 1958; abgedruckt in Molano. 1978, S. 158–161.
211
Vgl.
Sánchez.
1988.
212
Vgl. ebd.
157
Geschichtspolitik seit 1957
157
Versorgung mit öffentlichen Gütern und die soziale Ungleichheit bestanden je-
doch fort. Ihre Aufgabe, den
Frente Nacional
zu legitimieren und einen Schluss-
strich unter die Vergangenheit zu ziehen, verrichteten die Kommissionen nur
oberflächlich betrachtet mit Erfolg. Sie konnten jedoch nicht verhindern, dass
das unbewältigte Trauma der
Violencia
zum Ausgangspunkt eines neuen be-
waffneten Konflikts wurde, der 1964 seinen Anfang nehmen sollte.
Dass die Kommissionen primär dem Erhalt des exkludierenden Systems dien-
ten, wurde später auch einem ihrer Mitglieder klar. So äußerte sich Germán
Guzmán Campos, als ehemaliger Angehöriger der
Comisión de Investigación
,
durchaus kritisch in Bezug auf den Zweck seiner Arbeit:
Sin lugar a dudas estas motivaciones traducen esa gigantesca ingenuidad que trastrueca en
virtud patriótica lo que es marrullera demagogia. En un contexto interpretativo posterior he
encontrado dos respuestas: una, medularmente clasista y oligárquica: la Comisión se creó para
buscar el retorno al estado de derecho, impidiendo la toma del poder por el pueblo. Es lo que
se ha llamado 'legitimación del Frente Nacional'. La otra respuesta es marxista: ve en la Co-
misión un instrumento más, utilizado por la clase en el poder para reproducirse y perpetuar su
dominación a través del Estado.213
4.2 Amnestiegesetze als Teil der "Strategie des Vergessens"
Im Gegensatz zur beabsichtigten Wirkung der Kommissionen fiel es der Regie-
rung ungleich schwerer, den Zweck der Amnestiegesetze zu verschleiern.
Schließlich bedeutet das griechische Wort
amnestia
in seiner ursprünglichen
Verwendung nichts anderes als "Vergessen des Geschehenen". Insofern besteht
eine etymologische Parallele zum verwanden Begriff der "Amnesie", die einen
krankhaften Gedächtnisverlust bezeichnet.214
Im modernen Sinne, das heißt bei ihrer Anwendung durch die Legislativ-
Organe eines Staates, meint Amnestie zumeist die Vergebung politisch oder
ideologisch motivierter Straftaten. Es handelt sich bei Amnestiegesetzen also um
eine politisch herbeigeführte Form des Vergessens, die im Idealfall zu einer
213
Guzmán Campos.
1986, S. 353.
214
Vgl.
Markowitsch, Hans.
2001. Amnesie. In: Pethes, Nicolas/Jens Ruchatz (Hgg.).
Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon
. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt,
S. 36 f.
158
158
Kapitel II
neuen Interpretation der Vergangenheit führt.215 In Kolumbien griffen die politi-
schen Eliten auf diese Strategie zurück, um einen Schlussstrich unter die Ver-
gangenheit zu ziehen und die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass es das
Beste war, den Tätern der
Violencia
zu vergeben. Die Haupttäter der
Violencia
waren jedoch weniger die zu amnestierenden
bandoleros
als vielmehr die Eliten
selbst. Zur Realisierung dieses Vorhabens wurde zudem die Legislative umgan-
gen und stattdessen "Vergebung und Vergessen" durch präsidentielles Dekret
verfügt.216 In dieser Hinsicht stellten die Amnestiegesetze jedoch kein Novum
dar, da 1953/54 bereits der Militärdiktator Rojas Pinilla zu diesem Mittel gegrif-
fen hatte, während er in der Öffentlichkeit von "Frieden, Versöhnung und natio-
nalem Zusammenhalt" sprach.217 Beide Male dienten die Amnestien in erster
Linie den Herrschenden, um sich von ihrer historischen Schuld reinzuwaschen.
Wie Gonzalo Sánchez anmerkt, gab es neben der Auslöschung der eigenen
Schuld noch eine Reihe weiterer Gründe, die in den Augen der Eliten für eine
Amnestie sprachen. So sahen sie es zur Legitimierung des
Frente Nacional
als
nützlich an, eine Umdeutung des Guerillakampfes während der Militärdiktatur
vorzunehmen. In diesem Sinne sollten zumindest einige der aufständischen
Gruppen einen Status als "Freiheitskämpfer" erhalten, um anschließend als
"treue Anhänger" des
Frente Nacional
in die Gesellschaft integriert zu werden.
Diejenigen, die sich weigerten, sollten hingegen als "Kommunisten" und Sys-
temfeinde verfolgt werden. Daneben gab es noch ein ganz praktisches Motiv:
Die Gefängnisse waren voll.218
All diese Faktoren führten schließlich dazu, dass Alberto Lleras am 28. No-
vember und am 11. Dezember 1958 zwei Dekrete zur Amnestierung und Wie-
dereingliederung sämtlicher
bandoleros
erließ, womit er an die von Rojas be-
gonnene Politik anknüpfte. Die während der Militärdiktatur erlassenen Amnes-
tiegesetze waren nämlich in erster Linie an die Guerilleros der Llanos Orientales
gerichtet gewesen, wohingegen ein Teil der bewaffneten Banden im Hochland
und den Andentälern sich diesem Angebot verweigert hatte. Um nun auch die
215
Siehe auch
Schmidt,
Siegmar/Gert u. Susanne Pickel (Hgg.).
2007.
Amnesie, Amnes-
tie oder Aufarbeitung? Zum Umgang mit autoritären Vergangenheiten
. Wiesbaden: VS-
Verlag.
216
Vgl.
Molano.
1978, S. 91.
217
Vgl. hierzu
Ayala Diago, César Augusto.
1990/91. El discurso de la conciliación.
Análisis cuantitativo de las intervenciones de Gustavo Rojas Pinilla entre 1952 y 1959. In:
Anuario Colombiano de Historia y de la Cultura,
Nr. 18/19 (Bogotá), S. 205–218 sowie
Gal-
vis/Donadio.
1988, S. 411 ff.
218
Vgl.
Sánchez.
1988.
159
Geschichtspolitik seit 1957
159
verbliebenen Aufständischen zu demobilisieren, erließ die Regierung kein ei-
gentliches Amnestiegesetz, sondern ein Dekret über die "Aussetzung der Stra-
fen" (
suspensión de penas
). Darunter fielen drei Arten von Verbrechen: bewaff-
nete Verteidigung bzw. Bekämpfung des Staats und seiner Regierung, politische
Feindseligkeiten sowie im Auftrag der Parteien verübte Verbrechen.219
Da es der Regierung jedoch selbst unter Anwendung des Verfassungsartikels
121 nicht erlaubt war, ein generelles Amnestiegesetz vom Kongress genehmigen
zu lassen, griff Lleras zum Mittel der präsidentiellen Dekrete. Dass in der Presse
anschließend von "Amnestie-Dekreten" die Rede war, wollte die Regierung in-
des nicht gelten lassen. Schließlich habe es sich um keine "völlige Vergebung"
im Sinne einer Amnestie, sondern lediglich um eine Maßnahme zur Wiederher-
stellung der öffentlichen Ordnung gehandelt. Wie Alberto Lleras betonte, seien
gegensätzliche Interpretationen nichts anderes als üble Nachrede: "No hemos
aplicado, en virtud de las autorizaciones del artículo 121, tal amnistía, aunque la
jerga popular y la malicia política hayan querido hacernos responsables de lo
que hemos evitado con el más riguroso esmero."220
In einem wichtigen Punkt unterschieden sich die Dekrete 0328 und 2582 al-
lerdings tatsächlich von einer generellen Amnestie: Sie kamen nur in ausgewähl-
ten Regionen zur Anwendungen. Dabei handelte es sich um die Departements
Caldas, Cauca, Valle del Cauca, Huila und Tolima, die weiterhin unter den be-
sonderen Bedingungen des
estado de sitio
regiert wurden.221
Schnell zeigte sich jedoch, dass die "Amnestiedekrete" ihre Wirkung auf ka-
tastrophale Weise verfehlten. Während sich zwar viele
bandoleros
bereit erklär-
ten, ihre Opposition gegen den Staat aufzugeben und an einem Wiedereingliede-
rungsprogramm teilzunehmen, führten die Maßnahmen gleichzeitig zu neuer
Gewalt. Obwohl die Führer der Traditionsparteien auf nationaler Ebene darum
bemüht waren, die Feindschaft zum politischen Gegner zu begraben und sogar
den politischen Charakter der
Violencia
leugneten, gab es auf dem Land noch
immer Parteianhänger, die anderer Ansicht waren. Die Tatsache, dass einige der
schlimmsten Verbrecher für den blutigen "Dienst" an ihrer Partei belohnt wer-
den sollten, führte bei Anhängern der gegnerischen Partei zu Neid und Hass.222
219 Vgl.
Dekret 0328
vom 28. November 1958; abgedruckt in Molano. 1978, S. 161–165.
220
El Tiempo
vom 21. Juli 1959.
221
Vgl. weiterhin
Dekret 2582
vom 11. Dezember 1958; abgedruckt in Molano. 1978, S.
166 f.
222
Vgl.
Sánchez.
1988.
160
160
Kapitel II
In anderen Fällen verfügten die Täter über keinen politischen Hintergrund,
sondern hatten während der
Violencia
in erster Linie aus ökonomischen Motiven
gemordet und vertrieben. Da die Regierung keinerlei Prüfungsmechanismus
eingerichtet hatte, konnten solche Gewalttäter ohne weiteres behaupten, im Auf-
trag einer Partei gehandelt zu haben. Die entsprechenden Gesetzesartikel sahen
nur vor, dass die Täter direkt beim Gouverneur der einzelnen Departementsdie
Teilnahme am Amnestieprogramm beantragen mussten. Dieser wiederum hatte
das Recht, sämtliche vor 1959 begangenen Straftaten zu vergeben. Auf diese
Weise verkamen die Dekrete zu einem Werkzeug des Klientelismus. In zahlrei-
chen Fällen nutzten die Gouverneure das Mittel, um die während der
Violencia
erwiesene "Loyalität" zu belohnen. Hinzu kam, dass die Täter in der Regel staat-
liche Kredite und Ländereien erhielten. Nicht selten gelang es ihnen sogar, ihren
während der
Violencia
unrechtmäßig erworbenen Besitz nachträglich zu legali-
sieren.223
Für die Opfer hingegen stellte sich die Wirkung der Amnestiegesetze zuneh-
mend schmerzhafter dar. An eine Überwindung des Traumas, zu dem ein auf-
richtiger Prozess der Vergangenheitsaufarbeitung gehört hätte, war unter den
geschilderten Umständen nicht zu denken. Ohne eine Entschuldigung der Täter,
ohne das Schuldeingeständnis der Eliten, ohne materielle Entschädigung und
ohne institutionalisierte Kanäle der Vergangenheitsbewältigung waren sowohl
die Trauerarbeit als auch die Rehabilitation der Opfer zum Scheitern verur-
teilt.224 Wie auch die von der Regierung eingesetzten Kommissionen führte des-
halb auch die Amnestie nicht zum gewünschten Ergebnis. Zwar implementierte
die Regierung oberflächlich betrachtet "Vergebung und Vergessen". Doch auf-
grund der unbewältigten Traumata und des weiterhin schwelenden Hasses in-
nerhalb der Landbevölkerung, war dieser eliteninterne "Kompromiss" nicht von
langer Dauer.
Als die Parteien ihre Klientel erfolgreich "amnestiert" hatten und die "Frei-
heitskämpfer" in die Gesellschaft zurückgekehrt waren, verloren die Dekrete
ihren Sinn. Denn diejenigen Gruppen, die immer noch Widerstand leisteten, hat-
ten nichts mehr mit dem traditionellen Konflikt der Großparteien zu tun und
wurden daher als "Kommunisten" betrachtet. Tatsächlich handelte es sich bei
einigen dieser Banden um linksgerichtete Guerilleros, während andere schlicht
auf materielle Bereicherung aus waren. Aus diesem Grund übten die Parteien
223 Vgl.
Molano.
1978, S. 98 ff.
224
Vgl.
Jelin.
2002, S. 245–252.
161
Geschichtspolitik seit 1957
161
und auch die Presse immer größeren Druck auf die Regierung aus, die Amnes-
tiedekrete aufzuheben. Es sollte nun ausschließlich mit militärischen Mitteln
gegen die Aufständischen vorgegangen werden. Am 25. Mai 1959 verfügte Lle-
ras schließlich das Ende der Amnestie und ordnete die militärische Niederwer-
fung der letzten verbliebenen
bandoleros
an.225
Insgesamt betrachtet war es den politischen Eliten nicht gelungen, den Frie-
den per Dekret zu diktieren. Obwohl die führenden Politiker die Meinung vertra-
ten, die
Violencia
sei aufgrund politischer Differenzen ausgebrochen und könne
daher auch mit Hilfe eines politischen Abkommens beendet werden, war eine
echte "Befriedung" nicht in Sicht. Nachdem die Amnestiegesetze ab dem 26.
Juli 1959 ihre Geltung verloren hatten, nahm die Gewalt wieder stark zu.226 Ge-
nauso wie sich der Krieg in anderen Formen und mit anderen Akteuren fortsetz-
te, überlebte auch die Erinnerung an die
Violencia
im kollektiven Gedächtnis der
Landbevölkerung. Da die Eliten bis heute jedoch kein Interesse zeigen, die blu-
tige Vergangenheit in objektiver Weise öffentlich zu diskutieren und zu einem
Teil des historischen Gedächtnisses zu machen, haben sich gesellschaftliche
Gruppen des Themas angenommen.
5.
G
ESCHICHTSSCHREIBUNG UND
G
ESCHICHTSDIDAKTIK
Im Rahmen des Konzepts der "Geschichtspolitik" hat sich meine Aufmerksam-
keit bislang auf drei verschiedene Arten von Deutungseliten gerichtet. In den
vorangegangenen Abschnitten war hauptsächlich von Politikern, Journalisten
und Intellektuellen die Rede, welche durch die Massenmedien, das Parlament,
öffentlichkeitswirksame Auftritte und die Kontrolle staatlicher Einrichtungen
ihre Interpretation der
Violencia
verbreiteten oder, im Gegenteil, das Thema aus
dem politischen Diskurs zu verbannen gedachten. Bewusst oder unbewusst ar-
beiteten sie darauf hin, legitimierende, mobilisierende, politisierende, skandali-
sierende oder diffamierende Wirkungen auf die Öffentlichkeit zu erzielen.227
Dass es sich bei der von ihnen angenommenen "Öffentlichkeit" in Wirklichkeit
um einen reduzierten Teil der Bevölkerung handelte, habe ich ebenfalls darge-
legt.
225
Vgl.
Dekret 0011
vom 25. Mai 1959; abgedruckt in Molano. 1978, S. 167 ff.
226
Vgl.
Sánchez/Meertens.
1983, S. 227.
227
Vgl.
Wolfrum.
1999, S. 25 ff.
162
162
Kapitel II
Daneben ist Geschichtspolitik aber auch eine politisch-pädagogische Aufgabe
der Herrschenden, die entweder aufklärerisch-kritisch oder legitimatorisch-
regressiv gelöst werden kann. Weiterhin steht sie in einem Spannungsverhältnis
zur Wissenschaft, welches aus dem wissenschaftlichen Anspruch der Historiker
und dem "Wahrheitsanspruch" der Politiker resultiert. Von einer wissenschaft-
lich-neutralen Fachöffentlichkeit, die in "objektiver Weise" über die Ergebnisse
der Forschung wacht, kann jedoch keine Rede sein.228 In Kolumbien zeigte sich
nach Beginn des
Frente Nacional
vielmehr, dass die meisten Historiker eng mit
den verschiedenen Regierungen zusammenarbeiteten. Schon zuvor hatten die
kolumbianischen "Geschichtswissenschaftler" ihre Aufgabe in erster Linie darin
gesehen, den langwierigen Prozess der Staats- und Nationsbildung historisch zu
untermauern. Dabei waren es lange Zeit keine ausgebildeten Spezialisten, son-
dern Angehörige der Eliten selbst, die sich gewissermaßen als "Hobbyhistori-
ker" mit der so genannten
Historia Patria
beschäftigen. Die dabei entstandene
Historiografie orientierte sich am Bedürfnis der politischen Eliten, die soziale
Schichtung der Gesellschaft zu rechtfertigen, während man die als
próceres
be-
zeichneten "Gründerväter der Nation" zu Helden verklärte. Noch bis zum Ende
des
Frente Nacional
gab es nur wenige Forscher, die sich mit sozial- und kultur-
geschichtlichen Fragestellungen beschäftigten und dabei auf moderne Methodik
zurückgriffen. Dies änderte sich erst mit der allmählichen Herausbildung der so
genannten
Nueva Historia
, deren Anhänger die etablierten Geschichtsbilder in
Zweifel zogen und eine Professionalisierung der Geschichtswissenschaften for-
derten. Damit verbunden war auch die Dekonstruktion des herrschenden politi-
schen Diskurses.
Das Substrat historischer Forschung schlug sich jedoch nur bedingt in den
Schulbüchern nieder. Noch über das Ende des
Frente Nacional
hinaus orientier-
te sich der Geschichtsunterricht in den Primar- und Sekundarschulen an veralte-
ten Texten und beschränkte sich im Wesentlichen auf die Vermittlung der
Histo-
ria Patria
. Selbst nach dem offiziellen Ende des Zwei-Parteien-Paktes sollte es
noch ein Jahrzehnt dauern, bis kritische Inhalte Einzug in die Klassenzimmer
hielten. Die heutzutage im Fach Sozialkunde (
Ciencias
Sociales
) integrierte Ge-
schichte hat in den letzten Jahrzehnten zudem an Stellenwert eingebüßt.
An den Universitäten dauerte es ebenfalls lange, bis sich kritische Ansichten
durchsetzten. Mittlerweile bestreitet im akademischen Sektor jedoch niemand
mehr ernsthaft die wichtigsten Ergebnisse der
Nueva Historia
, insbesondere in
228 Vgl. ebd.
163
Geschichtspolitik seit 1957
163
Bezug auf die
Violencia
. Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit die For-
schungsergebnisse der so genannten
violentólogos
tatsächlich die öffentliche
Diskussion beeinflussen. Denn angesichts des anhaltenden gewalttätigen Klimas
ist es nicht gerade einfach, öffentlich für die Aufarbeitung der Vergangenheit
einzutreten oder gar die "historische Wahrheit" einzufordern.
Bevor ich im Folgenden näher auf die Rolle der Geschichtsschreibung und
der Geschichtsdidaktik eingehe, ist zunächst eine Beschreibung der wesentli-
chen Strukturmerkmale des Bildungs- und Wissenschaftssektors notwendig.
Weiterhin werde ich die kolumbianische Museumslandschaft skizzieren, da auch
in diesem Bereich historische Zusammenhänge und Deutungen an die Öffent-
lichkeit gelangen.
5.1 Strukturmerkmale der Bereiche Wissenschaft,
Kultur und Erziehung
Wie Robert Arnove in einem Aufsatz über die Bildungspolitik des
Frente Na-
cional
bemerkt, sahen die traditionellen Eliten sowie Teile der Mittelschicht vor
1958 im Erziehungssektor hauptsächlich ein Mittel zur Machtsicherung. Auf
keinen Fall sollten die bestehenden Bildungsinstitutionen den Kindern der städ-
tischen und ländlichen Armen die Möglichkeit bieten, sozial aufzusteigen.
Ebenso wenig sei es im Interesse der Vorgängerregierungen gewesen, die Aus-
bildung von Fachkräften oder politisch mündigen Bürgern im Sinne eines öko-
nomisch-technischen Entwicklungsplans zu fördern.229
In der Vergangenheit hatte sich insbesondere der starke Einfluss der katholi-
schen Kirche als Hemmnis für die Entwicklung eines modernen Bildungssys-
tems erwiesen. Auch nach der Unabhängigkeit von Spanien war es dem Klerus
gelungen, politische und ökonomische Privilegien zu verteidigen bzw. schritt-
weise zurückzuerobern. Während des gesamten 19. Jahrhunderts befanden sich
sowohl der Schul- als auch ein großer Teil des Universitätssektors unter kirchli-
cher Kontrolle. Einem völlig unterentwickelten Primarschulsektor standen kirch-
lich-private Oberschulen und Universitäten gegenüber, die ausschließlich den
Eliten offenstanden. Der Schwerpunkt der Lehre lag dabei lange Zeit auf religiö-
sen und humanistischen Themen, wohingegen Naturwissenschaften und techni-
sche Fächer vernachlässigt wurden. Dies führte im Kern dazu, dass bis zur Mitte
229 Vgl.
Arnove.
1980, S. 381.
164
164
Kapitel II
des 20. Jahrhunderts die Eliten in erster Linie in humanistisch-christlicher oder
juristischer Hinsicht bewandert waren. Als typische "Bildungsbürger" des 19.
Jahrhunderts verfügten sie nur selten über profunde Kenntnisse in sozial-, wirt-
schafts- oder naturwissenschaftlichen Fächern. Um sich von den "unzivilisier-
ten" Schichten abzuheben, erachteten sie es jedoch lange Zeit als hinreichend,
"gutes Spanisch" zu sprechen und vor allem zu schreiben.230
Dieser im Grunde bis heute ungelöste Grundwiderspruch zwischen einer ver-
fassungsmäßigen Verankerung des "Rechts auf Bildung" und seiner tatsächli-
chen Umsetzung zeigte sich bereits zu Beginn der Republik. Da die
próceres
einen klaren Zusammenhang zwischen der Konstruktion eines Nationalstaats
und der Erziehung zu mündigen, partizipationsfähigen Bürgern sahen, hatte
schon Simón Bolívar per Dekret verfügt, dem "Volk Unterricht zu geben".231
Nichtsdestotrotz wiesen die Eliten dem Staat in späteren Zeiten lediglich die
Aufgabe zu, die politische und juristische Sicherung des Bildungsrechtes bzw.
der Bildungspflicht zu garantieren. Der Beseitigung sozialer und ökonomischer
Hindernisse räumten sie hingegen keine Priorität ein, womit der breiten Bevöl-
kerungsmehrheit auch die Grundlage echter Partizipation verwehrt blieb. Der
maßgeblich von der Kirche getragene Bildungssektor entwickelte sich in der
Folge zu einem Rekrutierungssystem der Eliten.232
In den 1930er Jahren intervenierte schließlich der reformistisch gesinnte Al-
fonso López Pumarejo (1934–1938) im Bildungssektor. Verschiedene Gesetze
legten fest, dass die Grundschulbildung für die gesamte Bevölkerung fortan
zwingend und kostenlos sein sollte. Darüber hinaus hätten zukünftige Regierun-
gen mindestens 10% der Staatsausgaben in den Bildungssektor investieren müs-
sen. Ebenso garantierte López die Freiheit der Lehre und beschränkte den Ein-
fluss der katholischen Kirche, indem er alle Schulen der Sekundarstufe unter die
Aufsicht des Staates stellte. Um der von privaten kirchlichen Hochschulen wie
zum Beispiel der
Universidad del Rosario
(1653), der
Universidad Javeriana
(1604; 1767 wegen der Ausweisung der Jesuiten aus Lateinamerika geschlossen;
1931 wiedergegründet) oder der
Universidad Bolivariana
(Medellín, 1936) vor-
angetriebenen Elitenbildung zu begegnen, wurde 1935 die
Universidad Nacio-
230 Siehe hierzu
Deas.
1993, S. 25–60.
231
Vgl.
Decreto Constitucional
vom 11. Dezember 1825; zitiert nach Suárez Árnez,
Faustino. 1963.
Historia de la educación en Bolivia
. La Paz: Don Bosco, S. 47.
232
Vgl.
Baquero, Patricia/Joachim Schroeder.
1997. Bildungspolitik und Bildungswe-
sen in Kolumbien. In: Altmann, Werner/Thomas Fischer/Klaus Zimmermann (Hgg.)
Kolum-
bien heute
. Frankfurt a. M.: Vervuert, S. 566 ff.
165
Geschichtspolitik seit 1957
165
nal
(1867)in eine unabhängige und moderne Massenuniversität umgewandelt.
Das Hauptanliegen der Regierung López war es dabei, den mittleren und unteren
Schichten Zugang zur Hochschulbildung zu verschaffen.233
Die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung und immer größere Anteile der
rasch anwachsenden Stadtbevölkerung waren jedoch nach dem weitgehenden
Scheitern der Reformen noch immer von jeglicher Bildung ausgeschlossen.
Selbst das "Minimalprogramm" von lediglich zwei oder drei Jahren Primarschu-
le blieb den Kindern der Armen in vielen Fällen versagt. Für Frauen existierten
sogar noch bis 1945 erhebliche Beschränkungen im Hinblick auf den Schulbe-
such und vor allem den Hochschulzugang. Daneben entwickelte sich das Ange-
bot an ländlichen und städtischen Bildungseinrichtungen bis zur Mitte des 20.
Jahrhunderts immer weiter auseinander. Zwar versuchte der Staat zunehmend,
die sozialen und regionalen Disparitäten zu entschärfen. Vor allem die
Violencia
machte derartige Bestrebungen jedoch häufig zunichte.234
Erst unter der Militärherrschaft von General Rojas Pinilla kam es wieder zu
ernsthaften Reformen auf der Makroebene. Durch die Einrichtung einer neuen
Planungsbehörde für den Erziehungssektor sowie die Festlegung eines ehrgeizi-
gen Fünfjahresplans sollte die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen Zugang
zur Grundschulbildung erhalten. Am Ende von Rojas’ Regierungszeit hatten je-
doch noch immer über 50% der Kinder keine Schule besucht. Lediglich im Be-
reich der Privatschulen sowie bei den Sekundarschulen hatte eine Expansion
stattgefunden.235
Angesichts dieser von Exklusion und staatlicher Verantwortungslosigkeit ge-
kennzeichneten Vorgeschichte stellte das Jahr 1958 – der Beginn des
Frente
Nacional
– tatsächlich eine Wende dar, zumindest in quantitativer Hinsicht.
Nachdem wichtige internationale Geberorganisationen wie die UNESCO, die
Weltbank oder die nordamerikanische Entwicklungsbehörde USAID ihre finan-
zielle Unterstützung zugesagt hatten, expandierte der kolumbianische Bildungs-
sektor wie nie zuvor. Im Rahmen der von US-Präsident John F. Kennedy ini-
tiierten
Alliance for Progress
sollte Kolumbien zu einer Art "Vorzeigeland"
werden und einen Beweis für die Unzulänglichkeit sozialistischer Alternativen
liefern. Tatsächlich stieg den offiziellen Statistiken zufolge die Anzahl der ein-
geschulten Kinder zwischen 1958 und 1974 von 1,7 Millionen auf über 5 Mil-
233 Hierzu
Palacios.
2003, S. 155–159.
234
Vgl.
Baquero/Schroeder.
1997, S. 568 f.
235
Vgl.
Arnove.
1980, S. 381.
166
166
Kapitel II
lionen an.236 Die Qualität der Lehre war damit jedoch nicht gewährleistet. Ob-
wohl zahlreiche neue Lehrer eingestellt wurden und eine Vielzahl staatlicher
und privater Schulen entstanden, verzichtete die Regierung auf die Festlegung
einheitlicher Standards bei der Lehrerausbildung. Wie Robert Arnove konsta-
tiert, bestanden auch die extremen regionalen Disparitäten fort. Die Planer des
Frente Nacional
hatten vor allem die Entwicklung urbaner Zentren ins Auge
gefasst, wohingegen die Primarschulen im ländlichen Kolumbien weiterhin auf
mangelhaft ausgebildete und unterbezahlte Lehrer zurückgreifen mussten. Ins-
gesamt gelang es den verschiedenen Regierungen des
Frente Nacional
zwar, die
Analphabeten-Rate erheblich zu reduzieren (1964: 27%; im Vergleich dazu
1938: 44%). Jedoch weist Arnove darauf hin, dass der Anteil der Analphabeten
auf dem Land im Jahre 1964 noch immer bei über 41% lag, sich also in diesem
Sektor im Vergleich zu den vergangenen zwei Jahrzehnten keine substantiellen
Veränderungen ergeben hatten.237
Am schwersten wog allerdings die Tatsache, dass alle Bildungsminister des
Frente Nacional
starrauf die Erhöhung der nationalen Einschulungsquote fixiert
waren. Pläne zur Zerschlagung der verkrusteten Strukturen existierten indes
nicht. Einige Kinder aus den unteren Schichten hatten zwar tatsächlich die Mög-
lichkeit erhalten, aufgrund des erweiterten Schulangebots sozial aufzusteigen,
doch in Anbetracht des beschleunigten Bevölkerungswachstums blieb die streng
nach Klasse und Herkunft (
abolengo
) gegliederte Natur des Schulsystems in
seinen Grundzügen erhalten. So wurde es beispielsweise immer schwieriger,
sich an der staatlichen und daher kostengünstigen
Universidad Nacional
einzu-
schreiben, ohne vorher einen kostenpflichtigen Vorbereitungskurs absolviert zu
haben. Einen solchen Kurs konnten sich jedoch zumeist nur die Angehörigen der
Mittel- und Oberschicht leisten. Daneben entwickelten sich die privaten und die
öffentlichen Schulen in qualitativer Hinsicht weiter auseinander. Während die
öffentlichen Schulen immer stärker unter chronischer Unterfinanzierung litten,
gewannen die privaten Bildungsträger finanzstarke Investoren für sich und er-
höhten schrittweise das Schulgeld. Der Besuch eines privaten
colegio
– gleich-
bedeutend mit höherwertiger Bildung und guter Ausstattung – wurde in der Fol-
236 Vgl. ebd., S. 382 f.
237
Vgl. ebd., S. 385.
167
Geschichtspolitik seit 1957
167
ge beinahe zur Grundvoraussetzung für den anschließenden Besuch einer Hoch-
schule.238
Als reale Aufstiegsmöglichkeit für die unteren Schichten erwies sich hinge-
gen das 1957 gegründete SENA (
Servicio Nacional de Aprendizaje
). Dabei han-
delte es sich um ein staatliches Ausbildungsinstitut, das Jugendliche und Er-
wachsene in weniger als drei Jahren für technische Berufe oder spezielle Tätig-
keiten im expandierenden Dienstleistungssektor qualifizierte. Der große Erfolg
des SENA lag darin begründet, dass es von den großen Wirtschaftsverbänden
wie ANDI, FEDEGAN, SAC oder FENALCO in materieller und ideeller Hin-
sicht unterstützt wurde. Darüber hinaus ermittelten die Verbände den zukünfti-
gen Bedarf an Fachkräften und ließen anschließend nur so viele Bewerber für
die Ausbildung zu, wie der Markt tatsächlich aufnehmen konnte. Laut dem Di-
rektor des Instituts, Darío Montoya, erhalten gegenwärtig (2006) mehr als vier
Millionen Kolumbianer am SENA eine Ausbildung, von denen viele den unte-
ren Schichten bzw. der unteren Mittelschicht zuzurechnen sind.239 Dennoch ist
weiterhin ein großer Teil der Bevölkerung von jeglicher Bildungsmaßnahme
ausgeschlossen.
Im Gegensatz dazu nahm bei den Universitäten die Tendenz zur Privatisie-
rung zu. So kam es bereits während des
Frente Nacional
zur Gründung unzähli-
ger Privatuniversitäten, für deren Mehrheit sich bald Spottbezeichnungen wie
"Garagenuniversitäten" (
universidades de garaje
) einbürgerten. Diese im Ver-
gleich zu den renommierten Privatuniversitäten relativ kostengünstigen Institu-
tionen sollten vor allem jene Studierenden auffangen, denen der Zugang zum
staatlichen Hochschulsystem bzw. den teuren Privatuniversitäten verwehrt ge-
blieben war. Als renommierteste Hochschulen des Landes konnten sich in der
Hauptstadt neben der
Universidad Nacional
weiterhin die kirchlichen Universi-
täten
Bolivariana
und
Javeriana
sowie die weltanschaulich neutrale
Los Andes
(1948) behaupten. Daneben entstanden weitere staatliche Universitäten in den
einzelnen Departements. In diesen Fällen handelte es sich entweder um regiona-
le Ableger der
Universidad Nacional
oder um eigenständige Universitäten der
238
Vgl.
Helg, Aline.
1993. Education and Training in Colombia, 1940s to 1960s. In: Abel,
Christofer/Colin Lewis (Hgg.).
Welfare, Poverty and Development in Latin America
.
Houndsmills u. a.: MacMillan Press, S. 242–245.
239
Vgl.
Montoya, Darío (Direktor SENA).
2006.
4 millones 66 mil alumnos se formarán
este año en el SENA
. In: http://www.presidencia.gov.co/prensa_new/sne/2006/septiembre
/09/04092006.htm (27. Januar 2008).
168
168
Kapitel II
Provinzen, wie zum Beispiel die
Universidad del Valle
(1945, Valle del Cauca)
oder die
Universidad de Antioquia
(1871, Antioquia).240
Die zunehmende Schwäche des staatlichen Universitätssektors verschärfte
sich noch durch den Umstand, dass insbesondere von der
Universidad Nacional
zahlreiche gegen den
Frente Nacional
gerichtete Protestaktionen ausgingen.
Während von den elitären Privatuniversitäten kaum politischer Widerstand zu
erwarten war, gelangten im Zuge der "Bildungsoffensive" der 1960er und 70er
Jahre überdurchschnittlich viele Angehörige der Mittelschicht an die staatlichen
Universitäten, wo sie ihren politischen Forderungen nicht immer auf friedliche
Weise Ausdruck verliehen. So formierten sich zu Beginn der 60er Jahre auf dem
Campus der
Universidad Nacional
verschiedene marxistische Gruppen, die von
der Regierung bekämpft und gefürchtet wurden. Noch heute leidet die Universi-
tät unter ihrer Charakterisierung als "linke Bastion", obwohl damals längst nicht
alle Universitätsangehörigen und Studenten radikale Positionen vertraten. Auf-
grund dieses negativen Eindrucks in der Öffentlichkeit war und ist die Universi-
tät jedoch auffallend häufig von Schließungen, Einsparungen und Streiks betrof-
fen. Aufgrund der schlechten Studienbedingungen hat sie zudem in den letzten
Jahren im Vergleich zu ihren privaten Konkurrenten spürbar an Prestige verlo-
ren.241 Im Zuge einer Universitätsreform versucht die rechtsgerichtete Regie-
rung von Álvaro Uribe momentan, die staatlichen Universitäten zur Kooperation
mit der Privatwirtschaft zu zwingen. Ziel und Wirkung dieser Reformen sind
jedoch heftig umstritten und haben unlängst wieder zu massiven Protesten ge-
führt.242
Trotz der immensen Ausweitung des Bildungssektors während der 1960er
und 70er Jahre gab es jedoch zu keiner Zeit eine kohärente Bildungspolitik.
Während die privaten Schulen und Universitäten im Großen und Ganzen sich
selbst überlassen blieben, wobei die Regierung meist auf den Segen privatwirt-
schaftlicher Beteiligungen baute, befanden sich die Verantwortlichen des
Frente
240
Zur Entwicklung des kolumbianischen Universitätssektors siehe ausführlich
Álvarez,
María Helena.
2000.
Die Entwicklung des kolumbianischen Hochschulwesens im Lichte der
Verfassung von 1991 und der Hochschulreform von 1992
.
Ein Beitrag zur Bildungspolitik in
der Dritten Welt
. Eichstätt: BPB.
241
Zum Konflikt zwischen der
Universidad Nacional
und der Regierung während der
1960er und 70er Jahre siehe zusammenfassend
Helg, Aline.
1989. La educación en Colombia,
1958–1980. In: Tirado Mejía Álvaro (Hg.).
Nueva Historia de Colombia
. Bd. 4. Bogotá: Pla-
neta, S. 140–143.
242
Über die aktuellen Entwicklungen berichtet täglich das Internetnachrichtenportal der
Universität: http://www.agenciadenoticias.unal.edu.co.
169
Geschichtspolitik seit 1957
169
Nacional
mit den öffentlichen Bildungsträgern in einem ständigen Aushand-
lungsprozess. Während die staatlichen Primar- und Sekundarschulen zumindest
Empfehlungen über zu erreichende Lernziele erhielten, verweigerten sich die
Privatschulen beharrlich gegenüber jeglichem Eingriff von außen. Sämtliche
Versuche der Regierung, etwa den Einfluss der Kirche in den Privatschulen zu
beschneiden, stießen auf den massiven Widerstand einer mächtigen Lobby aus
Angehörigen der Mittel- und Oberschicht, deren Einfluss bis in den Kongress
reichte.243
An der hier dargelegten Grundstruktur des kolumbianischen Bildungssystems
hat sich bis heute kaum etwas geändert. So beginnt auch das gegenwärtige
Schulsystem mit der kostenpflichtigen und freiwilligen Vorschule (
educación
preescolar
), setzt sich mit der fünfjährigen Primarschule (
escuela primaria
) fort
und geht anschließend in die vierjährige Sekundarstufe (
escuela secundaria
)
über. Offiziell gelten sowohl die Primar- als auch die Sekundarstufe bis zur
neunten Klasse als verpflichtend, obwohl diese Regelung insbesondere in ländli-
chen Gegenden oft umgangen wird. Anschließend können die Schüler im Rah-
men der so genannten
educación media
innerhalb von zwei Jahren das Abitur
erwerben (
bachillerato
). Damit steht ihnen der Weg zu einer Berufsausbildung
oder zum Studium offen (
educación superior
).
Trotz der zunehmenden Diversifizierung des kolumbianischen Bildungssys-
tems hat sich an den grundlegenden sozialen Indikatoren bislang wenig geän-
dert. Noch immer besteht ein starkes Gefälle zwischen Stadt und Land sowie
zwischen Reich und Arm. Während die Rate der Analphabeten auf nationaler
Ebene bei gegenwärtig 7,6% liegt, schätzt das Erziehungsministerium den An-
teil der Analphabeten in einigen ländlichen Regionen auf über 13% (2006).244
Dabei ist jedoch zu beachten, dass ein erheblicher Anteil der Landbevölkerung
als funktional analphabetisch gelten kann. So sieht eine Studie der UNO den
Anteil der funktionalen Analphabeten auf nationaler Ebene bei über 15%.245 Im
Hinblick auf die allgemeinen Bildungsdaten befindet sich Kolumbien im latein-
243 Vgl.
Arnove.
1980, S. 390 ff.
244
Vgl.
Ministerio de Educación.
2007.
Gobierno lanza programas para contrarrestar
analfabetismo
. In: http://www.colombiaaprende.edu.co/html/home/1592/article-73557.html
(27. Januar 2008).
245
Vgl. hierzu
PNUD.
2006.
Los municipios colombianos hacia los objetivos de desarro-
llo del milenio
. In: http://www.unesco.org/education/uie/online/prisp/4.html (27. Januar
2008).
170
170
Kapitel II
amerikanischen Mittelfeld.246 Bezogen auf den Privatisierungsgrad, vor allem
des Vorschul- und des Sekundarschulsektors, belegt es allerdings einen Platz im
oberen Drittel. Im Bereich der Universitäten, wo den ca. 40 staatlichen mehr als
200 private Institutionen gegenüber stehen, gilt Kolumbien sogar als eines der
Länder mit dem größten Anteil an privaten Hochschulen weltweit.247 Wie eine
Umfrage der staatlichen Statistikbehörde DANE (
Departamento Nacional de
Estadística
) zeigt, hat dies drastische Folgen für die Chancengleichheit im Be-
reich der höheren Bildung. Demnach gelang es im Jahr 2003 nur 7% der zwi-
schen 18 und 24 Jahre alten Jugendlichen aus dem ärmsten Fünftel der Bevölke-
rung, einen Hochschulplatz zu bekommen. Demgegenüber standen 72% der Ju-
gendlichen aus dem reichsten Fünftel.248
Die Qualität der Lehre ist trotz teurer Eliteuniversitäten indes nur bedingt ge-
währleistet. Während private Hochschulen wie die
Universidad de los Andes
auch auf internationaler Ebene einen guten Ruf genießen und bestens ausgebil-
dete Dozenten beschäftigen, ist das Lehrpersonal an anderen Universitäten oft-
mals unterqualifiziert. Aktuelle Studien zeigen, dass nur etwa 25% der Hoch-
schullehrer über einen Postgraduierten-Abschluss verfügen und zudem häufig in
Fächern unterrichten, für die sie keine spezifische Qualifikation besitzen. Im
Vergleich zu älteren Erhebungen ist diesbezüglich jedoch eine stetige Verbesse-
rung feststellbar.249 Aufgeteilt nach privaten und staatlichen Bildungsträgern
zeigt sich jedoch wiederum, dass es vor allem den renommierten privaten Hoch-
schulen gelungen ist, Lehre und Studienbedingungen weiter zu verbessern. Ob-
wohl die
Universidad Nacional
in einigen Teilbereichen noch immer als führen-
246
Zum kolumbianischen Bildungssystem im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen
Ländern siehe
Aldana Valdés, Eduardo.
2004.
La educación superior en Colombia
. In:
http://www.iesalc.unesco.org.ve/programas/Presentaciones/Presentaci%C3%B3n%20/EducSu
p%20Colombia-Aldana.pdf (27. Januar 2008).
247
Diese Angaben finden sich in einer Studie des Erziehungsministeriums zur hohen Quo-
te der Studienabbrecher in Kolumbien. Vgl.
Ministerio de Educación.
2006.
Deserción estu-
diantil: prioridad en la agenda
. In: http://menweb.mineducacion.gov.co/educacion_superior
/numero_07/media/ES7_web.pdf (27. Januar 2008).
248
Vgl. hierzu
DANE.
2003.
Encuesta de calidad de vida.
In: http://www.dane.gov.co/fi-
les/investigaciones/condiciones_vida/calidad_vida/Presentacion_nov25boletin.pdf (27. Januar
2008).
249
Vgl.
Álvarez.
2000, S. 120.
171
Geschichtspolitik seit 1957
171
de Hochschule gilt, ist auch sie von der allgemeinen Abwärtstendenz im staatli-
chen Bildungssektor betroffen.250
Allgemein herrscht ein mangelnder Praxisbezug der akademischen Ausbil-
dung, was sich vor allem in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern
negativ bemerkbar macht. Bis auf wenige Ausnahmen wird in Kolumbien prak-
tisch keine Grundlagenforschung betrieben. Daneben fehlt bis heute eine kohä-
rente und koordinierte Politik, die das Fächerangebot der Universitäten auf die
Bedürfnisse des Arbeitsmarktes bzw. die besonderen regionalen Erfordernisse
hin abstimmt. Das Erziehungsministerium beschränkt sich hauptsächlich auf die
Festlegung der Lernziele (
lineamientos curriculares
) sowie die infrastrukturelle
Planung im staatlichen Schulsektor der Primar- und Sekundarstufe. Im Bereich
der
educación superior
übernimmt das Ministerium eher eine orientierende Rol-
le und verzichtet auf direkte Eingriffe. Weiterhin ist der so genannte "nicht-
formelle" Bildungssektor seit 2006 zur Einhaltung bestimmter Qualitätsstan-
dards bei der Ausbildung zu technischen Berufen verpflichtet.251
An den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten
zeigt sich hingegen, dass zwar die neusten Strömung und Tendenzen der interna-
tionalen Forschung rezipiert werden; gleichzeitig behindert das repressive Klima
jedoch unbefangene Diskussionen über die politischen, ökomischen und sozia-
len Probleme der Gegenwart. Sofern die Arbeit der Forscher mit Menschenrech-
ten, der Drogenökonomie oder der Rolle des zunehmend autoritär agierenden
Staats zu tun hat, begeben sie sich auf gefährliches Terrain. Insbesondere die als
violentólogos
bezeichneten Gewaltforscher sind in der jüngsten Vergangenheit
häufig Mordanschlägen zum Opfer gefallen. Angesichts dieser schwierigen Ar-
beitsbedingungen ist es umso bemerkenswerter, dass universitäre Forschungs-
einrichtungen in den letzten Jahren eine Vielzahl international beachteter Bei-
träge zum Verständnis der kolumbianischen Gewaltentwicklung veröffentlicht
haben. Insbesondere das sozialwissenschaftlich ausgerichtete
Instituto de Estu-
dios Políticos y Relaciones Internacionales
(IEPRI) der
Universidad Nacional
250
Die Rangliste der Universitäten wird ebenfalls vom ICFES erstellt. Zu den Ergebnissen
für das Jahr 2006 siehe
ICFES.
2006.
Examen de calidad de la educación superior
. In:
http://200.14.205.63:8080/portalicfes/home_2/htm/cont_116.jsp (27. Januar 2008).
251
Der aktuelle Maßnahmenkatalog des Erziehungsministeriums sieht eine strengere
Kontrolle des gesamten Hochschulsektors vor. Für dieses Umdenken sind auch die schlechten
Ergebnisse kolumbianischer Universitäten in internationalen Rankings verantwortlich. Vgl.
Ministerio de Educación.
2007.
Plan nacional de desarrollo educativo, 2006–2010.
In:
http://www.mineducacion.gov.co/1621/articles-119059_archivo_pdf1.pdf (27. Januar 2008).
172
172
Kapitel II
gilt als produktives Forschungszentrum, an dem Wissenschaftler aus verschie-
denen Disziplinen wirken. Ebenfalls von großer nationaler und internationaler
Relevanz sind das wirtschaftswissenschaftlich ausgerichtete
Centro de Estudios
sobre el Desarrollo Económico
(CEDE) der
Universidad de los Andes
sowie das
von den Jesuiten gegründete
Centro de Investigación y Educación Popular
(CINEP) im Bereich der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften.252
Genau wie die Schulen und Universitäten befinden sich auch die meisten Mu-
seen nicht unter der direkten Kontrolle des Staates. Eine wichtige Ausnahme
bildet hierbei das
Museo Nacional
in Bogotá, in dem archäologisch-historische
Ausstellungen sowie kolumbianische Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts domi-
nieren. Das bereits 1823 gegründete Nationalmuseum zog 1948 – im Jahr des
bogotazo
– in das Gebäude eines ehemaligen Gefängnisses um. Trotz des sym-
bolischen Datums fällt die Präsentation der
Violencia
dort recht dürftig aus.
"Geschichte" wird im Museum noch immer überwiegend im Sinne der unkriti-
schen
Historia Patria
aufbereitet. Neben einigen herausragenden Archäologie-
und Kunstmuseen in Bogotá existieren auch kleinere museale Institutionen, an
denen historische Inhalte vermittelt werden.
Für die an dieser Stelle im Rahmen der "Geschichtspolitik" erfolgende Be-
trachtung ist jedoch in erster Linie die Sicht "von oben" relevant, wie sie sich
vor allem in den staatlichen Museen offenbart. Meine Darstellung der "offizia-
listischen" Verarbeitung der
Violencia
im Museum bezieht sich daher auf das
staatliche
Museo Nacional
und die seit kurzem von der
Universidad Nacional
verwaltete
Casa
Museo Gaitán
. Die übrigen Museen möchte ich hingegen erst
im Rahmen des dritten Kapitels behandeln.
5.2 Offizielle Geschichtsschreibung vs.
Nueva Historia
Wie die Betrachtung der Presse gezeigt hat, thematisierte ein Teil der politischen
Eliten durchaus die Epoche der
Violencia
. Dabei ging es ihnen allerdings nicht
um die Anerkennung der historischen Schuld der Führungsschichten, sondern
vielmehr um die Rechtfertigung der eigenen Rolle während des Bürgerkrieges.
Die in der
gran prensa
publizierten Interpretationen zum Ursprung der
Violencia
machten deshalb Rojas Pinilla, die Kommunisten oder den "barbarischen Mob"
für den Ausbruch der Gewalt verantwortlich. Während also von dieser Seite kein
252 Vgl.
Álvarez.
2000, S. 125 f.
173
Geschichtspolitik seit 1957
173
absolutes Schweigen herrschte, war die offizielle Historiografie der 40er, 50er
und 60er Jahre durch eine völlige Ausblendung der Epoche gekennzeichnet.
Edgar Wolfrum zufolge kommt der Historiografie bei der Gestaltung der Ge-
schichtspolitik eine Schlüsselfunktion zu. Er weist zwar darauf hin, dass es in
erster Linie die Politiker und nicht die Historiker seien, von denen nachhaltige
und breitenwirksame Impulse auf die Geschichtsbilder in der Bevölkerung aus-
gehen. Dennoch erkennt er an, dass die Ergebnisse der Historiografie in die poli-
tischen Diskurse, die Schulbücher und Museen einfließen. Bei dem von Wolf-
rum beschriebenen Historiker handelt es sich allerdings um einen ausgebildeten
Spezialisten, der sich in wissenschaftlicher Weise mit historischen Themen aus-
einandersetzt. Implizit geht er von einem "modernen" Zeithistoriker aus, der sei-
ne Forschungsergebnisse intersubjektiv nachprüfbar macht und seiner Arbeit
einen Gegenwartsbezug verleiht. Aus diesem Selbstverständnis des "objektiven"
Wissenschaftlers erwachse zwangsläufig ein Spannungsverhältnis zum manipu-
lativen Gebrauch der Geschichte durch die politischen Eliten.253
Am Beispiel Kolumbiens zeigt sich indes deutlich, dass die von Wolfrum an-
genommene
scientific community
bis zu Beginn der 1960er Jahre schlichtweg
nicht existierte. Im Bereich der "Geschichtswissenschaften" hatten stattdessen
die politischen Eliten eine unkritische, herrschaftslegitimierende Sicht der Ver-
gangenheit etabliert. Eine regelrechte Opposition zwischen historischer For-
schung und Politik wurde erst gegen Ende der 1970er Jahre, mit Beginn der so
genannten
Nueva Historia
, spürbar. Doch selbst dann handelte es sich noch lan-
ge nicht um die Geburt eines "objektiven" Wissenschaftssektors. Denn, wie Jor-
ge Orlando Melo bemerkt, sahen sich die Pioniere der
Nueva Historia
im Grun-
de selbst als politische Aktivisten und standen verschiedenen Strömungen des
Marxismus nahe.254 Erst im Laufe der 80er Jahre setzte ein allmählicher Diffe-
renzierungsprozess ein, der sowohl auf einer methodologischen Erneuerung als
auch auf der zunehmenden Heterogenität der ideologischen Anschauungen be-
ruhte.
Dafür, dass es den politischen Eliten bis zu Beginn der 60er Jahre so leicht
fiel, die "nationale" Geschichte für sich zu beanspruchen, war vor allem die
Schwäche der Universitäten verantwortlich. So existierte das Fach "Geschichte"
bis in die 1940er Jahre lediglich in Form marginaler Teildisziplinen wie Litera-
253 Vgl.
Wolfrum.
1999, S. 29.
254
Vgl.
Melo, Jorge Orlando.
1996.
Historiografía colombiana. Realidades y perspecti-
vas
. Medellín: Colección autores antioqueños, S. 128 f.
174
174
Kapitel II
turgeschichte, Rechtsgeschichte, Kunstgeschichte oder Militärgeschichte. Eine
quellenkritische Geschichte nach europäischem Muster war hingegen unbe-
kannt, ganz zu schweigen von historischen Darstellungen mit sozioökonomi-
scher Ausrichtung. In vielen Fakultäten der technischen Hochschulen wurde so-
gar vollkommen auf den Geschichtsunterricht verzichtet, obwohl deren Lehrplä-
ne eigentlich ein allgemeinbildendes Nebenprogramm im Sinne eines
Studium
Generale
vorsahen.255
Allgemein fehlten den Universitäten die finanziellen Mittel, um ein Ge-
schichtsstudium auf wissenschaftlicher Basis zu ermöglichen. Gut ausgestatte
Bibliotheken gab es nicht, die staatlichen Archive waren schlecht organisiert
und der seit Beginn der 1950er Jahre zunehmend autoritär agierende Staat hatte
erst recht kein Interesse an der Förderung einer kritischen Geschichtsschreibung.
Im Gegenteil, wie Gonzalo Sánchez anmerkt, kam es noch im Jahre 1967 zu ei-
ner gezielten Vernichtung wichtiger Dokumente aus dem Nationalarchiv. So
erklärte ein Beamter des Innenministeriums (
ministerio de Gobierno
) ausge-
rechnet die Akten des Zeitraums von 1949 bis 1959 zum "archivo muerto". Zur
Begründung wies das Ministerium später auf den "unerträglichen Gestank" der
vermodernden Papiere sowie den "schrecklichen" Zustand der Einrichtung hin.
Sánchez zufolge ging es der Behörde jedoch viel eher darum, den "üblen Ge-
ruch" einer ganzen Epoche zu beseitigen. Die
Violencia
sollte aus dem histori-
schen Gedächtnis der Nation, repräsentiert durch das Archiv, gelöscht wer-
den.256
In dem Maße, wie sich die Situation an den Universitäten verschlechterte,
gewann die von der "offizialistischen"
Academia Colombiana de Historia
be-
triebene Geschichtsschreibung an Bedeutung. Bei dem seit 1902 bestehenden
Gremium handelt es sich um eine Historikervereinigung, deren Wurzeln bis weit
in das 19. Jahrhundert reichen. In Bezug auf das Selbstverständnis der Akade-
mie stellt Hans-Joachim König fest, dass sich ihre Mitglieder sowohl der identi-
tätsstiftenden als auch der herrschaftslegitimierenden Funktion der Geschichte
bewusst waren.257 Im Normalfall entstammten sie selbst der Oberschicht und
verfügten so gut wie nie über eine universitäre Ausbildung als Historiker. Aus
diesem Grund spezialisierten sie sich auch auf die chronologische Beschreibung
255
Vgl.
König.
1994b. Los caballeros andantes del patriotismo. La actitud de la Academia
Nacional de la Historia Colombiana frente a los procesos de cambio social. In:
Historia y Es-
pacio
, Nr. 15 (April, Cali), S. 104 f.
256
Vgl.
Sánchez.
2000a.
257
Im Folgenden stütze ich mich auf
König.
1994b.
175
Geschichtspolitik seit 1957
175
der Taten ihrer Vorfahren, wobei es ihnen meistens darum ging, deren Wirken
zu glorifizieren. Demzufolge hätten die
próceres
die Grundlagen der kolumbia-
nischen "Nation" gelegt, weswegen sie heutzutage als patriotische Vorbilder zu
verehren seien. Neben dieser klaren Tendenz zur Mythisierung der Gründerväter
wurde es zum weiteren Kennzeichen der offiziellen Historiografie, die sozio-
ökomischen Probleme der Gegenwart auszuklammern. Den Verweis auf die ak-
tuellen Probleme von Staat und Gesellschaft betrachtete die Akademie vielmehr
als "gefährlich". So galt es insbesondere seit dem 9. April 1948 geradezu als
"subversiv", dem "barbarischen Mob" irgendein Handlungs- und Veränderungs-
potenzial in der Geschichte zuzusprechen.
Anstatt in "voreingenommener" Weise über die historischen Wurzeln der ge-
genwärtigen Krise zu spekulieren, forderten die Mitglieder der Akademie daher,
ausschließlich die "abgeschlossene" Vergangenheit zu erforschen. Denn nur so
ließe sich wahre "Objektivität" gewährleisten. Folgerichtig beschränkte sich das
Interesse der offiziellen Historiografen in erster Linie auf das 19. Jahrhundert,
wohingegen sie den wichtigsten Ereignissen des 20. Jahrhunderts nur wenig Be-
achtung schenkten. In besonderem Maße galt dies für die
Violencia
, deren Ur-
sprung zum Tabu erklärt wurde. Anstatt die komplexen gesellschaftlichen und
politischen Ursachen des Bürgerkrieges zu erkunden, schrieben die Eliten wei-
terhin an ihrer Version der Geschichte "von oben". Denn die führenden Persön-
lichkeiten waren fest davon überzeugt, dass nur die Angehörigen ihrer eigenen
Kaste als Protagonisten der Geschichte in Frage kamen. Dem "unmündigen"
Volk gestanden sie in diesem Zusammenhang lediglich eine Statistenrolle zu,
wie auch folgendes Zitat aus einer Rede von Alberto Lleras258 veranschaulicht,
die dieser anlässlich des Beginns seiner ersten Präsidentschaft im Jahre 1946
hielt: "Las grandes revueltas del espíritu colombiano han venido, casi sin excep-
ción, de arriba hacia abajo, del poder hacia el pueblo, y se escriben primero en
las leyes como un estímulo para que prendan en el corazón de las masas
[…]."259
Insgesamt betrachtet hatte diese einseitige und elitäre Auffassung von Ge-
schichte den Sinn, die bestehenden Verhältnisse sozialer und politischer Un-
258
Seit 1957 war Lleras selbst Mitglied der Akademie. In späteren Zeiten revidierte er je-
doch einige seiner Ansichten zur offiziellen Geschichtsschreibung und kritisierte beispiels-
weise deren exkludierenden Charakter in Bezug auf die Rolle der Frau. Vgl. hierzu
Lleras,
Alberto.
1987. Historia sin mujeres. In.
Obras selectas
. Bd. 5. Bogotá: Biblioteca de la Presi-
dencia de la República, S. 321–324.
259
Ders. 1960b.
Sus mejores páginas
. Bogotá: Compañía Grancolombiana, S. 101.
176
176
Kapitel II
gleichheit zu rechtfertigen. Dadurch, dass die Mitglieder der Akademie in ihren
Werken ausschließlich auf die persönlichen Leistungen ihrer eigenen Vorfahren
eingingen und ihren Lesern einen ähnlich gearteten "Patriotismus" abverlangten,
boten sie keine Erklärung für die immer stärker werdenden Desintegrationser-
scheinungen der Gegenwart, die in der
Violencia
ihren bislang schlimmsten
Ausdruck gefunden hatten. Dieser falsch verstandene "Patriotismus" hatte statt-
dessen die Funktion, die Menschen von der Unabänderlichkeit des Status Quo
zu überzeugen. Demnach waren nur die Eliten in der Lage, dem Land "Ordnung
und Fortschritt" zu schenken.260
Aufgrund des großen Einflusses der Akademie, die im ganzen Land über Nie-
derlassungen verfügte, fand sich die heroisierende und personalistische Version
der Vergangenheit auch in den Schulbüchern wieder. Auf diese Weise verwei-
gerten die Eliten breiten Bevölkerungsteilen bis in die 1970er Jahre eine histori-
sche Erklärung für die anhaltende Gewalt, die soziale Ungleichheit und die
chronische Schwäche des Staates. Davon abgesehen spielte der Geschichtsunter-
richt an den Sekundarschulen vom Beginn der 1950er Jahre bis zum Ende der
80er Jahre eine immer geringere Rolle.
Während das repressive Klima der 1940er und 50er Jahre die Entstehung ei-
ner kritischen Historiografie weitgehend verhindert hatte, änderte sich dies mit
dem Ende der Militärdiktatur im Jahre 1957. In einem neuen soziopolitischen
Kontext, der von der wirtschaftsliberalen und laizistischen Ideologie des
Frente
Nacional
geprägt war, geriet die offizielle Geschichtsschreibung erstmals unter
Druck. Zwar gelang es der
Academia Colombiana de Historia
auch in den 60er
und 70er Jahren, ihre hegemoniale Stellung zu behaupten. Doch wurde die
Vormachtstellung der offiziellen Historiker zunehmend von jungen, meist links-
gerichteten Historikern in Frage gestellt.
Aufgrund des von Alberto Lleras eingeleiteten Modernisierungsprozesses
standen zu Beginn der 60er Jahre auch den staatlichen Universitäten mehr finan-
zielle Mittel zur Verfügung. Die von der Regierung erwünschte Ausweitung des
Universitätssektors führte jedoch nicht nur zur Einrichtung neuer technischer
und wirtschaftswissenschaftlicher Studiengänge, sondern hatte auch Auswir-
kungen im sozial- und geisteswissenschaftlichen Bereich. So kam es unter ande-
rem zur Erneuerung der Geschichtswissenschaften an der
Universidad Nacional
,
deren methodologische und thematische Umgestaltung vor allem von Jaime Ja-
ramillo Uribe vorangetrieben wurde. Dieser legte besonderen Wert auf die Ver-
260 Vgl.
König.
1994b, S. 112.
177
Geschichtspolitik seit 1957
177
tiefung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, welche er in seiner Eigenschaft
als Professor an der Fakultät für Philosophie und Literatur lehrte. Jaramillo Uri-
bes Forschung konzentrierte sich vor allem auf die Kolonialzeit und das 19.
Jahrhundert. Seine Bedeutung für die Modernisierung der Geschichtswissen-
schaften resultierte unter anderem aus der Lektüre und der Verbreitung deutsch-
er "Klassiker" wie Max Weber, Georg Simmel und Werner Sombart.261 Deren
für Kolumbien neuartige Theorien und Konzepte wirkten inspirierend, führten
auf Dauer zu einer Professionalisierung der Geschichtswissenschaft und bewirk-
ten zugleich ihre allmähliche Abkoppelung vom Bereich der
humanidades
.
Stattdessen bewegte sich die Geschichtswissenschaft nach Jaramillo Uribe stär-
ker auf die Sozialwissenschaft zu, wobei vor allem die "großen" Theorien des
20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielten. An der seit 1962 eigenständigen
Fakultät für Geschichtswissenschaften der
Universidad Nacional
dominierten
daher in den 60er und 70er Jahren marxistische und von der
Dependencia
-
Schule beeinflusste Ansichten.262
Eine weitere Neuerung im Bereich der Sozialwissenschaften stellte die
Schaffung der soziologischen Fakultät der
Universidad Nacional
im Jahre 1959
dar, an deren Gründung Orlando Fals Borda wesentlich beteiligt war. Obwohl
auch die ersten kolumbianischen Soziologen von ausländischen Autoren beein-
flusst waren, sollte sich das neue Fach grundlegend von altbekannten Modellen
abheben. Wie Fals Borda im Vorwort zu
La Violencia en Colombia
betont, ging
es darum, eine Soziologie auf dem Boden der kolumbianischen Realität zu
schaffen.263 Neben der Rezeption ausländischer Techniken und Konzepte sollten
daher die aktuellen Problematiken Kolumbiens im Vordergrund stehen, ohne
jedoch "verbotene" Themen auszuklammern. Das Hauptaugenmerk der Soziolo-
gen habe sich dabei von Anfang an auf die
Violencia
gerichtet, die im kollekti-
ven Gedächtnis der Kolumbianer Spuren hinterlassen hätte und daher in der Zu-
kunft zu negativen Implikationen führen könne. Ihre genaue Analyse sei deshalb
im Interesse einer gesamtgesellschaftlichen "Heilung" geradezu zwingend:
Es algo que no puede ignorarse, porque irrumpió con machetes y genocidios, bajo la égida de
guerrilleros con sonoros sobrenombres, en la historia que aprenderán nuestros hijos; porque
su huella será indeleble en la memoria de los sobrevivientes y sus efectos tangibles en la es-
tructuración, conducta e imagen del pueblo de Colombia. Por lo mismo, un problema social
261 Vgl.
Melo.
1996, S. 102.
262
Vgl. ebd., S. 126 ff.
263
Vgl.
Guzmán Campos/Fals Borda/Umaña Luna.
1977, Bd. 1, S. 11.
178
178
Kapitel II
de tal magnitud no podía ser ignorado por la Facultad de Sociología, creada en el mismo lugar
de los hechos.264
In diesem Sinne sei es erforderlich, die Schuldfrage zu klären und dabei nicht
vor mächtigen Partikularinteressen zurückzuschrecken. Es gehe insbesondere
darum, die
Violencia
ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu holen, um die weit
verbreitete Gleichgültigkeit und Apathie gegenüber der Gewalt auf dem Land zu
bekämpfen. Die Veröffentlichung einer umfassenden Studie sei daher als eine
Art "Glockenschlag" zu sehen, der die Kolumbianer wachrütteln solle:
El presente estudio trata de ser objetivo. Pero también quiere ser una campanada que al redo-
blar hiera la sensibilidad de los colombianos y los obligue a pensar dos veces antes de volver
a estimular el ciclo de la destrucción inútil y de la sevicia rebosante que se inició en 1949. La
historia enseña que es posible hacer revoluciones radicales, mas sin crueldad; totales, mas sin
el inútil sacrificio humano. Si Colombia necesita de una honda transformación social, ¡seamos
capaces de hacerla como hombres y no como bestias!265
Der im Jahre 1962 veröffentlichte erste Band von
La Violencia en Colombia
,
dessen kontroverse Rezeption ich bereits beschrieben habe, stellte den ersten
Versuch dar, das Thema des Bürgerkrieges in wissenschaftlicher Weise zu bear-
beiten. Gemeinsam mit dem 1964 erschienenen zweiten Band stieß das Werk
nicht nur auf das Interesse einer fachfremden Öffentlichkeit, sondern erwies sich
auch im Hinblick auf die Weiterentwicklung der noch jungen Geistes- und Ge-
sellschaftswissenschaften als außerordentlich einflussreich. Die Autoren bekun-
deten zwar, dass sie in methodologischer Hinsicht Neuland betreten hätten, den-
noch kamen bei der Forschungsarbeit überwiegend Techniken zum Einsatz, die
durchaus als konventionell bezeichnet werden können, jedoch in Kolumbien bis-
lang kaum Anwendung gefunden hatten.
Zum einen handelte es sich dabei um die Integration persönlicher Erfahrun-
gen, um den subjektiv-normativen Charakter sowie die Konstruiertheit der histo-
rischen Erzählung sichtbar zu machen. Weiterhin flossen Interviews mit Gueril-
leros, Soldaten und Opfern der
Violencia
ein. Als wichtigste Datenquelle erwies
sich jedoch das Privatarchiv von Germán Guzmán Campos, das dieser während
seiner Zeit als Mitglied der
Comisión Investigadora
angelegt hatte. Daneben
spielten auch Zeitungsartikel sowie statistische Erhebungen verschiedener Be-
hörden eine Rolle.266
264
Ebd., S. 12.
265
Ebd., S. 13.
266
Vgl. ebd., S. 17 f.
179
Geschichtspolitik seit 1957
179
Trotzdem sahen sich die Autoren im Anschluss an die Veröffentlichung hefti-
ger Kritik in Bezug auf die verwendeten Methoden ausgesetzt. Neben dem Vor-
wurf, die
Violencia
nicht "objektiv" beschrieben und analysiert zu haben, hieß es
von konservativer Seite, dass die Materialbasis willkürlich und unprofessionell
ausgewählt worden sei.267 Diese Kritik war jedoch nur bedingt gerechtfertigt.
Tatsächlich hatten Orlando Fals Borda, Eduardo Umaña Luna und Germán
Guzmán Campos auch konservative Zeitungen wie
La República
und
El Siglo
herangezogen. Weiterhin hatten die Autoren bereits im Vorfeld der Veröffentli-
chung darauf hingewiesen, dass es sich bei
La Violencia en Colombia
lediglich
um eine Pionierstudie handelte, die notwendigerweise gewisse Lücken aufweise.
Obwohl ein Übergewicht der liberalen Sicht festzustellen ist, fanden schließlich
auch konservative Zeitzeugen – Täter
und
Opfer – Eingang in die Darstellung.
In technischer Hinsicht ist allerdings zu bemängeln, dass Guzmán Campos
sich an manchen Stellen auf einschlägige
Violencia
-Romane der 50er Jahre
stützt. Zur Illustration bestimmter Tötungsarten, wie zum Beispiel den verschie-
denen
cortes
, zitiert er etwa aus dem Buch
El basilisco en acción o los crímenes
del bandolerismo
(1953) des fanatischen Konservativen Fidelis Testis (Pseudo-
nym) oder aus
Lo que el cielo no perdona
(1954) des katholischen Priesters Fi-
del Blandón Berrio (unter dem Pseudonym Ernesto León Herrera veröffentlicht).
Bei diesen Romanen handelt es sich um extrem parteiische bzw. moralisierende
Darstellungen, die in erster Linie dem Zweck dienten, den politischen Gegner zu
diskreditieren. Sie ohne weiteres als historische Quelle zur Beschreibung von
Massakern und Vergewaltigungen heranzuziehen ist somit mehr als fragwürdig.
Doch auch die von Fals Borda und Umaña Luna verfassten Teile weisen zahlrei-
che Schwächen auf, wobei insbesondere die unsachgemäße Verwendung statis-
tischer Angaben hervorsticht. So erwiesen sich viele der verwendeten Zahlen im
Nachhinein als reine Spekulationen, die auf den Aussagen Dritter beruhten. Da-
neben verzichteten die Autoren vielfach auf genaue Quellenangaben. Wie
Guzmán Campos Jahrzehnte später bemerken sollte, betrachtete die internatio-
nale Fachöffentlichkeit das Werk dennoch als methodischen und thematischen
Meilenstein. Sogar der weltberühmte britische Historiker Eric Hobsbawm habe
diese Leistung gewürdigt:
Innegablemente el libro tiene defectos: No es exhaustivo. ¿Algún libro lo es? No se pudo
hacer consulta del material existente. Para dar ejemplos: sumarios dispersos en distintos Juz-
gados y Tribunales, series de periódicos y revistas, fuentes militares accesibles al investiga-
267 Vgl.
Guzmán Campos.
1986, S. 358 ff.
180
180
Kapitel II
dor. A pesar de todo, el libro continúa siendo pionero, clásico, en la investigación social y en
la historia colombiana correspondiente a la época que estudia, Hobsbawm, lo llama 'valioso
intento de analizar el fenómeno'.268
Das erklärte Ziel des Buches, nämlich die kolumbianische Mittel- und Ober-
schicht wachzurütteln, vielleicht sogar einige Leser aus den unteren Schichten
anzusprechen, dürften Guzmán, Fals und Umaña erreicht haben. Der Historiker
Eduardo Posada Carbó, der einigen Thesen der Autoren extrem kritisch gegenü-
bersteht, bemerkt in diesem Zusammenhang, dass das Buch bei den Angehöri-
gen der städtischen Mittelschicht einen wesentlichen Beitrag zur Erinnerung an
die
Violencia
geleistet habe. In einem autobiografisch gefärbten Abschnitt seiner
jüngsten Monografie,
La nación soñada
(2007), schreibt er hierzu:
La
Violencia
nunca formó parte de mis memorias, ni como niño, ni como adolescente. Sólo en
mis años de estudiante universitario en Bogotá comencé a tomar conciencia de ese horrendo
pasado. Y las 'memorias' que recibí de la Violencia no me fueron transmitidas ni en conversa-
ciones familiares, ni en tertulias de café, sino construidas a partir del libro de Guzmán, Fals y
Umaña,
La Violencia en Colombia
, publicado por primera vez en 1962.269
Zwar wurde
La Violencia en Colombia
zu einem Bestseller und erlebte bis
heute zahlreiche Auflagen. Doch hatte es trotz seines publizistischen Erfolgs
keinerlei Einfluss auf die Realpolitik des
Frente Nacional
, die weiterhin von
militärischer Repression und Totschweigen geprägt war. Obwohl die Autoren
der Studie darauf hingewiesen hatten, dass sich die gesamte kolumbianische Ge-
sellschaft, insbesondere jedoch die Eliten, mit schwerer Schuld beladen hatten,
unternahmen die nachfolgenden Regierungen kaum Anstrengungen, die sozialen
Ursachen der
Violencia
zu beseitigen. So schreibt Fals Borda bereits in der Ein-
leitung des 1964 erschienenen zweiten Bandes resigniert:
Desgraciadamente, una vez amainada la tormenta político-literaria, luego de haberse procla-
mado otra vez lo demoníaco de la violencia, el país pareció volver a su nerviosa indiferencia
respecto al más grave problema. Aunque en aparente retirada, la violencia sigue siendo cosa
común, a la que los colombianos habremos de acostumbrarnos, creando personas abúlicas y
muertas en vida en las regiones donde reina; y gentes egoístas, apáticas y miopes en las ciu-
dades donde se creen lejos del flagelo.270
Die erste ernsthafte Herausforderung der offiziellen Geschichtsschreibung
ging jedoch nicht von der Universität, sondern von einem radikalen Mitglied des
268
Guzmán Campos.
1986, S. 359.
269
Posada Carbó.
2007, S. 63 f.
270
Guzmán Campos/Fals Borda/Umaña Luna.
1977, Bd. 2, S. 14.
181
Geschichtspolitik seit 1957
181
MRL aus. So hatte bereits vor dem Erscheinen von
La Violencia en Colombia
der stark unter dem Einfluss der kubanischen Revolution stehende Indalecio
Liévano Aguirre ein kontrovers diskutiertes Buch mit dem Titel
Los grandes
conflictos sociales y económicos de nuestra historia
(1961) veröffentlicht.271
Darin ging er jedoch ausschließlich auf die Zeit vor und während der Unabhän-
gigkeit ein, wobei er besonderen Wert auf die Unterscheidung zwischen den
Interessen der kreolischen Oligarchie und denen des Volkes legte. Obgleich
Liévano Aguirre mit seiner neuartigen Perspektive "von unten" ein großes Pub-
likum erreichte und viele "alte" Historiker brüskierte, sah er sich von wissen-
schaftlicher Seite schweren Angriffen ausgesetzt. Wie Jorge Orlando Melo an-
merkt, verzichtete er nämlich weitgehend auf Quellenangaben, riss zahlreiche
Textstellen aus ihrem Zusammenhang und wich oft von der Chronologie der
Ereignisse ab.272 Nichtsdestotrotz wurde seine herrschaftskritische, konfliktzent-
rierte und multidimensionale Darstellung auch in universitären Kreisen über-
wiegend positiv aufgenommen.273
Der von Liévano Aguirre vorgegebenen Linie folgten daher während der
1970er Jahre weitere junge Historiker. Obgleich nicht alle die gleiche Radikali-
tät an den Tag legten, so vertraten sie im Großen und Ganzen doch marxistische
Positionen. Streitereien und Kontroversen mit der Akademie waren deshalb vor-
programmiert, wie das Beispiel von Salomón Kalmanovitz zeigt. Dieser hatte im
Jahre 1989 gemeinsam mit Silvia Duzán einen Text für den Geschichtsunterricht
an Sekundarschulen verfasst, der von der
Academia Colombiana de Historia
vehement abgelehnt wurde. Der Präsident der Akademie, Germán Arciniegas,
forderte die Regierung dazu auf, "Maßnahmen" zu ergreifen, da der Marxist
Kalmanovitz die
próceres
in den Schmutz gezogen habe. Darüber hinaus habe er
zahlreiche wichtige Persönlichkeiten und deren "glorreiche" Taten einfach weg-
gelassen. Auf dem Höhepunkt des sich anschließenden Streits zwischen Kalma-
novitz und Arciniegas griff die konservative Zeitung
El Siglo
sogar auf antise-
mitische Vorurteile zurück, indem sie den Juden Kalmanovitz als "Angehörigen
eines Volks ohne Vaterland" bezeichnete, der daher kein Verständnis für die
271
Siehe
Liévano Aguirre, Indalecio.
1961.
Los grandes conflictos sociales y económi-
cos de nuestra historia
. Bogotá: Nueva Prensa.
272
Vgl.
Melo.
1996, S. 101.
273
Hierzu
Ayala Diago, César Augusto.
1999. Los grandes conflictos sociales y econó-
micos de nuestra historia. In:
Credencial Historia
, Nr. 110 (Februar, Bogotá), S. 11.
182
182
Kapitel II
Bedeutung der
Historia Patria
aufbringen könne. Seine wahre Absicht sei es
vielmehr, das "System zu destabilisieren".274
Insgesamt ist jedoch festzuhalten, dass sich viele der "neuen" Historiker zu
stark an marxistischen Dogmen orientierten und sich mit klassenkämpferischer
Rhetorik nicht zurückhielten. Sofern sie die Epoche der
Violencia
überhaupt be-
handelten, geschah dies zumeist im Rahmen einer totalisierenden Gesamtdar-
stellung der kolumbianischen Geschichte. Dabei reduzierten sie das Phänomen
der
Violencia
oft auf einen historisch determinierten Konflikt der Klassen, der in
erster Linie ökonomische Ursachen hatte. Es habe sich ferner um eine "verhin-
derte Revolution" gehandelt, die von der Oligarchie niedergeschlagen worden
sei. Der finale Sieg dieser "Revolution" sei jedoch unausweichlich.275 Trotz der
im Vergleich zu Marxens England des 19. Jahrhunderts völlig anders gearteten
sozialen Situation, duldeten manche Historiker keinerlei Abweichung vom
Schema des deutschen Philosophen. So deuteten sie etwa die kolumbianischen
Campesinos zum ländlichen "Proletariat" um, während die in irgendeiner Weise
am
bogotazo
Beteiligten zur städtischen "Arbeiterklasse" avancierten.276
Obwohl derart radikale Darstellungen während der 60er und 70er Jahre über-
wogen, konnten sich die jungen Historiker schließlich gegenüber der offiziellen
Richtung durchsetzen. Für die kritische, überwiegend marxistisch ausgerichtete
Geschichtsschreibung an den Universitäten wurde ab 1977 die Bezeichnung
Nueva Historia
gebräuchlich.277 Längst sind die Anhänger dieser "neuen" Ge-
schichte jedoch selbst zu einem Teil des akademischen "Establishments" gewor-
den, während manche ihrer Ansichten als überholt gelten. So kam es in den letz-
ten Jahren zu einer beeindruckenden Expansion der Geschichtswissenschaft, die
sich heute nicht mehr allein auf die Nationaluniversität beschränkt, sondern auch
an privaten Hochschulen wie
Los Andes
oder der
Javeriana
vertreten ist. Die
wachsende Internationalisierung und Vernetzung der Universitäten hat moder-
nen bzw. postmodernen Anschauungen den Boden bereitet, die den dogmati-
schen Marxismus der 60er und 70er Jahre zunehmend verdrängen.
274
Vgl.
Melo, Jorge Orlando.
1989. Polémica mal planteada. Academia vs. Nueva Histo-
ria. In:
Lecturas Dominicales de El Tiempo
(9. April, Bogotá), S. 6 f.
275
Ein typisches Beispiel für diese Sichtweise bietet
Torres Giraldo,
Ignacio.
1972–74.
Historia de la rebeldía de las masas en Colombia
. 5 Bde. Bogotá: Margen Izquierdo. Im letz-
ten Band behandelt der Autor die Epoche der
Violencia
bis zum Sturz von Rojas Pinilla.
276
So z. B. bei
Moncayo, Víctor/Fernando Rojas.
1979.
Producción campesina y capi-
talismo
. Bogotá: CINEP.
277
Vgl.
Melo.
1996, S. 125.
183
Geschichtspolitik seit 1957
183
Derzeit werden die Forschungsergebnisse der Geschichtswissenschaftler in
Kolumbien sogar eher akzeptiert als beispielsweise die Thesen von Soziologen
und Anthropologen. Dies hat wesentlich damit zu tun, dass seit Beginn der 80er
Jahre die marxistische Ausrichtung der Historiker einer ideologischen Diversifi-
zierung gewichen ist. Unter dem Einfluss der Postmoderne existieren mittlerwei-
le ganz unterschiedliche Schulen und Tendenzen, wobei ein reger akademischer
Wettbewerb zu beobachten ist. Insgesamt ist außerdem eine Verbesserung der
methodischen Kapazitäten festzustellen, der maßgeblich mit dem Ausbau der
Postgraduierten-Studiengänge zusammenhängt. So verfügt heute eine Vielzahl
junger Historiker über im Ausland erworbene Qualifikationen, wobei besonders
die Kooperation mit nordamerikanischen und französischen Universitäten her-
vorzuheben ist. Dies und die Schaffung nationaler Magister- und Promotions-
studiengänge haben allgemein zu einer Angleichung der kolumbianischen Histo-
riografie an internationale Standards beigetragen.278
Jorge Orlando Melo zufolge weist der unter dem Schlagwort der
Nueva His-
toria
zusammengefasste Bruch mit der traditionellen Geschichtsschreibung drei
Charakteristika auf. Zum einen sei er eine politische Zäsur gewesen, da fast alle
"neuen" Historiker in ihrer Anfangsphase dem linken Spektrum angehört hätten.
Weiterhin habe es sich um eine methodologische Erneuerung gehandelt, da ne-
ben den marxistischen Theorien auch aktuellere ökonomische, soziologische
oder kulturwissenschaftliche Methoden aufgegriffen wurden. Schließlich sei die
Nueva Historia
auch eine thematische Wende gewesen. Denn erstmals hätten
sich die Historiker mit zuvor ignorierten sozialen Gruppen wie den
indígenas
,
den Campesinos oder den Arbeitern beschäftigt.279 Im Ergebnis brachten die
Konzentration auf neue Themen und die Etablierung einer verbindlichen Me-
thodik das Fundament der traditionellen Geschichtsschreibung ins Wanken. Ge-
rade die von der Akademie propagierte
Historia Patria
, in der die Existenz einer
kolumbianischen "Nation" im 19. Jahrhundert stets als Faktum galt, verlor da-
durch an Substanz und Überzeugungskraft. Je mehr sich der Fokus auf die alter-
nativen Nationsentwürfe anderer, vormals marginalisierter Gruppen richtete,
desto offensichtlicher wurde der Bedeutungsverlust der "patriotischen" Ge-
schichtsschreibung.
Als methodisches Novum übte in letzter Zeit insbesondere die aus dem angel-
sächsischen Raum kommende
Oral History
große Anziehungskraft auf jüngere
278 Hierzu
Álvarez.
2000, S. 130–134.
279
Vgl.
Melo.
1996, S. 125.
184
184
Kapitel II
Historiker aus. Die Ergebnisse solcher Studien trugen maßgeblich dazu bei, den
Erfolg der offiziellen Geschichtspolitik in Zweifel zu ziehen und die aktive Rol-
le subalterner Akteure herauszustreichen. Weiterhin zeigte sich anhand von
Zeitzeugenbefragungen, dass die tatsächliche Wirkung der Geschichtsschrei-
bung bei einem Großteil der Bevölkerung eher gering gewesen ist. Forscher der
Universidad de Antioquia
, die vor allem die Rezeptionsseite untersuchten, ka-
men stattdessen zu dem Ergebnis, dass sich individuelle Primärerlebnisse in ho-
hem Maße mit Inhalten aus Büchern, Bildern, Erzählungen oder Filmen vermi-
schen. Bei den "medialen Trägern des sozialen Gedächtnisses" handele es sich
vorrangig um "populäre" Medien.280 Die Rekonstruktion der Vergangenheit ent-
puppt sich in den meisten Fällen als komplexer Wechselprozess zwischen indi-
viduellem Gedächtnis, dem eigenen Lebenslauf und dem kollektiven Gedäch-
tnis. Auch wenn derartige Untersuchungen zumeist auf lokal begrenzte Räume
und überschaubare soziale Gruppen beschränkt sind, erlauben sie dennoch
Rückschlüsse in Bezug auf die Wahrnehmung von historischer und aktueller
Gewalt.
Einen anderen Weg, die
Oral History
produktiv zu nutzen, haben indes Histo-
riker wie Reinaldo Barbosa Estepa und Mary Roldán eingeschlagen.281 In ihren
Studien über den spezifischen Charakter der
Violencia
in den Llanos sowie im
Departement Antioquia stützen sie sich zum Teil auf Zeitzeugeninterviews, um
historische Details abzusichern bzw. zu illustrieren. Im Rahmen eines dichten
historischen Kontexts und gestützt auf eine breite Quellenbasis nutzen sie die
Interviews vorrangig, um ihre Darstellung plastischer zu gestalten. Sie vermei-
den es jedoch bewusst, ihre Studien im Sinne einer Ereignisgeschichte vollstän-
dig auf der Grundlage mündlicher Aussagen zu konstruieren. Aufgrund dieser
sehr umsichtigen Anwendung stellt die oft als "unüberprüfbar" kritisierte Me-
thode der
Oral History
eine enorme Bereicherung der
Nueva Historia
dar.
Eine explizite historische Beschäftigung mit der
Violencia
begann ebenfalls
gegen Ende der 70er Jahre.282 Aufgrund der erwähnten Diversifizierung und
280
Hierzu
Blair/Pimienta/Gómez.
2003. u.
Gómez Cardona, Santiago.
2003.
La histo-
ria narrada, relatos de violencia en el Quindío
. Medellín: Univ. de Antioquia (unveröffent-
lichte Abschlussarbeit).
281
Siehe
Barbosa Estepa, Reinaldo.
1992.
Guadalupe y sus centauros. Memorias de la
insurrección llanera
. Bogotá: CEREC u.
Roldán.
2003.
282
Im Folgenden stütze ich mich auf Überblicksdarstellungen zur kolumbianischen
Vio-
lencia
-Historiografie von
Sánchez, Gonzalo.
1986. Los estudios sobre la violencia: balance y
perspectivas. In: ders./Ricardo Peñaranda (Hgg.).
Pasado y presente de la violencia en Co-
lombia
. Bogotá: CEREC, S. 11–30 u.
Peñaranda.
2001.
185
Geschichtspolitik seit 1957
185
Professionalisierung der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften zeichneten
sich schon die ersten Arbeiten der so genannten
violentólogos
durch genaues
Quellenstudium und unparteiische Sichtweise aus. In zahllosen Studien analy-
sierten Politikwissenschaftler, Ökonomen, Anthropologen, Soziologen und His-
toriker die unterschiedlichen Ausprägungen der Gewalt, wobei zunächst umfas-
sende Gesamtdarstellungen überwogen. So gut wie alle
violentólogos
unter-
schieden dabei drei Hauptschübe der Gewalt, nachdem Kolumbien im Jahre
1830 seine staatliche Unabhängigkeit erlangt hatte. Hierzu zählten sie zunächst
die Bürgerkriege des 19. Jahrhunderts, welche in relativer Regelmäßigkeit aus-
brachen und sich normalerweise entlang der Parteizugehörigkeit entwickelten.
Dann, nach einer länger anhaltenden Phase der Stabilität, die um etwa 1946 ein-
setzende
Violencia
sowie schließlich die seit Beginn der 80er Jahre sich ab-
zeichnende Zunahme der Gewalt. Diese wurde im Gegensatz zu früheren Epo-
chen nicht mehr mit der traditionellen Rivalität der Parteien in Verbindung ge-
bracht.
Trotz ihrer einheitlichen Periodisierung unterschieden sich die
violentólogos
hinsichtlich ihrer Erklärungsmuster, wobei sich mit der Zeit zwei Hauptströ-
mungen herausbildeten.283 Die Vertreter der "Diskontinuitätsthese" erachteten es
als notwendig, die verschiedenen Gewaltwellen getrennt voneinander zu analy-
sieren. Zwar gebe es Konstanten, wie etwa den aus dem 19. Jahrhundert "über-
kommenen" Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen, der auch während
der
Violencia
eine große Rolle gespielt habe. Es sei jedoch unerlässlich, die Ge-
waltphänomene einzeln und von innen heraus zu analysieren, um nicht in einen
historischen Determinismus zu verfallen. Zwischen den Gewaltwellen des 20.
Jahrhunderts habe es auch lange Perioden friedlicher und politisch stabiler Ver-
hältnisse gegeben, was der Vermutung einer konstanten "Gewaltkultur" wider-
spreche.284
Die Anhänger der "Kontinuitätsthese" hingegen betonten den teleologischen
Charakter der kolumbianischen Konfliktgeschichte. Gewalt sei gewissermaßen
ein "Naturzustand" des Menschen, der nur durch konsequente staatliche und ge-
sellschaftliche Anstrengungen kontrolliert werden könne. Zunehmender Staats-
283
Vgl.
Bushnell, David.
1992. Politics and Violence in Nineteenth-Century Colombia.
In: Bergquist, Charles/Ricardo Peñaranda/Gonzalo Sánchez (Hgg.).
Violence in Colombia.
The Contemporary Crisis in Historical Perspective
. Wilmington: Scholarly Resources, S. 12.
284
Vgl. hierzu
Bergquist, Charles.
2001. Waging War and Negotiating Peace: The Con-
temporary Crisis in Historical Perspective. In: ders./Ricardo Peñaranda/Gonzalo Sánchez
(Hgg.).
Violence in Colombia, 1990–2000
. Wilmington: Scholarly Resources, S. 195–212.
186
186
Kapitel II
zerfall sowie fehlende demokratische Kultur seien für den Rückfall des Landes
in "archaische" Zustände verantwortlich. Die Bürgerkriege des 19. Jahrhunderts
und die
Violencia
seien in Wirklichkeit Bestandteile einer "ununterbrochenen
historischen Kette" von Rechtlosigkeit und Gewalt. Daraus ergab sich, dass sie
gezielt nach "Beweisen" und Beispielen für die "Gewalttradition" des Landes
suchten.285
In den letzten Jahren haben sich beide Richtungen wieder ein Stück weit an-
genähert. So sind zwischen 1978 und 1987 mehrere Studien erschienen, die sich
ausschließlich mit der Epoche der
Violencia
beschäftigen, dabei jedoch den Ge-
samtzusammenhang nicht aus den Augen verlieren. Bei diesen Texten von Jai-
me Arocha, Herbert Braun, James Henderson, Darío Fajardo, Donny Meertens,
Paul Oquist, Carlos Miguel Ortiz, Daniel Pécaut und Gonzalo Sánchez handelt
es sich sozusagen um die "Klassiker" der
Violencia
-Forschung.286 Die Studien
von Adolfo Atehortúa Cruz, Reinaldo Barbosa Estepa, Darío Betancourt, Marta
García, Ingrid Johanna Bolívar, Mary Roldán und María Victoria Uribe – er-
schienen zwischen 1990 und 2003 – spiegeln hingegen die aktuellen Tendenzen
wider.287 Allgemein ist in diesem Zusammenhang zu beobachten, dass die Er-
forschung regionaler und lokaler Ausprägungen der
Violencia
in den letzten Jah-
ren wichtiger geworden ist.288 Gemeinsam ist den hier aufgelisteten Studien
ebenfalls, dass sie sich nur bedingt als Instrument der Geschichtspolitik anbie-
ten. So verweisen die meisten Autoren ausdrücklich auf die Verantwortung der
Eliten, die negative Rolle der staatlichen Ordnungsmacht und die starke Ideolo-
gisierung der Landbevölkerung durch die Traditionsparteien.
In jüngster Zeit, präziser: nach dem Amtsantritt des rechtskonservativen Prä-
sidenten Álvaro Uribe (2002), sind im Bereich der Geschichtswissenschaften
wieder vermehrt revisionistische Tendenzen erkennbar. So erinnern einige Wer-
ke in ihrer Stoßrichtung stark an die offizielle Geschichtsschreibung in der Zeit
vor der
Nueva Historia
. Noch ist es allerdings zu früh, die Wirkungsmächtigkeit
285 Vgl. hierzu
Waldmann.
1999, S. 259 ff.
286
Siehe
Arocha.
1979;
Braun.
1985;
Fajardo, Darío.
1978.
Violencia y desarrollo
. Bo-
gotá: Suramericana;
Henderson, James.
1984.
Cuando
Colombia se desangró. Un estudio de
la Violencia en metrópoli y provincia
. Bogotá: El Áncora;
Oquist.
1978;
Ortiz, Carlos Mi-
guel.
1985.
Estado y subversión en Colombia. La Violencia en el Quindío años 50
. Bogotá:
CEREC;
Pécaut.
1987 u.
Sánchez/Meertens.
1983.
287
Siehe
Atehortúa.
1995;
Barbosa Estepa.
1992;
Betancourt, Darío/Marta García.
1990.
Matones y cuadrilleros: origen y evolución de la violencia en el occidente colombiano,
1946–1965
. Bogotá: Tercer Mundo;
Bolívar.
2003;
Roldán.
2003 u.
Uribe.
1991.
288
Zu den aktuellen Themen der
Violencia
-Forschung siehe
Bolívar.
2003, S. 15–23.
187
Geschichtspolitik seit 1957
187
dieses "neuen" Revisionismus definitiv zu beurteilen. Unübersehbar ist indes,
dass sich wichtige Autoren wie der Historiker Eduardo Posada Carbó, der Poli-
tologe Eduardo Pizarro oder der Soziologe Daniel Pécaut in ihren aktuellen
Werken eindeutig von den zentralen Thesen der
Nueva Historia
entfernt haben.
Im Falle Posada Carbós äußert sich dies zum Beispiel in einer vehementen Ver-
teidigung der kolumbianischen Demokratie, deren Stabilität und Funktionalität
er zu Unrecht angezweifelt sieht. Des Weiteren weist er darauf hin, dass Kolum-
bien über eine ausgeprägte politische Kultur, eine starke Zivilgesellschaft sowie
eine "Tradition" der Pressefreiheit und des ausgehandelten Friedens verfüge.
Überlegungen einer "Gewaltkultur" bzw. eines kontinuierlichen Konflikts seien
demnach falsch.289
Posada Carbós extreme Form des Revisionismus, die sich auf ein elitäres, mi-
nimalistisches und rein funktionales Demokratieideal nach Joseph Schumpeter
stützt, ist in dieser Form bislang einzigartig. Hinzu kommt, dass er der Frage
nach der fehlenden Verteilungskapazität des Staates, der direkten Beteiligung
der Eliten am Ausbruch der Gewalt sowie dem Fortbestehen der sozialen Un-
gleichheit nur wenig bzw. überhaupt keinen Platz einräumt. Stattdessen leugnet
er die Geschlossenheit der "traditionellen politischen Klasse".290 Das größte
Manko an Posada Carbós herrschaftskonformen Revisionismus liegt jedoch in
der Tatsache begründet, dass er einerseits die Existenz einer "Gewaltkultur" be-
streitet, andererseits jedoch kulturalistische Konzepte wie das der "politischen
Kultur" oder der "Zivilgesellschaft" anwendet, ohne empirische Belege zu lie-
fern.291 Seine gegen einen übertriebenen Kulturalismus gerichtete Argumentati-
on verliert dadurch an Überzeugungskraft.
In ähnlicher Weise gilt dies auch für die jüngsten Arbeiten von Eduardo Pi-
zarro. Obwohl sich seine Studien eher auf den bewaffneten Konflikt der Gegen-
wart konzentrieren, versucht er, die Verantwortung des Staates am Ausbruch der
Violencia
bzw. der Fortentwicklung der
violencias
ebenfalls zu minimieren. Un-
ter Verweis auf die "lange demokratische Tradition" Kolumbiens zieht es Pizar-
ro vor, von einer "democracia asediada" zu sprechen.292 Qualitative Demokratie-
Merkmale wie Repräsentation, Pluralismus, Verteilungsgerechtigkeit, Partizipa-
tion oder Minderheitenschutz fallen in dieser reduktionistischen Perspektive un-
289 Vgl.
Posada Carbó.
2007, S. 51 ff. u. 265–303.
290
Vgl. ebd., S. 182 f. u. 198 ff.
291
Vgl. ebd., S. 272–283.
292
Vgl.
Pizarro.
2004, S. 226 ff.
188
188
Kapitel II
ter den Tisch. Zudem weist Pizarro in der Beurteilung der politisch-militärischen
Lage einen unbegründeten Optimismus auf, der sich dem offiziellen "Kriegsher-
ren-Diskurs" des Präsidenten gefährlich nähert.
Der französische Soziologe Daniel Pécaut schließlich wertet in seinem jüng-
sten Werk den
Frente Nacional
als "integrationsfähiges" und "ausdifferenzier-
tes" Modell, das zu Unrecht als Verursacher der politischen Gewalt der 60er und
70er Jahre angeprangert werde. Im Gegenteil, habe der Zwei-Parteien-Pakt doch
auch alternativen Gruppen den Zugang zum politischen Prozess ermöglicht und
innerhalb der Traditionsparteien Platz für unterschiedliche Strömungen und Flü-
gel geschaffen. Der Vorwurf der "politischen Exklusion" – in erster Linie von
linken Gruppen vorgebracht – sei daher ungerechtfertigt.293
Werke wie diese sind bisher nur spärlich erschienen. Es bleibt deshalb abzu-
warten, ob die "nuevas corrientes revisionistas"294, wie sie Posada Carbó nennt,
in Zukunft tatsächlich die neue Hauptrichtung der Historiografie darstellen wer-
den. Zu vermuten ist eher, dass die Wiederaufbereitung dieser keineswegs origi-
nellen Thesen mit der aktuellen politischen Konjunktur in Zusammenhang steht.
Dass sich der gegenwärtige Mainstream, also die
Nueva Historia
, so weit von
der offiziellen Geschichtsschreibung früherer Tage wegbewegt hat, ist sicherlich
als gewaltiger Fortschritt zu bezeichnen. Während in vielen europäischen Län-
dern jedoch die Konzepte der Historiker in irgendeiner Form den öffentlichen
Diskurs beeinflussen, ist dies in Kolumbien nur sehr begrenzt der Fall. Zwar hat
im Bereich des Geschichtsunterrichts an den Schulen eine "Wende" stattgefun-
den. Angesichts der allgemein gesunkenen Bedeutung des Fachs gehen davon
jedoch kaum Effekte auf das Geschichtsbewusstsein der Öffentlichkeit aus.
Während beispielsweise in Deutschland geschichtsverzerrende Äußerungen von
Politikern oftmals einen handfesten Skandal produzieren, weicht die kolumbia-
nische Politikerkaste nur selten von ihren lieb gewonnenen Stereotypen ab.
Noch immer fehlt eine kritische, verantwortungsbewusste und organisierte
Fachöffentlichkeit, genauso wie eine "politische Kultur" in der Breite.
293
Vgl.
Pécaut, Daniel.
2006.
Crónica de
cuatro décadas de política colombiana
. Bo-
gotá: Norma, S. 17 f.
294
Vgl.
Posada Carbó.
2007, S. 261.
189
Geschichtspolitik seit 1957
189
5.3 Die Epoche der
Violencia
in den Schulbüchern und im Museum
Wie Hans-Joachim König bemerkt, führte die Katastrophe des 9. April 1948 zu
einem Umdenken der Eliten in Bezug auf den Stellenwert des Geschichtsunter-
richts. Nachdem den traditionellen Machthabern die Gefahr einer gewaltsamen
Mobilisierung der Massen auf drastische Weise vor Augen geführt worden war,
gestanden sie der Geschichte eine explizit politische Funktion zu, um ihre Herr-
schaft zu stabilisieren und zu legitimieren.295 So führte die konservative Regie-
rung von Mariano Ospina Pérez den
bogotazo
nicht zuletzt auf Faktoren wie
fehlende Vaterlandsliebe, mangelnde Verehrung der nationalen Symbole sowie
unzureichendes Wissen über die Taten der
próceres
zurück. Diese "Ignoranz der
unzivilisierten Massen" habe sich am 9. April deutlich gezeigt, als der "Mob"
seinen aufgestauten Hass an Denkmälern, historischen Archiven, öffentlichen
Gebäuden und Kirchen entlud.296
Wenige Monate nach dem
bogotazo
schlug sich diese "Erkenntnis" in Form
des Dekrets 2338 nieder, mit dem die Regierung den Schulunterricht in eine
neue Richtung zu lenken gedachte. Bei der Unterrichtung der
Historia Patria
sollten zukünftig die Bewunderung der Gründerväter und die Verehrung der na-
tionalen Symbole im Mittelpunkt stehen:
Que el conocimiento de la historia patria, el culto a los próceres y la veneración por los
símbolos de la nacionalidad son elementos inapreciables de fuerza social, de cohesión nacio-
nal y de dignidad ciudadana;
Que la educación debe tener una función eminentemente social, y todas las materias de los
pénsumes y programas escolares deben estar orientadas a formar en las nuevas generaciones
hábitos democráticos, de decoro personal y de orgullo nacional;
Que los graves acontecimientos que han ocurrido en los últimos tiempos han agitado a la Re-
pública y han puesto de manifiesto, una vez más, y con caracteres de gran apremio, que el
estudio concienzudo de la Historia Patria y la práctica de las virtudes cívicas por todos los
hijos de Colombia debe ser preocupación permanente y desveladora del Gobierno.297
Obwohl die Regierung Ospina dem Fach Geschichte mit drei Wochenstunden
noch einen relativ hohen Stellenwert einräumte, nahm die Bedeutung des Ge-
295 Vgl.
König.
1994b, S. 115 f.
296
Vgl.
Ocampo López, Javier.
1985. Identidad de la realidad nacional colombiana e
hispanoamericana a través de los textos de historia de la escuela primaria en Colombia. In:
Educación y Ciencia
, Nr. 1 (Februar, Tunja), S. 9.
297
Dekret 2388
vom 15. Juli 1948; abgedruckt in Ministerio de Educación. 1949.
Ense-
ñanza de la Historia Patria. Normas, estímulos, sanciones
. Bogotá: Imprenta Nacional, S. 6.
190
190
Kapitel II
schichtsunterrichts in den folgenden Jahren rapide ab. Insbesondere nach dem
Sturz Rojas Pinillas im Mai 1957 stellten die Herrschenden den Wert der Ge-
schichte zunehmend in Frage. Im Sinne der "Politik des Vergessens" schien es
den Planern des
Frente Nacional
stattdessen opportun, die Beschäftigung mit
der Vergangenheit auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Aus diesem Grunde
schränkten sie den Geschichtsunterricht an den Schulen im Jahre 1963 massiv
ein und fusionierten das Fach Geschichte an den Primarschulen ebenfalls per
Dekret mit Geografie, Sozial- und Staatsbürgerkunde (
civismo
). Das daraus her-
vorgegangene Fach
Estudios Sociales
hatte sich an manchen Schulen in dieser
oder ähnlicher Form jedoch schon vorher etabliert. Mit dem Dekret 1710 erhielt
der allmähliche Bedeutungsverlust des Geschichtsunterrichts lediglich seine of-
fizielle Bestätigung. Bei der vorerst letzten Lehrplanreform (Dekret 1002) wurde
im Jahre 1984 schließlich das Fach
Ciencias Sociales
(Geografie, Geschichte,
Politik) für alle Schultypen verbindlich. 298
Die
Academia Colombiana de Historia
stand dieser Entwicklung zunächst
skeptisch bis ablehnend gegenüber. Schließlich war es ihren Mitgliedern nicht
um eine Herabstufung des Geschichtsunterrichts gegangen, als vielmehr um die
Durchsetzung
einer
Geschichtsversion. Insbesondere zeigte sich die Akademie
unzufrieden über die weitgehende Ausklammerung der Kolonialzeit im Schulun-
terricht, deren Kenntnis sie zum Verständnis der "nationalen Geschichte" als
unverzichtbar betrachtete. An die Regierung richteten die Akademie-Mitglieder
daher den Vorschlag, der
Historia Patria
an den Schulen mehr Zeit zu widmen
und stattdessen die Vermittlung der "universellen Geschichte" einzuschrän-
ken.299 Obwohl sich die Akademie mit diesem Vorschlag nicht durchsetzte, be-
hielt sie in Kooperation mit dem Erziehungsministerium weiterhin die Richtli-
nienkompetenz im Bereich der Geschichtsdidaktik. Wie Germán Colmenares in
diesem Zusammenhang anmerkt, spiegeln die Schulbücher aus der Zeit von
1948 bis 1984 in verdichteter Form auch den Stand der damaligen Forschung
und des historischen Wissens wider. In diesem Tatbestand sieht er allerdings ein
ausgesprochenes Armutszeugnis, da die meisten in diesem Zeitraum verwende-
ten Schulbücher auf einem Werk aufbauten, das bereits im Jahre 1910 erschie-
nen war.300
298
Vgl.
Ocampo.
1985, S. 12 f.
299
Vgl. ebd., S. 13 f.
300
Vgl.
Colmenares, Germán.
1994. La batalla de los manuales en Colombia. In:
Histo-
ria y Espacio
, Nr. 15 (April, Cali), S. 89.
191
Geschichtspolitik seit 1957
191
Die Rede ist von der populären
Historia de Colombia
der Autoren Jesús
María Henao und Gerardo Arrubla, die sich im Laufe der Zeit zum Standard-
werk für den Schulgeschichtsunterricht entwickelte. Mit der Zeit avancierte die
Geschichte von Henao und Arrubla zu einer Art "Leitwerk", an dem sich die
meisten anderen Schulgeschichtsbücher orientierten.301 Dabei war das Buch
ursprünglich nicht einmal für didaktische Zwecke gedacht, sondern als Gesamt-
darstellung der Geschichte Kolumbiens aus einem Wettbewerb als Sieger her-
vorgegangen. Im Jahre 1910 hatte das Erziehungsministerium gemeinsan mit der
Academia Colombiana de Historia
alle "Historiker" dazu aufgerufen, das hun-
dertjährige Jubiläum der Unabhängigkeitsbewegung in Form eines neuen, um-
fassenden Geschichtswerks zu würdigen. Der von Henao und Arrubla einge-
reichte Beitrag, in dem die Periode von 1810 bis 1830 ein deutliches Überge-
wicht hatte, gewann den nationalen Wettbewerb und wurde anschließend per
Dekret zum offiziellen Text für den Geschichtsunterricht an Primar- und Sekun-
darschulen erklärt.302
Struktur und Thematik der
Historia de Colombia
stehen in engem Zusam-
menhang zur Gründung der
Academia Colombiana de Historia
und lassen sich
nur aus dem historischen Kontext der Jahrhundertwende heraus erklären. So sah
es die im Jahre 1902 gegründete Akademie, der Henao und Arrubla angehörten,
als ihre wichtigste Aufgabe an, die gefährdete Einheit Kolumbiens zu festi-
gen.303 Der verheerende "Krieg der Tausend Tage", welcher von 1899 bis 1902
zwischen Liberalen und Konservativen ausgefochten wurde, hatte das Land auf
eine harte Bewährungsprobe gestellt. Nachdem weite Teile Kolumbiens verwüs-
tet und das Land finanziell ruiniert war, spaltete sich im Jahre 1903 auch noch
das Departement Panama mit Hilfe der USA ab. Der traditionell von den Libera-
len kontrollierte Isthmus hatte bereits seit längerem versucht, sich von der Be-
vormundung Bogotás zu befreien und befürchtete nun, dass die konservative
Zentralregierung einen von den USA geplanten interozeanischen Kanal durch
Panama ablehnen könnte. Getrieben von Garantiezusagen der USA sowie unter
dem Eindruck der blutigen Kampfhandlungen während des Krieges erklärte sich
Panama am 3. November 1903 schließlich von Kolumbien unabhängig.304
301
Vgl.
Ocampo.
1985, S. 18.
302
Vgl.
Colmenares.
1994, S. 89.
303
Vgl. ebd., S. 90.
304
Zu den Auswirkungen der Separation Panamas auf die kolumbianische Geschichts-
schreibung siehe
Schuster, Sven.
2006.
"I took Panama". Die Separation Panamas in der
192
192
Kapitel II
Der daraus resultierende nationale Schock bestärkte die Mitglieder der Aka-
demie noch in ihrem Glauben, dass eine weitere Desintegration Kolumbiens
nicht mehr auszuschließen war. Aus diesem Grund wurde es zu ihrem erklärten
Anliegen, mit Hilfe der Geschichtsschreibung die nationale Einheit des Landes
zu stärken. Insbesondere die Verehrung der
próceres
rückte dabei ins Zentrum
des Werks von Henao und Arrubla, wobei die Autoren jedoch darauf bedacht
waren, sowohl konservative als auch liberale Vorstellungen einzubringen. Um
einem erneuten Aufflammen der Kämpfe zwischen den Parteianhängern das his-
torische Fundament zu entziehen, strebten sie eine Synthese beider interpretati-
ven Richtungen an. Um der konservativen Perspektive Rechnung zu tragen, leg-
ten die Autoren großes Gewicht auf die Kolonialzeit und die Rolle der Kirche.
Liberale Interessen bedienten sie hingegen durch die ausführliche Beschreibung
der Modernisierungsmaßnahmen während der republikanischen Periode sowie
durch die übertriebene Würdigung eines abstrakten Legalismus, wie sie ihn bei-
spielhaft durch die Figur des Generals Santander verkörpert sahen.305
Somit entstand ein Werk, das eine apologetische und traditionalistische Sicht
der Vergangenheit zelebrierte. In der pädagogischen Praxis mussten die Schüler
sogar einzelne Passagen über die Unabhängigkeitszeit auswendig lernen und
rezitieren, was ein kritisches Verhältnis zur Geschichte kaum gefördert haben
dürfte. Rafael Antonio Velásquez zufolge bestand der einzige Sinn der Schultex-
te in der Zeit von 1940 bis 1967 darin, ein patriotisch verbrämtes, ethnozentri-
sches, romantisierendes und religiös voreingenommenes Bild der Vergangenheit
zu kreieren, das den Interessen der Eliten sehr entgegen kam.306 Um diese Wir-
kung im Schulunterricht zu entfalten war es jedoch notwendig, die
Historia de
Colombia
an die didaktischen Erfordernisse der Primar- und Sekundarstufe an-
zupassen. Zu diesem Zweck wurden spezielle Schulausgaben angefertigt, die
häufig unter dem Einfluss kirchlicher Privatschulen entstanden. Dabei wurde
zwar der ursprüngliche Text erheblich gekürzt, das Übergewicht der Unabhän-
gigkeitszeit – die etwa die Hälfte der Darstellung einnahm – blieb jedoch erhal-
ten. Bis in die 80er Jahre wurde das Werk ständig erweitert und erfuhr zahlrei-
che Neuauflagen. Diese "Erweiterungen" beschränkten sich jedoch in der Regel
Sicht der neueren Historiografie Panamas, Kolumbiens und der USA
. Eichstätt u. a.: ZILAS
u. a., S. 34–44 u. 54–63.
305
Vgl.
Colmenares.
1994, S. 90 ff.
306
Vgl.
Velásquez, Rafael Antonio.
2000. Análisis sobre los textos de bachillerato de la
historia de Colombia, 1940–1967. In: Vargas Hernández, Olmedo (Hg.).
Archivos y documen-
tos para la historia de la educación colombiana
. Tunja: Rudecolombia, S. 198 f. u. 204.
193
Geschichtspolitik seit 1957
193
auf das unkommentierte Hinzufügen von Namen und Daten in chronologischer
Reihenfolge.307
In Bezug auf die
Violencia
hüllten sich die verantwortlichen Herausgeber der
Academia Colombiana de Historia
auch weiterhin in Schweigen. Wohlwissend,
dass ihnen mit der im ganzen Land verbreiteten
Historia de Colombia
ein wich-
tiges Instrument der Geschichtspolitik zur Verfügung stand, welches noch bis
Mitte der 80er Jahre im Einsatz war, klammerten sie den Bürgerkrieg einfach
aus. Zwar geht beispielsweise die achte Ausgabe der
Historia de Colombia para
la enseñanza secundaria
aus dem Jahre 1967 knapp und oberflächlich auf die
Zeit der
Violencia
ein. Die Verantwortung der Eliten sowie die verheerenden
Folgen der Auseinandersetzung auf dem Land werden jedoch nicht thematisiert.
Stattdessen würdigen die Verfasser selbst geistige Brandstifter wie Laureano
Gómez mit überschwänglichen Worten.308 Ganz im Sinne der oligarchischen
Sicht "von oben" wird folglich auch der 9. April als Aufstand des "unzivilisier-
ten Mobs" beschrieben, der von "fremden und finsteren" Mächten angestachelt
worden sei:
Aquel golpe de Estado, que quiso aprovechar la ocasión propicia del vendaval revolucionario,
que fuerzas ocultas, extrañas al país, planearon en la sombra y en países foráneos, aglutinando
para su realización elementos colombianos adictos a la subversión y al desconocimiento de las
autoridades legítimamente constituidas, era el fruto de una larga incubación que venía desde
los comienzos del gobierno de Ospina Pérez […]309
Doch anstatt sich mit dieser einseitigen Interpretation der Geschehnisse zu
begnügen, verfälschten die Autoren zusätzlich noch eine Reihe historischer Tat-
sachen. So erklärten sie den Mörder Gaitáns zum "Unbekannten", obwohl be-
reits am Tage des Verbrechens feststand, dass der geistig verwirrte Juan Roa
Sierra die tödlichen Schüsse abgefeuert hatte.310 Noch dreister war indes ihre
Behauptung, dass zur Abwehr der "betrunkenen und frenetischen" Masse staatli-
che "Truppen" von Tunja (Boyacá) nach Bogotá beordert worden seien. Da die
normalen Polizisten gemeinsame Sache mit den Aufständischen gemacht hätten,
sei der Einsatz von loyalen Spezialkräften zur "Aufrechterhaltung der öffentli-
chen Ordnung" unverzichtbar gewesen. Dass es sich bei besagten Truppen um
307 Vgl.
Colmenares.
1994, S. 91.
308
Vgl.
Henao, Jesús María/Gerardo Arrubla.
8
1967.
Historia de Colombia para la en-
señanza secundaria
. Bogotá: Librería Voluntad, S. 948 f.
309
Ebd., S. 922.
310
Vgl. ebd., S. 920.
194
194
Kapitel II
die gefürchteten und an unzähligen Verbrechen beteiligten
chulavitas
handelte,
blieb unerwähnt.311
Ohnehin wurde der ursprünglich parteipolitische Charakter der
Violencia
in
der
Historia de Colombia
konsequent negiert. Stattdessen wurden die konserva-
tiven Präsidenten Mariano Ospina Pérez, Laureano Gómez und Roberto Urdane-
ta zu Helden verklärt. Der einzige, der im Rahmen dieser Darstellung denkbar
schlecht abschnitt, war der Militärdiktator Rojas Pinilla. Über ihn hieß es, dass
er die bürgerlichen Freiheiten eingeschränkt, die Presse zensiert, auf Studenten
geschossen und nichts gegen den Zusammenbruch der "öffentlichen Ordnung"
unternommen habe. Darüber hinaus habe er Kolumbien in den wirtschaftlichen
Ruin getrieben und sei schließlich von einer "nationalen Protestbewegung" ge-
stürzt worden.312 Auf die Rolle des Diktators im Zusammenhang mit der Be-
kämpfung der
Violencia
ging der Text jedoch nicht näher ein. Lediglich bei der
Schilderung der kurzen Regierungszeit von Laureano Gómez war an einer Stelle
von "gewaltsamen Vorgängen" auf dem Lande die Rede. Doch auch hier ließen
die Autoren keinen Zweifel, dass kommunistische Kräfte für den Ausbruch der
Gewalt verantwortlich gewesen seien:
En algunos sectores de la República se habían presentado ya casos de violencia, saqueos, pi-
llaje y asesinatos, consecuencia todos ellos de la agitación política, de la oposición tenaz a las
medidas del Gobierno y de los manejos del comunismo. La situación se hizo más crítica en
los Llanos Orientales en donde bandoleros se cebaron en los campesinos trabajadores; el Go-
bierno por su parte ha hecho todos los esfuerzos posibles para mantener el orden en esas re-
giones, enviando fuerzas del ejército y de la policía […]313
Damit war die Darstellung dieser kritischen Epoche abgeschlossen, ohne dass
die politischen, ökonomischen und sozialen Gründe der
Violencia
Erwähnung
gefunden hätten. Stattdessen seien allein die Kommunisten Schuld am Ausbruch
der Gewalt gewesen, während der Staat mit friedensbildenden Maßnahmen Ord-
nung geschaffen habe. Dass in Wirklichkeit ein großer Teil der Gewalt "von
oben" kam und sich in Form konservativer Kampfgruppen über das Land aus-
breitete, sparten die "Nachlassverwalter" von Henao und Arrubla aus. Anstatt
sich weiter mit der
Violencia
aufzuhalten, war im Anschluss an den Fall Rojas
Pinillas völlig unvermittelt von den "Leistungen" des
Frente Nacional
die Rede.
311 Vgl. ebd., S. 921 ff.
312
Vgl. ebd., S. 940–43.
313
Ebd., S. 933.
195
Geschichtspolitik seit 1957
195
Die über 200.000 Toten und Millionen Vertriebenen des Bürgerkrieges waren
somit vergessen.
Während die
Academia Colombiana de Historia
ihre hegemoniale Stellung
im Bildungssektor über die folgenden Jahrzehnte behauptete, entfernte sich die
Geschichtswissenschaft an den Universitäten immer mehr vom offiziellen
Standpunkt. Als die Autoren Fernando Torres Londoño und Rodolfo Ramón de
Roux im Jahre 1984 ein Schulgeschichtsbuch veröffentlichten, in dem der
Schwerpunkt auf der sozialen Entwicklung Kolumbiens lag, war der Bruch zwi-
schen Offizialismus und Universität bereits unübersehbar.314 Die von den neues-
ten akademischen Tendenzen beeinflussten Autoren stießen mit ihrer angeblich
"marxistischen" Interpretation auf den Widerspruch der traditionellen Eliten.
Insbesondere der Präsident der Akademie, Germán Arciniegas, warf ihnen vor,
die "Geschichte mit Füßen getreten" zu haben, weil sie die Protagonisten- und
Vorbildrolle der
próceres
hinterfragt hätten.315 Genau wie fünf Jahre später im
Fall Kalmanovitz gelang es der Akademie jedoch nicht, die Regierung von ei-
nem Verbot des Textes zu überzeugen. Die Diskrepanz zwischen den anachro-
nistischen Ansichten der Akademie-Mitglieder und den Ergebnissen universitä-
rer Forschung war hingegen derart offensichtlich geworden, dass auch die Ver-
antwortlichen im Erziehungsministerium sich dem Wandel nicht länger ver-
schließen konnten.
Dem Historiker und Schulbuchautor Jorge Orlando Melo zufolge ist der Ge-
schichtsunterricht an öffentlichen und privaten Schulen daher spätestens seit
Mitte der 80er Jahre keiner Regelung mehr unterworfen. Zwar veröffentlicht das
Erziehungsministerium mit den so genannten
lineamientos curriculares
weiter-
hin Empfehlung über die Struktur und den Inhalt des Unterrichts. Doch sind dies
keine zwingenden Vorgaben.316 Stattdessen verfügen die Schulen über Wahl-
freiheit in Bezug auf das zu verwendende Unterrichtsmaterial, wobei besonders
progressive Bildungseinrichtungen längst von den Zielen der normativ aufgela-
denen
Historia Patria
Abschied genommen haben. In diesen Schulen – die kei-
neswegs repräsentativ sind – ist der Geschichtsunterricht mittlerweile durch die
314
Siehe
Torres Londoño, Fernando/Rodolfo Ramón de Roux.
1984.
Nuestra historia
.
Bogotá: Estudio.
315
Vgl.
Colmenares.
1994, S. 97 f.
316
Interview mit Jorge Orlando Melo, Historiker und ehemaliger Direktor der
Biblioteca
Luis Ángel Arango
(Bogotá), am 5. Juli 2006.
196
196
Kapitel II
Akzeptanz verschiedener Sichtweisen, Interdisziplinarität und kritische Quellen-
lektüre gekennzeichnet.317
Um die gegenwärtige Verarbeitung der
Violencia
im Rahmen des Fachs
Cien-
cias
Sociales
zu analysieren, stütze ich mich im Folgenden auf eine Auswahl der
am häufigsten verwendeten Werke. Dabei wird die Zeitgeschichte Kolumbiens
normalerweise in der fünften Klasse der Primarstufe und in der neunten Klasse
der Sekundarstufe behandelt. Obwohl dies auch den Richtlinien des Erzie-
hungsministeriums entspricht, halten sich nicht alle Schulen an diese Vorgabe.
So wird etwa die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts bisweilen in der
achten Klasse durchgenommen.318 Angesichts des dezentralisierten kolumbiani-
schen Schulsystems ist es mir nicht möglich, einen repräsentativen Überblick zu
geben. Da jedoch die meisten Schulen mit den Texten großer Verlagshäuser wie
Santillana oder Norma arbeiten, sind zumindest Aussagen über die generellen
Tendenzen möglich. Zur Analyse der
Violencia
-Darstellung in der Primarstufe
habe ich mich auf die die Schulbücher
Ciencias Sociales 5
und
Raíces
ge-
stützt.319 Bei den wesentlich komplexeren Darstellungen der Sekundarstufe habe
ich
Ciencas Sociales 9
sowie das Konkurrenzprodukt
Espacios
herangezogen.320
Der auffälligste Unterschied der neuen Schulbücher im Vergleich zur Ge-
schichte von Henao und Arrubla ist die Enttabuisierung problematischer Epo-
chen in der kolumbianischen Geschichte. Obgleich hierbei unterschiedliche
Sichtweisen und Bewertungen feststellbar sind, räumen alle Autoren den Ereig-
nissen des Zeitraums von 1948 bis 1963 einen hohen Stellenwert ein. Unter dem
Einfluss der
Nueva Historia
stehend, beschreiben sie die
Violencia
als ein multi-
dimensionales und multikausales Phänomen, dessen Folgen noch immer spürbar
seien.
Dennoch sind der Autorin von
Ciencias Sociales 5
, Fanny Cecilia Gómez de
Baruffol, manche Aussagen und Bewertungen zu unkritisch geraten, wenngleich
317
Vgl.
Gómez, Jairo Humberto.
2003. Los estándares curriculares en Sociales. La for-
mación de sujetos sociales en la escuela. In:
Educación y Cultura
, Nr. 63 (Juni, Bogotá), S. 39
ff.
318
Interview mit Darío Campos Rodríguez, Historiker an der
Universidad Nacional de
Colombia
(Bogotá), am 27. April 2007.
319
Siehe
Gómez de Baruffol, Fanny Cecilia.
1999.
Ciencias Sociales 5
. Bogotá: Santi-
llana u.
Melo, Jorge Orlando/Gonzalo Díaz Rivero.
1989.
Raíces. Quinto curso de ense-
ñanza básica primera
. Bogotá: Libros & Libres.
320
Siehe
Lavacude Parra, Kenny.
1999.
Ciencias Sociales 9
. Bogotá: Santillana u.
Var-
gas
Poo, Martín Eduardo/Claudia Alicia Rodríguez.
2001.
Espacios 9: historia y geograf-
ía
. Bogotá: Norma.
197
Geschichtspolitik seit 1957
197
sie sämtliche Erscheinungsformen der
Violencia
abzudecken versucht. So geht
das fünfte Kapitel des Buches nacheinander auf die Ursprünge der
Violencia
,
das Paradoxon des gleichzeitigen wirtschaftlichen Aufschwungs, Aspekte des
täglichen Lebens sowie auf den Dialog als wichtigstes Mittel der Konfliktlösung
ein. Die Beschreibung des Bürgerkrieges, den die Autorin auf die Zeit von 1948
bis 1958 datiert, hält sich zwar an alle bekannten Fakten; Bewertungen und
Interpretationen der Ereignisse nimmt sie jedoch höchst selten vor. Anstatt bei-
spielsweise in deutlichen Worten die Rolle von Laureano Gómez zu problemati-
sieren, ist lediglich von einem "energischen Politiker" die Rede, der sich sehr
auf die Streitkräfte verlassen habe.321 Einzig Putschgeneral Rojas Pinilla erfährt
deutliche Kritik, indem er relativ unzweideutig als populistischer Diktator mit
ausgeprägter Negativbilanz präsentiert wird. Am Ende steht auch hier die These
von der "breiten" Volksbewegung, die seinen Sturz bewirkt habe.322 Obwohl die
zahlreichen Todesopfer des Bürgerkrieges angesprochen werden, erfolgt an kei-
ner Stelle eine direkte Schuldzuweisung. Die drastischen Folgen der bewaffne-
ten Auseinandersetzung veranschaulicht Gómez de Baruffol hingegen an einem
makaberen Beispiel, dass in einem völlig anderen Kontext steht. In einem Ab-
schnitt zur Entwicklung des Radsports in Kolumbien heißt es:
También por esta época, en 1951, salió de Bogotá la Primera Vuelta a Colombia en Bicicleta,
en la cual los ciclistas, además de tener que pedalear por las carreteras destapadas y en mal
estado, debían pasar por zonas de riesgo, donde había numerosos muertos a causa de la Vio-
lencia.323
Wer für diese Toten am Straßenrand verantwortlich war, bleibt jedoch im
Dunkeln. Auch die Bewertung von Laureano Gómez als Advokat des "Friedens"
erinnert stark an die Beschreibung bei Henao und Arrubla:
El 7 de agosto de 1950 se posesionó como presidente de la república. A pesar de que sólo
gobernó algo más de un año, hasta el 5 de noviembre de 1951, adelantó una importante ges-
tión en obras públicas y campañas de salud. Posteriormente jugó un papel muy importante en
la pacificación del país, creando, con la participación de los líderes liberales, el Frente Nacio-
nal.324
Was die in
Ciencias Sociales 5
dargebotene Darstellung der
Violencia
indes
deutlich von der "offizialistischen" Version früherer Tage abhebt, ist einmal die
321 Vgl.
Gómez de Barrufol.
1999, S. 65.
322
Vgl. ebd., S. 68.
323
Ebd., S. 70.
324
Ebd., S. 72.
198
198
Kapitel II
Anerkennung des Phänomens als einer besonders düsteren Epoche. Des Weite-
ren verzichtet Gómez de Baruffol aber auch auf die "klassischen" konservativen
Thesen, wie etwa den Kommunismus-Vorwurf oder die Rede von den "barbari-
schen Volksmassen", genauso wie auf die "linke" Überzeugung einer "vereitel-
ten Revolution". Stattdessen handelt es sich um eine rein ereignisgeschichtliche
Erzählung, wobei sie in keiner Weise tiefere Zusammenhänge offenlegt. Zur
Verteidigung der Autorin sei allerdings gesagt, dass eine allzu komplexe Dar-
stellung der
Violencia
die Schüler einer fünften Klasse womöglich überfordert
hätte. Außerdem handelt es sich im Vergleich zur Geschichte von Henao und
Arrubla immerhin um einen Text ohne faktische Fehler und ideologische Vorur-
teile. Daneben beleuchtet die Autorin auch die Perspektive der unteren und mitt-
leren Schichten, deren Lebenswirklichkeit sie im Sinne einer "Alltagsgeschich-
te" präsentiert.
Im Gegensatz zur sehr ausführlichen Beschreibung der
Violencia
in
Ciencias
Sociales 5
(18 Seiten) präsentiert das Konkurrenzprodukt
Raíces
der Autoren
Jorge Orlando Melo und Gonzalo Díaz Rivero das Thema auf weniger als sieben
Seiten. Obwohl sie auf zahlreiche Daten und Namen verzichten, handelt es sich
insgesamt doch um eine sehr reflektierte Darstellung. Besonders interessant ist,
dass die Autoren auch auf den Prozess der historischen Rekonstruktion selbst
eingehen und in einem Kapitel über den "Beruf des Historikers" auf den kriti-
schen Umgang mit Quellen verweisen.325 Wenngleich sich die wiedergegebenen
Fakten kaum von denen in
Ciencias Sociales 5
unterscheiden, geht die Darstel-
lung von Melo und Díaz Rivero über eine rein ereignisgeschichtliche Erzählung
hinaus. An mehreren Stellen bewerten und interpretieren sie die historischen
Ereignisse, wobei sie insbesondere das Tabu einer Entpolitisierung der
Violencia
brechen. So wird beispielsweise in deutlichen Worten der repressive Charakter
des autokratischen Regimes von Laureano Gómez herausgestellt:
Su gobierno tampoco pudo controlar la violencia, pues trató de hacerlo mediante la simple
represión de la guerrilla y sin permitir a los liberales gozar de sus derechos. Como el 'enemi-
go' era el liberalismo, del que se decía que estaba aliado al protestantismo y al comunismo,
había que acabar con él. El gobierno intentó entonces hacer una reforma constitucional, para
garantizar que el país no fuera nunca a quedar en manos de liberales, ateos o comunistas.326
In gleicher Weise legen die Autoren die Gewalt "von oben" offen, wie sie sich
während des
bogotazo
und in der Phase der Militärdiktatur äußerte. Lediglich
325 Vgl.
Melo/Díaz Rivero.
1989, S. 103.
326
Ebd., S. 104.
199
Geschichtspolitik seit 1957
199
bei der Schilderung des Endes der Herrschaft von Rojas Pinilla greifen auch sie
zum Topos von der "breiten" Volksbewegung. Demnach habe ein Aufstand "al-
ler sozialer Gruppen" den Diktator zu Fall gebracht.327 Viel zu oberflächlich
fällt weiterhin die Bewertung des
Frente Nacional
aus. Mit keinem Wort gehen
die Autoren auf die negativen Konsequenzen der sozialen und politischen Ex-
klusion ein. Stattdessen betonen sie die friedensstiftende Rolle der traditionellen
Parteien.328 In inhaltlicher Hinsicht gleichen sich beide Schulbücher für die
fünfte Klasse recht stark, wobei in
Raíces
manche Ereignisse kritischer beurteilt
werden. Insgesamt halten sie sich jedoch an die wissenschaftlich ermittelten
Fakten und vermeiden eindeutige Schuldzuweisungen. Von einer Tabuisierung
der
Violencia
– wie dies in der
Historia de Colombia
der Fall war – kann daher
keine Rede sein.
Von diesen beiden noch stark ereignisgeschichtlich orientierten Darstellungen
heben sich die in der Sekundarstufe verwendeten Texte deutlich ab. So bemühen
sich die Autoren von
Ciencias Sociales 9
ebenso wie die Verfasser von
Espacios
um eine tiefergehende Interpretation der
Violencia
. Vor allem die Frage der
Verantwortung der Eliten wird nicht länger ausgeklammert. Beispielsweise
zeichnet der Autor von
Ciencias Sociales 9
, Kenny Lavacude Parra, ein eindeu-
tig negatives Bild von Laureano Gómez, dem er einen Großteil der Schuld an
der Ausweitung der Gewalt zuspricht. Durch die Politisierung der Armee und
der Polizei habe der "radikale und uneinsichtige" Gómez die Gewalt auf dem
Land noch angeheizt. In diesem Zusammenhang spricht Lavacude Parra mehr-
mals von "offizieller" Gewalt, die er als einen der Hauptauslöser des Bürger-
krieges betrachtet. Den Beginn der
Violencia
schildert er folgendermaßen:
La Violencia se inició durante la presidencia de Ospina Pérez en las zonas rurales, como un
enfrentamiento entre liberales y conservadores. Poco después se tomó las ciudades con una
nueva característica: las autoridades, que hasta entonces la habían tolerado, pasaron a tomar
partido. Su actitud se manifestó en la represión contra el movimiento sindical y sus líderes,
dirigidos y protegidos por los liberales.329
Der Autor streicht jedoch nicht nur den offiziellen Charakter der Gewalt he-
raus, sondern verweist zugleich auf die unterschiedlichen Reaktionen in der Be-
völkerung. Im Gegensatz zu früheren Darstellungen zeichnet er dabei ein diffe-
renziertes Bild der verschiedenen sozialen Gruppen, das weit entfernt von der
327 Vgl. ebd., S. 106.
328
Vgl. ebd., S. 107.
329
Lavacude Parra.
1999, S. 172.
200
200
Kapitel II
Beschreibung einer amorphen "Volksmasse" ist. Daneben bricht er auch mit der
Mythisierung der Figur von Jorge Eliécer Gaitán, indem er dem liberalen Führer
"populistische Tendenzen" bescheinigt.330 Die konservative Lesart des
bogotazo
als eine Verschwörung des "internationalen Kommunismus" entlarvt er weiter-
hin als ein ideologisches Konstrukt, das nur im Kontext des Kalten Krieges zu
verstehen sei.331 Bei der sich anschließenden Schilderung der
Violencia
, die von
1948 bis 1953 in ihre schlimmste Phase eingetreten sei, spart er nicht mit Kritik
an den verantwortlichen Eliten. Im Text werden insbesondere die Unterstützung
des Führungszirkels der Liberalen Partei sowie die Rekrutierung der
chulavitas
und
pájaros
durch die Konservativen thematisiert. In diesem Zusammenhang
weist der Autor auch auf den Einsatz von Kindersoldaten hin, der noch heute
eines der erschreckendsten Merkmale des kolumbianischen Konflikts sei.332
Zahlreiche Karten, Fotos und Illustrationen veranschaulichen zusätzlich die
Entwicklung und geografische Verbreitung der
Violencia
, die auch in ihren re-
gionalen Besonderheiten und in ihrem sozioökonomischen Kontext erklärt wird.
Während sich seine Darstellung der
Violencia
bereits durch Komplexität und
Multikausalität auszeichnet, geht Lavacude Parra gegen Ende des Kapitels auch
auf die kulturellen Folgen des Konflikts ein. Damit unterscheidet er sich sogar
von vielen akademischen Studien, in denen das Phänomen der
Violencia
zumeist
ohne klaren Gegenwartsbezug analysiert wird. Unter Verweis auf die lange
"Tradition" der Bürgerkriege in Kolumbien betrachtet der Autor die
Violencia
als Teil einer endlosen Gewaltkette, womit er sich als Vertreter der "Kontinui-
tätsthese" erweist. Für besonders besorgniserregend hält er in diesem Zusam-
menhang die Herausbildung einer "Gewaltkultur":
Durante el siglo XIX en Colombia se produjeron ocho guerras civiles generales, cerca de 14
guerras civiles regionales, dos guerras internacionales y tres golpes de Estado. Además este
siglo terminó con la sangrienta guerra civil de los Mil Días. Con nuevos actores, nuevos esce-
narios y nuevos problemas, la violencia que venía desde el siglo anterior se recrudeció a lo
largo del siglo XX. El permanente estado de violencia invadió el ámbito de la cotidianidad y
de la cultura.333
Eine etwas stärkere Gewichtung als in
Ciencias Sociales 9
(acht Seiten) er-
fährt das Thema der
Violencia
im Konkurrenzprodukt
Espacios
(13 Seiten). Zu-
330 Vgl. ebd., S. 172.
331
Vgl. ebd.
332
Vgl. ebd., S. 173.
333
Ebd., S. 176.
201
Geschichtspolitik seit 1957
201
nächst unterscheidet sich diese Darstellung jedoch durch ihre ungewöhnliche
Periodisierung von den anderen Schulbüchern. Martín Eduardo Vargas Poo und
Claudia Alicia Rodríguez zufolge habe die
Violencia
bereits 1945 begonnen und
sei erst im Jahre 1965 zu Ende gegangen. Darüber hinaus habe der Konflikt
nicht 200.000, sondern mehr als 300.000 Menschenleben gefordert.334 Obgleich
weder die Zahl der Opfer, noch die Periodisierung der
Violencia
mit dem Groß-
teil der akademischen Forschung im Einklang stehen, halten sich die Autoren
von
Espacios
in den folgenden Abschnitten dennoch an die wissenschaftlich er-
mittelten Fakten. In diesem Sinne stellen sie bereits zu Beginn des Kapitels zur
Violencia
klar, dass der von den Konservativen kontrollierte Staatsapparat und
die Großgrundbesitzer maßgeblich für die Ausweitung der Gewalt verantwort-
lich waren:
Esto significa que la violencia de mediados de siglo fue una mezcla de la persecución política
de los conservadores hacia los campesinos liberales y comunistas, por medio del aparato esta-
tal, y del desplazamiento forzoso a que fueron sometidos los campesinos por parte de latifun-
distas, que buscaban afanosamente aumentar sus tierras para el cultivo, principalmente del
café. 335
Bei der Schilderung der Figur Gaitáns verweisen die Autoren zudem auf ei-
nen weiteren Faktor der
Violencia
, der bislang eher ausgeklammert wurde: den
Rassismus der Eliten. Demnach hätten konservative und liberale Politiker den
linksliberalen
caudillo
nicht nur wegen seiner antioligarchischen Rhetorik abge-
lehnt:
Sin embargo, Gaitán no era reconocido por la vieja clase política del partido, que lo veía co-
mo un hombre mestizo, apodado mal intencionadamente como 'el negro', que no representaba
los intereses de la clase gobernante de la cual no era integrante. Gaitán era visto como un de-
magogo que peligrosamente aglutinaba el pueblo.336
Ein besonders auffälliger Unterschied zwischen
Espacios
und der "offizialis-
tischen"
Historia de Colombia
von Henao und Arrubla tritt weiterhin bei der
Beschreibung des
bogotazo
zu Tage. Während die der
Academia Colombiana de
Historia
nahestehenden Historiker die negative Rolle der
chulavitas
bewusst
unterschlagen und stattdessen von "Truppen zur Aufrechterhaltung der Ord-
nung" sprechen, gehen die Autoren von
Espacios
detailliert auf die Verbrechen
334 Vgl.
Vargas Poo/Rodríguez.
2001, S. 110.
335
Ebd.
336
Ebd., S. 111.
202
202
Kapitel II
der konservativen "Spezialpolizei" ein. Im Abschnitt zum 9. April heißt es über
die aus Boyacá anrückenden Verbände:
Los chulavitas pasaron a la historia del país como protagonistas, especialmente macabros, a la
hora de asumir nuevamente el control de las regiones liberales que se sublevaron después del
9 de abril. El Gobierno conservador encontró en ellos la mejor arma de represión oficial. Su
accionar se caracterizó por el ataque sistemático de regiones liberales, utilizando la masacre
como elemento para crear terror, impidiendo cualquier defensa y, en últimas, propiciando el
desplazamiento forzoso.337
Doch nicht nur im Hinblick auf die Verantwortung der Eliten, sondern auch
bezüglich des Widerstands von links bieten die Autoren eine ausgesprochen dif-
ferenzierte Darstellung. Denn anstatt ausschließlich den Einfluss des Kommu-
nismus für das Entstehen der linksgerichteten Guerilla verantwortlich zu ma-
chen, stellen sie die staatliche Repression in den Mittelpunkt ihrer Argumentati-
on. Demnach hätten erst die gewaltsamen Aktionen der Regierungstruppen so-
wie die Entsendung konservativer Banden sozialistischen Ideen den Boden be-
reitet. Auch die nachfolgende Regierung von Rojas Pinilla habe durch ihre mili-
tärischen Strafaktionen wesentlich dazu beigetragen, den kolumbianischen Bin-
nenkonflikt zu verschärfen und in noch höherem Maße zu politisieren.338
Rojas’ Militärregierung sei indes nicht von einer "breiten" Volksbewegung,
sondern von einflussreichen
pressure groups
und den politischen Eliten zu Fall
gebracht worden. Demnach sei der Protest im Mai 1957 im Wesentlichen von
den Wirtschaftsverbänden, den Banken, den Studenten und den Parteien getra-
gen worden.339 Obwohl sich die Autoren kritisch mit den unter Rojas begange-
nen Menschenrechtsverletzungen, der Einschränkung der Meinungsfreiheit oder
der Verfolgung politischer Gegner auseinandersetzen, weisen sie auch auf die
Leistungen seines Regimes hin. Denn immerhin habe der General das Land in
technischer und institutioneller Hinsicht modernisiert, den Frauen das Wahlrecht
zugestanden und durch Sozialprogramme die Lage der Ärmsten verbessert.340
Genauso differenziert wie die Bewertung der Militärdiktatur fällt schließlich
auch die Einschätzung des
Frente Nacional
aus. Im Vergleich zu den anderen
Schulbüchern, in denen durchweg die positiven Folgen des Zwei-Parteien-
Paktes unterstrichen werden, ist dies ebenfalls außergewöhnlich. So bezieht sich
337 Ebd., S. 112.
338
Vgl. ebd., S. 113.
339
Vgl. ebd., S. 114.
340
Vgl. ebd.
203
Geschichtspolitik seit 1957
203
die Elitenkritik in
Espacios
nicht nur auf die Zeit der konservativen Alleinherr-
schaft bzw. der Militärregierung, sondern explizit auch auf das alternierende
System, das als Quelle neuer Probleme identifiziert wird:
El reparto burocrático del Estado y la alternancia en el poder durante 16 años garantizaron
algún grado de estabilidad política al sistema institucional colombiano. Pero al legitimar un
sistema en el cual sólo tenían cabida los liberales y los conservadores, se implementó un mo-
delo de democracia restringida, que terminó con la apropiación de los recursos estatales en
beneficio de una minoría política.341
Ebenfalls in höherem Maße als in den meisten anderen Schulbüchern gehen
die Autoren von
Espacios
auchauf diejenigen Akteure ein, die sich während des
Frente Nacional
in der Opposition befanden. Neben den diversen Linksparteien
und der populistischen ANAPO beschreiben sie insbesondere die Genese der
Guerillaorganisationen FARC und ELN, wobei sie auf den Zusammenhang zwi-
schen der historischen
Violencia
und den aktuellen
violencias
hinweisen.342 In-
sgesamt betrachtet handelt es sich also um ein Schulbuch, das sowohl in didakti-
scher als auch in inhaltlicher Hinsicht geradezu vorbildlich ist. Die knapp und
verständlich gehaltenen Texte gehen differenziert auf die Positionen der ver-
schiedenen Akteure ein, betonen die historische Verantwortung der Eliten und
bemühen sich um eine Sicht "von unten". Hinzu kommen zahlreiche Sonderspal-
ten, in denen bestimmte Begriffe oder historische Zusammenhänge anhand von
Quellen erklärt werden. Das verwendete dokumentarische und graphische Mate-
rial ist ebenfalls hervorragend ausgewählt und steht immer in einem komple-
mentären Verhältnis zum Text.
5.4 Der Bürgerkrieg im staatlichen Museum
Im Gegensatz zu der reflektierten und ausführlichen Behandlung der
Violencia
in den heutigen Schulbüchern weist die Präsentation des Themas im staatlichen
Museo Nacional
zahlreiche Defizienzen und Lücken auf. Denn während die Er-
kenntnisse der
Nueva Historia
mittlerweile auch vom Erziehungsministerium
und den meisten Schulleitern akzeptiert werden, orientiert sich die Geschichts-
darstellung im Nationalmuseum noch immer stark an den konservativen Vorstel-
lungen der
Historia Patria
. Aufgrund der ursprünglichen Konzeption des Mu-
341 Ebd., S. 117.
342
Vgl. ebd., S. 119 ff.
204
204
Kapitel II
seums, das kurz nach der Konsolidierung der Unabhängigkeit im Jahre 1823
entstand, liegt der Schwerpunkt der historischen Sammlung auf dem 19. Jahr-
hundert und der Kolonialzeit.343 Im Jahre 1946 zog das Museum auf Weisung
der konservativen Regierung schließlich in das Gebäude des so genannten
panóptico
um, eines ehemaligen Gefängnisses im Zentrum von Bogotá. Mit Be-
ginn der
Violencia
hatte sich die Regierung dazu entschlossen, der rapiden Zu-
nahme von Gewaltverbrechen mit dem Bau einer modernen Haftanstalt in den
Außenbezirken der Hauptstadt zu begegnen. Angesichts der zunehmend entideo-
logisierten Gewalt der
bandoleros
erwies sich jedoch auch diese Maßnahme als
unzureichend, so dass die Regierung von Alberto Lleras im Jahre 1959 ein
Hochsicherheitsgefängnis auf der Pazifikinsel La Gorgona errichtete.344
Nachdem das
Museo Nacional
seit seiner Gründung in verschiedenen Räum-
lichkeiten untergebracht war, wobei die historischen, archäologischen, künstleri-
schen und naturkundlichen Sammlungen mehrmals getrennt bzw. fusioniert
wurden, fand es schließlich in den Räumen des
panóptico
seinen definitiven
Sitz. Die offizielle Eröffnung des Museums war jedoch ausgerechnet für den 9.
April 1948 geplant. Aufgrund der bürgerkriegsähnlichen Zustände in der Haupt-
stadt mussten die Verantwortlichen im Kulturministerium den Termin dann auf
den 2. Mai verschieben. Dass die Gründung des Nationalmuseums in seiner heu-
tigen Form mit den Vorgängen des 9. April zusammenfiel, erklärt in gewisser
Weise auch die Reduktion der
Violencia
auf das Ereignis des
bogotazo
. Denn
obwohl die Museumsleitung bereits in den 60er Jahren beschlossen hatte, den
historischen Teil des
Museo Nacional
nachträglich um zeitgeschichtliche Expo-
nate zu erweitern, ist das 20. Jahrhundert bis heute unterrepräsentiert. Die
Dauerausstellung zur Zeitgeschichte umfasst lediglich einige oberflächliche
Schautafeln und Fotos, die sich in inhaltlicher Hinsicht vom "Krieg der Tausend
Tage" bis zum 9. April 1948 erstrecken.345
Erst im letzten Raum der Abteilung finden sich indirekte Hinweise auf die
Violencia
, wobei das düsterste Kapitel der kolumbianischen Geschichte jedoch
343
Im Folgenden stütze ich mich auf
Pastrana, Andrés/Enrique Pulecio
(Hgg.). 1989.
Museos de Bogotá
. Bogotá: Villegas, S. 13 f. sowie den geschichtlichen Überblick auf der
Homepage des
Museo Nacional
: http://www.museonacional.gov.co/historia_del_museo.html
(27. Januar 2008).
344
Ausführlicher beschreibt dies
Sánchez.
1988.
345
Siehe
Ministerio de Cultura.
1999.
Agenda para la construcción del plan estratégico
2000–2010
:
bases para el Museo Nacional del futuro.
Bogotá: Museo Nacional de Colombia,
S. 11–47.
205
Geschichtspolitik seit 1957
205
niemals explizit angesprochen wird. Zwei großformatige Bilder der Maler Ale-
jandro Obregón und Débora Arango, auf deren Werk ich im dritten Teil der Ar-
beit zu sprechen komme, lassen das gewalttätige Klima der Epoche allerdings
erahnen. Ansonsten beherbergt der Raum ein Porträt von Laureano Gómez, der
als einer der Verantwortlichen für den Umzug und die Neugründung des Natio-
nalmuseums gewürdigt wird. Vermutlich aufgrund dieser Tatsache, der auch
eine steinerne Inschrift im Eingangsbereich des Museums Rechnung trägt, findet
Gómez’ Rolle während der
Violencia
keine Erwähnung. Weiterhin enthält der
Raum eine Fotostrecke mit erklärenden Texten zum Verlauf des
bogotazo
, die
im Wesentlichen auf dem Buch
The
Assassination of Gaitán
des US-Historikers
Herbert Braun basieren.346 In einem in die Wand eingelassenen Glaskasten ist
ferner die Totenmaske von Jorge Eliécer Gaitán ausgestellt, der ebenfalls mit
einem überdimensionalen Porträt sowie verschiedenen seiner Reden auf Ton-
band vertreten ist. In der Mitte des Raumes befindet sich schließlich eine Vitri-
ne, in der ungefähr ein Dutzend miteinander verschmolzener Metallfragmente
von etwa fünf Zentimeter Größe lagern. Dabei handelt es sich um die vom Feuer
deformierten Reste einiger Medaillen (
Cruz de Boyacá
), die nach dem
bogotazo
unter den Trümmern eines ausgebrannten Verwaltungsgebäudes gefunden wur-
den. Nichtsdestotrotz geht die angebrachte Schautafel lediglich in einem kurzen
Satz und indirekt auf die
Violencia
ein. Unter Bezugnahme auf die Ermordung
Gaitáns heißt es: "Su muerte y los acontecimientos que la sucedieron marcan el
hito más importante y trágico de la historia del siglo XX en Colombia."
Mit dieser knappen Darstellung zu den Ereignissen rund um den 9. April 1948
ist der zeitgeschichtliche Teil des Nationalmuseums abgeschlossen. Die Epoche
des Bürgerkrieges, der nicht einmal begrifflich als
La Violencia
Erwähnung fin-
det, bleibt dabei ausgeklammert. Wie mir die für die Abteilung
Arte e Historia
zuständige Kuratorin Cristina Lleras in einem Interview anvertraute, wird sich
an diesem Tatbestand auch in den nächsten Jahren nichts ändern.347 Obwohl die
Regierung mittlerweile beschlossen hat, das zu klein gewordene Museum bis
zum Jahre 2018 auszubauen, gibt es keine konkreten Pläne für eine Erweiterung
des zeithistorischen Teils.348 So ist zwar angedacht, in den bestehenden Ausstel-
346 Siehe
Braun.
1985.
347
Interview mit Cristina Lleras, Kuratorin der Abteilung
Arte e Historia
des
Museo Na-
cional de Colombia
(Bogotá), am 16. August 2006.
348
Siehe hierzu
Ministerio de Cultura.
2002.
Plan estratégico 2001–2010: "Bases para
el Museo Nacional del futuro"
. In: http://www.museonacional.gov.co/plan_estrategico.pdf
(27. Januar 2008).
206
206
Kapitel II
lungsteilen in Zukunft verstärkt die Perspektive marginalisierter Bevölkerungs-
teile wie der Afrokolumbianer oder der
indígenas
zu integrieren. Eine dauerhaf-
te Präsentation der
Violencia
ist jedoch nicht zu erwarten. Zwar ist das Natio-
nalmuseum in erster Linie ein Ort der nationalen Identitätsstiftung. Das Funda-
ment dieser angeblichen Identität beruht jedoch noch immer zum größten Teil
auf den "heldenhaften" Taten der Gründerväter. Gonzalo Sánchez zufolge ist es
für die politischen Eliten bis heute unvorstellbar, auch die
Violencia
bzw. die
aus ihr resultierenden Konflikte der Gegenwart als einen Teil der nationalen
Identität anzuerkennen.349
Abb. 4: Gaitáns Totenmaske im
Museo Nacional
(Fotografie im Privatbesitz des Autors).
349
Interview mit Gonzalo Sánchez, Historiker an der
Universidad Nacional de Colombia
(Bogotá), am 5. Juni 2006.
207
Geschichtspolitik seit 1957
207
Es verwundert daher kaum, dass das Thema mit Ausnahme gelegentlicher
Wechselausstellungen auf nationaler Ebene kaum museale Beachtung findet –
und zwar in keinem einzigen der zwölf staatlichen Museen. Obwohl historische
Dokumente, Fotos, Objekte oder Zeitzeugenberichte zur
Violencia
in großer
Zahl vorliegen, ist das staatliche Interesse an einer museumsdidaktischen Aufbe-
reitung des Bürgerkriegs sehr gering. Für diese Lücke dürften in erster Linie
zwei Faktoren verantwortlich sein: Zum einen ist anzunehmen, dass den Eliten
nur wenig daran liegt, die negative Rolle ihrer Vorfahren ins Licht der Öffent-
lichkeit zu rücken. Zum anderen erschwert der anhaltende Binnenkonflikt in zu-
sätzlicher Weise eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema; noch
immer ist die
Violencia
in mancherlei Weise präsent. So berichtete die Tageszei-
tung
El Tiempo
kürzlich, dass es sich bei vielen der heutigen Guerilleros um die
Nachkommen der damaligen
bandoleros
handeln würde.350 Im Falle des Gueril-
la-Kommandanten Manuel Marulanda Vélez, der am 26. März 2008 an einem
Herzinfarkt starb, ist sogar eine direkte Verbindung zur
Violencia
gegeben. Un-
ter dem Kampfnamen "Tirofijo" machte der berühmt-berüchtigte Anführer der
FARC nämlich bereits in den 50er Jahren von sich reden.351
Aufgrund solcher angenommenen und tatsächlichen Kontinuitäten ist es für
viele Kolumbianer nur schwer vorstellbar, die
Violencia
als etwas Abgeschlos-
senes, als "Geschichte" zu betrachten. Auch wenn Historiker immer wieder be-
tonen, dass es sich bei dem Bürgerkrieg der 1950er Jahre und dem Konflikt der
Jetztzeit um zwei voneinander getrennt zu analysierende Phänomene handelt, ist
diese Einsicht beim breiten Publikum nicht angekommen.352 Dies lässt zumin-
dest ein Blick auf die gegenwärtige Literatur-, Theater-, Film- und Kunstland-
schaft vermuten, mit der ich mich im dritten Kapitel dieser Arbeit beschäftige.
Obwohl die
Violencia
im Nationalmuseum fehlt, ist das Thema zumindest in
einigen Wechselausstellungen sporadisch behandelt worden. So fanden immer
wieder kleinere Ausstellungen in den Räumlichkeiten des Nationalmuseums
oder dem gegenüberliegenden Museumskomplex des
Banco de la República
350 Vgl.
El Tiempo
vom 13. April 2007.
351
Zur Lebensgeschichte von Manuel Marulanda Vélez, der mit richtigem Namen Pedro
Antonio Marín hieß, siehe
Alape.
1989.
352
Als entschiedener Gegner der "Kontinuitätsthese" hat z. B. Daniel Pécaut mehrfach
darauf hingewiesen, wie durch die Massenmedien, aber auch durch die Essays und Romane
mancher Intellektueller eine ahistorische und antichronologische Sichtweise der Konfliktent-
wicklung entstanden sei. Aus diesem Grunde würde viele Kolumbianer ihre Geschichte heut-
zutage als unerklärliche "Serie von Katastrophen" begreifen. Vgl.
Pécaut.
2003, S. 129 ff.
208
208
Kapitel II
statt, die zumindest am Rande auf die
Violencia
eingingen. In der Regel wurde
das Thema jedoch im Rahmen des
bogotazo
behandelt, wie zuletzt vom 10. Ap-
ril bis zum 3. Juni 2007 unter dem Titel
Memorias de El Bogotazo
. Bei dieser
zum Gedenken an den kürzlich verstorbenen Schriftsteller Arturo Alape im Na-
tionalmuseum gezeigten Foto-Ausstellung spielten die Folgen sowie die Vorbe-
dingungen des 9. April ebenfalls eine untergeordnete Rolle. Der Schwerpunkt
lag auch hier auf den Ereignissen in der Hauptstadt sowie auf Alapes Buch
El
Bogotazo: memorias del olvido
, auf das ich im folgenden Kapitel ausführlicher
eingehe.353
Daneben war das Thema der
Violencia
auch im Rahmen der Würdigung der
Lebensleistung von Alberto Lleras präsent, der im Jahre 2006 seinen hundert-
sten Geburtstag gefeiert hätte. Die temporären Ausstellungen im Nationalmu-
seum (Juli/August 2006) sowie in den Räumlichkeiten der öffentlichen
Bibliote-
ca Luis Ángel Arango
(Oktober 2006–Januar 2007) gingen daher sehr oberfläch-
lich und knapp auf die Bekämpfung der
Violencia
unter dem
Frente Nacional
ein. Mit den Ursprüngen und Charakteristika des Konflikts hielten sich die Aus-
stellungsmacher jedoch nicht auf. Ausführlicher behandelte das Phänomen der
Violencia
bislang nur die großangelegte Schau
Tiempos de Paz
im Nationalmu-
seum (August–November 2003). Das zentrale Thema dieses musealen Ereignis-
ses, dem mit etwa 100.000 Besuchern ein recht großer Publikumserfolg beschie-
den war, waren allerdings die zwischen 1902 und 1994 in Kolumbien geschlos-
senen Friedensverträge und Amnestieabkommen.354
Um die verbreitete These von der Existenz einer endemischen Gewaltkultur
sowie die von manchen
violentólogos
formulierte "Kontinuitätsthese" zu ent-
kräften, hatten sich im Jahre 2002 mehrere Akademiker, Intellektuelle, Politiker
und Kulturschaffende zu einem Kolloquium in der
Biblioteca Luis Ángel Arango
zusammengefunden. Aus dieser Veranstaltung resultierte die Konzeption der
Ausstellung
Tiempos de Paz
, die anhand von Fotografien, Objekten, Dokumen-
ten und Zeitzeugenberichten einen Beleg für die "friedliche Tradition" Kolum-
biens liefern sollte. Im einleitenden Text des Ausstellungskatalogs hieß es dazu:
El Museo Nacional de Colombia se une a la Alcaldía para 'afianzar en la mentalidad de los
colombianos de hoy la idea de que, si bien ha habido tiempos de guerra claramente identifica-
bles en la historia nacional, no son menos perceptibles en ella los tiempos de paz. Aportar, a
353 Siehe
Alape.
1983.
354
Hierzu
Museo Nacional de Colombia (Hg.).
2003.
Tiempos de Paz. Acuerdos en Co-
lombia, 1902–1994
. Bogotá: Alcaldía Mayor de Bogotá.
209
Geschichtspolitik seit 1957
209
la luz de las lecciones de la historia, la búsqueda de soluciones al actual conflicto armado y a
la aclimatación entre los ciudadanos del diálogo y la concertación para dirimir los conflictos y
procesar las diferencias.'355
Bereits während des Kolloquiums, an dem einige der führenden
violentólogos
des Landes teilnahmen, war es diesbezüglich jedoch zu Meinungsverschieden-
heiten gekommen. Nicht alle Teilnehmer vertraten nämlich die These der Initia-
toren, der zufolge das 20. Jahrhundert in Kolumbien überwiegend von Frieden
und relativer Harmonie gekennzeichnet war. Für die Gegner dieser Ansicht war
es schwer nachvollziehbar, wie die "friedliche" Phase von 1902 bis 1946 (mit
Ausnahme der so genannten
masacre de las bananeras
356 im Jahre 1928 sowie
der heftigen Zusammenstöße zwischen konservativen und liberalen Kampfgrup-
pen zu Beginn der 30er Jahre) als repräsentativ für das gesamte 20. Jahrhundert
gelten sollte. Sie verwiesen stattdessen darauf, dass seit Beginn der
Violencia
ohne Pause gekämpft worden sei, wenngleich sich der Charakter des Binnen-
konflikts über die Jahre hinweg verändert habe. 357
In der Ausstellung erschien die
Violencia
schließlich nur am Rande. Die Be-
tonung lag hingegen auf den verschiedenen Amnestiegesetzen und "Befrie-
dungsmaßnahmen", die von den Ausstellungsmachern überwiegend positiv be-
wertet wurden. In einem einleitenden Text zur Würdigung des
Frente Nacional
wies der Historiker Fernán González beispielsweise darauf hin, dass das alter-
nierende System oftmals zu Unrecht mit politischer Exklusion gleichgesetzt
worden sei. Seiner Meinung nach habe es sich bei dem eliteninternen Pakt um
ein getreues Spiegelbild der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse gehan-
delt:
En ese sentido, la percepción del régimen del Frente Nacional como un pacto entre oligarqu-
ías, cerrado y excluyente, ha sido aducida como responsable del surgimiento de grupos arma-
dos más radicales, sin tener en cuenta hasta qué punto este sistema compartido de gobierno
sólo estaba reflejando la sociedad jerarquizada y cerrada donde había nacido.358
355
Ebd., S. 15.
356
Am 6. Dezember 1928 eröffneten kolumbianische Soldaten das Feuer auf streikende
Arbeiter einer Bananenplantage der
United Fruit Company
in dem karibischen Ort
Ciénaga
.
Bis heute ist nicht geklärt, wie viele Menschen bei dem Vorfall tatsächlich starben. Die
Schätzungen reichen von 60 bis hin zu 1000 Todesopfern. Insbesondere aufgrund der my-
thisch überhöhten Darstellung im Roman
Cien años de soledad
(1967) des Nobelpreisträgers
Gabriel García Márquez erlangte das Ereignis nationale und internationale Bekanntheit.
357
Vgl.
Medina, Medófilo/Efraín Sánchez (Hgg.).
2003.
Tiempos de Paz. Acuerdos en
Colombia, 1902–1994.
Bogotá: Alcaldía Mayor de Bogotá, S. 14.
358
Vgl.
Museo Nacional de Colombia.
2003, S. 18.
210
210
Kapitel II
Die von manchen Autoren formulierte Kritik am Ausbleiben sozialer Verän-
derung zu Beginn der 1960er Jahre fasste González in der Folge als "ahisto-
risch" auf. Schließlich sei der
Frente Nacional
nicht als soziales, sondern als
politisches Projekt konzipiert worden. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob
Sozialpolitik im Kolumbien der 50er und 60er Jahre tatsächlich keine Vorläufer
hatte und in keinster Weise dem "Zeitgeist" entsprach, wie der Autor behaup-
tet.359 Denn hatten nicht die vorangegangenen Regierungen von Gustavo Rojas
Pinilla und Alfonso López Pumarejo gewisse Anstrengungen unternommen, die
soziale Frage zu lösen? Wie aus den Schriften von Alberto Lleras ersichtlich
wird, identifizierte selbst der führende Denker des
Frente Nacional
die soziale
Katastrophe auf dem Land als eine der Hauptursachen der
Violencia
.360 Dafür,
dass er und seine Nachfolger kaum Substantielles zur Verbesserung der sozialen
Bedingungen eines Großteils der Bevölkerung beitrugen, waren in erster Linie
mächtige Partikularinteressen sowie ein technokratisches Entwicklungsver-
ständnis verantwortlich. In dem Glauben, dass eine Verbesserung der wirtschaft-
lichen Gesamtlage automatisch positive Effekte auf den ärmsten Teil der Bevöl-
kerung haben würde, irrten sich die Führer des
Frente Nacional
jedoch.
Aufgrund der apologetischen Grundhaltung der Ausstellungsmacher in Bezug
auf den
Frente Nacional
fiel auch die Darstellung der
Violencia
relativ dünn
aus. Obwohl nur wenige Schautafeln auf die gewaltsamen Ereignisse jener Epo-
che eingingen, war das Thema trotzdem präsent. Denn neben Fotografien und
Dokumenten bildeten mehrere Bilder der bereits erwähnten Malerin Débora
Arango den illustrativen Rahmen der Ausstellung. Auf diesen Bildern, die eben-
falls im dritten Abschnitt der Arbeit behandelt werden, sind verschiedene As-
pekte der
Violencia
in teilweise recht drastischer Form dargestellt. Daneben fand
auch das Erscheinen des Buches
La Violencia en Colombia
Erwähnung. Unter
einer Abbildung des Einbands der zweiten Ausgabe hieß es dazu im Ausstel-
359
Vgl. ebd. u.
González, Fernán.
2003. Alcances y limitaciones del Frente Nacional
como pacto de paz. Un acuerdo basado en la desconfianza mutua. In: Medina, Medófi-
lo/Efraín Sánchez (Hgg.). 2003.
Tiempos de Paz. Acuerdos en Colombia, 1902–1994
. Bogotá:
Alcaldía Mayor de Bogotá, S. 226 f.
360
Vgl. z. B.
Lleras.
1976, S. 202 ff. In dieser Ansprache an die "clase campesina" (Feb-
ruar 1959) bedauert Lleras zwar die soziale Notlage der Landbevölkerung, weist aber gleich-
zeitig auf die begrenzten Möglichkeiten des Staates hin. Er fordert stattdessen die Großgrund-
besitzer auf, freiwillig Teile ihres Landes abzugeben. Den Ärmsten empfiehlt er weiterhin, an
Stelle des Staates lieber auf Gott zu vertrauen: "No es, pues, asombroso que ante todas estas
experiencias de dolor y de insania, el mejor programa de gobierno sea, como lo dije y lo repi-
to hoy para todos mis compatriotas del campo colombiano, el ejercicio honesto, sincero y
profundo de la Ley de Dios." Ebd., S. 207.
211
Geschichtspolitik seit 1957
211
lungskatalog: "Este libro se ha convertido en un hito por ser el primer estudio
documental del periodo de La Violencia."361
Insgesamt betrachtet dürfte die Ausstellung
Tiempos de Paz
ihren Zweck,
nämlich Kolumbien als ein überwiegend von Phasen des Friedens gekennzeich-
netes Land zu präsentieren, im Sinne der Veranstalter erfüllt haben. Zur histori-
schen Einordnung sowie zum allgemeinen Verständnis der Thematik wäre es
jedoch sinnvoller gewesen, zunächst die Geschichte der Bürgerkriege ins Mu-
seum zu holen, anstatt mit der Würdigung der Friedensverträge zu beginnen.
Denn so lange einem Großteil der Bevölkerung unklar ist, wo die Wurzeln des
heutigen Konflikts liegen, welche Akteure eigentlich an der
Violencia
beteiligt
waren und warum zwischen 1948 und 1963 mehr als 200.000 Menschen gewalt-
sam starben, werden nur die wenigsten Kolumbianer von der "Kontinuitätsthe-
se" abweichen. Die beharrliche Ausklammerung der "dunklen" Epochen begüns-
tigt hingegen eine verzerrte Geschichtswahrnehmung und dient letztlich nur der
Legitimierung der politischen und sozialen Exklusion. Wie lässt es sich sonst
erklären, dass bei
Tiempos de Paz
die Amnestiegesetze ausschließlich unter dem
Gesichtspunkt der "Friedensstiftung" und der "Wiederherstellung der Ordnung"
behandelt wurden?
Der Zusammenhang zur Gegenwart, in der die Regierung nach langer Diskus-
sion den rechtsgerichteten Paramilitärs ebenfalls eine umfassende Amnestie ge-
währt hat (Oktober 2005), ist meines Erachtens unübersehbar. Damals wie heute
ist jedoch fraglich, ob solche Maßnahmen zum gewünschten Ziel, nämlich ei-
nem dauerhaften und stabilen Frieden, führen können. Denn so wie aus den
marxistischen Widerstandskämpfern der 60er Jahre die "Narco-Terroristen" der
Gegenwart hervorgegangen sind, so hat sich der rechtsradikale Paramilitarismus
der 80er Jahre zum nicht minder bedrohlichen Phänomen der
parapolítica
ge-
wandelt. Auf die komplexen Zusammenhänge zwischen Vergangenheitsaufar-
beitung und demokratischer Transformation werde ich im vierten Kapitel der
Arbeit näher eingehen.
Dass nicht alle Beteiligten des Kolloquiums mit der Hauptthese von
Tiempos
de Paz
einverstanden waren, zeigt besonders ein Beitrag des Historikers Darío
Acevedo Carmona, der in einem separaten Begleitband zum Kolloquium er-
schienen ist. In seinem Aufsatz mit dem Titel
El Pacto de Benidorm o el olvido
como antídoto para conjurar los fantasmas del odio y de la sangre
schreibt er
über die historische "Leistung" des
Frente Nacional
:
361
Museo Nacional de Colombia
. 2003, S. 93.
212
212
Kapitel II
Así que prefirieron echarle tierra, y por eso se inventan un país con un pasado inmaculado
inexistente. El olvido era el método más apropiado para conjurar los fantasmas de la sangre y
del odio. Olvidar para aclimatar el nuevo pacto y sellar con una evocación a una mítica 'edad
dorada' el carácter sagrado de su alianza.
[…]
Se entiende por qué nunca hubo responsables de La Violencia entre los miembros de las éli-
tes, al fin de cuentas, ¿responsables de qué? Si ella fue obra de la 'maldad y del extravío', de la
pérdida del rumbo, del 'alejamiento de los valores constitutivos de la nacionalidad'. Por eso, la
amnistía del primer gobierno del Frente Nacional es limitada y de muy cortos alcances en
materia de reconocimiento de derechos y de respeto de las garantías.362
Auch Gonzalo Sánchez äußert seine Skepsis gegenüber einem Museumskon-
zept, das den Interessen der politischen Eliten zu sehr entgegenkommt. Dabei sei
gerade das Museum in seiner Eigenschaft als Erinnerungsort von größter Wich-
tigkeit, um dem zunehmenden Bedeutungsverlust des historischen Gedächtnis-
ses entgegenzuwirken.363
Der Vollständigkeit halber sei jedoch angemerkt, dass seit kurzem Pläne exis-
tieren, in der
Casa Museo Gaitán
eine Dauerausstellung zur Zeitgeschichte Ko-
lumbiens einzurichten, bei der auch die
Violencia
eine Rolle spielen soll.364 Das
ehemalige Wohnhaus Gaitáns, das im Jahre 1948 von Mariano Ospina Pérez
zum Museum erklärt wurde und später unter der Leitung von Gloria Gaitán
stand, wurde im April 2005 von der
Universidad Nacional
übernommen. Dem
gingen jahrzehntelange Streitigkeiten zwischen Gaitáns Tochter und dem Institut
Colparticipar
(
Instituto Colombiano de la Participación Jorge Eliécer Gaitán
)
voraus, die schließlich zur zeitweiligen Schließung der Ausstellung führten. Wie
die ehemaligen Mitglieder von
Colparticipar
beklagen, habe Gaitáns Tochter
die
Casa Museo
als ihr Privateigentum betrachtet und sich nicht an den von der
Regierung erteilten Auftrag gehalten, das Lebenswerk des
caudillo
durch regel-
mäßige Symposien und öffentliche Debatten im Sinne des Instituts zu pfle-
gen.365 Der Streit kulminierte schließlich, indem Gloria Gaitán sämtliche Ein-
362
Acevedo Carmona, Darío.
2003. El Pacto de Benidorm o el olvido como antídoto pa-
ra conjurar los fantasmas del odio y de la sangre. In: Medina, Medófilo/Efraín Sánchez
(Hgg.). 2003.
Tiempos de Paz. Acuerdos en Colombia, 1902–1994
. Bogotá: Alcaldía Mayor
de Bogotá, S. 234 ff.
363
Vgl.
Sánchez, Gonzalo.
2000b. Memoria, museo, nación. In: ders./Emma Wills Ob-
regón (Hgg.).
Museo, memoria y nación
. Bogotá: Museo Nacional de Colombia, S. 23 f.
364
Interview mit Sylvia Suárez, in der Abteilung
divulgación cultural
der
Universidad
Nacional
zuständig für die Erneuerung der
Casa Museo Gaitán
(Bogotá), am 12. Juli 2006.
365
Vgl.
El Tiempo
vom 26. April 2005.
213
Geschichtspolitik seit 1957
213
richtungsgegenstände aus dem Museum entfernen ließ. Angesichts fehlender
Ausstellungsobjekte sah sich das Erziehungsministerium schließlich im Jahre
2004 gezwungen,
Colparticipar
aufzulösen.
Die neue
Casa Museo Gaitán
soll nun neben den persönlichen Objekten
Gaitáns auch ein Dokumentationszentrum zur Geschichte des
gaitanismo
beher-
bergen und weiterhin als Forschungsstätte dienen. In diesem Sinne entschieden
die Verantwortlichen der Nationaluniversitätim April 2007, die
Casa Museo
Gaitán
in Zukunft als Zweigstelle der Forschungsinstitute IEPRI, IEU (
Instituto
de Estudios Urbanos
) sowie CID (
Centro de Investigaciones para el Desarrollo
)
zu nutzen. Dahinter steht die Idee, das Konzept des bereits in den 80er Jahren
begonnenen
Centro Nacional de Participación Ciudadana Jorge Eliécer Gaitán
wiederzubeleben. In diesem Sinne ist vorgesehen, ein so genanntes
Centro de
Políticas Públicas
einzurichten, in dem die erwähnten Forschungsinstitute ihre
Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit präsentieren können.366 Die in den 80er
Jahren gestoppten und seit kurzem fortgesetzten Bauarbeiten an dem neuen Ge-
bäudeteil dürften in den nächsten Jahren zu einem Abschluss kommen. In wel-
chem Umfang die Räumlichkeiten dann genutzt werden, um die politische Ge-
schichte seit 1948 aufzubereiten, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch unklar.
Sollten sich die Verantwortlichen jedoch für eine Dauerausstellung entscheiden,
wäre eine klaffende Lücke in der Museumlandschaft Kolumbiens geschlossen.
6.
K
ONSTRUKTION EINER DOMINANTEN
E
RINNERUNG
?
Wie ich im historischen Teil der vorangegangenen Betrachtung ausführlich dar-
gelegt habe, eroberten die traditionellen Eliten im Mai 1957 ihre politische
Macht zurück. Nach dem Sturz des Diktators gelang es ihnen problemlos, das
alte
país político
wiederherzustellen. Institutionelle Stabilität und einen dauer-
hafter Frieden sahen sie durch das Koalitionsabkommen des
Frente Nacional
gewährleistet. Zwar erreichten die politischen Eliten damit ihr Hauptziel, die
bewaffneten Auseinandersetzungen militanter Parteimitglieder zu beenden. Das
Problem der
Violencia
war jedoch nicht beseitigt. Offensichtlich waren sich die
Architekten des
Frente Nacional
nicht darüber im Klaren, dass der Krieg im
Laufe der Jahre seinen Charakter verändert hatte. So war der ursprüngliche
Konflikt der Parteianhänger im Laufe der Zeit zu einem Kampf marxistisch
366
Hierzu die Homepage der
Casa Museo Gaitán
: www.unal.edu.co/diracad/catsede.html.
214
214
Kapitel II
orientierter Gruppen gegen die Regierung und die in ihr vertretenen Parteien
geworden. Zugleich war es in einigen Landesteilen zu einer Entpolitisierung der
Violencia
gekommen, die sich zu Beginn der 60er Jahre im Erstarken des primär
ökonomisch motivierten
bandolerismo
äußerte. Zur Beendigung dieser "neuen"
Violencia
erwies sich der vom
Frente Nacional
entworfene "Burgfrieden" zwi-
schen den Parteien daher als ungeeignet.
Anstatt sich jedoch näher mit den Ursachen der anhaltenden Gewalt zu be-
schäftigen, entschied die Führung des
Frente Nacional
sofort nach dem Über-
gang zur formalen Demokratie, tiefgehende Diskussionen über den Ursprung
und die Konsequenzen der
Violencia
zu vermeiden. Stattdessen wiesen die füh-
renden Politiker ihre Untergebenen im "Interesse des Gemeinwohls" an, die
Vergangenheit als "abgeschlossen" zu betrachten. In den wichtigsten Medien
des Landes und im Kongress war in der Folge von "Frieden, Versöhnung und
Vergessen" die Rede. Auch wenn sich nach einiger Zeit Stimmen des Protests
regten, blieb doch der offizielle Diskurs bis zum Beginn der 60er Jahre dominie-
rend. Im Sinne einer aktiven Geschichtspolitik hatten einzelne Politiker, Schrift-
steller und Intellektuelle zudem damit begonnen, die Geschichte in ihrem Inter-
esse umzuschreiben und eine herrschaftslegitimierende Version der Vergangen-
heit zu verbreiten. Einhergehend mit der Ausklammerung ihrer eigenen Schuld
schufen sie verschiedene Mythen, die sich teilweise bis heute gehalten haben
und sich bis in die 80er Jahre noch in vielen Schulbüchern fanden. Bei den von
den Eliten bevorzugten "Theorien" in Bezug auf den Ursprung der
Violencia
handelte es sich einmal um den Vorwurf, das "barbarische Volk" sei für den
Ausbruch der Gewalt verantwortlich gewesen. Weiterhin sollten die Kommunis-
ten den Bürgerkrieg entfacht haben, und schließlich hätte auch der Diktator Ro-
jas Pinilla bei der Eindämmung der
Violencia
kläglich versagt. Die Weigerung
der Eliten, eine aufrichtige Vergangenheitsaufarbeitung zu betreiben, belastete
den Prozess der demokratischen Transformation von Anfang an schwer. Denn,
wie ich im vierten Kapitel dieser Arbeit zeige, führte die Verdrängung der Ver-
gangenheit am Ende zu ernsthaften Problemen bei der Stabilisierung des politi-
schen Systems.
Das Schweigen der politischen Entscheidungsträger erklärte sich in vielen
Fällen aus ihren eigenen Fehlern und Verstrickungen während der
Violencia
.
Daneben gab es jedoch auch einen Teil der Eliten, der aufrichtig von der Not-
wendigkeit des Vergessens überzeugt war. In diesem Sinne betrachteten Akteure
wie Alberto Lleras die "Politik des Vergessens" als einziges "Heilmittel" im
Kampf gegen das "Krebsgeschwür" der
Violencia
. In diesem Zusammenhang
215
Geschichtspolitik seit 1957
215
stellt sich jedoch die Frage, ob es den Eliten in der Anfangsphase des
Frente
Nacional
primär darum gegangen war, die blutige Vergangenheit aus dem kol-
lektiven Gedächtnis zu löschen, oder hat vielmehr Marco Palacios Recht mit
seiner Behauptung, wonach nur
eine
Erinnerung an die
Violencia
akzeptiert
worden wäre?367
Wie ich anhand von Pressequellen, Kongressakten, Memoiren, historiografi-
schen Studien, alten und neuen Schulbüchern sowie der Geschichtsdarstellung
im Museum gezeigt habe, gab es durchaus Versuche, eine allgemeingültige Ver-
sion der Vergangenheit festzuschreiben. Sofern die
Violencia
überhaupt thema-
tisiert wurde, handelte es sich häufig um verzerrte oder unkritische Darstellun-
gen, die der historischen Legitimation des
Frente Nacional
dienten. Rückbli-
ckend betrachtet ist es meines Erachtens jedoch zutreffender, von "verbotener
Erinnerung" bzw. einem "Pakt des Schweigens" zu sprechen, wie dies Gonzalo
Sánchez tut. Denn mehr noch als an einer gegensätzlichen Interpretation waren
die Eliten an der Ausklammerung einer als "schändlich" empfundenen Epoche
interessiert. Aus diesem Grunde finden sich nur wenige kritische und interpretie-
rende Texte in den Zeitungen und Schulbüchern jener Zeit. Wie die Entwicklung
der Gedenkveranstaltungen zum 9. April sowie die Darstellung der
Violencia
im
Museum verdeutlicht haben, ist es hingegen im Laufe der Jahre zu einer unzu-
lässigen Reduktion der historischen Ereignisse gekommen. Zwar ist davon aus-
zugehen, dass es in weiten Teilen der Bevölkerung ein Wissen über die gewalt-
tätigste Epoche der kolumbianischen Geschichte gibt. Da die Eliten jedoch bis
heute eine kritische Analyse behindert haben, ist dieses Wissen äußerst vage und
von Halbwahrheiten geprägt. Diverse
Oral History
-Studien haben vielmehr ge-
zeigt, dass die Mehrheit der Bevölkerung dazu neigt, die
Violencia
mit der ak-
tuellen Gewalt gleichzusetzen.368 Bei einem Großteil der Bevölkerung hat sich
allmählich ein antichronologisches Geschichtsverständnis durchgesetzt, bei dem
die verschiedenen Zeitebenen miteinander konvergieren. Kann dieser Tatbestand
jedoch eindeutig auf die Geschichtspolitik des
Frente Nacional
zurückgeführt
werden?
Diese Frage wird wohl niemals zweifelsfrei zu klären sein. Sicher ist nur, dass
es den Eliten gelungen ist, auf Dauer eine "dominante Erinnerung" zu etablieren.
Bei dieser Einschätzung stütze ich mich auf eine von Paloma Aguilar Fernández
vorgenommene Kategorisierung, bei der sie "autobiografische Erinnerung", "so-
367 Vgl.
Palacios.
2003, S. 191 ff.
368
Siehe z. B.
Blair/Pimienta/Gómez.
2003. u.
Gómez Cardona, Santiago.
2003.
216
216
Kapitel II
ziale Erinnerung", "hegemoniale Erinnerung" und "dominante Erinnerung" un-
terscheidet.369 Sie weist darauf hin, dass die autobiografischen Erinnerungen
zwar individueller Natur seien, dabei jedoch stets aus der sozialen Erinnerung
schöpfen würden, die man auch als "kollektive Erinnerung" bezeichnen könne.
Dies ist die Erinnerung, die eine Gesellschaft von sich selbst hat, und aus der sie
notwendige Lehren und Schlüsse ziehen kann. Obwohl diese beiden Formen von
Erinnerung bisweilen widersprüchlich sind, oder auch ko-existieren, manchmal
sogar autobiografische Erinnerung zu einem Teil der kollektiven wird, ist es
umgekehrt nicht erforderlich, dass eine Übereinstimmung autobiografischer
Erinnerungen gegeben ist, um zu einer Kollektiverinnerung zu gelangen. Die
dominante Erinnerung schließlich setzt Aguilar Fernández mit der öffentlichen
Erinnerung, wie sie zum Beispiel durch die Medien repräsentiert wird, gleich.
Sie unterscheide sich allerdings immer noch von der hegemonialen Form, wel-
che der Erinnerung der Gesellschaftsmehrheit entspricht, unabhängig von den
diversen Verbreitungsmechanismen.
Die Analyse der offiziellen Geschichtspolitik macht deutlich, wie sehr die
Medien und die Institutionen des Staates (Präsident, Kongress, Kommissionen)
dazu beitrugen, die Bedeutung sozialer und politischer Konflikte herunterzuspie-
len oder "schändliche" Epochen ganz aus dem Gedächtnis zu tilgen. Obwohl es
bereits seit den 60er Jahren von akademischer Seite und seit den 80er Jahren
auch von politischer und gesellschaftlicher Seite Versuche gab, die
Violencia
öffentlich zu thematisieren, ist eine kollektive Aufarbeitung der Vergangenheit
bis heute ausgeblieben. Da sich die Eliten nach wie vor sträuben, das Thema in-
stitutionell aufzugreifen und zu verarbeiten, kann durchaus von einer "dominan-
ten Erinnerung" die Rede sein.
"Dominant" waren die Eliten bei ihrem Unterfangen, die Erinnerung an das
Blutvergießen auszulöschen oder andere Akteure dafür verantwortlich zu ma-
chen. Eine einheitliche Version der Vergangenheit, wie sie Marco Palacios ver-
mutet, hat es jedoch zu keiner Zeit gegeben. Denn obwohl sich einige Gruppen
innerhalb der Eliten mit der
Violencia
beschäftigten, zeigte sich der Großteil des
politischen Establishments völlig gleichgültig. In der "Öffentlichkeit" handelte
es sich daher meistens um einen Konflikt ohne Namen und ohne Akteure. Über
mögliche Verbindungen zwischen den aktuellen
violencias
und der historischen
Violencia
herrscht daher noch immer Unklarheit. Obwohl die Ansichten der Eli-
ten längst nicht mehr von allen Menschen akzeptiert werden, dominieren sie
369 Vgl. hierzu
Aguilar Fernández.
1996, S. 25 ff.
217
Geschichtspolitik seit 1957
217
nach wie vor den politischen Diskurs. In den Medien, den Museen oder dem
Kongress ist die
Violencia
als Thema zwar nur noch selten präsent. In Erinne-
rung an mit ihr verknüpfte Ereignisse, wie zum Beispiel den
bogotazo
oder den
Sturz Rojas Pinillas, bemühen die Meinungsmacher jedoch weiterhin die alten
Mythen.
Gestützt auf die von Aguilar Fernández vorgenommene Kategorisierung ist
anzunehmen, dass mittlerweile ein Widerspruch zwischen der Erinnerung der
Bevölkerungsmehrheit und der dominanten Erinnerung der Eliten besteht. So
zeigten sich bereits Anfang der 60er Jahre erste Brüche im politischen Diskurs.
Welcher Art nun die hegemoniale Erinnerung im Kolumbien der Gegenwart ist,
ließe sich lediglich mit Hilfe quantitativer Untersuchungen feststellen. Jedoch
hat beispielsweise das Erziehungsministerium bislang noch keine Studie über
die im Unterricht erworbenen Geschichtskenntnisse vorgelegt. Die letzte PISA-
Studie (2006/07), an der Kolumbien erstmals beteiligt war, belegt allerdings,
dass besonders im Primarschulsektor gravierende Mängel in allen Fächern vor-
liegen, was mit dem weit verbreiteten Frontalunterricht zu tun haben dürfte.370
Repräsentative Umfragen zum Thema der
Violencia
bzw. zum 9. April, die zur
Erforschung der Rezeptionsebene unerlässlich wären, fehlen bisher ebenso.
Dass die von den Eliten propagierten Mythen längst nicht mehr auf allgemei-
ne Zustimmung stoßen, verdeutlichen jedoch auch die ablehnenden Reaktionen
auf eine allzu einseitige Geschichtsdarstellung. Ein gutes Beispiel hierfür liefert
etwa die Berichterstattung vom 10. Mai 2007, als alle Zeitungen und Fernseh-
sender des Landes des Endes der Diktatur vor 50 Jahren gedachten. Während
das Ereignis von den Medien als Beginn der Demokratie gefeiert wurde, dürften
in der Bevölkerung nicht alle diese Einschätzung geteilt haben. Nachdem zum
Beispiel ein Leitartikel von
El Tiempo
in erwartungsgemäßer Weise die Herr-
schaft von Rojas Pinilla als "tragische" Epoche charakterisiert hatte, antworteten
in der Online-Ausgabe der Zeitung zahlreiche Leser mit völlig gegensätzlichen
Kommentaren. So zeichneten die meisten der über hundert per E-Mail einge-
gangenen Leserbriefe ein Bild von der Diktatur, das weder mit den Ergebnissen
der historischen Forschung noch mit der Ansicht der Meinungsmacher überein-
stimmte. Stellvertretend für viele andere Stimmen und in Ermangelung einer
repräsentativen Umfrage möchte ich hier nur den Kommentar eines gewissen
"Argiro" (Pseudonym) wiedergeben:
370
Vgl.
El Tiempo
vom 4. Dezember 2007. Von 57 Teilnehmerstaaten belegte Kolumbien
den 53. Platz.
218
218
Kapitel II
Sólo les diré que mi padre era un hombre de pueblo que emigró a la ciudad y por Rojas Pinilla
logró vivida, y de niño, al igual que millones, éramos llevado a una institución llamada 'Sen-
das', y allí, a todos los hijos de obreros, o a humildes que no hacíamos parte de las élites, nos
daban los regalos de navidad, esos que nuestros padres no podían comprar. También les com-
parto que el día del paro, los empresarios les pagaron a todos los obreros el tiempo que durara
y quien se presentara a trabajar era despedido. Por ello, mis reminiscencias de ese gobierno,
distan y mucho del editorial. Omito analizar el posterior caudal de votos que recibió como
veredicto histórico de su 'dictadura', el origen de ella como pacto de Estado y el robo de la
elección.371
Dies ist nur eine der zahlreichen Gegenstimmen, die sich seit Beginn des
Frente Nacional
immer lauter Gehör verschafften. Obwohl sich die Gegner der
dominanten Erinnerung bis heute kaum organisiert haben, ist ihr Protest bedeut-
samer geworden. Zwar galt die stark fragmentierte und schwache Zivilgesell-
schaft Kolumbiens lange als Haupthindernis für die Formulierung alternativer
Diskurse.
In letzter Zeit ist diesbezüglich jedoch ein positiver Wandel eingetreten. Das
folgende Kapitel wird daher von den wirkungsmächtigsten sozialen Forderungen
handeln, das Paradigma von "Frieden, Versöhnung und Vergessen" zugunsten
einer multidimensionalen und kritischen Sichtweise aufzugeben. Mir geht es
darum zu zeigen, ob und wie es gesellschaftlichen Akteuren gelungen ist, die
Violencia
in der Öffentlichkeit zu thematisieren. Insbesondere "informelle" Me-
dien des kollektiven Gedächtnisses, wie die Literatur, das Theater, der Film und
die Kunst stehen dabei im Mittelpunkt meines Interesses. Daneben werde ich
auch auf die
Violencia
-Interpretation der illegalen bewaffneten Gruppen einge-
hen.
371
Online-Ausgabe von
El Tiempo
vom 10. Mai 2007. In: http://www.eltiempo.com/ opi-
nion/editorial/2007-05-10/ARTICULO-WEB-NOTA_INTERIOR-3550280.html (27. Januar
2008). In Tunja (Boyacá), der Geburtsstadt des Generals, ist sogar ein regelrechter "Rojas-
Kult" zu beobachten. Ganz im Gegensatz zum offiziellen Diskurs wird der ehemalige
jefe
supremo
dort in Statuen, Inschriftentafeln und einem Museum gewürdigt. Siehe Abb. 5 auf
der folgenden Seite.
219
Geschichtspolitik seit 1957
219
Abb. 5: Poster in Tunja (Boyacá, 2007), der Geburtsstadt von Gustavo Rojas Pinilla (Fotogra-
fie im Privatbesitz des Autors).
220
221
III. Die Violencia in den Erinnerungskulturen
Puse para siempre en las letras de un libro la
historia que se le ha ido olvidando a la patria,
convencido de que con ella podría evitar repe-
ticiones estúpidas.1
(
Gustavo Álvarez Gardeazábal, Schriftsteller
)
1.
G
EGEN DAS
V
ERGESSEN
:
ALTERNATIVE
G
ESCHICHTSVERSIONEN
Obwohl der Staat maßgeblich dazu beigetragen hat, die Erinnerung an die
Vio-
lencia
aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen bzw. durch elitenkonforme
Versionen zu ersetzen, haben sich in den "zivilen Räumen" durchaus Formen
des Widerstands etabliert. Hierzu zählen alternative Repräsentationen der
Vio-
lencia
. Auf subnationaler Ebene finden sich Spuren, Symbole, ikonografische
Darstellungen, Texte oder Kunstwerke, die als Erinnerungsorte dienen. So hat
die staatlich verordnete "Politik des Vergessens" auch zur Herausbildung lokaler
Erinnerungskulturen geführt, die nicht selten im Widerspruch zu den offiziellen
Geschichtsbildern stehen.
Während die
Violencia
auf nationaler Ebene vor allem mit den Ereignissen
des 9. April 1948 in Verbindung gebracht wird, zeigt sich auf lokaler Ebene ein
weitaus differenzierteres Bild. Teile der Gesellschaft haben die Reduktion der
Violencia
auf einzelne Personen, Massaker, Vertreibungen oder – was am häu-
figsten ist – auf die Person Gaitáns, längst überwunden. So haben etwa Künstler,
Schriftsteller, Journalisten, Theaterleute oder Filmemacher dazu beigetragen, der
Öffentlichkeit ein komplexeres Bild der
Violencia
zu vermitteln. Ihre Darstel-
lung geht in vielen Fällen mit einer Kritik am politischen System und der histo-
risch begründeten strukturellen Gewalt einher. Sie leisten somit genau das, was
unter anderen Umständen die Aufgabe einer verantwortungsbewussten Ge-
schichtsschreibung bzw. Geschichtspolitik gewesen wäre.
Die folgende Darstellung der gesellschaftlichen Ebene ist aufgrund ihrer He-
terogenität und Fülle zwangsläufig mit einer Erweiterung der konventionellen
Quellenbasis verbunden. Zu den bisher verarbeiteten "klassischen" Quellen, wie
beispielsweise Dokumente, Presseartikel oder Memoiren, gesellen sich an dieser
Stelle literarische Zeugnisse, Theateraufführungen, Kinofilme und Gemälde. Die
1
Álvarez Gardeazábal, Gustavo.
1998.
Cóndores no entierran todos los días
. Bogotá:
Panamericana, S. 7.
222
222
Kapitel III
Arbeit mit diesen Quellen erfordert jeweils eine spezifische Herangehensweise,
die ich in den einzelnen Abschnitten näher erläutern werde.
Im Gegensatz zur relativ geschlossenen Darstellung der Geschichtspolitik im
vorangegangenen Kapitel ist die Erfassung und Eingrenzung dieser subalternen
Stimmen wesentlich schwieriger zu bewerkstelligen. Wichtigstes Kriterium für
die Auswahl der verschiedenen Bereiche ist daher ihre tatsächliche oder vermu-
tete Wirkung auf die Öffentlichkeit. Obwohl hierzu keine empirischen Untersu-
chungen vorliegen, können bestimmte Messzahlen wie Auflagenhöhe, Ver-
kaufserfolg, Besucher- oder Zuschauerzahl doch Aufschluss über die Breiten-
wirkungenmancher
Violencia
-Repräsentationen geben. Zwar ist eine umfassen-
de Rezeptionsanalyse der alternativen
Violencia
-Darstellungen nur mit Hilfe von
Umfragen bzw. mit den Methoden sozialwissenschaftlicher Forschung zu be-
wältigen. Für sich alleine genommen erweisen sich diese Mittel zur Analyse ei-
ner wie auch immer definierten "öffentlichen Meinung" jedoch ebenfalls als un-
zureichend. Da Meinungsforschung in Kolumbien meistens unter recht prekären
Bedingungen betrieben wird, können selbst die aktuellen Umfragen großer Ta-
geszeitungen oder Fernsehsender nur bedingt als "repräsentativ" gelten. Führen-
de Umfrageinstitute wie
Invamer-Gallup
oder
Ipsos-Napoleón Franco
stoßen in
Kolumbien schnell an die Grenzen einer unzureichenden Infrastruktur, was sich
in der Konzentration auf wenige urbane Zentren und eine beschränkte Anzahl
von Haushalten mit Telefonanschluss niederschlägt.2 Umfrage-Ergebnisse sind
daher trotz sozialer "Stratifikation" und Angabe der so genannten
ficha técnica
mit Vorsicht zu genießen und oftmals wenig aussagekräftig bzw. tendenziös.3
Darüber hinaus haben sich auch die offiziellen Datenerhebungsinstitute wie et-
wa DNP (
Departamento Nacional de Planeación
) und DANE (
Departamento
Nacional de Estadística
) in letzter Zeit wiederholt dem Verdacht ausgesetzt,
Statistiken im Sinne der Regierung zu manipulieren.4 Im Grunde handelt sich
dabei zwar "nur" um eine "Anpassung" der Bemessungsgrundlagen. Da dies je-
doch bei der Endauswertung und Veröffentlichung der Daten häufig unterschla-
gen wird, kommt es zu unerklärlichen Sprüngen und Schwankungen im Ver-
2
Zu dieser Problematik siehe
Rincón, Omar.
1997. Las encuestas en los medios de co-
municación... una opinión más. In: ders. u. a. (Hgg.).
Opinión pública: encuestas y medios de
comunicación. El caso del 8.000
. Bogotá: FESCOL u. a., S. 117–137.
3
Vgl. ebd., S. 120 ff.
4
Aufgrund zahlreicher Probleme und Unregelmäßigkeiten bei der Datenerhebung fochten
die Direktoren beider Behörden unlängst einen öffentlichen Streit aus. Vgl.
El Tiempo
vom 8.,
9., 11., 15. u. 16. September 2007.
223
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
223
gleich zu älteren Statistiken. In diesem Sinne hat beispielsweise das DANE die
Messung der Armut und der Arbeitslosigkeit den aktuellen "politischen Erfor-
dernissen" angepasst, wie eine Studie der
Universidad Nacional
überzeugend
nachweist.5
Angesichts der geringen Verlässlichkeit privater oder staatlicher Datenerhe-
bungen, die bestenfalls gewisse Makrotrends abbilden, erweisen sich die Ergeb-
nisse qualitativer Forschung als ergiebiger. Insbesondere die Praktiker der
Oral
History
haben in den letzten Jahren eine Reihe wichtiger Studien zur Rezeption
und Verarbeitung der
Violencia
in den marginalisierten Bevölkerungsgruppen
beigesteuert. Ohnehin, an einer Umfrage auf nationaler Ebene, die sich zentral
oder peripher mit dem Thema der
Violencia
beschäftigt, dürften die den Eliten
zugehörigen Auftraggeber der Meinungsforschungsinstitute auch in Zukunft
kaum Interesse bekunden. Der Sinn meiner Arbeit liegt daher in einem Ver-
gleich der offiziellen mit der inoffiziellen Darstellung der
Violencia
, wobei ich
jedoch in beiden Fällen keine verbindlichen Schlüsse in Bezug auf die Wir-
kungsweise ziehen möchte. Dass der politische Diskurs trotz seiner oberflächli-
chen Homogenität auch Brüche aufweist, habe ich bereits im vorangegangenen
Kapitel gezeigt. Dabei war es mein Ziel, die wichtigsten Tendenzen und Inhalte
des Eliten-Diskurses aufzudecken und ihn auf seine wissenschaftliche, politische
und gesellschaftliche Funktion hin zu beleuchten. In gleicher Weise werde ich
nun im Folgenden die Bereiche Literatur, Theater, Film und Kunst analysieren.
Bereits jetzt ist jedoch absehbar, dass die Brüche und Unterschiede auf dieser
Ebene so groß sind, dass von einem kohärenten Diskurs im Sinne Michel Fou-
caults keine Rede mehr sein kann. Denn, wie im ersten Kapitel erwähnt, handelt
es sich bei den subalternen Stimmen zwar um eine Menge von überwiegend re-
gierungskritischen und gegen die Eliten gerichteten Aussagen. Sie gehören je-
doch keineswegs einem gleichen Formationssystem an.6 Anders als in der offi-
ziellen Sphäre der Geschichtspolitik existiert im Bereich der demokratischen
Zivilgesellschaft kein Konsens über die Interpretation der Vergangenheit. Im
Gegensatz dazu legten die politischen Eliten während des
Frente Nacional
ein-
deutig fest, über welche Themen Aussagen gemacht werden konnten, wer unter
welchen Bedingungen und auf welche Weise reden durfte, welche Begriffe und
Strategien verwendet werden sollten. Wenngleich eine solche Einengung des
5
Vgl. hierzu
Bonilla, Ricardo/Jorge Iván González (Hgg.).
2006.
Bienestar y macro-
economía 2002/2006: crecimiento insuficiente, inequitativo e insostenible
. In: http://www.cid.
unal.edu.co/files/publications/bijig062006.pdf (31. Januar 2008).
6
Vgl.
Foucault.
1973, S. 48 ff.
224
224
Kapitel III
politischen Diskurses kaum erstrebenswert ist, so ist Kolumbiens fragmentierte
Zivilgesellschaft – in genauer Umkehrung dieses Zustands – weit davon ent-
fernt, sich in Bezug auf die Deutung der gewalttätigen Vergangenheit auf einen
Minimalkonsens zu einigen.
Obwohl sich bereits seit Mitte der 1970er Jahr gesellschaftliche Gruppen or-
ganisiert haben, die weder die inhaltsleere "Revolution" der Guerilla noch den
Status Quo akzeptieren, ist deren Organisations- und Kohäsionsgrad bis heute
gering geblieben. Gerade weil sich die demokratische Zivilgesellschaft dem ver-
hängnisvollen Freund/Feind-Schema entzieht, hat sie gegen enorme Widerstän-
de von Seiten des Staates und der bewaffneten Akteure zu kämpfen. So weigern
sich die Konflikt-Parteien beharrlich, die "Neutralität" sozialer Akteure anzuer-
kennen. Aufgrund der offensichtlichen Schwäche alternativer gesellschaftlicher
Akteure konnte sich in Bezug auf die Verarbeitung der
Violencia
kein einheitli-
cher Diskurs entfalten, der mit der offiziellen Geschichtspolitik des
Frente Na-
cional
vergleichbar wäre. Ich ziehe es stattdessen vor, auf gesellschaftlicher Sei-
te von alternativen Geschichtsversionen bzw. "Erinnerungskulturen" zu spre-
chen. Auf der Grundlage dieses Konzepts will ich im Folgenden zeigen, dass das
staatlich verordnete Schweigen und auch die eher seltenen Geschichtsfälschun-
gen durch die Eliten letztlich nur bedingt erfolgreich waren.
Obwohl die von den Architekten des
Frente Nacional
verbreitete Sichtweise
in Bezug auf die
Violencia
durchaus breite Bevölkerungsschichten erreicht ha-
ben dürfte (insbesondere über die Schulen), ist der Einfluss alternativer Ge-
schichtsbilder nicht zu unterschätzen. Es lässt sich zwar kaum leugnen, dass Li-
teratur, visuelle Kunst oder Theater eher für die Mittel- und Oberschicht von
Interesse waren bzw. sind. Insbesondere der gewaltige Bedeutungszuwachs au-
diovisueller Medien wie Kino und Fernsehen hat jedoch in den letzten Jahrzehn-
ten zu einer massiven Verbreitung alternativer Geschichtsversionen beigetragen.
Obwohl das Thema der
Violencia
so gut wie nie in einer der vielgesehenen
tele-
novelas
behandelt worden ist (mit Ausnahme der überaus erfolgreichen Serie
La
otra mitad del sol
aus dem Jahre 1996, in der die Ereignisse des 9. April 1948
einen Teil der Rahmenhandlung bilden), nahmen sich gelegentlich auch Film-
und Fernsehregisseure des Themas an. Auf diese Weise hielt die historische
Vio-
lencia
Einzug ins Kino und wurde in wenigen Fällen sogar in Fernsehfilmen
verarbeitet. Besonders selten bzw. niemals ist das Thema jedoch in Form von
Dokumentationen, Hörspielen, Informationssendungen oder Reportagen aufbe-
reitet worden.
225
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
225
In welchen Zusammenhang stehen nun all diese unterschiedlichen Formen der
Violencia
-Darstellung mit der Herausbildung alternativer Erinnerungskulturen?
Wie im theoretischen Teil der Arbeit erwähnt, weist die Verwendung des Plurals
– Erinnerungskultur
en
– auf die Vielfalt sowie die historisch-kulturelle Variabi-
lität von Erinnerungspraktiken hin. Zur Eingrenzung des Untersuchungsbereichs
ist es im Folgenden unerlässlich, die verschiedenen "Kulturen" nach sorgfältig
bestimmten Kriterien zu trennen. Hierzu bediene ich mich der von Astrid Erll
vorgeschlagenen Dreiteilung nach materialer, sozialer und mentaler Dimension.7
Für die Auswahl der Quellen bedeutet dies, dass ich mich zunächst auf die Ko-
dierung der Erinnerung in kulturelle Objektivationen konzentriere, zu denen ich
Violencia
-Romane, Testimonial-Literatur, Theaterstücke, Filme und Gemälde
zähle. Diese Medien bilden in ihrer Gesamtheit die materiale Dimension.
Daneben ist die Entstehung lokaler Erinnerungskulturen jedoch auch auf die
soziale Trägerschaft des Gedächtnisses angewiesen, wie Maurice Halbwachs
eindrucksvoll dargelegt hat.8 Aus diesem Grund werde ich auch auf Personen
und gesellschaftliche Institutionen eingehen, die an der Produktion, Speicherung
und dem Abruf des für das Kollektiv relevanten Wissens beteiligt waren bzw.
sind. Bei der Analyse der verschiedenen Erinnerungskulturen, wobei ich einen
anthropologisch-semiotischen Kulturbegriff voraussetze, sind schließlich noch
die kulturspezifischen Schemata und kollektiven Codes zu analysieren. Durch
sie wird gemeinsames Erinnern durch symbolische Vermittlung erst ermöglicht.
In diesem Sinne suche ich nach subjektiven Vorstellungen und Ideen, Denkmus-
tern und Empfindungsweisen, Selbst- und Fremdbildern sowie Werten und
Normen, mit denen soziale Akteure das Phänomen der
Violencia
in Verbindung
bringen.
Am Ende dieses Kapitels gehe ich abschließend der Frage nach dem Sinn und
der Funktion der verschiedenen Erinnerungskulturen nach. Inwiefern können
voneinander abweichende und teilweise widersprüchliche Erinnerungen in Zu-
kunft die Grundlage eines sinnvollen Erinnerungsdiskurses bilden? Ist ein ein-
heitlicher oder sogar dominanter Erinnerungsdiskurs überhaupt erstrebenswert?
7 Vgl.
Erll.
2005, S. 34–39.
8
Hierzu
Halbwachs.
1967.
226
226
Kapitel III
2.
D
IE
V
IOLENCIA
IN DER
L
ITERATUR
Bereits zu Beginn der 1950er Jahre, als die Kämpfe auf dem Land ihren Höhe-
punkt erreichten, entstanden die ersten literarischen Zeugnisse der
Violencia
. In
den meisten Fällen waren es Angehörige der Mittelschicht, Militärs oder Ex-
Guerilleros, die die Erfahrung des Krieges schriftlich verarbeiteten und sich da-
bei oft in einer Aneinanderreihung grausiger Details erschöpften. Darüber hi-
naus verfolgten sie nicht selten politisch-agitatorische Ziele, um vermeintliche
"Feinde" zu diffamieren. Insgesamt zeichnet sich die so genannte
Violencia
-
Literatur durch die verzweifelte Suche nach geeigneten Worten für das Unbe-
schreibliche aus. Trotz ihrer relativen Bedeutung für die Gesamtentwicklung der
kolumbianischen Literatur haben spätere Kritiker die Gattung weitgehend abge-
lehnt und den meisten Werken eine bescheidene literarische Qualität attestiert.9
In einem Aufsatz über die
novela de la Violencia
äußerte sich der Schriftsteller
Gabriel García Márquez, der mit
La mala hora
selbst einen Vertreter dieses
Genres beisteuerte, ebenfalls abschätzig über die Autoren jener Zeit:
Apabullados por el material de que disponían, se los tragó la tierra de la descripción de la ma-
sacre, sin permitirse una pausa que les habría servido para preguntarse si lo más importante,
humana y por tanto literariamente, eran los muertos o los vivos. El exhaustivo inventario de
los decapitados, los castrados, las mujeres violadas, los sexos esparcidos y las tripas sacadas,
y la descripción minuciosa de la crueldad con que se cometieron esos crímenes, no era pro-
bablemente el camino que llevaba a la novela. El drama era el ambiente de terror que provo-
caron esos crímenes. La novela no estaba en los muertos de las tripas sacadas, sino en los vi-
vos que debieron sudar hielo en su escondite, sabiendo que a cada latido de su corazón corrie-
ran el riesgo de que les sacaran las tripas.10
Ob die literarische Qualität des
Violencia
-Romans in seiner Gesamtheit tat-
sächlich so niedrig ist, wie García Márquez und andere Kritiker behauptet ha-
ben, sei vorerst dahin gestellt. Seine Bedeutung für das Thema dieser Arbeit re-
sultiert ohnehin weniger aus stilistisch-sprachlichen Eigenschaften, sondern aus
der enormen Zirkulation in den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten. So
9
Einen kurzen Überblick zum
Violencia
-Roman gibt
Altmann, Werner.
1997. Der ko-
lumbianische Roman. In: ders./Thomas Fischer/Klaus Zimmermann (Hgg.).
Kolumbien heute
.
Frankfurt a. M.: Vervuert, S. 438–443. Siehe weiterhin
Janik, Dieter.
1994. La experiencia
de la Violencia: problemas de su transposición estética. In: Kohut, Karl (Hg.).
Literatura co-
lombiana hoy
. Frankfurt a. M.: Vervuert, S. 139–146 u.
Pfeiffer, Erna.
1984.
Literarische
Struktur und Realitätsbezug im kolumbianischen Violencia-Roman.
Frankfurt a. M.: Peter
Lang.
10
La Calle
vom 9. Oktober 1959.
227
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
227
tauchen bestimmte Topoi aus bekannten
Violencia
-Romanen bis heute im Werk
anderer Schriftsteller, in der visuellen Kunst oder im Film auf.11 Da die Heraus-
bildung von Erinnerungsgemeinschaften auf der kulturellen Kommunikation
über oft weit auseinanderliegende zeitliche und geografische Räume beruht,
kommt der Zirkulationsfunktion eine besondere Bedeutung zu. Am Beispiel des
Nationsbildungsprozesses in verschiedenen Weltregionen haben Benedict An-
derson und andere gezeigt, wie wichtig in diesem Zusammenhang Flugblätter,
Zeitungen, Zeitschriften, aber auch literarische Texte sind.12
Eine weitere Gattung, die ich in diesem Zusammenhang behandeln möchte,
ist die so genannte "Testimonial-Literatur". Im Unterschied zur
Violencia
-
Literatur hat sie einen stärker dokumentarischen Anspruch, was fiktionalisieren-
de Elemente jedoch nicht völlig ausschließt. Seit Anfang der 1980er Jahren er-
lebt diese im Wesentlichen auf Zeitzeugeninterviews beruhende Literatur einen
regelrechten Boom in Kolumbien. Um den Rahmen meiner Studie nicht zu
sprengen, wähle ich aus beiden Gattungen lediglich einige populäre Werke aus,
um anschließend ihre Funktion als Medium des kollektiven Gedächtnisses zu
analysieren. Auf diesem Gebiet hat Astrid Erll mit ihrer Studie über
Gedächtnis-
romane
wertvolle Pionierarbeit geleistet, auf die ich mich im Folgenden stütze.13
Sie geht davon aus, dass Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses in
erster Linie ein Rezeptionsphänomen sei, weswegen die Aneignung literarischer
Texte durch die Leserschaft im Vorfeld erforscht werden solle.14 Kollektive
Texte gehören dabei häufig der Populärliteratur an, welche die Konsensbildung
in erinnerungskulturellen Gemeinden stärker prägt als die so genannte "hohe"
Literatur. Eine Unterscheidung nach literarischer Qualität ist daher irrelevant,
wohingegen Zirkulation und Aneignungsformen die entscheidenden Faktoren
darstellen. Allgemein betrachtet prägen literarische Texte Vergangenheitsver-
sionen, Geschichtsbilder und Identitätskonzepte entscheidend mit. An mehreren
Beispielen zeigt Erll, dass es gerade die Trivialliteratur ist, die ihre symboli-
11
Zur Funktion bestimmter
Violencia
-Romane als Erinnerungsorte siehe
König, Brigitte.
2003.
La violencia en la memoria: La endemia colombiana en la literatura
(unveröffentlich-
tes Manuskript; verwendet mit Einverständnis der Autorin).
12
Hierzu
Anderson, Benedict.
1988.
Die Erfindung der Nation
. Frankfurt a. M.: Campus.
Zur Entwicklung von Staat und Nation in Neu-Granada bzw. Kolumbien unter Zuhilfenahme
besagter Quellen siehe
König.
1988.
13
Siehe
Erll, Astrid.
2003.
Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als
Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren
. Trier: WVT
sowie dies. 2005, S. 143–166.
14
Vgl. dies. 2005, S. 155 f.
228
228
Kapitel III
schen Ressourcen aus dem kulturellen Gedächtnis bezieht.15 In ähnlicher Weise
gilt diese Feststellung auch für Kolumbien.
Da die vom Staat gelenkte "Politik des Vergessens" eine Lücke im Bereich
der kollektiven Sinnkonstruktion bezüglich der
Violencia
hinterlassen hat, sind
es vor allem populäre Zirkulationsmedien, die dieses Vakuum füllen. Den jewei-
ligen Autoren ist die Wirkung ihrer Texte dabei nicht unbedingt bewusst. Ge-
meinsam ist allen Werken jedoch, dass sie trotz imaginärer Elemente immer ei-
nen Bezug auf die Sinnhorizonte des gegenwärtigen Kollektivgedächtnisses
herstellen. Obwohl die Leser von
Violencia
-Romanen oder testimonialen Texten
diese durchaus als "Literatur" einstufen, sprechen sie ihnen gleichzeitig einen
gewissen Wirklichkeitsbezug zu. Im Interesse ihrer Leserschaft bemühen sich
die meisten Autoren daher, der "historischen Wahrheit" auf die Spur zu kommen
oder Kolumbiens "verlorenes Gedächtnis" wiederzugewinnen.16 Ein auf Zeit-
zeugeninterviews basierender Testimonial-Text ist zwar kein Produkt der wis-
senschaftlichen Forschung, aber dennoch gewissen "Objektivitätskriterien" un-
terworfen. Populäre Autoren wie der Soziologe Alfredo Molano oder der
Schriftseller, Historiker und Maler Arturo Alape geben sich deshalb redlich Mü-
he, die hohe Erwartungshaltung ihrer Leser, das heißt deren Verlangen nach
"Objektivität", zu erfüllen. Dass grobe Verstöße gegen die informellen "Regeln"
der Testimonial-Literatur vom Leser bestraft werden, hat unlängst der Skandal
um die teilweise erfundenen Memoiren der guatemaltekischen Friedensnobel-
preisträgerin Rigoberta Menchú gezeigt.17
Astrid Erll zufolge weisen literarische Texte bestimmte Basismerkmale auf,
die sie als Medium der kulturellen Erinnerung identifizieren. Die Erforschung
ihrer Funktion sollte sich dabei auf drei Faktoren konzentrieren: Zunächst ist die
"Verdichtung" ein grundlegendes Verfahren, dass auch die Erinnerungsorte Pier-
re Noras auszeichnet.18 In beiden Fällen besteht die Notwendigkeit, komplexe
vergangene Ereignisse in der Erinnerung auf bestimmte Topoi, Bilder oder Per-
sönlichkeiten zu projizieren und zu reduzieren. In der
Violencia
-Literatur ge-
schieht dies exemplarisch, indem breite historische Zusammenhänge auf das Da-
tum des 9. April, den dualistischen Kampf der Parteianhänger oder Personen wie
Gaitán, Gómez und Rojas Pinilla reduziert werden. Wichtige literarische Ver-
15 Vgl. ebd., S. 158.
16
So zwei typische Formulierungen bei
Molano.
1985, S. 10 u.
Alape.
1983, S. 16.
17
Hierzu
Arias, Arturo (Hg.).
2001.
The Rigoberta Menchú Controversy
. Minneapolis:
Univ. of Minnesota Press.
18
Zu diesen Faktoren vgl.
Erll.
2005, S. 144 ff.
229
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
229
fahren zur Erreichung dieses Zwecks sind Metaphorik, Intertextualität und Alle-
gorie. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die Aufführung von Theaterstücken,
wobei audiovisuelle Elemente wie Bühnenbild oder Musik hinzukommen. Im
Weiteren ist zu erforschen, welche narrativen Prozesse bei der Rekonstruktion
der Vergangenheit ablaufen. Im Umgang mit historischen Stoffen sind dabei be-
sonders die Selektion und die Kombination des zu Grunde liegenden Materials
hervorzuheben. Schließlich ist auch die Analyse des Gattungsmusters auf-
schlussreich. Wie die Ergebnisse der
Oral History
gezeigt haben, dienen be-
stimmte Genres von Filmen und Büchern den Erzählenden als Modelle von
Entwicklungsverläufen, die sie bewusst oder unbewusst zur Schilderung der ei-
genen Biografie heranziehen.19 Doch auch in Bezug auf die Werke selbst ist an-
zunehmen, dass die Wahl der Erzählstruktur den Sinn des Erinnerten in eine be-
stimmte Richtung lenkt.20 Besonders stark konventionalisierte Gattungen wie
Epos, historischer Roman oder Staatsmemoiren sind geeignet, schwer zu deu-
tende kollektive Erfahrungen durch bekannte Darstellungsmuster sinnhaft zu
gestalten.21 Nicht zuletzt aus diesem Grund habe ich mich entschieden, nur "ty-
pische"
Violencia
-Romane und Testimonial-Texte als literarische Medien des
kollektiven Gedächtnisses heranzuziehen.
Beide Gattungen leisten die paradigmatische Aufgabe, traumatische kollekti-
ve Erfahrung zu deuten. Eine Sinnstiftung normativer und formativer Art ist so-
wohl in ihrer Struktur als auch in ihrer Thematik angelegt. Im Hinblick auf die
Gestaltung eines "sinnvollen" Erinnerungsdiskurses, wie ich ihn am Ende dieses
Kapitels diskutieren möchte, ist diese Eigenschaft das ausschlaggebende Selek-
tionskriterium. Zwar existieren auch jüngere, oft als "postmodern" bezeichnete
Werke, die auf die historische
Violencia
rekurrieren. Der normative Gehalt so-
wie die eindeutigen politischen Stellungnahmen – im Guten wie im Schlechten –
gehen diesen Texten jedoch weitgehend ab.22
19
Vgl. hierzu
Niethammer, Lutz.
1980. Einführung. In: ders. (Hg.).
Lebenserfahrung und
kollektives Gedächtnis
.
Die Praxis der Oral History
. Frankfurt a. M.: Syndikat, S. 7–26. Die-
se Annahme wird auch von der modernen Gehirnforschung gestützt. So genannte "Blitzlicht-
erinnerungen" an historische Ereignisse können demnach im Nachhinein durch Medienberich-
te oder Gespräche verfälscht werden. Wesentliche Faktoren sind in dabei die Stimmungslage
und der soziale Kontext. Dazu
Einzmann, Simone.
2007. 9/11. Und wo waren Sie? In:
Ge-
hirn & Geist
, Nr. 12 (Dezember, Heidelberg), S. 16–20.
20
Hierzu
White.
1978, S. 81–100.
21
Vgl.
Erll.
2005, S. 146 f.
22
Ein typischer Vertreter dieser Richtung, der in zahlreichen Texten einen Vergleich zwi-
schen historischer und aktueller Gewalt heraufbeschwört, ist der aus Medellín stammende
230
230
Kapitel III
2.1 Der
Violencia
-Roman als Medium des kollektiven Gedächtnisses
Wie bereits angesprochen, ist Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnis-
ses vor allem ein Rezeptionsphänomen. Um herauszufinden, welche Funktion
die
Violencia
-Romane – verstanden als erinnerungskulturelle Medien – erfüllen,
steht daher zunächst deren Aneignung durch die Leserschaft im Zentrum des
Interesses. Astrid Erll zufolge weisen literarische Texte auf kollektiver Ebene
drei Funktionsaspekte auf, die sie als Medien des kollektiven Gedächtnisses
auszeichnen: Speicherfunktion, Zirkulationsfunktion und Abruffunktion.23 Unter
der Speicherfunktion ist die Eigenschaft zu verstehen, Inhalte des kollektiven
Gedächtnisses zu speichern und über einen längeren Zeitraum hinweg verfügbar
zu halten. Aleida Assmann folgend können jedoch nur "kulturelle Texte" diese
spezifische Funktion erfüllen.24 Dabei handelt es sich nicht um Texte, die sich
durch bestimmte stilistische oder inhaltliche Merkmale auszeichnen. Was kultu-
relle von literarischen Texten unterscheidet, ist in erster Linie der Rezeptions-
rahmen. Nur Texte, denen im Sinne eines Kanons ein gewisser kultureller Status
zugesprochen wird, eignen sich auch als Speichermedium. Ihre primäre Aufgabe
ist demnach die Vermittlung kollektiver Identitäten, Geschichtsbilder, Werte
und Normen. Durch die Etablierung eines Kanons würden sich Kulturen zudem
selbst beschreiben.25
Bei der Bestimmung der Zirkulationsfunktion sind keine inhaltlichen oder li-
terarischen Kriterien entscheidend, sondern vielmehr der Verbreitungsgrad und
die Gattung. Denn offenbar sind populäre Zirkulationsmedien wie Zeitschriften
oder Groschenromane aufgrund ihrer starken Verdichtung besonders gut geeig-
net, einen Beitrag zur kollektiven Sinnstiftung zu leisten. Manche Autoren ver-
Schriftsteller Fernando Vallejo. Aufgrund seiner harten, nicht selten zynischen Sichtweise der
kolumbianischen Realität, gilt er als einer der erfolgreichsten und zugleich unbeliebtesten
Autoren Kolumbiens. Bereits mehrmals hat er bekräftigt, dass seine Heimat keine Zukunft
habe. Demnach sei Kolumbien kein Land, sondern eine "Krankheit". Zuletzt erregte er großes
Aufsehen mit seiner Entscheidung, die kolumbianische Staatsbürgerschaft zugunsten der me-
xikanischen niederzulegen. Vgl.
El Tiempo
vom 8. Mai 2007. Siehe auch
Vallejo, Fernando.
1994.
La virgen de los sicarios
. Bogotá: Alfaguara. Dabei handelt es sich um Vallejos be-
kanntestes Werk, das in zahlreiche Sprachen übersetzt und im Jahr 2000 von dem französi-
schen Regisseur Barbet Schroeder verfilmt wurde.
23
Vgl.
Erll.
2005, S. 137 ff.
24
Vgl.
Assmann, Aleida.
1995. Was sind kulturelle Texte? In: Poltermann, Andreas
(Hg.).
Literaturkanon – Medienereignis – kultureller Text. Formen interkultureller Kommuni-
kation und Übersetzung
. Berlin: Erich Schmidt, S. 234 ff.
25
Vgl. ebd., S. 241.
231
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
231
muten diesbezüglich sogar, dass sie bei der Herausbildung spezifischer Erinne-
rungskulturen eine größere Rolle spielen als institutionell vermittelte Ge-
schichtsbilder.26
Weiterhin entscheidend ist die Abruffunktion, wobei es wesentlich auf die ge-
sellschaftliche Übereinkunft im Hinblick auf bestimmte Assoziationen an-
kommt. Dem Konzept von Pierre Noras Erinnerungsorten sehr ähnlich, handelt
es sich dabei um Bilder oder Allegorien, die nur innerhalb des erinnerungskultu-
rellen Kontexts abrufbar sind. Wenn etwa die Nennung der Figur des "Cóndor"
in breiten gesellschaftlichen Kreisen automatisch Assoziationen zum Roman
Cóndores no entierran todos los días
bzw. zu dessen Verfilmung hervorruft,
obwohl der zugrunde liegende Text möglicherweise nie gelesen wurde, ist dies
ein Indiz für den hohen Stellenwert des Werkes innerhalb einer Erinnerungskul-
tur.
Erna Pfeiffer, die in ihrer erschöpfenden Studie über den
Violencia
-Roman in
Kolumbien vor allem sprachliche und literarische Aspekte in den Vordergrund
stellt, hat zur Analyse einzelner Werke eine Trennung nach qualitativen Krite-
rien vorgenommen.27 Geleitet von formalistischer, strukturalistischer und mar-
xistischer Literaturtheorie kommt sie zu dem Schluss, dass der
Violencia
-
Roman, den sie im Zeitraum von 1949 bis 1973 ansiedelt, eine überwiegend
minderwertige Literaturgattung sei. So nimmt sie von mehr als 81 aufgelisteten
Romanen lediglich zwei in die "erste Kategorie" auf, das heißt in die Gruppe
derjenigen Werke, die sowohl in künstlerischer als auch in inhaltlicher Hinsicht
als Weltliteratur gelten können. Dabei handelt es sich um die Romane
El gran
Burundún-Burundá ha muerto
(1952) von Jorge Zalamea sowie
La mala hora
(1962) von Gabriel García Márquez. Immerhin fast die Hälfte der
Violencia
-
Romane stuft sie jedoch in die "vierte Kategorie" ein, das heißt in die Reihe der-
jenigen Machwerke, "die selbst gegen die primitivsten Regeln der Grammatik,
der literarischen Gestaltung und des guten Geschmacks verstoßen".28
Im Hinblick auf die Beurteilung der Relevanz literarischer Texte als Medium
des kollektiven Gedächtnisses nach den oben angeführten Kriterien ist eine sol-
che Kategorisierung zwar wenig hilfreich. Interessanterweise sind jedoch die
Texte mit dem höchsten Verbreitungsgrad – gemessen an den Auflagenzahlen –
keineswegs diejenigen, die von Pfeiffer als "unterste Trivialliteratur" bezeichnet
26 Vgl.
Erll.
2005, S. 158.
27
Vgl.
Pfeiffer.
1984, S. 83–87.
28
Ebd., S. 84.
232
232
Kapitel III
werden. Im Gegenteil, bei
El Cristo de espaldas
(zehn Auflagen; übersetzt ins
Italienische),
El día señalado
(neun Auflagen; übersetzt ins Deutsche, Französi-
sche, Italienische, Dänische, Niederländische und Schwedische) und
Cóndores
no entierran todos los días
(23 Auflagen bei
El Áncora
29) handelt es sich um
Werke, die sie in der "zweiten Kategorie" aufführt. Sie seien sprachlich und lite-
rarisch ansprechend und ließen lediglich das "gewisse Etwas" vermissen. Unter
den Werken der "dritten und vierten Kategorie" erreichen nur die Romane
Vien-
to seco
(1953) von Daniel Caicedo und
Lo que el cielo no perdona
(1954) von
Ernesto León Herrera (Pseudonym für Fidel Blandón Berrio) mehr als drei Auf-
lagen. Als weitere Kriterien für die Einteilung der
Violencia
-Romane gibt Erna
Pfeiffer schließlich die Zahl der Übersetzungen, die Aufnahme durch die Litera-
turkritik sowie die erhaltenen Literaturpreise an.
Für die Romane
El Cristo de espaldas
,
El día señalado
und
Cóndores no en-
tierran todos los días
habe ich mich zunächst aufgrund ihrer Zirkulationsfunkti-
on entschieden. So gehe ich davon aus, dass insbesondere
El Cristo
und
Cóndo-
res
ein außerordentlich breites Publikum erreicht haben dürften, da beide zusätz-
lich in Form eines Fernseh- bzw. Kinofilms Verbreitung fanden. Im Falle von
Cóndores
ist außerdem anzumerken, dass der Text bis heute als Standardwerk
an Sekundarschulen gelesen wird und folglich Einzug in den Kanon der kolum-
bianischen Gegenwartsliteratur gefunden hat.30 Eine weitere Überlegung für die
Auswahl der drei Texte war weiterhin ihre zeitliche Distanz zueinander. Denn
während
El Cristo
in der ersten Phase der
Violencia
erschien (1952), entstand
El
día
im Kontext von
bandolerismo
und
Frente Nacional
(1963).
Cóndores
schließlich, als einer der letzten
Violencia
-Romane, betrachtet das Geschehen
bereits aus der Retrospektive (1971). Diese Selektion hat den Vorteil, die Ent-
wicklung des
Violencia
-Romans über einen langen Zeitraum verfolgen zu kön-
nen. Sowohl inhaltlich-sprachliche Veränderungen als auch Wandlungen bezüg-
lich der Speicher-, Zirkulations- und Abruffunktion werden somit deutlich.
Dass beispielsweise Romane wie
La mala hora
von García Márquez, dem ja
ebenfalls ein großer Publikumserfolg beschieden war, bei meiner Betrachtung
keine Rolle spielen, hängt in erster Linie mit dem Inhalt zusammen. Denn, wie
29
Hinzu kommen mehrere Auflagen bei
Destino
(Barcelona),
Plaza & Janes
(Bogotá) und
Panamericana
(Bogotá). Dem Autor zufolge existieren insgesamt über 60 legale Auflagen
sowie mindestens 90 illegale. Vgl. dazu die Gardeazábal-Seite der
Universidad del Valle
:
http://dintev.univalle.edu.co/cvisaacs/gardeazabal/index.htm.
30
Interview mit Maritza Mosquera Escudero, Verantwortliche des
Plan Nacional de Lec-
tura y Bibliotecas del Ministerio de Cultura
(Bogotá), am 27. April 2007.
233
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
233
bereits erwähnt, kommt es bei der Einordnung eines literarischen Textes als Me-
dium des kollektiven Gedächtnisses auch auf die Vermittlung kollektiver Identi-
täten, Geschichtsbilder, Werte und Normen an. In diesem Sinne ist etwa
La ma-
la hora
kaum ergiebig, da er zwar die gewalttätige Atmosphäre der 50er und
60er Jahre meisterhaft einfängt, jedoch ansonsten kaum Hinweise auf historische
Zusammenhänge, Geschichtsbilder, paradigmatische Handlungen und Personen
enthält. Das wesentliche Merkmal der Verdichtung komplexer Zusammenhänge
auf Daten, Personen und Ereignisse ist eher ein Kennzeichen der "typischen"
Violencia
-Romanen. Diese zeichnen sich ferner durch die starke Akzentuierung
normativer Elemente und einen gewissen Erziehungsanspruch aus. Denn neben
einer klaren Gattungszugehörigkeit und der Verdichtung ist auch der selektive
und teilweise manipulative Umgang mit konkreten historischen Stoffen ein
wichtiges Element der "Gedächtnisromane".31
2.1.1
El Cristo de espaldas
von Eduardo Caballero Calderón
Eduardo Caballero Calderón (1910–1993), dessen Name bereits im vorangegan-
genen Kapitel im Zusammenhang mit den wichtigsten "Gegenstimmen" in der
Presse gefallen war, stammte aus einer reichen Großgrundbesitzerfamilie, die im
Departement Boyacá über ausgedehnte Ländereien verfügte. Neben seiner Tä-
tigkeit als Schriftsteller trat er vor allem als Journalist, Politiker und Diplomat in
Erscheinung. So arbeitete er jahrzehntelang als Redakteur für
El Tiempo
und
setzte sich innerhalb der Liberalen Partei für strukturelle Veränderungen ein. Im
Jahre 1944 gründete er zusammen mit anderen linksnationalistischen Abweich-
lern die so genannte
Alianza Nacional Revolucionaria
, der jedoch an den Wahl-
urnen kein großer Erfolg beschieden war. Während des
Frente Nacional
beklei-
dete er unter anderem das Amt des kolumbianischen Botschafters bei der
UNESCO (1962–1966). Sein regierungskritisches, aufklärerisches und streitba-
res Erbe wird heutzutage von seinem Sohn, dem bekannten Journalisten und
Schriftsteller Antonio Caballero, vertreten. Anders als sein Vater, musste dieser
jedoch aufgrund seiner kritischen Haltung mehrere Jahre im spanischen Exil
verbringen, da ihm die rechtsgerichteten Paramilitärs mit der Ermordung ge-
droht hatten.
31
Siehe
Erll.
2003.
234
234
Kapitel III
Trotz seiner Herkunft gehörte Caballero Calderón dem progressivsten Teil der
kolumbianischen Elite an und setzte sich Zeit seines Lebens für soziale und poli-
tische Reformen ein. Wie der Historiker Eduardo Posada Carbó indes zu Recht
bemerkt, zeigte der Schriftsteller und Politiker dabei eine seltsame Distanz zu
den unteren Schichten, die er für physisch und intellektuell degeneriert hielt.32
In diesem Sinne teilte Caballero Calderón die elitären und paternalistischen
Überzeugungen vieler seiner Zeitgenossen. Im Unterschied zu den meisten An-
gehörigen der politischen Klasse, die sich nicht selten ebenfalls der Schriftstelle-
rei oder dem Journalismus widmeten, verurteilte er jedoch als einer der ersten
explizit den vom
Frente Nacional
formulierten "Diskurs des Vergessens" (siehe
Kap. II, 2.3). Auch sein literarisches Werk ist durchdrungen von politischen
Idealen und dem Wunsch, einen Beitrag zur Beendigung des politischen Konf-
likts zu leisten. In dem Roman
El Cristo
, der während der ersten Phase der
Vio-
lencia
in Buenos Aires veröffentlicht wurde, schildert er den Bürgerkrieg als
einen Kampf der Parteien, bei dem sozioökonomische Aspekte nur eine unter-
geordnete Rolle spielen.33 Es geht ihm vielmehr darum, in klarer und prägnanter
Sprache eine Parabel über den Zustand der Gesellschaft zu schaffen, die eine
möglichst breite Leserschaft finden sollte. Der normative Gehalt des Buches, das
vom Verlust des Glaubens und der Werte während der
Violencia
handelt, ist
gleichfalls hoch. Reale historische Begebenheiten fließen hingegen eher spärlich
ein.
Die Handlung umfasst einen Zeitraum von lediglich vier Tagen und beginnt
mit der Ankunft eines jungen, idealistischen Priesters in einem namenlosen Dorf
im kolumbianischen Hochland. Der Priester, der erst vor kurzem seine Ausbil-
dung in Bogotá beendet hat, ist auf der Suche nach dem "wahren Leben" und
träumt von der praktischen Umsetzung christlicher Tugenden, die er bislang nur
aus theologischen Lehrbüchern kennt. Schon kurz nach seiner Ankunft im Dorf
sieht er sich jedoch mit einer Realität konfrontiert, die in keiner Weise mit seiner
idealisierten Vorstellung eines "friedlichen" Landlebens im Einklang steht.
Stattdessen muss er feststellen, dass sich die unter dem Einfluss der Konservati-
ven Partei stehende Dorfbevölkerung in einer Fehde mit dem liberalen Nachbar-
dorf befindet. Auf beiden Seiten gehören Gewalt, Intrigen und Heuchelei zum
32 Vgl.
Posada Carbó.
2007, S. 219–224.
33
Im Folgenden stütze ich mich auf den im dritten Band der gesammelten Werke veröf-
fentlichten Text. Siehe
Caballero Calderón, Eduardo.
1964. El Cristo de espaldas. In:
Obras
, Bd. 3. Medellín: Bedout, S. 453–584.
235
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
235
Alltag. Als der konservative Kazike34 des Dorfes ermordet wird, fällt der Ver-
dacht auf dessen liberalen Sohn, der aus dem Nachbardorf herbeigekommen
war, um sich seinen Erbteil zu sichern. Durch Einsatz seines Lebens kann der
junge Priester verhindern, dass der Sohn des Kaziken umgebracht wird; daneben
erfährt er unter der Beichte die wahre Identität des Mörders, wenngleich dessen
Auftraggeber im Dunklen bleibt. Noch bevor der Priester weitere Nachfor-
schungen anstellen kann, erwirken die Autoritäten des Dorfes seine Versetzung.
Schließlich eröffnet ihm der Bischof von Bogotá in einem Brief, dass er unver-
züglich in die Hauptstadt zurückkehren solle, da ihm "Christus den Rücken zu-
gekehrt" habe. In Gedanken formuliert er seinen Protest gegenüber der ignoran-
ten Haltung des Bischofs:
Si pequé, no fue por orgullo sino por ligereza; no fue de malicioso sino de ingenuo, y Dios
perdona y ama a los niños porque son ingenuos y no son maliciosos. El Cristo no se me vol-
vió de espaldas, excelencia, porque yo lo siento vivo y ardiente en mi corazón y mi corazón
no me engaña. Verá su excelencia: lo que ocurre es que los hombres le volvieron las espaldas
al Cristo.35
Dieser frühe
Violencia
-Roman ist gleichzeitig das bekannteste Werk von Ca-
ballero Calderón. Obwohl er sich anschließend in zwei weiteren Romanen (
Sier-
vo sin tierra
und
Manuel Pacho
) mit den Folgen der
Violencia
beschäftigte, war
El Cristo
der weitaus größte Erfolg beschieden. Zwar stieß das Werk bei der Li-
teraturkritik auf ein geteiltes Echo, erreichte jedoch trotzdem mehrere Auflagen
und eine fand eine breite Leserschaft.36 Zu seiner weiteren Popularisierung trug
schließlich im Jahre 1986 ein Fernsehfilm des Regisseurs Jorge Alí Triana bei.
Das Rezept für den großen Publikumserfolg von
El Cristo
lag vor allem in sei-
ner einfachen Struktur, seiner klaren Sprache und seinem knappen Umfang (165
34
Ursprünglich benannten die spanischen Eroberer mit dem aus der Sprache der Taíno-
Indianer entlehnten Wort
cacique
die Führer indianischer Reiche oder Gemeinschaften. In
einigen Ländern, wie zum Beispiel Kolumbien, bezeichnet das Wort seit dem 19. Jahrhundert
allerdings mächtige Persönlichkeiten auf lokaler und regionaler Ebene, die ihre Macht mit
Hilfe klientelistischer Netzwerke ausüben. Je nach Region und Land wird der Terminus ab-
wertend oder neutral gebraucht. Siehe hierzu
MacLeod, Murdo.
1996. Cacique, Caciquismo.
In: Tenenbaum, Barbara (Hg.).
Encyclopedia of Latin American History and Culture.
New York: Charles Scribner’s Sons, S. 505 f.
35
Caballero Calderón.
1964, S. 583.
36
Mehrere Ausgaben in spanischer Sprache von unterschiedlichen Verlagshäusern:
Losa-
da
(Buenos Aires),
Destino
(Barcelona),
Bedout
(Medellín),
Espiral Colombia
(Bogotá),
Ove-
ja Negra
(Bogotá),
El Áncora
(Bogotá),
Colcultura
(Bogotá),
Organización Continental de
los Festivales del Libro
(Caracas). Allein die Ausgabe von
El Áncora
erreichte zehn Aufla-
gen.
236
236
Kapitel III
Seiten, Erstausgabe) begründet. In mehrfacher Hinsicht ein "typischer"
Violen-
cia
-Roman, weist
El Cristo
eine starke Überzeichnung der meisten Figuren auf.
In diesem Sinne präsentiert Caballero Calderón einige seiner Protagonisten als
regelrechte Karikaturen und neigt zu schablonenhaften Dualismen. Dem idealis-
tischen, unschuldigen und naiven Priester stellt er so zum Beispiel den gerisse-
nen und hinterhältigen Notar sowie den faulen, trunksüchtigen, geldgierigen und
durch eine grässliche Narbe im Gesicht entstellten Mörder namens "Caricortao"
gegenüber. Daneben finden sich noch einige weitere Figuren, die sowohl im
Vergleich zum "engelsgleichen" Priester als auch untereinander extrem gegen-
sätzlich ausfallen. Aufgrund dieser etwas unbeholfenen Schwarzweißmalerei
kommt Erna Pfeiffer zu dem Schluss, dass allzu viele explizite Hinweise und
Überzeichnungen, gepaart mit dem pädagogischen Impetus des Autors, nur die
Ablehnung des Lesers hervorrufen könnten.37
Gerade der "belehrende" Duktus und die Überzeichnung sind jedoch wichtige
Merkmale des "klassischen"
Violencia
-Romans. Auf Kosten stilistischer und
sprachlicher Feinheiten hat Caballero Calderón zu diesen Mitteln gegriffen, um
seiner politischen Überzeugung Ausdruck zu verleihen. Neben dem normativen
Gehalt der Erzählung finden sich daher auch zahlreiche Hinweise auf historisch-
politische Zusammenhänge, die im Hinblick auf die Bedeutung des Buches als
Medium des kollektiven Gedächtnisses relevanter sind als seine literarischen
Schwächen. Zwar vermeidet es der Autor, genaue Angaben über existierende
Personen oder historische Tatsachen zu machen. Das namenlose Dorf erweist
sich allerdings als idealtypisches Abbild einer ländlichen Gemeinde im Epizent-
rum der
Violencia
. Es stellt einen Mikrokosmos dar, in dem die wichtigsten ge-
sellschaftlichen und politischen Institutionen vertreten sind. Im Zusammenhang
mit der bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den Parteianhängern kommt
daher der lokalen Verwaltung, den Parteien, der Polizei, der Armee und den Or-
ganen der Rechtssprechung besondere Bedeutung zu. Ihnen allen unterstellt der
Autor eine direkte Beteiligung an der
Violencia
, wobei er dazu neigt, die kon-
servative Schuld höher einzustufen als die liberale. Neben der Schilderung phy-
sischer Gewalt geht Caballero Calderón besonders auf die ständigen Wahlfäl-
schungen und die Manipulation der Presse durch Mitglieder der Konservativen
Partei ein. So wird der junge Priester Zeuge, wie der Bürgermeister des Dorfes
im Auftrag des
Directorio Nacional Conservador
massenhaft Wahlausweise
dupliziert, um den Gewinn der Präsidentschaftswahlen zu sichern. In seiner Kri-
37 Vgl.
Pfeiffer.
1984, S. 132.
237
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
237
tik an der manipulativen Berichterstattung der Presse beginnt der Priester
schließlich einen Disput mit dem Notar, der zugleich Redakteur und Korrespon-
dent der regionalen Tageszeitung ist:
El buen cura en vano trató de explicar que los escritos que publicaron, no por venir en letra de
molde, tienen el carácter de verdades reveladas. Los diarios suelen mentir de tres maneras
distintas: por omisión, cuando deliberadamente ocultan la verdad que los perjudica; por exa-
geración, cuando la desfiguran hasta el punto de que no la reconocería ni su propio padre; y
finalmente por tergiversación, cuando le retuercen el cuello a la verdad para que lo negro apa-
rezca blanco y lo blanco negro.38
Im Zentrum der Kritik steht jedoch die Rolle der lokalen Oligarchie und der
religiösen Autoritäten. Anstatt sich dabei auf eine konkrete und ausufernde Be-
schreibung der Personen und ihrer vielfältigen Verflechtungen zu konzentrieren,
greift Caballero Calderón zum Mittel der Verdichtung. Die beiden Dorfkaziken
Don Roque Piragua (konservativ) und Don Pío Quinto (liberal) erhebt er zu
Archetypen mächtiger
gamonales
. Nachdem Pío Quinto während der liberalen
Epoche (seit 1930) die uneingeschränkte Macht in der Region ausübte, führt er
seit der Machtübernahme der Konservativen (1946) ein Rückzugsgefecht vom
Nachbardorf aus, wo er seine letzten verbliebenen Anhänger um sich geschart
hat. Bei der Beschreibung der beiden Kaziken differenziert Caballero Calderón
kaum nach politischen Kriterien. In beiden Fällen erscheint die Parteizugehörig-
keit lediglich als oberflächliches Merkmal, das eher auf Vererbung und weniger
auf Überzeugung beruht. Pío Quinto, der in seinem Leben mehr als 20 uneheli-
che Kinder gezeugt hat, sich in der Vergangenheit als Herr über Leben und Tod
aufspielte und ohne dessen Einwilligung "es im Dorf weder regnete noch die
Sonne schien", ist im Grunde die Karikatur eines Kaziken:
Era aquel don Pío Quinto hombre muy rico, que por toda suerte de mañas y artimañas fabricó
una respetable fortuna, acogotando a los vecinos del pueblo a quienes les daba en préstamos
dinero sobre hipotecas, y corriendo las cercas de alambre que dividían sus tierras de las de los
aldeanos. Tenía fincas en toda la región, desde el pueblo de abajo, a la orilla del río, hasta el
pueblo de arriba, en pleno páramo. Sus dominios temblaban bajo su puño de hierro. Cuando
se emborrachaba, que era con frecuencia, solía divertirse disparando a altas horas de la noche
en la plaza del pueblo, para amedrentarlo. Diariamente salía a caballo, muy de mañana, a visi-
tar la finca de Agua Bonita donde sus hijos naturales trabajaban como peones en los barbe-
chos, pues nunca, quiso educarlos.39
38
Caballero Calderón.
1964, S. 569.
39
Ebd., S. 489.
238
238
Kapitel III
Die Figur des Pío Quinto dient dem Autor weiterhin dazu, die historischen
Wurzeln des Konflikts aufzudecken. Dabei ist die Beschreibung seiner Person
und seines Lebens derart schematisch ausgefallen, dass beim Leser der Eindruck
eines nachträglich eingefügten "Verbindungsstücks" entsteht. Pío Quinto ver-
körpert in allegorischer Weise das "alte" Kolumbien vor dem Beginn der
Vio-
lencia
, in der zwar Moral und Werte einen höheren Stellenwert einnahmen, die
Oligarchen jedoch bereits den Grundstein für die spätere Gewalteskalation ge-
legt hatten. Bei der Charakterisierung seiner Figur klingen daher Erinnerungen
an die früheren Auseinandersetzungen zwischen den Parteien an, als deren
Kampfgruppen die Waffen ergriffen, um den Gegner auf dem Feld zu schlagen.
Im Anschluss an diese so genannten
guerras de caballeros
einigten sich die Par-
teiführer zumeist auf der Grundlage von Amnestieabkommen und politischen
Pakten über die Regierungsbeteiligung, was in der Folge ebenfalls zu einem
Grundmuster der kolumbianischen Konfliktgeschichte werden sollte.40 Neben
dem Verweis auf die historischen Bürgerkriege spielt bei der Schilderung von
Pío Quintos Leben auch das Ehrverständnis der traditionellen Familien eine Rol-
le. So zogen es diese vor, selbst nach der politischen Macht zu greifen, als unter
der unwürdigen "Knechtschaft" eines konkurrierenden Klans zu leben. Zuletzt
verkörpert Pío Quinto, in seiner Eigenschaft als Liberaler, auch das Streben nach
ökonomischen Privilegien, unbeschränktem Handel und individuellen Freiheits-
rechten.
Trotz dieses eindeutigen Hinweises auf das eigentliche Fundament der libera-
len "Ideologie", lässt Caballero Calderón keinen Zweifel an der Inhaltslosigkeit
der parteipolitischen Bekenntnisse zu Beginn der
Violencia
. Wiederum in gro-
tesk überzeichneter Form schildert er beispielsweise, wie die letzten drei libera-
len Campesinos im Dorf ihrem "Glauben" unter Androhung der Todesstrafe ab-
schwören müssen. Dabei wird deutlich, dass es sich bei der Bezeichnung "Libe-
raler" bzw. "Konservativer" um erstarrte Formeln handelt, deren symbolischer
Gehalt wichtiger ist als der politische. Die Herausbildung politischer Subkultu-
ren beruht im Roman in erster Linie auf gemeinsam vollzogenen Ritualen, wie
etwa den öffentlich zur Schau gestellten Glaubensbeweisen, dem Schwur auf die
40
Siehe hierzu
Sánchez, Gonzalo.
2001. De amnistías, guerras y negociaciones. In:
ders./Mario Aguilera (Hgg.).
Memoria de un país en guerra. Los Mil Días 1899–1902
. Bo-
gotá: Planeta, S. 329–366.
239
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
239
(konservative) Verfassung41 oder den ständig ausgerufenen "vivas" bzw. "a ba-
jos":
Sacaron de la alcaldía a los tres sindicados de liberalismo y en mitad de la plaza los hicieron
arrodillar ante el Alcalde. Tenía éste en las manos un pesado librote, que ella no sabría decir si
eran los Evangelios o la Constitución. En todo caso, por este libro habían jurado que renun-
ciarían a ser liberales para siempre y reconocían el error de la infamia en que hasta entonces
habían vivido. Luego entregaron las cédulas y dieron un viva a las autoridades y un muera a
cada uno de los Presidentes liberales difuntos.42
Obwohl sich der Roman über weite Strecken in diesem Bereich der oberfläch-
lichen Rituale und Handlungen bewegt, spielt Caballero Calderón an wenigen
Stellen auch auf den ökonomischen Hintergrund des Konflikts an. Zwar bietet er
keine tiefgreifenden Erklärungen, aber zumindest spielen vage formulierte öko-
nomische Motive eine gewisse Rolle. Als sich etwa der Sohn des verstorbenen
konservativen Kaziken Don Roque Piragua beim Bürgermeister für die Gänge-
lung eines liberalen Rivalen einsetzt, entgegnet ihm dieser, dass nun bereits das
Maß des Erträglichen erreicht sei. Schließlich habe sich schon sein Vater des
Mittels exzessiver Steuererhöhungen und Verkaufsverbote bedient, um seine
politischen Feinde zu ruinieren bzw. deren Besitz zu übernehmen.43
Neben dem Hinweis auf das negative Wirken der Oligarchen geht Caballero
Calderón jedoch vor allem mit der Kirche ins Gericht. So schildert er eindring-
lich die spirituelle Leere der Konservativen, deren "Glaubensbeweise" sich im
regelmäßigen Besuch der sonntäglichen Messe erschöpfen. Während des Got-
tesdienstes schlafen sie häufig ein und interessieren sich auch sonst kaum für die
praktische Umsetzung der christlichen Lehre, wie der junge Priester bald erfah-
ren muss. Zwischen dem Vorgesetzten des
cura joven
, dem fanatischen
cura
viejo
, und der Konservativen Partei existiert zudem ein ungeschriebenes Ab-
kommen über die "Säuberung" der Region. Aus diesem Grund predigt der alte
Priester auch im Nachbardorf, wo er den "atheistischen" und "bösartigen" Libe-
ralismus von der Kanzel aus bekämpft. Der Zustand im Dorf ist somit ein weite-
res Sinnbild für die von religiösem Fanatismus und Intoleranz geprägte Situation
des Landes.
41
Die im Jahre 1886 im Zuge der so genannten
regeneración
eingeführte Verfassung war
insofern "konservativ", als in ihr Zentralismus und Katholizismus als staatstragende Elemente
verankert waren. Zur Verfassungsgeschichte siehe
König/Schuster.
2008, S. 346 f.
42
Caballero Calderón.
1964, S. 535.
43
Vgl. ebd., S. 487.
240
240
Kapitel III
Kolumbien, in dem sich auf der Grundlage eines Konkordats mit dem Vatikan
seit 1887 das gesamte Bildungswesen fest in der Hand der Kirche befand, stand
auch in anderen staatlichen Bereichen unter dem Einfluss des Katholizismus. So
kontrollieren die religiösen Autoritäten weite Teile des in Ansätzen vorhandenen
Wohlfahrtswesens und griffen nicht selten in die Tagespolitik ein.44 Im Roman
stehen deshalb die individuellen Verfehlungen der Kirchenmänner stellvertre-
tend für die unheilvolle Verquickung von Kirche und Politik auf nationaler Ebe-
ne. An mehreren Beispielen, insbesondere jedoch anhand des
cura viejo
und des
Bischofs von Bogotá, kritisiert Caballero Calderón die Rolle der Kirche bei der
Manipulation der Wahlen, die von ihr ausgeübte soziale Kontrolle, die persönli-
che Bereicherung einzelner ihrer Mitglieder sowie ihren herablassenden Paterna-
lismus.
Ironischerweise stellt der Roman in gewissem Sinne jedoch selbst das Pro-
dukt einer paternalistischen Grundhaltung dar – allerdings von liberaler Seite.
Denn, wie Erna Pfeiffer zu Recht bemerkt, ist das Programm des Politikers Ca-
ballero Calderón auf jeder Seite präsent. Ihr zufolge liegt gar eine klare Über-
einstimmung zwischen der literarischen Struktur des Romans und der liberalen
Überzeugung des Autors vor.45 Sie sieht in Caballero Calderón einen Schriftstel-
ler, der als typischer Vertreter der gebildeten Oberschicht einem liberalen Indi-
vidualismus huldigt. Demzufolge würde er in dem Roman vor allem die Befrei-
ung des Einzelnen durch seine eigenen Kräfte und Möglichkeiten propagieren,
was nur durch Aufklärung und Bildung möglich sei. Die zyklische Struktur des
Romans, bei der sich die mit der Ermordung Don Roque Piraguas begonnene
Gewalt am Ende mit blutigen Auseinandersetzungen zwischen Soldaten und
Campesinos fortsetzt, deutet sie als Zeichen dieser Einstellung. Damit habe Ca-
ballero Calderón zeigen wollen, dass ein "revolutionäres" Aufbegehren sinnlos
sei, was dem "seiner sozialen Klasse eigentümlichen Willen zur Bewahrung der
bestehenden Verhältnisse" entspreche.46
Meiner Ansicht nach ist diese Deutung zu einseitig. Wie zum Beispiel die
journalistischen Texte Caballero Calderóns zeigen (siehe Kap. II, 2.3), hat er
zumindest während des
Frente Nacional
durchaus die Möglichkeit einer Verän-
derung "von unten" erwogen. Zwar dominiert in
El Cristo
tatsächlich eine pater-
nalistische Haltung. Dennoch könnte die zyklische Struktur auch als Sinnbild für
44
Das Konkordat zwischen Staat und Vatikan wurde erst im Jahre 1973 aufgehoben; seine
Nachwirkungen sind jedoch bis heute spürbar. Vgl. hierzu
Bushnell.
2003, S. 200 f.
45
Vgl.
Pfeiffer.
1984, S. 139.
46
Vgl. ebd.
241
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
241
die Irrationalität und Ausweglosigkeit einer Situation verstanden werden, die
weder "von oben" noch "von unten" zu verbessern war. In diesem Sinne ist der
von Erna Pfeiffer beklagte "Fatalismus" vielmehr als realistische Vorahnung
bezüglich des weiteren Konfliktverlaufs zu sehen und verleiht dem Werk eine
besondere Aktualität. Angesichts des aktuellen Binnenkonflikts, der vielen Ko-
lumbianern als bloße Fortsetzung der historischen
Violencia
erscheint, liest sich
El Cristo
sogar wie die Prophetie des Scheiterns aller gutgemeinten Lösungsvor-
schläge, aber auch der "revolutionären" Optionen. Im Gegensatz zum berühmten
Roman
El otoño del patriarca
(1975), bei dem Gabriel García Márquez eine
zyklische Erzählstruktur am Ende auflöst, um auf den "unvermeidlichen" Erfolg
der sozialistischen Revolution anzuspielen, gibt sich Caballero Calderón als
ideologischer Skeptiker zu erkennen. Er ist weder der "Musterliberale", für den
ihn Erna Pfeiffer hält, noch Anhänger einer "revolutionären" Lösung.
Die Speicherfunktion als Medium des kollektiven Gedächtnisses erfüllt der
Roman paradigmatisch, indem er historische und politische Inhalte stark ver-
dichtet und eine klare moralische Aussage macht. Auf Kosten der literarischen
Qualität erscheinen Figuren und Ereignisse oft grotesk überzeichnet, während
die politisch-pädagogischen Inhalte mit erhobenem Zeigefinger ausgebreitet
werden. Dass die historische Schuld dabei einer Partei, nämlich den Konservati-
ven, angelastet wird, ist genauso "typisch" für den
Violencia
-Roman wie seine
konventionelle Struktur. Ein traditioneller Aufbau nach chronologisch fort-
schreitenden Episoden, die einfache Sprache, der Verzicht auf literarische Spie-
lereien und sein sozialkritischer Charakter haben dazu beigetragen, den Roman
für "bildungsferne" Schichten attraktiv zu machen. Aufgrund dieser Tatsache
wurde der Text bereits in den 60er Jahren als "Klassiker" gehandelt, der auch im
Schulunterricht gelesen wurde und so zumindest indirekt der Einführung in die
Thematik der
Violencia
diente.47 Obwohl die Darstellung dieser frühen Phase
des Bürgerkrieges recht parteiisch und teilweise oberflächlich ist, kann das Buch
im Vergleich zu den bis in die Mitte der 80er Jahre verwendeten Schulbüchern
(siehe Kap. II, 5.3) durchaus als "Gegenstimme" gelten. Zwar betont Caballero
Calderón niemals ausdrücklich die Schuld bestimmter Personen, dennoch wird
schnell klar, dass die politischen Eliten auf nationaler, regionaler und lokaler
Ebene die Hauptverantwortung für die Gewalt tragen.
47
Interview mit Maritza Mosquera Escudero, Verantwortliche des
Plan Nacional de Lec-
tura y Bibliotecas del Ministerio de Cultura
(Bogotá), am 27. April 2007.
242
242
Kapitel III
2.1.2
El día señalado
von Manuel Mejía Vallejo
Im Gegensatz zu Caballero Calderóns frühem
Violencia
-Roman handelt es sich
bei dem zehn Jahre später entstandenen
El día señalado
um ein literarisch aus-
gereiftes und ungleich komplexeres Werk. Nichtsdestotrotz war die
Violencia
bei Erscheinen des Buches (1963) noch nicht zu Ende, sondern wies in dieser
späten Phase einen recht ambivalenten Charakter auf. Im Unterschied zur "poli-
tischen" bzw. "ökonomischen" Phase war die Zeit nach dem Sturz des Diktators
Rojas Pinilla sowohl von entpolitisierten, marodierenden Banden als auch von
linksgerichteten Guerillabewegungen geprägt. Wie im vorherigen Kapitel ge-
zeigt, konnte die offizielle Rhetorik von Frieden, Versöhnung und Vergessen
während des
Frente Nacional
nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Ge-
walt auf dem Land nur schwer eindämmen ließ (siehe Kap. II, 2 u. 4).
Manuel Mejía Vallejo (1923–1998) stammte – anders als viele
Violencia
-
Autoren – tatsächlich aus einer direkt vom Bürgerkrieg betroffenen ländlichen
Region. Seine Kindheit verbrachte er in den kleinen Ortschaften Jericó und El
Jardín (Antioquia), wo er als Sohn eines Töpfers die harten Lebensbedingungen
der Campesinos kennenlernte. In späteren Jahren ging er nach Medellín, wo er
die Schule besuchte und anschließend Bildhauerei und Malerei am
Instituto de
Bellas Artes
studierte. Bereits während dieser Zeit hielt er sich mit diversen Ge-
legenheitsjobs über Wasser, wobei er auch sein journalistisches Talent entdeck-
te. Ohne seine Kunstausbildung beendet zu haben reiste Mejía Vallejo mehrere
Jahre durch Lateinamerika und arbeitete für große Tageszeitungen in Venezuela
und Zentralamerika. Nach seiner Rückkehr aus Zentralamerika (1956) erhielt er
eine Stelle als Dozent für Literaturwissenschaften an der
Universidad de Antio-
quia
in Medellín. Daneben arbeitete er weiterhin als Journalist für die Zeitungen
El Colombiano
,
El Espectador
und
El Tiempo
.
Nach einer Reihe von Erzählungen, die während seiner Aufenthalte in Mittel-
amerika entstanden waren, sowie zwei erfolglosen Romanen (
La tierra éramos
nosotros
und
Tiempo de sequía
), gelang ihm im Jahre 1963 mit
El día señalado
der Durchbruch.48 Das Werk stieß sofort auf das ungeteilt positive Echo der Li-
teraturkritik und brachte seinem Autor den renommierten
Premio Nadal
in Bar-
celona ein, der damals zum ersten Mal einem Lateinamerikaner verliehen wurde.
In der Folge entwickelte sich der Roman zu einem der wichtigsten Werke über
48
Im Folgenden stütze ich mich auf die fünfte Ausgabe von 1964. Siehe
Mejía Vallejo,
Manuel.
51964.
El día señalado
. Barcelona: Destino.
243
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
243
die
Violencia
und stieß – was ebenso ungewöhnlich war – auch auf das Interesse
ausländischer Verleger. In zahlreiche europäische Sprachen übersetzt galt Mejía
Vallejo zu Beginn der 60er Jahre als der zukunftsträchtigste kolumbianische Au-
tor. Mit dem bahnbrechenden Erfolg von Gabriel García Márquez, der im Ge-
folge des so genannten "Boom" zum bekanntesten lateinamerikanischen Schrift-
steller überhaupt avancierte, verschwand Mejía Vallejo jedoch zunehmend im
Schatten seines jüngeren Kollegen. Trotz zahlreicher Versuche, an den Erfolg
von
El día
anzuknüpfen, gelang es ihm bis zu seinem Tode nicht mehr, ein
ebenbürtiges Werk zu verfassen. Auf eine Verwendung des Romans im Schul-
unterricht, wie dies bei
El Cristo
und
Cóndores
eindeutig der Fall war bzw. ist,
deutet ebenfalls wenig hin. Angesichts des recht gehobenen sprachlichen Ni-
veaus und der strukturellen Komplexität ist es eher unwahrscheinlich, dass
El
día
auch in "bildungsfernen" Schichten gelesen wurde. Dennoch weist der Text
zahlreiche Merkmale auf, die ihn zu einem typischen
Violencia
-Roman machen
und als Medium des kollektiven Gedächtnisses auszeichnen.
Ähnlich wie bei
El Cristo
erstreckt sich auch in
El día
die Handlung über ei-
nen außerordentlich kurzen Zeitraum von nur drei Tagen. Im Unterschied zu
Caballero Calderóns linearer und geschlossener Darstellung beinhaltet
El día
jedoch zahlreiche Rückblenden und Exkurse, die breiten Raum einnehmen und
so den zeitlichen Rahmen beträchtlich ausweiten. Die Kernhandlung wird von
der namenlosen Figur des jungen
gallero
getragen, der in den Ort Tambo reist,
um dort den Mann zu finden, der seine Mutter vor 24 Jahren schwängerte und in
Armut zurückließ. Mit dem Versprechen, eines Tages zurückzukommen, über-
gab der Mann ihr damals einen Hahn und verschwand später in den Bergen. Be-
gleitet von seinem eigenen Hahn und bewaffnet mit einem Messer macht sich
nun der junge
gallero
auf den Weg zur lokalen
feria
, auf der die besten Kampf-
hähne gegeneinander antreten. Nachdem er sein ganzes Leben lang davon ge-
träumt hat, sich für die Demütigung seiner Mutter zu rächen, kommt für ihn nur
noch die Ermordung des Mannes in Frage. Als sein Kampfhahn gegen den des
mächtigen Kaziken Don Heraclio antritt, ist er sich instinktiv sicher, seinen bio-
logischen Vater gefunden zu haben. Bei dessen Hahn handelt es sich nämlich
um ein Tier der gleichen Rasse, wie es seine Mutter vor 24 Jahren geschenkt
bekommen hatte.
Parallel hierzu beschreibt Mejía Vallejo die schlimmen Zustände im Dorf
Tambo, das vor allem unter der Gewalt der gegen die linksgerichteten Guerille-
ros eingesetzten Armee leidet. Werte und Sitten sind derart verfallen, dass etwa
dem lokalen Bordell eine wichtigere Funktion zukommt als der Kirche. Diese
244
244
Kapitel III
Situation ändert sich jedoch schlagartig, als ein neuer Pfarrer eintrifft. Ähnlich
dem "engelsgleichen" Priester aus
El Cristo
handelt es sich bei der Figur des
Pater Barrios um eine idealistische, philanthropische, aber auch praktisch den-
kende Persönlichkeit. Im Unterschied zu Caballero Calderóns weltfremdem
cura
joven
hat der hier geschilderte Pater kein Problem, mit seiner Umwelt zu kom-
munizieren und das Vertrauen der Dorfbevölkerung zu gewinnen. Mit unge-
wöhnlichen Maßnahmen, wie der offenen Aussprache über erlebtes Unrecht
oder dem Pflanzen von Bäumen, gelingt es ihm sogar, zahlreiche Personen von
der schiefen Bahn abzubringen und das Klima der Gewalt abzuschwächen.
Der unter dem Wirken des Priesters eingetretene Frieden ist jedoch nur von
kurzer Dauer. Während die finale Auseinandersetzung zwischen Guerilla und
Armee immer näher rückt, bahnt sich auch auf der
feria
eine Entscheidung an.
Als Don Heraclio seinen Hahn auf den des fremden Widersachers hetzt, erkennt
auch er die Rasse des Tieres wieder und erinnert sich an das vor langer Zeit an
der Frau begangene Unrecht. Innerlich ist er sich sicher, seinem Sohn gegenü-
berzustehen, wenngleich er sich dies nicht eingestehen mag. Nachdem der
Kampfhahn des jungen
gallero
gesiegt hat, ergibt sich die lange herbeigesehnte
Gelegenheit, den verhassten Vater zu ermorden. Als sich dieser nähert, erkennt
der junge Mann jedoch, dass der alternde, verkrüppelte und einsame
gamonal
im
Grunde selbst ein Opfer der
Violencia
ist. Daraufhin sticht er sein Messer in den
Boden und verlässt das Dorf. Nicht jedoch, ohne vorher einer jungen Frau, mit
der er im Verlaufe des Aufenthalts eine Affäre hatte, seinen Hahn zu schenken.
Genau wie Caballero Calderón in
El
Cristo
verzichtet auch Mejía Vallejo auf
die Benennung realer Personen und Ereignisse. Das von ihm geschilderte Dorf
Tambo entspricht in vielerlei Hinsicht dem namenlosen Dorf aus
El Cristo
. So
ist auch in
El día
von einer einstmals blühenden Gemeinde die Rede, die auf-
grund der
Violencia
immer mehr zu einem Hort der Sünde, des Misstrauens und
der Gewalt herabgesunken ist. Ebenfalls im idealtypischen Sinne beschreibt der
Autor die Beteiligung der lokalen Autoritäten an barbarischsten Akten der Ge-
walt ohne dabei jedoch die Schuld eine der beiden politischen Parteien hervor-
zuheben. Es besteht hingegen kein Zweifel daran, dass die "parteipolitische Pha-
se" der
Violencia
einer neuen, "revolutionären" Gewalt gewichen ist. Während
er die Rolle der traditionellen Parteien daher weitgehend ausklammert, legt er
seinen Schwerpunkt auf den Kampf zwischen den Regierungstruppen und der
Guerilla. Im Gegensatz zur offiziellen Version des
Frente Nacional
sieht Mejía
Vallejo in den Truppen des fiktiven Guerillakommandanten Pedro Canales je-
doch keine geldgierigen
bandoleros
, sondern legitime Selbstverteidigungskräfte.
245
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
245
Um der willkürlichen Gewalt der Regierungstruppen zu entgehen, sehen sich die
Campesinos der Region gezwungen, in die Berge zu fliehen und von dort den
Kampf gegen das Unrechtsregime aufzunehmen. Gegen Ende des Romans er-
ringen die Guerilleros schließlich einen Sieg über die Regierung, indem sie de-
ren Soldaten in einer Bar vergiften. Don Jacinto, Vater eines Guerillaführers und
Besitzer der Bar, kommt bei der Aktion selbst ums Leben. Kurz vor seinem Tod
äußert er noch seine Meinung über das negative Wirken der Regierungstruppen:
Creía que el gobierno deseaba la paz. Colaboré con ustedes pero comprendí lo que es terror al
verlos actuar. Todo nos ha salido mal bajo sus botas. Los hombres rehúyen la mirada, las mu-
jeres no salen, los niños se pegan a las faldas de sus madres, de sus hermanas mayores.49
Der Sieg der Guerilla ist jedoch keineswegs endgültig; vielmehr deutet Mejía
Vallejo an, dass der Konflikt zwischen Regierung und Aufständischen in eine
neue Runde geht. Obwohl die Figur des Guerillakommandanten Canales eine
gewisse Ähnlichkeit zu Guadalupe Salcedo, dem legendären Anführer der Gue-
rilla der Llanos, aufweist, hat der Autor in einem Interview erklärt, dass er sich
bei der Gestaltung des Charakters von seinen zentralamerikanischen Erfahrun-
gen leiten ließ. So habe die Figur des honduranischen Militärs Jorge Rivas (er-
mordet 1956) Pate gestanden, der als Befehlshaber der Präsidentengarde zu-
nächst in Diensten des honduranischen Diktators Tiburcio Carías Andino (1933–
1949) stand, später jedoch als Mitglied der so genannten
Legión del Caribe
ge-
gen den nicaraguanischen Gewaltherrscher Anastasio Somoza García (1936–
1956) kämpfte.50
Der letztlich unklare Ausgang des Guerillakrieges koinzidiert mit einer eben-
so ambivalenten Auflösung des Vater/Sohn-Konfliktes. Auf dieser parallelen
Handlungsebene macht sich der junge
gallero
des gleichen Vergehens wie sein
Vater schuldig, indem er eine junge Frau schwängert und anschließend mit
nichts als einem Hahn zurücklässt. Mejía Vallejo deutet damit sowohl auf der
kollektiven wie auch auf der individuellen Ebene die unvermeidliche Wiederho-
lung der Gewalt an. Zwar gelingt es der einzigen grundsätzlich positiven Ro-
manfigur, dem Pater Barrios, zeitweise einen Zustand des Friedens zu garantie-
ren. Gegen Ende des Romans stirbt er jedoch desillusioniert. Aufgrund dieser
zyklischen Struktur hat Erna Pfeiffer dem Werk einen "verdeckten Fatalismus"
attestiert, der sich ebenso wie bei
El Cristo
aus der politischen Einstellung des
49
Mejía Vallejo.
1964, S. 238.
50
Vgl.
González Rodas, Pablo.
2003.
Colombia: novela y violencia
. Manizales: Secretar-
ía de Cultura de Caldas, S. 81.
246
246
Kapitel III
Autors herleiten würde.51 Im Unterschied zu Caballero Calderón ist jedoch die
Ideologie Mejía Vallejos, der keiner Partei angehörte und als Sohn eines Töpfers
aufwuchs, ungleich schwerer zu fassen. Bekannt ist hingegen, dass der Autor
den sozialrevolutionären Ideen Gaitáns sehr viel näher stand als beispielsweise
den herrschaftsbewahrenden Anschauungen der Traditionsparteien.52 Meiner
Meinung nach ist daher Pfeiffers Aussage kaum nachvollziehbar, der zufolge
Mejía Vallejo "sich als sozialer Aufsteiger zwar nicht dem moralischen Tradi-
tionalismus des alteingesessenen Bürgertums verpflichtet fühlt, [es ihm] aber
seine heutige Zugehörigkeit zum Establishment verbietet, sich auf radikale Ge-
sellschaftskritik einzulassen […]"53
Richtig ist, dass Mejía Vallejo ökonomische und politische Faktoren zwar
vernachlässigt. Seine Kritik an der kolumbianischen Gesellschaft in
El día
ist
allerdings durchaus radikal. Während sich Caballero Calderón auf zumeist ober-
flächliche Angriffe gegen die Oligarchie, die Kirche oder die staatlichen Autori-
täten beschränkt, verleiht Mejía Vallejo seinem Werk eine neue, psychologische
Dimension. In gewisser Weise gibt er sich dabei als Anhänger der These von der
"Gewaltkultur" zu erkennen. So macht er an zahlreichen Stellen deutlich, dass
Gewalt die bestimmende Konstante der kolumbianischen Geschichte sei, die
sich nicht nur in den zahlreichen Bürgerkriegen, sondern vor allem im sozialen
Mikrobereich manifestiert. Gewalt in der Familie, Gewalt zwischen Vater und
Sohn, Gewalt in der Kindheit und Gewalt innerhalb der Dorfgemeinschaft füh-
ren in
El día
letztlich zu verschiedenen Formen organisierter Gewalt auf regio-
naler und nationaler Ebene. An mehreren Beispielen schildert der Autor, wie
ursprünglich friedliebende Personen aufgrund der äußeren Umstände in einen
Strudel der Gewalt gerissen werden, den er mit der
Violencia
gleichsetzt. Dass
diese Ansicht über die gewalttätige Natur des Menschen sich auch mit der per-
sönlichen Meinung des Autors deckt, zeigt folgender Ausschnitt aus einem
Interview: "La violencia ha existido siempre. Los colombianos no la hemos in-
ventado. El hombre es violento; debe luchar contra el medio; contra los caci-
ques; contra el clero complaciente; contra el endosamiento del machismo."54
Die während des Bürgerkriegs tatsächlich vorgefallenen Verbrechen verge-
genwärtigt Mejía Vallejo mit Hilfe stark überzeichneter Figuren. Dem Verfahren
51 Vgl.
Pfeiffer.
1984, S. 238.
52
Vgl.
Aristizábal, Alonso.
1999. La literatura colombiana ante el conjuro. In: Zea, Glo-
ria/Álvaro Medina (Hgg.).
Arte y Violencia en Colombia desde 1948
. Bogotá: Norma, S. 198.
53
Pfeiffer
, S. 244.
54
Zitiert nach
González Rodas.
2003, S. 84.
247
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
247
Caballero Calderóns entsprechend dienen ihm archetypische Gestalten wie der
mächtige Kazike Don Heraclio, der rätselhafte Totengräber des Dorfes, der ra-
chesuchende
gallero
, der mit "magischen" Fähigkeiten ausgestattete Guerilla-
kommandant Canales, der sadistische Unteroffizier Mataya sowie der phi-
lanthropische Pater Barrios nicht zuletzt als Beispiele, um die einzelnen Phasen
der
Violencia
allegorisch zu veranschaulichen.
Insbesondere die enigmatische Person des Totengräbers stellt sich als Meta-
pher für die vorangegangenen Phasen der
Violencia
heraus. So kommt ihm im
Roman hauptsächlich die Funktion zu, an die blutigen Ursprünge des Konflikts
zu erinnern. Vom ersten bis zum letzten Kapitel tritt seine Figur in Erscheinung,
um auf die Sinnlosigkeit sowie den unheilvollen Kreislauf von Hass und Vergel-
tung hinzuweisen. Seine Lebensgeschichte bildet sozusagen die thematische
Achse des Romans. Erst im weiteren Verlauf eröffnet sich dem Leser, dass die
Frau und die Tochter des Totengräbers während der
Violencia
vergewaltigt und
ermordet wurden. Außerdem stahlen ihm marodierende Banden sein Land und
hackten ihm mit der Machete die Hand ab. Nun wartet er voller Zorn auf den
Tag, an dem er die dafür Verantwortlichen endlich unter die Erde bringen kann.
Aufgrund seiner Unfähigkeit, sich in irgendeiner Weise für die Bestrafung der
Schuldigen einzusetzen, geschweige denn selbst Rache zu nehmen, begnügt er
sich damit, gebetsmühlenartig einen einzigen Satz zu wiederholen: "Algún día
los enterraré".55
Ähnlich wie Pío Quinto und Roque Piragua in
El Cristo
symbolisiert auch der
mächtige Don Heraclio einen idealtypischen
gamonal
. Nachdem er es durch
Gewalt und Charisma zum Kaziken des Dorfes gebracht hat, steht er am Ende
seinem Sohn beim Hahnenkampf gegenüber. Der junge
gallero
erkennt jedoch,
dass der Nimbus von Stärke und Männlichkeit nur oberflächlich ist. Denn im
Grunde ist der Kazike ein gebrochener Mann, der seine innere Zerrissenheit
durch exzessive Gewalt und
machismo
überspielt. Auf dem Weg nach oben hat-
te er einst seinen besten Freund umgebracht, weil dieser ihm bei der Jagd auf
einen Jaguar die Patronen aus der Flinte entfernt hatte. Der Kampf mit dem
Raubtier endete für den Kaziken mit einem verkrüppelten Bein, was ihm im
Dorf den Spitznamen "El Cojo" einbrachte. Nachdem er sich grausam an seinem
ehemaligen Freund gerächt hatte, indem er ihn an einer Schlinge Stacheldraht
aufhängte, wurde er zum alleinigen Herrscher über Tambo. Um seine Macht
dauerhaft abzusichern, blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als seine Emotio-
55 Vgl.
Mejía Vallejo.
1964, S. 32.
248
248
Kapitel III
nen konsequent zu negieren, die Menschen auf Distanz zu halten und mögliche
Feinde gnadenlos zu bestrafen. Mit der Zeit wurde er dadurch zu einem verein-
samten und bemitleidenswerten Alten, wie sein rachesuchender Sohn schließlich
erkennt:
Pero de pronto en el Cojo no vi más que un hombre, sólo un hombre, también desamparado,
sin más camino que la muerte. Cuando muriera le quebrarían la pierna mala a la altura de la
rodilla para acomodarla en el ataúd. No sé por qué me detuve en su camiseta arrugada, en las
tres arrugas del cuello, en la derrota que la vida asestaba contra la voluntad de la carne. Por
eso me dolieron sus canas, su pierna contraída, sus arrugas, el zurriago nudoso, la bota de
cuero crudo; lo supuse cercano a mí, con sus angustias. También él vivió trago a trago la vida,
resistió el contragolpe de las propias acciones, el sabor a ceniza de cada jornada. También a él
le gustaría el olor de la madera, el canto de los sinsontes, los campos sembrados después de la
lluvia. Y también él tendría que morir. ¿Debería yo matarlo?56
Obgleich der zwischen Vater und Sohn bestehende Gegensatz am Ende zu-
mindest relativiert wird, erinnert der von Mejía Vallejo an anderen Stellen kons-
truierte Dualismus stark an die schematische Schwarzweißmalerei von Caballero
Calderón. Dies wird besonders an der Darstellung der Regierungstruppen und
der Guerilleros sichtbar. Denn während der Autor die Aufständischen einen legi-
timen Befreiungskampf führen lässt, schildert er die Soldaten als eine mordlus-
tige Bande von Unruhestiftern. Dabei wird ersichtlich, dass die lokalen Autoritä-
ten den verübten Verbrechen vollkommen gleichgültig gegenüberstehen. Als
beispielsweise ein empörter Dorfbewohner dem Bürgermeister von den perver-
sen Taten der Soldaten berichtet, entgegnet ihm dieser ausweichend und mit un-
vergleichlichem Zynismus:
A una campesina le abrieron el vientre con un machete y le sacaron el hijo. El hijo se retorcía
en el polvo […] Le metieron en el vientre un gallo dejándole fuera la cabeza, y cosieron el
tajo del vientre con una cabuya ensartada en aguja de arriero […] El gallo estiraba el pescuezo
a todos los lados mientras la mujer se retorcía cuando el gallo le clavaba las garras y las es-
puelas, bregando por salir […]
– No son tan crueles, mi querido amigo. ¿No ve que el gallo podía respirar?
57
Obwohl
El día
aufgrund seiner komplexen Struktur, die zwei Handlungsebe-
nen und verschiedene Zeitebenen miteinander verbindet, von der Form her nur
bedingt als Medium des kollektiven Gedächtnisses geeignet ist, weist er doch
einige "typische" Elemente auf. Neben der Verdichtung, wobei die individuellen
56 Ebd., S. 257 f.
57
Ebd., S. 100 f.
249
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
249
und kollektiven Konflikte auf idealtypische Personen projiziert werden, ist vor
allem das duale Grundmuster ausschlaggebend. Wie auch bei
El Cristo
stehen
die namentlich erwähnten Charaktere in binärer Opposition zueinander. Seine
Speicherfunktion erfüllt der Roman also zumindest, indem er politisch-
historische Inhalte stark komprimiert wiedergibt und klare moralische Wertun-
gen vornimmt. Diese fallen zwar wesentlich subtiler aus als beispielsweise in
El
Cristo
. Nichtsdestotrotz liegt Mejía Vallejo – im Widerspruch zu der oben ange-
führten Feststellung von Erna Pfeiffer – sehr wohl etwas daran, die sozialen und
politischen Konsequenzen der
Violencia
anzuprangern. Im Roman wird dieses
Engagement besonders an der Beschreibung des Kaziken, der lokalen Autoritä-
ten, den Soldaten und den Guerilleros deutlich. Doch auch der "gute" Priester
befindet sich in einem permanenten Konflikt mit den uneinsichtigen und igno-
ranten Kirchenoberen. Aufgrund seiner sozialkritischen Haltung verteidigt Mejía
Vallejo in einem Interview daher auch die Existenz der so genannten
Violencia
-
Literatur, die sich aus der Tragweite der historischen Ereignisse rechtfertige:
La violencia en Colombia fue un llamado a nuestra conciencia. El nueve de abril fecha en que
asesinaron al líder popular Jorge Eliécer Gaitán fue el fin de la Patria Boba. Despertamos. Fue
un golpe en la frente. La violencia tomó un rumbo; empezó algo dramático, y el artista tomó
conciencia de su deber. Surgió un interés por el pueblo, por la política. Todos nos tuvimos
que enfrentar.58
In Bezug auf die Zirkulations- und Abruffunktion ist schließlich festzustellen,
dass
El día
im Vergleich zu
El Cristo
eine geringere Rolle als Erinnerungsort
gespielt haben dürfte. Seine hohe literarische Qualität machte das Buch vor al-
lem für ausländische Leser interessant, wohingegen es in Kolumbien zwar eben-
falls mehrfach aufgelegt wurde, jedoch niemals den gleichen Stellenwert wie
El
Cristo
oder
Cóndores
erlangte. Hierzu waren die Figuren und Handlungsstränge
von
El día
viel zu differenziert und komplex gestaltet. Eine Popularisierung über
Film oder Fernsehen erfolgte daher ebenso wenig wie der Einsatz als Pflichtlek-
türe an Sekundarschulen. Nichtsdestotrotz ist die Wirkung des Romans auf die
Weiterentwicklung der kolumbianischen Literatur nicht zu unterschätzen. Zu-
dem übte die von Mejía Vallejo geschaffene Darstellung der
Violencia
auf An-
gehörige der gebildeten Mittelschicht mit Sicherheit großen Einfluss aus.
58
Zitiert nach
González Rodas.
2003, S. 84.
250
250
Kapitel III
2.1.3
Cóndores no entierran todos los días
von Gustavo Álvarez Gardeazábal
Während
El Cristo
als einer der frühen
Violencia
-Romane für die typischen
Dualismen, Verkürzungen sowie den pädagogischen Impetus der Literatur jener
Jahre steht, kann
El día
zusammen mit
La mala hora
von García Márquez als
der literarische Höhepunkt der Gattung gelten.
Cóndores no entierran todos los
días
des aus Tuluá (Valle del Cauca) stammenden Schriftstellers Gustavo Álva-
rez Gardeazábal (geb. 1945) ist wegen seines späten Erscheinens lange nach
dem Ende der
Violencia
(1971) sowie aufgrund stilistischer Schwächen weder
als "typischer"
Violencia
-Roman noch als besondere literarische Glanzleistung
anzusehen. Nichtsdestotrotz ist der Text die mit Abstand wichtigste
Violencia
-
Repräsentation in Schriftform; oder wie es der Literaturkritiker Alonso Aristizá-
bal ausdrückt: "[…] desde su aparición se le considera el texto clásico de la vio-
lencia política de los años cincuenta. Obviamente, es un libro que está más allá
de la crónica ya que posee los adelantos estéticos del momento en el cual apare-
ció. Por lo mismo, ha sido uno de los libros más leídos en la literatura colombia-
na."59
Ähnlich wie bei
El Cristo
lag der Erfolg von
Cóndores
zum Teil in seiner ein-
fachen Struktur und seinem knappen Umfang (147 Seiten, Erstausgabe) begrün-
det. Was den Roman jedoch von den meisten bis dahin erschienenen
Violencia
-
Romanen abhebt und letztlich auch für den unmittelbaren Erfolg ausschlagge-
bend war, ist seine Tatsachenbezogenheit. So entspringen selbst sekundäre Figu-
ren nicht der Phantasie des Autors, sondern waren in irgendeiner Art und Weise
in die gewalttätigen Vorgänge der 50er Jahre verstrickt. Insbesondere die aus-
gesprochen negative Schilderung der lokalen Autoritäten der Stadt Tuluá sowie
verschiedene Hinweise auf das kriminelle Wirken namentlich genannter Politi-
ker brachten Álvarez Gardeazábal sofort nach dem Erscheinen des Romans hef-
tige Kritik ein. Ähnlich wie im Falle der Veröffentlichung von
La Violencia en
Colombia
(1962/64) hatten seine spektakulären Enthüllungen einen veritablen
Skandal zur Folge. Trotz zahlreicher Drohbriefe und massiven politischen
Drucks war er jedoch nicht bereit, Änderungen vorzunehmen bzw. weitere Ver-
öffentlichungen zu unterbinden. Im Gegenteil, die durch
Cóndores
entfachte
Diskussionen über die Rolle der politischen Eliten während der
Violencia
trug
zur weiteren Popularisierung des Buches bei, das schließlich sogar verfilmt
wurde (1984).
59
Aristizábal.
1999, S. 197.
251
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
251
Genau wie Manuela Mejía Vallejo hatte auch Gustavo Álvarez Gardeazábal
als Kind und Jugendlicher die
Violencia
hautnah in seiner Heimatstadt Tuluá
miterlebt. Im Unterschied zu ersterem gehörte seine Familie jedoch der lokalen
Oberschicht an, so dass er sich um die Finanzierung seiner akademischen Aus-
bildung keine Sorgen machen brauchte. Nachdem er zuerst vier Jahre Chemie in
Medellín studiert hatte, ohne jedoch sein Diplom zu erhalten, wechselte er an die
Universidad del Valle
in Cali, wo er schließlich als
Licenciado en Filosofía y
Letras
abschloss. Bereits vorher hatte er einen kurzen Roman sowie mehrere
Kurzgeschichten verfasst, die jedoch keinem größeren Publikum zugänglich
wurden. In dem bis heute kaum bekannten Roman mit dem Titel
Piedra Pintada
(1965) geht er interessanterweise erstmals auf seine persönlichen Erinnerungen
an die
Violencia
in Tuluá ein:
En su sangre bullía ese odio acogido contra toda institución armada allá en los años de violen-
cia, cuando estudiaba en Tuluá. Recordaba muy claro cómo la policía acogía detrás de sus
filas a los asesinos de prominentes hombres liberales del Valle. No podía olvidar esa época de
terror en que los uniformados hacían lo que ellos querían. Al ver la sangre de Ricardo recor-
daba cómo llegaban los peones de Piedra Pintada flagelados por esa turba insaciable de sádi-
cos. ¿Cómo no podía odiarlos?60
Bereits während des Studiums schrieb Álvarez Gardeazábal zahlreiche Artikel
für Zeitschriften und Zeitungen, die ihm weithin journalistische Anerkennung
einbrachten. Mit einer Reihe von Kurzgeschichten wie
Ana Joaquina Torrentes
(1968),
Donaldo Arrieta
(1969) und
El día que volvió León María
(1970) festig-
te er seinen Ruf als realistischer, prägnant formulierender Schriftsteller der
"Post-Boom-Generation" und gewann verschiedene nationale und internationale
Literaturpreise. Sein endgültiger Durchbruch erfolgte im Jahre 1971 mit dem
Roman
Cóndores
, der ihm den renommierten
Premio Manacor
einbrachte.61
Anschließend veröffentlichte er noch mehrere Romane und Kurzgeschichten,
von denen einige sogar übersetzt wurden. Sein größter Erfolg sollte jedoch
Cóndores
bleiben.
Ähnlich wie sein Kollege Eduardo Caballero Calderón beschränkte sich auch
Álvarez Gardeazábal nicht darauf, Bücher zu schreiben oder später als Professor
an der
Universidad del Valle
Literatur zu lehren. Seine Leidenschaft war die Po-
litik. Im Unterschied zu Caballero Calderón und Mejía Vallejo identifizierte sich
60
Álvarez Gardeazábal, Gustavo.
1965.
Piedra Pintada
. Medellín: Gamma, S. 62.
61
Im Folgenden stütze ich mich auf die neue Ausgabe von
Panamericana
(
Álvarez Gar-
deazábal.
1998.).
252
252
Kapitel III
Álvarez Gardeazábal jedoch mit den Konservativen. Als Vertreter eines Splitter-
flügels der Konservativen Partei wurde er nacheinander zum Bürgermeister von
Tuluá (1988), zum Stadtrat in Cali und schließlich zum Gouverneur des Depar-
tements Valle del Cauca (1997) gewählt. Seine politischen Aktivitäten und seine
Streitlustigkeit führten jedoch schnell dazu, dass auch seine Literatur unter poli-
tischen Gesichtspunkten diskutiert wurde. Von "links" wurde ihm folglich vor-
geworfen, "ideologiearm", realitätsfern und ohne soziales Bewusstsein zu
schreiben, bis hin zu der abstrusen Behauptung, für die CIA zu arbeiten. Viele
Konservative wollten ihm hingegen seine literarische Kritik am Verhalten der
Partei während der
Violencia
nicht verzeihen. Álvarez Gardeazábal selbst sah in
den zahlreichen Kontroversen um seine Person nichts weiter als eine plumpe
Kampagne zur Diffamierung seines literarischen Werkes, die im Wesentlichen
auf Neid gründen würde.62
Seine Reputation als Schriftsteller und Politiker nahm schließlich im Jahre
1999 irreparablen Schaden, als ihm Korruption im Amt vorgeworfen wurde.
Nachdem er für den Verkauf einer Skulptur aus öffentlichem Besitz an den
Handlanger eines lokalen Drogenbarons zu sechs Jahren und sechs Monaten Ge-
fängnis verurteilt wurde, begann er nach Verbüßung der Haftstrafe wieder als
Kolumnist und Radiomoderator zu arbeiten. In einem im Gefängnis gegebenen
Interview betonte er, dass er zum Opfer eines politischen Komplotts geworden
sei.63
Wie bereits erwähnt, beruht der Roman
Cóndores
zu einem großen Teil auf
Kindheits- und Jugenderinnerungen des Autors. Im Vorwort erklärt Álvarez
Gardeazábal diesbezüglich, dass es sich jedoch eindeutig um einen Roman, nicht
um einen Tatsachenbericht oder eine Autobiografie handele. Es gehe ihm wei-
terhin um die Rekonstruktion seiner individuellen Erinnerung, die ansonsten zu
verblassen drohe:
Escribí
Cóndores
como una novela. Surgió de la vivencia infernal de mi infancia en las calles
de Tuluá, en pleno rigor de la violencia política que azotaba a Colombia entonces […]. No
hice más que el tradicional oficio del novelista que recrea la realidad que vive o le atormenta
en su recuerdo. Puse para siempre en las letras de un libro la historia que se le ha ido olvidan-
do a la patria, convencido que con ella podría evitar repeticiones estúpidas. Usé la novela co-
62 Vgl. hierzu
González Rodas.
2003, S. 87 f.
63
Vgl.
El Espectador
vom 14. Dezember 2003.
253
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
253
mo el género más apropiado y la prosa sin diálogo como el sistema más expedido para reco-
ger un ambiente y un martilleo incesante de mi memoria.64
Der große Unterschied zu den zuvor besprochenen Romanen liegt also im
zeitlichen Abstand. Während die unter den Ausnahmebedingungen der
Violen-
cia
schreibenden Autoren Repressalien befürchten mussten und deswegen oft-
mals unter Pseudonym veröffentlichten, konnte Álvarez Gardeazábal relativ frei
und unbefangen die Verfehlungen der politischen Eliten anprangern. Aus diesem
Grund besteht für ihn auch keinerlei Notwendigkeit, die Handlung in ein ideal-
typisches, namenloses Dorf mit idealtypischen Akteuren zu verpflanzen. Seine
Schilderung der
Violencia
fällt hingegen ausgesprochen realistisch aus, wobei es
keiner extremen Überzeichnung der Figuren bedarf. Dabei beschränkt sich sein
literarischer Anspruch auf eine dokumentarisch angereicherte und erkenntnis-
steigernde Darstellung. Es geht ihm darum, sowohl die Atmosphäre der
Violen-
cia
einzufangen als auch deren politische und sozioökonomische Hintergründe
aufzuklären. Seine Vision des Bürgerkrieges ist dabei eindeutig gegen die offi-
zielle Geschichtsschreibung gerichtet. Während die zuvor besprochenen Autoren
mit ihren Werken unbewusst einen Beitrag zur Herausbildung alternativer Erin-
nerungskulturen geleistet haben, geschieht dies im Falle von Álvarez Gar-
deazábal ganz gezielt. Wie das oben angeführte Zitat aus dem Vorwort verdeut-
licht, will er seinen Roman auch als Erinnerungsort verstanden wissen. So setzt
er die subjektive und herrschaftskritische Funktion der Erinnerung dem "organi-
sierten Vergessen" des
Frente Nacional
entgegen. Ferner kennzeichnet der pä-
dagogische Anspruch das Werk als einen echten "Gedächtnisroman", dessen
Lektüre der Wiederholung der Gewalt vorbeugen soll.
Die Handlung des Romans kreist um die Lebensgeschichte des legendären
Führers der
pájaros
, dem aus Tuluá stammenden León María Lozano, bekannt
als "El Cóndor". Obwohl in Rückblenden die Vorgeschichte der
Violencia
an-
gesprochen wird und auch die Jugendjahre Lozanos Erwähnung finden, konzent-
riert sich die Kernhandlung auf die Periode von 1948 bis 1957. Im Verlaufe die-
ser neun Jahre werden die Einwohner von Tuluá in einen gewalttätigen Konflikt
hineingezogen, der stetig an Schärfe gewinnt und am Ende nahezu apokalypti-
sche Ausmaße annimmt. Die von Lozano und seinen
pájaros
entfesselte Gewalt
kostet annähernd 3600 Menschen das Leben und führt zum Exodus Tausender
Liberaler.
64
Álvarez Gardeazábal.
1998, S. 7 f.
254
254
Kapitel III
Dabei ist die Figur des "Cóndor" anfangs weit davon entfernt, physische Ge-
walt anzuwenden oder gar mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Im Gegenteil,
Álvarez Gardeazábal schildert den
pájaro
-Führer zunächst als einen rechtschaf-
fenen und tief gläubigen Mann, der sich aufgrund seiner ärmlichen Herkunft und
seiner geringen Bildung am unteren Ende der sozialen Skala durchs Leben
schlägt. Nur durch Glück und die Hilfe der liberalen Politikerin Gertrúdiz Potes
bekommt er eine Stelle als Käseverkäufer auf dem lokalen Marktplatz.
Nichtsdestotrotz fühlt er sich bereits seit frühesten Tagen zur Konservativen Par-
tei hingezogen, deren Führern er tiefste Bewunderung entgegenbringt, obwohl er
die progammatischen Inhalte der Partei nicht versteht. In gewisser Weise setzt er
die katholische Religion mit der konservativen Doktrin gleich; beider Bestand
sieht er jedoch durch den antiklerikal geprägten Liberalismus gefährdet. Aus-
schließlich durch das erzkonservative Blatt
El Siglo
und die religiöse Radiosen-
dung
La Voz Católica
informiert, deren Leitartikel und Nachrichten er als einzi-
ge "Wahrheit" betrachtet und in ihnen sogar verschlüsselte Botschaften zu er-
kennen glaubt, entwickelt er einen immer stärkeren Hass auf die Liberalen. Die-
se Radikalisierung geht einher mit seiner geradezu grotesken Frömmigkeit. Ob-
wohl der "Cóndor" zwei Kinder aus einer außerehelichen Beziehung hat, und
somit in "Sünde" lebt, besucht er stets die Messe und macht sich im ganzen Ort
einen Namen als "frommster und rechtschaffenster" Diener der Kirche und der
Partei. Der 9. April 1948 wird schließlich zur Initialzündung für den Ausbruch
der
Violencia
in Tuluá.
Als sich nach der Ermordung Gaitáns eine Welle der Gewalt über das ganze
Land ausbreitet, kommt es auch dort zu schweren Ausschreitungen. Ein liberaler
Mob plündert und zerstört die Häuser der Konservativen. Als sie jedoch das Sa-
lesianer-Kolleg stürmen und anzünden wollen, stellt sich ihnen León María Lo-
zano in den Weg. Nur mit einer Stange Dynamit und einer alten Schrotflinte
bewaffnet, hält er die Meute zurück. Mit dieser Tat wird der "Cóndor" schlagar-
tig zum Helden der Stadt, zu einer lebenden Legende. Wenig später ernennen
ihn die regionalen Führer der Konservativen zum Chef des lokalen
Directorio
Conservador
, während zahlreiche dankbare Bürger ihren Käse nur noch bei ihm
kaufen. Die Ereignisse des 9. April sind jedoch erst der Anfang. Nachdem die
Kämpfe zwischen den konservativen Regierungstruppen und den Kampfgruppen
der Liberalen bald im ganzen Land aufflackern, wird auch der "Cóndor" in den
Konflikt hineingezogen. Nachdem ihn die Führer der Partei davon überzeugt
haben, dass er im Sinne Gottes und der Kirche handele, wenn er die Liberalen
255
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
255
bekämpfe, sieht er sich fortan als "Verteidiger" des Glaubens. Sein erklärtes Ziel
ist nun die "Säuberung" der gesamten Region.
In der Folge beginnt der "Cóndor" von seinem inoffiziellen Hauptquartier aus,
der
Happy Bar
, die
pájaros
um sich zu scharen und gegen die Liberalen hetzen.
Nahezu täglich kommt es zu Vertreibungen, Morden und Plünderungen. Im Un-
terschied zu anderen Regionen, wo die Gewalt einen eher diffusen und irrationa-
len Charakter annimmt, gehen die Untergebenen des "Cóndor" äußerst gezielt
und planvoll vor. Obwohl die
pájaros
ihre Opfer gelegentlich auch foltern oder
verstümmeln, sterben die meisten Personen durch einen Genickschuss. Zum
Markenzeichen der Mörder wird ihre lautlose und fast "unsichtbare" Art, sich
nachts in dunklen Karossen durch die Stadt zu bewegen. Des Weiteren setzen
sie auf Verrat, Gerüchte und die Verbreitung falscher Informationen, um ihre
Ziele zu erreichen. Bei den von Álvarez Gardeazábal beschriebenen
pájaros
handelt es sich somit weniger um barbarische und willkürlich agierende Banden
als vielmehr um eine Art "kolumbianische Gestapo".
Nach einem gescheiterten Versuch, den "Cóndor" zu vergiften, nimmt die
Gewalt wahrhaft danteske Züge an. Unzählige Stadtbewohner fallen seiner grau-
samen Rache zum Opfer. Trotz alledem stehen die lokalen Autoritäten, reprä-
sentiert durch den Bürgermeister, den Richter, die Polizei und die Kirche, weiter
hinter den Aktionen ihres "besten Mannes". Das grausame Treiben erreicht
schließlich seinen zynischen Höhepunkt, als die Regierung von Rojas Pinilla
dem "Cóndor" aufgrund seiner großen "Verdienste für das Allgemeinwohl" ei-
nen Orden verleiht.
Kurz darauf, im Mai 1957, ist die Gewaltherrschaft von León María Lozano
jäh zu Ende. Nach dem Sturz des Diktators verlangt die neue Regierung die Ab-
setzung des
pájaro
-Führers und dekretiert dessen sofortige Ausweisung aus Tu-
luá. Im Gegenzug versprechen ihm die Beauftragten der fünfköpfigen Militär-
junta eine stattliche Pension, die jedoch an die Einhaltung einer Schweigepflicht
gebunden ist. Nachdem der "Cóndor" mit seiner Frau in die nahegelegene Stadt
Pereira gezogen ist, kehrt wieder Ruhe in Tuluá ein.
In Pereira führt der einstmals blutrünstige
pájaro
-Führer zunächst ein be-
schauliches Leben, indem er die Tage zeitunglesend in der Bar verbringt und
sich gelegentlich mit seinen alten Handlangern trifft, die nun allesamt hohe Re-
gierungsämter bekleiden und die Politik des
Frente Nacional
unterstützen. Am
Ende holt ihn jedoch die ihn Tuluá gesäte Gewalt ein. Eines Morgens, beim Ver-
lassen seines Hauses, erwartet ihn Simeón Torrente, der Sohn eines seiner Op-
fer. Mit einem Schuss aus dem Revolver setzt er dem Leben des gefürchteten
256
256
Kapitel III
"Cóndor" ein Ende. Der Teufelskreis der Gewalt ist damit jedoch nicht beendet.
So kommen anlässlich der Beerdigung von León María noch einmal seine ehe-
maligen Weggefährten in Tuluá zusammen. Instinktiv fühlt die Bevölkerung,
dass der Tod des "Cóndor" Hass und Rache nach sich ziehen wird. Um sich vor
weiteren Gewaltaktionen zu schützen, schließen sie sich in ihre Häuser ein.
Im Unterschied zu den bereits besprochenen Werken enthält
Cóndores
zahl-
reiche Hinweise auf konkrete historische Ereignisse und real existierende Perso-
nen. Während viele andere
Violencia
-Romane trotz parteiischer, oberflächlicher
und individueller Schilderungen einen Beitrag gegen das Vergessen leisten, ver-
folgt
Cóndores
dieses Ziel ganz direkt. Die im Roman aufgelisteten historischen
Daten befinden sich in einer Erzählstruktur eingebettet, deren einziger Zweck
die Gegenüberstellung von "historischer Wahrheit" und populärer "Legenden-
bildung" ist. In diesem Sinne ist
Cóndores
ein Roman, der diverse Berührungs-
punkte zur so genannten Testimonial-Literatur aufweist. Das Hauptmerkmal
dieser Literaturgattung ist ebenfalls die Wiedergewinnung des "verlorenen Ge-
dächtnisses", wie es sich nur noch in der Form von Zeitzeugeninterviews re-
konstruieren lässt. Zwar stützt sich Álvarez Gardeazábal in keiner Weise auf die
mehr oder weniger sozialwissenschaftlich geprägte Methodik der Testimonial-
Literatur. Dennoch enthält sein Buch zahlreiche explizite Hinweise auf den
erinnerungskulturellen Sinn der
Violencia
-Darstellung. So heißt es beispielswei-
se unter Bezug auf das schwach ausgeprägte Gedächtnis der Stadt und seiner
Einwohner: "Tuluá no lo sabe porque su memoria se acerca mucho a la de la
gallina."65
Der Stadt kommt dabei bereits zu Beginn des Romans eine besondere Funkti-
on als Symbol und Träger des kollektiven Gedächtnisses zu. So obliegt die Auf-
gabe des Erinnerns nicht mehr einzelnen Personen, sondern der Stadt selbst, die
zur "Erzählerin" stilisiert wird:
Tuluá jamás ha podido darse cuenta de cuándo comenzó todo, y aunque ha tenido durante
años la extraña sensación de que su martirio va a terminar por fin mañana en la mañana […],
hoy ha vuelto a adoptar la misma posición que lo hizo un lugar maldito en donde la vida ape-
nas se palpó en la asistencia a misa de once los domingos y la muerte se midió por las hileras
de cruces en el cementerio.66
Die im Roman beschriebene Gewalt ist zwar rational ergründbar, jedoch zu-
gleich im Bereich des Mythischen angesiedelt. So erklärt Álvarez Gardeazábal
65 Ebd., S. 78.
66
Ebd., S. 11.
257
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
257
anhand zahlreicher Beispiele die politischen und ökonomischen Zusammenhän-
ge der
Violencia
, während sich das Phänomen auf der narrativen Ebene zuneh-
mend in einen eigenständigen "Akteur" verwandelt. In gewisser Weise ist dieser
Kunstgriff, bei dem der Bürgerkrieg als eine Art "Naturgewalt" erscheint, eine
Anspielung auf die populäre Überzeugung von der
Violencia
als einer über-
geordneten und unfassbaren Macht. Zwar spricht der Autor seinen Figuren da-
durch nicht etwa ihre historische Verantwortung ab. Er verweist jedoch auf den
mythischen Charakter, den die Ereignisse der 50er Jahre in der Region um Tuluá
mittlerweile angenommen haben. So erscheinen zum Beispiel die Taten des
"Cóndor" als das Resultat der
Violencia
und nicht umgekehrt. León María Loza-
no versucht zwar, in der Zeit unmittelbar nach seiner "Heldentat" vom 9. April
einer Vereinnahmung durch die Politik zu entgehen. Am Ende gibt ihm aber
doch die
Violencia
seinen Weg vor. Als ihn etwa die konservativen Führer aus
Cali aufsuchen, um seine Hilfe zu erbitten, hat er bereits eine Vorahnung:
Él ya sabía a qué venían porque por más que
El Siglo
y La Voz Católica sólo hablaban de
represiones al partido conservador, en la galería ya comentaban que los muertos estaban em-
pezando a bajar de las montañas y que en el río Cauca aparecían hasta cinco cada noche con
la barriga hinchada tratando de pasar la bocatoma de La Virginia. Y en verdad que era lo que
él temía porque a los doctores de Cali también les había llegado la noticia de las hazañas de
León María el nueve de abril y conservaban, con esa memoria de hormigas arrieras, el recuer-
do fiel del gran conservador de Tuluá.67
Diese fatalistische Grundhaltung, bei der die
Violencia
einerseits als rational
erklärbares Phänomen, andererseits jedoch als irrationale, determinierende Kraft
erscheint, spiegelt die Differenzen zwischen der akademischen Geschichts-
schreibung und der kollektiven Erinnerung wider. Wie Jaime Zambrano in einer
gründlich recherchierten Studie über die historischen Analogien im Werk von
Álvarez Gardeazábal gezeigt hat, finden sich selbst nebensächliche Figuren und
Ereignisse in historiografischen Standardwerken wie
La Violencia en Colombia
wieder.68 Die mit der Akribie eines Historikers rekonstruierte Handlungsebene
stößt im Roman jedoch auf diverse Formen oraler Tradition und Legendenbil-
dung, die letztlich für die Herausbildung des kollektiven Gedächtnisses wichti-
ger sind als die Geschichtsschreibung. Ohne klar Position zu beziehen nutzt
Álvarez Gardeazábal diesen Gegensatz geschickt aus, um die Übergänge vom
67 Ebd., S. 64 f.
68
Vgl. hierzu
Zambrano, Jaime.
1997.
La violencia en Colombia. La ficción de Álvarez
Gardeazábal y el discurso histórico
. New York: Peter Lang, S. 119–134.
258
258
Kapitel III
individuellen zum kollektiven Gedächtnis im Ort Tuluá zu verdeutlichen. An
mehreren Beispielen zeigt er, wie Gerüchte und Halbwahrheiten rasch Verbrei-
tung finden und schließlich allgemein zur Erklärung der
Violencia
akzeptiert
werden. Insbesondere biblische Vorlagen dienen dabei als strukturierende Ele-
mente:
Sin embargo, Tuluá siguió creyendo sus versiones fantásticas de muertos sacados de las tum-
bas de los cementerios vecinos, de envenenados en una fiesta, de atropellados por un alud, y
María Luisa Sierra, que le había oído alguna vez a León María hablar del jinete del Apocalip-
sis, aseguró que al padre Ocampo le habían ido a jurar que lo vieron montado otra vez en la
mula que trajo el fuego de Yolanda Arbeláez. A León María se lo fueron a preguntar, pero
como él dijo que en su cuadra no había aparecido ningún cadáver, él no podía dar ese testi-
monio, pero que si lo veía, y quien mejor que él, que ya lo conocía, avisaría inmediatamente.
Sin embargo, Pedro Alvarado lo dijo en el noticiero de la noche como una manera de discul-
par la realidad. A los liberales los estaba matando el jinete del Apocalipsis.69
Brigitte König bemerkt in diesem Zusammenhang, dass es Álvarez Gar-
deazábal darum gegangen sei, die unterschiedlichen Geschichtsversionen für die
Nachwelt zu erhalten und somit das von den Führern des
Frente Nacional
ver-
ordnete Schweigen zu brechen.70 Dass der Autor das neue politische System
durchaus als "Pakt des Vergessens" begriffen hat, macht er gegen Ende des Ro-
mans unmissverständlich klar, als er auf die Presselandschaft während der ersten
Regierungsjahre von Alberto Lleras anspielt. Demnach werde es auch weiterhin
niemand wagen, die "Wahrheit" über den "Cóndor" zu schreiben: "Muchos es-
cribirán artículos recordando su figura legendaria, pero nadie dirá la verdad por-
que llevamos año y medio de olvido obligado y el pasado, por más que esté lle-
no de cruces, no puede ser removido."71
König bemerkt ferner, dass die von Álvarez Gardeazábal gewählte Darstel-
lungsform durch das Fehlen direkter Rede gekennzeichnet sei. Stattdessen setze
sich seine Darstellung der
Violencia
aus den teilweise widersprüchlichen Aussa-
gen einer Vielzahl von Akteuren zusammen, deren Ansichten in indirekter Rede
erscheinen. In ihrer Gesamtheit würden diese Stimmen die gesamte Gemein-
schaft und die Stadt Tuluá selbst symbolisieren.72 Deren kollektive Erinnerung
69
Álvarez Gardeazábal.
1998, S. 85.
70
Vgl.
König.
2003.
71
Álvarez Gardeazábal.
1998, S. 171.
72
Vgl.
König.
2003.
259
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
259
speist sich im Wesentlichen aus mündlicher Überlieferung, Gerüchten, manipu-
lativen Presseberichten und den Erklärungen der lokalen Eliten.
Während sich Caballero Calderón und Mejía Vallejo an vielen Stellen des
Mittels der Überzeichnung bedienen, um ihre politische Botschaft an den Leser
zu übermitteln, hält sich Álvarez Gardeazábal in dieser Hinsicht zurück. Die
nüchterne Beschreibung historischer Tatsachen kontrastiert er allerdings mit den
teils grotesk anmutenden Interpretationen und Ansichten der Bewohner Tuluás.
Wie folgendes Beispiel zeigt, weisen auch seine Beschreibungen politischer und
religiöser Indoktrinationsversuche oft einen satirischen Unterton auf:
El doctor Ramírez extendió su chequera y después de hacer una apología de lo que significaba
para la religión católica la existencia de individuos defensores del orden establecido, de la
verdad impuesta y de la tradición, enfiló sus baterías a León María para traerlo, en carruajes
poéticos desde su puesto de quesos en la galería hasta el andén del colegio de los salesianos el
nueve de abril. Cuando llegó allí pidió un dramático minuto de silencio por todos los muertos
de ese día. Después reinició la carga y apoyándose en un concordato que quizás exista pero
que quién sabe si la Iglesia admite y el gobierno reconoce, enfrentó a León María a la posibi-
lidad del exterminio de todos los conservadores, de todas las comunidades religiosas y sobre
todo de la fe cristiana, poniendo como prueba la matazón del nueve de abril que hicieron las
turbas liberales.73
Nichtsdestotrotz ist der Autor weit davon entfernt, einen "Erziehungsroman"
zu schreiben, wie es Caballero Calderón tut. Anstatt die Verzerrung der "histori-
schen Wahrheit" durch die Stadtbewohner zu verurteilen, betrachtet er solche
Prozesse der individuellen Geschichtsaneignung und -auslegung als vollkom-
men natürlich. Die Opposition zwischen Historie und Gedächtnis schwächt er
insofern ab, als er
Cóndores
selbst als einen Erinnerungsort und nicht als Ge-
schichtsbuch betrachtet. Diese Sicht wird besonders am Beispiel des liberalen
Widerstands in Tuluá deutlich. Als die Politikerin Gertrúdiz Potes zusammen
mit neun anderen Mitgliedern der Liberalen Partei eine Anzeige in der Zeitung
El Tiempo
veröffentlicht, in der die Untaten León María Lozanos zur Sprache
kommen, ist ganz Tuluá aufgeschreckt und ergriffen zugleich. Obwohl die Un-
terzeichner einer nach dem anderen den Kugeln der
pájaros
zum Opfer fallen,
gilt das Dokument für viele Menschen in Tuluá bis heute als einzig sichtbares
Zeichen des zivilen Widerstands jener Epoche. Álvarez Gardeazábal hebt dabei
den enormen erinnerungskulturellen Wert des Dokuments hervor, obgleich er
darauf hinweist, dass sich dessen Stellenwert wesentlich aus der sozialen Her-
73
Álvarez Gardeazábal.
1998, S. 69.
260
260
Kapitel III
kunft seiner Verfasser herleite. So sei der gewaltsame Tod der Unterzeichner
den Menschen nur deshalb im Gedächtnis geblieben, da zum ersten Mal "nobles
Blut" vergossen wurde. Im Gegensatz dazu habe die Ermordung einfacher Cam-
pesinos zum normalen Alltagsgeschehen gehört:
Lo que redactaron quedó mal redactado; la carta en sí no tiene ningún valor literario, pero ha
sido logrando un valor moral con los años que hoy, cuando los que allí eran denunciados se
reparten el poder con quienes eran conocidos en esa época como sus enemigos, en las casas de
Tuluá debe estarse leyendo párrafo por párrafo lo que en ella había escrito y que en menos de
treinta días originó la única sangría fina de que Tuluá y Colombia recuerdan algo porque, por
lo general, los muertos de la violencia han sido todos los de ruana, pobres campesinos que no
encontraron otro ideal en la vida que vivar a su partido liberal o a su partido conservador.74
Wie bereits angedeutet, spielen historische Ereignisse im Roman eine wichti-
ge Rolle. Sie dienen primär der Abgrenzung von den populären Deutungen der
Violencia
und weisen daher einen relativ neutralen Charakter auf. Zentrale Be-
deutung kommt dabei bereits zu Beginn des Romans dem 9. April 1948 zu. Es
ist das Datum, an dem eine breitere Öffentlichkeit erstmals auf León María Lo-
zano aufmerksam wird. Nach einer recht plastischen Schilderung der gewaltsa-
men Erhebungen, die sich in der Folge des
bogotazo
im ganzen Land ereignen,
bringt Álvarez Gardeazábal die Ereignisse wiederum in Opposition zu der un-
mittelbar einsetzenden Mythisierung. Nur aufgrund der mündlichen Weitergabe
wird die "Heldentat" León María Lozanos der ganzen Stadt bekannt, so dass der
9. April zum Ausgangspunkt einer beispiellosen Legendenbildung wird.
Schließlich steht das Datum für die Mehrheit der Stadtbevölkerung stellvertre-
tend für die Taten des "Cóndor", anstatt an die Ermordung Gaitáns zu erinnern.
Diese Bedeutungsverschiebung eines "nationalen" Ereignisses auf lokaler Ebene
ist ein typisches Verfahren von Álvarez Gardeazábal. In ähnlicher Weise
brandmarkt er auch den sich zu Beginn seiner Regierungszeit als "Friedensstif-
ter" gerierenden Rojas Pinilla als Heuchler, da dieser dem "Cóndor" eine Me-
daille für seine "Verdienste" überreicht:
Pedro Alvarado, el dueño de la emisora, intentó denunciar el atropello que se cometía con la
complacencia de las autoridades municipales, pero tuvo que verse obligado a leer el decreto
número 1453 del gobierno nacional por el cual la condecoración de la Orden de San Carlos
era entregada al ilustre colombiano don León María Lozano, gestor de muchas lides cívicas,
74 Ebd., S. 138.
261
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
261
patrocinador indiscutible del bien público, a quien oscuros asesinos habían intentado ponerle
fin creyendo así privar a Tuluá del más egregio de sus hijos.75
Im Gegensatz zu der damals und heute verbreiteten Meinung, dass die Gewalt
unter Rojas vorübergehend abgenommen habe, zeigt Álvarez Gardeazábal, wo-
rauf die "Befriedung" im Falle Tuluás tatsächlich beruhte. Ebenso wie der 9.
April dient ihm auch die Figur des Diktators – der namentlich nicht erwähnt
wird – als Hinweis auf die besonderen lokalen Ausprägungen der Gewalt. Denn
während sich die
Violencia
in anderen Landesteilen als zunehmend komplexeres
Phänomen darstellt, bei dem sowohl ökonomische als auch politische Faktoren
eine Rolle spielen, ist die Gewalt in Tuluá von den planvollen Aktionen der
pájaros
und den politisch-religiösen Überzeugungen ihres Führers geprägt. Ob-
wohl viele seiner Untergebenen Gewalt einsetzen, um sich persönlich zu berei-
chern, ist León María Lozano selbst nicht an Geld interessiert. Bis zu seinem
Tod jedweder finanzieller Rekompensation abgeneigt, erweist sich der
pájaro
-
Führer vielmehr als "Überzeugungstäter". Während anderswo revolutionäre
Guerillas entstehen oder marodierende
bandoleros
auf der Suche nach Reichtum
plündernd und mordend durch die Gegend streifen, ist die Gewalt in Tuluá
durchgehend vom dualistischen Gegensatz Liberale/Konservative geprägt. Sie
ist jedoch, und darin unterscheidet sich Álvarez Gardeazábal von den meisten
Violencia
-Autoren, auch das Ergebnis einer wesentlich früher einsetzenden
Entwicklung. Anstatt die Schuld einer der beiden Traditionsparteien zuzuschie-
ben, wie dies etwa Caballero Calderón tut, geht Álvarez Gardeazábal auf die
Ursprünge der
Violencia
ein, die er mit der Zeit der liberalen Hegemonie von
1930 bis 1946 in Verbindung bringt. In diesem Zusammenhang lässt er einen
jüngeren, noch kaum radikalisierten León María zum Zeugen eines liberalen
Massakers werden:
Sólo cuando como una exhalación pasó la llama sobre la mula y en vez de la guadaña del jine-
te del apocalipsis se oyó un quejido de muerte, él salió otra vez a la puerta y vio lo que podía
ser una niña entre las formas de las llamas que ya la consumían totalmente mientras la mula
trataba de botarla, parada en el andén del atrio de San Bartolomé. Cogió uno de los cartones
viejos en que llegaba el papel de Canadá y abandonando su puesto se abalanzó a tratar de
apagarle la muerte a la que resultó ser la hija de los Arbeláez de La Esmeralda, los únicos
conservadores que quedaban en la montaña de La Rivera.76
75
Ebd., S. 125 f.
76
Ebd., S. 20.
262
262
Kapitel III
Der Verweis auf den Ursprung und die Unaufhaltsamkeit der
Violencia
hat
den Zweck, die Kontinuität der Gewaltentwicklung aufzuzeigen. In gewissem
Sinne erweist sich somit auch Álvarez Gardeazábal als Anhänger von der These
einer endemischen Gewaltkultur. Ähnlich wie in den pessimistischen Werken
von Caballero Calderón und Mejía Vallejo erscheint auch in
Cóndores
Gewalt
als das Produkt fehlgeleiteter Sozialisationsprozesse. So handelt es sich bei den
Gewaltakteuren zumeist selbst um Opfer häuslicher, politischer oder sozialer
Gewalt. Die Konsequenz aus den erlittenen Traumata ist letztendlich eine kons-
tante Wiederholung der Gewalttaten, die sich praktisch bis heute fortsetzt. Da
den Akteuren im Sinne eines Lernprozesses klar geworden ist, dass es sich
"lohnt", Gewalt anzuwenden, sind derartige Mittel mit der Zeit in breiten
Schichten der Bevölkerung zum "normalen" Rekurs geworden.77 Dass Álvarez
Gardeazábal diese Ansicht von einer gewissermaßen vererbten bzw. anerzoge-
nen Gewalt noch immer teilt, zeigt folgender Absatz aus einem aktuellen Beitrag
für die Zeitschrift
Semana
. Darin erklärt er die in
Cóndores
beschriebenen
pája-
ros
zu Vorläufern der heutigen Paramilitärs:
[…] cuando la violencia partidista arremetió con fuerza en las tierras vallecaucanas, dirigida
desde Tuluá por León María Lozano, mis coterráneos enviaron una carta al periódico
El
Tiempo
denunciando la existencia de semejante clima de crueldad y muerte y bautizando a
Lozano como 'el cóndor', porque eran sus bandidos conservadores motorizados, lo 'paracos' de
entonces, tan protegidos por el Estado como los de ahora, a quienes las gentes llamaban 'pája-
ros', los causantes del horror.78
Ebenso wie die zuvor besprochenen
Violencia
-Romane erweist sich
Cóndores
als ein Werk, das im Bewusstsein der Öffentlichkeit wesentlich zur Verfestigung
der "Kontinuitätsthese" beigetragen haben dürfte. Dies bestätigt zumindest eine
aktuelle Kolumne in
El Espectador
, deren Autor, Ramiro Bejarano Guzmán, den
"Cóndor" als Teil der "memoria perpetua" bezeichnet und seine Taten ebenfalls
mit den Verbrechen der Paramilitärs in Verbindung bringt:
[...] si el Cóndor viviese, sería un huésped más de ese remedo de cárcel en La Ceja, pues son
más las semejanzas que las diferencias con Mancuso, Báez, Ramón Isaza, Jorge 40, y toda esa
cuadrilla narcoparamilitar, que ha hecho lo mismo que Lozano hacía por cuenta del conserva-
tismo. León María llenó de pánico el Valle del Cauca, permitió que otros mataran y masacra-
ran a opositores políticos, pero también contó con suerte y con un insólito proceso de paz,
porque gracias a unas maniobras judiciales que todavía recuerdan en Buga, consiguió que por
77 Vgl.
Zambrano.
1997, S. 105.
78
Semana
, Nr. 1260, 26. Juni 2006, S. 93.
263
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
263
orden del dictador Rojas Pinilla, un juez corrupto, o sectario, o pendejo, o las tres cosas, lo
pusiera en libertad después de purgar apenas una semana de cárcel.79
Die pessimistische Grundhaltung, nach der Gewalt als bestimmende Konstan-
te bei der Herausbildung einer "kolumbianischen" Identität erscheint, kann als
typisch für die Gattung des
Violencia
-Romans gelten. Im Gegensatz zur offiziel-
len Geschichtsschreibung ist in
Cóndores
allerdings auch der Hinweis auf die
Verfehlungen der politischen Eliten kaum zu überhören. Wie bereits bemerkt,
hat Álvarez Gardeazábal dabei eine dualistische und parteigebundene Darstel-
lung weitgehend vermieden. Im Gegenteil, trotz seiner Zugehörigkeit zur Kon-
servativen Partei zeichnet sich das Werk eher durch Kritik an Kirche, Staat und
lokalen Autoritäten aus. Die einzige "Heldenfigur" des Buches ist zudem die
liberale Politikerin Gertrúdiz Potes. In deutlicher Zurückweisung des
machismo
wagt es ausgerechnet eine Frau, sich dem "Cóndor" in aller Öffentlichkeit in den
Weg zu stellen und seine Schandtaten auf nationaler Ebene anzuprangern. Doch
auch im Hinblick auf die Kritik am hierarchischen Gesellschaftssystem Kolum-
biens fällt es schwer, die literarische Struktur der Romans mit der politischen
Ideologie des Autors in Verbindung zu bringen.
In Bezug auf die Speicherfunktion des Romans habe ich bereits erwähnt, dass
der Roman aufgrund seiner Form nur bedingt als Medium des kollektiven Ge-
dächtnisses in Frage kommt. Er weist weder den typischen Dualismus noch die
extreme Überzeichnung anderer Werke auf. Zwar werden konkrete historische
Ereignisse wie der 9. April 1948 oder historische Figuren in verdichteter Form
wiedergegeben, aber die allegorischen Anspielungen aus
El Cristo
und
El día
fehlen weitgehend. Stattdessen setzt Álvarez Gardeazábal auf die Opposition
von historischem Diskurs und individueller Erinnerung. Während die Darstel-
lung der historischen Tatsachen ungemein realistisch, nahezu trocken ausfällt,
sind die populären Interpretationen von Ironie und satirischer Überspitzung ge-
kennzeichnet. Aufgrund dieses ambivalenten Umgangs mit der Geschichte ist
der paradigmatische Wert des Romans deutlich geringer als der vieler "klassi-
scher"
Violencia
-Romane. Sinnstiftende, normative Aussagen enthält das Werk
dennoch, wenngleich in subtilerer Form. Trotz des pessimistischen Grundtenors
sind es paradigmatisch handelnde Personen wie Gertrúdiz Potes und die Unter-
zeichner des Protestbriefs, die auf die Möglichkeit legitimen Widerstandes ver-
weisen. In diesem Zusammenhang ist der Text mehr als nur ein Mahnmal für
nachfolgende Generationen.
79
El Espectador
vom 28. Oktober 2006.
264
264
Kapitel III
Obwohl Álvarez Gardeazábal den Roman bewusst als Erinnerungsort kons-
truiert hat, zweifelt er heutzutage an dessen tatsächlicher Wirkung auf die Leser-
schaft. Denn im Kolumbien der Gegenwart sei Lesen zu einer lästigen Pflicht-
übung an Schulen und Universitäten verkommen. Ebenso pessimistisch wie sein
Werk fällt daher auch seine Einschätzung in Bezug auf den Stellenwert der Lite-
ratur aus:
Cuando
Cóndores
salió al mercado, y les abrió las venas a los editores piratas, en Colombia
creíamos en cosas muy distintas a las que ahora nos sostienen. Al colombiano medio le intere-
saba leer, creía en la lectura como medio de proyección, de modificación de su
status
. No en
vano se hicieron más de 20 ediciones de esa novela en cinco años […].
Ahora no solamente tenemos otros valores sino que los colombianos no creemos en la letra
impresa, dudamos de los comunicados de prensa de Palacio, nos reímos silenciosamente de
los informes sobre Pablo Escobar y, lo que puede significar mucho más, hace rato que deja-
mos de creer que la verdad nacional estaba contenida en las páginas de EL TIEMPO. Mien-
tras tanto la lectura pasó a ser únicamente una obligación de tarea escolar en los colegios, un
requisito para completar los créditos académicos en las universidades y se alejó como posibi-
lidad de entretención para el grueso público.80
Obgleich der Roman aufgrund seiner Thematik kaum dazu prädestiniert war,
ein Bestseller zu werden, erreichte
Cóndores
innerhalb weniger Jahre zahlreiche
Auflagen und entwickelte sich zu einem der meistgelesenen Bücher in Kolum-
bien. Ein Grund für diesen erstaunlichen Erfolg lag höchstwahrscheinlich in
dem kurz nach dem Erscheinen provozierten Skandal. Da sich Álvarez Gar-
deazábal keine Mühe machte, die Namen der damals beteiligten Akteure zu än-
dern, brach 1971 ein Sturm des Protestes los, der sowohl den Roman als auch
seinen Autor schlagartig bekannt machten. Zur Verwendung des Textes an Se-
kundarschulen haben neben der früh erlangten Popularität zusätzlich seine li-
near-chronologische Struktur, der knappe Umfang und die einfache Sprache
beigetragen. Der 1984 von Francisco Norden für das Kino gedrehte Film be-
wirkte schließlich, dass der Inhalt des Romans in ganz unterschiedlichen Gesell-
schaftsschichten Verbreitung fand. Obwohl viele Leute das Buch niemals gele-
sen haben dürften, wurde die Figur des "Cóndor" landesweit bekannt und gewis-
sermaßen zu einem Symbol für die Epoche der
Violencia
. Die Kino-Adaption,
die zahlreiche internationale Preise gewann und den Redakteuren der Zeitschrift
Semana
zufolge bis heute als "wichtigster kolumbianischer Film aller Zeiten"
80
Álvarez Gardeazábal, Gustavo.
1994. Escribir en la Colombia de hoy: una soberana
pendejada. In: Kohut, Karl (Hg.).
Literatura colombiana hoy
. Frankfurt u. a.: Vervuert, S. 41.
265
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
265
gilt, hält sich zudem eng an die Romanvorlage.81 In Bezug auf die Abruffunkti-
on hat die filmische Umsetzung von
Cóndores
bewirkt, dass der Begriff des
"Cóndor", selbst wenn eigentlich das Wappentier Kolumbiens gemeint ist, noch
immer Assoziationen zum Roman hervorruft.
Zwar ist empirisch kaum nachzuweisen, wie viele Menschen bei der Nennung
des "Cóndor" tatsächlich an den Roman von Álvarez Gardeazábal denken.
Nichtsdestotrotz zeigt eine Sonderausgabe von
Semana
, dass bestimmte "natio-
nale Symbole" unausweichlich mit der Epoche der
Violencia
verbunden sind. So
gab die Redaktion der Zeitschrift im Mai 2006 eine landesweite Umfrage in
Auftrag, durch welche die 50 wichtigsten "nationalen Symbole" der Kolumbia-
ner ermittelt werden sollte. Die darauffolgende Sonderausgabe mit dem Titel
El
símbolo de Colombia
enthielt jedoch trotz der redaktionellen Vorgabe, keine
negativ assoziierten Symbole wie Kokain, Drogenkartelle oder die Guerilla in
die Liste aufzunehmen, zwei klare Verweise auf die
Violencia
. Die Begleittexte
zu den gewählten Symbolen (auf den ersten Platz schaffte es der
sombrero vol-
teao
; ein geflochtener Hut von der Karibikküste) enthüllten im Falle der "Ma-
chete" (Platz 33), dass diese während der
Violencia
gründlich zweckentfremdet
worden sei. Doch insbesondere der Text über das kolumbianische Wappentier,
den
Cóndor de los Andes
(Platz 26), bezog sich überwiegend auf die
Violencia
.
Demzufolge wird dieser Vogel in Kolumbien heute nicht zuletzt aufgrund des
berühmten Romans von Álvarez Gardeazábal mit Gewalt, Ungerechtigkeit und
Armut assoziiert. Er sei zu einem Symbol für die Fehlentwicklungen der letzten
200 Jahre geworden:
¿No será acaso que a Colombia le ha ido tan mal y ha resultado tan pobre, sin reservas mine-
rales suficientes, con gente tan violenta, con unos pobres tan resignados y unos ricos tan in-
justos por culpa del bendito cóndor?
A un país que escoge al ave negra de su fauna, le abre las alas para simbolizar protección y la
incluye como figura prioritaria del escudo, tenía que irle mal, tan mal como nos ha ido en 200
años de patria libre. Sólo nosotros escogimos como símbolo al ave más agorera de toda la
historia de la humanidad.82
81
Vgl.
Semana
, Nr. 1270, 4. September 2006, S. 68.
82
Semana
, Nr. 1260, 26. Juni 2006, S. 93.
266
266
Kapitel III
2.2 Die Testimonial-Literatur: "Stimme der Stimmlosen"
Wie bereits erwähnt, lassen sich zwischen der
novela de la Violencia
und der so
genannten
novela testimonial
diverse Berührungspunkte erkennen. Unter dem
Einfluss der mexikanischen Revolutionsliteratur stehend, war es bis Mitte der
50er Jahre das Hauptanliegen vieler kolumbianischer Romanautoren, auf soziale
Missstände hinzuweisen und die Mächtigen anzuprangern. Weiterhin zeichnet
sich die literarische Produktion jener Epoche durch ihren impliziten oder expli-
ziten Wahrheitsanspruch aus. Auch in der etwa seit Mitte der 60er Jahre zuneh-
mend erfolgreicheren Gattung der Testimonial-Literatur spielen Motive wie die
soziale Anklage (
denuncia social
), die Suche nach der "historischen Wahrheit"
oder die Repräsentation eines sozialen Kollektivs anhand individueller Lebens-
läufe eine wichtige Rolle, wenngleich die methodische Herangehensweise und
die Form nur noch wenige Gemeinsamkeiten zur
novela de la Violencia
aufwei-
sen.83
Während einige
Violencia
-Romane nur aufgrund bestimmter inhaltlich-
formaler Kriterien sowie ihrer Zirkulationsfunktion als Medien des kulturellen
Gedächtnisses in Betracht kommen, ist bei der
novela
testimonial
die Frage nach
ihrer erinnerungskulturellen Funktion leichter zu beantworten. Wie der Name
des Genres bereits erkennen lässt, liegt der Zweck des
testimonio
in der dauer-
haften Konservierung individueller und kollektiver Erfahrungen. Es handelt sich
um unterschiedlich geformte Repräsentationen subalterner Stimmen, die in der
offiziellen Historiografie keinen Platz gefunden haben. Im Kontrast zur über-
wiegenden Zahl der
Violencia
-Romane (mit der bemerkenswerten Ausnahme
von
Cóndores
) leistet die Testimonial-Literatur somit bewusst einen erinne-
rungskulturellen Beitrag, indem sie das "Vermächtnis" sozialer Akteure öffent-
lich macht. Der Verfasser eines
testimonio
versteht sich dabei lediglich als
"Mittler", der die Lebensgeschichten und Gedanken unterprivilegierter bzw.
marginalisierter Bevölkerungsgruppen sammelt, verdichtet und schriftlich fi-
xiert. Dabei kann es sich um die Erfahrungen einer einzigen Person handeln, wie
etwa im Falle der von der venezolanischen Anthropologin Elisabeth Burgos-
Debray veröffentlichten Memoiren der guatemaltekischen Friedensnobelpreis-
trägerin Rigoberta Menchú (
Me llamo Rigoberta Menchú y así me nació la con-
ciencia
, 1983), dem wohl bekanntesten
testimonio
. Ebenfalls möglich ist jedoch
83
Vgl.
Andrade, María Mercedes.
1996. Ciudad y nación en las novelas del Bogotazo.
In: Jaramillo, María Mercedes (Hg.).
Literatura y cultura narrativa colombiana del siglo XX
.
Bd. 2. Bogotá: Ministerio de Cultura, S. 184 ff.
267
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
267
die Verschmelzung individueller Lebenswege mit generellen historischen Aus-
führungen, wie dies in Kolumbien vor allem Alfredo Molano und Arturo Alape
umgesetzt haben. Beide greifen in ihren Büchern zwar auf die Lebensgeschich-
ten real existierender Personen zurück; ihre mithilfe von Interviews gewonnen
Informationen präsentieren sie jedoch, indem sie die Erlebnisse einer Vielzahl
von Personen in wenigen fiktiven Figuren verdichten (Molano) oder Zeitzeu-
genberichte mit persönlichen Erinnerungen und romanhaften Einschüben vermi-
schen (Alape).
In rückblickender Perspektive betrachtet, fand die Testimonial-Literatur in
Kolumbien erst relativ spät Verbreitung. Als zu Beginn der 80er Jahre die ersten
testimonialen Werke von Alfredo Molano erschienen, konnte die Gattung in La-
teinamerika bereits auf zahlreiche "Klassiker" zurückblicken, die vornehmlich
im Kontext von Militärdiktatur und revolutionärem Befreiungskampf entstanden
waren. Gemeinhin als erste
novela testimonial
gilt heute das Werk
Biografía de
un cimarrón
(1966) des kubanischen Anthropologen Miguel Barnet. Der Autor,
dessen Arbeit vom kubanischen Staat gefördert wurde, stieß damit eine Debatte
über die sozialkritische Ausrichtung der "neuen" Literatur an, die sich schließ-
lich in der Verleihung eines speziellen Preises für die Gattung des
testimonio
durch die renommierte
Casa de las Américas
in Havanna niederschlug. Seine
Gedanken und theoretischen Reflexionen zur
novela testimonial
sind immer
noch richtungsweisend.84
Barnet grenzt die Testimonial-Literatur scharf von der bürgerlichen Literatur
ab, die sich seiner Meinung nach zu weit von der mündlichen Überlieferung des
"Volkes" entfernt habe. Zwar ist die
novela testimonial
ebenfalls stark personen-
zentriert, die Protagonisten repräsentieren jedoch stets ein soziales Kollektiv wie
etwa eine politische Gruppe, eine Ethnie oder eine Klasse. Zentrales Anliegen
der Testimonial-Literatur ist somit die Dekonstruktion der offiziellen Geschicht-
schreibung und des politischen Diskurses der Eliten. Ihrem Wesen nach, so Bar-
net, sei die
novela testimonial
eine Symbiose zwischen Roman und
testimonio
sowie zwischen Anthropologie und Literatur.85
84
Zur Entwicklung des Genres siehe
Beverly, John.
1996. The Margin at the Center: On
Testimonio. In: Gugelberger, Georg (Hg.).
The Real Thing. Testimonial Discourse and Latin
America
. Durham u. a.: Duke Univ. Press, S. 23–41.
85
Zu Barnets Ansichten und seiner Methode siehe
Sklodowka, Elzbieta.
1996. Spanish
American Testimonial Novel. Some Afterthoughts. In: Gugelberger, Georg (Hg.).
The Real
Thing. Testimonial Discourse and Latin America
. Durham u. a.: Duke Univ. Press, S. 90 ff.
268
268
Kapitel III
Spätere Kategorisierungen der
novela testimonial
stimmen weitgehend mit
Barnets Definition überein oder bauen auf dieser auf. So ist es unter Literaten
und Literaturwissenschaftlern mittlerweile üblich geworden, die Testimonial-
Literatur als Repräsentation subalterner, marginaler Perspektiven zu charakteri-
sieren, wobei das Exemplarische einer persönlichen Erfahrung betont wird. Wie
George Yúdice schreibt, sei es das Anliegen der heutigen
novela testimonial
,
den "Stimmlosen eine Stimme zu geben" und die andere Seite der Medaille auf-
zuzeigen. Dabei stelle sich der Zeitzeuge selbst als Zugehöriger einer Erinne-
rungskultur und Gruppenidentität dar ("agent of a collective memory and identi-
ty").86 In einem 1990 erschienen Werk zur Testimonial-Literatur in Zentralame-
rika definieren John Beverly und Marc Zimmerman das Genre folgendermaßen:
A novel or novella-length narrative, told in the first person by a narrator who is also the actual
protagonist or witness of the events she or he recounts. The unit of narration is usually a life
or a significant life episode (e. g., the experience of being a prisoner). Since in many cases the
narrator is someone who is either functionally illiterate or, if literate, not a professional writer
or intellectual, the production of a testimonio generally involves the recording and/or tran-
scription and editing of an oral account by an interlocutor who is a journalist, writer, or social
activist. The word suggests the act of testifying or bearing witness in a legal or religious
sense.87
Der Herausgeber eines 1996 erschienen Sammelbandes zum
testimonio
,
Georg Gugelberger, merkt weiterhin an, dass "progressive" Intellektuelle in den
USA das neue Genre geradezu euphorisch aufgenommen hätten, was eine Ka-
nonisierung nach sich gezogen habe. In einer postkolonialen Umkehrung der
kulturellen Penetration Lateinamerikas durch die USA handle es sich um eine
Kunstform, die von Süden nach Norden transferiert worden sei.88
Dass die Leserschaft einer
novela testimonial
trotz der literarischen Form ei-
nen hohen "Wahrheitsstandard" einfordert, zeigte sich besonders deutlich an
dem Skandal um die bereits erwähnten Memoiren der Guatemaltekin Rigoberta
Menchú. Zwar erkannten die Leser auf der ganzen Welt den literarischen Cha-
86
Vgl.
Yúdice, Georg.
1996. Testimonio and Postmodernism. In: Gugelberger, Georg
(Hg.).
The Real Thing. Testimonial Discourse and Latin America
. Durham u. a.: Duke Univ.
Press, S. 44.
87
Beverly, John/Marc Zimmerman.
1990.
Literature and Politics in the Central Ameri-
can Revolutions
. Austin: Univ. of Texas Press, S. 173
88
Gugelberger, Georg.
1996. Introduction: Institutionalization of Transgression. In: ders.
(Hg.).
The Real Thing. Testimonial Discourse and Latin America
. Durham u. a.: Duke Univ.
Press, S. 1 f.
269
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
269
rakter ihres
testimonio
an, empörten sich jedoch Jahre später über die offensich-
tliche Manipulation historischer Fakten. Als der US-amerikanische Anthropolo-
ge David Stoll im Jahre 1999 nachwies, dass die berühmte Lebensgeschichte der
indígena
in weiten Teilen ein Konstrukt aus den Lebensgeschichten anderer Op-
fer des guatemaltekischen Bürgerkrieges war, setzte eine internationale Debatte
über den Sinn und Zweck des
testimonio
ein.89 Menchús Befürworter betonten
die "kollektive Erzähltradition" der Maya-Indianer, wohingegen andere Beo-
bachter den "Mythos
testimonio
" zerbröckeln sahen. Diese fortdauernde Diskus-
sion um den literarischen, historischen und politischen Stellenwert des
testimo-
nio
hat schließlich dazu beigetragen, die Kluft zwischen professioneller Ge-
schichtsschreibung und Testimonial-Literatur noch weiter zu vergrößern. Dabei
sei angemerkt, dass die als "Mittler" auftretenden Verfasser in den meisten Fäl-
len selbst Historiker, Sozialwissenschaftler oder Journalisten sind.
Wie angesprochen ist das Genre des
testimonio
auch in Kolumbien seit Be-
ginn der 80er Jahre äußerst erfolgreich, sowohl in Bezug auf die Verkaufszahlen
als auch im Hinblick auf die Auflagenhöhe. Der Literaturwissenschaftlerin
Lucía Ortiz zufolge erklärt sich der durchschlagende Erfolg der Gattung im We-
sentlichen aus der politischen Krise, die zu Beginn der 80er Jahre immer drasti-
schere Ausmaße annahm, weil der Staat auf die Gewalt bewaffneter Gruppen
und den Terror der Drogenkartelle mit repressiven und letztlich kontraprodukti-
ven Maßnahmen reagierte. Dies habe eine literarisch-politische Reaktion in
Form des
testimonio
provoziert.90 Die Themen der Werke sind dabei äußerst
vielfältig; sie reichen von den Erinnerungen der
Violencia
-Generation bis hin
zur aktuellen Verarbeitung der Erlebnisse von Entführungsopfern oder der Le-
benswelt jugendlicher Auftragskiller (
sicarios
). Als für das Thema der vorlie-
genden Studie besonders relevant haben sich die Bücher von Alfredo Molano
und Arturo Alape erwiesen, da sie sich ausgiebig mit der Zeit der
Violencia
be-
schäftigen und dem Leser alternative Geschichtsversionen anbieten. Sie tragen
dazu bei, periphere und "vergessene" Landstriche Kolumbiens ins Bewusstsein
der Stadtbevölkerung zu rücken sowie "totgeschwiegene" historische Zusam-
menhänge aufzudecken. Die Grenzen zwischen Journalismus, Soziologie,
Anthropologie und Literatur verschwimmen dabei vollständig.
89
Siehe
Stoll, David.
1999.
Rigoberta Menchú and the story of all poor Guatemalans
.
Boulder u. a.: Westview.
90
Vgl.
Ortiz, Lucía.
2000. Narrativa testimonial en Colombia: Alfredo Molano, Alfonso
Salazar, Sandra Afanador. In: Jaramillo, María Mercedes u. a. (Hgg.).
Literatura y cultura.
Narrativa colombiana del siglo XX. Bd. 2.
Bogotá: Ministerio de Cultura, S. 346 f.
270
270
Kapitel III
Im gesamtamerikanischen Vergleich liegt die Besonderheit der Testimonial-
Literatur in Kolumbien darin, dass sich die meisten Werke nicht ausschließlich
auf die Repräsentation der subalternen Stimmen beschränken. So gehören etwa
manche von Molanos und Alapes Zeitzeugen durchaus der Oberschicht, dem
Militär oder den politischen Eliten an. Weiterhin bemühen sich die "Mittler"
darum, die sprachlichen Eigenheiten der Protagonisten beizubehalten, was dem
Leser Rückschlüsse auf deren regionale und soziale Herkunft erlaubt. Dies steht
im Einklang mit dem Postulat der Verfasser, sich weitestgehend "unsichtbar" zu
machen und eine neutrale Position zu beziehen. Tatsächlich gelingt ihnen dies
jedoch nur selten, wie die Werke von Molano, Alape und anderen Autoren ver-
anschaulichen. Aufgrund der oft ideologisch motivierten Auswahl der Zeitzeu-
gen hinterlassen viele
testimonios
stattdessen den Eindruck einer Kritik von
"links".
Obwohl die Testimonial-Literatur dazu beiträgt, die Leser der gebildeten Mit-
telschicht über die verheerenden Zustände auf dem Land oder innerhalb der
marginalisierten Sektoren der Gesellschaft aufzuklären, ist ihre Breitenwirkung
begrenzt. Juan Carlos Vélez Rendón weist in diesem Zusammenhang darauf hin,
dass trotz des großen Erfolgs einzelner Autoren die meisten Werke von einem
recht überschaubaren Fachpublikum rezipiert werden.91 Dabei handele es sich in
erster Linie um Universitätsprofessoren, Studenten oder Menschenrechtsaktivis-
ten. Aufgrund dieser Beschränkung könnten die politischen Lehren aus diesen
Büchern auch keine Breitenwirkung entfalten und seien nicht dazu geeignet, ei-
ne kollektive Beschäftigung mit der Vergangenheit einzuleiten. Ebenso wie die
Ergebnisse der neueren historischen Forschung habe die Botschaft der Testimo-
nial-Literatur keinen sichtbaren Effekt auf den politischen Diskurs der Eliten.
Immerhin gesteht Vélez Rendón dem Genre zu, einen Beitrag zur Gestaltung
einer zukünftigen Gedenkkultur geleistet zu haben.92 Deren sinnvolle Ausfor-
mung und Institutionalisierung steht zwar noch immer aus, bereits jetzt verfügt
die kolumbianische Gesellschaft mit den Werken von Molano, Alape und ande-
ren jedoch über Basiselemente, auf denen ein sinnvoller Erinnerungsdiskurs in
Zukunft aufbauen könnte. Zudem beweist der Erfolg der
novela testimonial
,
dass der vom
Frente Nacional
eingeleitete "Pakt des Vergessens" beileibe nicht
alle kritischen Stimmen zum Schweigen gebracht hat.
91
Vgl.
Vélez Rendón, Juan Carlos.
2003. Violencia, memoria y literatura testimonial en
Colombia. Entre las memorias literales y las memorias ejemplares. In:
Estudios Políticos
, Nr.
22 (Januar–Juni, Medellín), S. 55 f.
92
Vgl. ebd., S. 53 u. 56 f.
271
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
271
2.2.1 Die Zeitzeugenberichte Alfredo Molanos
Wichtigster Exponent der kolumbianischen Testimonial-Literatur ist der 1944 in
Bogotá geborene Soziologe Alfredo Molano, der die Gattung einem breiten Pub-
likum bekannt gemacht und sie in methodischer Hinsicht bereichert hat. Auf-
grund seiner sozialwissenschaftlichen Ausbildung und seines umfassenden his-
torischen Wissens gewinnen seine Chroniken in vielen Fällen einen Tiefgang,
der den meisten anderen
testimonios
abgeht. Die Beschreibung persönlicher
Schicksale, verdichtet in "kollektiven Figuren", sieht er als adäquates Mittel, um
die strukturellen Probleme Kolumbiens aufzuzeigen.93 Obwohl seine ersten Bü-
cher aufgrund der hohen Informationsdichte und der soziologischen Terminolo-
gie einem kleinen Kreis gebildeter Leser vorbehalten blieben, sprach Molano
spätestens mit
Los años del tropel
(1985) ein breiteres Publikum an. Ohne sei-
nen wissenschaftlichen Anspruch aufzugeben setzt er in diesem Werk auf eine
leichter verständliche Sprache, die der sozialen und regionalen Herkunft der
Protagonisten entspricht. Im Vergleich zu seinen späteren Arbeiten ist
Los años
das Werk mit dem deutlichsten
Violencia
-Bezug. So beschäftigen sich die sechs
Episoden des Buches ausschließlich mit der Periode von 1946 bis zur Mitte der
60er Jahre.
Weitere Werke Molanos, die sich zumindest am Rande mit der
Violencia
be-
fassen, sind
Siguiendo el corte
(1989) und
Trochas y fusiles
(1994).94 In
Si-
guiendo
präsentiert er die persönlichen Erfahrungen von sechs Menschen, die zu
Beginn der 60er Jahre vor den bewaffneten Auseinandersetzungen im Hochland
fliehen, um in den unerschlossenen Gebieten Ost-Kolumbiens ein besseres Le-
ben zu finden. Anhand ihrer Erzählungen erfährt der Leser von den verheeren-
den Nachwirkungen der
Violencia
, die bis heute spürbar sind. Dazu gehören vor
allem das Phänomen der unfreiwilligen Binnenmigration sowie die Drogenprob-
lematik. Anstatt näher auf die Ursprünge der Gewalt einzugehen, konzentriert
sich Molano in
Siguiendo
jedochauf den Übergang von der historischen
Violen-
cia
zu den diffus miteinander verwobenen
violencias
der Gegenwart. Die Hand-
lung spielt sich dabei an den geografischen und gesellschaftlichen Rändern ab,
in Regionen und sozialen Schichten, die den meisten Kolumbianern bis heute
93
Vgl.
Molano.
1985, S. 30. Im Folgenden verwende ich die Erstausgabe von
Los años
del tropel
.
94
Auch hier stütze ich mich jeweils auf die Erstausgaben: ders. 1989.
Siguiendo el corte.
Relatos de guerras y de tierras
. Bogotá: El Áncora u. ders. 1994.
Trochas y fusiles
. Bogotá:
El Áncora.
272
272
Kapitel III
vollkommen fremd sind. In absolutem Widerspruch zur offiziellen Historiogra-
fie zeigt er durch die Stimme seiner Protagonisten, dass der aktuelle Konflikt auf
das engste mit der fehlgeleiteten Politik des
Frente Nacional
verknüpft ist.
Ebenso sprechen seine "kollektiven Figuren" offen über das tabuisierte Thema
des Drogenhandels, der entgegen der offiziellen Meinung nicht erst seit Mitte
der 80er Jahre eine Rolle spielt, sondern bereits in den 70er Jahren zur finanziel-
len Versorgung der bewaffneten Banden beiträgt. Die Schuldzuweisungen an die
Oligarchie aus dem Munde der Protagonisten sind dabei mehr als direkt. Seinen
Zweck, nämlich die herrschende Kaste und ihre abwertende Sichtweise auf das
"Volk" zu diskreditieren, erfüllt
Siguiendo
somit exemplarisch. Aufgrund der
ideologisch geleiteten Selektion der Zeitzeugen handelt es sich um eine herr-
schaftskritische Darstellung mit dem Ziel, die "historische Wahrheit" zu rekons-
truieren. Demnach sei, wie Orlando Fals Borda im Vorwort des Buches festhält,
Molanos Methode bestens dazu geeignet, die "verbotene Geschichte" ans Tages-
licht zu fördern: "[…] todo ello con el fin de rescatar la historia olvidada o
prohibida y además registrar la viva que se agita inédita ante nuestros ojos."95
Genau in dieser Sichtweise, nämlich dem Anspruch auf "Wahrheit und Objek-
tivität", liegt jedoch das größte Problem der Testimonial-Literatur. Deutlich
zeigt sich das ambivalente Verhältnis zwischen Geschichte und
testimonio
im
Vorwort von
Trochas
. Darin schreibt der Soziologe William Ramírez Tobón,
dass den Autoren der Gattung deutliche interpretative Grenzen gesetzt seien. Die
subjektiv rekonstruierte Entstehungsgeschichte der Guerillaorganisation FARC,
die das zentrale Thema des Buches ausmacht, erscheint ihm daher als eine stre-
ckenweise eindimensionale Verzerrung der Fakten. Dies erkläre sich jedoch aus
der Reduktion komplexer historischer Zusammenhänge, die ein wesentliches
Merkmal der individuellen Erinnerung ausmache. Im Falle von
Trochas
sei ins-
besondere der fehlende Hinweis auf die liberale Hegemonie als Ursprung der
Violencia
zu bemängeln:
Hay rasgos históricos, sin duda, como tendrían que darse en narrativas de vidas que por largas
se confunden con los orígenes mismos de la organización subversiva. Pero son rasgos dibuja-
dos por los peculiares sentimientos y recuerdos de los entrevistados y sobre los cuales el lec-
tor no dejará de advertir contradicciones en eventos en que la disciplina histórica profesional
ha podido hacer claridad. Como en el caso, por ejemplo, de responsabilizar unilateralmente al
partido conservador del desencadenamiento de la violencia interpartidaria, dejando de lado los
95
Molano.
1989, S. 14.
273
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
273
antecedentes de hegemonización violenta propiciada por sectores liberales a partir de los años
treinta.96
Trotz oder gerade wegen dieser "Reduktion" eignen sich die testimonialen
Texte von Alfredo Molano als Medien des kollektiven Gedächtnisses. So nutzt
der Autor ausgiebig das Verfahren der Verdichtung, wodurch ihm die Konstruk-
tion literarischer Erinnerungsorte gelingt. Komplexe vergangene Ereignisse re-
duzieren sich in der Erinnerung der "kollektiven Figuren" auf spezifische Topoi,
Bilder oder Persönlichkeiten. Anders als im "klassischen"
Violencia
-Roman ge-
schieht dies jedoch kaum durch den Einsatz von Metaphorik, Intertextualität
oder Allegorie. Molano bemüht sich im Gegenteil um größtmöglichen Realis-
mus und Authenzität. Nichtsdestotrotz weisen alle hier aufgeführten Werke fik-
tionalisierende Elemente auf, die sich nicht nur aus der eigentümlichen Selekti-
on und Kombination des historischen Materials erklären. Manche Konstellatio-
nen erweisen sich schlicht als Erfindungen des Autors, wobei der Bezug zu rea-
len Ereignissen und Personen offensichtlich ist. Einem Leser mit historischem
Vorwissen dürfte es beispielsweise relativ leicht fallen, von der Kunstfigur des
"Chimbilá" in
Los años
auf reale konservative Gewalttäter der 50er Jahre zu
schließen.97 Zudem schildert Molano die Figur als Handlanger von León María
Lozano, dem "Cóndor".
Im Sinne der von Astrid Erll in Bezug auf die Eigenschaften von Medien des
kollektiven Gedächtnisses formulierten Kriterien, ist weiterhin davon auszuge-
hen, dass auch die Wahl der Erzählstruktur den Sinn des Erinnerten in eine be-
stimmte Richtung lenkt. Demzufolge sind besonders stark konventionalisierte
Gattungen eher geeignet, schwer zu deutende kollektive Erfahrungen durch be-
kannte Darstellungsmuster sinnhaft zu gestalten. Alfredo Molanos Texte wei-
chen nur selten von den starren Konventionen des
testimonio
ab, so dass zwi-
schen den einzelnen Werken kaum strukturelle Abweichungen erkennbar sind.
Der bereits kanonisierten Gattung zuzuordnen, entsprechen sie weitgehend den
Vorgaben des "
testimonio
-Begründers" Miguel Barnet. Ihr paradigmatischer
Gehalt ist daher extrem hoch und erinnert in seiner pädagogischen Stoßrichtung
an diverse Frühwerke der
Violencia
-Literatur. Was Molanos Literatur jedoch
von den meisten Romanen der 50er und 60er Jahre abhebt, ist ihr sprachliches
und erzählerisches Niveau. In Bezug auf die
Violencia
demonstriert er sein
Können exemplarisch in
Los años
. Während
Siguiendo
und
Trochas
die 50er
96 Ders. 1994, S. 16.
97
Siehe hierzu
Sánchez/Meertens.
1983, S. 157–190.
274
274
Kapitel III
und 60er Jahre nur streifen, um eine Brücke zur Gegenwart schlagen, konzent-
riert sich
Los años
ausschließlich auf den historischen Bürgerkrieg. Im Bereich
der Testimonial-Literatur stellt das Buch somit die mit Abstand wichtigste Quel-
le dar.
Nachdem die Lebensgeschichten der verschiedenen "Kollektivfiguren" zu-
nächst als Einzelschicksale präsentiert werden, vermengen sich ihre persönli-
chen Erlebnisse bald mit historischen Ereignissen von nationaler Bedeutung, die
beim Leser Assoziationen hervorrufen. Dabei handelt es sich beispielsweise um
die Ermordung Gaitáns, die Bluttaten León María Lozanos oder Laureano
Gómez’ "Kreuzzug" gegen die Liberalen. Geschickt nutzt Molano hierbei die
wenigen auf kollektiver Ebene vorhandenen Erinnerungen an die
Violencia
, um
die Einzelschicksale in einen allgemein verständlichen Kontext zu bringen. Es
gelingt ihm dadurch, die "trockene" Datensammlung der meisten Geschichtsbü-
cher zu vermeiden. Anhand konkreter Lebensumstände und Schicksalsschläge
werden zudem die kulturellen, ökonomischen und politischen Folgen der
Vio-
lencia
deutlich. Alejandro Angulo zufolge ist Molano damit eine Darstellung der
Violencia
gelungen, die selbst herausragende historiografische Werke in ihrer
Wirkung auf den Leser weit hinter sich lässt und eine "Lücke" im kollektiven
Gedächtnis der Kolumbianer zu schließen vermag. Konkret bezieht er sich dabei
auf das unmittelbar zuvor erschienene Standardwerk
Bandoleros, gamonales y
campesinos
(1983) von Gonzalo Sánchez und Donny Meertens.98
Ironischerweise ist jedoch gerade die Tatsache, dass Molano permanent auf
bestimmte historische Ereignisse wie den
bogotazo
oder den Sturz von Rojas
Pinilla rekurriert, ohne näher auf deren Umstände einzugehen, ein Beleg dafür,
dass zumindest in der gebildeten Mittelschicht – der potenziellen Leserschaft –
eine Erinnerung an die Zeit der
Violencia
vorhanden ist. Diese Erinnerung mag
vage und verzerrt sein, sie ist aber trotz allem abrufbar und verleiht den Erzäh-
lungen der Zeitzeugen ein strukturierendes Gerüst. Dass etwa die Figur des
"Cóndor" plötzlich und ohne weitere Erklärungen in Erscheinung treten kann,
lässt sich nur durch den großen Erfolg von Gustavo Álvarez Gardeazábals Ro-
man erklären. In gewissem Sinne baut Molano also auf den Wirkungseffekten
seiner Vorgänger auf, die bereits seit Beginn des
Frente Nacional
an einer "Ge-
gengeschichte" arbeiten und damit anscheinend in Teilen der Gesellschaft auf
Akzeptanz gestoßen sind.
98
Vgl.
Molano.
1985, S. 292.
275
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
275
Dass es sich beim Werk Molanos nicht um Geschichtsschreibung im akade-
mischen Sinne handelt, zeigt insbesondere die von ihm verwendete Methodik.
Im Gegensatz zu seinen früheren wissenschaftlichen Abhandlungen, zum Bei-
spiel
Amnistía y violencia
(1978), hat er bei der Datenerhebung nämlich auf me-
thodische Präzision und eine streng wissenschaftliche Auswertung verzichtet.
Wie er im Vorwort zur zweiten Auflage von
Los años
anmerkt, führte er ledig-
lich offene Interviews mit einigen Protagonisten der
Violencia
, die er nur teil-
weise auf Band aufnahm und sie später nochmals "durchlebte":
Con esta seguridad me boté encima de las entrevistas del Valle y de Boyacá y reviví a los
hombres y mujeres de carne y hueso que habían contado su historia. De ese río de sensaciones
salieron los personajes, uno a uno: Ana Julia, El Chimbilá, El Maestro, José Amador, Nasian-
ceno Ibarra. Hablaban apasionadamente, sin objetividad, y así, chorreando 'sangre y lodo',
entraron en el texto. No se trataba de hacer la historia de la Violencia, sino de contar su ver-
sión.99
Auch aufgrund der angewandten "Methodik" ist
Los años
eindeutig als litera-
risches Produkt zu identifizieren und keineswegs als "wissenschaftliche Analyse
mit dem Tiefgang einer soziologischen Abhandlung", wie der Klappentext des
Buches suggeriert. Gerade in den Beschreibungen des historischen Kontexts tritt
die ideologische Position des Autors, der mehr als nur ein "Mittler" ist, offen zu
Tage. So beziehen sich mehrere der Erzähler auf die berühmt-berüchtigten Per-
sönlichkeiten jener Epoche, wobei dem "Cóndor" eine Hauptrolle zukommt.
Durch die Stimme des so genannten "Maestro" erfährt der Leser weiterhin von
den Verbrechen der Konservativen Partei und ihren permanenten Wahlmanipu-
lationen. Obwohl der Protagonist selbst den Konservativen nahe steht, zeigt er
sich weder mit dem Handeln der Staatsmacht noch mit den von der Partei vertre-
tenen Werten einverstanden. So fragt er sich etwa, ob Kolumbien durch die ge-
waltsame Verteidigung von Familie, Vaterland und Kirche tatsächlich zur Ruhe
finden könne.100 In Anbetracht des Umstands, dass die meisten übrigen Figuren
der Liberalen Partei, den Kommunisten oder der Guerilla angehören, wird deut-
lich, wie einseitig Molano bei der Auswahl der Zeitzeugen vorgegangen ist.
Denn selbst konservative Parteigänger verlieren kaum ein gutes Wort über ihre
Führer. Insgesamt betrachtet trifft es den Chefideologen und Führer der Konser-
vativen Partei, Laureano Gómez, besonders hart. Folgender Zeitzeuge beschul-
digt ihn beispielsweise (zu Recht) des Einsatzes von Giftgas:
99
Ders.
2
1991.
Los años del tropel. Relatos de la violencia
. Bogotá: El Áncora, S. 11.
100
Vgl. ders. 1985, S. 47 f.
276
276
Kapitel III
Resulta que el presidente Laureano Gómez había ordenado bombardear con bombas de gas
todo el territorio donde hubiera chusmeros liberales. A mí no me tocó pero me lo contaron.
Claro esas bombas de gas venenoso no mataban solo chusmeros, sino a todo el mundo y tam-
bién a los animales.101
Der Gegensatz zwischen Konservativen und Liberalen ist das bestimmende
Motiv aller Erzählungen. Molano hat es jedoch versäumt, Zeitzeugen ausfindig
zu machen, die den liberalen bzw. linken Anschauungen widersprochen hätten.
Im "sozialrevolutionären" Geiste der 60er und 70er Jahre (die Vorarbeiten zu
Los años
begannen 1977) erkennt er der kolumbianischen "Linken" zwar ein
beträchtliches Gewaltpotenzial zu. Er neigt jedoch dazu, die Gewalt linker Ex-
tremisten, beispielsweise der FARC, in gewisser Weise zu rechtfertigen. Indem
er sozioökonomische Erklärungen für den "revolutionären Kampf" zunächst der
liberalen und dann der kommunistischen Guerillas liefert, entfernt er sich zwar
nicht von der historischen Realität. Es ist allerdings mehr als fragwürdig, aus-
schließlich die konservativen Mythen zu dekonstruieren, während "linke" Posi-
tionen unangetastet bleiben.
Zu den durchgehend negativen Schilderungen der Konservativen, des Militärs
und der Kirche erscheinen die Aufständischen, wie etwa die Guerilla der Llanos,
zumeist als Freiheitskämpfer. Obwohl auch Guadalupe Salcedo unzählige Men-
schenleben auf dem Gewissen hatte, werden seine Taten aus konservativer Sicht
anerkennenswert und aus liberaler Sicht bewundernd geschildert. Es findet sich
indes kaum ein
testimonio
, das die Verbrechen der liberalen Guerilleros, der so
genannten
chusmeros
, ausdrücklich verurteilt. Im Unterschied dazu zeigt etwa
die umfassende wissenschaftliche Studie von Reinaldo Barbosa Estepa, dass die
Aktionen der Guerilleros keineswegs immer von politischen oder "edlen" Moti-
ven geleitet waren. Auch in den Llanos gehörten grausame Raubzüge und nie-
derträchtige Morde zum täglichen "Geschäft".102
Am besten ist Alfredo Molano die Figur des "Chimbilá" gelungen, der einen
konservativen Banditen repräsentiert. Sein Fantasiename leitet sich von dem ei-
ner Vampir-Fledermaus her, da er den Gerüchten zufolge das Blut seiner Feinde
trinkt. In seiner Person vereinen sich sämtliche Schrecken der
Violencia
, wie sie
zu Beginn der 80er Jahre noch in keinem Schulbuch zu lesen waren und erst
allmählich das Interesse der
Nueva Historia
erweckten. Rückblickend berichtet
der ehemalige Mörder, der nun eine lebenslange Gefängnisstrafe verbüßt, von
101 Ebd., S. 106.
102
Vgl.
Barbosa Estepa.
1992, S. 137–158.
277
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
277
seiner Rolle während des Bürgerkrieges. Ähnlich der Figur des "Cojo" in
El día
señalado
ist er Täter und Opfer der
Violencia
zugleich. Diese habe ihm – gleich
einer unerklärlichen Kraft – seinen Weg vorgegeben und zum Auftragsmörder
der Konservativen gemacht. Gemeinsam mit dem "Cóndor" und unter dem
Schutz von Oligarchie und Kirche sei es seine "heilige Pflicht" gewesen, die Re-
gion von den Liberalen zu "säubern". Dies sei allerdings nicht aus Gründen der
Vergeltung, des persönlichen Status oder Habgier geschehen, sondern nur aus
dem Glauben an die "Sache" der Konservativen.103 Als die Zeiten sich ändern,
entziehen die Führer der Partei und der Kirche – nun im
Frente Nacional
orga-
nisiert – dem "Chimbilá" jedoch plötzlich ihr Vertrauen. Von den eigenen Auf-
traggebern verraten, endet er schließlich in dem berüchtigten Hochsicherheitsge-
fängnis auf der Insel Gorgona, das die Regierung von Alberto Lleras 1959 in
Auftrag gegeben hatte. Auf der so genannten
isla de los violentos
erfährt er nun
am eigenen Leib die furchtbarsten seelischen und physischen Martern. Nach der
Auflösung des Gefängnisses im Jahre 1984 wird er in verschiedene "humanere"
Haftanstalten verlegt, wobei aber die Erinnerung an die
Violencia
als schlimm-
ste Strafe erhalten bleibt:
Todo lo que he vivido se me está volviendo presente, los recuerdos me inundan, me amena-
zan. Cada hecho de mi vida, cada persona, cada cosa está conmigo, aquí, en esta celda. Si no
fuera por estas paredes podría decir, no que mi pasado se me vino encima, sino que yo le caí
de bruces.104
In gewisser Weise ist die Figur des "Chimbilá" damit eine Allegorie auf den
Zustand des historischen Gedächtnisses in Kolumbien. So stellt sich die Erinne-
rung an die
Violencia
nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesamtge-
sellschaftlicher Ebene als außerordentlich schmerzhaft dar. Aufgrund des erlit-
tenen Traumas ist eine kollektive Heilung ebenso schwierig wie ein friedlicher
Neubeginn.
Mit seinen Zeitzeugeninterviews hat Molano einen wichtigen Beitrag geleis-
tet, die Hintergründe der
Violencia
offenzulegen und deren individuelle Dimen-
sionen erfahrbar zu machen. Ein weiterer Schwerpunkt seines Werkes ist die
Entschlüsselung der vielfältigen Verbindungen zwischen vergangener und ak-
tueller Gewalt. Dabei wird deutlich, dass die sozialen und politischen Rahmen-
bedingungen, die den Ausbruch der Gewalt zumindest begünstigt haben, noch
längst nicht überwunden sind. Kolumbien ist auch in der Gegenwart von sozialer
103 Vgl.
Molano.
1985, S. 204 ff.
104
Ebd., S. 199.
278
278
Kapitel III
Ungleichheit, politischer Exklusion und "struktureller Gewalt" im Sinne Johan
Galtungs gekennzeichnet.105
Angesichts dieser klaren Botschaften stellt Molanos Werk einen wichtigen
Baustein zukünftiger Erinnerungsdiskurse dar. Der Erfolg seiner Bücher zeigt
bereits jetzt, dass es eine große Anzahl historisch interessierter Leser in Kolum-
bien gibt, die der offiziellen Geschichtsschreibung ablehnend gegenüber steht.
Dass die "Stimmen der Stimmlosen" nicht noch wirkungsmächtiger werden
konnten, hat auch mit der Schwäche der kolumbianischen Zivilgesellschaft zu
tun. Wie zahlreiche andere Intellektuelle, die es wagten und wagen, die Verbin-
dung zwischen illegalen Gewaltakteuren und staatlichen Stellen aufzudecken,
musste auch Alfredo Molano sein Heimatland für mehrere Jahre verlassen.
Rechtsgerichtete Paramilitärs hatten ihm mit der Ermordung gedroht.106
2.2.2 Die Chroniken Arturo Alapes
Im Vergleich zu den bisher behandelten Autoren ist der aus Cali stammende Ar-
turo Alape (1938–2006) in politischer Hinsicht am radikalsten. Obwohl die Tes-
timonial-Literatur ganz überwiegend von "linken" Autoren repräsentiert wird, ist
seine Sicht der Dinge in vielerlei Hinsicht sogar als "extrem links" zu bezeich-
nen. Alape, der in Wirklichkeit Carlos Arturo Ruiz hieß, hatte ursprünglich
Kunst studiert und sich anschließend der Malerei gewidmet.107 Schon bald fand
er jedoch Zugang zur Schriftstellerei und verfasste zahlreiche Kurzgeschichten
und Gedichte. Unter dem Einfluss von Pablo Neruda und César Vallejo interes-
sierte er sich zunehmend für Politik und Geschichte. Seine Beschäftigung mit
105
Dem Friedensforscher Johan Galtung zufolge ist unter "struktureller Gewalt" eine ob-
jektiv vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse zu verstehen,
die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das potenziell mögliche Maß herabsetzt.
Dabei verlagert Galtung den Fokus von der individuellen auf die soziale bzw. globale Ebene,
wobei er innerhalb der Gesellschaft von einem Oben und Unten oder zwischen den Staaten
von einer Zentrum-Peripherie-Beziehung ausgeht. Seine wichtigste Aussage ist in diesem
Zusammenhang, dass die strukturelle Perpetuierung der Ungleichheit vermeidbar ist, jedoch
aufgrund mangelnden Bewusstseins nur wenig zu ihrer Aufhebung getan werde. Siehe hierzu
Galtung, Johan.
1997. Strukturelle Gewalt. In: Albrecht, Ulrich/Helmut Volger. (Hgg.).
Le-
xikon der internationalen Politik
. München u. a.: Oldenbourg, S. 475–479.
106
Im Jahre 2005 kehrte Molano nach fünfjährigem Exil nach Kolumbien zurück.
107
Die folgenden biografischen Ausführungen über Arturo Alape stützen sich im Wesent-
lichen auf Zeitungsartikel, die anlässlich seines Todes am 7. Oktober 2006 erschienen. So z.
B.
El Tiempo
vom 8. Oktober und
El País
(Cali)vom 29. Dezember 2006.
279
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
279
sozialen und politischen Problemen war dabei wesentlich von der kubanischen
Revolution sowie persönlichen Erlebnissen während der
Violencia
geprägt, die
er als Kind und Jugendlicher im Departement Valle del Cauca erlebte. Über-
zeugt davon, dass der von Che Guevara propagierte Guerillakrieg in Kolumbien
rasch zu einem Sturz der bestehenden Ordnung führen würde, fühlte er sich zu
den linksgerichteten Rebellen hingezogen. In dem Glauben, dass aufgrund der
langjährigen "Guerilla-Tradition" Kolumbiens die "objektiven Bedingungen" für
den Sieg einer sozialistischen Revolution gegeben seien, schloss er sich den von
Jacobo Arenas und Manuel Marulanda gegründeten FARC an, denen er drei Jah-
re lang angehörte.
Obwohl Alape Zeit seines Lebens ein überzeugter Sozialist war und sogar in
Moskau studiert hatte, zwang ihn der militaristisch-pragmatische Charakter der
FARC, seine Position im Hinblick auf den bewaffneten Kampf zu überdenken.
Obwohl er der Guerilla schon früh den Rücken kehrte, blieb er insbesondere
dem im März 2008 verstorbenen Führer der FARC, Pedro Antonio Marín, be-
kannter als Manuel Marulanda Vélez alias "Tirofijo", jahrzehntelang verbunden.
Erst in den letzten Jahren seines Lebens äußerte Alape zunehmend Unverständ-
nis über die Weigerung der Guerilla, einen von der Regierung vorgeschlagenen
Frieden selbst unter großzügigen Bedingungen zu akzeptieren.108
Da sich der Maler, Schriftsteller, Historiker und Ex-Guerillero für die ver-
schiedensten Themen interessierte, fällt auch sein Lebenswerk höchst heterogen
aus. Für die vorliegende Arbeit sind ausschließlich seine testimonialen Werke
über die Zeit der
Violencia
relevant, die zwar keine literarischen Meilensteine
darstellen, in ihrer Fülle an Daten und Dokumenten jedoch ohne Vergleich sind.
Der bereits erwähnte Schriftsteller und Journalist Antonio Caballero bezeichnet
das Werk Alapes als "unverzichtbar" für das Verständnis der kolumbianischen
Geschichte des 20. Jahrhunderts.109 Tatsächlich enthalten Alapes Bücher über
den
bogotazo
, die
Violencia
und die Gründung der FARC wertvolle Dokumente
und Zeitzeugenberichte. Wirklich einzigartig sind allerdings seine persönlichen
Schilderungen sowie die Interviews mit Angehörigen der Guerilla und den
ban-
doleros
der frühen 60er Jahre.
Alape liefert dem Leser eine Innensicht der Rebellion, die den oftmals nur
verschwommen wahrgenommenen Übergang von der
Violencia
zu den
violen-
cias
zu erhellen vermag. Während seine monumentalen Werke
El Bogotazo:
108 Vgl.
El Tiempo
vom 26. August 2006.
109
Vgl. den Einband von
Alape.
1989.
280
280
Kapitel III
memorias del olvido
(1983) und
La paz, la violencia: testigos de excepción
(1985) überwiegend dokumentarischen Charakter haben, ist sein Zweiteiler über
das Leben von "Tirofijo" und die Entwicklung der FARC (
Las vidas de Pedro
Antonio Marín, Manuel Marulanda Vélez, Tirofijo
, 1989 und
Tirofijo: los
sueños y las montañas
, 1994) ein eher literarisches Produkt.110 Da Alape nach
der Veröffentlichung von
El Bogotazo
und
La paz
vielfach Anerkennung von
Seiten historisch interessierter Leser und Akademiker erfuhr, überraschte ihn der
Skandal, den die Veröffentlichung der Lebensgeschichte von "Tirofijo" zur Fol-
ge hatte. In der liberalen und konservativen Presse wurde er als "Biograf" der
Guerilla gebrandmarkt, deren Wirken er in unangemessener Weise verherrlicht
habe.111 Trotz oder gerade wegen der öffentlichen Entrüstungen wurden seine
Bücher jedoch zu großen Verkaufserfolgen und erlebten zahlreiche Auflagen.112
Der Autor selbst konnte seinen Erfolg allerdings nur bedingt genießen, da ihn
schon bald die ersten Todesdrohungen erreichten. Nach Jahren des Exils in Ku-
ba und Deutschland, wo er sich ebenfalls als Maler, Schriftsteller und Journalist
betätigte, kehrte er schließlich 2001 nach Kolumbien zurück.
Seine letzten Lebensjahre waren vom Kampf gegen die Leukämie gekenn-
zeichnet, die bei ihm im Jahre 1999 diagnostiziert wurde. In einem langen juris-
tischen Kampf mit seiner privaten Krankenversicherung, die sich weigerte, über-
lebenswichtige und exorbitant teure Medikamente zu erstatten, erfuhr er die
ideelle und materielle Unterstützung zahlreicher zivilgesellschaftlicher Gruppen
sowie ihm nahe stehender Personen. So veranstalte beispielsweise kurz vor sei-
nem Tod die alternative Theatergruppe
La Candelaria
eine Reihe von Benefiz-
veranstaltungen, von deren Erlös die Medikamente bezahlt werden sollten.113
Von Seiten der Regierung und der politischen Eliten hingegen, die ihn immer
noch als "Systemfeind" schmähten, wurde sein Tod mit Gleichgültigkeit und
Häme aufgenommen. Dabei steht außer Frage, dass Alape in der Öffentlichkeit
weniger als Guerillero, sondern vielmehr als sozialkritischer Schriftsteller wahr-
110
Im Folgenden stütze ich mich jeweils auf die Erstausgaben: Alape. 1983; ders. 1985.
La paz, la violencia: testigos de excepción
. Bogotá: Planeta u. ders. 1989.
111
Vgl.
Plazas Rodríguez, Angela.
1997.
Arturo Alape. Un hombre navegando en las le-
tras
. In: http://www.colombiaya.com/escritores/arturoalape.pdf (9. Februar 2008).
112
Auflagenzahlen gemäß den Angaben des Verlagshauses
Planeta
:
El Bogotazo
(17),
La
paz
(5),
Tirofijo
(3). Der jüngste Roman Alapes mit dem Titel
El cadáver insepulto
(2005)
beschäftigt sich ebenfalls mit dem Beginn der
Violencia
. Nach seinem Erscheinen hielt er sich
für mehrere Wochen an der Spitze der Bestsellerliste von
El Tiempo
.
113
Vgl.
El Tiempo
vom 26. August 2006.
281
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
281
genommen wurde. Für seine Bewunderer repräsentierte er das historische Ge-
wissen einer "Nation ohne Gedächtnis".114
Mehr noch als Molano geht es Alape darum, die offizielle Geschichtsinterpre-
tation mit unabweisbaren Fakten zu konfrontieren, die den politischen Diskurs
der Eliten fragwürdig erscheinen lassen. Die Epoche der
Violencia
und die aus
ihr hervorgegangenen Guerillaorganisationen sind seine literarische Obsession.
Als einer der ersten hat er erkannt, dass eine Überwindung des gegenwärtigen
Konflikts die Beschäftigung mit den Ursprüngen der bewaffneten Gruppen vor-
aussetzt. Da er die Entstehung der FARC selbst miterlebte, kannte er sämtliche
Details des von den Führern der Guerilla bis heute bemühten Gründungsmythos,
der um die Errichtung und Zerstörung der "unabhängigen Republik" Marquetalia
kreist. Im Gegensatz zu den politischen Eliten ist Arturo Alape jedoch bewusst
geworden, dass ein Friedensprozess mit den Guerilleros nur erfolgreich verlau-
fen kann, wenn die historischen Gründe des Konflikts öffentlich anerkannt wer-
den. Dass die Guerilla nach historischer Legitimierung trachtet und in zahlrei-
chen Diskursen auf die Zeit der
Violencia
verweist, ignorieren Vertreter diverser
"Friedenskommissionen" und Regierungen seit Jahrzehnten geflissentlich. Dabei
erkennen mittlerweile selbst einige Forscher bestimmte Argumente der Guerille-
ros an, zumindest was die Anfangsphase der einzelnen Bewegungen in den 50er
und 60er Jahren betrifft.115 Alape zufolge ist Kolumbien daher noch immer ein
"dunkles" Land, in dem sich die "Politik des Vergessens" fortsetzt, wie er kurz
vor seinem Tod im Hinblick auf die von Präsident Uribe praktizierte "Politik der
demokratischen Sicherheit" und unter Bezugnahme auf den Irrweg der Guerilla
äußerte:
Por un lado, la Política de Seguridad Democrática plantea desconocer la historia, como si no
hubiera un pasado laboral, social, universitario. Esto crea un país muy oscuro. Y, segundo, la
guerra no produjo el nuevo país prometido en los 70. Ese no era este desastre de las tomas de
pueblos. Ese no era el sueño. […] Mientras que muchos cantan victoria por lo que tenemos,
sigo pensando que padezco de cierta tristeza histórica.116
Heutzutage sind die jüngeren Historiker sowie die Anhänger der
Nueva Histo-
ria
größtenteils davon überzeugt, dass die durch die Modernisierung der 40er
und 50er Jahre verstärkte soziale Ungleichheit, die politische Exklusion während
des
Frente Nacional
und die unverhältnismäßigen militärischen Aktionen der
114 Vgl. ebd.
115
So etwa
Pizarro.
2004, S. 81–112.
116
El Tiempo
vom 26. August 2006.
282
282
Kapitel III
50er und 60er Jahre wesentlich zur Radikalisierung und Stärkung der Guerilla
beigetragen haben.117 Während die meisten
violentólogos
diese Zusammenhänge
jedoch nüchtern festhalten, ohne daraus die Legitimität des bewaffneten Auf-
standes herzuleiten, rechtfertigt Alape die Existenz der Guerilla mit Nachdruck.
Seine Deutungen sind antioligarchisch und revolutionär.
Trotz dieser parteiischen und zielgerichteten Sichtweise liefern seine Zeitzeu-
genberichte eine Sicht der Geschichte, die sich in keinem Schulbuch wiederfin-
det. Neben den Stimmen der einfachen Leute, der Arbeiter, Bauern und Auf-
ständischen kommen auch Militärs, Politiker und konservative
bandoleros
zu
Wort. Dass Alape dabei Partei für die Sache der Rebellen ergreift, ist in Bezug
auf den erinnerungskulturellen Wert seiner Arbeit jedoch kein Manko. Wie Her-
bert Braun in einem Essay über die gescheiterten Friedensverhandlungen der
Jahre 1998 bis 2002 angemerkt hat, ist gerade die Kenntnis der "subversiven"
Sichtweise zur Aushandlung der politischen Differenzen erforderlich. Die Insti-
tutionalisierung einer Geschichtsversion, in der die von beiden Seiten erlittenen
Ungerechtigkeiten, aber auch die Verfehlungen des Staats und der Guerilla Er-
wähnung finden, sieht er als unabdingbare Vorbedingung eines Verhandlungs-
friedens. Angesichts der Unfähigkeit der Regierung von Andrés Pastrana (1998–
2002), die historischen und strukturellen Ursachen des Konflikts zu verstehen
sowie aufgrund der Unfähigkeit der Guerilleros, über neue Möglichkeiten der
politischen Integration nachzudenken, sei der Friedensprozess jedoch von An-
fang an zum Scheitern verurteilt gewesen.118 Pastranas Nachfolger, Álvaro Uri-
be, sollte deshalb wieder mit "totalem Krieg" antworten.119 Eine gewissenhafte
Lektüre der Werke Arturo Alapes wäre den Verhandlungen möglicherweise zu-
träglich gewesen.
Darin werden eben jene Episoden der Geschichte entwirrt, über die Marulan-
da gerne mit Pastrana gesprochen hätte: der Beginn der
Violencia
, die Periode
des staatlichen Terrors der 40er und 50er Jahre sowie die Gründungsjahre der
FARC. Dabei weisen die ersten beiden Werke,
El Bogotazo
und
La paz
, keine
deutliche literarische Struktur auf. Es handelt sich eher um eine systematische
Sammlung von Zeitzeugeninterviews, die jeweils namentlich gekennzeichnet
117
Siehe stellvertretend für die Mehrheit der kolumbianischen Historiker
Archila Neira,
Mauricio.
2005.
Idas y venidas, vueltas y revueltas. Protestas sociales en Colombia, 1958–
1990
. Bogotá: ICANH u. a., S. 85–128.
118
Vgl.
Braun
,
Herbert.
2002.
"¡Qué haiga paz!" History and Human Reconciliation in
Colombia
. In: http://kellogg.nd.edu/events/pdfs/Braun.pdf (9. Februar 2008).
119
Vgl.
Die Welt
vom 31. Mai 2005.
283
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
283
und klar von einander getrennt erscheinen. Bei der Selektion der Zeitzeugen für
El Bogotazo
– Produkt einer siebenjährigen Recherchearbeit – zeichnet sich
Alape zudem durch den Willen aus, ein größtmögliches Spektrum an Meinun-
gen und Interpretationen abzudecken. Er lässt sowohl die maßgeblich beteiligten
gaitanistas
wie auch zufällige Beobachter, Militärs, konservative und liberale
Politiker zu Wort kommen. Die Meinung des Autors ist dabei lediglich in der
Einleitung und im Schlusswort sichtbar, wo Alape unmissverständlich seine Po-
sition in Bezug auf die Deutung der
Violencia
darlegt. Die gewohnt sozialkriti-
sche Richtung anderer Testimonial-Autoren erweitert er zusätzlich um eine de-
zidiert erinnerungskulturelle Funktion. Der große Wert seiner Arbeit beruhe
demnach auf der Rekonstruktion des "kollektiven Gedächtnisses", das sich zum
großen Teil aus den subalternen Stimmen zusammensetze:
[...] siempre se habían publicado las versiones de quienes tuvieron o tienen hoy cierta relevan-
cia política. Para ampliar ese cuadro de información, tendría que reconstruir algo que a mu-
chos nos apasiona: la memoria colectiva. Esa memoria que en últimas nos da otra versión de
esa historia tantas veces contada y deformada. Por lo tanto, había que voltear patas arriba esa
historia, digamos ya oficializada, para ponerla a andar con los pies de un pueblo que también
la ha escrito.120
Dieses Ziel sei, so Alape, jedoch nur mithilfe von Zeitzeugeninterviews zu
erreichen, denen er größere Objektivität als der gewöhnlichen Historiografie zu-
billigt. Das
testimonio
erhebt er gewissermaßen zum Gegenstück des "dekretier-
ten Vergessens":
Pero lo cierto y lo evidente es que en un país como Colombia, donde el olvido histórico ha
sido decretado, por el temor a los 'sobrevivientes' políticos, necesariamente y desde el punto
de vista de mayor objetividad, hay que recurrir al testimonio para ponerle esqueleto, cuerpo y
dinámica a esa historia.121
Gerade diese Stellungnahmen des Autors machen deutlich, dass es sich trotz
der vorgeblichen Neutralität bei der Auswahl der Zeitzeugen noch immer um ein
der Testimonial-Literatur zugehöriges Werk handelt. So ist
El Bogotazo
wohl
nicht zufällig von der kubanischen
Casa de las Américas
veröffentlicht worden,
die sich seit Miguel Barnets Durchbruch der Förderung des
testimonio
ver-
schrieben hat. Dass Alapes Sicht der Dinge dem "revolutionären Auftrag" Bar-
nets geradezu mustergültig entspricht, zeigt sich vor allem an der intensiven
Mitwirkung Fidel Castros. Nachdem sich der
máximo líder
im knapp 600 Seiten
120
Alape.
1983, S. 16.
121
Ebd.
284
284
Kapitel III
starken Hauptteil des Buches bereits mehrfach zu Wort melden durfte, äußert er
sich noch in einem 45-seitigen Interview im Anhang. Darin erklärt Castro aus-
führlich seine untergeordnete Rolle während des
bogotazo
und kommt zu dem
Schluss, dass es sich um eine spontane Reaktion des Volkes gehandelt habe, die
von niemandem geplant worden sei. Gaitán sei hingegen entweder von der CIA
oder aber – was er für wahrscheinlicher hält – von der Oligarchie ermordet wor-
den, die darum auch die
Violencia
zu verantworten habe.122 Dieser Sicht der
Dinge schließt sich gegen Ende des Interviews auch Alape an, indem er Castros
persönliche Erinnerung mit der des gesamten Kontinents gleichsetzt: "Sentí más
que nunca, cómo la memoria de Fidel es el gran río que inunda con sus aguas el
lomo de nuestro continente, y el 9 de Abril, es una fecha memorable para él y
para nosotros los colombianos."123
Während sich
El Bogotazo
ausschließlich auf die Ereignisse des 9. April 1948
bezieht, handelt Alape in
La paz
die kolumbianische Gewaltgeschichte vom Be-
ginn der
Violencia
bis zur Mitte der 80er Jahre ab. Wiederum kommen einige
der wichtigsten politischen Akteure, aber auch Aufständische und Intellektuelle
zu Wort. Damit gelingt Alape zwar eine beeindruckende Darstellung der
Violen-
cia
aus der Sicht der Eliten und Gegen-Eliten. Da er im Gegensatz zu
El Bogo-
tazo
diesmal jedoch auf Interviews mit den "einfachen Menschen" verzichtet,
entfernt er sich deutlich vom ursprünglichen Anliegen eines "libro totalizan-
te".124 Die Sicht "von unten" repräsentiert er hingegen selbst, indem er in zahl-
reichen Einschüben auf die angebliche Sichtweise des "Volkes" verweist:
Y en esta realidad ya cotidiana el pueblo que como siempre puso los muertos, sólo esperaba la
noticia de que la guerra de nuevo había comenzado. Preparaba su vida para vivar a su partido
y a su bandera y se aprestaba a la lucha para buscar por supuestos fines nobles, su propia
muerte.125
Diese Vorgehensweise ist insofern fragwürdig, als Alape bei seinen Schilde-
rungen des historischen Kontexts weitgehend auf die Angabe von Quellen und
Bezugspersonen verzichtet. Da er sich zusätzlich anmaßt, für das "Volk" zu
sprechen, hätte er als omnipräsenter Erzähler und Organisator der Interviews
zumindest auf einige Erzählungen von Angehörigen der marginalisierten Bevöl-
kerungsschichten zurückgreifen müssen. Im Vergleich zu
El Bogotazo
, in dem
122 Ebd., S. 676.
123
Ebd., S. 680.
124
Vgl. ebd., S. 15.
125
Alape.
1985, S. 23.
285
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
285
er sich um die Repräsentation der subalternen Stimmen zur Rettung des kollek-
tiven Gedächtnisses bemüht ("rescatando la voz de la memoria"126), ist
La paz
somit ein klarer Rückschritt. Seine Verurteilung der Eliten hat jedoch an Schärfe
gewonnen und zeichnet sich nunmehr durch unverhohlene Verachtung aus. So
bezeichnet er beispielsweise den konservativen Politiker José Antonio Montal-
vo, der im Kabinett der Regierung Ospina Pérez als Innenminister (
ministro de
Gobierno
) tätig war und das Schlagwort von der "política de sangre y fuego"
prägte, als "Faschisten". Die Folgen seiner Politik seien nicht einmal mit den
südamerikanischen Militärdiktaturen der 1970er und 80er Jahre vergleichbar:
Era una política planificada de terror contra las fuerzas democráticas para sacarlas del juego
político electoral, por medio de la violencia terrorista. Hay que tener en cuenta que con el
gobierno conservador habían penetrado profundamente las ideas fascistas, especialmente a
través del franquismo español y por lo tanto se aplicaba una política terrorista, increíble en su
ferocidad y en los genocidios que la caracterizaron. Hay que volver de todas maneras a esa
época histórica, porque el baño de sangre que sufrió el pueblo colombiano es una cosa terrible
que ni siquiera se puede comparar con lo que han hecho las distintas dictaduras fascistas del
Cono Sur en tiempos recientes.127
Obwohl Alape in
La paz
zahlreiche wichtige Dokumente wie Kongressreden,
Zeitungsartikel oder Memoiren einfließen lässt und teilweise sogar in Auszügen
wiedergibt, verhindern seine permanenten Einschübe, dass der Eindruck eines
"neutralen Organisators" entsteht, wie er es in der Einleitung als seine Aufgabe
formuliert hat: "Por último, el papel del escritor en este caso, podríamos definir-
lo como un organizador final del texto […]"128 Dennoch ist es ihm gelungen,
viele Behauptungen der offiziellen Geschichtsschreibung überzeugend zu wider-
legen und den "Diskurs des Vergessens" zu dekonstruieren, indem er die Komp-
lexität des Phänomens der
Violencia
verdeutlicht. Schließlich sei es die Strategie
des
Frente Nacional
gewesen, den Bürgerkrieg als politischen Kampf ohne tief-
ergehende Ursachen zu präsentieren:
El período 1947–1957, conocido genéricamente como la 'Violencia', no puede tomarse como
un breve interregno en el que se rompieron los marcos jurídicos del país y por causas desco-
nocidas, éste se precipitó a una guerra civil no declarada, a la que siguió el restablecimiento
de la paz, gracias al proceso de 'educación generacional' que propiciara el Frente Nacional,
126 Vgl.
Alape.
1983, S. 16 f.
127
Alape.
1985, S. 38.
128
Ebd., S. 15.
286
286
Kapitel III
acuerdo de olvido y perdón histórico, especie de amnistía dada por mutuo interés entre los dos
partidos. [...]
La visión simplista de que la sumatoria de los 'odios heredados' fue la responsable del desan-
gre, oculta la otra realidad, la que expresa históricamente que la violencia ha sido consustan-
cial a las costumbres políticas desde los orígenes mismos de la etapa republicana de nuestra
historia.129
Weiterhin folgert Alape, dass die unzulässige Reduktion auf politische Ursa-
chen einen dauerhaften Frieden unmöglich gemacht habe. Es sei der größte Feh-
ler der Eliten gewesen, einen sozialen Konflikt mit einem politischen Pakt been-
den zu wollen.130 Ebenso wie bei Alfredo Molano erweist sich jedoch auch bei
ihm der inhärente "Wahrheitsanspruch" als Problem. So hebt Alape im Vorwort
zu
La paz
hervor, dass die Aussagen von Zeitzeugen viel eher geeignet seien,
die "Wahrheit" aufzuzeigen als etwa die Erkenntnisse der Analysten.131
Das problematische Nebeneinander von Geschichte und
testimonio
tritt
schließlich in
Las vidas de Pedro Antonio Marín, Manuel Marulanda Vélez, Ti-
rofijo
, am deutlichsten zu Tage. Im ersten Teil der Lebensgeschichte von Ma-
nuela Marulanda, der sich vornehmlich mit der Zeit der
Violencia
beschäftigt, ist
keine klare Trennung zwischen
testimonio
, der Meinung des Autors und den Er-
kenntnissen der Historiografie mehr erkennbar. Das Buch zeichnet sich weiter-
hin durch zahlreiche intertextuelle Verweise auf die Vorgängerwerke aus. Dane-
ben zitiert Alape aus historischen Dokumenten, Zeitungsartikeln und sogar aus
den Büchern anderer Testimonial-Autoren, ohne jedoch seine Quellen offenzu-
legen. So findet sich beispielsweise die Beschreibung des "Chimbilá" aus Alfre-
do Molanos
Los años del tropel
als Teil der Erinnerungen von Manuela Maru-
landa wieder, wobei es sich um ein exakte Wiedergabe der entsprechenden
Textstellen handelt.132 In ebensolcher Weise erscheinen reale Persönlichkeiten
und Ereignisse neben mythologischen Erzählungen und Volkslegenden, wie et-
wa der folkloristischen Mär von der menschenfressenden "patasola" oder den
sagenhaften Heldengeschichten aus der Zeit des Tausend-Tage-Kriegs (1899–
1902). Insgesamt ist die Lebensgeschichte von Manuel Marulanda ein sehr
interessantes Werk, das die Grenzen des klassischen
testimonio
sprengt, sich der
129 Ebd., S. 19.
130
Vgl. ebd., S. 19 ff.
131
Vgl. ebd., S. 13 ff.
132
Vgl. ebd., S. 57 ff. u.
Molano.
1985, S. 197–247.
287
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
287
Kategorisierung nach literaturwissenschaftlichen Kriterien aber ebenso entzieht.
Die Schriftstellerin María Mercedes Carranza drückt es folgendermaßen aus:
Alape no novela los hechos históricos y los procesos sociales, sino que logra mantenerles su
identidad como tales, pero introduciéndoles en un ámbito literario, ajeno por lo general a la
simple redacción del hecho histórico. Y ahí está su acierto. Las vidas de Tirofijo se inscriben
dentro de este género, en difícil equilibrio entre literatura e historia, para mostrar el proceso
social y político de las últimas décadas y la vida de uno de sus protagonistas, hasta ahora ig-
norada, a pesar de ser uno de los más mencionados y discutidos.133
Die Relevanz für das Thema der Arbeit ergibt sich in erster Linie daraus, dass
Alape mit dem Text einen expliziten Beitrag zur "Bewahrung des kollektiven
Gedächtnisses" der Kolumbianer leisten will. Wie in all seinen Werken liegt
auch hier die Annahme zugrunde, dass es ein kollektives Gedächtnis und somit
eine Erinnerung an die
Violencia
gibt. Diese sei jedoch derart verstreut, wider-
sprüchlich und durch Repression "von oben" gefährdet, dass es die Aufgabe des
engagierten Schriftstellers sei, die Informationen der Zeitzeugen für die Nach-
welt zu bewahren und in eine einheitliche Form zu bringen. Nur so könne die
herrschaftslegitimierende Kraft der offiziellen Geschichte gebrochen werden.
Eine nüchterne Betrachtung der gegenwärtigen Situation zeigt indes, dass
Alapes auktorialer Traum, nämlich den widersprüchlichen
testimonios
narrative
Kohärenz zu verleihen und damit einen wirkungsmächtigen "Gegendiskurs" zu
konstruieren, auf ganzer Linie gescheitert ist. Im Kolumbien der Jetztzeit ist
nichts so diskreditiert und gefährlich wie eine sozialkritische oder gar "revolu-
tionäre" Deutung der Vergangenheit. Es gehört zu den großen Tragödien der
jüngeren Vergangenheit, dass viele der originellsten und kritischsten Ge-
schichtsinterpretationen automatisch mit dem destruktiven Wirken der linksge-
richteten Guerilla in Verbindung gebracht und somit verfolgt wurden.
Der historische Dualismus zwischen Liberalen und Konservativen ist längst
einem neuen Dualismus von "rechtschaffenen Bürgern" und "unpatriotischen
Narco-Terroristen" gewichen. Für die politischen Eliten und die von den Medien
beeinflussten urbanen Massen spielt es keine Rolle, dass auch von "links" wert-
volle Anregungen und Ideen kommen können. So ist es friedlichen linksgerich-
teten Gruppierungen oder den Gewerkschaften im Laufe des jahrzehntelangen
Kampfes zwischen Aufständischen und Regierung immer schwerer gefallen,
sich als gewaltfreie Akteure zu positionieren. Selbst legitime Versuche der Auf-
ständischen, Zugang zum politischen Prozess zu erhalten, beantwortete der Staat
133
Alape.
1989 (Einband).
288
288
Kapitel III
im Verbund mit rechten Todesschwadronen durch repressive Maßnahmen; im
Falle der linkgerichteten Partei UP (
Unión Patriótica
, den FARC nahe stehend)
endete dieser Integrationsversuch sogar mit einem regelrechten Massenmord.134
Erst in jüngster Zeit konnte sich mit dem gemäßigten PDA (
Polo Democrático
Alternativo
) eine linke Partei etablieren, in der die an einer Verhandlungslösung
interessierte ELN-Guerilla möglicherweise eines Tages aufgehen könnte. Dies
haben sowohl der PDA als auch die Aufständischen jedenfalls als realistische
Option angedeutet.135
Bis zu einem endgültigen Friedensschluss werden Arturo Alape und seine Li-
teratur als mahnendes Beispiel für die Folgen des tödlichen Dualismus dienen.
Anstatt nämlich pauschal jedwede Kritik an Staat und Eliten als "linksradikalen"
Diskurs von "Terroristen" abzutun, wäre eine kritische und öffentliche Diskussi-
on über die Ursprünge der Gewalt angezeigt. Dazu gehört es auch, die Sichtwei-
se der Aufständischen wahrzunehmen und gegebenenfalls über institutionelle
Kanäle der Öffentlichkeit bekanntzumachen. Solange die literarische Tradition
Kolumbiens, zu der auch einige
Violencia
-Romane gehören, für den Großteil der
Eliten nicht viel mehr als eine zusammenhanglose Zitatensammlung für Sonn-
tagsreden darstellt, stehen die Chancen dafür jedoch schlecht. In dem Maße, wie
die von Molano und Alape für die Nachwelt festgehaltenen "Stimmen der
Stimmlosen" keine Beachtung von Seiten der politischen Entscheidungsträger
finden, ist auch die Stabilität eines zukünftigen Friedensprozesses fragwürdig.
Wichtige Bausteine zur Konstruktion einer reflektierten und in weiten Teilen der
Gesellschaft verankerten Erinnerungskultur existieren jedoch bereits jetzt, und
zwar nicht wenige.
3.
D
IE
V
IOLENCIA
IM
T
HEATER
Wie im vorangegangenen Abschnitt gezeigt, haben manche
Violencia
-Romane
vor allem über die Schule ein relativ breites Publikum erreicht. Außerhalb der
institutionellen Sphäre finden literarische Texte hingegen nur wenige Leser, ob-
134
Zur Ermordung der UP-Mitglieder siehe
Cepeda Castro, Iván/Claudia Girón Ortiz.
2005b. La segregación de las víctimas de la violencia política. In: Rettberg, Angelika (Hg.).
Entre el perdón y el paredón: preguntas y dilemas de la justicia transicional
. Bogotá: Univ.
de los Andes, S. 259–282.
135
Vgl.
El Tiempo
vom 21. April 2006 u.
Schuster, Sven.
2007. Uribe vor dem Aus? In:
Lateinamerika Nachrichten
, Nr. 402 (Dezember, Berlin), S. 18 ff.
289
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
289
wohl nationale Autoren wie Gabriel García Márquez oder Álvaro Mutis welt-
weit geschätzt werden. Studien zum Bücherkonsum und zum Leseverhalten der
Kolumbianer lassen vielmehr den Schluss zu, dass das Interesse an Literatur
nach einem kurzen Aufschwung in den 60er und 70er Jahren in den nachfolgen-
den Dekaden kontinuierlich abgenommen hat.136
Angesichts der mangelnden Begeisterung für Literatur mag es aus europä-
ischer Perspektive befremdlich wirken, dass sich ausgerechnet das Theater größ-
ter Beliebtheit erfreut. In gewisser Hinsicht ist Kolumbien sogar
das
"Theater-
Land" Lateinamerikas.137 Der große Publikumserfolg diverser Theatergruppen
manifestiert sich insbesondere während des im Zweijahresrhythmus stattfinden-
den
Festival Iberoamericano de Teatro de Bogotá
, dem weltweit größten Thea-
tertreffen. Im Gegensatz zu Europa, wo das Theater gemeinhin als bildungsbür-
gerliche Institution betrachtet wird, konnte es sich in Kolumbien als populäres
Medium etablieren. Obwohl das Theaterfestival von Bogotá zahlreiche interna-
tionale Gruppen anzieht, sind die kolumbianischen Schauspieltruppen weiterhin
stark vertreten. Neben einer Reihe kommerziell orientierter Darbietungen aus
dem internationalen Repertoire der "Klassiker", wobei insbesondere das
Teatro
Nacional
unter der Leitung der Argentinierin Fanny Mikey hervorsticht, sind
auch spezifisch kolumbianische Themen gefragt. Diese Nachfrage wird von ei-
ner Reihe unabhängiger Theatergruppen bedient, die teilweise bereits seit den
50er und 60er Jahren existieren. Trotz finanzieller und personeller Schwierigkei-
ten ist es Gruppen wie dem
Teatro Experimental de Cali
(TEC),
La Candelaria
,
dem
Teatro Popular de Bogotá
, dem
Teatro Libre
oder der relativ jungen For-
mation
Mapa Teatro
gelungen, mit Erfolg die Nische zwischen kommerziellem
Theater, Musical und Folklore zu besetzen.138
Dass ich mich im Folgenden auf das TEC (Cali) und die Gruppe
La Candela-
ria
(Bogotá) konzentriere, hat wesentlich mit der erinnerungskulturellen Funkti-
on zweier ihrer Stücke zu tun:
Los papeles del infierno
(1968) und
Guadalupe
136 Hierzu
Arnove.
1980, S. 381 ff. u.
Ministerio de Cultura.
2006.
137
Zur Entwicklung des modernen kolumbianischen Theaters siehe überblicksartig
Adler,
Heidrun.
1982.
Politisches Theater in Lateinamerika. Von der Mythologie über die Mission
zur kollektiven Identität
. Berlin: Dietrich Reimer, S. 138–159 u.
Röttger, Kati.
1997. Das
kolumbianische Theater. In: Altmann, Werner/Thomas Fischer/Klaus Zimmermann (Hgg.).
Kolumbien heute
. Frankfurt a. M.: Vervuert, S. 487–510.
138
Einen kurzen Überblick über aktuelle Tendenzen und neue Gruppen bietet
Reyes, Car-
los José.
2003.
El teatro en Colombia
. In: http://www.jornada.unam.mx/2003/10/19/sem-
reyes.html (18. Februar 2008).
290
290
Kapitel III
años sin cuenta
(1975). In beiden Fällen handelt es sich um kritische Interpreta-
tionen der
Violencia
, die sich zudem als außerordentlich breitenwirksam erwie-
sen haben. Obwohl keine Besucherzahlen vorliegen, kann aus der langen Spiel-
dauer geschlossen werden, dass die Inszenierungen zu den erfolgreichsten Dar-
bietungen beider Schauspieltruppen zählen und darüber hinaus zu den bekann-
testen Theaterstücken in Kolumbien gehören. So stand etwa
Guadalupe
für
mehr als 13 Jahre auf dem Spielplan der Gruppe
La Candelaria
, erreichte die
Rekordmarke von über 1500 Aufführungen und wurde mehrfach im Ausland
aufgeführt. Ebenso konnte das in Cali ansässige TEC mit
Los papeles
große Er-
folge feiern, wobei das Werk in mehrere Sprachen übersetzt sowie von ver-
schiedenen Gruppen im In- und Ausland adaptiert wurde.139
Neben der anzunehmenden Breitenwirkung kennzeichnen jedoch noch weite-
re Faktoren die Stücke als Medien der kulturellen Erinnerung. Gleich den litera-
rischen Texten weisen nämlich auch Theaterinszenierungen bestimmte Basis-
merkmale auf, an denen sich ihre erinnerungskulturelle Funktion ablesen lässt.
Wiederum Astrid Erll folgend gilt es zunächst festzustellen, auf welche Weise
das Mittel der Verdichtung eingesetzt wird. Die Notwendigkeit, komplexe ver-
gangene Ereignisse in der Erinnerung auf bestimmte Topoi, Bilder oder Persön-
lichkeiten zu projizieren und zu reduzieren ist bei einer Theateraufführung sogar
noch wichtiger als bei der Gestaltung eines Romans.140 Insbesondere audiovi-
suelle Elemente wie Bühnenbild oder Musik verdienen daher in den folgenden
Abschnitten Beachtung. Im Gegensatz zum kommerziellen Theater zeichnen
sich sowohl das TEC als auch
La Candelaria
weiterhin durch ihren unabhängi-
gen und politischen Charakter aus. Während die großen Schauspielhäuser da-
nach trachten, international renommierte Theaterregisseure zu engagieren oder
Stücke aus dem Kanon des Welttheaters auf den Spielplan zu setzen, behandeln
diese alternativen Gruppen vorrangig nationale Themen.
Dabei bedienen sie sich der besonderen Technik der
creación colectiva
, die in
Kolumbien im Wesentlichen von Enrique Buenaventura (1925–2003, TEC) und
Santiago García (geb. 1928,
La Candelaria
) verbreitet wurde. Diese Methode
besteht im Wesentlichen darin, die Arbeit an einem Theaterstück als kollektiven
Prozess zu begreifen, an dem sich sowohl die Schauspieler als auch das Publi-
139
Zu Erfolgen und Misserfolgen beider Gruppen siehe
Röttger, Kati.
1992.
Kollektives
Theater als Spiegel lateinamerikanischer Identität. La Candelaria und das neue kolumbiani-
sche Theater
. Frankfurt a. M.: Vervuert, S. 48 u. 119 sowie
El Tiempo
vom 14. Juni 2006.
Darin findet sich ein ausführlicher Artikel zum 40. Geburtstag der Gruppe
La Candelaria
.
140
Vgl.
Erll.
2005, S. 144 ff.
291
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
291
kum beteiligen.141 Im Gegensatz zum klassischen Theater kommt den Direkto-
ren im Kollektivtheater eine untergeordnete Rolle zu, da sie lediglich die Funk-
tion einer Vermittlungsinstanz übernehmen. Enrique Buenaventura übte zwar
bis zu seinem Tod großen Einfluss auf die gesamte Arbeit des TEC aus, bei der
Durchsetzung seiner Text- und Gestaltungsvorschläge hielt er sich jedoch eher
zurück. Ebenso versuchte Santiago García sämtliche Änderungswünsche aus
dem Kreis der Schauspieler und des Publikums zu diskutieren und gegebenen-
falls zu integrieren. Im Verlaufe des Schaffensprozesses sollte das jeweilige
Stück so allmählich den Vorstellungen der Zuschauer angepasst werden, die
durch ihre Beteiligung an der kreativen Arbeit gleichzeitig zur politischen Orga-
nisation ermuntert wurden. Die im Folgenden behandelten Stücke
Los papeles
und
Guadalupe
sind daher nicht zuletzt das Ergebnis einer langjährigen Interak-
tion mit dem Publikum, welches sich zum größten Teil aus Arbeitern, Studenten
und Angehörigen der städtischen Mittelschicht zusammensetzte.142
Wie beide Theatermacher mehrfach betonten, sollte gerade diesen gesell-
schaftlichen Gruppen die ganze Aufmerksamkeit gelten, da nur von ihnen wirk-
liche soziale und politische Veränderungen zu erwarten waren.143 In diesem
Sinne waren sowohl das TEC als auch
La Candelaria
als Gruppen konzipiert,
die neben ästhetischen vor allem politische Ziele verfolgten. Pate für dieses Mo-
dell stand eindeutig das epische Theater von Bertolt Brecht, dessen Prämissen
seit den 50er Jahren eine große Rolle für die Entwicklung des kolumbianischen
Theaters spielten.144 Insbesondere Enrique Buenaventura trug mit einer Vielzahl
theoretischer Schriften zur Verbreitung von Brechts Ideen in Kolumbien bei. In
der Technik der "Verfremdung" sah er folgerichtig ein probates Mittel, die so-
ziale Realität offenzulegen, die Zuschauer zu politisieren oder sie wenigstens
zum Nachdenken anzuregen. Im Gegensatz zum traditionellen bürgerlichen
Theater hatten es sich die Mitglieder von TEC und
La Candelaria
auf die Fah-
nen geschrieben, ihr Spiel absichtlich vom herkömmlichen Realismus abzuset-
zen, um es auf diese Weise als Schauspiel erkennbar zu machen. Davon verspra-
chen sich die Vordenker des so genannten
Nuevo Teatro Colombiano
, das Pub-
likum zur Reflexion über Politik und Geschichte anzuregen, anstatt es nur zu
141
Zur Methode der
creación colectiva
siehe ausführlich
Jaramillo, María Mercedes.
1992.
Nuevo Teatro colombiano: arte y política
. Medellín: Univ. de Antioquia, S. 92–168.
142
Vgl.
Adler.
1982, S. 141 f. u.
Ariza Hernández, Nohora Patricia.
1994.
Recepción y
público en las artes escénicas colombianas
. Bogotá: Colcultura, S. 100 ff.
143
Vgl.
Jaramillo.
1992, S. 101 f. u. 179–185.
144
Siehe ebd., S. 85 ff. u. 186 ff.
292
292
Kapitel III
unterhalten. Einer marxistischen Grundhaltung verpflichtet, war Buenaventura
der Ansicht, dass zwar der Mensch als handelndes Subjekt den Lauf der Ge-
schichte verändern konnte. Gleichzeitig sollte aber dessen Abhängigkeit von den
ökonomischen und sozialen Verhältnissen den Hintergrund eines jeden Stückes
bilden.145
Nichtsdestotrotz verstanden sich weder das TEC noch
La Candelaria
als rei-
nes "Agitationstheater". Obwohl politische Forderungen während der 60er und
70er Jahre eine wichtige Rolle spielten und ein erzieherischer Impetus in man-
chem Stück dominierte, sprachen sich beide Gruppen vehement gegen eine zu
starke Politisierung des Theaters aus. Sie sahen ihre wichtigste Aufgabe viel-
mehr darin, der kollektiven Identität der Volksmassen ein Gesicht zu geben bzw.
eine Stimme zu verleihen. Um dieses Ziel zu erreichen, wollten sie der Lebens-
wirklichkeit der Bevölkerungsmehrheit das verzerrte Kolumbien-Bild der Eliten
entgegenstellen, welches sie von Fortschrittsgläubigkeit und dem Streben nach
oberflächlicher politischer Stabilität geprägt sahen.146 Insgesamt betrachtet war
dieses Postulat lange Zeit jedoch nicht viel mehr als bloßes Wunschdenken. So
kamen in den 60er und 70er Jahren unzählige Stücke zur Aufführung, die primär
politische Ziele verfolgten, allerdings in inhaltlicher und ästhetischer Hinsicht
sehr zu wünschen übrig ließen. Neben dem TEC und
La Candelaria
taten sich
dabei auch andere alternative Gruppen hervor, die in ihrer politischen Haltung
oftmals deutlich radikaler waren.147
Die recht dogmatische Position vieler Theatermacher führte langfristig dazu,
dass nur wenige Stücke das dualistische Schema vom Kampf der Unterdrückten
gegen die Unterdrücker aufbrachen. Stattdessen war in zahlreichen Werken zu
sehen, wie die gewissermaßen von Natur aus "guten und unverdorbenen"
in-
dígenas
, die "ehrlichen" Campesinos oder die städtische "revolutionäre" Arbei-
terklasse sich gegen Imperialisten, Kapitalisten und Großgrundbesitzer erfolg-
reich zur Wehr setzten. Die Figuren waren dabei meist schablonenhaft gestaltet
und der Ausgang der Stücke äußerst kalkulierbar. Obwohl auch
Los papeles
und
Guadalupe
nicht mit klassenkämpferischer Rhetorik sparen, gehören sie doch zu
den differenzierteren Werken des
Nuevo Teatro Colombiano
. Wahrscheinlich ist
es ihrem relativ hohen künstlerischen Niveau zu verdanken, dass sie im Unter-
145
Zu Buenaventuras theoretischen Ansichten und dem Einfluss Brechts siehe ebd., S.
179–188.
146
Vgl.
Röttger.
1992, S. 16.
147
Weitere Gruppen beschreibt
Reyes.
2003.
293
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
293
schied zu den meisten anderen Stücken der 60er und 70er Jahre den allgemeinen
Niedergang der sozialistischen Ideologien überdauert haben.
Angesichts des Festhaltens an marxistischen Theorien und dem Brechtschen
Ideal ist das kollektive Theater in den letzten Jahren zunehmend in die Kritik
geraten. Insbesondere jüngere Autoren und Theatermacher bemängeln, dass die
herausragende, geradezu dominante Position von Enrique Buenaventura und
Santiago García im völligen Widerspruch zum Grundgedanken der
creación co-
lectiva
stehe. Weiterhin beklagen sie das sture Festhalten an Brechts Konzepten,
was letztlich einem ästhetisch armseligen, politisch naiven und schauspielerisch
unterforderten Theater Vorschub geleistet habe.148
Wie berechtigt diese Kritiken auch sein mögen, sie spielen im Hinblick auf
die Analyse der erinnerungskulturellen Funktion des Theaters nur eine unter-
geordnete Rolle. Ähnlich wie im Falle der Literatur sind neben der Rezeption
durch das Publikum vor allem die narrativen Prozesse bei der Rekonstruktion
der Vergangenheit entscheidend. Dabei ist weniger zu fragen, welche dramatur-
gischen und schauspielerischen Mittel genutzt werden, als vielmehr, nach wel-
chen Kriterien das zu Grunde liegende historische Material selektiert und kom-
biniert wird. Schablonenhafte Dualismen oder Zuspitzungen eignen sich in die-
sem Zusammenhang besonders gut, um historische Ereignisse in Medien des
kollektiven Gedächtnisses zu verwandeln. Ebenso wie im Bereich der Literatur
ist auch beim Theater eine Analyse der Erzählstruktur hilfreich, da diese den
Sinn des Erinnerten in eine bestimmte Richtung lenkt. Der große Unterschied
zwischen dem kollektiven Theater und dem
Violencia
-Roman liegt jedoch in der
Tatsache begründet, dass sowohl das TEC als auch
La Candelaria
ganz bewusst
eine erinnerungskulturelle Debatte anstoßen wollten, während die meisten Ro-
mane der 50er und 60er Jahre dieses Ziel nur indirekt verfolgten. Die Vorgabe,
einen Beitrag zum "historischen Gedächtnis" zu leisten ist zudem ein wichtiger
Bestandteil der
creación colectiva
.149
Enrique Buenaventura zufolge ist es eine der Hauptaufgaben des kollektiven
Theaters, der offiziellen Historiografie eine alternative Geschichtsversion entge-
genzustellen. Wie er selbst sagt, sei es im Interesse aller Bevölkerungsschichten,
die eigene Geschichte zu kennen: "Me he propuesto que la historia de Colombia
y de la América Latina en general sean ampliamente discutidas y ampliamente
148
Diese Kritik formuliert z. B.
Vásquez, Samuel.
1999. El teatro pasa, la crítica queda.
In: Zea, Gloria/Álvaro Medina (Hgg.).
Arte y violencia en Colombia desde 1948
. Bogotá:
Norma, S. 257 ff.
149
Vgl.
Röttger.
1992, S. 119 f.
294
294
Kapitel III
conocidas. Porque un país no puede pensar en el futuro si no conoce y no discute
su pasado."150 Dabei verwenden sowohl Buenaventura als auch García den Be-
griff des "Populären" stets in Abgrenzung zur ebenso unscharf definierten "Kul-
tur der Eliten", die sie als inhaltslos und herrschaftslegitimierend empfinden.
Dahinter steht die Auffassung, das moderne Theater Lateinamerikas solle die
Realität nicht länger nur abbilden, sondern auf deren Veränderung hinarbei-
ten.151 Besonders die Prämissen des brasilianischen Theatertheoretikers Augusto
Boal – Schöpfer des so genannten "Theaters der Unterdrückten" – übten in die-
sem Zusammenhang großen Einfluss auf die Anhänger des
Nuevo Teatro Co-
lombiano
aus. Boal zufolge äußert sich der "populäre" Charakter des neuen poli-
tischen Theaters folgendermaßen:
Un espectáculo es 'popular' en cuanto asume la perspectiva del pueblo en el análisis del mi-
crocosmos social que en él aparece – las relaciones sociales de los personajes, etc. Aunque se
trate de un ensayo ante un solo espectador, aunque se trate de un ensayo en una sala vacía, y
aunque su destinatario no sea el pueblo. La presencia del pueblo no determina necesariamente
el carácter popular del espectáculo; muchas veces el pueblo está presente como víctima del
hecho teatral.152
Obwohl sich Enrique Buenaventura weigerte, das Theater primär als Werk-
zeug des Politischen zu betrachten, verstand er sein Schaffen durchaus als "poli-
tisch". Er lehnte allerdings diejenigen Formen des lateinamerikanischen
teatro
popular
ab, in denen beispielsweise das Publikum in die Bühnenhandlung mit-
einbezogen wurde. Einige von Augusto Boals Ideen gingen ihm aus diesem
Grund zu weit und er beschränkte sich darauf, die Zuschauer am Schaffenspro-
zess zu beteiligen. Zwar ging es ihm und García darum, dass "Populäre" auf die
Bühne zu holen. Jedoch bestanden beide zugleich auf dem absolut professionel-
len Charakter ihrer Gruppen.153
Um jedoch die "Kultur des Volkes" möglichst adäquat zu erfassen und deren
"revolutionäres" Potential voll auszuschöpfen, mussten umfassende und genaue
Studien betrieben werden. Bis heute setzen sich die Mitglieder einer kollektiven
Theatergruppe daher zur Vorbereitung ihrer Stücke zusammen, um über mögli-
che Themen zu diskutieren. Auf das besondere Interesse der Schauspieler sowie
des Publikums stießen dabei oftmals historische Stoffe. So behandelte
La Can-
150 Zitiert nach
Jaramillo.
1992, S. 180.
151
Vgl. ebd., S. 97 f.
152
Boal, Augusto.
1978.
Técnicas latinoamericanas de teatro popular: una relación co-
pernicana al revés
. Buenos Aires: Corregidor Saici y E., S. 33 f.
153
Vgl.
Jaramillo.
1992, S. 97 f. u.
Röttger.
1992, S. 66 f.
295
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
295
delaria
in dem Stück
Soldados
(1966) das Massaker an den Bananenarbeitern
von Ciénaga im Jahre 1928, in
Nosotros los comunes
(1972) den Aufstand der
comuneros
im Jahre 1780, in
La ciudad dorada
(1973) die Epoche der
Violencia
am Beispiel der massiv anwachsenden urbanen Elendsviertel und in
Los diez
días que estremecieron el mundo
(1976) die Ereignisse der Oktoberrevolution in
Russland. Das TEC hingegen schuf mit
La tragedia del rey Christophe
(1963)
ein Stück über die Probleme der Unabhängigkeit Haitis und mit
Un réquiem por
el padre Las Casas
(1963) ein Werk über Bartolomé de Las Casas, den berühm-
ten Advokaten der
indígenas
in der Kolonialzeit. Später griff Buenaventuras
Truppe das Thema des Massakers von Ciénaga mit dem Stück
La denuncia
(1973) erneut auf.
Sofern, wie im Falle von
Los papeles
und
Guadalupe
, eine Idee als künstle-
risch und gesellschaftlich relevant erkannt wurde, zogen die Gruppenmitglieder
sämtliche verfügbare wissenschaftliche Literatur heran. Um dem "populären"
Charakter des Kollektivtheaters jedoch voll Rechnung zu tragen, war es mit dem
Studium soziologischer und historischer Texte alleine nicht getan. In einem
zweiten Schritt suchten die Schauspieler daher den Kontakt mit den darzustel-
lenden Bevölkerungsgruppen, selbst wenn diese in weit abgelegenen Regionen
unter prekären Bedingungen lebten. Um beispielsweise zur Vorbereitung auf
Guadalupe
die Lebenswirklichkeit der Campesinos aus erster Hand zu erfahren,
verbrachten die Mitglieder von
La Candelaria
mehrere Monate auf dem Land,
wo sie den Menschen Geschichten und Anekdoten entlockten. Zwar stand da-
hinter kein methodisches Verfahren im Sinne der akademischen
Oral History
.
Dennoch kann der Ansatz von TEC und
La Candelaria
durchaus als innovativ
und im Hinblick auf das Ergebnis als außerordentlich produktiv gelten. Wie so-
wohl Enrique Buenaventura als auch Santiago García mehrfach äußerten, war es
das ausdrückliche Ziel dieser Maßnahmen, das kollektive Gedächtnis über-
schaubarer sozialer Gruppen zu rekonstruieren und das Ergebnis anschließend
szenisch darzustellen.154 Stücke wie
Los papeles
und
Guadalupe
sind in diesem
Sinne ganz bewusst als Stellungnahme gegen die "Politik des Vergessens" kon-
zipiert worden. Dank ihrer Breitenwirkung, ihrer Erzählstruktur und ihrer klaren
normativen Aussage können sie im Folgenden unter erinnerungskulturellen Ge-
sichtspunkten analysiert werden.
154
Vgl.
Jaramillo.
1992, S. 97.
296
296
Kapitel III
3.1
Los papeles del infierno
von Enrique Buenaventura
Die Geschichte des TEC reicht bis in die Mitte der 50er Jahre zurück, als Gene-
ral Gustavo Rojas Pinilla die
Violencia
mit militärischen Maßnahmen einzu-
dämmen gedachte.155 Bereits ein Jahr nach dem Militärputsch gründete Enrique
Buenaventura im Jahre 1955 das so genannte
Teatro Escuela de Cali
, welches
bald zum Zentrum des neuen politischen Theaters im Departement Valle del
Cauca avancieren sollte. Von Beginn an schwebte Buenaventura der Aufbau ei-
ner landesweiten Theaterbewegung vor, die sich im Gegensatz zum dominieren-
den Avantgardismus bogotanischer Provenienz primär politischen, sozialen und
nationalen Themen verschreiben sollte. Zunächst mussten jedoch professionelle
Schauspieler und Theatermacher ausgebildet werden, was in der ursprünglichen
Bezeichnung
Teatro Escuela
anklingt. Weiterhin sah es Buenaventura als uner-
lässlich an, eine breite Zuschauerschaft anzusprechen, die mit der Zeit zu einem
Stammpublikum werden sollte. Schließlich, und dies war die wichtigste Neue-
rung, sollte das TEC "populäre" Elemente wie Lieder, Legenden und Mythen in
seine Werke integrieren.
Auffällig ist außerdem, dass Buenaventura mit seiner Übertragung des epi-
schen Theaters dem übrigen Schauspielbetrieb in Kolumbien um fast zehn Jahre
voraus war. So ergriffen die meisten anderen Theatermacher erst ab Mitte der
60er Jahre die Gelegenheit, öffentlich das "System" zu kritisieren und politi-
sches Theater im weitesten Sinne zu machen. Wie Kati Röttger in diesem Zu-
sammenhang anmerkt, kann die Entwicklung des politischen Theaters in Ko-
lumbien nicht losgelöst von den Widerstandsbewegungen betrachtet werden, die
sich im Gefolge der
Violencia
ab Mitte der 60er Jahre herausbildeten.156
Der wesentlich von der kubanischen Revolution beeinflussten Politisierung
des Theaters vorgreifend, gab Buenaventura seinem Schaffen von Anfang an
eine herrschaftskritische Ausrichtung. Aufgrund dessen ist es kaum verwunder-
lich, dass er bald mit der Militärregierung in Konflikt geriet und seinen Posten
als Direktor des staatlich subventionierten
Teatro Escuela de Cali
verlor. Einige
Jahre später gründete er daraufhin mit seinen Mitarbeitern das unabhängige
Teatro Experimental de Cali
(1961). Unter den etwas liberaleren Bedingungen
des
Frente Nacional
konnte sich das TEC schließlich auch auf nationaler Ebene
durchsetzen, obwohl die Gruppe zeitweise mit finanziellen Engpässen zu kämp-
155 Zur Geschichte des TEC siehe
Adler.
1982, S. 147–159.
156
Vgl.
Röttger.
1992, S. 49 f.
297
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
297
fen hatte. So entzog etwa das dem Erziehungsministerium untergeordnete Kul-
turinstitut unliebsamen Gruppen wie dem TEC zeitweise jedwede Unterstüt-
zung, wenngleich es nie zu einer offiziellen Zensur kam.157
Seinen ersten großen Publikumserfolg hatte das TEC mit dem bis heute ge-
spielten Stück
A la diestra de Dios Padre
(1958), welches auf einer alten Volks-
legende mit christlichen Elementen basiert. Das mit folkloristischen Einlagen
durchsetzte Werk gewann zahlreiche Preise und wurde unter anderem auf dem
internationalen Theaterfestival von Nancy in Frankreich aufgeführt. Nichtsdes-
totrotz bestritt die Truppe einen Großteil ihrer Inszenierungen noch immer mit
"Klassikern" von Shakespeare oder Lope de Vega. Erst zu Beginn der 60er Jahre
fanden sich zunehmend nationale und lateinamerikanische Stücke auf dem
Spielplan des TEC, von denen nicht wenige direkt aus der Feder Buenaventuras
stammten. Bei einer Gelegenheit inszenierte auch der befreundete Santiago
García ein Stück als Gastregisseur in Cali. Sein Werk
La Trampa
(1967) über
die Gewaltherrschaft des guatemaltekischen Diktators Jorge Ubico (1931–1944)
richtete sich jedoch derart offen gegen das Machtmonopol der traditionellen Eli-
ten im Allgemeinen, dass der Sekretär des kolumbianischen Erziehungsministers
die Aufführung kurzerhand verbot. Obwohl diese Maßnahme wenig später wie-
der aufgehoben wurde, hatte das TEC die Möglichkeit finanzieller Unterstüt-
zung durch den Staat dauerhaft verspielt.158
Trotz diverser Schwierigkeiten mit der Obrigkeit entstanden in jener Zeit ei-
nige der bis heute bekanntesten Theaterstücke des TEC, die Enrique Buenaven-
turas Ruf als ungemein produktiver und talentierter Theaterautor begründeten.
Neben
A la diestra de Dios Padre
waren dies
La tragedia del rey Christophe
(1963),
Réquiem por el padre Las Casas
(1963) und schließlich
Los papeles del
infierno
(1968), das aus einer Reihe von Einaktern besteht und sich strukturell
an Brechts
Furcht und Elend des Dritten Reiches
(1938) orientiert. Obwohl das
TEC auch in den 80er und 90er Jahren eine Reihe eigener Stücke aufführte,
konnte die Gruppe nie wieder an ihre großen Erfolge der 60er und 70er Jahre
anknüpfen. Zusätzlich nahmen die finanziellen Schwierigkeiten seit den 90er
Jahren immer mehr zu, so dass zahlreiche Schauspieler die Gruppe verließen.159
Dennoch versuchten die verbliebenen Mitglieder auch nach dem Tode Enrique
157 Vgl. ebd., S. 56 ff.
158
Vgl. ebd.
159
Zur Krise des TEC siehe
Aguirre Alzate, Alejandro.
2003.
El Teatro Experimental de
Cali (TEC) apenas sobrevive
. In: http://www.teatroenmiami.net/2003/marzo/4/co-teatro-
experimental.htm (18. Februar 2008).
298
298
Kapitel III
Buenaventuras im Dezember 2003, die bisherige Linie konsequent fortzusetzen.
So befassen sich auch die aktuellsten Stücke mit gesellschaftlich relevanten
Themen, wie etwa
La huella
(2003) über die alltägliche Gewalt in den Großstäd-
ten oder
Los dientes de la guerra
(2005) über den "Krieg der Tausend Tage".
Einen direkten Bezug zur Epoche der
Violencia
stellt jedoch nur das Stück
Las
papeles
her.
Bei den fünf kurzen Einaktern, die zusammen die
Papiere der Hölle
160
(so die
deutsche Übersetzung) bilden, handelt es sich um eindringliche und verfremdete
Ausschnitte einer von Gewalt und Entmenschlichung geprägten Realität. Das
erste Stück trägt den Titel
La maestra
. Es geht um ein abgelegenes Dorf, das
von Soldaten überfallen wird, die es von politischen Gegnern "säubern" wollen.
Dabei wird die Lehrerin des Dorfes von den Soldaten vergewaltigt, ihr Vater,
der Bürgermeister, ermordet. Aufgrund des erlittenen Traumas beschließt die
Lehrerin, die Nahrungsaufnahme zu verweigern und schließlich zu sterben. Bei
ihrer eigenen Beerdigung – aus dem Totenreich sprechend – erzählt sie die Ge-
schichte des Dorfes in Rückblenden. Der zweite Akt mit dem Titel
La tortura
weist ebenfalls auf ein besonders düsteres Kapitel der 50er Jahre hin: die Miss-
handlung und Verfolgung politischer Gegner durch das Militär. Anstatt jedoch
grausame Details zu schildern, konzentriert sich Buenaventura auf die sozialen
Auswirkungen der entmenschlichenden Praxis. Unter dem extremen Druck sei-
ner "Arbeit" verliert ein Folterknecht zunehmend die Kontrolle über sich selbst
und ist schließlich nicht mehr in der Lage, Beruf und Privatleben voneinander zu
trennen. In einem Eifersuchtsanfall foltert er am Ende seine eigene Frau zu To-
de. Das Thema der staatlichen Repression bleibt auch im dritten Teil mit dem
Titel
La autopsia
dominierend. Darin soll ein Arzt die Todesursache seines ei-
genen Sohnes mittels einer Obduktion ermitteln. Als Günstling der Regierung
fürchtet er, seine privilegierte Position als Gerichtsmediziner zu verlieren, sollte
er nicht im Ergebnis festhalten, dass das Opfer "im Kampf" gefallen sei. Dabei
ist offensichtlich, dass der Sohn in einem Militärgefängnis mit der Maschinen-
pistole erschossen wurde, weil er einer Widerstandgruppe angehörte. Auch der
vierte Akt mit dem Titel
La audiencia
beschäftigt sich wiederum mit staatlicher
Willkür, militärischem Machtmissbrauch und Folter. Zu sehen sind sieben ge-
sichtslose Figuren, welche die zivile und die militärische Gerichtsbarkeit ver-
körpern. Sie versuchen durch Schläge, Einschüchterungen und falsche Verspre-
160
Siehe
Buenaventura, Enrique.
1983.
Die Papiere der Hölle
. Berlin: Henschel. Im
Folgenden stütze ich mich jedoch auf ders. 1977.
Teatro
. Bogotá: Instituto Colombiano de
Cultura.
299
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
299
chungen einen Bauernführer zur Unterzeichnung eines Geständnisses zu zwin-
gen, das dessen Verurteilung als gewöhnlicher Krimineller erlauben würde.
Während die Richter über diverse Möglichkeiten diskutieren, den Angeklagten
mundtot zu machen oder ihn im äußersten Falle zu exekutieren, hält dieser
schweigend der Folter stand.
Während die eben dargestellten Akte relativ eindeutige Verweise auf einige
der dunkelsten Kapitel des Bürgerkrieges enthalten, ist der fünfte Teil mit dem
Titel
La requisa
eher als allgemeine Stellungnahme zu den gesellschaftlichen
Konsequenzen der Gewalt zu sehen. In diesem letzten Abschnitt der
papeles
werden die ökonomischen, sozialen und politischen Probleme innerhalb einer
Familie vorgetragen. Während der Vater als Tagelöhner für den Lebensunterhalt
der Familie aufkommen muss, entflieht die Mutter der Realität durch Gebete
und seichte
radionovelas
. Die ältere Tochter hingegen ist mit einem Fabrikarbei-
ter verheiratet, der in seiner Firma die gewerkschaftlich organisierten Angestell-
ten denunziert und außerdem eine heimliche Geliebte hat. Die zentrale und na-
menlose Figur, ein Eisenbahnarbeiter, ist mit der jüngeren Tochter verheiratet.
Während "er" der Familie vormacht, an der Universität zu studieren, gilt sein
Interesse in Wirklichkeit der gewerkschaftlichen Organisation. "Sie", die keiner-
lei politische Ambitionen hat und auch sonst dem traditionellen und vom
ma-
chismo
geprägten Frauenbild entspricht, weiß nichts von den Aktivitäten ihres
Mannes.
Die erklärte Position Buenaventuras, mit
Los papeles
eine alternative Ge-
schichtsversion zu schaffen, kommt in allen fünf Akten zum Ausdruck. Die ge-
schilderten Episoden aus der Zeit der
Violencia
haben den Sinn, die Auswirkun-
gen des Bürgerkrieges auf nationaler bzw. gesamtgesellschaftlicher Ebene greif-
bar zu machen. Die einzelnen Szenen zeigen eindringlich, dass die
Violencia
zwar hauptsächlich auf dem Land ausgefochten wurde, jedoch auch in den Städ-
ten ein Klima von Unterdrückung und Angst erzeugte. Die aus allen sozialen
Schichten stammenden Figuren sprechen zudem die Sprache des Alltags, ohne
in irgendeiner Weise gekünstelt zu wirken. Das Mittel der Verfremdung äußert
sich vor allem in den mehrmaligen Unterbrechungen durch Gesangseinlagen
und Chöre sowie dem minimalistischen Bühnenbild. Historischer Kontext, land-
schaftliche Hintergründe und Orte werden lediglich durch farbige Tücher oder
Stellwände angedeutet, während viele Figuren mit Masken oder ganz eingehüllt
300
300
Kapitel III
auftreten. Dadurch stellt Buenaventura sowohl die Allgemeingültigkeit be-
stimmter Zustände als auch die Anonymität der Macht dar.161
Seine Kritik am Staat und der offiziellen Geschichtsschreibung wird bereits
im ersten Akt über das Schicksal der Lehrerin deutlich, die weit mehr als das
legitime Verlangen der Landbevölkerung nach Gerechtigkeit repräsentiert. Aus
dem Jenseits sprechend, geht es der Lehrerin darum, das erlittene Unrecht für
die Nachwelt zu bewahren, um eine Wiederholung zu verhindern. Nichtsdestot-
rotz fordert sie keine Rache, sondern lediglich Aufklärung und Wahrheit. Dies-
bezüglich ist ihre Haltung jedoch eher von Resignation als von Zuversicht ge-
prägt:
Enseñaba a leer y a escribir y enseñaba el catecismo y el amor a la patria y a la bandera.
Cuando me negué a comer y a beber pensé en los niños. Eran pocos, es cierto, pero ¿quién les
iba a enseñar? También pensé: ¿Para qué han de aprender el catecismo? ¿Para qué han de
aprender el amor a la patria y a la bandera? Ya no tiene sentido la patria ni la bandera. Fue
mal pensado, tal vez, pero eso fue lo que pensé.162
Der Diskurs der Lehrerin soll nicht nur anklagen, sondern vor allem die Ge-
schichte des Dorfes vor dem Vergessen bewahren. Dahinter verbirgt sich eine
klare Kritik an der offiziellen Geschichtsschreibung, der es zumeist darum geht,
die
Violencia
als diffusen Kampf namenloser Campesinos darzustellen, der kei-
ner bestimmten Logik folgt.163 Buenaventura verdeutlicht dagegen am Beispiel
der Lehrerin, dass die
Violencia
konkrete Opfer forderte, real existierende Ort-
schaften auslöschte und von rücksichtslosen Politikern und Militärs angeheizt
wurde. In diesem Sinne treten die Soldaten der Regierung als Mörder und Ver-
gewaltiger auf. Dadurch, dass die Lehrerin aus dem Jenseits spricht und sich zu-
dem außerhalb der chronologischen Ordnung befindet, gewinnt ihre Version der
Vergangenheit einen höheren Stellenwert als die vergängliche und von Halb-
wahrheiten entstellte offizielle Geschichte.164
Gleichzeitig lässt Buenaventura jedoch anklingen, dass die
Violencia
mehr als
nur ein politischer Konflikt war. Indem er dem brutalen und habgierigen
Sargen-
to
die märtyrerhafte und traditionsbewusste Figur der Lehrerin gegenüberstellt,
verweist er auf tieferliegende Aspekte des Bürgerkriegs. Insbesondere die Land-
frage spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. An dem Dialog der
161 Vgl.
Jaramillo.
1992, S. 211 f.
162
Buenaventura.
1977, S. 28.
163
Vgl.
Jaramillo.
1992, S. 201 f.
164
Vgl. ebd.
301
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
301
beiden Akteure ist zudem bemerkenswert, dass die Lehrerin in der Vergangen-
heit berichtet, wobei sie ein harmonisches Bild zeichnet, wohingegen der
Sar-
gento
im Präsens auf die abstrakten Forderungen der Regierung hinweist. Diese
dualistische Gegenüberstellung einer harmonischen, traditionsbewussten
"Volkskultur" mit einer von Gewalt, Habgier und politischen Interessen gepräg-
ten "Kultur der Eliten" ist typisch für das gesamte Schaffen Buenaventuras. Der
folgende Dialog kann somit nicht nur als stellvertretend für die ideologische
Zielsetzung der
papeles
gelten:
Sargento:
Con la política conseguiste esta tierra, ¿cierto?
La maestra:
No era cierto. Mi padre fue fundador del pueblo. Y como fundador le correspondió su casa a
la orilla del camino y su finca. Él le puso nombre al pueblo. Lo llamó 'La Esperanza'.
[…]
Sargento:
Mal repartida está esta tierra. Se va a repartir de nuevo. Va a tener dueños legítimos, con títu-
los y todo.
La maestra:
Cuando mi padre llegó aquí, todo era selva.
Sargento:
Y también las posiciones están mal repartidas. Tu hija es la maestra de la escuela, ¿no?
La maestra:
No era ninguna posición. Raras veces me pagaron el sueldo. Pero me gustaba ser maestra. Mi
madre fue la primera maestra que tuvo el pueblo. Ella me enseñó y cuando ella murió yo pasé
a ser la maestra.165
Während die Lehrerin eindeutig als Märtyrerin charakterisiert ist, fällt die
Darstellung der Figur des Folterknechts in
La tortura
etwas differenzierter aus.
Obwohl sich die gesamte Handlung in der Wohnung des Folterknechts abspielt,
liegt der Schwerpunkt auf seiner blutigen Tätigkeit im Militärgefängnis. Anstatt
sich mit der Schilderung grausamer Details abzugeben, beschreibt Buenaventura
den psychischen und moralischen Verfall der Gesellschaft anhand eines indivi-
duellen Schicksals. Dabei wird deutlich, dass die eigentliche Dramatik der
Vio-
lencia
weniger in den zahllosen Massakern, sondern vielmehr in der beispiello-
sen Ausweitung von Furcht und Paranoia liegt. Genau wie es Gabriel García
Márquez in seiner Kritik am
Violencia
-Roman (siehe Kap. III, 2) formuliert hat,
165
Buenaventura.
1977, S. 27 f.
302
302
Kapitel III
ist der wahre Schrecken der Epoche im allgegenwärtigen Klima des Terrors
spürbar, weswegen sich die Literatur bzw. das Theater an einer Beschreibung
dieses ungleich komplexeren Phänomens versuchen sollte.
Buenaventura kommt dieser Forderung nach, indem er die Auswirkungen der
täglichen Gewalt auf den sozialen Bereich, insbesondere die Familie, zeigt. Im
Falle des Folterknechts manifestiert sich die zunehmende Entmenschlichung in
einer schweren Psychose. Obwohl die Figur versucht, eine innere Distanz zu
ihrem Tun aufzubauen, schlägt dieses Unterfangen tragisch fehl. Selbst die all-
täglichsten Dinge bringt der Folterknecht automatisch mit seiner Tätigkeit in
Verbindung. Obwohl er seiner Frau gegenüber eine gewisse Selbstsicherheit
vortäuscht, handelt es sich bei der Figur um einen fragilen Charakter mit einem
niedrigen Selbstwertgefühl. Instinktiv weiß er, dass sein Tun moralisch verwerf-
lich ist. Zur Verstärkung seiner Psychose trägt weiterhin bei, dass er seine Frau
verdächtigt, ihn zu betrügen. Dabei spielt es im Grunde keine Rolle, ob dies der
Wahrheit entspricht oder nicht. Ganz in dem von Verrat, Illoyalität und Rache
bestimmten Klima der
Violencia
gefangen, überträgt der Folterknecht die Ver-
hältnisse des Krieges auf die Verhältnisse zu Hause. Dies macht sich insbeson-
dere an seiner Wortwahl bemerkbar, wenn er zum Beispiel während des Essens
Zusammenhänge zu seiner "Arbeit" entdeckt. So wie ihm bei der Folter daran
gelegen ist, das Messer schnell und sauber in das Fleisch eines Verdächtigen zu
bohren, will er auch sein Fleisch auf dem Teller möglichst "weich" haben. Denn
nichts hält er für schlimmer als einen Gefangenen, der nicht reden mag:
Si habla rápido, queda todo loco. No sé qué hacer. Habla y habla, y yo le grito que hable, y él
habla. ¡Maldito sea! ¡No le entra el cuchillo! En lugar de andarte pavoneando deberías prepa-
rar una carne que le entrara el cuchillo.
[…]
Me tocó un tipo duro. Un tipo más duro que un riel.
(Ríe por la carne)
Esto es cuero.
166
Seine immer stärker werdenden Wahnvorstellungen bringen den Folterknecht
schließlich dazu, die eigene Frau mit einem seiner Opfer zu verwechseln. Von
ihrer "Schuld" überzeugt, foltert er sie zu Tode, indem er ihr die Augen aus-
sticht. Den zunehmenden Wahnsinn des
Verdugo
verdeutlicht Buenaventura
durch dessen unkontrolliertes Gelächter und seine zweideutigen Bemerkungen
über scheinbar alltägliche Handlungen. Im Vergleich zu den psychisch "gesun-
den" Ermittlern, die sich mit dem Fall der ermordeten Ehefrau beschäftigen,
wird dieser "Wahnsinn" jedoch ein Stück weit relativiert. So lässt Buenaventura
166 Ebd., S. 33.
303
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
303
keinen Zweifel daran, dass die eigentliche Perversion in jenem System begrün-
det liegt, das zum Mittel der Folter greift und dies als rationale und zweckmäßi-
ge Handlung rechtfertigt. So können sich die mit der Aufklärung des Falles be-
auftragten Beamten die Reaktion des Folterknechts am Ende kaum erklären, da
er doch eine an das Töten gewöhnte Person sei:
Pero Juan parecía acostumbrado. Juan era como el bizco. El bizco decía: es un oficio como la
medicina o la carnicería. ¿Han visto ustedes que un médico o un carnicero honesto se enfer-
men de escrúpulos? Juan aguantaba cuatro y cinco sesiones. Y quedaba tan fresco. Salía di-
ciendo chistes.167
Während sich die Episoden des Folterknechts und der Lehrerin als eindeutige
Kritik an der Militärdiktatur von Rojas Pinilla erweisen, greift Enrique Buena-
ventura im folgenden Teil mit dem Titel
La autopsia
unverhohlen die Regierung
des
Frente Nacional
an. Denn, wie mehrere Textstellen erkennen lassen, finden
die Ereignisse dieses Aktsin der Zeit des so genannten
bandolerismo
statt, das
heißt in der letzten Phase der
Violencia
.
Wie auch in der vorangegangenen Szene spielt sich das Geschehen aus-
schließlich im Rahmen der Familie ab, genauer: zwischen einem Gerichtsmedi-
ziner und seiner Frau. Von offiziellen Stellen haben beide erfahren, dass ihr ein-
ziger Sohn von Regierungstruppen im Kampf getötet worden sei und nun von
dem Arzt obduziert werden müsse. Dieser hat jedoch allen Grund, die Version
der Militärs anzuzweifeln. Schließlich besteht seine Arbeit im Wesentlichen dar-
in, gefälschte Autopsie-Gutachten zu erstellen, auf denen der Tod angeblicher
bandoleros
bescheinigt wird. Die von ihm obduzierten Leichname zeigen indes
eindeutig, dass die Opfer aus nächster Nähe mit einer Maschinenpistole hinge-
richtet wurden. Die offizielle Version von den "im Kampf gefallenen
bandole-
ros
" ist somit völlig unglaubwürdig.
Das eigentliche Drama des Aktes besteht jedoch darin, dass die Frau dem
Arzt schwere Vorwürfe wegen seines passiven Verhaltens macht. Zunächst ver-
langt sie von ihm, er solle sich der Anordnung, die Autopsie persönlich durchzu-
führen, widersetzen. Sie weist ihn darauf hin, dass der Sohn für eine gerechte
Sache gekämpft habe: "Era un buen muchacho. Si esas ideas entraron en él fue
justamente porque era un buen muchacho. Decía que no podía soportar la injus-
ticia."168Für das Ehepaar besonders schlimm zu ertragen ist ferner der Umstand,
dass ihre persönliche Sicht der Dinge auf drastische Weise von der offiziellen
167 Ebd., S. 35.
168
Ebd., S. 38.
304
304
Kapitel III
Darstellung abweicht, wie sie sich beispielsweise in der
gran prensa
manifes-
tiert. So erscheint die Nachricht vom getöteten Sohn auf der für
antisociales
und
bandoleros
reservierten Seite:
El doctor:
Mira, mira el periódico.
La mujer:
Ya lo miré.
El doctor:
Aquí está él y aquí está el hijo de Mella. Estudiaron juntos en el colegio. Pero el hijo de Me-
lla es el inteligente joven Mella.
La mujer:
¡Inteligente! Era el último de la clase.
El doctor:
Y mi hijo era el primero, el más inteligente del colegio, pero aquí está el retrato del hijo de
Mella en la página social y aquí está el retrato de mi hijo en la página de los antisociales. El
bandolero, el criminal, muerto en un encuentro con el ejército.169
Trotz der Erkenntnis, Opfer eines im Grunde verbrecherischen Systems ge-
worden zu sein, überwiegt bei dem Arzt und seiner Frau ein Bewusstsein der
Schande. Beide zeigen zwar echte Trauer um den verstorbenen Sohn. Als we-
sentlich schmerzhafter empfinden sie es jedoch, die Eltern eines
bandolero
zu
sein und das Gerede der Nachbarn ertragen zu müssen. Insbesondere für die
Frau ist der "soziale Tod" um ein Vielfaches schlimmer auszuhalten als der phy-
sische Tod des Sohnes. Des Weiteren sind sich beide einig, ihren relativen
Wohlstand um jeden Preis zu verteidigen, weswegen der Gerichtsmediziner die
Ausführung seines heiklen Auftrags auch keinen Moment in Frage stellt. Als
Argument führen die Eheleute an, die schlechte Beschäftigungslage würde es
ihnen nicht erlauben, gegen den Arbeitgeber zu rebellieren. Angesichts der staat-
lichen Allmacht sei ein Protest sowieso sinnlos und daher stille Trauer ange-
zeigt. Der Verzweiflung des Arztes wird schließlich ein unverhofftes Ende be-
reitet, als ihm sein Assistent per Telefon mitteilt, den unangenehmen Auftrag für
ihn zu übernehmen. Angesichts der hohen Wertschätzung, die er bei Kollegen
und Regierung gleichermaßen genießt, zeigt sich der Arzt gerührt. Seine Frau
bereitet unterdessen die Beerdigung vor.
Im Unterschied zu den ersten beiden Akten der
papeles
, in denen von histo-
risch greifbaren Tätern und Opfern die Rede ist, geht
La autopsia
auf die nach
169 Ebd., S. 40.
305
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
305
Meinung Buenaventuras "indirekten" Täter ein. Diese befinden sich nicht in den
Reihen der Armee oder der Justiz, sondern in den wohlhabenden Haushalten der
Großstädte. Obwohl in der Literatur für gewöhnlich die Campesinos als primäre
Opfer der
Violencia
erscheinen, sowie gelegentlich die Soldaten als deren Hen-
ker, widersetzt sich Buenaventura im dritten Akt einer solch gängigen Darstel-
lung. Nichtsdestotrotz ist auch seine abwertende Sicht der Mittelklasse stark
ideologisch motiviert. Ohne nämlich auf die wenigen kritischen Stimmen jener
Zeit auch nur knapp einzugehen, sieht er in der Mittelschicht eine relativ homo-
gene, angepasste und parasitäre Bevölkerungsgruppe.170 Am Beispiel des Arztes
und seiner Frau macht er deutlich, dass es durchaus Teile der Bevölkerung gab,
die über das wahre Ausmaß der
Violencia
informiert waren. Materieller Wohl-
stand und sozialer Status seien diesen Personengruppen jedoch wichtiger gewe-
sen als der legitime Protest gegen die Regierung.
Ganz anders der Sohn. In gewisser Hinsicht ist seine Figur mit der der Lehre-
rin vergleichbar. Während sich letztere für die Bewahrung der traditionellen
Ordnung einsetzt und schließlich Selbstmord begeht, stirbt der Sohn aufgrund
seiner politischen Überzeugung. Mit der Einführung dieser zweiten Märtyrerfi-
gur verweist Buenaventura auf die zahlreichen während der 50er und 60er Jahre
ermordeten, überwiegend linksgerichteten Studenten. Deren Tod sei folglich
genauso vor dem Vergessen zu bewahren, wie die Massaker an der Landbevöl-
kerung. Insgesamt lässt er jedoch keinen Zweifel daran, dass sich der Großteil
der Mittelklasse während der
Violencia
zu passiv verhalten habe. Trotz punk-
tueller Kritik am System habe die Mehrheit mit ihrer angepassten Haltung zur
Festigung eines Unrechtsregimes beigetragen. Dass sich die geschilderte Episo-
de bereits zu Zeiten des
Frente Nacional
abspielt, impliziert ferner, dass Buene-
vantura auch die neue "demokratische" Regierung für illegitim hält. Seine Sym-
pathie gilt vielmehr jenen Elementen der Gesellschaft, die sich gegen das von
den traditionellen Parteieliten geschaffene System stellen. Wie das Beispiel des
Sohnes zeigt, schließt dies auch die Befürwortung des bewaffneten Kampfes mit
ein.
Im vierten Akt mit dem Titel
La audiencia
wendet sich Buenaventura an-
schließend wieder dem ländlichen Kolumbien zu. Zentrales Thema ist die politi-
sche Abhängigkeit der zivilen und militärischen Gerichtsbarkeit, beispielhaft
170
Diese harte Kritik an der "dekadenten" Mittelschicht teilten auch andere kollektive
Theatergruppen Lateinamerikas, insbesondere in Kuba und Brasilien. Vgl. hierzu
Jaramillo.
1992, S. 102 ff.
306
306
Kapitel III
vorgeführt an der Verurteilung eines unschuldigen Bauernführers. Da sich der
namenlose Angeklagte kein einziges Mal zu Wort meldet, bleibt auch der tat-
sächliche Grund seiner Inhaftierung im Dunklen. Das Verhalten der sieben ge-
sichtslosen Richter lässt jedoch den Schluss zu, dass es sich um einen "Aufwieg-
ler" handelt, der über großen Rückhalt unter der Landbevölkerung verfügt. Aus
diesem Grund sieht ihn die Regierung als Bedrohung für die "öffentliche Ord-
nung" und trachtet danach, ihn als "gewöhnlichen Kriminellen" abzuurteilen.
Dahinter steht die bereits analysierte Strategie des
Frente Nacional
, politische
Beweggründe der
Violencia
schlichtweg zu leugnen (siehe Kap. II, 2.1).
Genau wie im vorangegangenen Abschnitt verweist Buenaventura in
La au-
diencia
nicht länger auf die "klassische"
Violencia
oder die Militärdiktatur, son-
dern auf die Regierungszeit des
Frente Nacional
. So handelt es sich bei den un-
ter Kapuzen verborgenen Richtern zumindest theoretisch um die Vertreter eines
demokratischen Systems. Die Provokation liegt darin, dass der Angeklagte auch
unter den Bedingungen einer "Demokratie" keinen fairen Prozess zu erwarten
hat. Es zeigt sich vielmehr, dass unter der Fassade von "Frieden, Versöhnung
und Vergessen" die alten Praktiken weiterleben und insbesondere auf dem Land
die Militärs das Sagen haben.
Die zivile Gerichtsbarkeit, repräsentiert durch fünf der sieben Richter, ver-
folgt im Grunde das gleiche Ziel wie die Armee, will ihrem Anliegen aber den
Anschein von Legitimität und Rechtmäßigkeit geben. Da der Angeklagte der
Folter standhält und kein Wort von sich gibt, plädieren die Militärrichter für
dessen umgehende Erschießung und die anschließende Fälschung des Obdukti-
onsergebnisses. Schließlich sei dies bisher die gängige Praxis gewesen. Weil den
Zivilrichtern ein solches Vorgehen jedoch barbarisch anmutet, wollen sie den
Angeklagten von der Möglichkeit eines gerechten Verfahrens und der eventuel-
len Straferleichterung überzeugen, sofern er ein Geständnis unterschreibt. Der
Unterschied zwischen ziviler und militärischer Gerichtsbarkeit besteht hierbei
nur in der Methode, da beide Parteien auf das gleiche Ergebnis hinarbeiten:
Encapuchado 2:
Yo siempre me dije: ¿Y por qué no resuelven este caso a la manera de ellos, como han resuel-
to tantos? ¿Por qué lo enredan?
Encapuchado 1:
Porque quieren hacer creer que va a haber elecciones.
Encapuchado 3:
307
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
307
No quieren fabricar otro héroe. Hay demasiados. Quieren convertirlo en delincuente común y
mandarlo a colonias.171
Wie María Mercedes Jaramillo in ihrer umfassenden Studie zum
Nuevo Tea-
tro Colombiano
anmerkt, können die Kapuzen der Richter als Hinweis auf deren
Schuldkomplexe gesehen werden. Demnach seien sich die Ankläger über die
Schändlichkeit ihres Tuns im Klaren, weshalb sie es vorzögen, unerkannt zu
bleiben.172 Ganz gleich, ob man dieser Interpretation folgen mag oder nicht, so
sind doch die verhüllten Richter und der sprachlose Angeklagte ein klarer Hin-
weis auf die zahllosen Verbrechen der Militärdiktaturen in Lateinamerika. Deren
inquisitorische Gerichtsverfahren, bei der die Schuld des Angeklagten bereits im
Voraus feststand, prangert Buenaventura in
La audiencia
an.
Pikanterweise wirft er dem
Frente Nacional
vor, genau die gleichen Fehler
wie die Militärdiktatoren zu begehen und schwerste Menschenrechtsverletzun-
gen unter dem Deckmantel einer prekären Legitimität zu verschleiern. In seiner
radikalen Kritik des
bipartidismo
weist er darauf hin, dass Demokratie eine
Chimäre bleibe, solange man den Militärs völlige Autonomie gewähre, die Jus-
tiz politische Ziele verfolge und sich die Regierung aus einem kleinen Kreis ex-
klusiver Eliten zusammensetze. Zur Verdeutlichung dieser Position lässt er bei-
spielsweise einen Militärrichter die "Farce" der zivilen Gerichtsbarkeit kritisie-
ren, die eines "starken Staates" nicht würdig sei: "Un Estado que se respete debe
prescindir de ustedes. ¿Para qué mierda sirven estas comedias? ¡Para defender la
vida de estos delincuentes y permitir que conspiren contra el Estado!"173
Zweifelsohne war es ein wichtiges Ziel des politischen Diskurses der 50er
und 60er Jahre, politischen Protest auf dem Land automatisch als das Werk von
bandoleros
bzw.
antisociales
zu brandmarken. Damit verfügte der Staat über
eine Rechtfertigungsgrundlage, die es ihm erlaubte, die angeblichen "Banditen"
militärisch zu bekämpfen. Wie in den ersten beiden Kapiteln der Arbeit darge-
legt, war zwar ein großer Teil der
bandoleros
tatsächlich unpolitisch und primär
von ökonomischen Interessen geleitet. Nichtsdestotrotz existierten verschiedene
Protestbewegungen, wie etwa die in den
repúblicas independientes
organisierten
Selbstverteidigungsgruppen der Campesinos, die hochgradig politisiert waren.
Hinzu kommt, dass während der Entstehungszeit des Theaterstücks (1967/68)
diverse Guerillagruppen wie der EPL, der ELN und die FARC aktiv gegen die
171
Buenaventura.
1977, S. 47.
172
Vgl.
Jaramillo.
1992, S. 211 f.
173
Buenaventura.
1977, S. 52.
308
308
Kapitel III
Regierung kämpften, weswegen sie von offizieller Seite ebenfalls als "Banditen"
bzw. "gewöhnliche Kriminelle" eingestuft wurden. Enrique Buenaventuras ein-
deutig negative Charakterisierung des
Frente Nacional
als eines autoritären, ge-
walttätigen und ungerechten Regimes ist daher auch im Zusammenhang mit dem
Entstehen der linksgerichteten Guerillabewegungen gegen Mitte der 60er Jahre
zu sehen. Insbesondere der am kubanischen Modell orientierte ELN übte lange
Zeit große Anziehungskraft auf Kolumbiens Intellektuelle aus; wahrscheinlich
auch auf Buenaventura.174
Während sich die ersten vier Akte des Stückes in der einen oder anderen Wei-
se mit den Verbrechen des Staates während der
Violencia
beschäftigen, spielt
sich der fünfte und letzte Teil ausschließlich in der Sphäre der Familie ab. Ähn-
lich wie bei
La tortura
führt Buenaventura auch hier vor, wie die Gewalt in alle
Teile der Gesellschaft vordringt und in einer Familie der unteren Mittelschicht
zu Konflikten führt. Mehr noch als die vorangegangenen Abschnitte ist der fünf-
te Akt mit dem Titel
La requisa
jedoch besonders stark von marxistischen Vor-
stellungen geprägt. So spielt sich im Schoße der Familie ein regelrechter Kampf
zwischen den unterschiedlichen ideologischen Richtungen ab. Während etwa
der Vater als ausgebeuteter und desillusionierter Kontraktarbeiter auftritt, de-
nunziert der mit der ältesten Tochter verheiratete Fabrikarbeiter sämtliche Ge-
werkschaftsmitglieder bei der Firmenleitung. Seine Figur ist gewissermaßen als
eine Art "Lumpenproletarier" konzipiert. Im Gegensatz dazu strotzt der mit der
jüngeren Tochter ("Ella") verheiratete Eisenbahnarbeiter ("Él") geradezu vor
politischem Aktionismus. Um allzu starre Schemata zu vermeiden, betont Bue-
naventura allerdings auch die ideologischen Widersprüche seiner Figuren. So ist
es ausgerechnet der "revolutionäre" Eisenbahnarbeiter, der das traditionelle Ge-
schlechterverhältnis kritiklos akzeptiert, indem er zum Beispiel seiner ungebil-
deten Frau die Fähigkeit zur politischen Aktion abspricht. Bei seiner "Genossin"
stößt dies indes auf Unverständnis:
Él: Bueno… tú has estudiado… Ella es ignorante y… bueno, es distinta.
Muchacha: Es tu mujer. Para la cama y la cocina… No he oído nada más burgués en mi vida.
Ustedes se llaman comunistas
(Señala al compañero 1 y a 'Él')
pero piensan igual que mi pa-
dre.175
174
Zu den allgemeinen Politisierungstendenzen der kolumbianischen Theaterszene wäh-
rend der 60er Jahre siehe
Röttger.
1992, S. 49–62. Zur intellektuellen Strahlkraft des ELN in
den 60er Jahren siehe
Acevedo Tarazona, Álvaro.
2006.
Vida y muerte de los movimientos
estudiantiles en el ELN
. Bogotá: Intermedio.
175
Buenaventura.
1977, S. 73.
309
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
309
Trotz dieser gelegentlichen Anspielungen auf die inneren Widersprüche der
sozialistischen Bewegung in Lateinamerika zeichnet Buenaventura insgesamt
noch immer ein recht vorteilhaftes Bild von den linksgerichteten Gegnern der
oligarchischen Herrschaft. So lösen sich die ideologischen Probleme am Ende
des Aktes auf, als die Frau des Eisenbahnarbeiters ihre Rolle im Klassenkampf
erkennt. Im Gegensatz zum Vater, der die Zeichen der Zeiten noch nicht ver-
standen hat und weiterhin auf Veränderungen "von oben" hofft, hat die Frau ihre
revolutionäre Bestimmung erkannt. Befreit vom Joch des
machismo
und voller
Tatendrang, singt sie am Ende des Stückes folgendes Lied:
No fue muy largo el tiempo con él,
fue como una pequeña y silenciosa primavera…
A pesar de su silencio aprendí,
aprendí a golpes,
como aprende el pueblo.
Mi hijo sabrá más
y seguirá sus huellas
porque somos los de abajo,
los que no tenemos importancia
quienes debemos cambiar el mundo.176
Obwohl sich der letzte Akt also nur noch peripher mit den historischen Ereig-
nissen des Bürgerkriegs beschäftigt, gibt er die zentrale Aussage der vorange-
gangenen Teile in komprimierter Form wieder. So geht es in
Los papeles
nicht
um eine Darstellung der
Violencia
im ereignisgeschichtlichen oder tatsachenbe-
zogenen Sinne. Der Zweck des Theaterstücks liegt vielmehr in der Politisierung
des Publikums sowie der damit verbundenen Aufforderung, eine "revolutionäre"
Veränderung herbeizuführen. Dennoch ist es Enrique Buenaventura gelungen,
ästhetischen und schauspielerischen Standards einigermaßen zu genügen. Im
Gegensatz zu den meisten anderen Theaterstücken der 50er und 60er Jahre wer-
den die
papeles
daher bis heute von unterschiedlichen Gruppen aufgeführt, ob-
wohl ihr ideologischer Gehalt mittlerweile befremdlich anmutet.
Selbst in Anbetracht der in diesem Abschnitt erwähnten Defizite des kollekti-
ven Theaters gilt das Konzept der
creación colectiva
noch immer als wegwei-
send für die progressiven Theatergruppen Kolumbiens. Insbesondere nach dem
Tod der dominierenden Figur Buenaventuras bleibt abzuwarten, in welche Rich-
tung sich das TEC in Zukunft entwickeln wird. Bereits seit mehreren Jahren ist
176 Ebd., S. 84.
310
310
Kapitel III
diesbezüglich zu beobachten, dass sich die Truppe immer stärker von den dog-
matischen Vorstellungen der 60er und 70er Jahre loslöst, ohne dabei jedoch ihr
Gespür für kontroverse Themen zu verlieren.
Aufgrund seiner enormen Breitenwirksamkeit und der Vorbildfunktion, die es
für andere Gruppen hatte, verdienen die
papeles
weiterhin Beachtung. Erstmals
hatte ein Theaterregisseur das Thema der
Violencia
aufgegriffen, um es einer
breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. In erinnerungskultureller Hinsicht
ist dabei besonders interessant, dass das Werk ganz bewusst als Gegenstück zu
der von Buenaventura als verzerrt angesehenen offiziellen Geschichte konzipiert
wurde. Dass die
papeles
im Ergebnis zwar ein ebenfalls verzerrtes Ergebnis lie-
fern, da sie einem genauso starren und wahrheitsbeanspruchenden Diskurs fol-
gen, nämlich dem Marxismus, steht auf einem anderen Blatt. Im Rahmen der
hier erfolgten Betrachtung ist es vor allem relevant gewesen, eine wirkungs-
mächtige Gegenstimme aufzuzeigen. Im Übrigen sind viele der im Stück aufge-
führten Kritikpunkte gewiss berechtigt. Aus heutiger Sicht sollte außerdem nicht
vergessen werden, dass es im Jahre 1968 ein durchaus gewagtes Unterfangen
darstellte, den von der Regierung verbreiteten Diskurs von "Frieden, Versöh-
nung und Vergessen" derart offen zu hinterfragen und das hermetische System
des
bipartidismo
auf eine Stufe mit der Militärdiktatur von Rojas Pinilla zu stel-
len.
3.2
Guadalupe años sin cuenta
von Santiago García
Ebenso wie
Los papeles
bezieht sich auch das Stück
Guadalupe años sin cuenta
von Santiago García auf konkrete historische Ereignisse während der
Violencia
.
Während Buenaventura jedoch keine realen Personen- oder Ortsnamen nennt,
konzentriert sich García ausdrücklich auf die Region der Llanos Orientales so-
wie den legendären Führer der dortigen Guerilla, Guadalupe Salcedo Unda
(1924–1957), der zudem als Namensgeber des Stückes fungiert. Dennoch über-
wiegen auch in
Guadalupe
fiktionale Elemente. Darüber hinaus ist der genannte
Guerillero nicht die zentrale Figur des Stücks, sondern lediglich am Anfang und
am Ende kurz zu sehen.
Guadalupe
, das im Jahre 1975 erstmals aufgeführt wurde, gilt bis heute als er-
folgreichstes Werk der Gruppe
La Candelaria
und darüber hinaus als eines der
bekanntesten Theaterstücke in Kolumbien. Die Entwicklung der Gruppe ist auf
das engste mit der Person Enrique Buenaventuras und der Geschichte des TEC
311
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
311
verknüpft. So erhielt der drei Jahre jüngere García zwar seine schauspielerische
Ausbildung vom dem japanischen Lehrmeister Seki Sano177, arbeitete jedoch
seit Beginn der 60er Jahre mit Buenaventura zusammen, mit dem er die Idee der
creación colectiva
teilte. Obwohl sich die Konzepte Buenaventuras in einigen
Details von denen Garcías unterscheiden, verfolgt auch
La Candelaria
grund-
sätzlich politische Ziele. Im Unterschied zum TEC legt die Truppe um García
jedoch größeren Wert auf ästhetische Aspekte, obwohl insgesamt ebenfalls ein
starker Einfluss Brechts feststellbar ist. Eine weitere Gemeinsamkeit ist dagegen
die Vorliebe für nationale Stoffe sowie die Integration folkloristischer Elemen-
te.178
La Candelaria
ging im Jahre 1972 aus der sechs Jahre zuvor von Santiago
García gegründeten
Casa de la Cultura
in Bogotá hervor. Zu Beginn spielte die
Gruppe vor allem Stücke aus dem internationalen Theater-Repertoire, nahm je-
doch bald eigene Werke in ihr Programm auf, wobei ebenfalls historische The-
men eine große Rolle spielten. Außer in
Guadalupe
schlug sich dieses Interesse
in den Stücken
Soldados
(1966),
Nosotros los comunes
(1972),
La ciudad dora-
da
(1973) und
Los diez días que estremecieron el mundo
(1976) nieder. Aus-
gangspunkt für das Stück
Guadalupe
war eine Reise der gesamten Theatergrup-
pe in die Region der Llanos Orientales, wo sie im Jahre 1973
La ciudad dorada
uraufführten. Dabei lernten García und sein Gefolge die enorme erinnerungskul-
turelle Bedeutung der Musik der
llaneros
kennen. So war in vielen der dort von
der Harfe und einem gitarrenähnlichen Instrument, dem
cuatro
, begleiteten
cor-
ridos
von den Heldentaten der liberalen Guerilla der 50er Jahre die Rede. Es
handelte sich bei dem Liedgut um ein wichtiges Medium zur Bewahrung des
kollektiven Gedächtnisses ("memoria popular") der Bewohner der Llanos, wie
García später feststellen sollte.179 Keiner der Schauspieler hatte zuvor über be-
sonders ausgeprägte historische Kenntnisse über die Zeit der
Violencia
verfügt.
Als Ereignis von nationalem Rang war den meisten lediglich der mysteriöse Tod
von Guadalupe Salcedo im Gedächtnis, der am 6. Juni 1957 von der Armee in
177
Der Japaner kam im Jahre 1956 auf Einladung der Militärregierung nach Kolumbien,
um dort erstmals professionelle Schauspieler auszubilden. Als sich jedoch herausstellte, dass
er gewisse Affinitäten zur sozialistischen Ideologie hegte, wurde er nach nur drei Monaten
des Landes verwiesen. Hierzu
Röttger.
1992, S. 42.
178
Zur Geschichte der Gruppe
La Candelaria
siehe ebd., S. 103–118.
179
Vgl.
Jaramillo.
1992, S. 113 f.
312
312
Kapitel III
Bogotá erschossen wurde. Wie es von offizieller Seite hieß: "im Kampf gegen
die Staatsgewalt".180
Nach ausgedehnten Diskussionen mit den
llaneros
sowie mehreren Reisen
durch die Region beschloss die Gruppe, das Schicksal des Guerilleros auf die
Bühne zu bringen. Dabei war jedoch nicht angedacht, Guadalupe Salcedo im
Sinne blinder Heldenverehrung ein Denkmal zu setzen. Im Gegenteil, seine Fi-
gur sollte lediglich die Rahmenhandlung des Stückes bilden. Hauptziel war es,
auf die Aktualität der damaligen Ereignisse hinzuweisen. Es ging Santiago
García im Wesentlichen darum, die Kontinuität des politischen Diskurses aufzu-
zeigen, der seiner Meinung nach seit dem Ende der Militärdiktatur von Rojas
Pinilla keinerlei Veränderungen erfahren hatte. Demnach hätten die offiziellen
Geschichtsschreiber den Aufstand der
llaneros
stets als irrelevante Randerschei-
nung abgetan, weil ihnen eine Neubewertung der kolumbianischen Volksbewe-
gungen als zu gefährlich erschien.181 Sofern in den konservativen Geschichts-
darstellungen überhaupt von Massenmobilisierungen die Rede war, wie etwa im
Zusammenhang mit dem 9. April 1948, waren damit meist negative Konnotatio-
nen verbunden. Mit
Guadalupe
wollte man diese elitäre Sichtweise hinterfragen.
Dem Konzept der
creación colectiva
verpflichtet, begaben sich einige Mit-
glieder des Kollektivs abermals in die Llanos, um vor Ort Informationen zu
sammeln, mit Zeitzeugen zu diskutieren und die Sprechweise der
llaneros
zu
erlernen. Andere wiederum trugen Fachliteratur und Musikstücke zusammen.
Am Ende kristallisierte sich heraus, dass die Niederlage einer als authentisch
betrachteten Volksbewegung im Mittelpunkt stehen sollte. Dieser Prämisse fol-
gend beginnt das Stück mit der Erschießung Guadalupe Salcedos in Bogotá. Der
Guerillero hat sich schwer bewaffnet in einem Gebäude verschanzt, das von Po-
lizei und Militär umstellt ist. Ein Polizist ruft ihm zu, er solle herauskommen
und sich ergeben, schließlich sei der Krieg zu Ende. Dieser Anweisung nach-
kommend verlässt Salcedo tatsächlich sein Versteck, zieht jedoch im gleichen
Moment zwei Pistolen und beginnt, wild um sich zu schießen. Daraufhin stirbt
er im Kugelhagel.182
180
Zur Rebellion der
llaneros
und der Biografie Guadalupe Salcedos siehe ausführlich
Barbosa Estepa.
1992.
181
Vgl.
Jaramillo, María Mercedes.
2005. La violencia como tema estructural en el tea-
tro colombiano contemporáneo. In: Castro Lee, Cecilia (Hg.).
En torno a la violencia en Co-
lombia. Una propuesta interdisciplinaria
. Cali: Univ. del Valle, S. 261 f.
182
Im Folgenden stütze ich mich auf die Erstaufgabe:
La Candelaria.
1976.
Guadalupe
años sin cuenta
. La Habana: Casa de las Américas.
313
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
313
In der zweiten Szene wird vorgeführt, wie es überhaupt zum Krieg zwischen
Liberalen und Konservativen kam und welche Rolle dabei die Guerilla der Lla-
nos spielte. Der Schwerpunkt dieser Szene liegt auf den Ereignissen des 9. April
1948 und dem politischen Vermächtnis Jorge Eliécer Gaitáns. Danach wird ge-
schildert, wie es der Liberalen Partei gelang, die Bewohner der Llanos zum Wi-
derstand gegen die konservative Regierung zu bewegen. Dabei erweist sich, dass
die Parteiführung nur oberflächlich betrachtet ein politisches Gegengewicht zu
den Konservativen schaffen wollte, da sie im Grunde keine Änderung der sozia-
len Situation auf dem Land anstrebte. In diesem Sinne sind es vor allem liberale
Großgrundbesitzer, archetypisch repräsentiert durch die Figur des Don Floro,
die aus Angst um ihr Eigentum die ihnen untergebenen Landarbeiter zum Gue-
rillakampf anstiften. Die Gruppe
La Candelaria
vertritt dahingehend die These,
dass die Guerilleros aufgrund der gemeinsam erkämpften Erfolge sowie der zu-
nehmend deutlicher zu Tage tretenden Differenzen zur Liberalen Partei mit der
Zeit ein Klassenbewusstsein entwickelt hätten. So wird den Anhängern von
Guadalupe klar, dass die tatsächliche Trennlinie nicht zwischen Konservativen
und Liberalen, sondern zwischen Großgrundbesitzern und Campesinos verläuft.
Beispielhaft verdeutlicht dies der Dialog zwischen Don Floro und dem Guerille-
ro Jerónimo:
Don Floro:
¡Un momento!
(Todos se detienen.)
¿Ustedes son liberales o qué?
Todos:
¡Pues liberales!
Don Floro:
Pero unos liberales muy raros. Unos liberales que no obedecen las órdenes de la Dirección
Liberal. Lo que pasa es que ustedes ya tienen ideas distintas en la cabeza. Ideas diferentes.
Ideas que no son de aquí. Ideas foráneas.
(Pausa. Mira desafiante a los guerrilleros).
Yo no
doy un tiro más.
Jerónimo:
Eso está muy claro, Don Floro. Usted no da un tiro más porque no le interesan los hombres.
Su interés siempre ha sido por sus vacas.183
Trotz ihres tiefsitzenden Misstrauens gegenüber der politischen Führung
schenken die Guerilleros den Friedensangeboten der Regierung letztendlich
Glauben, als sie im September 1953 auf die Amnestie der neuen Militärregie-
rung eingehen. Schnell zeigt sich jedoch, dass Rojas ebenfalls zu wenig unter-
183
La Candelaria.
1976, S. 84 f.
314
314
Kapitel III
nimmt, um die sozialen und ökonomischen Ursachen der
Violencia
zu beseiti-
gen. Als schließlich die Zeit des
Frente Nacional
anbricht, gehört Guadalupe zu
denjenigen Führern der
llaneros
, die das neue System des institutionalisierten
bipartdismo
rundweg ablehnen. Um sich bei den Führern der Liberalen Partei in
Bogotá über den Verrat an der Sache der Landbevölkerung zu beklagen, ist er in
die Hauptstadt gereist, wo er aus eben diesem Grund von den Regierungstruppen
erschossen wird. Vor diesem Hintergrund greift die letzte Szene des Stückes
abermals den gewaltsamen Tod des Guerilleros auf, diesmal jedoch in der Ver-
sion der "memoria popular".
Während Guadalupe Salcedo zu Beginn als schießwütiger
bandolero
erschie-
nen ist und daher von einem offiziellen Tribunal auch als "gewöhnlicher Krimi-
neller" eingestuft wird, zeigt die letzte Szene eine andere Geschichte. Der Auf-
forderung, sich zu ergeben, kommt der unbewaffnete Guerillero ohne zu Zögern
und mit erhobenen Händen nach, woraufhin ihn die Soldaten sofort erschießen.
Die Figur des Guadalupe ist dabei durch eine weiße Maske unkenntlich ge-
macht, was Heidrun Adler zufolge als Hinweis auf dessen Austauschbarkeit ver-
standen werden kann. Demnach sei es
La Candelaria
darum gegangen, einen
universellen "Revolutionär" zu kreieren, der sich als Identifikationsobjekt für die
Massen anbiete.184 Insgesamt war die Gruppe weniger daran interessiert, das
Andenken an den legendären Führer der
llaneros
aufrechtzuerhalten, als viel-
mehr die strukturellen Gemeinsamkeiten der 50er Jahre mit der Gegenwart he-
rauszustreichen. Besonders deutlich wird dies in dem am Schluss des Stückes
vorgetragenen
corrido
, der auf die Gegenwart des Vergangenen anspielt:
Esta historia que contamos
los invita para que piensen
que los tiempos del pasado
se parecen al presente
los de arriba, bien arriba
al pueblo prometen mucho
para que olvide su historia,
su vida y su propia lucha.185
Insofern zeigt sich, dass die Rahmenhandlung des Stücks eine klare Kritik an
der verzerrten offiziellen Geschichte beinhaltet. Als Gegenstück der herrschafts-
konformen Vergangenheitsdarstellung weisen die zahlreichen folkloristischen
184 Vgl.
Adler.
1982, S. 128.
185
La Candelaria.
1976, S. 108.
315
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
315
Musikstücke auf die Sicht des "Volkes" hin. Die zentrale Handlung, getragen
von den Figuren des Robledo und des Jerónimo, verdeutlicht weiterhin, dass die
Violencia
kein Krieg der Liberalen gegen die Konservativen, sondern der Cam-
pesinos gegen die Campesinos war. So stammen sowohl Jerónimo als auch Rob-
ledo aus dem gleichen Dorf in den Llanos, wo sie ihren Militärdienst leisten sol-
len. Als die Armee jedoch gegen die Guerilla der Llanos, das heißt gegen die
eigenen Leute vorgeht, weigert sich Jerónimo und desertiert. Robledo hingegen,
der gemeinsam mit dem
Batallón Colombia
186 in Korea gegen die Kommunisten
gekämpft hat und als Kriegsheld zurückkehrt, befolgt den Befehl. Ähnlich wie
im Falle der
papeles
wird an dieser Stelle auch in
Guadalupe
ein extremer Dua-
lismus konstruiert, der auf der einen Seite die traditionelle Volkskultur überhöht,
auf der anderen Seite den US-Imperialismus und den Verrat der Eliten an den
Arbeitern und Bauern geißelt. Symbol hierfür ist das Verhältnis zwischen dem
aufrechten Jerónimo und dem kulturell "vergifteten" Robledo. So ist letzterer
derart von seiner "Mission" als Verteidiger der Freiheit in der westlichen Welt
überzeugt, dass er sich selbst als "Colombian Tiger" bezeichnet und permanent
englische Wörter verwendet:
¡Aquí está el 'Colombian Tiger'! ¡Voy a acabar con toda esa chusma que se cree invencible!
¡Salgan, cobardes!
(Avanza con su fusil apuntado al vacío.)
¡Salgan, carajo! ¿Dónde están?
¡Den la cara como los hombres de verdad!
(Mira hacia el cielo.)
¡Virgencita, virgencita del
Carmen, deme siete minutos, 'seven minutes', para acabar con toda es parranda de comunistas,
'red pigs, sonofabitch'! ¡Qué salga Guadalupe Salcedo a ver quién es más tigre: él o yo! ¡Sal-
gan, cobardes!
(Pausa. Baja el arma y regresa lentamente a la cantina.)
¿Se dan cuenta, mu-
chachos? Aquí no pasa nada en estos 'bloody' Llanos, ¡nada!
(De pronto suena un disparo y
Robledo cae herido en el cuello.)
187
Im Hinblick auf diese starke Überzeichnung der Figuren gleicht
Guadalupe
den
papeles
sehr stark. Ebenso wie im Falle der
Violencia
-Literatur überwiegen
schablonenhafte Dualismen und stereotype Figuren. Wie bereits mehrfach er-
wähnt, ist hierin im Bezug auf die Eignung als erinnerungskulturelles Medium
186
Dabei handelte es sich um insgesamt 4314 kolumbianische Soldaten, die zwischen Mai
1951 und Juli 1953 gemeinsam mit UN-Truppen (v. a. USA) gegen die von China unterstütz-
ten kommunistischen Invasoren in Korea kämpften. Nach ihrer Rückkehr stiegen einige der
von Laureano Gómez entsandten Militärs zu höchsten Rängen auf und beeinflussten die Ent-
wicklung der kolumbianischen Streitkräfte nachhaltig. Siehe hierzu
Valencia Tovar, Álva-
ro/Jairo Sandoval Franky.
2001.
Colombia en la guerra de Corea: la historia secreta
. Bo-
gotá: Planeta.
187
La Candelaria.
1976, S. 73.
316
316
Kapitel III
jedoch keine Einschränkung zu sehen. Obwohl
Guadalupe
im Hinblick auf die
Gestaltung der Bühne ähnlich minimalistisch (hauptsächlich Lattengestelle und
farbige Tücher) ausfällt wie
Los papeles,
ist es in ästhetischer Hinsicht anspre-
chender. Wesentlich dafür verantwortlich sind die zahlreichen Musikstücke, die
mit originalen Instrumenten aus den Llanos vorgetragen werden und teilweise zu
den "Klassikern" der kolumbianischen Volksmusik gehören. Während Buena-
ventura zum Beispiel die Figur der Lehrerin nutzt, um außerhalb der chronologi-
schen Ordnung auf die Notwendigkeit der Erinnerungen hinzuweisen, überneh-
men in Garcías Stück die Lieder diese Funktion. Besonders wichtig ist in diesem
Zusammenhang der folgende
corrido
vom Beginn des Stückes:
Pido permiso al trovero
para relatar la historia
de más ingrata memoria
que tiene el pueblo llanero.
Fue por los años cincuenta
que en toda Colombia entera
se desató la violencia
de una y de otra manera.
Nos dicen los sabedores,
que arriba mandaba un godo
y armó a los conservadores
para quedarse con todo.188
Insgesamt betrachtet ist also auch
Guadalupe
als Plädoyer gegen das Verges-
sen konzipiert. Dass es Santiago García sogar noch stärker um eine Kritik der
offiziellen Geschichte geht als Enrique Buenaventura, macht bereits der mehr-
deutige Titel
Guadalupe años sin cuenta
deutlich. So verweist der Absatz "sin
cuenta" ("ohne Zahl") einerseits darauf, dass es sich um eine Geschichte ohne
Abschluss, das heißt mit Gegenwartsbezug, handelt. Zum Zweiten steht "sin
cuenta" ("ohne Erzählung") aber auch für die "unerzählte" Geschichte der
Vio-
lencia
. Schließlich kann "años sin cuenta" bei anderer Schreibweise, jedoch
gleicher Phonetik (zumindest in Lateinamerika), noch als direkter Hinweis auf
die historische Thematik, nämlich die 50er Jahre ("años cincuenta"), verstanden
werden.
Ebenso wie in
Los papeles
und einer Reihe anderer Stücke der 60er und 70er
Jahre spielt auch in
Guadalupe
die sozialistische Ideologie eine große Rolle.
188 Ebd., S. 22.
317
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
317
Ziel des Stückes ist es folglich, dem Publikum zunächst ein historisches Be-
wusstsein über das an der Landbevölkerung begangene Unrecht zu vermitteln
und es schließlich zum Handeln aufzufordern. Es geht darum, die strukturellen
Probleme Kolumbiens, wie zum Beispiel die Ausbeutung der unteren Schichten
oder die Fortdauer der oligarchischen Herrschaft, klar aufzuzeigen. Dieser Impe-
tus führt jedoch letztendlich dazu, dass
Guadalupe
die gleichen ästhetischen und
strukturellen Defizite wie
Los papeles
aufweist. Insbesondere aufgrund der ho-
hen Qualität der musikalischen Begleitung sowie den zahlreichen interessanten
Verweisen auf die Kultur der
llaneros
ist das Stück jedoch zu einem großen und
nachhaltigen Erfolg geworden.
Dass die Gruppe
La Candelaria
aufgrund ihrer politischen Stellungnahmen
mehrfach mit der Staatsgewalt aneinandergeriet, wie beispielsweise im Falle der
Stürmung ihres Theaterhauses durch das Militär im Jahre 1989, ist eine weitere
Parallele zur Entwicklung des TEC. Nichtsdestotrotz folgte dem hier behandel-
ten Stück noch eine Reihe anderer "Provokationen", wobei etwa die Drogen-
problematik oder der bewaffnete Konflikt der 80er und 90er Jahre im Mittel-
punkt standen. Seit Ende des Jahres 2006, anlässlich ihres vierzigsten Geburts-
tages, arbeitet die Gruppe an einer Adaptation der
Antigone
, die sich hintergrün-
dig mit den Verbrechen der Paramilitärs und der von der Regierung geförderten
"Demobilisierungskampagne" beschäftigen soll.189 Nicht zuletzt aufgrund einer
solchen Themenwahl musste die Gruppe bereits in der Vergangenheit mit harten
Repressionen von Seiten des Staates, aber auch der bewaffneten illegalen Ge-
waltakteure rechnen. Santiago García erzählt in diesem Zusammenhang, dass es
zwar niemals eine offizielle Zensur gegen
La Candelaria
gegeben habe. Die
verschiedenen Vorfälle der letzten Jahrzehnte hätten jedoch gezeigt, dass das
Überleben der Gruppe permanent von Umständen bedroht sei, die einer Zensur
gleichkämen:
La censura directa, el prohibirnos presentar una obra, nunca ha habido, eso jamás ha existido
porque como que no se ha necesitado; lo que sí ha habido es la agresión de carácter económi-
co, es decir, no darnos ni un centavo; […]
Había aquí gente que tenía que andar con chaleco antibalas y asomándose a la puerta a ver si
venía un motociclista a matarlo, estábamos en las listas negras de gente a eliminar, llamadas
por teléfono todo el tiempo amenazando, que no era directamente – en Colombia todo el
mundo lo sabe – el Estado, no era el Ministerio de Gobierno que llamaba, sino los paramilita-
189 Siehe
El Tiempo
vom 14. Juni 2006.
318
318
Kapitel III
res, que siempre han sido no sólo tolerados sino auspiciados por el gobierno para la elimina-
ción de la gente.190
Es ist gewiss bemerkenswert, dass angesichts dieser von Gewalt und Intole-
ranz charakterisierten Umstände überhaupt ein politisches Theater in Kolumbien
existiert. Sowohl das TEC als auch
La Candelaria
weisen jedoch seit einigen
Jahren Verfallserscheinungen auf, obwohl die Theaterlandschaft des Landes
noch immer auf beide Gruppen angewiesen ist. Denn abseits der kommerziellen
Darstellungen und Musicals sind kritische Darbietungen in den vergangenen
Jahrzehnten recht selten geworden. Angesichts der fragmentarischen Erinnerung
an die Zeit der
Violencia
sind alternative Theatergruppen als erinnerungskultu-
relle Akteure jedoch weiterhin von höchster Wichtigkeit. So wäre es beispiels-
weise ein Schritt in die richtige Richtung, die staatliche Förderung für diese
Gruppen auszuweiten. Beim gegenwärtigen Budget des Kulturministeriums un-
ter Leitung der neuen Ministerin Paula Moreno Zapata (seit Mai 2007) ist dies
allerdings kaum zu erwarten. Es deutet hingegen vieles darauf hin, dass der Staat
weiterhin Ressourcen vom Bereich der Kulturförderung in die militärische Auf-
rüstung umleitet.191 Somit ist fraglich, ob Gruppen wie
La Candelaria
oder das
TEC weitere 40 bzw. 50 Jahre überleben werden.
4.
D
IE
V
IOLENCIA
IM
F
ILM
Im Gegensatz zum Theater fristete das Kino in Kolumbien lange Zeit ein Schat-
tendasein.192 Während sich in Ländern wie Mexiko, Argentinien, Brasilien oder
Kuba spätestens seit den 50er Jahren eigene Filmindustrien mit einer bedeuten-
den Produktion auf lateinamerikanischer Ebene etabliert hatten, blieb der ko-
lumbianische Film selbst im nationalen Rahmen eine marginale Erscheinung. So
wurden die Kinosäle auch nach der Einführung des Fernsehens unter Rojas Pi-
nilla am 13. Juli 1954 überwiegend zur Vorführung von Wochenschauen und
Hollywoodfilmen genutzt. Ebenso wie in den von Rojas geförderten Nachrich-
190
García, Santiago.
1998. La cultura, un camino para la paz. In: Solarte Lindo, Guiller-
mo (Hg.).
No ha pasado nada: una mirada a la guerra
. Bogotá: Tercer Mundo, S. 312.
191
Ein Überblick über die Herausforderungen und Probleme der kolumbianischen Kultur-
politik in den vergangenen zehn Jahren findet sich in
El Tiempo
vom 7. August 2007.
192
Einen knappen Überblick zur Entwicklung des kolumbianischen Kinos gibt
Pulecio,
Enrique.
1999a.
El siglo del cine en Colombia
. In: http://www.banrep.gov.co/blaavir-
tual/revistas/credencial/abril1999/112elsiglo.htm (18. Februar 2008).
319
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
319
tenbeiträgen ging es in den von verschiedenen kleineren Firmen produzierten
Informations- und Unterhaltungsfilmen zunächst um eine Legitimierung der Mi-
litärdiktatur, weswegen kritische Kommentare zur sozialen, ökonomischen oder
politischen Lage unerwünscht waren.193 Gleiches galt für die Berichterstattung
über die
Violencia
. Analog zur Zensur der großen Tageszeitungen
El Tiempo
,
El
Espectador
und
El Siglo
sparten die Kino- und Fernsehproduktionen das Thema
des Bürgerkrieges konsequent aus.194
Nach dem Ende der Militärdiktatur änderte sich dieses Panorama nur gering-
fügig. Bis auf einige wenige folkloristische Streifen war zu Beginn der 60er Jah-
re noch kein kolumbianischer Film erschienen, der sich mit einem politischen
oder historischen Thema beschäftigt hätte. In der ersten Phase des
Frente Na-
cional
dominierten stattdessen seichte Melodramen im Fernsehen sowie US-
amerikanische, mexikanische und argentinische Filme im Kino. Eine staatliche
Filmförderung bzw. die Möglichkeit, Film zu studieren oder das notwendige
Handwerkszeug zu erlernen, waren im eigenen Land nicht gegeben. Nachdem
eine kleine Gruppe nationaler Filmpioniere relativ erfolglos versucht hatte, die
mexikanischen und nordamerikanischen Schemata zu kopieren, geriet das Jahr
1964 zur Zäsur in der Geschichte des kolumbianischen Films. Die bisherige
Orientierung an oberflächlichen Komödien und Melodramen zurückweisend,
brachte der junge Regisseur Julio Luzardo erfolgreich
El río de las tumbas
in die
Kinos: eine Anklage gegen die während der
Violencia
verübten Massaker. Dem
Filmhistoriker Enrique Pulecio zufolge legte Luzardo damit den Grundstein für
den modernen kolumbianischen Film.195 Insbesondere aufgrund seiner Bedeu-
193
Wichtigster Produzent von Kinobeiträgen mit Unterhaltungs- und Informationsschwer-
punkt war die 1923 gegründete Firma der Gebrüder Acevedo. Deren systemkonforme Beiträ-
ge im Zeitraum von 1940 bis 1960 analysiert
Acosta, Luisa Fernanda.
2004. Celebración del
poder e información oficial. La producción cinematográfica informativa y comercial de los
Acevedo (1940–1960). In:
Historia Crítica
, Nr. 28 (Juli–Dezember, Bogotá), S. 59–79. Sie
kommt zu folgendem Schluss: "[…] los Acevedo no realizaron registro alguno sobre los
hechos asociados a la violencia política y social que estaba sufriendo el país." Ebd., S. 77.
194
Zum Zwecke der Zensur hatte Gustavo Rojas Pinilla im Jahre 1954 die so genannte
Junta de Clasificación de Películas
berufen, der unter anderem kirchliche Würdenträger und
konservative Politiker angehörten. Die "Klassifizierung" insbesondere nationaler Produktio-
nen erfolgte dabei nach moralistischen Kriterien. Vgl.
Rueda, María Helena.
2000. Las le-
tras vs. el cine en la conformación del imaginario social colombiano. In: Jaramillo, María
Mercedes/Betty Osorio/Ángela Inés Robledo (Hgg.).
Literatura y cultura. Narrativa colom-
biana del siglo XX
. Bd. 3. Bogotá: Ministerio de Cultura, S. 465.
195
Vgl.
Pulecio.
1999a.
320
320
Kapitel III
tung für spätere Filmschaffende und seiner Thematik erweist sich das Werk aus
heutiger Perspektive als wichtiges Medium des kollektiven Gedächtnisses.
Beflügelt durch den Achtungserfolg von
El río
ergriffen bald auch andere Re-
gisseure die Gelegenheit, ihre filmischen Ideen in die Praxis umzusetzen. Dabei
zeigte sich allerdings, dass die Rahmenbedingungen trotz der Einführung einer
staatlichen Filmförderung (seit 1978) sich nicht wesentlich verbessert hatten.
Als Folge fehlender Unterstützung von Seiten der Privatwirtschaft und des Staa-
tes blieben die meisten Drehbücher in der Schublade liegen, während sich so gut
wie alle Produktionen als defizitär erwiesen. Nichtsdestotrotz entwickelte sich
im Umfeld des florierenden Theaters eine kleine Cineasten-Gemeinschaft, deren
Mitglieder gegen sämtliche Widerstände eine Reihe von Filmprojekten realisier-
ten. Einige von ihnen hatten sogar im Ausland Film studiert, den Umgang mit
der Kamera erlernt sowie internationale Geldgeber ausfindig gemacht. Eine
staatliche Förderung durch das Institut FOCINE (
Compañía de Fomento Cine-
matográfico
) war jedoch zum erfolgreichen Abschluss eines Projektes weiterhin
unerlässlich. Wie Isabel Sánchez in diesem Zusammenhang anmerkt, verband
sich damit allerdings auch eine direkte politische Einflussnahme.196 Filmprojek-
te mit allzu kritischen, insbesondere historischen Themen, erhielten deshalb häu-
fig keine finanzielle Förderung. Im äußersten Falle kam sogar das Mittel der
Zensur zum Einsatz, wie das filmische Schaffen des heute in erster Linie als
Schriftsteller bekannten Fernando Vallejo illustriert.
Dieser hatte während der 70er Jahre im mexikanischen Exil zwei inhaltlich
anspruchsvolle, jedoch technisch dilettantische Filme zum Thema der
Violencia
gedreht, die den Unmut der kolumbianischen Regierung erregten. Im ersten Fal-
le handelte es sich um das Werk
Crónica roja
(1977) über den legendären
ban-
dolero
Efraín González und dessen Manipulation durch die Politik. Der zweite
Film mit dem Titel
En la tormenta
(1979) hatte dagegen die "klassische"
Vio-
lencia
und den dualistischen Kampf der Parteianhänger zum Thema. Aufgrund
seiner schonungslosen Kritik an der Rolle der Eliten während der 50er und 60er
Jahre wurde
Crónica roja
in Kolumbien verboten, während Beauftragte der Re-
gierung den Vertrieb von
En la tormenta
massiv behinderten, indem sie Druck
auf Verleiher und Kinobesitzer ausübten.197 Aus diesem Grund sind beide Wer-
196
Vgl.
Sánchez, Isabel.
1987. Prólogo. In: dies. (Hg.).
Cine de la Violencia
. Bogotá:
Univ. Nacional de Colombia, S. 14.
197
Hierzu
Pulecio, Enrique.
1999b. Cine y violencia en Colombia. In: Zea Gloria/Álvaro
Medina (Hgg.).
Arte y violencia en Colombia desde 1948
. Bogotá: Norma, S. 161 ff. Luisa
Fernanda Acosta merkt diesbezüglich an, dass die so genannte
Junta de Censura
des Kom-
321
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
321
ke bis heute nur einer kleinen Minderheit von Cineasten bekannt. Trotz ihrer
interessanten Thematik kommen sie daher als erinnerungskulturelle Medien
kaum in Betracht.
Für die folgende Analyse der filmischen
Violencia
-Repräsentationen spielen
auch weitere Werke wie
Canaguaro
(1981),
El potro chusmero
(1985) oder
Técnicas de duelo
(1988) keine Rolle. Da sie entweder kaum Zuschauer fanden
oder die Epoche der
Violencia
lediglich als Rahmenhandlung für weitgehend
apolitische und unterhaltungsbetonte Geschichten nutzen, sind sie als Medien
des kollektiven Gedächtnisses ebenso wenig geeignet wie die zensierten Filme
Fernando Vallejos. Gleiches gilt auch für die Verfilmung des bekannten Romans
El Cristo de espaldas
, die Jorge Alí Triana im Jahre 1987 für das kolumbiani-
sche Fernsehen unternahm. Dabei handelt es sich zwar um eine werkgetreue
Umsetzung von Eduardo Caballero Calderóns
Violencia
-Roman. Obwohl der
Film zwei nationale Preise in der Kategorie "bestes Fernsehprogramm" erhielt,
blieben die Zuschauerzahlen weit hinter den Erwartungen der Produzenten zu-
rück.198
Im Gegensatz dazu erwies sich die Kino-Adaptation von Gustavo Álvarez
Gardeazábals
Cóndores no entierran todos los días
(1984) für kolumbianische
Verhältnisse geradezu als Kassenschlager. Seine Produktionskosten ließen sich
letztlich aber nur durch die auf internationalen Festivals gewonnen Preise de-
cken. Obwohl sich der Regisseur Francisco Norden ebenfalls kritisch gegenüber
den damaligen Eliten gab, war
Cóndores
einer der bis dato erfolgreichsten Filme
in Kolumbien.199 Zwar hatte auch Norden mit finanziellen Engpässen zu kämp-
fen. Am Ende erhielt er aber doch die notwendige Förderung durch das
FOCINE, was Isabel Sánchez zufolge in erster Linie auf den großen zeitlichen
Abstand zur
Violencia
zurückzuführen war. Sie weist darauf hin, dass gegen
Mitte der 80er Jahre bereits eine relativ offene Diskussion über Gründe und Fol-
gen des Bürgerkrieges möglich war, wenngleich explizite Schuldzuweisungen
nach wie vor ein Tabu darstellten.200 In diesem Sinne weist die filmische Um-
munikationsministeriums auch weitere Filme über die
Violencia
verboten hat. Hierzu führt sie
das Beispiel des Films
Raíces de piedra
(1961) an, der heute praktisch vergessen ist. Vgl.
Acosta, Luisa Fernanda.
1998. El cine colombiano sobre la Violencia, 1946–1958. In:
Signo
y Pensamiento
, Nr. 32 (Januar–Juni, Bogotá), S. 32.
198
Zu diesem Film sind kaum Daten erhältlich. Einen kurzen Überblick liefert folgende
Online-Datenbank: http://www.proimagenescolombia.com.
199
Vgl.
Semana
, Nr. 132, 10. Dezember 1984, S. 25.
200
Vgl.
Sánchez.
1987, S. 14.
322
322
Kapitel III
setzung von
Cóndores
gewisse Parallelen zur allmählichen Thematisierung der
Violencia
in den Schul- und Geschichtsbüchern der 80er Jahre auf. Es war dies
die Zeit, in der sich eine heftige Kontroverse zwischen den traditionellen Histo-
rikern und den Anhängern der
Nueva Historia
abspielte (siehe Kap. II, 5.2). Der
Film illustriert somit den Verlust der Wirkungskraft des alten Diskurses von
"Frieden, Versöhnung und Vergessen".
Nichtsdestotrotz sahen sich die Macher von
Cóndores
mit erheblichen finan-
ziellen, personellen und organisatorischen Schwierigkeiten konfrontiert, was
oftmals mit der Verweigerungshaltung offizieller Stellen zusammenhing. Der
Soziologe Carlos Castillo Cardona sieht daher in Nordens Werk noch heute ei-
nes der mutigsten Projekte der kolumbianischen Filmgeschichte, auch wenn es
der Regisseur am Ende nicht gewagt hat, die tieferliegenden Ursachen der
Vio-
lencia
anzugehen. In einer aktuellen Zeitungskolumne schreibt er hierzu: "[Nor-
den] logró hacer un largometraje sobre una novela de Gustavo Álvaro Gardeá-
zabal,
Cóndores no entierran todos los días
, que daba a conocer los terribles la-
dos de nuestras violencia, en un momento en que todos preferían callar e igno-
rar."201
Der vorläufig letzte Kinofilm zur Thematik der
Violencia
ist
Confesión a
Laura
(1991) von Jaime Osorio. Im Unterschied zu
El río
und
Cóndores
behan-
delt Osorio die historischen Umstände des Bürgerkrieges allerdings nur indirekt,
da er sich auf die intimen Aspekte einer Dreiecksbeziehung während des 9. Ap-
ril 1948 in Bogotá konzentriert. Obwohl die gewalttätigen Ereignisse des
bogo-
tazo
lediglich den Rahmen der Handlung bilden, fließen zahlreiche Verweise auf
den historischen und politischen Kontext der Epoche ein. Interessanterweise
stufte das Nachrichtenmagazin
Semana
in einem kürzlich erschienen Artikel
über die Zukunft des kolumbianischen Kinos Osorios Film ebenso wie
Cóndores
und
El río
als Meilensteine der nationalen Filmgeschichte ein. Auf einer Liste
der zehn wichtigsten kolumbianischen Filme aller Zeiten rangiert
Cóndores
auf
dem ersten,
Confesión
auf dem zweiten und
El río
auf dem zehnten Platz.202
Diese vor allem an qualitativen und filmhistorischen Kriterien ausgerichtete
Rangfolge sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der kolumbianische
Film noch immer eine Randerscheinung ist. Selbst die einstmals so erfolgrei-
chen mexikanischen oder argentinischen Produktionen haben längst vor der
Übermacht Hollywoods kapituliert. Kolumbianische Filme überspringen auf-
201
El Tiempo
vom 13. Juli 2006.
202
Vgl.
Semana
, Nr. 1270, 4. September 2006, S. 68 f.
323
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
323
grund fehlender Unterstützung und unzureichender Vermarktung selten die
Marke von 100.000 Zuschauern, wohingegen US-amerikanische und europä-
ische Produktionen gegenwärtig einen Marktanteil von bis zu 90% erreichen.203
In den letzten Jahren ist diesbezüglich jedoch ein positiver Wandel zu sehen.
Als eines der erfolgreichsten Gesetzesprojekte der vergangenen zehn Jahre gilt
gemeinhin die im Jahre 2003 erlassene
Ley del Cine
, die vom Kulturministerium
erarbeitet worden war, um an die Filmförderung des 1992 aufgelösten FOCINE
anzuknüpfen.204 Obwohl selbst die Kritiker der Regierung darauf hinweisen,
dass es sich um eines der erfolgreichsten Instrumente offizieller Kulturpolitik
handelt, ist seine Existenz bereits wieder bedroht. Das Gesetz beruht im Wesent-
lichen auf Steuererleichterungen für Förderer und Produzenten von Kinofilmen.
Da die aktuelle Regierung jedoch mit dem Gedanken spielt, diese Steuererleich-
terungen teilweise rückgängig zu machen, wäre auch die Kontinuität des ge-
genwärtigen "Filmbooms" in Frage gestellt.205 Dabei war es seit dem Erlass des
Gesetzes zu einer beispiellosen Ausweitung nationaler Produktionen gekommen,
so dass im Jahre 2006 bereits 15 neue Filme kurz vor ihrer Vollendung stan-
den.206 Ein Film (
Soñar no cuesta nada
, 2006) übersprang sogar die Marke von
1.200.000 Zuschauern207, während andere Produktionen wie
Rosario Tijeras
(2005) oder das US-kolumbianische Gemeinschaftswerk
María llena eres de
gracia
(2004) im Ausland große Erfolge feierten.208 Seit 1991 hat sich aller-
dings kein einziger Filmemacher mehr mit der historischen
Violencia
beschäf-
tigt. Bevorzugte Themen waren hingegen der bewaffnete Konflikt der Gegen-
wart, das Problem des Drogenhandels sowie die alltägliche Gewalt in den Städ-
ten.
Die Bedeutung von Kinofilmen als Medien des kollektiven Gedächtnisses er-
gibt sich wie im Falle der bisher behandelten Quellen aus ihrer vermuteten Brei-
203
Vgl. die seit 1996 erhobenen Statistiken des kolumbianischen Filmförderungsfonds
PROIMAGENES: http://www.proimagenescolombia.com.
204
Siehe
Ley 814
vom 2. Juli
2003. In: http://www.proimagenescolombia.com/archivos/
leydecineparatodos.pdf (18. Februar 2008). Seit Einführung des Gesetzes stieg der Anteil ko-
lumbianischer Filme auf über 10%.
205
Vgl.
Semana
, Nr. 1270, 4. September 2006, S. 64 ff.
206
Vgl. ebd.
207
Der bis heute erfolgreichste kolumbianische Film bleibt jedoch
La estrategia del cara-
col
(1993) von Sergio Cabrera, den über 1.500.000 Zuschauern sahen. Vgl. hierzu die Statis-
tiken von PROIMAGENES: http://www.proimagenescolombia.com.
208
Vgl. ebd.
324
324
Kapitel III
tenwirkung. Wie am Beispiel der
Violencia
-Literatur und der Theaterstücke ge-
zeigt, ist die Konstitution und Verbreitung von kollektiven Vergangenheitsver-
sionen überhaupt erst durch Medien möglich. Zur Übermittlung solches Wissens
an nachfolgende Generationen eignen sich etwa mündliche Erzählungen oder
schriftliche Aufzeichnungen. Zur Vermittlung kollektiver Geschichtsversionen
an weite Kreise der Gesellschaft erweisen sich indes Radio, Fernsehen, Internet
und Film als effektivere Medien. In beiden Fällen ist festzustellen, dass das In-
dividuum nur über Kommunikation und Medienrezeption Zugang zu soziokultu-
rellen Wissensordnungen und Schemata erhält. Weil sich – Astrid Erll folgend –
die Funktion so genannter Zirkulations-Medien jedoch auf die synchrone Ver-
breitung von Informationen beschränkt und sie in der Regel schnell durch ande-
re, aktuellere Medienangebote ersetzt werden, weisen diese Medien eher selten
eine zusätzliche Dimension als Gegenstand des kollektiven Gedächtnisses
auf.209
Im Hinblick auf Fernsehfilme, Websites oder Pamphlete ist diese Feststellung
sicherlich zutreffend, da es sich um Medien handelt, deren Austauschbarkeit ei-
nes ihrer wesentlichen Merkmale darstellt. Die zur Etablierung eines Erinne-
rungsortes notwendige zeitliche Konstanz geht solchen Medien weitgehend ab.
Die in ihnen verwendeten Codes und Symbole zeigen allerdings, welche Ober-
flächenmerkmale die Vergangenheitsversionen innerhalb einer Erinnerungsge-
meinschaft aufweisen. So sind etwa Kinofilme über die Kultur der jugendlichen
sicarios
von Medellín derart durchsetzt mit sprachlichen Regionalismen und
spezifischem Kontextwissen, dass nur "Eingeweihte" sämtliche Anspielungen zu
entschlüsseln vermögen. Ein gutes Beispiel hierfür sind etwa die Filme
Rodrigo
D: No futuro
(1988),
La vendedora de rosas
(1998) sowie
Sumas y restas
(2005) von Víctor Gaviria. Wie verhält es sich jedoch mit den weiter oben ange-
führten Kinofilmen?
Während die
Violencia
-Literatur, die Testimonial-Literatur und die Theater-
stücke über einen langen Zeitraum wirken konnten, erwiesen sich die meisten
Kinofilme als flüchtige Momentaufnahmen, die schnell in Vergessenheit gerie-
ten. Im Gegensatz dazu konnten einige
Violencia
-Romane durch die Schule eine
recht hohe Breitenwirkung entfalten, während das Theater zwar kaum institutio-
nelle Unterstützung erhielt, sich dank eines geschickten Marketings jedoch sogar
auf internationaler Ebene durchsetzen konnte. Die Filme
El río
,
Cóndores
und
Confesión
stellen insofern Ausnahmen dar, als sie entgegen dem negativen
209 Vgl.
Erll.
2005, S. 137 ff.
325
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
325
Trend sowohl in kommerzieller als auch in künstlerischer Hinsicht erfolgreich
waren. Im Unterschied zu den meisten nationalen Produktionen werden sie bis
heute regelmäßig im Fernsehen ausgestrahlt und in Programmkinos gezeigt. Sie
können daher zumindest im Ansatz nach erinnerungskulturellen Kriterien, das
heißt im Hinblick auf ihre funktionalen Merkmale, untersucht werden. Die Fil-
me stellen weiterhin das Spiegelbild verschiedener Epochen dar. An ihnen zeigt
sich, wie der seit 1957 von den Eliten konstruierte Diskurs von "Frieden, Ver-
söhnung und Vergessen" gegen Mitte der 60er Jahre allmählich an Wirkung ver-
liert und seit Mitte der 80er Jahre offen in Zweifel gezogen wird. Etwa zeit-
gleich mit dem zweiten Band von
La Violencia en Colombia
im Jahre 1964 in
die Kinos gebracht, stellt vor allem
El río
ein wichtiges zeitgeschichtliches Do-
kument dar.
Insgesamt dienen die im Folgenden analysierten Kinofilme jedoch in erster
Linie der Verdeutlichung spezifischer erinnerungskultureller Herausforderungs-
lagen, wie sie sich in der filmischen Handlung, den Figuren, Kommentaren und
dem Umgang mit der Geschichte manifestieren. Als zeitlich konstante Träger
des kollektiven Gedächtnisses kommen sie hingegen nur bedingt in Frage. Denn,
wie eine im Auftrag des Kulturministeriums im Jahre 2000 durchgeführte reprä-
sentative Umfrage verdeutlicht, war die Haltung des kolumbianischen Publi-
kums gegenüber dem nationalen Kino bis vor kurzem noch von Ablehnung ge-
prägt. So bemängelten über 71% der Befragten, dass sich die kolumbianischen
Filmemacher zu sehr mit Themen wie Armut und Gewalt beschäftigen würden.
Weiterhin sei das Kino zu stark an regionalspezifischen Themen ausgerichtet. In
Bezug auf den erinnerungskulturellen Wert der Filmproduktionen ist vor allem
bedenklich, dass die Befragten keinen einzigen kolumbianischen Film vor 1984,
das heißt vor dem Erscheinen von
Cóndores
, für nennenswert hielten. In der von
El Tiempo
unter dem Titel
El cine que les gusta a los colombianos
veröffentlich-
ten Umfrage dominierten stattdessen aktuelle Hollywoodfilme.210
4.1
El río de las tumbas
von Julio Luzardo
In der Geschichte des kolumbianischen Films kommt
El río
vor allem aufgrund
seiner Vorbildfunktion große Bedeutung zu.211 So erschien der zweite Film des
210 Vgl.
El Tiempo
vom 21. Juni 2000.
211
Im Folgenden stütze ich mich auf die knappe Darstellung von
Pulecio.
1999a.
326
326
Kapitel III
damals erst 25-jährigen Julio Luzardo (geb. 1938) zu einem Zeitpunkt, als die
Produktion eines Kinofilms nahezu gleichbedeutend mit finanziellem Desaster
war. Bereits ein Jahr zuvor hatte der an der Universität von Kalifornien als Re-
gisseur ausgebildete Sohn eines kolumbianischen Vaters und einer US-
amerikanischen Mutter mit
Tres cuentos colombianos
einen Achtungserfolg er-
rungen. Obwohl der Film seine Produktionskosten wieder einspielte, hatte Lu-
zardo keinen Gewinn gemacht. Dennoch entschied er sich, das zum größten Teil
von seinem Vater geliehene Geld sofort in einen neuen Film zu investieren. Da-
bei wollte er die neueste Audio-Technik und moderne Kameras einsetzen, wie er
es aus den USA gewohnt war. Seine finanzielle Situation erlaubte es ihm aller-
dings nicht, die geplanten Neuerungen in
El río
voll zum Einsatz zu bringen.
Am Ende drehte er den Film mit einer herkömmlichen 35-Millimeter-Kamera
auf Schwarzweiß-Film sowie mit dem in Kolumbien verfügbaren Studioequip-
ment. Als Folge dieser Beschränkungen ist der heutzutage vom so genannten
Patrimonio Fílmico
herausgegebene und restaurierte Film von recht bescheide-
ner Ton- und Bildqualität.212
Obwohl
El río
seinem jungen Regisseur in cineastischen Kreisen viel Aner-
kennung einbrachte und die für die damaligen Verhältnisse stattliche Zahl von
23.000 Zuschauern anlockte, blieb Luzardo auch diesmal kein wirklicher kom-
merzieller Erfolg vergönnt.213 Wie er selbst einem Bekannten gegenüber er-
wähnte, konnte damals so gut wie kein Regisseur damit rechnen, dass sein Film
sich länger als drei Wochen in den Kinos hielt.214 Trotz zahlreicher Hindernisse
und Krisen blieb Luzardo dem Film bis heute treu und schaffte es immer wieder,
Geldgeber für seine Projekte zu finden. Darüber hinaus betätigt er sich gegen-
wärtig als Werbefilmer, Dokumentarist, Filmtechniker und Universitätsdozent.
El río
sollte jedoch sein einziger Spielfilm zum Thema der
Violencia
bleiben.
Obwohl in den 60er Jahren erste Programmkinos wie zum Beispiel die noch
heute existierende
Cinemateca
in Bogotá entstanden waren, hatten es kolumbia-
nische Produktionen schwer, gegen die Konkurrenz aus Europa und Lateiname-
rika zu bestehen. Während im kommerziellen Kino die großen Hollywood-
Produktionen dominierten, konzentrierte sich das Programmkino auf den italie-
212 Siehe
Luzardo, Julio (Regie).
1964.
El río de las tumbas
. Kolumbien: Cine TV Films.
213 Vgl. ders. 1976.
Negociando el peligro. El "gran negocio" de largometrajes colombia-
nos
. In: http://www.enrodaje.cinecolombiano.com/4negociando_el_peligro.htm (18. Februar
2008).
214
Vgl.
Bernal, Augusto.
2002.
Nuestros años maravilloso. El largometraje colombiano,
1962–2002
. In: www.patrimoniofilmico.org.co/docs/conferenciaIII.rtf (18. Februar 2008).
327
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
327
nischen Neorealismus, das brasilianische
Cinema Novo
sowie verschiedene
Werke argentinischer oder kubanischer Provenienz. Insbesondere der revolutio-
näre Impetus des kubanischen Kinos beflügelte seit Anfang der 60er Jahre die
jungen kolumbianischen Filmemacher und regte sie an, soziale, politische und
historische Themen zu behandeln.215
Julio Luzardos Spielfilm über die
Violencia
ist in diesem Kontext mit anderen
sozialkritischen Produktionen der 50er und 60er Jahre vergleichbar, wie etwa
Los Inundados
(1962) des Argentiniers Fernando Birri oder der in Mexiko ge-
drehte
Los olvidados
von Luis Buñuel (1950). Für Kolumbien war es indes ein
Novum, dass ein Filmemacher ein soziales bzw. politisches Thema in Spielfilm-
länge aufgegriffen hatte.216 Bei den meisten Vorgängerfilmen hatte es sich um
leichte Komödien oder regionalistische Melodramen ohne Bezug zur sozialen
Wirklichkeit gehandelt. Auch wenn
El río
keine konkreten Aussagen über die
Verantwortlichkeiten während der
Violencia
macht, geschweige denn reale Orte
oder Personen namentlich erwähnt, handelt es sich aufgrund seiner Thematik
doch um ein Pionierwerk des so genannten
Violencia
-Films.217
Die Handlung ist schnell erzählt: In der ersten Szene wird gezeigt, wie mehre-
re düster dreinblickende Männer eine stark blutende, gefesselte und offensicht-
lich misshandelte Person in einem Wagen abtransportieren. Der Wagen hält
schließlich in der Mitte einer Brücke über einem mächtigen Fluss. Aus der Ferne
ist zu sehen, wie die Übeltäter den mittlerweile leblosen Körper des Gefesselten
in den Fluss werfen. In den nächsten zwanzig Minuten fängt die Kamera die
Atmosphäre eines namenlosen Dorfes im Departement Huila ein. Es handelt
sich um einen Ort, in dem die tropische Hitze den Rhythmus des Lebens be-
stimmt und die Einwohner sämtlicher Vitalität beraubt. Fern von der Darstellung
eines idyllischen Landlebens zeigt Luzardo ein von Trägheit, Ereignislosigkeit
und Misstrauen geprägtes Ambiente. Unruhe macht sich erst breit, als eines Ta-
ges ein Leichnam an das Ufer des nahen Flusses gespült wird. Obwohl der Mann
eindeutig ermordet wurde, ziehen es die Autoritäten des Dorfes, der Bürgermeis-
ter, der Pfarrer und der Polizist vor, von "Selbstmord" zu sprechen. Aus diesem
Grund darf der Tote auch nicht in geweihter Erde begraben werden. Als jedoch
weitere Leichname angespült werden, lässt sich diese Selbsttäuschung immer
215 Vgl.
Pulecio.
1999a.
216
Luisa Fernanda Acosta zufolge beschäftigte sich der von der Regierung zensierte Film
Raíces de piedra
(1961) als erster mit den sozialen Folgen der
Violencia
. Vgl.
Acosta.
1998,
S. 32.
217
Für eine kurze Zusammenfassung des Genres siehe ebd.
328
328
Kapitel III
schwerer aufrecht erhalten. Offensichtlich wird hingegen, dass das Auftauchen
der meist gefesselten Körper mit der politischen Gewalt im Lande zu tun hat.
Dabei schrecken die an das Morden gewohnten Täter nicht einmal davor zurück,
die eigenen Leute umzubringen. In einer klaren Anspielung auf die allmähliche
Ausbreitung einer "Gewaltkultur" zeigt Luzardo am Ende des Films, wie die
Gewalttäter, bei denen es sich um ehemalige Guerilleros der Llanos handelt, ei-
nen "Feigling" aus ihren Reihen ermorden.
Wie bereits angedeutet, kommen Kinofilme als Medien des kollektiven Ge-
dächtnisses im Sinne der von Astrid Erll vorgeschlagenen Kategorien nur be-
dingt in Betracht. In diesem Zusammenhang muss jedoch berücksichtigt werden,
dass
El río
aufgrund seines besonderen Status als "Gründerwerk" bis heute in
Programmkinos zu sehen ist und von zahlreichen Kommentatoren mit Attributen
wie "mythisch" oder "legendär" belegt wird.218 Dies hat vor allem mit den von
Julio Luzardo eingeführten technischen Neuerungen und der sozialkritischen
Thematik zu tun. So ist der Film zwar unter Inanspruchnahme nationaler Tech-
niker und Studios entstanden, dennoch weisen Schnitttechnik, Beleuchtung so-
wie der Umgang mit der Kamera auf die filmische Ausbildung des Regisseurs in
den USA hin. Seine Spannung bezieht der Film weniger aus einer Aneinander-
reihung konkreter Handlungen und Ereignisse, sondern vielmehr aus der Schaf-
fung eines zunehmend bedrückenden Klimas von Schweigen und Furcht. Anstatt
auf vordergründige Effekte zu setzen, legt Luzardo Wert auf die genaue Zeich-
nung seiner Charaktere.
Nicht zuletzt aus diesem Grund dürfte
El río
auch als Sprungbrett für mehrere
der heute bekanntesten Schauspieler und Theatermacher Kolumbiens gedient
haben.219 Da der Film von Filmemachern, Schauspielern und Kulturschaffenden
im Allgemeinen immer wieder als Bezugspunkt genannt wird, rechtfertigt sich
auch eine Einstufung als Medium des kollektiven Gedächtnisses. Es handelt sich
zwar offensichtlich um ein Werk mit geringerer Breitenwirkung als die meisten
neueren Filme. Nichtsdestotrotz spielte der Film eine kaum zu unterschätzende
Rolle für die Entwicklung des kolumbianischen Kinos. So gilt er noch immer als
zentraler Referenzpunkt, wenn es um Filme mit sozialkritischem, historischem
218
Siehe z. B.
Bernal.
2002,
La Nación
vom 10. Oktober 2006 sowie
El Tiempo
vom 20.
Oktober 2007. In letzterem Artikel geht es vor allem um Luzardos aktuellen Film mit dem
Titel
La ministra inmoral
, der 2008 in die Kinos kommen soll.
219
Vgl.
Semana
, Nr. 1270, 4. September 2006, S. 69. Hervorzuheben sind hier insbeson-
dere Santiago García und Carlos José Reyes, die auch im Abschnitt über das kolumbianische
Theater Erwähnung finden (Kap. III, 3).
329
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
329
oder politischem Hintergrund geht. Für die meisten nachfolgenden Produktionen
hatte
El río
einen regelrecht strukturierenden Effekt, wie etwa Enrique Pulecio
betont.220 In Anbetracht dieser beträchtlichen "internen" Wirkung ist der ein-
gangs erwähnte Kommentar Pulecios, dass nämlich
El río
den Beginn der Mo-
derne im kolumbianischen Film darstelle, durchaus gerechtfertigt.
Ebenso wie die anderen
Violencia
-Filme kann
El río
darüber hinaus Auf-
schluss über die damalige Perzeption der politischen Lage geben. Indem er das
Schweigen der Dorfbevölkerung zum Thema macht, spielt er indirekt auf den
von den Politikern des
Frente Nacional
verordneten Diskurs von "Frieden, Ver-
söhnung und Vergessen" an. Insofern beleuchtet Luzardo einen Aspekt, den an-
dere Filmemacher erst wieder in den 80er Jahren aufgreifen sollten. Weiterhin
ist es allen
Violencia
-Filmen gemeinsam, dass sie zwar kein getreues Abbild der
sozialen und historischen Wirklichkeit liefern. Sie leisten jedoch einen Beitrag
zum tieferen Verständnis der Epoche, indem sie die dem Medium Film eigen-
tümlichen Codes und Symbole zur Konstruktion einer Gegen-Erinnerung einset-
zen. Dabei wird das historische Material auf eine neue Art kombiniert, wobei die
meisten Filmemacher ganz bewusst eine Perspektive "von unten" anstreben.
Luisa Fernanda Acosta zufolge zeigen daher viele
Violencia
-Filme die negativen
Folgen des Bürgerkriegs auf die ländliche Zivilbevölkerung. Ihr Interesse gelte
dem "unbekannten" Kolumbien der Campesinos und
gamonales
. Der vorherr-
schende Tenor dieser Filme sei außerdem durchgehend pessimistisch, was sich
daran ablesen lasse, dass immerhin 16 von insgesamt 18
Violencia
-Filmen einen
"permanenten Kriegszustand" diagnostizieren, also der These von der "Gewalt-
kultur" folgen.221
Obwohl die schlechte Infrastruktur, eine fehlende Kinokultur sowie erhebli-
che finanzielle Probleme dazu beitrugen, dass
El río
als Medium des kollektiven
Gedächtnisses seine Zirkulationsfunktion nur bedingt erfüllen konnte, zeigt die
Erforschung der Speicher- und der Abruffunktion ein etwas differenzierteres
Bild. Indem Luzardo auf reale Ereignisse während der
Violencia
rekurriert, die
von der offiziellen Geschichtsschreibung verschwiegen wurden, leistet er einen
wichtigen Beitrag gegen das Vergessen. Nicht zuletzt aus diesem Grund kann
der Film als Erinnerungsort im Sinne Pierre Noras gelten, selbst wenn er heute
nur einer kleinen Minderheit von Kinobegeisterten, Filmemachern, Intellektuel-
len oder Studenten bekannt ist. In diesen Kreisen ruft
El río
jedoch geradezu
220 Vgl.
Pulecio.
1999a.
221
Vgl.
Acosta.
1998, S. 40.
330
330
Kapitel III
euphorische Reaktionen hervor. Sein "mythischer" Charakter beruht für viele
Zuschauer darauf, dass er einen einmaligen Ausschnitt aus der sozialen Wirk-
lichkeit einer kleinen Gemeinde im Departement Huila wiedergibt, deren Ge-
schichte ansonsten dem Vergessen anheimgefallen wäre. Für andere stehen da-
gegen die technischen und erzählerischen Innovationen im Vordergrund.222
Dabei deutet einiges darauf hin, dass Luzardos Film trotz der recht allgemei-
nen Oberflächenhandlung im Wesentlichen ein Produkt der politischen Situation
der 60er Jahre ist. So erzählt der Regisseur im Gespräch mit dem befreundeten
Soziologen und Cineasten Augusto Bernal, dass er ursprünglich einen Film über
die berüchtigte Gefängnisinsel La Gorgona drehen wollte. Als er jedoch durch
Zufall im Departement Huila in das kleine Dorf Villa Vieja gelangte, faszinierte
ihn die Geschichte der Region so sehr, dass er seine Pläne spontan änderte. Lu-
zardo fand heraus, dass die Zone bereits in den 50er Jahren eine Hochburg linker
Guerillas war, was schließlich im Mai 1964 zur Bombardierung der unweit ge-
legenen Siedlung Marquetalia und zur anschließenden Gründung der FARC
führte. Unter dem Eindruck der damaligen militärischen Operationen in den De-
partements Huila und Tolima, die unter dem Decknamen
Plan Lazo
gemeinsam
mit US-Militärberatern durchgeführt wurden, wählte Luzardo das Dorf Villa
Vieja schließlich als Drehort aus. Die Dorfbewohner hatten ihm zuvor erzählt,
dass sich ihr Gebiet "schon immer" im Krieg befunden habe und vor allem wäh-
rend der "klassischen"
Violencia
unzählige Leichen die Ufer des Magdalena-
Flusses gesäumt hätten.223
Im Ergebnis liefert Luzardo eine fast soziologisch anmutende Studie über die
"Kultur der Angst und des Schweigens". Obwohl vordergründig alles in Ord-
nung scheint, und das Dorf wie ein vergessener Ort aus einer anderen Zeit an-
mutet, breitet sich allmählich eine unheilschwangere Atmosphäre aus. Trotz ge-
legentlicher komischer Einlagen, wenn etwa ein regionaler Politiker in einer Re-
de an die Menschen des Dorfes behauptet "einer der ihren, ein Campesino" zu
sein, steht das negative Ende von Anfang an fest. Zwar erwähnt Luzardo mit
keinem Wort die Parteizugehörigkeit der namenlosen Mörder. Es ist jedoch of-
fensichtlich, dass die Autoritäten des Dorfes über den politischen Hintergrund
der Taten informiert sind. Anstatt eine Aufklärung zu verlangen und die Bestra-
fung der Schuldigen zu fordern, wiegeln sie daher ab und versuchen, die Ermor-
deten als "Selbstmörder" zu deklarieren. In einer bezeichnenden Szene stößt et-
222 Siehe hierzu
Bernal.
2002.
223
Vgl. ebd.
331
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
331
wa der Polizist des Dorfes einen Leichnam wieder zurück in den Fluss, mit dem
Hinweis, er sei für den Bürgermeister des nächsten Ortes bestimmt.
Auf die bewährten Stilmittel diverser
Violencia
-Romane und Theaterstücke
greift auch Luzardo gelegentlich zurück, indem er seine Figuren und Settings
schablonenhaft und idealtypisch gestaltet. Wie beispielsweis in
El Cristo de es-
paldas
oder
El día señalado
spielt sich auch in
El río
die gesamte Handlung in
einem namenlosen kleinen Dorf ab, das stellvertretend für alle ländlichen Ort-
schaften Kolumbiens während der 50er Jahre steht. In idealtypischer Weise rep-
räsentieren die Hauptpersonen des Films die wichtigsten Institutionen und Ak-
teure der Dorfgemeinschaft: der liberale Bürgermeister, der Sekretär des Bür-
germeisters, der Polizist, der Regional-Politiker, der konservative Pfarrer, der
Trunkenbold sowie der geistig minderbemittelte Landarbeiter. Anstatt sich je-
doch in der Darstellung holzschnittartiger Figuren und vorhersehbaren Handlun-
gen zu erschöpfen, folgt die Kamera den alltäglichen Verrichtungen der Men-
schen. Dies führt dazu, dass der Film vergleichsweise wenige Dialoge enthält
und von Landschaftsaufnahmen, Bewegungen, Gesten, vor allem aber von der
Musik lebt. Insbesondere volkstümliche Gitarrenstücke, Cumbias und Boleros
kommen zum Einsatz; oft als Begleitung für Tanzeinlagen und Festumzüge.
Neben dem indirekten Hinweis auf die Folgen des bewaffneten Konflikts, der
sich den Dorfbewohnern lediglich durch die angespülten Leichen vergegenwär-
tigt, enthält der Film auch einen sarkastischen Seitenhieb auf die politische Kul-
tur des Landes. So ruft der erwähnte Regional-Politiker den auf dem Marktplatz
versammelten Dorfbewohner von einem Balkon aus zu, sie sollten sich für die
Wahlen registrieren lassen und ihn wählen, damit er sie im Kongress repräsen-
tieren könne. Obwohl er der Menge alle möglichen Versprechungen macht, gilt
deren Interesse jedoch in erster Linie den Schönheitsköniginnen, die sich auf
dem gegenüberliegenden Balkon dem Volk präsentieren. Als auch noch das
Mikrofon des Politikers versagt, geht seine Rede völlig unter. Später jedoch, auf
einem Festbankett, trifft der enttäuschte Politiker mit den lokalen Autoritäten
zusammen. Diese versichern ihm, dass er für eine entsprechende Gegenleistung,
nämlich die Vergabe von Posten, mit den Wahlstimmen des Dorfes rechnen
könne. Diese Anspielung auf die damals wie heute weit verbreiteten Praktiken
des Klientelismus wird jedoch nicht weiter vertieft.
Insgesamt ist festzuhalten, dass sich Luzardo in
El río
vor allem darum be-
müht hat, die bedrückende Atmosphäre der
Violencia
einzufangen. Es geht im
weniger darum, konkrete Personen, Institutionen oder gar Strukturen anzupran-
gern. Im Jahre 1964 wäre er damit wahrscheinlich sowieso auf unüberwindliche
332
332
Kapitel III
Schwierigkeiten gestoßen, wie das Beispiel des drei Jahre zuvor zensierten
Films
Raíces de piedra
zeigt. Zusätzlich waren die Dreharbeiten von den Vorfäl-
len in Marquetalia und der Intensivierung des Kampfes gegen die linksgerichte-
ten Guerillas überschattet. Auch aus diesem Grund ist anzunehmen, dass sich
Luzardo mit detaillierten politischen und historischen Kommentaren eher zu-
rückhielt. Sowohl filmgeschichtlich als auch in Bezug auf seinen Beitrag als
Stimme gegen den offiziellen Diskurs des Vergessens ist der Film jedoch er-
wähnenswert. Zwar handelte es sich nicht um die Grundlegung des so genannten
Violencia
-Films, wie vielfach behauptet wird.224 Nichtsdestotrotz konnte
El río
bis Mitte der 80er Jahre als einzig ernst zu nehmender Vertreter dieser Gattung
gelten.
4.2
Cóndores no entierran todos los días
von Francisco Norden
Nach dem Achtungserfolg von
El río
kamen noch weitere Filme über die
Vio-
lencia
in die Kinos. Keinem Regisseur gelang es jedoch, mehr als 100.000 Zus-
chauer zu mobilisieren, geschweige denn einen nachhaltigen Einfluss auf die
Entwicklung des kolumbianischen Kinos auszuüben. Die Gründe für den aus-
bleibenden Erfolg lagen weniger in der kontroversen Thematik der
Violencia
,
sondern vielmehr in der immer prekärer werdenden finanziellen Situation vieler
Filmemacher. Dabei hatte das kolumbianische Publikum durchaus ein Interesse
an nationalen Themen entwickelt. Lediglich die dilettantische Form der Umset-
zung sowie die zumeist pessimistische Grundstimmung hielten die Zuschauer
ab, sich derartige Filme anzusehen. Wie die seit 1996 von dem staatlich-privaten
Filmförderungsfond PROIMAGENES225 ermittelten Zuschauer-Statistiken zei-
gen, gelang es bisher nur den stark unterhaltungsbetonten Filmen, eine größere
224
Diese Ehre gebührt laut Luisa Fernanda Acosta dem heute nahezu unbekannten Werk
Esta fue mi vereda
(1960) von Gonzalo Canal Ramírez. Der Schriftsteller und Journalist tat
sich während des
Frente Nacional
vor allem durch seine kritischen Kommentare in der Presse
hervor (siehe Kap. II, 2.3). Sein 25-minütiger Film enthält jedoch keinerlei politische Stel-
lungnahmen. Es handelt sich um die technisch dilettantische, oberflächliche und handlungs-
arme Darstellung der Verwüstung eines Dorfes. Vgl.
Acosta.
1998, S. 32.
225
PROIMAGENES wurde im Jahre 1997 im Rahmen der so genannten
Ley General de
Cultura
(
Ley 397
) geschaffen, um kolumbianische Filmprojekte zu fördern. Im Unterschied
zum aufgelösten FOCINE setzt das als
Fondo Mixto de Promoción Cinematográfica
bezeich-
nete Institut stärker auf private Investoren und internationale Co-Produktionen. Dazu im
Internet: http://www.proimagenescolombia.com.
333
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
333
Anzahl von Zuschauern in die Kinos zu locken. Im besten Falle dienten dabei
sozialkritische Themen als Hintergrund, wie etwa in den Erfolgsfilmen
La estra-
tegia del caracol
und
Soñar no cuesta nada
. Tiefergehende und allzu pessimisti-
sche Darstellungen empfand das Publikum hingegen oft als schwer verdaulich,
da sie nach einhelliger Meinung nur das negative Image Kolumbiens im In- und
Ausland perpetuieren würden.226
Aus diesem Grund sahen sich Regisseure wie Francisco Norden vor die He-
rausforderung gestellt, ein nationales Thema so zu behandeln, dass kritische As-
pekte eine Symbiose mit den folkloristischen bzw. humoristischen Vorlieben des
Publikums eingingen. Norden, der im Jahre 1929 in Brüssel geboren wurde, war
ebenso wie Julio Luzardo im Hinblick auf seine finanziellen Möglichkeiten und
seine Ausbildung privilegiert.227 Als Sohn einer kolumbianischen Mutter und
eines österreichischen Vaters wuchs er in elitären Kreisen in Bogotá auf, wo er
nach dem Erwerb des AbitursArchitektur studierte. Nach einer Vertiefung sei-
nes Studiums in Paris und London kehrte er 1955 nach Bogotá zurück und wid-
mete sich dem Journalismus. Im Jahre 1958 entschied er sich, nach Paris zu ge-
hen, um dort Film zu studieren. Seit 1960 hielt er sich dann dauerhaft in Kolum-
bien auf und begann seine Arbeit als Dokumentarfilmer. Nach einer Reihe von
relativ erfolglosen Dokumentationen und Kurzfilmen gelang ihm im Jahre 1974
mit
Camilo el cura guerrillero
(1974) schließlich der Durchbruch. Die einein-
halbstündige Dokumentation über das Leben und Sterben des Priesters und Gue-
rilleros Camilo Torres (1929–1966) brachte ihm zahlreiche Preise und viel
Anerkennung in cineastischen Kreisen ein. Seinen ersten Kinofilm in Spielfilm-
länge sollte Norden allerdings erst zehn Jahre später fertigstellen. Im Jahre 1984
brachte er mit
Cóndores
sein Meisterwerk in die Kinos, das ihm weitere Preise
auf den Festivals von Biarritz, Chicago, Huelva, Havanna, Bogotá und Figueira
da Foz einbrachte.228 Mit über 150.000 Zuschauern in den ersten zwei Wochen
erwies sich der Streifen zudem als kommerzieller Erfolg, wenngleich die Preis-
226 Vgl.
El Tiempo
vom 21. Juni 2000.
227
Bei der folgenden biografischen Darstellung stütze ich mich auf
Tocancipá, Luz Stel-
la.
2004.
Francisco Norden
. In: http://www.lablaa.org/blaavirtual/biografias/nordfran.htm
(18. Februar 2008).
228
Norden, Francisco.
1984.
Cóndores no entierran todos los días
: Kolumbien: Procinor
u. a. Weitere Informationen finden sich in der Datenbank des staatlich-privaten Filmförde-
rungsfonds PROIMAGENES: http://www.proimagenescolombia.com.
334
334
Kapitel III
gelder zur Deckung der Kosten mehr beitrugen als die Einnahmen an den Kino-
kassen.229
Nach einer Reihe von Produktionen für das in- und ausländische Fernsehen,
wobei es sich wieder vorrangig um Dokumentationen handelte, brachte Norden
zuletzt
El trato
(2006) in die Kinos. Die Geschichte über den Fluch des Drogen-
handels und die unmoralische Vermarktung eines negativen Kolumbien-Bildes
im Ausland erwies sich jedoch im Vergleich zu
Cóndores
als kommerzieller
Misserfolg. Gerade einmal 80.000 Zuschauer sahen den Film.230
Im Vergleich zur Romanvorlage weist
Cóndores
nur kleinere Abweichungen
auf. So konzentriert sich der Film auf die Zeit zwischen 1948 und 1957, wohin-
gegen die Jugendjahre León María Lozanos weitgehend unerwähnt bleiben. Le-
diglich dem zu Beginn des Romans thematisierten Massaker der Liberalen an
den Konservativen kommt auch im Film zentrale Bedeutung zu. Neben den
Ereignissen des 9. April 1948 stellt es eines derjenigen Motive dar, die León
Marías späteren Hass auf die Liberalen begründen. Dem Roman in seiner linea-
ren Struktur und seinen prägnanten Formulierungen folgend, ist Francisco Nor-
dens filmische Umsetzung sehr werkgetreu geraten. Im Vergleich zu vielen ko-
lumbianischen Filmen der 60er und 70er Jahre mag
Cóndores
in Bezug auf die
Erzählstruktur zwar wenig originell erscheinen. Entscheidend für den großen
Erfolg bei Publikum und Kritikern waren jedoch die schauspielerischen Leis-
tungen sowie die technische Umsetzung. Private Sponsoren und das FOCINE
hatten es dem Regisseur und seinem Team ermöglicht, die Bild- und Tonqualität
an internationale Standards anzugleichen. Des Weiteren trug auch die intelligen-
te Überarbeitung der Romanvorlage wesentlich zur positiven Rezeption des
Films bei. Dadurch, dass die Drehbuchschreiber Francisco Norden, Dunav
Kuzmanich, Antonio Montaña und Carlos José Reyes einige Situationen zuspitz-
ten, andere wegließen und schließlich die Figuren stärker überzeichneten als im
Roman, wurde der Film einem breiteren Publikum zugänglich.231
Für das Thema dieser Arbeit besonders relevant war jedoch die Tatsache, dass
sämtliche politischen und historischen Anspielungen des Romans erhalten blie-
ben. Von dem Massaker der Liberalen bis hin zum legendären Beschwerde-
schreiben der liberalen Politikerin Gertrudis Potes an die Zeitung
El Tiempo
,
enthält der Film alle diesbezüglich relevanten Verweise. Eine deutliche Abände-
229
Vgl.
Semana
, Nr. 132, 13. November 1984, S. 25 u.
Revista Diners
, Nr. 436, Juli 2006,
S. 43 f.
230
Vgl. die Statistiken von PROIMAGENES: http://www.proimagenescolombia.com.
231
Das komplette Drehbuch ist abgedruckt bei
Sánchez.
1987, S. 81–143.
335
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
335
rung erfuhr hingegen das Ende. Während im Roman die Beerdigung León
Marías dazu dient, auf die Wiederholung der Gewaltexzesse hinzuweisen, stellt
der Film die Ermordung des
pájaro
-Führers lediglich als vorhersehbaren Rache-
akt und Schlusspunkt dar. Von den Kugeln eines (im Film unbekannten) Wider-
sachers getroffen, stürzt León María zu Boden und stirbt nach kurzem Todes-
kampf. Ob sich Norden aus politischen oder kommerziellen Gründen zur Abän-
derungen des ungleich pessimistischeren Romanendes entschieden hat, ist nicht
bekannt.
Trotz der leicht entschärften Filmfassung bot
Cóndores
noch immer genügend
Stoff für kontroverse Diskussionen über eine Revision der problematischen
Vergangenheit, was aber nicht die von Norden erwarteten Reaktionen auslöste.
Zwar erhielt sein Werk im In- und Ausland viel Lob und Anerkennung. Eine
kritische Debatte, wie sie sich der Regisseur ursprünglich erhofft hatte, blieb
indes aus. Während Bücher wie
La Violencia en Colombia
, das Theaterstück
Guadalupe años sin cuenta
und selbst die Romanvorlage des Films hart geführte
Diskussionen provoziert hatten, erwies sich das Thema der
Violencia
gegen Mit-
te der 80er Jahre bereits als relativ "harmlos". Weder der Staat noch die Politiker
waren nunmehr daran interessiert, die "Notwendigkeit des Vergessens" zu beto-
nen, wie sie es in den 50er und 60er Jahren getan hatten. Stattdessen begannen
die ersten Vertreter der
Nueva Historia
den alten Geschichtsdiskurs systema-
tisch zu dekonstruieren. Gleichzeitig machte jedoch die fehlende Institutionali-
sierung eines Gedenkens an den Bürgerkrieg offenbar, dass der frühere "Diskurs
des Vergessens" deutliche Spuren im historischen Gedächtnis Kolumbiens hin-
terlassen hatte. Im Unterschied zu den 50er und 60er Jahren ging seit Mitte der
80er Jahre nämlich keine akute "Gefahr" mehr von der
Violencia
aus. Die neue
Bedrohung für Staat und Gesellschaft lag vielmehr in den erstarkenden Drogen-
kartellen, deren Führer zunehmend politische Positionen beanspruchten.232 Ob-
wohl die filmische Umsetzung von
Cóndores
aufgrund ihrer eindeutigen politi-
schen Stellungnahmen zwar von einigen extrem konservativen Politikern kriti-
siert wurde, hielten sich die Anfeindungen insgesamt doch in Grenzen. Wie
232
Prominentes Beispiel hierfür war Pablo Escobar, Chef des "Kartells" von Medellín. Zu
Beginn der 80er Jahre betrieb dieser seine Drogengeschäfte unter dem Deckmantel diverser
politischer und sozialer Aktivitäten. Kurzzeitig war er sogar Kongress-Abgeordneter
(1982/83). Die Figur des 1993 von der Polizei erschossenen Drogenbarons wird bis heute
widersprüchlich beurteilt. Hierzu
Salazar, Alonso.
2001.
La parábola de Pablo
. Bogotá: Pla-
neta.
336
336
Kapitel III
Francisco Norden in einem Interview mit
Semana
erklärt, sehr zu seinem Leid-
wesen:
Cóndores no entierran todos los días tuvo mucho éxito, pero confieso que me sentí frustrado
al ver que, salvo en dos o tres artículos ditirámbicos de cronistas especializados, no suscitaba
ningún debate, ninguna protesta airada, ningún comentario enérgico por parte de comentaris-
tas políticos, de los sociólogos o de los historiadores. Era una película inspirada en una muy
conocida novela sobre la violencia política colombiana de los años 50. Y su evocación, me
pareció entonces, la convertía en un tema de actualidad. Pero no fue así.233
Auch wenn die filmische Umsetzung von
Cóndores
nicht in der Lage war,
eine breite öffentliche Diskussion über die Neubewertung der Vergangenheit
anzustoßen, ist ihr erinnerungskultureller Stellenwert nicht zu unterschätzen.
Aufgrund der permanenten Präsenz im Fernsehen und in den Programmkinos
dürfte der Film bis heute wesentlich mehr als die damals gemessenen 150.000
Zuschauer erreicht haben. Im Hinblick auf seine Zirkulations- und Abruffunkti-
on kann er deshalb als mustergültiges Beispiel eines erinnerungskulturellen Me-
diums gelten. Wie bereits im Zusammenhang mit der Romanvorlage erwähnt,
assoziieren manche Kolumbianer bis heute den Kondor – das kolumbianische
Wappentier – mit Tod und Verderben (siehe Kap III, 2.1.3). Genauso stehen die
in
Cóndores
beschriebenen
pájaros
für eine ununterbrochene Tradition der Ge-
waltanwendung durch illegale bewaffnete Gruppen. So bringt eine große Zahl
kolumbianischer Leser jene ursprünglich in der Region Norte del Valle aktiven
Verbrecherbanden heutzutage mit den Gräueltaten der Paramilitärs in Zusam-
menhang. Dies legen zumindest aktuelle Buchtitel wie etwa Guido Piccolis
El
sistema del pájaro
nahe, die sich vorwiegend mit der Gewalt der 80er und 90er
Jahre beschäftigen.234 Die darin verwendete Terminologie entspringt indes zum
Teil dem Konflikt der 50er und 60er Jahre, was auf den großen Einfluss erinne-
rungskultureller Medien in akademischen bzw. belesenen Kreisen schließen
lässt. In Bezug auf die größtenteils unbelesene und wenig gebildete Gesamtbe-
völkerung ist eine solche Schlussfolgerung freilich unzulässig bzw. rein spekula-
tiv.235
Die aktuelle Verwendung bestimmter Termini und Figuren ("Cóndor", "pája-
ro", "sapo", "pasar al papayo", "godo", "boletear" etc.) aus der Zeit der
Violen-
cia
, wie sie maßgeblich durch Filme wie
Cóndores
popularisiert wurden, deutet
233
Semana
, Nr. 1261, 3. Juli 2006, S. 78 f.
234
Piccoli, Guido.
2
2005.
El sistema del pájaro. Colombia, paramilitarismo y conflicto
social.
Bogotá: ILSA.
235
Vgl.
Arnove.
1980, S. 385 ff. u.
Ministerio de Cultura.
2006.
337
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
337
auch auf etwas anderes hin. Entgegen der akademischen Tendenz, den bewaff-
neten Konflikt der Gegenwart nicht als bloße Fortsetzung der
Violencia
(Dis-
kontinuitätsthese) zu betrachten, hält sich insbesondere unter Filmemachern,
Essayisten, Journalisten und Schriftstellern die Überzeugung von einem konti-
nuierlichen und unabänderlichen Gewaltzustand. Ob diese Intellektuellen jedoch
tatsächlich als Hauptverantwortliche für die gesellschaftliche Verfestigung eines
negativen Kolumbien-Bildes gelten können, wie dies etwa Eduardo Posada
Carbó behauptet, ist indes sehr zu bezweifeln.236 Denn selbst wenn der Einfluss
der Presse, der Literatur, des Theaters und des Kinos sehr hoch angesetzt wird,
so ist er doch im Vergleich zum Fernsehen, dem eigentlichen "Massenmedium"
in Kolumbien, heutzutage eher von nachgeordneter Bedeutung. Während die
Besitzer der Tageszeitungen bis in die 50er Jahre noch das Monopol über die
Berichterstattung und die Meinungsbildung innehatten, hat sich dieser Zustand
seit den 60er Jahren graduell verändert. Von einer kritischen Darstellung histori-
scher, politischer oder sozialer Themen im nationalen Fernsehen kann folglich
in diesen Tagen genauso wenig die Rede sein, wie zu Beginn der 60er Jahre.
Stattdessen dominieren regierungsnahe Nachrichtensendungen und seichte
tele-
novelas
. Kolumbianische Kinofilme, die ohnehin kaum mehr als 10% Marktan-
teil erreichen, Romane, die keine Leser finden und Zeitungen, die aufgrund
mangelnder Werbeaufträge vom Konkurs bedroht sind (siehe
El Espectador
),
stellen vielmehr "Inseln" im
mainstream
der leichten Unterhaltung dar. Der be-
schleunigte Prozess der Medienkonzentration hat diesen Zustand noch verschärft
(siehe Kap. II, 2). Filmen wie
Cóndores
ist es somit zu verdanken, dass zumin-
dest die Zuschauer kleinerer Sendeanstalten (z. B.
Señal Colombia
237) gelegent-
lich einen Ausschnitt der "vergessenen" Geschichte Kolumbiens zu sehen be-
kommen.
4.3
Confesión a Laura
von Jaime Osorio
Als vorläufig letzter Film, in dem das Thema der
Violencia
eine Rolle spielt, gilt
Confesión a Laura
(1991) von Jaime Osorio. Obwohl der Streifen ebenfalls auf
internationalen Festivals vertreten war, mehrfach ausgezeichnet wurde und auf
236 Siehe
Posada Carbó.
2007, S. 27–43.
237
Dieser staatliche Sender ist von den Inhalten her etwa dem deutsch-französischen
arte
vergleichbar.
338
338
Kapitel III
das einhellige Lob der Kritiker stieß, war ihm in Kolumbien kein finanzieller
Erfolg beschieden. So hatte
Confesión
mit knapp 20.000 verkauften Eintrittskar-
ten sogar noch weniger Zuschauer als Julio Luzardos bereits behandeltes Früh-
werk
El río de las tumbas
.238 Dass ich den Film im Rahmen dieser Darstellung
dennoch erwähne, hat im Wesentlich mit seiner hohen künstlerischen Qualität
zu tun. Wie bereits mehrfach erwähnt, spielen die ästhetischen Aspekte eines
Werkes in Bezug auf seine Eignung als Medium des kollektiven Gedächtnisses
zwar nur eine untergeordnete bzw. überhaupt keine Rolle. Dennoch ist im Falle
von Osorios Film zu berücksichtigen, dass es sich ähnlich wie bei
El río
um ein
filmhistorisch bedeutendes Werk handelt, das bis heute in Programmkinos und
im Fernsehen gezeigt wird.239
Obwohl
Confesión
kein unmittelbarer Erfolg vergönnt war, sprach sich nach
seiner Premiere schnell herum, dass es sich um einen für kolumbianische Ver-
hältnisse recht anspruchsvollen Film handelte. Vor allem über Programmkinos
und die Ausstrahlung im Fernsehen wurde der Film in der Folge doch noch ei-
nem größeren Publikum bekannt. Als Favorit der Filmkritiker taucht er zudem
bis heute in sämtlichen nationalen Ranglisten auf vorderen Plätzen auf. Viele
halten
Confesión
sogar für den besten kolumbianischen Film aller Zeiten.240
Nichtsdestotrotz ist seine tatsächliche Breitenwirkung aufgrund fehlender Mess-
daten kaum adäquat zu erfassen. Anzunehmen ist jedoch, dass er insgesamt we-
sentlich mehr Zuschauer gefunden hat als etwa
El río
. Im Vergleich zu neueren
Produktionen, wie zum Beispiel
La estrategia del caracol
(1.500.000 Zu-
schauer),
Soñar no cuesta nada
(1.200.000 Zuschauer) oder
Rosario Tijeras
(1.000.000 Zuschauer) kann der Publikumserfolg von
Confesión
dennoch als
eher mittelmäßig bzw. gering beurteilt werden. Als einer der Hauptgründe für
den kommerziellen Misserfolg ist die unzureichende Werbestrategie anzuse-
hen.241
Jaime Osorio, der im Jahre 1947 in Viterbo (Caldas) geboren wurde und im
September 2006 in Girardot (Cundinamarca) starb, galt spätestens seit den 80er
238
Vgl. hierzu
Luzardo, Julio.
2005.
Manual para hacer cine en Colombia
. In:
http://www.enrodaje.cinecolombiano.com/4manual_para_hacer_cine_en_colombia.htm (18.
Februar 2008).
239
Siehe
Osorio, Jaime (Regie).
1991.
Confesión a Laura
. Kolumbien u. a.: TVE u. a.
240
Siehe z. B.
Semana
, Nr. 1270, 4. September 2006, S. 68 f. oder
Perea, Juan Miguel.
2004.
Cine colombiano: el milagro que no cesa
. In: http://www.hika.net/zenb160/
H16046.HTM (18. Februar 2008).
241
Vgl.
Luzardo.
2005.
339
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
339
Jahren als einer der bedeutendsten Filmemacher und Produzenten Kolum-
biens.242 Zwar hatte er nur wenige Male selbst Regie geführt, war jedoch als
Produzent und Berater an zahlreichen Erfolgsfilmen wie zum Beispiel
María
llena eres de gracia
(2004) beteiligt. Obwohl er ursprünglich Jura studiert hatte,
geriet er in den 70er Jahren auf Umwegen zum Film. Zunächst betätigte er sich
als Werbefilmer, entwickelte jedoch bald schon das Bedürfnis, politische The-
men anzugehen. Aus Solidarität mit der gestürzten Regierung Salvador Allendes
in Chile (1974) entstand so im Jahre 1975 der halbdokumentarische Streifen
¡Chile no se rinde carajo!
. Anschließend folgten verschiedene Dokumentatio-
nen sowie Beteiligungen an Spielfilm-Projekten befreundeter Regisseure. Von
entscheidender Bedeutung war in dieser Phase der für das kolumbianische Fern-
sehen gedrehte Film
De vida o muerte
(1987), der die Kernhandlung von
Confe-
sión
vorwegnimmt. Es geht darin um eine intime Dreiecksbeziehung, die sich
am 9. und 10. April 1948 in Bogotá abspielt und das Leben der Protagonisten für
immer verändert. Überzeugt vom Potenzial dieser Geschichte, versuchte Osorio
anschließend, Geldgeber für eine Kinofassung ausfindig zu machen. Da sich das
FOCINE zu diesem Zeitpunkt in einer schweren Krise befand und kurz nach der
Fertigstellung von
Confesión
tatsächlich aufgelöst wurde, erwies sich dieses Un-
terfangen als schwierig. Unterstützung fand Osorio am Ende in Spanien und
Kuba. Insbesondere aufgrund der niedrigeren Kosten drehte er den Film komp-
lett in Havanna. Nach dem kommerziellen Misserfolg von
Confesión
brachte er
kurz vor seinem Tod nur noch einen einzigen Spielfilm in die Kinos (
Sin Ampa-
ro
, 2005), der allerdings mit weniger als 2000 Zuschauern ebenfalls zu einem
finanziellen Desaster geriet.243
Da sich die Rahmenhandlung auf die Ereignisse des 9. und 10. April 1948 be-
schränkt, kann
Confesión
nicht als
Violencia
-Film im eigentlichen Sinne ange-
sehen werden. Dass er dieses Attribut zumindest teilweise verdient, hängt vor
allem mit einigen Kommentaren seiner Protagonisten zusammen, die auf die
schlimmen Folgen des Aufstands anspielen. Zunächst konzentriert sich die
Handlung auf Santiago und Josefina; ein älteres Paar, das in einer kleinen Woh-
nung in der Nähe der
Biblioteca Nacional
in Bogotá lebt. Als plötzlich der
bo-
gotazo
losbricht, übernehmen Truppen der Regierung das Gebäude der Biblio-
242
Bei der biografischen Darstellung stütze ich mich auf
Fundación Patrimonio Fílmico
Colombiano
. 2006.
Jaime Osorio Gómez, 1947–2006
. In: http://www.patrimonio-
filmico.org.co/noticias/067.htm (18. Februar 2008).
243
Vgl. die statistischen Daten von PROIMAGENES: http://www.proimagenes-
colombia.com.
340
340
Kapitel III
thek, um sich dort zu verschanzen. Schwere Kämpfe toben genau vor dem Haus
des Paares, während sich Scharfschützen auf den Dächern postieren. Trotz der
gefährlichen Situation befiehlt Josefina ihrem Mann, der Nachbarin Laura eine
selbst gebackene Torte als Geburtstagsgeschenk hinüber zu bringen. Zunächst
weigert sich Santiago, gibt jedoch schließlich dem Drängen seiner dominanten
Frau nach. Als er Laura die Torte übergeben will, erschüttert eine schwere Ex-
plosion das Zentrum der Stadt. Santiago stürzt und ruiniert dabei das Geschenk.
Die allein stehende Laura freut sich dennoch über den unverhofften Besuch und
bittet Santiago, noch eine Weile zu bleiben. Schließlich sei es im Moment viel
zu gefährlich, die Straße zu überqueren. Obwohl Josefina ihrem Mann zuvor
versichert hatte, dass der Aufstand schnell zu Ende sein würde, folgt Santiago
dem Rat der Nachbarin.
Im Laufe mehrerer Stunden kommt er Laura näher und erkennt, dass er die
letzten 20 Jahre mit der falschen Frau verbracht hat. In Lauras Gegenwart öffnet
er sich und gesteht sich seine erbärmliche Ehe mit der herrschsüchtigen Josefina
ein. Diese ahnt bereits die beginnende Affäre ihres Mannes und unternimmt al-
les, um die beiden zu kontrollieren. Trotz ständiger Telefonanrufe sowie eines
über die Straße gespannten Seils, das der Nachrichtenübermittlung dient, kann
Josefina jedoch nicht persönlich eingreifen. Die immer heftiger werdenden
Kämpfe auf der Straße unterbinden jede Möglichkeit eines persönlichen Zu-
sammentreffens. Als die Regierungstruppen eine Ausgangssperre verhängen,
ruft Josefina ein letztes Mal an und fordert ihren Mann auf, unverzüglich nach
Hause zu kommen. Daraufhin verlässt dieser die Wohnung gegen den Willen
Lauras. Ein Schuss fällt. Beide Frauen eilen zum Fenster und sehen einen
Leichnam auf der Straße liegen. Doch weder Josefina noch Laura können sich
aufgrund des Kreuzfeuers nähern, um den Toten zweifelsfrei zu identifizieren.
Für beide scheint jedoch klar, dass es sich um den erschossenen Santiago han-
delt. In diesem Moment klingelt es an Lauras Tür und Santiago steht vor ihr. Die
beiden küssen sich und schlafen miteinander. Am Ende gibt Laura Santiago den
Rat, sich über den Hinterausgang davon zu machen, um ein neues Leben zu be-
ginnen. Am nächsten Tag, dem 10. April, steht die tränenüberströmte Josefina
vor Lauras Tür und gibt sich selbst die Schuld am Tod ihres Mannes. Laura
umarmt sie wortlos. In der letzten Szene ist zu sehen, wie Santiago durch die
Straßen des zur Ruhe gekommenen Bogotás schlendert.
Obwohl
Confesión
ein sehr persönlicher Film ist, spielen die politischen Um-
stände des 9. April eine wichtige Rolle in den Dialogen der Akteure. So präsen-
tiert Osorio die Figur des Santiago zu Beginn des Films als treuen Anhänger der
341
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
341
konservativen Regierung von Präsident Mariano Ospina Pérez. Als mittlerer
Staatsbeamter fühlt er sich dem Präsidenten verpflichtet und zeigt daher nur we-
nig Verständnis für den Aufstand der wütenden Massen. In Wirklichkeit hat er
jedoch keine eigene Meinung in Bezug auf die sozialen und politischen Folgen
des
bogotazo
. Zwar hören Josefina und er pausenlos die Radionachrichten, in
denen von einer Ausweitung der Unruhen auf nationaler Ebene die Rede ist. Jo-
sefina ist jedoch der Meinung, dass es sich um keine außergewöhnliche Situati-
on handle und die Regierung den Aufstand innerhalb kürzester Zeit niederge-
schlagen habe. Dieser Ansicht schließt sich auch Santiago an, obwohl er sich
innerlich keineswegs sicher ist. Erst als er mit Laura zusammentrifft, erkennt er,
dass er die letzten 20 Jahre niemals einen eigenen Gedanken formuliert hat, son-
dern stets nur den Ideen Josefinas gefolgt ist. Als er sieht, dass Laura sich vor
den schwerwiegenden Konsequenzen der Ermordung Gaitáns fürchtet, gesteht
auch er sich seine Angst ein.
Am Ende des Films zeigt Osorio, wie der Tod Gaitáns das Leben dreier zu-
nächst unpolitischer und völlig unbeteiligter Menschen von Grund auf verändert.
Aus einer sehr persönlichen Perspektive schafft er damit eine Allegorie auf die
Umwälzungen, die der Tod des liberalen Politikers für die Mehrheit der Kolum-
bianer bedeutete. Ähnlich wie in Enrique Buenaventuras
Los papeles del infier-
no
hat der Konflikt der Parteianhänger auch Auswirkungen auf die städtische
Mittelklasse, obwohl der Krieg in den folgenden Jahrzehnten überwiegend auf
dem Land toben sollte. Zwar bietet
Confesión
keinen direkten Hinweis auf die
Epoche der
Violencia
, die fatalen Folgen des Attentats vom 9. April 1948 deuten
sich jedoch an, wenn Laura und Santiago offen über ihre Ängste und die unge-
wisse Zukunft sprechen.
Was den Film bis heute als wichtiges erinnerungskulturelles Medium aus-
zeichnet sind weniger die persönlichen Gespräche und die offiziellen Radiosen-
dungen, sondern die Anfangssequenz. So zeigt Osorio in den ersten fünf Minu-
ten Originalaufnahmen des
bogotazo
sowie den Ausschnitt einer Rede Gaitáns.
Nach der Einblendung der Anfangstitel ist schließlich der damals von den An-
hängern des
caudillo
gebrauchte Schlachtruf im Original-Ton zu hören: "¡Con
Gaitán a la carga!"
Im Unterschied zu
Cóndores
oder
El río
beschäftigt sich
Confesión
kaum mit
den historischen Hintergründen der
Violencia
. Zudem bleiben die Aufnahmen
der Anfangssequenz unkommentiert und spielen für die weitere Handlung nur
eine untergeordnete Rolle. Auch für die Vorgänge auf der Straße vor dem Haus
wird keine nähere Erklärung geboten. Im formalen Sinne wie auch in Bezug auf
342
342
Kapitel III
seine zu vermutende Breitenwirkung ist Osorios Film daher das am schwächsten
ausgeprägte erinnerungskulturelle Medium der in diesem Abschnitt analysierten
Werke. Da die übrigen
Violencia
-Filme jedoch noch weniger Zuschauer erreicht
haben und aufgrund der staatlichen Zensur nicht einmal Cineasten bekannt sind,
verdient
Confesión
zumindest eine Erwähnung.
Angesichts des insgesamt recht schwach entwickelten kolumbianischen Kinos
sowie einer nur rudimentär vorhandenen Filmindustrie ist es durchaus bemer-
kenswert, dass Osorios Film bis heute in Programmkinos und im Fernsehen ge-
zeigt wird. Trotz seines kommerziellen Misserfolgs zu Beginn der 90er Jahre
gilt er vielen Filmkritikern als stellvertretend für die vergangene Ära des an-
spruchsvollen Kinos. Eine Epoche, die mit der Auflösung des FOCINE definitiv
zu Ende ging.244 Nach dem Ausscheiden der staatlichen Förderung sahen sich
viele Filmemacher gezwungen, private Förderer im In- und Ausland zu suchen.
Da die Produktion eines Kinofilms im Allgemeinen als unrentabel und risiko-
reich galt, entstanden seit den 90er Jahren vor allem wieder leichte Komödien
und Unterhaltungsfilme, denen bessere Kommerzialisierungschancen zugespro-
chen wurden. Erst allmählich lernten Regisseure und Drehbuchautoren, auch
ernste Themen den Vorstellungen des Publikums anzupassen. Mit Ausnahme
des aus Medellín stammenden Filmemachers Víctor Gaviria (
Rodrigo D: No
futuro
,
La vendedora de rosas
,
Sumas y restas
) ist es seit Beginn der 90er Jahre
jedoch keinem Regisseur mehr gelungen, einen politisch provokanten, der sozia-
len Wirklichkeit entsprechenden Film auf die Leinwand zu bringen. In diesem
Sinne ist sogar Julio Luzardos Frühwerk
El río
weit politischer als die meisten
heutigen Produktionen.
Obwohl sich der kolumbianische Film im Vergleich zu den bisher behandel-
ten Bereichen der Literatur und des Theaters als besonders schwach und frag-
mentarisch erweist, sind doch Ansätze einer kritischen Reflexion über die Ge-
schichte sichtbar. Der große Film über die Epoche der
Violencia
steht jedoch
noch immer aus. Die Realisierung eines solchen Projekts dürfte auch in Zukunft
mit großen Schwierigkeiten verbunden sein, trotz
Ley del Cine
.
244
Zur Epoche des FOCINE siehe
Pulecio.
1999b, S. 166–179.
343
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
343
5.
D
IE
V
IOLENCIA
IN DER
K
UNST
Im Vergleich zu den bisher behandelten Repräsentationen der
Violencia
ist die
Rolle der bildenden Kunst am schwierigsten zu beurteilen. Das Problem liegt in
der Unmöglichkeit, die Breitenwirkung und die Rezeption eines Kunstwerks
präzise zu messen. Im Falle der Literatur konnte immerhin noch von einem brei-
ten Einfluss über die Schule ausgegangen werden, wobei die Interpretation der
Texte stets kontextabhängig und unter Bezugnahme auf das Medienecho erfolg-
te. In den Bereichen des Theaters und des Films hat sich die Einordnung der Re-
zeptionsseite bestenfalls als Annäherung erwiesen. Lediglich anhand statisti-
scher Messwerte, Umfragen und Presseartikel war es möglich, den erinnerungs-
kulturellen Stellenwert ausgesuchter
Violencia
-Repräsentationen einigermaßen
zu bestimmen. Im Gegensatz dazu liegen über die Rezeption der Kunstwerke
nur die schriftlichen Äußerungen einiger Intellektueller und Kunstsachverstän-
diger vor, das heißt in Form von kunsthistorischen Abhandlungen, Ausstel-
lungskatalogen oder Meinungskolumnen. Da sich viele Kunstwerke zudem einer
eindeutigen Interpretation entziehen, unterliegt ihre Beurteilung als Medium des
kollektiven Gedächtnisses objektiven Einschränkungen.
Anders als die meisten Romane, Filme und Theaterstücke enthalten längst
nicht alle Kunstwerke über die
Violencia
konkrete politische Botschaften. Ob-
wohl ihr Thema häufig der Bürgerkrieg der 40er und 50er Jahre ist, haben sich
beispielsweise abstrakte Maler wie Marco Ospina (1912–1983) nicht auf eine
figürliche Darstellung der Schrecken des Bürgerkrieges eingelassen. Aus diesem
Grund sind Bilder wie sein bekanntes
Díptico de la violencia
(1955) kaum dazu
geeignet, als Medium des kollektiven Gedächtnisses zu fungieren. Eines der Ba-
siskriterien, nämlich die Transformation historischer Ereignisse in einen von
möglichst vielen Rezipienten verstandenen Code, erfüllen derartige Werke nicht.
Zwar wird dem Betrachter über den Titel und die Gestaltung ein allgemeiner
Eindruck über das Geschehen bzw. die Epoche vermittelt. Die potenziellen Deu-
tungen sind jedoch unendlich und variieren von Person zu Person. Im Gegensatz
zu den stark normativen, interpretatorisch eindeutigen und fast schon "erzieheri-
schen" Werken mancher Romanschriftsteller, Theaterautoren und Filmregisseu-
re, sind abstrakte Gemälde und Plastiken deshalb viel zu vage.
Als Quellen kommen besonders jene Kunstwerke in Betracht, die in den
Print-, Film- und elektronischen Medien vervielfältigt wurden und werden, wo-
durch sie eine beträchtliche Reichweite erlangen. Dem Historiker Rolf Reichhart
zufolge können solcherart reproduzierte Bilder eine wichtige Quelle für die poli-
344
344
Kapitel III
tisch-soziale Kommunikationsgeschichte darstellen. An ihnen lasse sich ablesen,
welche historischen Sichtweisen und kollektiven Wahrnehmungen in einer be-
stimmten Epoche vorherrschten. Sie geben uns weiterhin Hinweise auf Sinnbil-
dungsmuster, ihre Strukturen und Veränderungen. Darüber hinaus sind sie nicht
nur Indikatoren, sondern zugleich auch wichtige Instrumente im Kampf um die
Deutungsmacht. Sie dienen unter anderem dazu, Meinungen kundzutun, sich zu
rechtfertigen bzw. zu verteidigen, den Gegner anzugreifen, spezifische Lebens-
erfahrungen zu deuten, politische Gefolgschaft zu mobilisieren und kollektives
Bewusstsein zu prägen.245
Dass der Kunst eine bedeutende Rolle im Hinblick auf eine kritische Interpre-
tation und Repräsentation der
Violencia
zukommt, steht außer Frage. In diesem
Sinne beklagt zum Beispiel Gonzalo Sánchez, dass der historische Bürgerkrieg
in Kolumbien zu wenig institutionelle Anerkennung gefunden habe. Lediglich in
den Bereichen der Literatur, des Theaters und insbesondere der Kunst sei es ei-
nigen kritischen Geistern gelungen, den Diskurs des Schweigens zu durchbre-
chen. Nichtsdestotrotz sieht Sánchez darin noch keine ernsthafte Herausforde-
rung für die "von oben" dekretierte Politik des Vergessens. Dafür sei der Bereich
der bildenden Kunst viel zu elitär und hermetisch.246 Im Gegensatz dazu weist
sein Historiker-Kollege Eduardo Posada Carbó darauf hin, dass die
Violencia
sehr wohl Spuren im historischen Gedächtnis hinterlassen habe. Wie auch
Sánchez führt Posada Carbó hierbei vor allem die Malerei an, deren bekannteste
Vertreter wie Alejandro Obregón (1920–1992) und Fernando Botero (geb. 1932)
sich ziemlich ausgiebig mit Krieg und Gewalt beschäftigt hätten. Im Gegensatz
zu Sánchez sieht er darin jedoch keine künstlerische oder gesellschaftliche Not-
wendigkeit, sondern vielmehr einen Missstand. Die Vielzahl "exzessiver" Ge-
walt-Repräsentationen hätte nur dazu beigetragen, das negative Image Kolum-
biens im In- und Ausland zu verstärken.247 Ganz wie zu Beginn der 60er Jahre,
als Obregóns
La Violencia
(1962) einen Skandal auslöste und sogar im Kon-
gress über das Bild debattiert wurde (siehe Kap. II, 2.1), stößt die Verbindung
von Kunst und Gewalt heutzutage noch immer auf Widerstände.
Trotz zahlreicher Versuche von Seiten der konservativen Eliten, des Staates
und der Kirche, unliebsame Künstler zum Schweigen zu bringen und ihre Werke
245
Vgl.
Reichhardt, Rolf.
2
2006. Bild- und Mediengeschichte. In: Eibach, Joa-
chim/Günther Lottes (Hgg.).
Kompass der Geschichtswissenschaft
. Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht, S. 219 f.
246
Vgl.
Sánchez.
2006, S. 83 f., 98 f. u. 96.
247
Vgl.
Posada Carbó.
2007, S. 21 ff. u. 27.
345
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
345
zu zensieren, setzte sich die Gewalt als zentrales Thema der bildenden Kunst in
Kolumbien durch. Dabei zeigt sich, dass selbst während der repressiven 40er,
50er und 60er Jahre viele Künstler das Thema der
Violencia
behandelten. Sogar
eher apolitische Maler wie Enrique Grau (1920–2004) oder Marco Ospina wag-
ten sich in dieser Zeit an kontroverse Themen. Heute, zu Beginn des 21. Jahr-
hunderts, stellt die Gewalt noch immer die thematische Achse im Werk vieler
junger Künstler dar, wohingegen die revisionistische Selbstdarstellung Kolum-
biens als tolerantes und demokratisches Land in diesem Bereich insgesamt eher
auf Ablehnung stößt. Aktuelle Themen sind beispielsweise die diffuse Gewalt-
kultur, die "Entführungsindustrie", die korrumpierende Macht der Drogenöko-
nomie, der anhaltende bewaffnete Konflikt sowie der subjektive Verlust einer
autochthonen Kultur, einhergehend mit dem Phänomen der "Nordamerikanisie-
rung".248
In diesem Kontext ist es schwierig, Trennlinien zu ziehen und relevante Quel-
len ausfindig zu machen. Angesichts der unüberschaubaren Anzahl von Kunst-
werken, die sich in irgendeiner Weise mit dem bewaffneten Konflikt in Vergan-
genheit und Gegenwart beschäftigen, habe ich mich entschieden, nur dezidiert
"politische Kunst" als Bildquelle zu verwerten. Bei den im Folgenden herange-
zogenen Werken handelt es sich somit überwiegend um figürliche Darstellun-
gen, die klare politische und historische Hinweise enthalten. Zumeist entstanden
diese Arbeiten über die historische
Violencia
unter dem Einfluss des deutschen
Expressionismus und des mexikanischen Muralismus im Zeitraum von 1948 bis
ca. Mitte der 60er Jahre.
Dabei wiesen die mexikanischen Meister den kolumbianischen Künstlern der
40er und 50er Jahre einen Weg, der in vielen Fällen vom Marxismus vorge-
zeichnet war. Ebenso wie ihren Vorbildern Diego Rivera, David Alfaro Siquei-
ros und José Clemente Orozco ging es auch den kolumbianischen Malern der
Epoche darum, den öffentlichen Raum mit politischen Themen zu besetzen.
Großformatige Wandgemälde in öffentlichen Gebäuden und auf öffentlichen
Plätzen, die so genannten
murales
, sollten das revolutionäre Potenzial der viel-
fach analphabetischen und ungebildeten Bevölkerung wecken. Dahinter stand
die Überzeugung, dass die idealtypischen Abbilder wichtiger historischer Ereig-
nisse und sozialer Umwälzungen – häufig präsentiert aus der Sicht der Arbeiter
248
Zu den aktuellsten Tendenzen in der bildenden Kunst Kolumbiens siehe die Internet-
Datenbank von
ColArte
(
Biblioteca virtual de arte en Colombia
): www.colarte.com. Diese
enthält daneben auch umfangreiche Informationen zu den Bereichen Theater und Musik.
346
346
Kapitel III
und Campesinos – effektiver als jedes Schulbuch wären. Die von der offiziellen
Geschichtsschreibung ausgesparten Episoden der konfliktreichen Geschichte
wollten die
muralistas
in großflächigen Wandgemälden zeigen.249
Obwohl der Muralismus in Kolumbien begeistert aufgenommen wurde, konn-
te sich dieser Stil dort niemals richtig entfalten; die Rahmenbedingungen waren
völlig andere als in Mexiko. Während die mexikanische Regierung der "institu-
tionalisierten Revolution" (PRI) eine solche Kunstrichtung gezielt förderte und
Einfluss auf Künstler und Werk ausübte, war im erklärtermaßen antikommunis-
tischen Kolumbien kaum an eine öffentliche Präsentation "revolutionärer"
Wandbildnisse zu denken.250 Als absolute Tabu-Themen galten hingegen die
soziale Ungleichheit und die
Violencia
(siehe Kap. II, 2.2). Als etwa der junge
Muralist Ignacio Gómez Jaramillo im Auftrag der Regierung 1937 zwei große
Wandmalereien im
Capitolio Nacional
in Bogotá anbrachte, kam es zum Eklat.
Obwohl sich die Themen (
La liberación de los esclavos
,
La insurección de los
comuneros
) auf die Zeit der Unabhängigkeit bezogen, war den Regierenden der
"universelle Emanzipationsanspruch" der Bilder unangenehm. Umgehend ließen
sie die Bilder daher mit einer Kalkschicht überdecken. Erst 1959 legten Studen-
ten der
Universidad Nacional
die Bilder wieder frei und restaurierten sie.251 Die
meisten der heute noch in Kolumbien vorhandenen
murales
bieten aus diesem
Grund entweder ein "heroisches" Bild der Unabhängigkeitszeit oder sie beschäf-
tigen sich mit regionalen Mythen und dem technologischen Fortschritt. Auf kei-
ner großflächigen Wandmalerei sind hingegen die Grausamkeiten der
Violencia
thematisiert.
Nichtsdestotrotz gelang es einigen Künstlern, den Bürgerkrieg in Form von
Gemälden einem breiteren Publikum vorzuführen. Während beispielsweise im
Museo Nacional
in Bogotá bis heute kein Raum für eine historische Darstellung
der
Violencia
zur Verfügung steht, übernehmen diese Funktion einige der im
darüber liegenden Stockwerk ausgestellten Bilder. Gleiches gilt für die erst seit
249
Zum Muralismus in Kolumbien siehe
Nungesser, Michael.
1997. Bildende Kunst und
Architektur in Kolumbien. In: Altmann, Werner/Thomas Fischer/Klaus Zimmermann (Hgg.).
Kolumbien heute
. Frankfurt a. M.: Vervuert, S. 515 ff.
250
Zur Verbindung von Politik und Kunst in Mexiko siehe
Kloepfer, Rolf.
1992. Die
Entwürfe der "mexikanischen Revolution" in Wandbild und Roman. Formen der Verweige-
rung von Geschichte. In: Harth, Dietrich/Jan Assmann (Hgg.).
Revolution und Mythos
. Frank-
furt a. M.: Fischer, S. 231–265.
251
Vgl.
Martínez Rivera, María Clara.
2004.
Gómez Jaramillo, Ignacio
. In:
http://www.lablaa.org/blaavirtual/biografias/gomeigna.htm (18. Februar 2008).
347
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
347
der Mitte der 80er Jahre als "künstlerisch wertvoll" eingestuften Arbeiten von
Débora Arango (1907–2005), deren Bild mit dem Titel
Justicia
(1944) im letz-
ten Raum der historischen Abteilung des
Museo Nacional
zu sehen ist. Gemein-
sam mit Obregóns
Masacre del 10 de abril
(1948) und dem Porträt
Gaitán
(1948) von Alipio Jaramillo (1913–1999) wird ihr Gemälde allerdings im Zu-
sammenhang mit dem
bogotazo
gezeigt, obwohl seine Thematik eine andere ist.
Es zeigt die demütigende Behandlung einer Prostituierten durch die Polizei. Da-
neben finden sich heutzutage auch die Bilder weiterer "
Violencia
-Maler" in den
wichtigsten Museen des Landes, wobei jedoch eine starke Konzentration kultu-
reller Institutionen in Bogotá, Medellín sowie in geringerem Maße in Cali zu
beobachten ist.
Bei den meisten
Violencia
-Repräsentationen dürfte es sich um Werke han-
deln, die von Kolumbiens gebildeter Mittel- und Oberschicht rezipiert worden
sind. Lediglich die Bilder Obregóns und Boteros sind sowohl auf nationaler als
auch auf internationaler Ebene bekannt. Während Obregón in Kolumbien als
kunstgeschichtlich bedeutendster Maler gilt, genießt Botero aufgrund seines
leichter zugänglichen Stils auf der ganzen Welt Anerkennung. So gilt der aus
Medellín stammende Maler und Bildhauer als populärster lebender Künstler La-
teinamerikas, wie er erst unlängst mit seiner monumentalen Skulpturenausstel-
lung im Berliner Lustgarten und vor dem Brandenburger Tor (September–
November 2007) wieder unter Beweis stellte. Obregón ist im Ausland hingegen
eher Kunstkennern ein Begriff, wenngleich einige seiner Motive in Kolumbien
sogar auf Kalenderblättern und Werbeplakaten vervielfältigt werden.
In Anbetracht der soeben genannten Einschränkungen ist es mein Ziel, die
mögliche Breitenwirkung und die politische Botschaft eines Kunstwerks zu er-
mitteln, um dadurch Hinweise auf seinen erinnerungskulturellen Stellenwert zu
erhalten. Obwohl der Titel dieses Abschnitts ("Die
Violencia
in der Kunst") eine
umfassende Darstellung verschiedener Gattungen insinuiert, konzentriere ich
mich im Folgenden auf die Malerei. Dies hat damit zu tun, dass das Thema der
Violencia
bislang nur höchst selten in Form von Skulpturen, Video-
Installationen oder konzeptueller Kunst umgesetzt worden ist. Ausnahmen stel-
len zum Beispiel die Holzschnitzerei
La huida
(1950) von Hugo Martínez oder
die in Cali aufgestellte Stahlskulptur
Monumento al estudiante
(1958) von Ed-
gar Negret (geb. 1920) dar. Letztere wurde allerdings von Vandalen zerstört.252
252
Vgl.
Medina, Álvaro.
1999a. El arte y la violencia colombiana en la segunda mitad del
siglo XX. In: ders./Gloria Zea (Hgg.).
Arte y violencia en Colombia desde 1948
. Bogotá:
Norma, S. 19 u. 77.
348
348
Kapitel III
In neuerer Zeit tat sich außerdem die Poetin und Künstlerin Gloria Posada (geb.
1967) mit ihrer Arbeit
Mapa
(1990–2000) hervor, die seit dem Jahr 2000 in
mehreren Museen und Galerien zu sehen war.253 Darin stellt sie einen interes-
santen Vergleich zwischen historischer und aktueller Gewalt her. In den Ecken
eines Raumes, dessen Boden aus den großformatigen Fotos menschlicher Hände
besteht, sind mehrere Lautsprecher befestigt. Während die Bilder auf die in den
90er Jahren von Paramilitärs verübten Massaker hinweisen, ertönen aus den
Lautsprechern lebensgeschichtliche Interviews, welche die Künstlerin Jahre zu-
vor mit Überlebenden der historischen
Violencia
geführt hatte. Die Massaker der
Paramilitärs möglicherweise vorausahnend, verleihen die Campesinos darin ih-
rer Furcht über eine "neue"
Violencia
Ausdruck. Da diese Arbeit indes nur Teil
eines größeren Projekts mit dem Titel
Mapas y fragmentos
ist, habe ich an dieser
Stelle auf eine tiefergehende Analyse verzichtet. Mein besonderes Interesse gilt
stattdessen den "Klassikern", die bereits zum Kanon der kolumbianischen Ge-
genwartskunst gehören.
Um den politischen und historischen Gehalt der Bilder herauszufiltern, eignet
sich die Methode der politischen Ikonografie. Weniger an ästhetischen und for-
malen Aspekten ausgerichtet, kann durch sie offengelegt werden, auf welche
Weise der Künstler das historische Material interpretiert und neu zusammenfügt
hat. Zur historischen Analyse von Bildquellen verwenden Kunsthistoriker zwar
normalerweise die Methoden der so genannten Imagologie bzw. Ikonologie.254
Da ich jedoch in erster Linie der Rolle von Kunstobjekten und Bildern für die
politische Kommunikation nachgehen möchte, ist die politische Ikonografie
aufgrund ihres speziellen Erkenntnisinteresses ergiebiger.255 So hat die Histori-
253
Insbesondere im Rahmen der internationalen Wanderausstellung
Otras miradas
, die
zwischen 2004 und 2006 in mehreren Ländern Lateinamerikas und Europas zu sehen war,
erlangte das Werk große Bekanntheit. Es handelte sich um eine Kollektivausstellung über die
kolumbianische Realität im Werk von zehn Künstlerinnen, darunter auch Débora Arango.
Siehe dazu
Jaramillo, Carmen María (Hg.).
2004.
Otras miradas
. Bogotá: Ministerio de
Relaciones Exteriores, S. 106–112.
254
Zur historischen Bildforschung mit Bezug auf Lateinamerika siehe
Siebenmann, Gus-
tav.
1992. Methodisches zur Bildforschung. In: ders./Hans-Joachim König (Hgg.).
Das Bild
Lateinamerikas im deutschen Sprachraum
. Tübingen: Niemeyer, S. 1–17. Den Zusammen-
hang zwischen kollektivem Gedächtnis und künstlerisch-materialen Medien hat erstmals Aby
Warburg (1866–1929) erforscht, der als Vordenker einer interdisziplinären und modernen
Kulturwissenschaft gilt. Siehe z. B.
Warburg, Aby.
2000.
Der Bilderatlas Mnemosyne
. Hrsg.
v. Martin Warnke unter Mitarbeit v. Claudia Brink. Berlin: Akademie-Verlag.
255
Einen kurzen Überblick zur traditionellen Methode gibt
Burke, Peter.
2003.
Augen-
zeugenschaft. Bilder als historische Quelle
. Berlin: Wagenbach, S. 39–52. Mit der politischen
349
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
349
kerin Sabine Arnold in ihrer Studie über
Stalingrad im sowjetischen Gedächtnis
diesen Ansatz unlängst aufgegriffen und auf Monumente aus der Zeit der kom-
munistischen Herrschaft angewandt. Trotz des völlig anderen Kontextes halte
ich die von ihr gewählte Methode auch in Kolumbien für das geeignete Analyse-
instrument.256
Um eine visuelle Botschaft erfolgreich zu vermitteln, müssen demnach drei
Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens sollte das Kunstwerk auf der Grundlage
allgemein akzeptierter Normen und Wertvorstellungen argumentieren.257 Zwei-
tens muss es vorrangig jene Bedürfnisse und Erwartungen bedienen, deren
sprachliche Formulierung sich als unbefriedigend erwiesen hat. In diesem Zu-
sammenhang ist jedoch das Wechselverhältnis zwischen dem Wirkungsinteresse
der "Macher" und den Bedürfnissen der Konsumenten von Interesse, wobei ins-
besondere der politische Kontext als maßgebender Faktor mit einzubeziehen ist.
Drittens ist auch die äußere Form von Bedeutung, da Bilder und Kunstwerke mit
politischen Inhalten bestimmte Elemente aufgreifen, die von der Mehrheit der
Bevölkerung oder den relevanten Gruppen verstanden werden sollen.
5.1 Das Werk von Débora Arango: eine Geschichte der Zensur
Dass die Gewalt bereits in den 30er und 40er Jahren zum Thema der Künstler
wurde, zeigen beispielhaft die Werke des aus Medellín stammenden Malers Ped-
ro Nel Gómez (1899–1984) und seiner Schülerin Débora Arango. Beide be-
schäftigen sich in ihren von Expressionismus und Muralismus beeinflussten
Werken mit den von der offiziellen Geschichte vernachlässigten Episoden der
kolumbianischen Geschichte.258 So stellte etwa Gómez verschiedene Szenen aus
den Unabhängigkeitskriegen sowie die soziale Situation der Arbeiter in den 30er
Jahren des 20. Jahrhunderts überaus plastisch auf Gemälden und Wandbildnis-
Dimension befasst sich
Warnke, Martin.
1994. Politische Ikonografie. Hinweise auf eine
sichtbare Politik. In: Leggewie, Claus (Hg.).
Wozu Politikwissenschaft? Über das Neue in der
Politik
. Darmstadt: wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 170–178.
256
Hierzu
Arnold, Sabine.
1998.
Stalingrad im sowjetischen Gedächtnis. Kriegserinne-
rungen und Geschichtsbild im totalitären Staat.
Bochum: Projekt Verlag, S. 35 ff. Sie stützt
sich dabei u. a. auf
Warnke.
1994.
257
Zu diesen Kriterien vgl. ebd., S. 36 f.
258
Im Folgenden stütze ich mich auf
Bedoya de Flórez, Fabiola/David Fernando Est-
rada Betancur.
2003.
Pedro Nel Gómez. Muralista
. Medellín: Univ. de Antioquia u.
Londo-
ño Vélez, Santiago.
1997.
Débora Arango. Vida de pintora
. Bogotá: Ministerio de Cultura.
350
350
Kapitel III
sen dar. Auch Débora Arango, die sich in den 30er und 40er Jahren noch über-
wiegend mit weiblichen Akten beschäftigte, hatte bereits mehrere Werke über
die Unterdrückung der Frau und die Gewalt zwischen den Geschlechtern ange-
fertigt. Besonders bekannt wurde in diesem Zusammenhang ihr bereits erwähn-
tes
Justicia
(1944), das heutzutage im
Museo Nacional
in Bogotá hängt.
Obwohl sich Arango bereits seit Mitte der 40er Jahre mit der politischen Ge-
walt im Landes beschäftigte, wurde das Thema der
Violencia
erst mit den Ereig-
nissen des 9. und 10. April 1948 zum beherrschenden Motiv der kolumbiani-
schen Kunst des 20. Jahrhunderts. Selbst eher apolitische Maler wie der aus Pa-
nama stammende Enrique Grau konnten nun ihre Augen nicht länger vor den
verheerenden Konsequenzen des
bogotazo
verschließen, wie sein Gemälde mit
dem Titel
El tranvía incendiado
(1948) zeigt. Im Stil des Expressionismus ist
darauf eine brennende Straßenbahn zu sehen, wie sie vielen Kolumbianern bis
heute als Symbol des
bogotazo
im Gedächtnis geblieben ist. Maßgeblich ver-
antwortlich hierfür waren jedoch weniger Graus frühe Gemälde, als vielmehr die
Fotografien von Sady González. Bis heute in zahlreichen Bildbänden, Kalendern
und auf großformatigen Postern259 veröffentlicht, legen sie Zeugnis von den
enormen Verwüstungen des 9. und 10. April in Bogotá ab. Insbesondere das
Bild der brennenden Straßenbahnen prägte sich den Betrachtern ein. Die Arbei-
ten des Fotografen haben allerdings rein dokumentarischen Charakter und
enthalten sich jeglicher Wertung im Hinblick auf politische Motivationen. Auf
keinem der Fotos ist zu erkennen, welcher politischen Partei die Zerstörungen in
der Hauptstadt zuzuordnen sind. Im Unterschied zu den zahllosen Gemälden, die
ebenfalls den 9. April 1948 zum Thema haben, ist somit keine explizite Verur-
teilung der politischen Eliten enthalten.
Interessanterweise sollte auch die Straßenbahn selbst bzw. das, was von ihr
übrig blieb, im Nachhinein eine erinnerungskulturelle Funktion erfüllen. Dass
im Verlaufe des
bogotazo
mehrere Wagons zerstört wurden, beeinträchtigte den
öffentlichen Transport in der Hauptstadt in den Folgejahren erheblich. Die Stra-
ßenbahnen, welche bis 1948 noch etwa 50% aller Fahrgäste befördert hatten,
verloren schlagartig an Bedeutung und wurden zunehmend durch Busse ersetzt.
Im Jahre 1951 stellte die Stadtverwaltung ihren Betrieb schließlich völlig ein.
Obwohl jahrzehntelang von offizieller Seite behauptet wurde, die wutentbrann-
259
Noch bis vor kurzem wurden die Bilder des Fotografen auch von Straßenverkäufern im
Zentrum Bogotás als Poster angeboten. Während der Amtszeit des linksliberalen Bürgermeis-
ters Luis Eduardo Garzón (2004–2007) wurde der informelle Straßenverkauf in der Haupt-
stadt jedoch grundsätzlich untersagt.
351
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
351
ten Anhänger Gaitáns hätten die Wagons angezündet, bestätigen mittlerweile
zahlreiche Quellen, dass mehrere Männer von den Busunternehmern mit der
Zerstörung beauftragt wurden. Um sich ihr Beförderungsmonopol dauerhaft zu
sichern, hätten diese nach dem
bogotazo
weiterhin Druck auf die Stadtverwal-
tung ausgeübt, um eine endgültige Einstellung des Schienenverkehrs zu errei-
chen. Tatsächlich sei die Straßenbahn zwar stark angeschlagen, aber immer noch
rentabel gewesen.260 Obwohl die Straßenbahn im Jahre 1951 endgültig aus dem
Stadtbild Bogotás verschwand, ließ der damalige Bürgermeister Fernando Ma-
zuera Villegas an einer Kreuzung im Zentrum der Hauptstadt die Reste der
Schienen konservieren. Während die ursprünglich aus England importierten
Schienenstränge andernorts überdeckt oder abgetragen wurden, blieben sie an
der Ecke Av. Jiménez # Cra. 7 bis heute als Mahnmal erhalten. In unmittelbarer
Nähe zum Platz an dem Gaitán ermordet wurde, stellen sie somit einen wichti-
gen Erinnerungsort dar, der dem Vorübergehenden die Ereignisse des
bogotazo
ins Gedächtnis ruft.
Weniger an den materiellen Zerstörungen des 9. April interessiert, zeigten
Künstler wie Alipio Jaramillo, Carlos Correa (1912–1978) oder Ignacio Gómez
Jaramillo (1910–1970) auch die politische Seite der Gewalt. Niemand richtete
allerdings eine direktere Anklage an die politische Klasse als Débora Arango.
Während die meisten ihrer zeitgenössischen Maler-Kollegen heutzutage in erster
Linie auf das Interesse von Kunsthistorikern stoßen, hat ihr Werk das 20. Jahr-
hundert überdauert. Dies ist insbesondere erstaunlich, wenn man bedenkt, dass
die Arbeiten der Malerin jahrzehntelang von offizieller Seite geächtet wurden.
Débora Arango wurde 1907 in Medellín als Tochter wohlhabender Eltern ge-
boren. Obwohl katholisch erzogen, entsprach sie keineswegs dem traditionellen
Frauenbild der Epoche. Anstatt zu heiraten und eine Familie zu gründen zog es
die junge Frau vor, sich ganz der Kunst zu widmen und bei dem damals angese-
hen Maler Eladio Vélez (1897–1967) in Medellín zu lernen. Dessen Stil war
durchgehend realistisch und an den italienischen Meistern der Renaissance so-
wie dem europäischen Naturalismus des 19. Jahrhundert ausgerichtet. Bald
schon verspürte die Künstlerin jedoch das Bedürfnis, von den Stillleben und
Landschaftsmalereien der "eladistischen" Schule abzurücken und sich mit neue-
ren, experimentellen Techniken zu beschäftigen. Unter dem Einfluss des deut-
schen Expressionismus schuf sie eine Reihe von Landschaftsbildern, Porträts
260
Vgl.
Zambrano Pantoja, Fabio/Alfredo Iriarte.
1988. Administración y servicios
públicos. In: Puyo Vasco, Fabio (Hg.).
Historia de Bogotá
, Bd. 3. Bogotá: Villegas, S. 72 ff.
352
352
Kapitel III
und weiblichen Akten. Aufgrund ihrer Neigung, die ausgetretenen Pfade der na-
turalistischen Malerei zu verlassen, geriet sie jedoch in Konflikt mit ihrem
Lehrmeister. Nach dem Bruch mit Vélez fand sie mit dem ebenfalls in Medellín
tätigen Pedro Nel Gómez jedoch schnell einen neuen Mentor. Dieser galt spätes-
tens seit 1930, mit seiner Ernennung zum Direktor der öffentlichen
Escuela de
Bellas Artes
in Medellín, als bedeutendster Wandmaler Kolumbiens.
Gómez stand wesentlich unter dem Einfluss der mexikanischen Muralisten
und war bestrebt, die damit verbundenen politischen Prämissen auf Kolumbien
zu übertragen. Im erzkatholischen und konservativen Medellín hatte er damit
jedoch nur bedingt Erfolg. So musste er zahlreiche seiner geplanten
murales
zu-
gunsten "offizieller" Darstellungen abändern bzw. an die Vorgaben der lokalen
und regionalen Autoritäten anpassen. Seine auf öffentlichen Plätzen und Gebäu-
den in Medellín und Bogotá zu sehenden Wandbilder zeigen daher überwiegend
regionale Mythen oder Ausschnitte aus der "heroischen" Vergangenheit Kolum-
biens sowie des Departements Antioquia im Besonderen. Lediglich in dem heut-
zutage in der
Casa Museo Pedro Nel Gómez
ausgestellten Gemälde-Serie mit
dem Titel
Recuerdos de la violencia
(1950) geht Gómez explizit auf die Zeit der
Violencia
ein. Da das im Jahre 1975 in ein Museum umgewandelte Privathaus
des Künstlers jedoch bis heute nur wenige Besucher anzieht, dürfte die Reich-
weite dieser Bilder eher beschränkt sein.261
Sehr vom neuartigen Stil Gómez’ beeindruckt, näherte sich Débora Arango
stärker den muralistischen Techniken an, wobei sie mehr Wert auf flächige
Formen und idealtypische Figuren legte. Ihr bevorzugtes Motiv blieb bis Mitte
der 40er Jahre der weibliche Körper. Ihr ausgeprägter Feminismus gipfelte
schließlich gegen Mitte der 40er Jahre in einer Serie über die Prostituierten von
Medellín. Auf diesen Gemälden stellt sie Männer als triebgesteuerte Tiere dar
und beklagt insbesondere die repressive und heuchlerische Rolle von Staat und
Kirche. Daneben beschäftigte sie sich intensiv mit den Möglichkeiten des Mura-
lismus und plante, ein eigenes Wandgemälde zu einem politisch relevanten
Thema in Medellín anzubringen. Diesen Plänen stand die konservative Stadt-
verwaltung jedoch ablehnend gegenüber, denn im Unterschied zum relativ ak-
261
Interview mit Carlos Botín, Führer in der
Casa Museo Pedro Nel Gómez
(Medellín),
am 21. Juli 2006. Ihm zufolge besuchen vor allem Schulklassen aus der näheren Umgebung
das Museum, in dem über 3000 Einzelstücke ausgestellt sind. Siehe auch
Casa Museo Pedro
Nel Gómez (Hg.).
1993.
Pedro Nel Gómez
. Medellín: Secretaría de Educación y Cultura de
Antioquia.
353
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
353
zeptierten "Maestro" Gómez war die "Rebellin" Arango für die regionalen Eliten
längst zur Hassfigur geworden.262
So kam es im Jahre 1940 auch auf nationaler Ebene zum Eklat, als die weibli-
chen Akte der Malerin zum Thema einer Kongressdebatte wurden. Als Freundin
von Amparo Jaramillo, der Frau des liberalen Führers Jorge Eliécer Gaitán, hatte
Débora Arango bereits zuvor das Missfallen konservativer Politiker und Kleri-
ker erregt. Obwohl sie unter anderem der Bischof von Medellín persönlich er-
mahnt hatte, keine weiteren "Obszönitäten" zu malen, stellte sie auf Einladung
Jorge Eliécer Gaitáns einige Aquarelle in Bogotá aus. Bei den im Teatro Colón
gezeigten Bildern handelte es sich überwiegend um expressionistische Darstel-
lungen des weiblichen Körpers, wobei das Geschlecht der Frauen zu sehen war.
Erzürnt über einen derartigen "Verfall der Sitten" nutzte Laureano Gómez im
Kongress die Gelegenheit, um mit seinem Erzrivalen Gaitán, dem damaligen
Erziehungsminister (1940–1942), abzurechnen. Auch Gómez’ Zeitung
El Siglo
beurteilte das Werk der Künstlerin nach moralistischen Kriterien und sah darin
einen "Anschlag auf die Kultur und die künstlerische Tradition" Bogotás.263
Nach nur zwei Tagen musste Débora Arango aufgrund des öffentlichen
Drucks ihre Bilder wieder abhängen. In den folgenden Jahren widmete sie sich
verstärkt sozialkritischen Themen, wobei die Erfahrung des 9. April 1948 zur
Initialzündung für eine Serie über die
Violencia
wurde. In dieser Zeit entstanden
unter anderem die Werke
Masacre del 9 de abril
(1948),
El cementerio de la
chusma
(o. J.),
La salida de Laureano
(1953),
Huelga de estudiantes
(1957) und
Rojas Pinilla
(ca. 1957), auf die ich im Folgenden näher eingehe. Seit 1954 ver-
tiefte sie ihre künstlerische Ausbildung an der
Academia San Fernando
in Mad-
rid, wo sie am 28. Februar 1955 ebenfalls eine "provozierende" Ausstellung or-
ganisierte. Diesmal dauerte die Schau jedoch nur einen Tag, da sie auf Geheiß
der franquistischen Regierung umgehend schließen musste.264 Nach längeren
Aufenthalten in Europa und Kolumbien wurde der Künstlerin, die sich in Inter-
views stets betont apolitisch und keiner Partei zugehörig gab, erst gegen Mitte
der 70er Jahre wieder Beachtung geschenkt. So öffnete im Jahre 1975 im
Museo
de Arte Moderno de Bogotá
(MAMBO) die bemerkenswerte Ausstellung
Arte y
política
ihre Pforten, auf der neben den Werken Arangos auch die Arbeiten an-
derer zeitgenössischer Künstler zu sehen waren. Es war das erste Mal, dass eine
262 Vgl.
Londoño Vélez.
1997, S. 136 ff.
263
Vgl.
Semana
, Nr. 1224, 17. Oktober 2005, S. 56.
264
Vgl.
Londoño Vélez.
1997, S. 191 f.
354
354
Kapitel III
signifikante Auswahl sozialkritischer und politischer Kunstwerke einem breite-
ren Publikum zugänglich gemacht wurde.265 Die allgemeine Ablehnung der Ma-
lerin durch die politische Klasse bestand jedoch fort, weswegen die Verfasser
angeblicher "Standardwerke" über Kunst ihre Bilder schlicht ignorierten.266 Im
Jahre 1975 organisierte die Stadt Medellín erstmals eine Ausstellung des Ge-
samtwerks der Künstlerin in der
Biblioteca Piloto
. Die offizielle Anerkennung
als "bedeutende Künstlerin" des 20. Jahrhunderts sowie als Wegbereiterin der
Moderne in Kolumbien erhielt Arango jedoch erst im Jahre 1984, als ihr die
Go-
bernación de Antioquia
den prestigeträchtigen
Premio a las Artes y Letras
ver-
lieh. Im gleichen Jahr wurde ein Großteil ihrer Gemälde im neugegründeten
Mu-
seo de Arte Moderno de Medellín
(MAMM) vorgeführt, wo er bis heute in einer
Dauerausstellung zu sehen ist.267
Dass das Werk Débora Arangos trotz seiner verspäteten Anerkennung für so
manchen Vertreter des kolumbianischen Staates noch immer ein "problemati-
sches Erbe" darstellt, zeigte sich zuletzt im Jahre 1995. Anlässlich einer interna-
tionalen Kunstausstellung im französischen Biarritz stellte das kolumbianische
Außenministerium eine Auswahl repräsentativer Werke des 20. Jahrhunderts
zusammen, um sie dem europäischen Publikum zu präsentieren. Den Bildern
Arangos verweigerte die Behörde jedoch die "Ausreise", da sie angeblich dem
"Ansehen Kolumbiens" geschadet hätten.268 Erst mit der überaus erfolgreichen
Ausstellung
Arte y violencia en Colombia desde 1948
, die in der zweiten Jah-
reshälfte 1999 im MAMBO zu sehen war und bereits nach drei Monaten über
60.000 Besucher verzeichnete, erfuhr das Werk der Künstlerin eine vollständige
Rehabilitierung.269 In dieser bislang einzigartigen Schau über die künstlerische
Verarbeitung der Gewalt nach 1948 lag ein Schwerpunkt auf der Epoche der
265
Vgl.
Zea, Gloria.
1994.
El museo de arte moderno de Bogotá. Una experiencia singu-
lar
. Bogotá: El Sello, S. 34.
266
So z. B. die Verfasser des
Diccionario de artistas en Colombia
(1979) oder der
zehnbändigen
Historia del arte colombiano
(1983). Vgl.
Gómez, Patricia/Alberto Sierra.
1996. Débora Arango: lo estético y político del contexto. In: Banco de la República (Hg.).
Débora Arango. Exposición retrospectiva
. Bogotá: Banco de la República, S. 44.
267
Siehe hierzu
Fernández Uribe, Carlos Arturo.
2006. Débora Arango, testigo de ciu-
dad. In: ders./Marta Elena Bravo (Hgg.).
Débora Arango
en
el Centro Cultural "Reyes Cató-
licos"
. Bogotá: Art Editions, S. 3–6.
268
Vgl.
González, Beatriz.
1996. A critical reappraisal of Débora Arango. In:
Banco de la
República (Hg.).
Débora Arango. Exposición retrospectiva
. Bogotá: Banco de la República,
S. 104.
269
Vgl.
The New York Times
vom 17. Oktober 1999.
355
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
355
Violencia
. Neben den Werken bekannter Maler wie Alejandro Obregón und
Fernando Botero wurden diesmal auch Arbeiten von Alipio Jaramillo, Carlos
Correa, Ignacio Gómez Jaramillo und anderen bislang wenig beachteten Malern
gezeigt. Mit sechs Bildern aus ihrer
Violencia
-Serie war Débora Arango – nun-
mehr als
Grand Dame
der modernen Malerei gefeiert – unter den Malern dieser
Epoche am häufigsten vertreten.270
Von September 2004 bis März 2005 organisierten das spanische Kulturminis-
terium, das kolumbianische Außenministerium und das MAMM schließlich eine
umfassende Retrospektive ihres Lebenswerks in Spanien. Im gleichen Jahr, noch
zu Lebzeiten Débora Arangos, erklärte der kolumbianische Staat darüber hinaus
ihre aus 233 Bildern bestehende Schenkung an das MAMM zum "nationalen
Kulturgut" (
bien de interés cultural nacional
).271 Zuletzt waren einige ihrer Ar-
beiten im Rahmen der internationalen Wanderausstellung
Otras miradas
(2004–
2006) zu sehen. Erst spät hatte sich bei den politischen Entscheidungsträgern die
Überzeugung durchgesetzt, dass Arangos Bilder eindeutig zum Kanon der ko-
lumbianischen Gegenwartskunst gehören. Neben der Einführung neuer Mal-
techniken ist vor allem die politische Thematik ein Grund für die immense kul-
turhistorische Bedeutung ihrer Gemälde. Es handelt sich um eindrückliche zeit-
geschichtliche Zeugnisse, die den Betrachter an eine lange tabuisierte Epoche
erinnern.
Den Auftakt zu Débora Arangos Serie über die
Violencia
machte das Gemäl-
de
Masacre del 9 de abril
(1948), das heute als eine der bekanntesten Repräsen-
tationen des
bogotazo
gilt. Neben thematisch ähnlichen Darstellungen von Enri-
que Grau, Alejandro Obregón und Alipio Jaramillo findet es sich mittlerweile in
mehreren Katalogen zur kolumbianischen Kunst des 20. Jahrhunderts sowie in
Publikationen, die den historischen Kontext des 9. April behandeln. Als Illustra-
tion eines geschichtlichen Ereignisses, etwa in Schul- und Geschichtsbüchern,
kommt dem Bild somit eine zentrale Rolle als erinnerungskulturelles Medium
zu.272 Das Original, welches unmittelbar nach den Ereignissen vom 9. April
1948 entstand, befindet sich heutzutage im MAMM.
Zu sehen ist ein barocker Kirchturm, wie er typisch für das koloniale Zent-
rum der Hauptstadt ist. Ganz oben schlägt eine knapp bekleidete Frau, wahr-
270
Siehe
Medina, Álvaro/Gloria Zea (Hgg.).
1999.
Arte y violencia en Colombia desde
1948
. Bogotá: Norma.
271
Vgl.
Semana
, Nr. 1224, 17. Oktober 2005, S. 56.
272
Vgl.
Bravo, Marta Elena.
2006. Débora Arango: significado de una exposición. In:
dies./Carlos Arturo Fernández Uribe (Hgg.).
Débora Arango en el Centro Cultural "Reyes
Católicos"
. Bogotá: Art Editions, S. 7 ff.
356
356
Kapitel III
scheinlich eine Prostituierte, die Glocken, während sich am Fenster rechts dane-
ben einige Nonnen abseilen. Auf der linken Seite sind zwei bewaffnete Soldaten
abgebildet. Einer von ihnen bohrt sein Bajonett in den Leib eines Aufständi-
schen. Auf der unmittelbar neben der Kirche gelegenen Straße schleifen zwei
Männer den geschändeten Leichnam des Gaitán-Attentäters über den Boden.
Weitere mit angespitzten Holzstöcken bewaffnete Männer und Frauen befinden
sich unterhalb des Glockenturms. Sie alle haben höchst erregte, verzerrte Ge-
sichter. In ihrer Mitte tragen sie den aufgebahrten Leichnam Gaitáns. Ihr offen-
sichtliches Ziel ist es, den Turm zu stürmen, um die dort verbliebenen Soldaten
zu vertreiben bzw. zu töten. Die politische Richtung der Angreifer ergibt sich
aus einem in die Höhe gehaltenen Spruchband auf dem "Viva Gaitán" steht.
Abb. 6:
Masacre del 9 de abril
, 1948, Aquarell, 77 x 57 cm (abgedruckt mit freundlicher Ge-
nehmigung des
Museo de Arte Moderno de Medellín
).
357
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
357
Eine eindrücklichere Beschreibung der Vorgänge des 9. April ist kaum denk-
bar. Débora Arango hat so gut wie alle dargestellten Figuren stark überzeichnet
und somit ein nahezu stereotypes Bild vom
bogotazo
geschaffen. Dennoch ist
ihr Werk keine simple Glorifizierung des
pueblo
bzw. der
gaitanistas
, wie dies
bei zahlreichen Gedenkveranstaltungen bis heute der Fall ist (siehe Kap. II, 3).
Im Gegenteil, stellt die Malerin das "Volk" doch als unkontrollierte Masse dar,
deren wilde Gesten und verzerrte Gesichter auf einen kollektiven Zorn schließen
lassen.Dass diese Interpretation durchaus mit der historischen Realität überein-
stimmt, zeigen diverse Fotos und Filmaufnahmen des
bogotazo
auf denen der
Lynchmord an Juan Roa Sierra, dem Attentäter Gaitáns, zu sehen ist. Tatsäch-
lich schleifte die wütende Menge dessen Leichnam durch das Zentrum der
Hauptstadt, um ihn anschließend vor den Stufen des Präsidentenpalastes nieder-
zulegen.
Ebenfalls dürften die verschiedenen Fotografien des getöteten liberalen Poli-
tikers in das Bild eingeflossen sein.273 Gaitán, der nach dem Anschlag noch kur-
ze Zeit am Leben war, verstarb erst auf dem Weg ins Krankenhaus. Dort wurde
sein Leichnam von Pressefotografen auf einer Bahre fotografiert.274 Blind vor
Wut geht die im Gemälde dargestellte Meute auf die von Präsident Ospina Pérez
befehligten Soldaten los. Auch in der Realität stellten im Verlauf des 9. und des
10. April die auf den Dächern und Kirchtürmen der Stadt postierten Scharf-
schützen die größte Gefahr für die so genannte
Jega
dar. Unter dieser Bezeich-
nung, die sich aus den Initialen Jorge Eliécer Gaitáns ableitet, identifizierten die
politischen Eliten die aufgebrachten und plündernden Massen.275 Wie im Film
Confesión a Laura
zu sehen, verhängte die Regierung zeitweise eine Ausgangs-
sperre und ließ auf jeden schießen, der nach Einbruch der Dunkelheit das Haus
verließ.
Genau diese Situation zeigt
Masacre del 9 de abril
. Das eigentliche "Massa-
ker" ist dabei am linken Bildrand auf dem Dach der Kirche zu sehen. Hierfür
sind die Soldaten der Regierung verantwortlich, die vor dem Hintergrund eines
brennenden Infernos ihre Bajonette in die Körper der
gaitanistas
rammen. Als
typisches Markenzeichen Débora Arangos darf auch der ironische Verweis auf
die Kirche nicht fehlen. Es bleibt jedoch dem Betrachter überlassen, wie er den
273
Fotos und Filmaufnahmen des
bogotazo
sind unter anderem über das Internet-
Videoportal
YouTube
verfügbar: http://www.youtube.com.
274
Vgl.
Braun.
1985, S. 134 ff.
275
Vgl. ebd., S. 88 u. S. 161 f.
358
358
Kapitel III
verstörten Gesichtsausdruck der beiden am Fuße der Kirche stehenden Mönche
deuten will. Ihre angsterfüllten Blicke richten sich nämlich nicht auf den aggres-
siven Mob, sondern auf das freiliegende Hinterteil einer Nonne, die gerade vom
Glockenturm herabgelassen wird.
Dass es der Malerin wichtig war, nicht eindeutig Partei für die Liberalen oder
die Konservativen zu ergreifen, hat sie Zeit ihres Lebens hervorgehoben. Im Un-
terschied zu den Positionen der entschiedensten Anhänger des mexikanischen
Muralismus oder des sozialistischen Realismus wollte Débora Arango moralisie-
rende und dualistische Darstellungen nach Möglichkeit vermeiden. Als ihr im
Jahre 1986 die Sozialwissenschaftlerin María Cristina Laverde die Frage stellte,
ob sie angesichts der parteipolitisch motivierten Diskussionen über ihre Bilder
eigentlich signifikante Unterschiede zwischen den beiden Traditionsparteien er-
kennen könne, antwortete die Künstlerin folgendermaßen: "En los dos partidos
hay de todo y si existen diferencias es más a nivel de personas. Pienso que casos
como el mío, se utilizan para atacar al otro, como sucedió con Jorge Eliécer
Gaitán por parte de Laureano Gómez."276
Es kann also gefolgert werden, dass Débora Arango sich selbst zwar als eher
unpolitischen Menschen betrachtete. Die in vielen ihrer Bilder unterbreitete Kri-
tik an den Parteien und der politischen Klasse im Allgemeinen ist jedoch alles
andere als apolitisch. Schließlich waren nicht nur ihre Aktbildnisse von der Zen-
sur bedroht, sondern auch und insbesondere ihre Darstellungen der
Violencia
.
Nicht zuletzt ging es der Malerin darum, die Kritik an den politischen Eliten
über das Mittel des Muralismus einem großen Teil der Bevölkerung bekannt zu
machen. Wie sie selbst im Interview betont, hätten viele Menschen auf diese
Weise die Absurdität der
Violencia
erkannt. Im Gegensatz zum gefälligeren
Werk ihres Meisters Pedro Nel Gómez fanden die lokalen, regionalen und natio-
nalen Autoritäten ihre Bilder jedoch abstoßend und unverschämt. Zum Bedauern
der Künstlerin ist
Masacre del 9 de abril
deshalb nur die Skizze für ein niemals
realisiertes Wandbildnis geblieben:
Yo tenía mucha facilidad para pintar en acuarela y al llegar de ésta al mural, es muy fácil. En
un mural se puede expresar más que en un cuadro. Mira, cuando mataron a Gaitán, no había
televisión, por supuesto, y me puse a escuchar por radio todo lo que sucedía en Bogotá: la
forma como asesinaron a Gaitán, lo ocurrido con su asesino, las mujeres en las torres de las
iglesias echando a volar las campanas, las monjas saliéndose de los conventos… Todo lo que
276
Zitiert nach
Laverde, María Cristina.
2004. Conversación con Débora Arango. In: Ja-
ramillo, Carmen María (Hg.).
Otras miradas
. Bogotá: Ministerio de Relaciones Exteriores, S.
41.
359
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
359
describían lo iba pintando. Sin darme cuenta terminé haciendo un boceto para 'fresco' [
Masa-
cre del 9 de abril
] y me repetía '¡Ay, que algún día yo pueda convertir esto en un Mural! Mu-
cha gente entendería a través de él, el significado de esta absurda violencia'. Jamás lo log-
ré…277
Obwohl ihre Bilder keinen Anklang bei den Verantwortlichen des Kultursek-
tors fanden, ließ sich Débora Arango nicht entmutigen. Im Gegensatz zu zahl-
reichen ihrer Künstlerkollegen beließ sie es nicht bei einer kritischen Darstel-
lung des 9. April. Anders als die Mehrheit der in den Großstädten lebenden Ko-
lumbianer, insbesondere die Angehörigen der Mittel- und Oberschicht, ver-
schloss sie ihre Augen nicht vor den blutigen Ereignissen auf dem Land. Ver-
mutlich auf dem Höhepunkt der
Violencia
, unter der Herrschaft von Laureano
Gómez, schuf sie so das Ölgemälde
El cementerio de la chusma
, von dem keine
exakte Datierung verfügbar ist. Zwar entstanden in diesem Zeitraum noch weite-
re Werke, in denen Arango das gewalttätige Klima der Epoche einfängt. Bilder
wie
El tren de la muerte
(1948),
La danza
(o. J.) oder
La dolorosa
(o. J.) sind
jedoch zu subtil, um eine eindeutige Interpretation durch den Betrachter zu er-
lauben. Im Gegensatz dazu weist
El cementerio de la chusma
relativ deutlich auf
die unzähligen Verbrechen der bewaffneten Banden während der
Violencia
hin.
Zu sehen ist ein Friedhof, auf dem ein paar windschiefe Holzkreuze die Grä-
ber markieren. Über dem Eingangstor hat sich eine Gruppe von
chulos
, den in
Kolumbien allgegenwärtigen Aasgeiern, niedergelassen. Im Zentrum des Bildes
schleift ein knochiger und überproportional großer Hund einen Totenschädel
über das Areal. Etwas schwieriger einzuordnen ist in diesem Zusammenhang der
Begriff
chusma
aus dem Titel des Gemäldes. Normalerweise als Synonym für
"Mob" oder "Gesindel" gebraucht, erhielt der Terminus während der
Violencia
unterschiedliche Bedeutungen. Während die am
bogotazo
beteiligte Meute, die
überwiegend aus den Anhängern Gaitáns bestand, von den Angehörigen der
Mittel- und Oberschicht als
chusma
bezeichnet wurde, verwendeten die Bewoh-
ner anderer Regionen den Begriff in späteren Jahren durchaus abweichend. So
wurden einerseits die liberalen Guerillas als
chusmeros
bezeichnet, wohingegen
in den Gebieten der
pájaros
und
chulavitas
nicht selten von der
chusma conser-
vadora
die Rede war. Dass Arangos Bild sehr wahrscheinlich auf die Verbre-
chen der Konservativen verweist, legen die schwarzen Vögel auf dem Torbogen
sowie die überwiegend blauen Farbtöne nahe. So dürften die Geier als Metapher
für die
pájaros
stehen, während blau die Farbe der Konservativen Partei ist.
277
Ebd.
360
360
Kapitel III
Abb. 7:
El cementerio de la chusma
, o. J., Öl auf Leinwand, 127 x 95 cm (abgedruckt mit
freundlicher Genehmigung des
Museo de Arte Moderno de Medellín
).
Auch wenn für den Betrachter ohne historische Kenntnisse nicht auf den ers-
ten Blick ersichtlich ist, welche Partei für die Toten verantwortlich ist, so ist
doch eindeutig eine Kritik an der politischen Situation der 50er Jahre enthalten.
Die sowohl von den Liberalen als auch von den Konservativen befehligten Ban-
den verkörpert der gewaltige Hund, der den menschlichen Schädel durch den
Dreck schleift. Ihren jeweiligen Führern "hündisch" gehorchend, rissen die Ban-
den der
violentos
das Land ins Verderben. Obwohl weniger eindeutig als
Ma-
sacre del 9 de abril
enthält auch
El cementerio de la chusma
einige Symbole,
die von weiten Teilen der Bevölkerung verstanden wurden und teilweise noch
immer verstanden werden. Hierzu gehören die schwarzen Vögel, der Totenschä-
del sowie die Farben der Parteien (blau und rot).278
278
Auch in zahlreichen Gemälden Fernando Boteros stehen die Farben blau und rot für die
Verankerung der Traditionsparteien in bestimmten Regionen und Gesellschaftsschichten. Zur
361
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
361
Eine deutlichere Botschaft enthält ihr bekanntes
La salida de Laureano
(1953). Zu sehen ist der General Gustavo Rojas Pinilla, der am 13. Juni 1953 die
Macht übernahm. Mit dem Gewehrkolben erschlägt er eine der Kröten, die vor
ihm auf der Straße prozessieren. Sie folgen der "obersten Kröte", die von vier
chulos
auf einer weißen Bahre getragen wird. Unschwer am präsidentiellen Eh-
renband zu erkennen, ist diese große Kröte niemand geringeres als Laureano
Gómez. Angeführt wird die bizarre Prozession jedoch von einem Skelett, das
eine Totenkopfflagge schwingend in ein Flammenmeer läuft. Bei seiner Aktion
wird der General von einer am Rande stehenden Menge bejubelt, zu der auch ein
Kleriker gehört. Die daneben aufgereihten Kanonen und Soldaten verweisen auf
die ordnende Kraft der Armee, deren Repräsentant Rojas Pinilla ist.
Abb. 8:
La salida de Laureano,
1953, Öl auf Leinwand, 101 x 141 cm (abgedruckt mit
freundlicher Genehmigung des
Museo de Arte Moderno de Medellín
).
Verwendung dieser Farben im Werk von Arango siehe
Gómez/Sierra.
1996, S. 28–35 u.
Fernández Uribe, Carlos Arturo.
2001. Débora Arango. In: Bravo, Marta Elena (Hg.).
Débora Arango. Patrimonio vivo, patrimonio artístico
. Medellín: Museo de Arte Moderno de
Medellín, S. 5–7.
362
362
Kapitel III
Der politische Hintergrund und die Motivation für dieses Ölgemälde sind un-
schwer zu erkennen. So spiegelt das Bild die allgemeine Stimmung im Volk wi-
der, als der liberale Politiker Darío Echandía am 13. Juni 1953 das Schlagwort
vom
golpe de opinión
prägte. Demnach sei Rojas nicht der Handlager der Oli-
garchie gewesen, sondern der Vertreter der legitimen Interessen des Volkes. Dé-
bora Arango reiht sich mit ihrem Bild in den Kanon der Kritiker des bisherigen
Systems ein und stellt Rojas als tatkräftigen Friedensstifter dar. Während der
General in heroischer Pose zur Tat schreitet, sind die vertriebenen Konservati-
ven als Kröten, das heißt als
sapos
gekennzeichnet. In der Sprache der
Violencia
macht sie dies zu "Verrätern" des Vaterlandes (siehe Kap. I, 3.2).
Wie viele Angehörige der Mittel- und Oberschicht verfolgte jedoch auch
Arango die zunehmende Autonomie des Militärdiktators mit Skepsis. Bald kam
sie zu dem Schluss, dass Rojas ebenso schlecht regierte wie sein Vorgänger. Aus
diesem Grunde rechnete sie im Jahre 1957 mit dem General ab. Ihr
Huelga de
estudiantes
zeigt einen gekreuzigten Rojas mit fratzenhaftem Gesicht. Zu sehen
ist eine lebensgroße Puppe des Diktators, die von wütenden Studenten dem
Feuer übergeben wird. Da die auf den Spruchbändern wiedergegeben Schriftzei-
chen unlesbar sind, bleibt indes offen, ob es sich um den Streik handelt, der im
Mai 1957 zum Sturz der Militärdiktatur führte.
Abb. 9:
Huelga de estudiantes
, 1957, Öl auf Leinwand, 146 x 118 cm (abgedruckt mit freund-
licher Genehmigung des
Museo de Arte Moderno de Medellín
).
363
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
363
Um diesbezüglich jegliche Unklarheit zu vermeiden, legte Débora Arango
wahrscheinlich noch im gleichen Jahr das Ölgemälde
Rojas Pinilla
nach (ca.
1957). Diesmal ist nicht Gómez, sondern Rojas als Kröte dargestellt. Der Dikta-
tor ist gerade damit beschäftigt, die Mitglieder seiner Regierung festlich zu be-
wirten. Die anhand ihrer Helme und Schulterklappen als Militärs gekennzeich-
neten Kröten trinken Wein aus goldenen Bechern. Dabei stützen sie ihre Ellen-
bogen nicht auf einen Tisch, sondern auf die Fahne Kolumbiens. Unter dem
"Tisch" befinden sich zwei Löwen, die mit ihren Klauen zwei prallgefüllte Sä-
cke mit Geld umklammern. Eine klare Anspielung auf die hohen Staatsausgaben
während der Militärdiktatur. Hinzu kommen Schlangen und Skelette, deren
Symbolgehalt keiner weiteren Analyse bedarf. Wie auch in früheren Werken
spielen
pájaros
und Geistliche eine wichtige Rolle. Am linken Bildrand sind
diesmal die Schemen dreier roter Vögel zu sehen, was auf die Duldung der
pája-
ros
durch Rojas Pinilla hinweist (siehe Kap. III, 2.1.3). Auf der rechten Seite
dagegen ist die schemenhafte Gestalt einer weiteren Kröte zu sehen, die einen
Bischofsstab in der Hand hält. Ein klarer Verweis auf die Tatsache, dass die
Kirche dem Militärregime anfänglich positiv gegenüberstand (siehe Kap. II, 1).
Am aufschlussreichsten ist jedoch das Stück Papier in der Hand des Generals,
das ihm und seinen Getreuen sichtbar Freude bereitet. Es trägt die Aufschrift
"Impuestos".
Abb. 10:
Rojas Pinilla
, ca. 1957, Öl auf Leinwand, 119 x 158 cm (abgedruckt mit freundli-
cher Genehmigung des
Museo de Arte Moderno de Medellín
).
364
364
Kapitel III
Arangos Kritik an Rojas hat demnach zwei Achsen. Zum einen wirft sie dem
General vor, nichts bzw. zu wenig gegen die
Violencia
getan zu haben (Skelette,
rote Vögel, Schlangen). Aus dem gleichen Grund sind auch Rojas und sein Ka-
binett als
sapos
, als Verräter dargestellt. Zweitens zeigt sie deutlich, wie sehr die
Mittel- und Oberschicht während der Diktatur zur Kasse gebeten wurde. Ob-
wohl die Sozialpolitik von Rojas Pinilla einem großen Teil der unteren Schich-
ten zu Gute kam, stieß sein Umverteilungsprogramm bei den alteingesessenen
Eliten sowie dem größten Teil der Mittelschicht auf Unverständnis (siehe Kap. I,
3.2). Da auch Débora Arango eindeutig der Oberschicht Medellíns angehörte,
weswegen sie Zeit ihres Lebens nicht auf Lohnarbeit angewiesen war, entspricht
ihre Position bezüglich der hohen Staatsausgaben dem damaligen Diskurs der
politischen Eliten (siehe Kap. II, 2.2). Ebenso wie in den seit Mai 1957 in der
gran prensa
erscheinenden Hasstiraden gegen Rojas steht daher die "Ausplünde-
rung der Staatskasse" im Zentrum ihres Bildes. Dass der General mit den Steu-
ergeldern die Infrastruktur des Landes erheblich verbesserte, das Fernsehen ein-
führte, einen Großflughafen erbaute sowie den Sozial- und Gesundheitssektor
beträchtlich erweiterte, spielte für Arango und die Eliten der Zeit nur eine unter-
geordnete Rolle. Dabei beweist etwa die Wahl von Samuel Moreno, dem Enkel
des Militärdiktators, zum Bürgermeister der Hauptstadt (Oktober 2007), dass
viele Kolumbianer das Erbe des Generals durchaus positiv beurteilen. So konnte
Moreno im Wahlkampf unter anderem damit punkten, dass er auf die "großen
sozialen und politischen Leistungen" seines Großvaters anspielte (siehe auch
Kap. II, 6).279
Da sie ihr anfängliches Lob des Generals schwer bereute, glich Débora Aran-
go diese persönliche Fehleinschätzung mit ihren Rojas-Bildern wieder aus.
Ebenfalls um das Jahr 1957 malte sie weitere Aquarelle und Ölgemälde über die
Folgen der rojistischen Diktatur. Hierzu gehören die weniger bekannten Bilder
Melgar
und
Las tres fuerzas que derrocaron a Rojas
. In den wenigen nachfol-
genden Werken behielt sie ihre kritische Grundhaltung gegenüber den politi-
schen Eliten zwar bei. Frustriert wegen der andauernden Missachtung, die ihre
Bilder sowohl von offizieller Seite als auch von der Kunstkritik erfuhren, zog
sich Arango gegen Ende der 50er Jahre jedoch allmählich aus dem Kunstbetrieb
zurück. In den polemischen Werken
Plebiscito
(1958),
Junta militar
(ca. 1958)
und
Paz
(o. J.) brachte sie noch ein letztes Mal ihren Unmut über das neue Sys-
tem des
Frente Nacional
zum Ausdruck, wobei ihr vor allem die tragende Rolle
279 Siehe hierzu auch
Schuster.
2007.
365
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
365
von Laureano Gómez als Architekt des Bündnisses sauer aufstieß. Wie diese
ebenfalls wenig bekannten Bilder illustrieren, sah sie den neuen "Frieden" zwi-
schen den Parteien auf Terror und Furcht gegründet. So zeigt das Ölgemälde
Plebiscito
die Politiker Alberto Lleras Camargo und Guillermo León Valencia,
die das Volk zur Abstimmung über die Einführung des
Frente Nacional
aufru-
fen. In ihrer Mitte tragen sie jedoch Laureano Gómez, der eine Wolfsmaske trägt
und einen Zettel mit der Aufschrift "Sí" in die Höhe hält. Das Ölgemälde
Junta
Militar
spielt hingegen auf die von ihr angenommene Illegitimität der für die
Übergangszeit eingesetzten Militärjunta an (1957/58). Deren Mitglieder stellt
Arango als affenähnliche Wesen dar, die sich in die kolumbianische Fahne hül-
len. Die drastischste Wirkung auf den Betrachter entfaltet allerdings das Aqua-
rell
Paz
. In geradezu zynischer Weise zeigt Débora Arango darauf, worauf der
vom
Frente Nacional
versprochene Frieden ihrer Meinung nach beruht. Unter
die frenetisch feiernde Menge hat sich ein überdimensionales Skelett gemischt.
Abb. 11:
Paz
, o. J., Aquarell, 77 x 57 cm (abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des
Mu-
seo de Arte Moderno de Medellín
).
366
366
Kapitel III
Nur gelegentlich waren Arangos Bilder noch auf kleineren Ausstellungen in
Kolumbien zu sehen, während die Künstlerin die meiste Zeit in Europa weilte,
wo sie sich mit eher unpolitischen Themen beschäftigte. Erst gegen Mitte der
80er Jahre, im Zuge eines allgemeinen Revisionismus (siehe Kap. II, 5.2), ent-
deckten Kunsthistoriker ihre frühen Arbeiten wieder und machten sie einem
breiteren Publikum bekannt. Diese akademische Neubewertung hat dazu ge-
führt, dass die hier besprochenen Bilder heutzutage zu den wichtigsten Zeugnis-
sen aus der Zeit der
Violencia
zählen. Aufgrund ihrer vielfachen Reproduktion
in Katalogen, Büchern und Bildbänden sowie ihrer Teilnahme an wichtigen
Ausstellungen wie
Arte y política
,
Arte y violencia en Colombia desde 1948
oder
Otras miradas
handelt es sich um erinnerungskulturelle Medien ersten
Ranges, die in ihrer kritischen Sichtweise auf das Wirken der politischen Eliten
unübertroffen sind.
5.2 Alejandro Obregón: vom Provokateur zum "Hofmaler"
Im Gegensatz zur jahrzehntelang von offizieller Seite angefeindeten Débora
Arango hatte der aus Spanien stammende Alejandro Obregón kaum mit der Zen-
sur zu kämpfen. Während Arangos Bilder in den 60er und 70er Jahren aus den
Handbüchern, Katalogen und Anthologien verschwanden, avancierte Obregón
bereits in den späten 50er Jahren zum anerkanntesten und kommerziell erfolg-
reichsten Maler Kolumbiens. Obwohl er sich gerade in dieser Phase seines
Schaffens intensiv mit der politischen Gewalt im Lande auseinandersetzte, rie-
fen seine Werke niemals die gleichen ablehnenden Reaktionen wie die Bilder
seiner streitbaren Vorläuferin hervor. Wie erklärt sich diese Akzeptanz?
Zunächst gehörte Débora Arango einer anderen Generation an, deren Vertre-
ter noch wesentlich unter dem Einfluss der akademischen Malerei europäischer
Prägung standen. Mit ihrer Hinwendung zum Expressionismus und insbesondere
aufgrund ihrer politischen Motive beschwor sie nicht nur den Zorn der politi-
schen Eliten herauf, sondern vor allem auch die Ablehnung ihrer Künstler-
Kollegen. Den Kirchenoberen missfiel zudem, dass sie als Frau den weiblichen
Körper "in schamloser Weise" abgebildet hatte. Als Débora Arango beispiels-
weise den Erzbischof von Medellín, Monseñor Joaquín García Benítez, darauf
hinwies, dass auch andere Maler, wie etwa Pedro Nel Gómez, weibliche Akte
367
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
367
anfertigen würden, gab ihr dieser zu verstehen, dass dies bei einem Mann weni-
ger verwerflich sei.280
In Bezug auf die von ihr verwendete Technik und ihre feministischen Ansich-
ten war Débora Arango ihrer Zeit um mindestens ein Jahrzehnt voraus. Als der
in den 20er Jahren aus Spanien eingewanderte Alejandro Obregón in den 40er
Jahren zu malen begann, war die von konservativen und kirchlichen Kreisen ge-
gen alles Moderne vorgebrachte Abneigung noch immer deutlich spürbar. Eben-
so wie die Bilder Arangos wurden auch die Werke von Alipio Jaramillo und Ig-
nacio Gómez Jaramillo von der konservativen Presse mit abschätzigen Kom-
mentaren bedacht.281 Zu dieser Zeit hatte noch niemand Kenntnis von Alejandro
Obregón genommen, der bereits mit neuartigen Techniken aus den USA und
Europa experimentierte. Erst gegen Ende der 50er Jahre, als mit dem
Frente Na-
cional
der Grundstein zu einer etwas offeneren und toleranteren Gesellschaft
gelegt war, sollte Obregón zum erfolgreichsten Künstler des Landes aufsteigen.
Obwohl viele seiner abstrakten Gemälde der Frühphase keine klaren politischen
Botschaften enthielten, erwiesen sich seine Arbeiten über die
Violencia
dennoch
als wirkungsmächtige Erinnerungsmedien. Insbesondere sein 1962 geschaffenes
La Violencia
gilt den Kunstkritikern heute als bedeutendstes Werk der kolum-
bianischen Malerei des 20. Jahrhunderts. Auf Buchdeckeln abgedruckt, in un-
zähligen Katalogen veröffentlicht, in nationalen und internationalen Ausstellun-
gen gezeigt, vielfach ausgezeichnet, auf Plakaten, in Zeitungen und auf Kalen-
derblättern reproduziert, handelt es sich um das bekannteste kolumbianische
Gemälde überhaupt.282 In Bezug auf seine Reichweite ist es völlig ohne Konkur-
renz.
Ebenso wie Débora Arango gehörte auch der 1920 in Barcelona geborene Ob-
regón der wohlhabenden Oberschicht an.283 Im Alter von sechs Jahren war er
mit seiner Familie nach Barranquilla an die kolumbianische Atlantikküste gezo-
gen, wo sein Vater eine Textilfabrik besaß. Obwohl ihn der Vater gerne als
Nachfolger im Industriebetrieb gesehen hätte, interessierte sich Obregón schon
früh für die schönen Künste. Von seinen Eltern unterstützt, studierte er ver-
schiedene Fächer in England, Frankreich und den USA, ohne jedoch einen Ab-
280 Vgl.
Laverde, María Cristina.
2004, S. 40.
281
Vgl.
Medina.
1999a, S. 23.
282
Eine Umfrage der Tageszeitung
El Tiempo
bestätigte im Juli 2006, dass
La Violencia
das bekannteste und wichtigste Gemälde Kolumbiens ist. Vgl.
El Tiempo
vom 20. Juli 2006.
283
Die folgenden biografischen Daten beruhen auf
Salvador, José María.
1991.
Alejan-
dro Obregón: obras maestras, 1941–1991
. Caracas: Centro Cultural Consolidado.
368
368
Kapitel III
schluss zu machen. Bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr war er sich nicht dar-
über im Klaren, ob er nun Ingenieur, Pilot oder Maler werden wollte. Am Ende
kehrte er ohne besondere Qualifikationen nach Kolumbien zurück (1939), wo er
ein Leben als Abenteurer einschlug. Mit nur 19 Jahren arbeitete er als Lastwa-
genfahrer in der abgelegenen Urwald-Region Catatumbo (Departement Norte de
Santander), in der man große Erdölvorkommen entdeckt hatte. Dort entwickelte
er ein neues Interesse für die Malerei, wobei vor allem seine Begeisterung für
die als feindselig und überlegen empfundene Natur eine große Rolle spielte.
Ähnlich wie in dem klassischen kolumbianischen Roman
La vorágine
(1924)
von José Eustasio Rivera (1888–1928) begann er den Urwald und die in ihm le-
benden Geschöpfe als Teile eines autonomen und dem Menschen feindlich ge-
genüber stehenden Systems zu empfinden. Gleichzeitig zeigen seine frühen
Zeichnungen und Ölgemälde eine deutliche Faszination für die als "magisch"
empfundene Flora und Fauna Lateinamerikas. Seine ambivalenten Darstellungen
fleischfressender Pflanzen, eruptierender Vulkane oder majestätischer Kondore
brachten Obregón in der Presse schnell die Bezeichnung "romantischer Expres-
sionist" ein.284
Dabei war es keineswegs sein Anliegen, die oftmals mit Tod, Verderben und
Katastrophen verbundenen Naturmotive zu romantisieren. Zudem war sein Stil
in dieser frühen Phase (ca. 1944–1957) eher vom Kubismus als vom Expressio-
nismus geprägt. Obwohl sich Obregón, der zwischen 1940 und 1944 als Vize-
konsul in Barcelona tätig war, hauptsächlich mit der Natur Lateinamerikas be-
schäftigte, die er als "gewaltig und gewalttätig" empfand, entstanden in dieser
Zeit auch einige Gemälde mit politischem Hintergrund. Als Augenzeuge der
Ausschreitungen vom 9. April 1948 in Bogotá fertigte er noch im gleichen Jahr
sein berühmtes
Masacre del 10 de abril
an, das heute im
Museo Nacional
zu-
sammen mit den Bildern von Débora Arango und Alipio Jaramillo im letzten
Saal der historischen Abteilung zu sehen ist (siehe Kap. II, 5.4). Neben Arangos
bereits erwähntem Gemälde handelt es sich dabei um eine der bekanntesten Dar-
stellungen des
bogotazo
. Einige Jahre später, im Kontext der Militärdiktatur,
entstanden die Bilder
Estudiante muerto, el velorio
(1956) und
Estudiante muer-
to, el luto
(1957), die den Protest der Studenten gegen Rojas Pinilla zum Thema
haben.
284
Vgl.
Jaramillo, Carmen María.
2001.
Alejandro Obregón
. In: http://www.museo-
nacional.gov.co/resena.html (18. Februar 2008).
369
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
369
Mit dem Beginn des
Frente Nacional
änderte Alejandro Obregón seinen Stil
grundlegend und entfernte sich allmählich von den geometrischen Formen und
den kubistischen Experimenten früherer Jahre. In dieser Epoche (1958–1966),
die von Kunstkritikern als seine "reife Phase" bezeichnet wird, entwickelte er
den für ihn charakteristischen Stil des "figurativen Expressionismus". Dabei
handelt es sich um eine Verbindung expressionistischer Techniken mit geomet-
rischen Formen unter deutlichen Anleihen bei den Vertretern des nordamerika-
nischen abstrakten Expressionismus (insbesondere
Action Painting
). Diese
Techniken kombinierte Obregón mit spezifisch lateinamerikanischen Motiven
(andine Landschaften, exotische Tiere, historische Begebenheiten) sowie einer
"tropisch" anmutenden Farbenvielfalt. Wie der Kunsthistoriker Álvaro Medina
schreibt, kam es in dieser Phase jedoch auch zu einem thematischen Umdenken
des Künstlers. Standen vorher in erster Linie universelle bzw. lateinamerikani-
sche Motive im Zentrum, widmete sich Obregón seit 1958 verstärkt kolumbiani-
schen Themen. Mittlerweile fest mit seiner "zweiten Heimat" Kolumbien bzw.
der
costa caribe
verbunden, konnte und wollte er nicht länger die Augen vor
dem bewaffneten Konflikt auf dem Land verschließen. Als mit Beginn des
Fren-
te Nacional
die ersten akademischen Studien zu den Ursachen und den Folgen
der
Violencia
erschienen, nahm er erstmals Notiz vom Ausmaß der während des
Bürgerkrieges verübten Grausamkeiten. Gewissermaßen als "Gegenmittel gegen
das Vergessen", wie der Poet Juan Gustavo Cobo Borda in einem Buch über Ob-
regón schreibt, begann der Maler anschließend mit der Arbeit an
Genocidio
(1961). Sein Meisterwerk sollte jedoch
La Violencia
werden, das im Juli 1962
den
Premio Nacional de Pintura
auf dem
XIV
Salón Anual de Artistas
in Bogotá
gewann – im gleichen Monat als der erste Band von
La Violencia en Colombia
erschien (siehe Kap. II, 2.3 u. 5.2).
Obwohl das eindrückliche Gemälde von konservativer Seite heftig kritisiert
wurde und vielen als Ausdruck eines übertriebenen Fatalismus galt, etablierte
sich Obregón damit als wichtigster kolumbianischer Künstler der Gegenwart.285
Anders als bei Débora Arango sahen die meisten Repräsentanten des offiziellen
Kultursektors und der politischen Klasse darüber hinweg, dass der "Maestro"
während der 50er Jahre in Interviews die seiner Meinung nach fehlgeleitete Poli-
tik der Regierung angegriffen hatte und aufgrund seiner politischen und künstle-
rischen Ansichten von Kunstakademien in den USA und Europa ausgeschlossen
285
Vgl.
Medina, Álvaro.
1999b. Violencia. In:
Credencial Historia
, Nr. 111 (März, Bo-
gotá), S. 5.
370
370
Kapitel III
worden war. Zu seinen Freunden zählten bald schon einflussreiche Persönlich-
keiten aus Politik und Wirtschaft, aber auch Kulturschaffende wie der Schrift-
steller Gabriel García Márquez, die Kunstkritikerin Marta Traba oder der auf-
strebende Maler und Bildhauer Fernando Botero. Obwohl Obregón im Laufe
seines Künstlerlebens noch mehrmals auf politische Ereignisse reagierte, er-
reichte er nie wieder das künstlerische Niveau der 50er und 60er Jahre. Kurz
nachdem er im Jahre 1966 mit dem Acryl-Gemälde
Ícaro y las avispas
zum
zweiten Mal den
Premio Nacional de Pintura
auf dem
XVIII
Salón Anual de Ar-
tistas
gewonnen hatte, entschied er sich, in Zukunft keine Ölfarben mehr zu
verwenden. Denn, wie er selbst im Interview mit Juan Gustavo Cobo Borda be-
tonte, sei nicht Öl, sondern Acryl das malerische Medium des 20. Jahrhun-
derts.286 Seine heutigen Kritiker sehen allerdings in dieser dritten Phase (ca.
1967–1992) einen künstlerischen Rückschritt. Die Verwendung von Acrylfarben
seit 1966 habe den für Obregón charakteristischen Formen und Farben ihre Tie-
fe genommen. Von diesem Zeitpunkt an sei das Werk des Malers in den Bereich
des Dekorativen und Plakativen abgeglitten.287
Nichtsdestotrotz erwies sich die letzte Phase seines künstlerischen Schaffens
als besonders produktiv. Sowohl für staatliche Auftraggeber als auch für Unter-
nehmen und Privatleute fertigte Obregón in dieser Zeit eine Reihe von Gemäl-
den und Wandbildern an. Davon legen heute noch seine vielen
murales
in Ban-
ken und öffentlichen Gebäuden Zeugnis ab, von denen jedoch keines Bezug auf
politische oder historische Ereignisse nimmt. Während die Bilder Obregóns in
ästhetischer Hinsicht immer gleichförmiger wurden und sich teilweise dem "ro-
mantischen Expressionismus" früherer Tage annäherten, wurden sein Werk und
seine Person zunehmend von kommerziellen Interessen vereinnahmt. Seit Be-
ginn der 70er Jahre erzielten seine Bilder Höchstpreise auf Auktionen in Nord-
amerika und Europa. Auf der Strecke blieben jedoch zunehmend die politischen
und gesellschaftskritischen Aussagen früherer Werke. Die privaten und staatli-
chen Auftraggeber Obregóns fanden meist wenig Geschmack an derartigen
Themen. In Gebäuden wie der zum
Banco de la República
gehörenden
Bibliote-
ca Luis Ángel Arango
, dem kolumbianischen Präsidentenpalast oder dem UNO-
Gebäude in New York sind heute stattdessen Obregóns emblematische Land-
schaften, Pflanzen und Tiere zu sehen, die von den politischen Eliten als Ideal-
286
Vgl.
Cobo Borda, Juan Gustavo.
2003. Diálogo en la mitad del mar. In:
Revista
Mundo
, Nr. 10 (Dezember, Bogotá), S. 57.
287
Vgl.
Rubiano Caballero, Germán.
2004.
Obregón, Alejandro
. In: http://www.lablaa.
org/blaavirtual/biografias/obrealej.htm (18. Februar 2008).
371
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
371
Repräsentationen der nationalen Identität geschätzt wurden und werden.288 Als
Maler der "nationalen Symbole" wurde Obregón daher noch zu Lebzeiten von
der Politik vereinnahmt. Im Gegensatz zur geächteten Débora Arango erkannte
die Regierung seine Bilder bereits in den 60er und 70er als "kulturell wertvoll"
und "repräsentativ für Kolumbien" an.289 Dass Obregón mit
La Violencia
und
einigen anderen Werken auch eine kritische Sichtweise der Geschichte beiges-
teuert hatte, galt offenbar als verzeihlich.
Nach seinem überraschenden Tod im Jahre 1992 ist Obregóns Werk in Ko-
lumbien noch immer allgegenwärtig. In unzähligen Publikationen, auf Plakaten
und Kalenderblättern prangen seine Kondore, Stiere, Landschaften und
Ícaros
.
Auch das an prominenter Stelle im MAMBO platzierte
La Violencia
ist vielen
Kolumbianer mindestens ebenso bekannt wie die diversen Romane, Filme und
Theaterstücke über die "dunkle" Epoche des Bürgerkrieges. Interviews mit Mu-
seumsbesuchern und Kommentare von Kunstsachverständigen zeigen allerdings,
dass der epochenspezifische Charakter des Bildes mit der Zeit verloren gegan-
gen ist. So wurde
La Violencia
in einer Liste der "hundert wichtigsten Kunst-
werke in Kolumbien" in der Zeitschrift
Semana
, in einer weiteren Liste der
"zehn wichtigsten Kunstwerke in Kolumbien" in der Zeitschrift
Credencial His-
toria
sowie zuletzt in
El Tiempo
von Kunstkritikern immer wieder als "bedeu-
tendstes kolumbianisches Kunstwerk des 20. Jahrhunderts" eingestuft.290 Dies
geschah jedoch zumeist mit der Begründung, dass das Gemälde auf die an-
dauernde, quasi endemische Gewalt des Landes verweise. Es handle sich dem-
nach um ein zeitloses Mahnmal, dessen kulturelle und soziale Bedeutung aus
dem andauernden bewaffneten Konflikt resultiere. Im Sinne der Kontinuitätsthe-
se sei die
Violencia
nur eine Episode in einer langen Kette von Krieg und Ge-
walt. Oder wie es die Kuratorin des MAMBO, María Elvira Ardila, in
El Tiempo
ausdrückt: "[…] Obregón revela todo el dramatismo de la problemática y
además protesta contra la indolencia de un conflicto que no ha cesado en Co-
lombia, pero que podría corresponder a cualquier sitio del mundo en guerra."291
288
Vgl.
Salvador, José María.
2006.
Nuestra América en la obra de Alejandro Obregón
.
In: http://www.latinartmuseum.com/obregon.htm (18. Februar 2008).
289
Vgl. ebd.
290
Hierzu
Salas, Carlos.
2003. Ver y hacer ver. In:
Revista Mundo
, Nr. 10 (Dezember,
Bogotá), S. 16;
Semana
, Nr. 1123, 10. November 2003, S. 86–118;
Medina, Álvaro.
1999c.
Obras y artistas del siglo XX en Colombia. In:
Credencial Historia
, Nr. 111 (März, Bogotá),
S.8 f. u.
El Tiempo
vom 20. Juli 2006.
291
Ebd.
372
372
Kapitel III
So ist es möglicherweise der Universalität seiner Bilder zu verdanken, dass
Obregón nicht zu einem Opfer der Zensur wurde. Aus dem einstmals unbeque-
men Provokateur ist heutzutage eine Art "Hofmaler" geworden, der an Bekannt-
heit und Beliebtheit nur noch von Fernando Botero übertroffen wird. Gerade
aufgrund der Exponiertheit und des hohen Bekanntheitsgrades seiner Werke ist
es jedoch wichtig, seine Arbeiten über die
Violencia
auf ihren Inhalt und ihre
mögliche Breitenwirkung hin zu untersuchen.
Wie auch im Falle von Débora Arango stellten die gewalttätigen Ereignisse
des 9. April 1948 den Auslöser für Obregóns Beschäftigung mit der Gewaltge-
schichte Kolumbiens dar. Im Unterschied zu Arango befand sich Obregón an
diesem Tag in Bogotá und wurde zum Augenzeugen der blutigen Niederschla-
gung des Aufstands. Am Tag nach dem
bogotazo
, als die Regierungstruppen den
größten Teil der Hauptstadt unter ihre Kontrolle gebracht hatten und die Auf-
räumarbeiten begannen, begab er sich auf den Zentralfriedhof. Dort hatten die
Soldaten und Helfer der Regierung bereits mehrere hundert Tote aufgebahrt.
Aufgrund der erhöhten Seuchengefahr mussten die etwa 2.500 Opfer umgehend
in Massengräbern verscharrt werden, wozu unter anderem das weitläufige Ge-
lände des Zentralfriedhofs diente.292 Obregón verbrachte mehrere Stunden an
dem grausigen Ort, um Skizzen für eine Wandmalerei anzufertigen. Am Ende
entschied er sich jedoch dafür, ein großformatiges Ölgemälde im kubistischen
Stil Pablo Picassos zu schaffen. Als Vorlage für sein
Masacre del 10 de abril
diente das berühmte
Guernica
(1937) des spanischen Malers.
Da Obregón mehrere Jahre in Spanien bzw. Katalonien zugebracht hatte, wo
er unter anderem ander
Academia La Llotja
in Barcelona seine künstlerischen
Fertigkeiten erweiterte, stand er nach seiner Rückkehr nach Kolumbien stark
unter dem Einfluss spanischer Maler. Insbesondere die verschiedenen Radierun-
gen aus der Serie
Los desastres de la guerra
(1810–1814) von Francisco de
Goya sowie das eben erwähnte
Guernica
beeinflussten ihn im Jahre 1948 bei der
Anfertigung von
Masacre del 10 de abril
. Im Unterschied zu den Bildern von
Débora Arango und Alipio Jaramillo stehen dabei jedoch nicht die Vorgänge des
9. April, sondern vielmehr die katastrophalen Folgen im Mittelpunkt. Ebenso
wie Picassos Jahrhundertwerk, das nach der Bombardierung der baskischen
Stadt Gernika durch die deutschen Kampfflieger der
Legion Condor
als univer-
selles Mahnmal gegen Krieg und Gewalt entstand, verstand auch Obregón sein
292
Vgl.
Braun.
1985, S. 170. Auf dieser Seite des Buches ist auch ein Bild des Fotografen
Lunga abgedruckt, welches dieser am 10. April 1948 auf dem Zentralfriedhof aufnahm.
373
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
373
Bild als eindringliche Warnung vor den Folgen einer möglichen Eskalation des
Konflikts. Die sich anschließenden Jahrzehnte des Bürgerkrieges sollten zeigen,
wie nahe an der Realität seine düstere Vorahnung war.
Im Unterschied zu Obregóns Werken der "reifen Phase" war der Inhalt seiner
Gemälde gegen Ende der 40er Jahre für ein breites Publikum eher schwer zu-
gänglich.
Masacre del 10 de abril
stellt insofern eine Ausnahme dar, als andere
Bilder dieser Zeit fast vollständig auf figürliche Elemente und weithin verstan-
dene Symbole verzichten. Stattdessen experimentierte Obregón meistens mit
abstrakten geometrischen Formen und monochromatischen Flächen. Auf
Ma-
sacre del 10 de abril
sind hingegen unschwer die menschlichen Überreste eines
grausamen Massakers zu erkennen, das die Regierungstruppen an den Aufstän-
dischen in der Hauptstadt begangen hatten.
Fotos und Filmaufnahmen des
bogotazo
zeigen deutlich, dass die
Jega
am 9.
April mit zum Teil sehr primitiven Waffen gegen die Soldaten vorgegangen war.
An mehreren Stellen im Zentrum der Hauptstadt stürmten sie Geschäfte, um sich
mit Messern, Macheten und Holzknüppeln auszustatten. Ihnen gegenüber stan-
den jedoch die mit modernen Gewehren ausgerüsteten Regierungstruppen und
die als Scharfschützen eingesetzten
chulavitas
. Obwohl im Verlaufe der Aus-
schreitungen nicht wenige Polizisten und Soldaten die Seite wechselten, so steht
doch außer Zweifel, dass ein Großteil der Toten auf das Konto der regierungs-
nahen Einheiten gegangen sein drüfte.293
Diesem Umstand trägt Obregón Rechnung, indem er die Körper mit kleinen
Einschusslöchern malt. Die noch im Tode schmerzverzerrten Gesichter der Op-
fer erinnern an die unbarmherzige Grausamkeit der Täter, die auch vor Frauen
und Kindern nicht Halt machten. So weisen sowohl die zentrale Figur des Bil-
des, eine Frauengestalt in dunklen Farbtönen sowie der auf dem Boden mit dem
Kopf nach unten liegende Säugling, Schusswunden auf.
293
Vgl.
Braun.
1985, S. 167 ff.
374
374
Kapitel III
Abb. 12:
Masacre del 10 de abril
, 1948, Öl auf Leinwand, 104 x 145 cm (abgedruckt mit
freundlicher Genehmigung der Familie Obregón).
Zu diesem Zeitpunkt regte das Bild jedoch nicht die erhoffte Diskussion um
Schuld und Sühne an.294 Schließlich zeigten sich nach den Ereignissen vom 9.
April auch die Eliten entsetzt über den "kollektiven Wahnsinn der unzivilisierten
und barbarischen Meute" (siehe Kap. II, 2.2). Dies war nicht zuletzt eine der
gängigsten Deutungen, die man aus den
bogotazo
-Darstellungen von Débora
Arango und Alejandro Obregón herauslesen konnte. Genau wie seine Maler-
Kollegin aus Medellín beließ es der
costeño
daher nicht bei einem einmaligen
Kommentar zur
Violencia
und beschäftigte sich in den Jahren 1956 und 1957,
im Kontext der Militärdiktatur, erneut mit der politischen Gewalt. In den Ölge-
mälden
Estudiante muerto, el velorio
(1956) und
Estudiante muerto, el luto
(1957) ging er auf die Studentenproteste ein, die im Mai 1957 das Ende der Dik-
tatur mit herbeiführten. Im Hinblick auf die äußere Form dieser Bilder ist fest-
zustellen, dass sich Obregón bereits ein Stück weit vom Kubismus entfernt hatte
und die Bilder dadurch einem breiteren Publikum zugänglicher wurden. Zwar
zeigen beide Gemälde die Trauer um die bei den Unruhen getöteten Studenten,
zugleich verkörpert jedoch das Symbol des Hahns den Widerstand gegen die
Militärdiktatur. Das Tier steht für die populäre Tradition des Hahnenkampfes in
ländlichen Regionen und ist somit als Anspielung auf die Kampfbereitschaft des
Volkes zu verstehen.
294
Medina.
1999c, S.
8 f.
375
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
375
Abb. 13:
Estudiante muerto, el luto
, 1957, Öl auf Leinwand, 81 x 99 cm (abgedruckt mit
freundlicher Genehmigung der Familie Obregón).
Seine Hoffnung auf eine tiefgreifende Demokratisierung sah Obregón jedoch
schnell begraben. Anders als viele seiner Künstlerkollegen, die mit dem
Frente
Nacional
eine Zeit des Friedens, der Demokratie und des relativen Wohlstands
anbrechen sahen, ließ er sich zunächst nicht von der Rhetorik von "Frieden,
Versöhnung und Vergessen" anstecken. Davon legen seine Bilder
Genocidio
(1961) und vor allem
La Violencia
(1962) Zeugnis ab, die auf dem Höhepunkt
der Phase des
bandolerismo
entstanden. Im Falle von
Genocidio
wird außerdem
klar, welch großen Einfluss die zu Beginn der 60er Jahre erschienenen akademi-
schen Studien über die
Violencia
auf Obregóns Werk hatten. Zwar sollte die
maßgebliche Studie,
La Violencia en Colombia
, erst im Juli 1962 erscheinen. Es
waren jedoch bereits mehrere Bücher veröffentlicht worden, die sich in blutigen
und plakativen Details der auf dem Land verübten Grausamkeiten erschöpften.
Eine Anklage der politischen Eliten bzw. der sozioökonomischen Situation der
40er und 50er Jahre ging damit jedoch selten einher. Eine wichtige Rolle bei der
Verbreitung einer solch parteipolitisch gefärbten Vision der
Violencia
, von der
die meisten Stadtbewohner noch immer keine Vorstellung hatten, spielten auch
die
Violencia
-Romane, von denen
El Cristo de espaldas
(1952) und
Lo que el
cielo no perdona
(1954) die populärsten in jener Phase waren (siehe Kap. III, 2).
376
376
Kapitel III
So ist in letzterem Werk kontinuierlich die Rede von den Massakern, welche die
konservativen Banden an ihren liberalen Opfern verübten.295
Ganz unter dem Eindruck derartiger "Enthüllungen", denen zumeist jeglicher
analytischer Tiefgang abging, entstand zwischen 1961 und 1962
Genocidio
. Vor
einem tiefroten Hintergrund – lediglich durchbrochen von einigen schwarzen
und braunen Quadern – stapeln sich die schwer definierbaren Gliedmaßen brutal
zerstückelter
Violencia
-Opfer. Die zerhackten Körper inmitten einer Blutlache
weisen auf die gebräuchlichen Folter- und Tötungspraktiken während der
Vio-
lencia
hin (siehe Kap. I, 3.2). Ein eindeutiger Hinweis auf die politische Zuge-
hörigkeit der Täter ergibt sich zwar nicht, der Titel des Bildes lässt jedoch er-
kennen, dass Obregón den offiziellen Diskurs von "perdón y olvido" zurück-
weist und die Massaker an der Landbevölkerung als "Völkermord" denunziert.
Abb. 14:
Genocidio
, 1961, Öl auf Leinwand, 97 x 130 cm (abgedruckt mit freundlicher Ge-
nehmigung der Familie Obregón).
295
Vgl.
León Herrera, Ernesto.
1954.
Lo que el cielo no perdona
. Bogotá: Agra, S. 268
ff.
377
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
377
Gleiches gilt für
La Violencia
der vermutlich wichtigsten aller
Violencia
-
Repräsentationen. Obwohl unzählige Analysen über die Hintergründe und die
möglichen Aussagen dieses Bildes vorliegen, ist bis heute unklar, auf welche
Episode des Bürgerkrieges sich die Darstellung konkret bezieht. In verschiede-
nen Grautönen zeigt Obregón den nackten und schwangeren Körper einer er-
mordeten Frau. In ihrer horizontalen, niedergestreckten Position gleicht ihr fah-
ler und lebloser Körper einer typischen Landschaft der kolumbianischen Anden.
Wohlgemerkt einer von Krieg und Verderbnis gezeichneten Landschaft, der kei-
ne Möglichkeit zur Regeneration gegeben ist. Genauso wie im Falle des abgetö-
teten Lebens im Leib der Frau ist auch eine Wiedergeburt Kolumbiens unmög-
lich. Die Verschmelzung der kargen Berglandschaft mit dem schwangeren
Leichnam der Frau ist zugleich der einzige Hinweis auf den konkreten histori-
schen Gehalt des Bildes. Wie der Maler selbst erklärte, schwebten ihm während
des Schaffens-Prozesses die bergigen Gegenden der Departements Quindío und
Tolima vor, das heißt eben diejenigen Zonen, in denen die
Violencia
der 50er
und 60er Jahre am schlimmsten wütete.296
Abb. 15:
La Violencia
, 1962, Öl auf Leinwand, 155 x 188 cm (abgedruckt mit freundlicher
Genehmigung der Familie Obregón).
296
Vgl.
Medina.
1999b, S. 5.
378
378
Kapitel III
Befreit von diesem historischen Kontext entwickelte
La Violencia
schon bald
ein "Eigenleben". Vom Symbol der historischen
Violencia
wandelte sich das
Bild im Laufe der Jahre zum Sinnbild für sämtliche Kriege und Konflikte der
Welt.297 Obregón selbst äußerte sich nicht näher zum Gehalt des Kunstwerks,
das seit drei Jahren das Aushängeschild des neu errichteten
Museo de Arte del
Banco de la República
im Zentrum der Hauptstadt ist. Obwohl vielen heutigen
Betrachtern des Bildes der historische Kontext seiner Entstehung nicht bekannt
sein dürfte, verweisen zumindest Datum und Titel auf die entfernten Ursprünge
des aktuellen Konflikts. Aufgrund seiner enormen Bekanntheit und seiner
kunsthistorischen Bedeutung sind Obregóns Bilder, vor allem jedoch
La Violen-
cia
, dennoch als wichtige erinnerungskulturelle Medien einzustufen. Juan Gus-
tavo Cobo Borda drückt dies folgendermaßen aus: "Toda esta pintura, que con-
tinúa hasta la fecha, es una forma de resistencia: impide que nos insensibilice-
mos. También nos vacuna contra el olvido."298
5.3 Fernando Botero: Kolumbiens bekanntester Künstler
und die
Violencia
Als jüngster der in diesem Abschnitt behandelten Künstler hat der aus Medellín
stammende Fernando Botero (geb. 1932) sich am wenigsten mit der historischen
Violencia
auseinandergesetzt.299 Obwohl er in vielen seiner Werke Erinnerun-
gen an seine Kindheit im Departement Antioquia verarbeitet hat, spielen ein-
schneidende nationale Ereignisse wie der
bogotazo
oder die Militärdiktatur von
Rojas Pinilla in seinen Gemälden keine große Rolle. Das mehrere hundert Bilder
und Skulpturen umfassende Gesamtwerk des Künstlers fängt stattdessen die
"kolumbianische Mentalität" in ihren alltäglichen Ausdrucksformen ein. Dass
auch die Gewalt ein Teil dieser vermuteten
colombianidad
ist, erkannte Botero
bereits zu Anfang der 50er Jahre. Bis auf einige sporadische Ausnahmen hat er
sich jedoch eher mit Stillleben, Landschaften, Personen, Persönlichkeiten, Akt-
porträts, ironischen Abwandlungen klassischer Gemälde sowie Begebenheiten
297 Vgl.
El Tiempo
vom 20. Juli 2006.
298
Cobo Borda, Juan Gustavo.
2003. Volver creativa la violencia. In:
Revista Mundo
,
Nr. 10 (Dezember, Bogotá), S. 72.
299
Bei der folgenden biografischen Darstellung stütze ich mich auf
Villegas, Benjamín
(Hg.).
2004.
Botero en el Museo Nacional de Colombia. Nueva donación 2004
. Bogotá: Vi-
llegas, S. 110 f.
379
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
379
des täglichen Lebens beschäftigt. Eine thematische Wende ist erst ab 1999 zu
beobachten, als Botero auf die ausufernde Gewalt zwischen rechten Paramili-
tärs, linken Guerilleros und staatlichen Truppen reagierte. Vor allem das Leid
der zivilen Opfer stand zwischen 1999 und 2003 im Mittelpunkt seiner Serie
Violencia en Colombia
, die seit 2004 das Herzstück der Botero-Sammlung im
Museo Nacional
in Bogota darstellt. Bereits vor der Schenkung dieser Gemälde
an den Staat betonte Botero, dass er auch weiterhin nicht daran interessiert sei,
"engagierte Kunst" im politischen Sinne zu machen:
La reconstrucción artística del conflicto, que finalmente se reduce a unas cuantas imágenes o
símbolos, es una necesidad que uno siente de no vivir de espaldas a esta situación. Mi país
tiene dos caras. Colombia es ese mundo amable que yo pinto siempre, pero también tiene esa
cara terrible de la violencia. Entonces, en cierto momento, tengo que mostrar la otra cara de
Colombia.300
Nichtsdestotrotz wollte der Maler und Bildhauer, der heute als bekanntester
und erfolgreichster Künstler nicht nur Kolumbiens, sondern ganz Lateinameri-
kas gilt, dem "Politischen" nicht völlig entsagen. So erregte er erst kürzlich
internationales Aufsehen mit seiner in Lateinamerika, Europa und den USA ge-
zeigten Gemälde-Serie über die Verbrechen nordamerikanischer Soldaten in
dem irakischen Foltergefängnis
Abu Ghraib
(2005). Darin greift er in eindeuti-
ger und zum Teil polemischer Weise das militärische Engagement der USA im
nahen Osten an.301
Obwohl Botero nur wenige Repräsentationen der
Violencia
beigesteuert hat,
ist eine Analyse dieser Bilder dennoch unverzichtbar. Da seine Gemälde in allen
wichtigen Museen der Welt zu sehen waren bzw. zu sehen sind und seine Skulp-
turen zahlreiche Städte schmücken (u. a. auch in Deutschland), sind die Werke
alleine aufgrund ihrer immensen Reichweite unmöglich zu ignorieren. In Ko-
lumbien ist Botero derart omnipräsent, dass alle anderen Künstler in seinem
Schatten zu verblassen drohen. Während Bücher, Kataloge und Lesezeichen mit
Abdrucken seiner Gemälde an beinahe jedem Zeitungskiosk erhältlich sind, fin-
den sich etwa Kataloge mit den Bildern Débora Arangos nur in ausgesuchten
Buchläden. Aufgrund der fortschreitenden Kommerzialisierung der "Boteros"
wäre es daher ein aussichtsloses Unterfangen, die unterschiedlichen Verbrei-
tungsformen seiner Bilder auch nur annähernd zu erfassen. Ihre Verwendung als
300
Revista Diners
, Nr. 372, März 2001, S. 24.
301
Vgl.
Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 15. April 2005.
380
380
Kapitel III
Hintergrundmotive für Werbespots, Krawatten oder Feuerzeuge zeigt vielmehr,
dass der Auswahl an Trägermedien keine Grenzen gesetzt sind.302
Selbst wenn die im Folgenden besprochenen Gemälde zum Thema der
Vio-
lencia
keineswegs repräsentativ für Boteros Schaffen sind, so ist ihr Verbrei-
tungsgrad über Ausstellungen, Zeitschriften, Kataloge und andere Medien noch
immer um ein vielfaches höher als derjenige der Bilder von Débora Arango und
Alejandro Obregón. Hinzu kommt, dass der gleichzeitig in Italien, Kolumbien
und den USA residierende Botero mittlerweile ein regelrechtes "Kunst-
Imperium" aufgebaut hat. In Kolumbien verfügt er im Zentrum der Hauptstadt
über sein eigenes Museum (
Museo Botero
, dem
Banco de la Repúclica
zugehö-
rig) sowie eine Dauerausstellungen in Medellín (
Museo de Antioquia
). Daneben
befinden sich zahlreiche seiner Stahlskulpturen auf öffentlichen Plätzen in ganz
Kolumbien. Im Unterschied zu seinen Gemälden enthalten diese Skulpturen je-
doch keine eindeutigen Hinweise auf die gewalttätige Gegenwart und Vergan-
genheit des Landes. Eine Ausnahme stellt lediglich sein berühmter
Pájaro
(1989) im
Parque San Antonio
in Medellín dar. Bei einem schweren Anschlag
im Jahre 1995 wurde der Vogel durch eine zu seinen Füßen angebrachte Split-
terbombe zerstört, wobei mindestens 28 Menschen getötet und über 200 verletzt
wurden.303 Botero reagierte auf das schockierende Ereignis, indem er in unmit-
telbarer Nähe einfach eine Kopie der Skulptur aufstellte, die heute als
Pájaro de
Paz
bekannt ist. Das zerfetzte Original ließ er indes als Mahnmal stehen. Dies
geschah ganz im Einklang mit seiner Philosophie, nach der Kunst zwar keine
konkreten politischen und sozialen Veränderungen bewirken, aber die Menschen
zum Nachdenken über den Sinn ihres Tuns anregen könne. So sieht er viele sei-
ner Kunstwerke als eine Art Vermächtnis (
testimonio
), um einer Wiederholung
der Gewalt vorzubeugen:
No aspiro a que estos cuadros vayan a arreglar nada, porque sé muy bien que el arte no cam-
bia nada, los responsables de los cambios son los políticos. Sólo pretendo dejar el testimonio
de un artista que vivió y sintió su país y su tiempo. Es como decir: 'Miren la locura en que
vivimos, que esto no se repita'.304
Im Unterschied zu Débora Arango und Alejandro Obregón stammte Fernando
Botero aus eher kleinbürgerlichen Verhältnissen. Im Alter von nur zwölf Jahren
302
Sämtliche bislang erschienen Kataloge listet Nubia Janeth González Ruiz in ihrer Dis-
sertation über Botero auf. Siehe
González Ruiz, Nubia Janeth.
2006.
Colombia en la pintura
de Fernando Botero
. Barcelona: Univ. Politécnica de Catalunya (Dissertation), S. 210 ff.
303
Vgl.
El Colombiano
vom 12. Juni 1995.
304
Revista Diners
, Nr. 372, März 2001, S. 24.
381
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
381
schickte ihn sein Onkel in eine Stierkämpferschule in Medellín, wo er eine Aus-
bildung zum
matador
erhalten sollte. Anstatt eine solche Karriere ernsthaft in
Erwägung zu ziehen, beschäftigte sich der Junge aber lieber damit, das archa-
ische Ambiente rund um die
Plaza de la Macarena
zu zeichnen. In späteren Jah-
ren sollten ihn die Erinnerungen an den Stierkampf zu der Serie
La Corrida
(ca.
1984–1992) veranlassen. Mit geringen finanziellen Mitteln ausgestattet, schlug
sich der junge Botero anschließend mit Gelegenheitsarbeiten durch und erlernte
die Malerei größtenteils als Autodidakt. In den späten 40er Jahren entdeckte er
Picasso und Dalí für sich, von deren Einfluss die Aquarelle aus der Zeit bis 1948
zeugen. Zwischen 1949 und 1950 finanzierte er seine Kunstausbildung am
Liceo
San José
und der
Normal de Marinilla
(beide in Medellín) mit Illustrationen für
die konservative Tageszeitung
El Colombiano
. Diese Arbeit musste er jedoch
aufgrund eines zu "avantgardistisch" geratenen Artikels über Picasso bald wie-
der aufgeben.
Nach einer unsteten Phase, in der er sich mit dem Verkauf von Auftragsarbei-
ten und der Anfertigung von Wandmalereien über Wasser hielt, zog er sich für
mehrere Monate an die kolumbianische Karibikküste zurück. In dieser so ge-
nannten "Periode von Tolú" stand Botero stark unter dem Einfluss von Gauguin.
Als er die Ergebnisse seines Karibik-Aufenthalts im Jahre 1952 in Bogotá prä-
sentierte, zeigten sich Publikum und Kunstkritiker gleichermaßen beeindruckt.
Auf einen Schlag verkaufte er alle Bilder. Noch im gleichen Jahr gewann er den
zweiten Preis auf dem
IX Salón Anual de Artistas
in Bogotá. Beflügelt von die-
sem Erfolg kehrte er Kolumbien vorerst den Rücken und reiste nach Europa.
Während seiner Aufenthalte in Italien, Spanien und Frankreich beschäftigte sich
Botero intensiv mit den "Klassikern" der europäischen Malerei. Insbesondere
die Meister der italienischen Renaissance wie Piero della Francesca, Paolo Uc-
cello, Tizian, Ingres, Giotto und Masaccio sollten sein Werk entscheidend prä-
gen. Durch das Studium der alten Meister entwickelte er eine zunehmende Ab-
neigung gegenüber der abstrakten Malerei der Moderne. Stattdessen interessierte
er sich seit Mitte der 50er Jahre immer stärker für die üppigen Farben und For-
men der Renaissance, deren plastische, raumfüllende Wirkung er noch zu stei-
gern gedachte. In diesem Kontext, während eines Aufenthalts in Mexiko, schuf
er im Jahre 1956 seine
Naturaleza muerta, con mandolina
, die als erster "typi-
scher" Botero gilt. Hervorstechendes Merkmal des Werkes ist seine groteske
Verdickung, die seither das gesamte Werk des Künstlers prägen sollte.
Die kubistischen und expressionistischen Experimente früherer Tage hinter
sich lassend, verschrieb er sich ganz den runden und prallen Formen. Übertrei-
382
382
Kapitel III
bung, Üppigkeit und Ironie bildeten fortan die Kernelemente seines Werks. Mit
warmen und kräftigen Farben verlieh er den meisten seiner Gemälde eine naive
Ironie und Fröhlichkeit, die der kolumbianischen Kunst bislang fremd waren.
Selbst bei gewalttätigen und düsteren Themen griff Botero auf diese Elemente
zurück, in denen er sowohl das Wesen der Renaissance als auch des lateiname-
rikanischen Menschen vereint sah.305 Dabei wirkten selbst seine Darstellungen
von Tieren und Menschen derart statisch, als ob auch sie "Stillleben" wären. Erst
mit der aktuellen Serie
Violencia en Colombia
(1999–2003) sollte Botero dieses
Verfahren zugunsten einer neuen kompositorischen Dynamik aufgeben.
Nach seinem Bekenntnis zur runden und prallen Form war der Aufstieg des
Malers aus Medellín unaufhaltsam. Innerhalb weniger Jahre entwickelte er sich
zum kommerziell erfolgreichsten Künstler Lateinamerikas und gewann zahlrei-
che bedeutende Preise. Seine Werke wurden auf der ganzen Welt von den wich-
tigsten Galerien und Museen gezeigt bzw. angekauft. Gegen Mitte der 70er Jah-
re beschäftigte sich Botero außerdem mit der Bildhauerei, und schnell erlangten
seine ebenso "dicken" Stahlskulpturen internationale Bekanntheit. In Kunstkrei-
sen erfuhr er zwar nicht selten Ablehnung und Häme. Der Wiedererkennungs-
wert der "boterianischen" Formen erwies sich jedoch als derart hoch, dass mitt-
lerweile selbst angesehene Kunstkritiker den Terminus verwendeten, um auf
Ähnlichkeiten zum Werk des Kolumbianers hinzuweisen. Heutzutage sorgen die
Angestellten seiner Werkstatt in Italien dafür, dass die dort angefertigten Skulp-
turen weltweit exportiert werden. In seiner kolumbianischen Heimat, der er ge-
legentlich einen Besuch abstattet, hat Botero den Status eines Popstars. In einer
Liste der zehn wichtigsten Persönlichkeiten Kolumbiens (
El 10 de Colombia
)
führt ihn etwa die Zeitschrift
Semana
auf dem achten Platz, gemeinsam mit der
Kaffee-Werbefigur Juan Valdez, dem Schriftsteller Gabriel García Márquez, der
Sängerin Shakira, dem Musiker Juanes und dem Fußballspieler Pibe Valderra-
ma.306
Bereits früh hatte sich Botero mit den Folgen der historischen
Violencia
aus-
einandergesetzt, allerdings auf indirekte Weise. Wahrscheinlich als Reaktion auf
die seit 1948 eskalierende Gewalt zwischen Liberalen und Konservativen malte
er im Jahre 1949
Mujer llorando
. Dabei handelt es sich um die expressionisti-
sche Darstellung einer weinenden Frau, die ihre Hand schützend vor das Gesicht
305 Zur Übernahme der runden und prallen Formen siehe
González Ruiz.
2006, S. 66–73.
306 Vgl.
Semana
, Nr. 1260, 26. Juni 2006, S. 169.
383
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
383
hält.307 Bereits deutlicher von den gewalttätigen Ereignissen der Epoche geprägt
ist sein Frühwerk
Frente al mar
(1952). Es zeigt eine Szene, die Botero selbst
beobachtete, als er sich zwischen 1951 und 1952 im an der Karibikküste gelege-
nen Tolú aufhielt. Auf dem expressionistischen Gemälde sind zwei Männer zu
sehen, die ihr an Händen und Füßen gefesseltes Opfer an einer Holzstange über
den Strand tragen. Ob dies jedoch wirklich ein klarer Hinweis auf die während
der
Violencia
von den bewaffneten Banden verübten Grausamkeiten ist, bleibt
unklar. Da die parteigebundenen Guerilleros und später die
bandoleros
vor al-
lem in Hochland und in den östlichen Provinzen agierten, ist ein solcher Zu-
sammenhang nicht zweifelsfrei zu belegen. Obwohl Botero mit diesem Bild den
zweiten Preis auf dem
IX Salón Anual de Artistas
in Bogotá gewann, kommt es
als erinnerungskulturelles Medium nur bedingt in Betracht. Einigen Quellen zu-
folge befindet sich das kaum bekannte und nur in wenigen Katalogen abgebilde-
te Ölgemälde heute im Privatbesitz. Den Organisatoren des
Salón Anual de Ar-
tistas
zufolge ist sein momentaner Aufenthaltsort unbekannt.308
In Bezug auf seine Reichweite ungleich bedeutender ist hingegen das bereits
"typische" Ölgemälde
Obispos muertos
, eines der bekanntesten Bilder Boteros.
Darauf zu sehen sind mehrere kegelförmig gestaltete Bischöfe, die übereinan-
dergestapelt einen rundlichen Haufen ergeben. Die dunklen, zwischen lila und
blau oszillierenden Farbtöne, und die fahlen Gesichter der Bischöfe verleihen
dem Bild eine düstere Aura. Dieser Eindruck hat dazu geführt, dass selbst nam-
hafte Kunstkritiker wie Santiago Londoño Vélez das Gemälde für eine Anspie-
lung auf die negative Rolle der katholischen Kirche während der
Violencia
hal-
ten.309 In diesem Sinne wäre das Bild der toten Bischöfe als Allegorie auf den
relativen Machtverlust der Kirche seit Beginn des
Frente Nacional
(1958) zu
verstehen. Hierfür gibt es jedoch noch weniger Anhaltspunkte als im Falle von
Frente al mar
. Botero selbst antwortete auf die Frage eines Journalisten, warum
er immer wieder tote Geistliche male, dass er nichts gegen die Kirche habe. Die
Kleriker seien vielmehr ein "fabelhaftes" Motiv, das seit der Renaissance eine
große Rolle in der Kunst spiele.310
307
Vgl.
Londoño Vélez, Santiago.
2004. Testimonios de la barbarie. In: Villegas, Ben-
jamín (Hg.).
Botero en el Museo Nacional de Colombia. Nueva donación 2004
. Bogotá: Vi-
llegas, S. 9.
308
Hierzu die Website des
Salón Nacional de Artistas
: www.museonacional.gov.co/mar-
ca5l.html.
309
Vgl.
Londoño Vélez.
2004, S. 9.
310
Vgl.
El Tiempo
vom 1. März 1964.
384
384
Kapitel III
Abb. 16:
Obispos muertos
, 1958, Öl auf Leinwand, 167 x 195 cm (abgedruckt mit freundli-
cher Genehmigung des
Museo Nacional de Colombia
).
Trotz dieser Aussage bleiben Zweifel am tieferliegenden Sinn der "toten Bi-
schöfe". So fertigte Botero nicht nur eine Serie mit toten und lebenden Geistli-
chen an, sondern zeigte im Jahre 1973 erstmals auch einen Priester im Kontext
des bewaffneten Konflikts. Sein Ölgemälde
La guerra
weist sogar eine ähnliche
Komposition wie
Obispos muertos
auf. Wieder bilden die Leiber von im Krieg
getöteten Personen einen großen rundlichen Haufen. Diesmal ist die verwendete
Symbolik jedoch eindeutiger. Unter den Getöteten befinden sich neben dem ob-
ligatorischen Geistlichen in der Mitte auch mehrere Militärs, zwei Prostituierte,
zwei Kranke, ein Leichnam in einem Sarg, ein Politiker, ein Stierkämpfer sowie
mehrere schwer zuzuordnende Gesichter und Gliedmaßen. Dazwischen treten
Geldscheine, blutbeschmierte Fahnen, Münzen und Gewehrläufe hervor. Auf-
grund dieser Elemente könnte es sich durchaus um eine Anspielung auf die
Hauptverantwortlichen der
Violencia
und den moralischen Verfall des Landes
handeln. Von Seiten des "Maestro" liegt diesbezüglich jedoch keine Aussage
vor. Die fiktiven Flaggen und der zeitliche Abstand zur historischen
Violencia
,
die etwa gegen Mitte der 60er Jahre endete, weisen eher darauf hin, dass es sich
um einen universellen Kommentar zur "gleichmacherischen" Vernichtungsge-
385
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
385
walt des Krieges handelt. Schließlich ist der Tod das einzige, das alle Figuren
auf dem Gemälde teilen. Als kleiner Hinweis auf die komplizierte kolumbiani-
sche Konfliktgeschichte könnte lediglich die Uniform des getöteten Soldaten am
rechten Bildrand dienen. Auf seiner Mütze prangt eindeutig das kolumbianische
Staatswappen mit dem darüber gestellten Kondor.
Abb. 17:
La guerra
, 1973, Öl auf Leinwand, 191 x 279 cm (© Fernando Botero, courtesy
Marlborough Gallery, New York).
Dass Fernando Botero trotz des größer werdenden zeitlichen Abstands die
Epoche der
Violencia
weiterhin im Gedächtnis behielt, zeigt am deutlichsten das
Ölgemälde
Guerrilla de Eliseo Velásquez
(1988). Es ist sein einziges Bild, das
ohne jeden Zweifel den Konflikt der 40er und 50er Jahre zum Thema hat. Zwar
hatte Botero bereits mehrfach Erinnerungen aus seiner Kindheit und Jugend ver-
arbeitet, doch handelte sich dabei meist um persönliche Eindrücke sowie
Schlagzeilen der damaligen sensationalistischen Presse. So stellte er beispiels-
weise auf den Bildern
Las noches del doctor Mata
(1963),
Teresita la descuarti-
zada
(1963) und
El asesinato de Rosa Calderón
(1969) spektakuläre Mordfälle
aus der Zeit von 1949 bis 1951 dar, über die damals in der
sección roja
vieler
Tageszeitungen berichtet wurde.311 Es ist zu vermuten, dass Botero von den Ak-
311
Vgl.
González, Beatriz.
2004. Fernando Botero en la colección del Museo Nacional de
Colombia. In: Villegas, Benjamín (Hg.).
Botero en el Museo Nacional de Colombia. Nueva
colección 2004
. Bogotá: Villegas, S. 80.
386
386
Kapitel III
tionen des liberalen Guerilleros Eliseo Velásquez (ermordet 1952) ebenfalls aus
den Zeitungsberichten der späten 40er und frühen 50er Jahre erfuhr. So erregte
Velásquez als erster Anführer der Guerilla der Llanos gegen Ende der 40er Jahre
großes Aufsehen mit seinen Überfällen auf einige kleinere Ortschaften in der
Nähe der Stadt Villavicencio. Da seine Opfer vor allem Polizisten,
chulavitas
und konservative Familien waren, erklärten ihn die konservativen Machthaber
schnell zum "Staatsfeind". In diesen Kreisen zirkulierten bald Gerüchte und Ge-
schichten über die angebliche Grausamkeit des Guerilleros. Für die Liberalen
wurde der als Anhänger Gaitáns bekannte Velásquez hingegen zu einer Helden-
figur. Als Velásquez und seine Truppe gegen Anfang der 50er Jahre in den Lla-
nos immer stärker von der Armee bedrängt wurden, setzte er sich schließlich
nach Venezuela ab. Verantwortlich für den allmählichen Niedergang seiner
Guerillabewegung war allerdings auch sein selbstherrlicher Führungsstil. So hat-
te sich Velásquez selbst zum General ernannt und aufgrund seiner aufbrausen-
den Art zahlreiche Feinde in den eigenen Reihen gemacht. Obwohl der Guerille-
ro im Jahre 1952 in Venezuela wegen "Aufwiegelei" angeklagt wurde, sprachen
ihn die Richter des Nachbarlandes frei. Unverzüglich kehrte Velásquez nach
Kolumbien zurück, wo er am 20. August 1952 in einen Hinterhalt der Regie-
rungstruppen geriet und erschossen wurde. Zeugenberichten zufolge war er von
den eigenen Leuten verraten worden.312
Die von Botero gemalte Guerillagruppe hat indes nur wenig mit dem von der
konservativen Presse gezeichneten Bild eines grausamen Banditen gemein.
Stattdessen ist Velásquez inmitten einer idyllischen Landschaft dargestellt, wie
er friedlich in einer Hängematte schläft. Seine Untergebenen sind wie er selbst
auch mit primitiven Schrotflinten ausgerüstet und gleichen eher arbeitsamen
Campesinos als gut ausgebildeten Kämpfern. Weiterhin ist erkennbar, dass die
Truppe kaum Zeit zur Rast hat. Während drei der Männer schlafen, sind die üb-
rigen drei damit beschäftigt, das Marschgepäck vorzubereiten und Wache zu
halten. Die sich von einem Baum herablassende Schlange könnte als Hinweis
auf die "paradiesische" Unschuld jener Epoche des liberalen Widerstands inter-
pretiert werden.
312
Vgl.
Casas Aguilar, Justo.
1986.
La Violencia en los llanos orientales
. Bogotá: ecoe,
S. 36, 49 u. 57.
387
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
387
Abb. 18:
Guerrilla de Eliseo Velásquez
, 1988, Öl auf Leinwand, 154 x 201 cm (abgedruckt
mit freundlicher Genehmigung des
Museo Botero
, Bogotá [Colección Banco de la República
de Colombia, registro 3377]).
Tatsächlich sieht der Historiker Hermes Tovar Pinzón in dem Bild eine ein-
deutige Stellungnahme Fernando Boteros für die Ziele der liberalen Guerillas.
Aufgrund ihrer Naivität seien die
llaneros
zwar verraten und betrogen worden.
Im Unterschied zu heute habe ihr Kampf jedoch noch edlen Motiven gegol-
ten.313 Insofern stellt
Guerrilla de Eliseo Velásquez
einen drastischen Gegensatz
zur 1999 begonnen Serie über die aktuelle Gewalt dar. Denn bezeichnenderwei-
se ist das erste Bild dieser Serie "Tirofijo" gewidmet, dem legendären Komman-
danten der FARC, der im März 2008 vermutlich eines natürlichen Todes starb.
Mit dem Ölgemälde
Tirofijo
zieht Botero wohl bewusst eine Linie von der histo-
rischen
Violencia
zum Konflikt der Gegenwart. Für viele Kolumbianer war der
ehemalige Campesino Manuel Marulanda, alias "Tirofijo", noch bis vor kurzem
das lebende Symbol für die Gegenwart des Vergangenen. Seine Figur war eines
der wenigen Zeugnisse für die Langlebigkeit und die entfernten Ursprünge des
aktuellen Konflikts. "Tirofijo", der diesen Kampfnamen bereits während der
313
Vgl.
Pinzón, Hermes Tovar.
2003.
Entre el color y el terror
. In: http://alhim.revues.
org/document768.html (18. Februar 2008).
388
388
Kapitel III
Violencia
erhielt, erscheint bei Botero jedoch völlig anders als der ebenfalls in
den 50er Jahren kämpfende Eliseo Velásquez.
Im Gegensatz zur romantisierenden Darstellung des liberalen Guerilleros ist
der marxistische FARC-Chef ohne seine Truppe dargestellt. Ganz alleine steht
er auf der Lichtung eines halb zerstörten Waldes. Mutwillig abgebrochene
Zweige und Äste deuten die massiven Umweltschäden an, die auf das Konto der
modernen Guerillaorganisationen gehen. Schließlich sind sie es, die im ganzen
Land Hundertausende Hektar für den Anbau von Koka-Pflanzen roden lassen
oder durch die Sprengung von Ölpipelines die Böden verseuchen. Zwar sind die
FARC meist nur indirekt an der Produktion und am Vertrieb von Kokain betei-
ligt. Da sie jedoch von den Kokabauern Abgaben fordern, sie vor dem Staat
schützen und zudem mit Drogenhändlern kooperieren, ist ihre negative Rolle in
Bezug auf die Umwelt unbestreitbar.
Daneben deutet sich auch "Tirofijos" ideologische Engstirnigkeit durch das
rote Tuch an, das ihm von der Schulter hängt. Im Gegensatz zu Eliseo
Velásquez und seinen Männern ist der FARC-Kommandeur zudem mit einem
modernen Schnellfeuergewehr ausgerüstet und in einen Kampfanzug gekleidet.
Die zentrale Aussage des Bildes lässt sich in einem Wort erfassen: Einsamkeit.
Ein einzelner, schwer bewaffneter Campesino, der einen ganzen Staat, ein gan-
zes Volk herausfordert. Die Ironie der Darstellung ist unverkennbar. Anstatt sich
mit dem "revolutionären" Kampf zu solidarisieren, zeigt Botero, dass der Auf-
stand bereits vor langer Zeit seinen Sinn verloren hat. Eine Gegenüberstellung
beider Bilder verdeutlicht daher den allmählichen Übergang von der
Violencia
zu den
violencias
. Während es sich bei den Männern von Eliseo Velásquez um
"unschuldige" Campesinos handelt, die sich auf der Flucht vor unbarmherzigen
Regierungstruppen befinden, hat sich im Falle "Tirofijos" die Situation in ihr
Gegenteil verkehrt. Gestützt auf die Macht der Waffen hat sich dieser alte und
neue Guerillero die überwiegende Mehrheit der Kolumbianer zum Feind ge-
macht.
389
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
389
Abb. 19:
Tirofijo
(1999, Öl auf Leinwand, 46 x 33 cm) im
Museo Botero
in Bogotá (Fotogra-
fie im Privatbesitz des Autors).
Auch wenn Fernando Botero in Interviews immer wieder betont, dass Kunst
seiner Meinung nach keine sozialen und politischen Veränderungen bewirken
könne, so ergreift er in den beiden soeben behandelten Arbeiten doch dezidiert
Partei für oder gegen die bewaffnete Rebellion. Diese deutliche Botschaft be-
wirkt, dass sich seine Bilder nicht nur aufgrund ihrer hohen Reichweite in wich-
tige erinnerungskulturelle Medien verwandeln.
Guerrilla de Eliseo Velásquez
drückt beispielsweise aus, dass der kolumbianische Konflikt eine konkrete Ge-
schichte mit konkreten Akteuren hat.
Tirofijo
hingegen verdeutlicht, wie sehr
der damals begonnen Kampf mittlerweile an Legitimität eingebüßt hat. Auf-
grund seiner einfach zu verstehenden Bildsprache und dem exponierten Ort bei-
der Gemälde handelt es sich daher um außerordentlich wirkungsmächtige
Vio-
lencia
-Repräsentationen, die zudem den offiziellen Diskurs in Frage stellen.
Schließlich behaupten viele Angehörige der politischen Eliten bis heute, dass
der aktuelle Konflikt seine Wurzeln nicht in der sozioökonomischen Situation
390
390
Kapitel III
der 40er und 50er Jahre habe, sondern in erster Linie auf "äußere Faktoren" wie
den Kommunismus zurückzuführen sei (siehe Kap. II, 2.2).
Dem Bedürfnis der Betrachter nach einer Aufschlüsselung und Interpretation
historischer Ereignisse kommt Botero mit seinen ihm eigenen Mitteln nach. In
diesem Sinne sind auch die aktuellen Serien
Violencia en Colombia
und
Abu
Ghraib
keinesfalls vom Gesamtwerk des Künstlers abzukoppeln. Zwar hat sich
Botero im Zeitraum vor 1999 eher selten mit der politischen Gewalt in Kolum-
bien beschäftigt. In Bezug auf seine kritische Position, die sich zumeist in ironi-
schen Seitenhieben auf Militärs, Politiker und den Klerus äußert, ist jedoch seit
den 50er Jahren eine klare Linie erkennbar.
6.
D
IE
V
IOLENCIA
UND DER
G
RÜNDUNGSMYTHOS DER
FARC-G
UERILLA
Grundsätzlich hatten die bisherigen Abschnitte den Sinn, auf die diversen herr-
schaftskritischen Darstellungen der
Violencia
in gesellschaftlichen Bereichen
wie der Literatur, dem Theater, dem Film und der Kunst hinzuweisen. Das hier-
zu oft verwendete Konzept der "Zivilgesellschaft" ist jedoch alles andere als
scharf umrissen, da es eine irgendwo zwischen den staatlichen Institutionen und
dem Bereich der Wirtschaft verortete Sphäre beschreibt, die nur unklar kontu-
riert ist. In der Realität überschneiden sich meist alle drei Felder.
Bei einer solch vagen Definition ergibt sich in Kolumbien sofort das Problem,
dass sich gewalttätige Akteure wie die Guerilla, die Paramilitärs oder die
narcos
ebenfalls als Mitglieder der "Zivilgesellschaft" betrachten. Tatsächlich haben
alle drei Gruppen in der Vergangenheit versucht, durch die Gründung abhängi-
ger NROs oder sozialer Einrichtungen Teile der Gesellschaft für ihre Projekte zu
gewinnen. Im Falle des berüchtigten Drogenbarons Pablo Escobar äußerte sich
dies etwa in der Errichtung und Sanierung ganzer Stadtviertel zum Wohle der
marginalisierten Bevölkerung von Medellín, wohingegen die FARC mit der
heimlichen Kontrolle einiger NROs von sich reden machten. Letztere Tatsache
verleitete den amtierenden Präsidenten Álvaro Uribe am 8. September 2003 da-
zu, gleich mehrere NROs in Kolumbien als "Terrorzellen" zu bezeichnen. Da
eine solche Bemerkung im Hinblick auf die akute Bedrohungslage vieler Men-
schenrechtsorganisationen jedoch nicht ungefährlich ist, musste sich Uribe kurze
391
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
391
Zeit später vor der UN-Vollversammlung in New York für seine rhetorischen
Exzesse entschuldigen.314
Nicht zuletzt aufgrund der Unschärfe des Begriffs der "Zivilgesellschaft" ha-
ben die bewaffneten Gruppen im Laufe der Zeit die Strategie entwickelt, sich
selbst als Teil derselben zu bezeichnen. Obwohl ich "Zivilgesellschaft" keines-
wegs mit "zivil" gleichsetzen möchte, scheint mir der Diskurs der bewaffneten
Akteure verfehlt zu sein. Denn weder repräsentieren Guerilleros und Paramili-
tärs derzeit die Anliegen wesentlicher Teile der Bevölkerung, noch verfügen sie
über ein konkretes Projekt zur Aggregierung und Kanalisierung gesellschaftli-
cher Interessen. Im Falle der linksgerichteten Guerillas stehen zwar nach wie vor
sozialistische Ideale sowie die Idee der Bauern- bzw. Volksorganisation auf der
Agenda. In der Realität zeigt sich jedoch von Tag zu Tag deutlicher, dass kurz-
fristige ökonomische Interessen der Rhetorik des
secretariado
(FARC-Führung)
bzw. des
Coce
(
Comando central
, ELN-Führung) entgegen stehen. Warum ist es
also angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Entfremdung der illegalen
Gruppen dennoch notwendig, einen Blick auf
ihre
Deutung der
Violencia
zu
werfen?
Die Antwort liegt in der militärischen Macht der Extremisten begründet. Da
momentan vor allem die linksgerichteten FARC ein Hindernis für die demokra-
tische Transformation darstellen, ist ein Friedensprozess die unabdingbare Vor-
aussetzung für eine erfolgreiche Demokratisierung. Zwar dient der Zustand
permanenter Aufstands-Bekämpfung der Regierung bis zu einem gewissen Grad
auch als Legitimationsgrundlage für ihre neoliberale Wirtschaftspolitik sowie
die fortschreitende Einschränkung der Bürgerrechte. Es lässt sich jedoch kaum
leugnen, dass der Krieg gegen die illegalen Gruppen auch gewaltige Kosten im
ökonomischen und gesellschaftlichen Bereich verursacht. Am Ende ist niemand
stärker vom Konflikt betroffen als die verarmte Landbevölkerung, die oft zwi-
schen die Fronten der verfeindeten Parteien gerät. Doch auch in den Mittel- und
Oberschichten fordern die Aktionen der illegalen Gruppen ihren Tribut, zumeist
in Form von Entführungen, Schutzgeldzahlungen und gezielten Mordanschlä-
gen.315
314
Vgl.
Equipo Nizkor.
2003.
Los paramilitares respaldan el discurso del Presidente
Álvaro Uribe Vélez contra las ONG
. In: http://www.derechos.org/nizkor/colombia/doc/ob-
serv3.html (26. Januar 2008).
315
Vgl.
Jäger, Thomas
u. a.
2007.
Die Tragödie Kolumbiens. Staatszerfall, Gewaltmärk-
te und Drogenökonomie
. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 98 ff.
392
392
Kapitel III
Für den Abbau autoritärer und gewalttätiger Strukturen in Staat und Gesell-
schaft, die in einem reziproken Verhältnis zum bewaffneten Konflikt stehen, wä-
re daher ein Friedensschluss die wichtigste Vorbedingung. Während die
rechtsgerichteten Paramilitärs derzeit einen "Demobilisierungsprozess" durch-
laufen, der zwar von offizieller Seite begrüßt und gefördert, von diversen Men-
schenrechtsgruppen jedoch scharf kritisiert wird, leistet die FARC-Guerilla nach
wie vor erbitterten Widerstand. Auch wenn die Auflösung und gesellschaftliche
Wiedereingliederung der paramilitärischen Verbände ein wichtiges Thema ist
und besonders im Zusammenhang mit der von der Regierung eingesetzten "Ver-
söhnungs- und Entschädigungskommission" (siehe Kap. IV, 2) Aufmerksamkeit
verdient, möchte ich mich in diesem Abschnitt auf die FARC beschränken.
Obwohl in der Wahrnehmung der betroffenen Bevölkerung nicht selten Ver-
gleiche zwischen den "Paras" der Jetztzeit und den
pájaros
bzw.
chulavitas
der
Vergangenheit gezogen werden, so ist doch kein direkter historischer Zusam-
menhang erkennbar. Sowohl der historisch-politische Kontext als auch die öko-
nomischen Hintergründe sind völlig verschieden. Während die konservativen
Banden der 50er und 60er Jahre noch auf Seiten einer der beiden Traditions-
Parteien kämpften, um später im Auftrag von Großgrundbesitzern die Länderei-
en des "Gegners" zu erobern, so sind die modernen Paramilitärs eher unpolitisch
und stark in den Drogenhandel involviert. Als verbindendes Element zwischen
pájaros
und "Paras" könnte höchstens deren Zusammenarbeit mit Großgrundbe-
sitzern und im weitesten Sinne "konservativen" Eliten angesehen werden. Die
religiösen und parteipolitischen Überzeugungen aus der Zeit der
Violencia
sind
für die heutigen Paramilitärs jedoch ohne größere Bedeutung.
Im Gegensatz dazu legen die Mitglieder des
secretariado
der FARC großen
Wert auf eine historische Legitimierung ihres Kampfes. Über ihre Pressespre-
cher sowie diverse Medienkanäle (v. a. Internet) verbreiten sie deshalb den so
genannten "Marquetalia-Mythos", demzufolge die Organisation erst auf militäri-
schen Druck von außen den Wandel von einer bäuerlichen Selbstverteidigungs-
gruppe hin zu einer straff organisierten, mobilen Kampfgruppe vollzogen habe.
Den Kontext dieser Vorgänge bildet dabei die
Violencia
, die im Diskurs der
FARC-Kommandeure gewissermaßen eine ideologische Radikalisierung der
unterdrückten Bauern "erzwungen" habe. Aus diesem Grunde beginnen etwa
Propaganda-Videos der FARC häufig mit dem
bogotazo
oder dem Aufstand der
393
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
393
llaneros
unter Guadalupe Salcedo.316 In diesen Massenmobilisierungen sehen
die FARC-Ideologen direkte Vorläufer ihrer Organisation.
Im Falle des ELN, der zweiten noch heute aktiven Guerilla, spielt die
Violen-
cia
bereits eine untergeordnete Rolle. Der ELN, der sich in ideologischer Hin-
sicht stark an der kubanischen Revolution sowie der Theologie der Befreiung
orientierte und erst nach der
Violencia
entstand (1965), weist außerdem eine völ-
lig andere personelle Zusammensetzung auf. Während die wenigen ursprüngli-
chen Mitglieder der FARC, die heutzutage das
secretariado
bilden, eher einfa-
cher, meist bäuerlicher Herkunft sind, zog der ELN von Anfang an die Angehö-
rigen der städtischen Mittelklasse an. Dabei handelte es sich nicht selten um
Studenten der
Universidad Nacional
, die gegen Mitte der 60er Jahre in Berüh-
rung mit der marxistischen Lehre kamen. Aus diesem Grund spielt die Epoche
der
Violencia
im Diskurs des ELN höchstens eine erklärende Rolle, um auf be-
stimmte "historische Gesetzmäßigkeiten" hinzuweisen.317 Durch permanente
Attacken der Armee und der Paramilitärs stark geschwächt, befindet sich der
ELN seit Jahren in der Defensive. Seine Führer verhandeln deshalb seit Ende
2005 mit der kolumbianischen Regierung über die Bedingungen eines mögli-
chen Friedensvertrages.318
Ebenso wie die historischen Ursprünge der Paramilitärs und des ELN sind
auch die Wurzeln der FARC in den vergangenen Jahrzehnten umfassend er-
forscht worden. Als Standardwerke können diesbezüglich die Monografien von
Eduardo Pizarro sowie die jüngst erschienene Studie von María Victoria Uribe
gelten, auf die ich mich im Folgenden stütze.319 Dass ich das Thema überhaupt
anschneide, hat wesentlich mit den im nachfolgenden Kapitel präsentierten Vor-
schlägen zur Gestaltung einer "sinnvollen" Vergangenheitspolitik zu tun.
Schließlich ist es eine Grundforderung der FARC, dass
ihre
Sicht der
Violencia
ebenfalls über institutionelle Kanäle verbreitet und anerkannt werden müsse.
Sollte der Staat dieser Forderung bei einem zukünftigen Friedensprozess nicht
316
Siehe z. B. die "Dokumentation" mit dem Titel
El Bogotazo, el origen de las FARC
im
Internet-Videoportal
YouTube
: http://www.youtube.com.
317
Siehe hierzu die Homepage der Guerilleros: www.eln-voces.com.
318
Vgl.
The New York Times
vom 9. September 2007.
319
Pizarro.
1991 u. 1996 sowie
Uribe, María Victoria.
2007.
Salvo el poder todo es ilu-
sión. Mitos de origen: Tigres Tamiles de Sri Lanka, Fuerzas Armadas Revolucionarias de
Colombia, Irish Republican Army
. Bogotá: Instituto Pensar u. a.
394
394
Kapitel III
nachkommen, sei dieser – so heißt es jedenfalls aus dem Führungszirkel der
Guerilla – zum Scheitern verurteilt.320
Während die meisten historischen Studien über die FARC eher ereignisge-
schichtlich orientiert sind und die Genese der Organisation minutiös beschrei-
ben, beschäftigt sich die Anthropologin Uribe ausführlich mit dem Selbstbild
der Guerilleros. Im Zentrum ihres Interesses stehen dabei die Gründungsmythen
der Tamil Tigers in Sri Lanka, der IRA in Irland sowie der FARC in Kolumbien.
Durch diesen ungewöhnlichen Vergleich gelingt es ihr aufzuzeigen, dass die ko-
lumbianischen Guerilleros im Gegensatz zu den anderen beiden Gruppen eine
erstaunlich schwache ideologische Kohärenz aufweisen. So sieht sich die Gue-
rilla bis heute zwar als eine politisch-militärische Organisation, deren Ziel die
"Befreiung" der vom Neoliberalismus erdrückten "Volksmassen" sei, wie deren
Sprecher Raúl Reyes, der am 1. März 2008 bei einem Bomenangriff der kolum-
bianischen Armee getötet wurde, noch im Januar desselben Jahres betonte.321
Der ursprüngliche dogmatische Marxismus-Leninismus der Gruppe ist mittler-
weile jedoch einem abstrakten "Bolivarianismus" gewichen, wie ihn Präsident
Hugo Chávez im Nachbarland Venezuela vertritt. Demnach sei es heutzutage
die Aufgabe der FARC, Bolívars Ideal einer überregionalen Einheit nachzuei-
fern und Lateinamerika vom Joch des US-Imperialismus zu befreien. Nur so sei-
en die Abkehr vom Kapitalismus und die politische Repräsentation der "subal-
ternen Klassen" zu erreichen.322
Dass dieses Bekenntnis zu einem unscharf formulierten "Bolivarianismus" in
erster Linie taktischen Gründen geschuldet ist, mutmaßen verschiedene Beo-
bachter des Binnenkonflikts bereits seit längerer Zeit. Spätestens seit Chávez’
Äußerungen im Dezember 2007 kann es jedoch als nahezu sicher gelten, dass
sich die FARC auf venezolanischem Territorium frei bewegen und dabei auch
mit der ideellen und materiellen Unterstützung der "bolivarischen" Regierung
rechnen dürfen. Nach seiner Intervention in die Verhandlungen zwischen FARC
und kolumbianischer Regierung über einen Gefangenenaustausch, durch die am
10. Januar 2008 zwei prominente Geiseln der Guerilla freikamen, sprach Chávez
im venezolanischen Parlament von "wahren Befreiungsheeren", die keinesfalls
das Attribut "Terroristen" verdient hätten.323 Im Anschluss verschlechterten sich
320 Vgl.
Braun.
2002.
321
Vgl.
El Tiempo
vom 23. Januar 2008.
322
Siehe zu den umfangreichen Forderungen sowie zum politischen Programm der FARC
deren Homepage im Internet: www.farcep.org.
323
Vgl.
El Tiempo
vom 11. Januar 2008.
395
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
395
die diplomatischen Beziehungen zwischen Kolumbien und Venezuela drama-
tisch.
Dabei waren die FARC in ihren Ursprüngen weit davon entfernt, in kontinen-
talen bzw. "bolivarischen" Kategorien zu denken. Während Organisationen wie
der ELN im Kontext des Kalten Krieges entstanden und durch die Schriften Che
Guevaras inspiriert wurden, reichen die Wurzeln der FARC bis in die 30er Jahre
des 20. Jahrhunderts zurück.324 In dieser Zeit hatte die Weltwirtschaftskrise dazu
geführt, dass Kolumbien einen großen Teil seiner Agrarprodukte nicht mehr auf
dem Weltmarkt absetzen konnte. In der Folge kam es zu einer Freisetzung tau-
sender Landarbeiter, die als
colonos
in die vom Staat bislang vernachlässigten
Gebiete vordrangen. Bald schon kam es jedoch auch in diesen Zonen zu gewalt-
tätigen Konflikten zwischen den Großgrundbesitzern und den neuen Klein-
bauern. So unternahmen die mächtigen
hacendados
zahlreiche Anstrengungen,
das von den
colonos
urbar gemachte Land anschließend in ihren Besitz zu brin-
gen. Häufig geschah dies durch Gewalt oder die Bestechung der Behörden. Die
Reaktion der Campesinos ließ jedoch ebenfalls nicht lange auf sich warten. So
bildeten sich bereits zu Beginn der 30er Jahre erste Agrargewerkschaften und
Bauernverbände, die häufig unter dem Einfluss linksgerichteter Bewegungen
und Parteien standen, denen die Anwendung des Faustrechts nicht fremd war. In
diesem Kontext entstanden die so genannten
autodefensas campesinas
auf dem
Land. Als Beschützer und geistige Urheber dieser Bewegungen taten sich unter
anderem die von Jorge Eliécer Gaitán geführte UNIR (
Unión Nacional Izquier-
dista Revolucionario
), der PAN (
Partido Agrario Nacional
), die Bauernbewe-
gung der Region Sumapaz sowie der PCC (
Partido Comunista de Colombia
)
hervor.
In den folgenden Jahren nahmen die
autodefensas campesinas
in verschiede-
nen Regionen des Hochlands die unterschiedlichsten ideologische Einflüsse auf,
wobei die Bindungen zu Teilen der Liberalen Partei und dem Gaitanismus be-
sonders stark waren. In einigen Regionen der Departements Tolima, Huila und
Cundinamarca übernahm jedoch der PCC die Führungsrolle. Insbesondere die
unter dem Einfluss der Kommunisten stehende Gemeinde Chaparral (Tolima)
sollte später zu einem Nukleus der FARC werden. Die während der
Violencia
einsetzende Radikalisierung bewirkte, dass die unterschiedlichen Zentren bäuer-
licher Selbstverteidigung mit der Zeit untereinander den Kontakt verloren. War
es vor der Ermordung Gaitáns nichts ungewöhnliches, Kommunisten, Gaitanis-
324 Im Folgenden stütze ich mich auf
Uribe.
2007, S. 65–87.
396
396
Kapitel III
ten und Liberale gemeinsam operieren zu sehen, so kam es ab 1948 zu einer
ideologischen Differenzierung und Abgrenzung. Im Verlaufe der
Violencia
be-
kämpften sich die liberalen und kommunistischen Guerillas daher oft gegensei-
tig, wobei nach
comunes
(Kommunisten) und
limpios
(Liberale) unterschieden
wurde. Auch die von Rojas Pinilla (1953) und von Alberto Lleras (1958) erlas-
senen Amnestiegesetze machten nur wenig Eindruck auf die unter dem Einfluss
des PCC stehenden Guerillas, die seit Mitte der 50er schon zahlreiche Militär-
schläge überstanden hatten. Im Gegenteil führte die Politik der harten Hand bei
den Kommunisten zu einer grundsätzlichen Ablehnung des politischen Systems,
das sie für exkludierend und dem US-Imperialismus ergeben hielten.
Während die liberalen Guerilleros bereits 1953 weitgehend demobilisiert
werden konnten, gelang es den ersten beiden Regierungen des
Frente Nacional
relativ rasch, auch die unpolitischen
bandoleros
militärisch zu besiegen. Die
kommunistischen Selbstverteidigungsgruppen, die sich unter dem Kommando
ihres Führers Manuel Marulanda Vélez in ein unzugängliches Gebiet an der
Grenze zwischen den Departements Huila und Tolima zurückgezogen hatten,
überstanden die Militärschläge jedoch nahezu unbeschadet. Die Unfähigkeit des
Staates, diese und weitere verbliebene Enklaven zu zerstören, verleitete den
konservativen Politiker Álvaro Gómez Hurtado am 25. Oktober 1961 dazu, im
Parlament die Existenz von über 16 von ihm so genannter "repúblicas indepen-
dientes" anzuprangern. Er warnte vor der großen Gefahr, die von den durch
Moskau und Havanna unterstützten Gruppen ausgehen würde. In seiner Sicht-
weise stand eine Revolution nach kubanischem Muster in Kolumbien unmittel-
bar bevor.325
Tatsächlich waren die bäuerlichen Selbstverteidigungsgruppen nur schlecht
ausgerüstet und verfügten kaum über Kontakte zur Außenwelt. Ihre Waffen
stammten größtenteils noch aus dem Krieg der Tausend Tage. Auch in ideologi-
scher Hinsicht waren die kommunistischen Campesinos weit weniger indoktri-
niert, als es die politischen Eliten in der Hauptstadt glaubten. So zeigen Gesprä-
che mit ehemaligen Angehörigen der
autodefensas campesinas
, dass bei vielen
Campesinos nur rudimentäre Kenntnisse der marxistisch-leninistischen Theorie
vorhanden waren.326 Als "kommunistisch" definierten viele Guerilleros bereits
die kollektive Bewirtschaftung des Bodens und flache Hierarchien. Ein nationa-
325
Vgl.
Pizarro, Eduardo.
2006.
Marquetalia. El mito fundacional de las Farc
. In:
http://unperiodico.unal.edu.co/ediciones/57/03.htm (25. Januar 2008).
326
Vgl.
Uribe.
2007, S. 129.
397
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
397
les oder gar internationales Programm zur Befreiung der Volksmassen oder zum
Sturz der Regierung gab es jedoch nicht. Dazu trug wesentlich bei, dass die Be-
ziehungen zur Kommunistischen Partei immer schlechter wurden. Die unter Ro-
jas Pinilla verbotenen Kommunisten waren nämlich auch unter dem
Frente Na-
cional
starker Repression ausgesetzt, weswegen ihr Einfluss auf die expandie-
renden FARC zusehends schwand. Hinzu kam, dass die Partei auf einer Konfe-
renz im Jahre 1961 beschloss, in Zukunft für "die Kombination aller Formen des
Kampfes" einzutreten. In der Folge sollten sich die FARC in eine militaristische
Organisation verwandeln, die den nach formaler Anerkennung strebenden
Kommunisten zunehmend skeptisch gegenüber stand. In den 90er Jahren riss die
Verbindung zum marginalisierten und numerisch unbedeutenden PCC schließ-
lich völlig ab.327
Obwohl der Kampf der Kommunisten gegen die Regierung bereits in den
30er und 40er Jahren begonnen hatte, gilt im Selbstbild der Guerilleros das Jahr
1964 als Geburtsstunde ihrer Organisation. Als die kolumbianische Armee im
Mai 1964 im Rahmen des so genannten
Plan Lazo
die von den Kommunisten als
"Marquetalia" bezeichnete Kolonie zwischen Huila und Tolima bombardierte,
kam es zu einem Exodus der Überlebenden. Nach mehreren Tagen des Wider-
standes mussten die Guerilleros in dieser und in anderen Enklaven schließlich
der Übermacht der Streitkräfte weichen, die zudem von der CIA ausgerüstet und
beraten worden waren.328 Die meisten Aufständischen zogen sich in die entlege-
nen Ebenen und Regenwälder des südöstlichen Kolumbiens zurück, wo sich bis
heute das geografische Zentrum der Guerilla befindet. Zwar wurden die FARC
erst im Jahre 1966 formal aus der Taufe gehoben, Nichtsdestotrotz sehen ihre
Mitglieder in der Zerstörung Marquetalias bis heute den entscheidenden Wen-
depunkt. Obwohl die Kommunistische Partei bereits drei Jahre zuvor entschie-
den hatte, dass die von ihr instruierten
autodefensas campesinas
den bewaffne-
ten Kampf gegen die Regierung aufnehmen sollten, wurde Marquetalia im
Selbstbild der Guerilleros zum eigentlichen Auslöser des bewaffneten Konflikts
stilisiert.329
Demzufolge hätten die damals in der Enklave anwesenden Männer, Frauen
und Kinder in einem Zustand der Harmonie gelebt und die gesamte Region vom
327 Vgl.
Pizarro.
2006.
328
Siehe hierzu
Rempe, Dennis.
2002.
Counterinsurgency in Colombia: A United States
National Security Perspective, 1958–1966
. Coral Gables: Univ. of Miami (Dissertation).
329
Vgl.
Uribe.
2007, S. 232 ff.
398
398
Kapitel III
Joch drakonischer Großgrundbesitzer befreit. Es sei ihnen weiterhin darum ge-
gangen, den Campesinos Bildung, Gesundheit und gewisse soziale Leistungen
zukommen zu lassen. Da sich der Staat und die Traditionsparteien als falsch,
rachsüchtig und aggressiv erwiesen hätten, sei Marquetalia als autonomes Ge-
biet mit eigenen Regeln und Gesetzen konstituiert worden. Viele Führer der heu-
tigen FARC, wie etwa der Kommandant Fernando Caicedo, leugnen deshalb bis
heute, dass es jemals eine direkte Verbindung zwischen FARC und PCC gege-
ben habe.330 Demnach seien die FARC unabhängig von den Vorgaben der Partei
aus der Bauernbewegung der 30er Jahre hervorgegangen. Den städtischen
Kommunisten habe man lediglich die ideologische "Bewusstwerdung" zu ver-
danken, wie sie etwa von dem in den 60er Jahren von Bogotá nach Marquetalia
gereisten Parteifunktionär Jacobo Arenas vorangetrieben wurde. Davon abgese-
hen sei die Guerilla als Nebenprodukt der
Violencia
zu betrachten. Denn erst die
permanente Verfolgung durch konservative Banden in den 50er Jahren habe die
Campesinos dazu gebracht, den Weg des bewaffneten Widerstandes einzuschla-
gen. Da sowohl die liberalen als auch die gaitanistischen Guerillas von den ver-
schiedenen Regierungen verraten worden wären, habe sich bei den Kommunis-
ten die Überzeugung herausgebildet, dass auch der
Frente Nacional
nichts wei-
ter als eine elitäre Fassadendemokratie sei.331 In dieser Lesart stilisieren sich die
heutigen Mitglieder des
secretariado
zu ursprünglich eher apolitischen Campe-
sinos, die von der Regierung regelrecht zum Kampf herausgefordert worden sei-
en.
Wie María Victoria Uribe betont, hat der Marquetalia-Mythos für die FARC
heute primär die Funktion, den intergenerationellen Zusammenhalt der Gruppe
zu festigen. Die Schilderungen des Mythos auf der Homepage der FARC oder in
ihrer Zeitung
Resistencia
haben zum Ziel, an den bäuerlichen Charakter der Be-
wegung zu erinnern und den jüngeren Mitgliedern die Ursprünge des Kampfes
zu verdeutlichen.332 Ob diese jedoch mit den Erzählungen der "Alten" viel an-
fangen können, ist indes fraglich. Denn seit der personellen und materiellen Ex-
pansion der FARC im Zuge ihrer massiven Beteiligung am Drogenhandel seit
den 80er Jahren treten ideelle und politische Inhalte bei den Guerilleros zuneh-
mend in den Hintergrund. So ist derzeit zu beobachten, dass die jüngeren
FARC-Kämpfer kaum einen Bezug zum Kommunismus vergangener Tage ha-
330 Vgl. ebd., S. 161 f.
331
Vgl. ebd., S. 174 f.
332
Vgl. ebd., S. 232.
399
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
399
ben. Stattdessen hängen sie häufig dem diffusen "Bolivarismus" venezolanischer
Prägung an. Die fragwürdigen Praktiken der FARC, wie etwa der Einsatz von
Landminen, Entführung, Erpressung und Mord, haben in der Folge dazu beige-
tragen, dass für viele Guerilleros der bewaffnete Kampf zum Selbstzweck ge-
worden ist, zu einer Art Lebensstil. Als Beweis hierfür kann etwa die Tatsache
gelten, dass insbesondere in den unteren Rängen der FARC häufig Kämpfer zur
Gegenseite übertreten und sich der Armee oder den Paramilitärs anschließen.
Für die personelle Expansion der FARC in den vergangenen 25 Jahren waren
letztlich weniger ihre ideologische Überzeugungskraft, als vielmehr die guten
Verdienstmöglichkeiten ausschlaggebend. Daneben übten die Guerilleros in vie-
len Fällen auch physischen Zwang aus, um neue Kämpfer zu rekrutieren, wie
besonders drastisch das Beispiel der über 4000 Kindersoldaten in ihren Reihen
illustriert.333
Selbst wenn der Mythos von Marquetalia intern als verbindendes und identi-
tätsstiftendes Element funktionieren sollte, so ist seine legitimierende Funktion
außerhalb der FARC doch eher schwach. Noch immer kennen nur wenige Ko-
lumbianer die genauen Hintergründe der Entstehung der FARC, insbesondere da
ihre Medienproduktion kaum Rezipienten findet. Während beispielsweise in
Nordirland oder Sri Lanka weite Teile der Bevölkerung mit den jeweiligen
Gründermythen der dortigen bewaffneten Organisationen vertraut sind, ist es der
FARC bis heute nicht gelungen, ihre Version der Geschichte populär zu ma-
chen. Dafür ist in erster Linie die Verfolgung und Benachteiligung der linksge-
richteten Presse in Kolumbien verantwortlich sowie in letzter Zeit der von der
Regierung initiierte "Cyberkrieg" gegen die FARC-Medienmaschine im Inter-
net. Dieser äußert sich im Wesentlichen durch die permanente Abschaltung der
FARC-Homepage, des FARC-nahen Internet-Nachrichtenportals ANNCOL so-
wie die Unterdrückung der
Resistencia
.334 Daneben werden auch die Mitarbeiter
anderer linksgerichteter Presseorgane, wie zum Beispiel die Journalisten der
kommunistischen Zeitung
Voz
, regelmäßig von Paramilitärs oder offiziellen
Stellen bedroht.335 Zum anderen ist es jedoch auch als schweres Versäumnis der
333
Diese Zahl beruht auf einer Schätzung der unabhängigen NRO
Human Rights Watch
(2003). Hierzu: http://www.hrw.org/reports/2003/colombia0903.
334
Vgl.
Uribe.
2007, S. 228 f.
335
Vgl.
Vásquez, Teófilo.
2005.
Die politischen Folgen des Gesetzes Gerechtigkeit und
Frieden
. In: http://www.kolumbien-aktuell.ch/kolumbien-aktuell/410.htm (25. Januar 2008).
Siehe auch die Internet-Auftritte dieser Medien, die jedoch unter ständigen Verbindungs-
400
400
Kapitel III
FARC-Führung zu betrachten, dass sie den Mythos nicht in stärkerem Maße für
ihre Zwecke instrumentalisiert hat. So bleibt die Geschichte über die Bombar-
dierung der kommunistischen Enklave eine vage Anekdote, die bis heute weder
eine tiefere Bedeutung aufweist noch in irgendeiner Weise zur Gestaltung der
Zukunft beiträgt. Aus Marquetalia ergeben sich somit keine "Regeln" und "Leh-
ren", die dem zukünftigen Kampf um die politische Macht dienlich sein könn-
ten. Im Vergleich mit den Mythen der IRA oder der Tamil Tigers handelt es sich
um einen außerordentlich schwachen Mythos.336
Dass zumindest den Guerilla-Kommandeuren eine öffentliche Darstellung ih-
rer Version der Vergangenheit nach wie vor wichtig ist, zeigten zuletzt beispiel-
haft die gescheiterten Friedensverhandlungen zwischen Präsident Andrés Past-
rana und den FARC (1998–2002). Obwohl die Regierung sich bereit erklärt hat-
te, den Guerilleros eine entmilitarisierte Zone von der Größe der Schweiz anzu-
bieten (
zona de distensión
) und auf mehrere ihrer politischen Forderungen ein-
zugehen, kam es zu keiner Einigung. Manuel Marulanda brüskierte stattdessen
die politischen Eliten des Landes, als er am 7. Januar 1999 den in die entmilita-
risierte Zone gereisten Präsidenten vergeblich auf seine Ankunft warten ließ.
Pastrana musste stattdessen mit einem leeren Stuhl vorlieb nehmen. Während
der enttäuschte Präsident im Anschluss fortwährend von der Zukunft des Landes
und den zu bewältigenden Aufgaben sprach, waren die Guerilleros der FARC
vornehmlich an einer Aufarbeitung der Vergangenheit interessiert.337 Viele Ko-
lumbianer mutete es befremdlich an, als ein Sprecher der Guerilla sich schließ-
lich bitter über das während der
Violencia
begangene Unrecht beschwerte und
Entschädigung für die bei der Einnahme Marquetalias zerstörten Güter sowie
das von der Armee "gestohlene" Land forderte. Am 21. Februar 2002, nachdem
die FARC mehrfach die Armee angegriffen, den Anbau von Koka in dem entmi-
litarisierten Gebiet erlaubt und ein Passagierflugzeug entführt hatten, erklärte
Pastrana die Friedensverhandlungen für beendet und ordnete die militärische
Rückeroberung der Zone an.
Dass so viele Kolumbianer nichts bzw. nur wenig mit den archaisch anmuten-
den Forderungen der Guerilla anfangen können, hat wesentlich mit der Ge-
schichtspolitik der vergangenen Jahrzehnte zu tun. So war es das "Verdienst"
der politischen Eliten, die
Violencia
aus dem historischen Gedächtnis gelöscht
schwierigkeiten leiden: www.farcep.org; www.anncol.nu; www.resistencianacional.net;
www.redresistencia.org; www.geocities.com/vozxcol/bogota.htm.
336
Vgl.
Uribe.
2007, S. 227 ff.
337
Vgl.
Braun.
2002.
401
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
401
zu haben. Die Gründe für die Entstehung der bewaffneten Gruppen sind der
Mehrheit der Bevölkerung daher genauso unklar, wie deren Forderungen.338
Zwar ist heutzutage in den Fernsehnachrichten und in den Tageszeitungen per-
manent von Anschlägen, Kampfhandlungen und Blutvergießen die Rede. Sehr
selten wird jedoch eine Analyse der Konflikt-Ursachen vorgenommen. Selbst
wenn die Geschichts-Darstellung der FARC stark ideologisch gefärbt und mani-
pulativ sein sollte, so ist ihre Anerkennung von offizieller Seite dennoch eine
Grundvoraussetzung für einen eventuellen Friedensprozess. Daneben ist festzu-
stellen, dass der Gründungsmythos der FARC zwar ein verzerrtes Bild zeichnet,
indem er zum Beispiel die wichtige Rolle der Kommunistischen Partei unter-
schlägt oder die Enklave von Marquetalia zum irdischen Paradies verklärt.
Nichtsdestotrotz hält sich die Erzählung der Guerilla noch eher an die histori-
schen Tatsachen als die meisten der offiziellen Deutungen der
Violencia
, wie sie
seit dem Ende der 50er Jahre in Kolumbien kursieren.
7.
D
IE GESELLSCHAFTLICHE
W
AHRNEHMUNG UND
V
ERARBEITUNG DER
V
IOLENCIA
:
G
RUNDLAGE EINES SINNVOLLEN
E
RINNERUNGSDISKURSES
?
In diesem Kapitel habe ich gezeigt, dass der offizielle Geschichtsdiskurs kei-
neswegs von der gesamten Gesellschaft widerspruchslos akzeptiert worden ist.
In Bereichen wie der Literatur, dem Theater, dem Film und der Kunst gab und
gibt es verschiedene Akteure, deren Deutung des Bürgerkrieges oftmals erheb-
lich von der offiziellen Sichtweise abweicht. Ebenfalls feststellbar ist jedoch,
dass auf der gesellschaftlichen Ebene keine einheitliche Interpretation des Bür-
gerkrieges existiert. Obwohl es sich bei den hier behandelten Feldern um beson-
ders wirkungsmächtige Teilbereiche, um "zivile Räume" des Widerstands han-
delt, unterscheiden sich die Interpretationen der
Violencia
teilweise recht deut-
lich. Als einziges verbindendes Element der hier vorgestellten Repräsentationen
kann lediglich die Kritik an den politischen Eliten gelten.
Als erinnerungskulturelle Medien zeichneten sich die in diesem Kapitel be-
handelten Darstellungen der
Violencia
grundsätzlich durch ihre äußere Form
338
Ein Katalog der politischen Forderungen der FARC findet sich auf der Seite
www.resistencianacional.net. Als Bedingungen für eine Wiedereingliederung in das zivile
Leben nennen die FARC-Ideologen dort so utopisch anmutende Bedingungen wie eine Ver-
staatlichung aller großen Privatunternehmen sowie die Verwendung von 50% des Staatshaus-
haltes für soziale Belange.
402
402
Kapitel III
und die Art ihrer Rezeption aus. Entscheidende Auswahlkriterien waren dabei
der Verbreitungsgrad, die interpretatorische Eindeutigkeit, die narrative und in-
haltliche Formung, die oftmals dualistische, manchmal auch vielschichtige Kri-
tik an den bestehenden sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnissen
sowie der historisch-politische Kontext.
Dass die hier präsentierte Auswahl bei weitem nicht vollständig ist, hat haupt-
sächlich arbeitstechnische Gründe. Insbesondere Felder wie die Musik oder das
Fernsehen hätten sich zwar ebenfalls zur Analyse angeboten. Sowohl aus Platz-
gründen als auch aufgrund der ungleich schwierigeren Eingrenzung dieser Quel-
len habe ich mich jedoch entschieden, auf sie zu verzichten. Wie weiter oben
dargelegt, eignen sich die zeitlich und inhaltlich kaum konstanten Fernsehinhalte
ohnehin nur eingeschränkt als erinnerungskulturelle Medien. Im Falle der Musik
ist hingegen einzuräumen, dass die Epoche der
Violencia
Eingang in eine Reihe
populärer Liedtexte gefunden hat. Daher habe ich diesem bislang kaum er-
forschten Bereich im Abschnitt über das Theater Rechnung getragen. Vor allem
in dem Stück
Guadalupe años sin cuenta
spielen Volksweisen aus der Zeit des
Bürgerkriegs eine wichtige Rolle.
Ebenfalls unbeachtet ist die Arbeit derjenigen NROs geblieben, die erinne-
rungskulturelle Aufgaben wahrnehmen. Insgesamt beschäftigen sich die meisten
der heute in Kolumbien aktiven NROs überwiegend mit den Folgen der aktuel-
len Gewalt, wobei historische Aspekte keine große Rolle spielen. In den weni-
gen Organisationen, die sich dezidiert der Aufarbeitung der Vergangenheit
widmen, stehen zumeist die Ereignisse der letzten vier Dekaden im Zentrum des
Interesses. Das Gründungsjahr der FARC (1964) gilt dabei oft als Ausgangs-
punkt der aktuellen Gewalt, mit deren Manifestationen sich die meisten NROs
auseinandersetzen. In diesem Sinne widmen sich beispielsweise verschiedene
nichtstaatliche Organisationen dem Gedenken an die Opfer der Erstürmung des
Justizpalastes im Jahre 1985 oder dem Massenmord an den Mitgliedern der UP.
Dagegen findet das Thema der
Violencia
aufgrund des größer werdenden zeitli-
chen Abstands immer weniger Beachtung.
Eine Ausnahme stellt diesbezüglich das Projekt
La piel de la memoria
in Me-
dellín dar. Dabei handelt es sich um eine gemeinschaftliche Aktion der Anthro-
pologin Pilar Riaño Alcalá und der nordamerikanischen Künstlerin Suzanne La-
cy, die diese mit einem Team von Studenten der
Universidad de Antioquia
in
den Jahren 1998 und 1999 realisierten. Dahinter stand die Idee, den Bewohnern
der marginalisierten
comunas
von Medellín einen Raum für die Präsentation ih-
rer
eigenen
Geschichte zur Verfügung zu stellen. In einem Bus, der als "fahrba-
403
Die Violencia in den Erinnerungskulturen
403
res Museum" diente, durften alle Bewohner des
barrio Antioquia
Objekte und
Texte ihrer Wahl ausstellen, die sie in irgendeiner Weise mit der Geschichte ih-
res Stadtteiles verbanden. Es zeigte sich, dass der Ursprung des Vierteles in den
durch die
Violencia
ausgelösten Flüchtlingswellen lag. Aus diesem Grunde fan-
den sich auch verschiedene Objekte aus der Zeit des Bürgerkrieges in dem als
Museo de la Memoria
bezeichneten Gefährt.339
Als Ziel ihres Projektes formulierte Riaño Alcalá ausdrücklich die Befreiung
von einer als "erdrückend" empfundenen Vergangenheit. Die von den politi-
schen Eliten geformte ahistorische Sichtweise der kolumbianischen Konfliktge-
schichte und die diversen Theorien einer im "Volk" verankerten Gewaltkultur
sollten dadurch überwunden werden:
[…] debemos alejarnos de una visión ahistórica de las presentes violencias que olvida que la
memoria ha sido utilizada por los regímenes de poder para legitimar la violencia, para silen-
ciar la historia de grupos enteros, y para erigir mitos como el del destino y condición violenta
de los colombianos. Necesitamos reconocer entonces que la memoria es un campo cuestiona-
do y en disputa y que se requiere diferenciar entre los distintos tipos y usos de la memoria.340
Projekte wie dieses stellen bislang jedoch eher die Ausnahme als die Regel
dar, insbesondere da Geldgeber nur sehr schwer zu finden sind. Im Falle des
Museo de la Memoria
fungierte zwar die Stadt Medellín als Sponsor, aufgrund
des politischen Willens der Stadtverwaltung sowie der günstigen Finanzlage in
diesem Teil von Kolumbien ist ein solcher Umstand jedoch als ausgesprochener
Glücksfall zu bezeichnen. Lediglich eine veränderte Kulturpolitik auf nationaler
Ebene sowie das Engagement ausländischer Organisationen dürften in Zukunft
die Nachhaltigkeit derartiger Projekte gewährleisten.
Bei der Analyse der ausgewählten Bereiche ist ebenfalls deutlich geworden,
dass der offizielle Diskurs von "Frieden, Versöhnung und Vergessen" gegen
Mitte der 80er Jahre keine nennenswerte Rolle mehr spielte. Zwar herrschten in
Kolumbien zu keiner Zeit totalitäre Bedingungen. Der autoritäre Charakter zu-
erst des Militärregimes und anschließend des
Frente Nacional
bewirkte jedoch,
dass kritische Repräsentationen der
Violencia
kein großes Publikum fanden.
Obwohl es die meiste Zeit über keine offizielle Zensurbehörde gab, verhinderten
subtile Mechanismen auf institutioneller oder semi-institutioneller Ebene effek-
tiv die Diffusion unliebsamer Interpretationen. Diese indirekte Zensur traf vor
339
Siehe hierzu
Riaño Alcalá, Pilar/Suzanne Lacy/Olga Cristina Agudelo Hernández.
2003.
Arte, memoria y violencia. Reflexiones sobre la ciudad
. Medellín: Corporación Región.
340 Ebd., S. 56.
404
404
Kapitel III
allem die Werke der Malerin Débora Arango, mancherlei Filme und Theaterstü-
cke sowie eine Reihe von Romanen. Spätestens mit dem Erfolg der
Nueva His-
toria
im universitären Bereich erfuhren jedoch auch einige der zuvor geächteten
künstlerischen Darstellungen der
Violencia
eine Neubewertung und gehören
mittlerweile zum Kanon der kolumbianischen Gegenwartskunst bzw. -literatur.
Da diese Neubewertung jedoch sehr spät erfolgte, war das Wissen über die
Vio-
lencia
in weiten Teilen der Gesellschaft bereits erloschen. Dies führt heutzutage
dazu, dass Bilder wie Obregóns
La Violencia
nicht selten außerhalb ihres histo-
rischen Kontextes interpretiert werden.
In anderen Teilen der Gesellschaft hat sich zudem die Überzeugung festge-
setzt, dass Kolumbien ein Land des "ewigen Krieges" sei. Die
Violencia
wird
dabei nur als flüchtige Episode im Rahmen einer sich zyklisch wiederholenden
Gewaltgeschichte wahrgenommen. Für diese ahistorische und antichronologi-
sche Sichtweise können die Künstler, Filmemacher, Theatergruppen oder Litera-
ten allerdings nur bedingt verantwortlich gemacht werden. In den meisten der in
diesem Kapitel vorgestellten Werke schlüsseln sie vielmehr die konkreten histo-
rischen Bedingungen der
Violencia
auf. Im Mittelpunkt steht dabei die Verant-
wortung der politischen Eliten. Dagegen war es das Ziel des offiziellen Diskur-
ses, die genauen Umstände der
Violencia
zu verdecken bzw. sie durch eine ge-
gensätzliche, meist falsche Interpretation, zu ersetzen. Obwohl diese "Politik des
Vergessens" letztlich nur bedingt erfolgreich war, hat sie insgesamt doch mehr
zu einer verzerrten Wahrnehmung der
Violencia
beigetragen als die "Gegenerin-
nerung" der gesellschaftlichen Akteure.
Paradoxerweise haben zwar alternative Akteure den offiziellen Diskurs hin-
terfragt und dabei häufig die Existenz einer "endemischen Gewaltkultur" postu-
liert, wofür sie nicht selten Ablehnung und Häme erfuhren. Zugleich ist jedoch
feststellbar, dass eben das Vorhandensein "ziviler Räume", in denen Intellektuel-
le, Künstler, Literaten, Filmemacher und Theaterregisseure ihre herrschaftskriti-
schen Ansichten kundtun konnten, als Beleg für die Unzulänglichkeit dieser
These gelten kann. Auch wenn solche kritischen Stimmen weder die Mehrheit
der Kolumbianer repräsentieren, noch von einer "starken Zivilgesellschaft" die
Rede sein kann, so sind doch zumindest erste Ansätze einer positiven Entwick-
lung auf erinnerungskulturellem Gebiet erkennbar. Unerlässliche Vorbedingung
eines erfolgreichen Friedensprozesses zwischen Regierung und bewaffneten
Gruppen ist jedoch die institutionelle Anerkennung der vom offiziellen Diskurs
abweichenden Geschichtsversionen.
405
IV. Demokratie und Erinnerung
Colombia necesita un relato que se haga cargo
de la memoria común, aquella desde la que
será posible construir un imaginario de futuro
que movilice todas las energías de construc-
ción de este país, hoy dedicadas en un tanto
por ciento gigantesco a destruirlo.1
(Jesús Martín-Barbero, Philosoph und Kom-
munikationswissenschaftler)
1.
D
IE
A
UFARBEITUNG DES
B
ÜRGERKRIEGS ALS
B
EDINGUNG
DEMOKRATISCHER
T
RANSFORMATION
Inwieweit staatliche und gesellschaftliche Vorschläge zur Gestaltung eines sinn-
vollen Erinnerungsdiskurses einen Fortschritt in Bezug auf die demokratische
Transformation darstellen, soll im vierten und letzten Kapitel dieser Arbeit erör-
tert werden. In den vorangegangenen Kapiteln habe ich gezeigt, dass ein klarer
Zusammenhang zwischen der unmittelbar nach dem Ende der
Violencia
imple-
mentierten "Politik des Vergessens" und den Defiziten des politischen Systems
existiert. In diesem Sinne stimme ich mit Heidrun Zinecker überein, die für Ko-
lumbien eine "unvollendete Transition" feststellt.2 Zugleich ging es mir auch
darum zu verdeutlichen, dass sich über Jahrzehnte hinweg neben der offiziellen
Geschichte auch ein "inoffizielles Gedächtnis" (Peter Burke) herausbilden konn-
te. Somit ist eine Diskrepanz zwischen dem von einigen Funktionseliten geform-
ten historischem Gedächtnis und den verschiedenen Erinnerungskulturen in der
Gesellschaft festzustellen, die auf der Ebene der kollektiven bzw. individuellen
Erinnerung zu verorten sind. Sie entsprechen dem von Maurice Halbwachs defi-
nierten kollektiven Gedächtnis (Kap. I, 2.2), dessen Bestimmung es ist, sich mit
dem biologischen Ende der Erinnerungsgemeinschaft aufzulösen. Die noch vor-
handene Erinnerung an die
Violencia
droht somit bald zu verblassen.
Da sich die meisten Studien über Transformationsprozesse in Lateinamerika
mit dem Übergang von autoritären zu demokratischen Regimen beschäftigen, ist
1
Martín-Barbero, Jesús.
2001.
Entre la retórica política y el silencio de los guerreros
.
In: http://www.revistanumero.com/31col.htm (28. Januar 2008).
2
Vgl. hierzu
Zinecker.
2001, S. 149–172.
406
406
Kapitel I
V
der kolumbianische Fall bisher nur selten untersucht worden. Im Unterschied zu
den straffen Militärdiktaturen Zentralamerikas und des
Cono Sur
gilt Kolumbien
gemeinhin als Land mit einer langen demokratischen Tradition. Die kurze Un-
terbrechung der liberal-demokratischen Regelhaftigkeit durch die Militärherr-
schaft von Rojas Pinilla (1953–1957) wird daher zumeist als atypische Ausnah-
meerscheinung abgetan. So seien davon weder die Funktion der Demokratie
noch die Stabilität der politischen Institutionen nachhaltig beeinträchtigt wor-
den.3 Einige Forscher behaupten in diesem Zusammenhang sogar, dass es den
politischen Eliten schon im 19. Jahrhunderts gelungen sei, die grundlegenden
Regeln des politischen Lebens verbindlich festzuschreiben, worauf beispielswei-
se die lange Geltungsdauer der zentralistisch-konservativen Verfassung von
1886 hindeuten würde. Schließlich hätten die meisten anderen Regierungen in
der Region im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts eine Vielzahl von Verfassun-
gen erlassen, die in den meisten Fällen als Instrumente der politischen Herr-
schaft, nicht jedoch als allgemeingültiger Rahmen des politischen Prozesses be-
trachtet worden wären.4 Eduardo Posada Carbó zufolge sei Kolumbiens demo-
kratische Entwicklung daher sogar erstaunlich weit fortgeschritten, da funktio-
nelle Merkmale wie Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit sowie re-
gelmäßige freie und gleiche Wahlen zweifellos gegeben seien. Er räumt zwar
ein, dass qualitative Demokratie-Kriterien wie Repräsentation, Pluralismus, Ver-
teilungsgerechtigkeit, Partizipation oder Minderheitenschutz noch nicht erfüllt
seien, führt dies jedoch nicht auf besondere Verfehlungen der politischen Eliten
zurück. Im Gegenteil, in Posada Carbós Perspektive ist eine liberale Eliten-
Demokratie angesichts der großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hin-
dernisse sogar die einzig realistische, das heißt den historischen Gegebenheiten
entsprechende Option.5 Der funktionalistischen Demokratie-Theorie Joseph
Schumpeters folgend stellt er somit fest, dass zwischen der Transformation hin
zu einer partizipativen und pluralistischen Demokratie und dem reibungslosen
Funktionieren der Institutionen keine Kausalität bestehe. Niemand könne vor-
hersagen, wann Kolumbien "reif" für eine offenere Form der Demokratie sei.
Gegensätzliche Aussagen betrachtet er folglich als "ahistorisch".
Davon abgesehen, dass in Kolumbien selbst die Schumpeterschen "Freihei-
ten" wie Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Minderheiten-
3 Vgl. etwa
Pizarro.
2004, S. 226 ff.
4
Vgl.
Espinosa Cepeda, Manuel José.
2004. La defensa judicial de la constitución. In:
Cepeda Ulloa, Fernando (Hg.).
Fortalezas de Colombia
. Bogotá: Ariel, S. 151–161.
5
Vgl.
Posada Carbó.
2007, S. 141–154
.
407
Demokratie und Erinnerung
407
schutz nur eingeschränkt vorhanden sind bzw. nur auf dem Papier gelten, ist die-
ser minimalistische Ansatz auch sonst recht fragwürdig. So konzentrieren sich
Posada Carbó und andere Revisionisten fast ausschließlich auf die Destabilisie-
rungseffekte der seit den 60er Jahren aktiven bewaffneten Gruppen, um die an-
haltende Schwäche des Staates zu erklären. In einer solchen Sichtweise werden
die linksgerichteten Guerillas und die rechtsgerichteten Paramilitärs zu den
Hauptverantwortlichen für die Mängel des politischen Systems und auch die
Schwäche der Zivilgesellschaft erklärt. Obwohl die Legitimität dieser gewalttä-
tigen Organisationen mit Recht bezweifelt werden darf, so sind ihre Ursprünge
meiner Meinung nach eher als Folgeerscheinung der chronischen staatlichen
Schwäche zu betrachten, nicht jedoch als deren eigentlicher Grund. Schließlich
lassen sich die typischen Charakteristika eines schwachen Staates in Kolumbien
bereits im 19. Jahrhundert ausmachen.6
Wie ich in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt habe, unterschied sich das
1958 eingeführte System des
Frente Nacional
nur geringfügig von seinen libe-
ral-demokratischen Vorgängerregimen. Da bereits in der Zeit vor 1946 zwischen
den Großparteien das Prinzip der
convivencia
herrschte, stellte der
Frente Na-
cional
im Grunde nur die Fortsetzung einer elitären Tradition der Herrschaftstei-
lung dar. So gingen Konservative und Liberale trotz aller rhetorischen Unter-
schiede stets aufeinander zu, sobald sie ihre Macht durch einen dritten Akteur
bedroht sahen. Die Chance jedoch, den Prozess der Demokratisierung auf der
Makro-
und
Mikroebene zu vertiefen, haben die politischen Eliten vertan. An-
statt die historische Gelegenheit zu nutzen, unter den Bedingungen des stetigen
Wirtschaftswachstums der 60er und 70er Jahre eine allmähliche Ausweitung
staatlicher Leistungen sowie die Einführung neuer Partizipationsmöglichkeiten
zu fördern, schotteten sie das System weiter ab.
Zwar eröffnete der
Frente Nacional
einigen privilegierten Gruppen sowie
Teilen der Mittelschicht neue Möglichkeiten der politischen und ökonomischen
Teilhabe, die Masse der Bevölkerung blieb jedoch weiterhin von Bildungs- und
Sozialmaßnahmen sowie politischer Partizipation ausgeschlossen. Dass die
Gründung bewaffneter revolutionärer Gruppen während der 60er und 70er Jahre
daher nicht alleine ein Phänomen des "Zeitgeistes" war, wie etwa Posada Carbó
unter Bezugnahme auf den Kalten Krieg annimmt, sondern im Wesentlichen auf
der politischen Exklusion beruhte, ist meines Erachtens unübersehbar.7 Obwohl
6 Vgl.
König.
1997, S. 111–119.
7
Vgl.
Posada Carbó.
2007, S. 80 ff., 98 ff. u. 234–245.
408
408
Kapitel I
V
das System des "klassischen"
bipartidismo
in den letzten Jahren tatsächlich Ver-
änderungen erfahren hat, ist der 1958 begonnene Transformationsprozess bis
heute als "unvollendet" zu betrachten. Selbst wenn momentan kaum die Gefahr
eines Rückfalls in formal-autoritaristische Herrschaftsformen wie unter Gómez
oder Rojas Pinilla besteht, wirken doch neue und alte Formen autonomisierter
Gewalt, die verschiedenen
violencias
, deren Ursprung eindeutig in die Zeit der
Violencia
reicht, dem Fortschreiten der Transformation entgegen. Darüber hi-
naus erweisen sich auch die sozioökonomischen Bedingungen der Gegenwart
für die Masse der Bevölkerung als derart prekär, dass eine "Veralltäglichung der
Gewalt", wie sie Peter Waldmann am Beispiel Kolumbiens beschrieben hat, die
Folge ist.8
Während Kolumbien in internationalen Verbrechensstatistiken als eines der
gewalttätigsten Länder der Erde figuriert, erweist sich auch die soziale Situation
innerhalb der so genannten
estratos bajos
im Vergleich zur explosiven Lage der
40er und 50er Jahre als nahezu unverändert. So lebten den Daten der Weltbank
zufolge im Jahre 2006 mehr als 49% der Kolumbianer in Armut. Davon galten
7% als absolut arm, das heißt mit einem täglichen Einkommen von unter einem
US-Dollar ausgestattet. Hinsichtlich der realen Kaufkraft, dem Grad der sozialen
Ungleichheit sowie der subjektiv gefühlten Armut sagen diese Daten freilich
wenig aus. Im Vergleich zu den vormals erhobenen Daten der Weltbank zeigen
sie lediglich, dass zumindest in absoluten Zahlen eine leichte Verbesserung der
Armutssituation eingetreten ist (2002: 58%).9 Nichtsdestotrotz handelt es sich
noch immer um einen zweifelhaften "Erfolg", sofern man den Beginn des Unter-
suchungszeitraumes Anfang der 1980er Jahre ansetzt. Denn die Armutsraten vor
dem Eintreten der internationalen Schuldenkrise (1981/82), die alle lateinameri-
kanischen Länder mehr oder weniger stark erfasste und zu umfassenden Struk-
turanpassungsmaßnahmen zwang, lagen im Schnitt deutlich unter der aktuellen
Armutsrate.10
Den Daten der CEPAL (
Comisión Económica para América Latina
) zufolge
ist in Kolumbien insbesondere keine Abnahme der sozialen Ungleichheit zu be-
obachten. Wenngleich die Zahl der absolut Armen seit mehreren Jahren konti-
nuierlich gesunken ist, hat sich am innergesellschaftlichen Ungleichheitsverhält-
8 Vgl.
Waldmann.
1999, S. 259–281.
9
Zu den Armutsdaten vgl.
World Bank.
2007.
Colombia Data at a Glance – Key Poverty
Indicators
. In: http://devdata.worldbank.org/AAG/col_aag.pdf (30. Januar 2008).
10
Vgl. hierzu
CEPAL.
2006.
Social Panorama of Latin America
. In: http://www.eclac.
org/publicaciones/xml/4/27484/PSI2006_Summary.pdf (30. Januar 2008).
409
Demokratie und Erinnerung
409
nis in den letzten 50 Jahren kaum etwas geändert. Nach dem Entstehen einer für
Lateinamerika relativ breiten Mittelschicht während der 40er, 50er und 60er Jah-
re (ca. 30–35%) stagnierte die ungleiche Einkommensverteilung weiterhin auf
hohem Niveau. So liegt der von der CEPAL für den Zeitraum 2003/05 errechne-
te Gini-Koeffizient gegenwärtig bei 0,584 und hat sich damit im Vergleich zu
1998/99 (0,572) weiter verschlechtert.11
Weiterhin lässt sich konstatieren, dass es in den letzten 20 bis 30 Jahren zu
einer leichten Verschiebung der von Armut betroffenen Gruppen gekommen ist.
Wie eine Vielzahl von Studien für ganz Lateinamerika zeigt, ist gegenwärtig vor
allem ein Teil der Mittelschichten unmittelbar vom Abstieg bedroht.12 Das Phä-
nomen der "verarmten Mittelschichten" steht in enger Verbindung mit den seit
Mitte der 1980er Jahre erfolgten neoliberalen Reformen, die unter anderem ei-
nen Umbau bzw. die "Verschlankung" des Staates zur Folge hatten. Zwar hatten
diese Umstrukturierungsmaßnahmen, wie zum Beispiel die Öffnung der Märkte,
die Deregulierung des Finanzsektors oder die Privatisierung ehemals staatseige-
ner Betriebe den Verlust zahlreicher Arbeitsplätze zur Folge, zugleich bewirkten
sie jedoch, dass neue Personengruppen in die Mittelschicht integriert wurden
oder sogar in die Oberschicht aufstiegen. Gemessen am Pro-Kopf-Einkommen
nahm allerdings der Abstand zwischen dem ärmsten und dem reichsten Teil der
Bevölkerung weiter zu. Mit seiner gegenwärtigen hohen Einkommens-Disparität
steht Kolumbien nach Bolivien, Brasilien und Honduras an vierter Stelle in der
CEPAL-Rangfolge der Einkommensungleichverteilung.13
Obwohl die aktuelle Regierung damit begonnen hat, Maßnahmen zur Be-
kämpfung der Armut zur ergreifen, verfügt sie über kein Konzept zur Verminde-
rung der sozialen Ungleichheit.14 Im Gegenteil, trotz der Zerschlagung bzw.
Privatisierung besonders verlustreicher Staats-Sektoren hat das Kabinett von
Álvaro Uribe keine maßgebliche Reduzierung des Haushaltsdefizits erreicht und
verfügt daher über wenig Handlungsspielraum in der Sozialpolitik. Die Regie-
11 Zur Einkommensungleichverteilung siehe ebd.
12
Siehe hierzu überblicksartig und stellvertretend für eine Reihe länderspezifischer Stu-
dien
Kliksberg, Bernardo.
2002.
Hacia una nueva visión de la política social en América
Latina: desmontando mitos
. In: http://cdi.mecon.gov.ar/biblio/docelec/MU2685.pdf (30. Ja-
nuar 2008).
13
Zur Rangfolge siehe
CEPAL.
2006.
14
Im Folgenden stütze ich mich auf
Blumenthal, Hans.
2006.
Kolumbianische Präsident-
schaftswahlen am 28. Mai 2006: Ursachen und Folgen einer angekündigten Wiederwahl
. In:
http://library.fes.de/pdf-files/iez/03718.pdf (30. Januar 2008).
410
410
Kapitel I
V
rung versagt zudem bei der Koordination ihrer verschiedenen Maßnahmen.
Durch Personalabbau und Veräußerungen eingesparte Gelder fließen vornehm-
lich in den Militärapparat, anstatt wie ursprünglich vorgesehen dem Bildungs-
und Gesundheitssektor zu Gute zu kommen. Ein großer Teil der Verantwortung
für soziale Dienste ist außerdem an Familien der Oberschicht oder die Kirche
übertragen worden, die zumeist im karitativen Sinne tätig sind.15
Im Bezug auf den Stand der demokratischen Transformation ist weiterhin
festzustellen, dass zwar das auffälligste Merkmal des "alten" politischen Sys-
tems, nämlich die starke Identifikation mit einer der beiden Traditionsparteien
auf lokaler oder regionaler Ebene, insgesamt an Bedeutung verloren hat. Den-
noch kann die Demokratie selbst im "klassischen Sinne" noch nicht als konsoli-
diert gelten. Obwohl einige der von Juan Linz und Alfred Stepan im Hinblick
auf Lateinamerika definierten Konsolidierungskriterien in formaler Hinsicht an-
nähernd erfüllt sind, hat die Demokratie in Kolumbien in den letzten Jahren
stark an Rückhalt verloren. Offenbar ist es zur Festigung des Demokratiebe-
wusstseins im Volk nicht ausreichend, dass bei politischen und wirtschaftlichen
Krisen eine Mehrheit Veränderungen mit demokratischen Mitteln wünscht so-
wie alle politischen Akteure (mit Ausnahme der illegalen bewaffneten Gruppen)
die Spielregeln der Demokratie akzeptieren.16
So hält sich die Demokratiebegeisterung in breiten Teilen der Bevölkerung
trotz der objektiven institutionellen Stabilität in Grenzen. Dem Umfrageinstitut
Latinobarómetro
zufolge waren im Jahre 2007 nur 32% der Bevölkerung "zu-
frieden" bzw. "sehr zufrieden" mit der Demokratie. Auf die Frage, ob die De-
mokratie jedem anderen System vorzuziehen sei, antworteten 47% mit "Ja" (la-
teinamerikanischer Durchschnitt: 54%).17 Zudem nutzt die aktuelle Regierung
diese Stimmung, um die wenigen seit Einführung der neuen Verfassung (1991)
erreichten Demokratisierungsfortschritte teilweise rückgängig zu machen. So
sprach sich Präsident Uribe kürzlich für die Abschaffung demokratischer Kont-
rollorgane aus und nutzte die plebiszitären Elemente der Verfassung zu seinen
Gunsten. Nachdem ihm der Kongress ein Reformpaket zur Sanierung des
Staatshaushaltes verweigert hatte, führte er im Oktober 2003 ein Referendum
durch, das Rentenkürzungen und Sozialeinsparungen vorsah. Dies geschah ohne
großen Widerspruch, obwohl das Mittel des Referendums ursprünglich zur Stei-
15 Vgl.
Bonilla/González.
2006.
16
Vgl. hierzu
Linz/Stepan.
1997, S. 14–33.
17
Dazu im Internet: www.latinobarometro.org.
411
Demokratie und Erinnerung
411
gerung der Partizipation und zur Demokratisierung des Staates eingeführt wor-
den war, keinesfalls jedoch zur Haushaltsstabilisierung.18
Wenige Tage vor der Abstimmung präsentierte sich der Präsident zudem in
der umstrittenen Fernsehshow
Big Brother
, was ihm den Vorwurf des Populis-
mus einbrachte. Dennoch scheiterte sein Vorhaben an einer zu geringen Wahl-
beteiligung (unter 25%). Da die Regierung ihren Bürgern jedoch Sicherheit ge-
währt und in weiten Teilen des Landes das staatliche Gewaltmonopol zurücker-
obert hat, verfügt Uribe über großen Rückhalt in der Bevölkerung. Diese Unter-
stützung fußt allerdings in erheblichem Maße auf assistenzialistischen Vertei-
lungsprogrammen, die zumeist direkt von den Entscheidungen der Exekutive
abhängen und daher kaum zur nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingun-
gen beitragen dürften. Derartige Maßnahmen, wie etwa
Acción Social
oder
Fa-
milias Guardabosques
, richten sich an mehrere Millionen Arme im ganzen
Land, mit deren Wahlstimmen die Regierung rechnen kann.19 Anscheinend ist
es der Mehrheit der Kolumbianer egal, dass das politische System immer stärker
einer "Minimal-Demokratie" gleicht, solange innere Sicherheit, staatliche Sub-
ventionen und Wirtschaftswachstum gewährleistet sind. Zu vermuten ist ferner,
dass Uribes Popularität gerade auf seinem autoritären Führungsstil beruht.
Mit den funktionalistischen Modellen der "klassischen" Transformationsfor-
schung ist angesichts dieser Situation also nur bedingt erklärbar, warum Kolum-
bien noch immer ein von Gewalt, Intoleranz, sozialer Ungleichheit und politi-
scher Exklusion gezeichnetes Land ist. Aus diesem Grund setzt die neuere, "ge-
netische" Transformationsforschung stärker auf kulturelle Faktoren. Ihre An-
hänger heben vor allem die Bedeutung der unterschiedlichen Strategien sozialer
und politischer Akteure hervor.20 Denn Werte und Normen, an denen sich ein-
zelne Gruppen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten orientieren, seien
mindestens genauso wichtig wie stabile Institutionen und verbindlich geregelte
18
Vgl.
Kurtenbach, Sabine.
2003.
Uribe vor dem Ende? In:
Brennpunkt Lateinamerika
,
Nr. 22 (November, Hamburg), S. 223–234.
19
Vgl.
Bonilla/González.
2006.
20
Für einen Überblick über die aktuellen Tendenzen dieser Forschungsrichtung siehe
Hi-
te, Katherine/Paola Cesarini (Hgg.).
2004.
Authoritarian Legacies and Democracy in Latin
America and Southern Europe
. Notre Dame, Indiana: Univ. of Notre Dame Press. Im Folgen-
den stütze ich mich insbesondere auf den darin enthaltenen Aufsatz von Paloma Aguilar
Fernández und Katherine Hite über den Zusammenhang von historischem Gedächtnis und
demokratischer Transformation in Spanien und Chile. Vgl. hierzu
Aguilar Fernández, Pa-
loma
/
Katherine Hite.
2004. Historical Memory and Authoritarian Legacies in Processes of
Political Change: Spain and Chile. In: ebd., S. 191–231.
412
412
Kapitel I
V
Verfahrensabläufe auf der Makroebene.21 Strategische Optionen der Akteure
sind zwar immer stark von ihrer Wahrnehmung des politischen Prozesses ab-
hängig. Andererseits ist diese Wahrnehmung aber auch durch situationsabhängi-
ge Erinnerungen beeinflusst, die gewissermaßen als Vergleichsgröße dienen.
Um zu verhindern, dass der Stellenwert der Demokratie in Kolumbien noch
weiter sinkt, ist daher neben der Stärkung der Institutionen auch eine Vertiefung
der demokratischen Kultur notwendig. Dem spanisch-kolumbianischen Philoso-
phen und Kommunikationswissenschaftler Jesús Martín-Barbero zufolge benö-
tigt das Land einen politischen Diskurs, in dem die unterschiedlichen Formen
der gesellschaftlichen "Gegenerinnerung" aufgehen. Nur auf der Grundlage die-
ser "neuen nationalen Erzählung" lasse sich der zerstörerische Dualismus, der
die politische Kultur des Landes seit über 60 Jahren prägt, dauerhaft überwin-
den.22 Da der Staat durchaus Interesse zeigt, mit den bewaffneten Gruppen in
Verhandlungen zu treten und hierzu sogar ein Amnestiegesetz erlassen hat (
Ley
de Justicia y Paz
, 2005), stellt sich die Frage, wie in Zukunft mit der problema-
tischen Geschichte umgegangen werden soll. Während Kolumbiens historisches
Gedächtnis, so wie es Maurice Halbwachs definiert hat (Kap. I, 2.2), bisher als
Produkt der offiziellen Geschichtspolitik zu betrachten war, müssen sich die
Architekten eines zukünftigen Friedensprozesses Gedanken über die konträren
Geschichtsversionen der bewaffneten Akteure sowie der alternativen zivilgesell-
schaftlichen Gruppen machen.
Denn, wie ich in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt habe, spielt die
Frage nach den historischen Ursprüngen des Konflikts für die politischen Eliten,
die linksgerichtete Guerilla und für einige gesellschaftliche Gruppen nach wie
vor eine wichtige Rolle. In diesem Zusammenhang hat Paloma Aguilar
Fernández in ihrer Studie über den spanischen Transformationsprozess ausge-
führt, dass in einer postautoritären Gesellschaft individuelle und offizielle Erin-
nerung nicht allzu sehr voneinander abweichen dürfen, wenn politische Stabilität
erreicht werden soll.23 Doch auch andere Transformationsforscher weisen darauf
hin, dass dem Verhältnis von historischem Gedächtnis auf nationaler und den
gesellschaftlichen Erinnerungskulturen auf lokaler Ebene große Bedeutung zu-
kommt.24 Im Falle der stark polarisierten Gesellschaft Kolumbiens wäre es je-
21
Hierzu
Cruz, Consuelo.
2004. Latin American Citizenship: Civic Microfoundations in
Historical Perspective. In: ebd., S. 305–321.
22
Siehe
Martín-Barbero.
2001.
23
Vgl.
Aguilar Fernández.
1996, S. 26.
24
Siehe
Hite/Cesarini.
2004.
413
Demokratie und Erinnerung
413
doch keineswegs ausreichend, die unterschiedlichen Auffassungen über die
Gründe des bewaffneten Konflikts in Buchform zu verbreiten. Der vorherr-
schende dualistische Diskurs, in dem der politische Gegner geradezu dämoni-
siert wird, lässt sich nur aufheben, wenn er durch einen ebenso dominanten Dis-
kurs der Versöhnung auf institutioneller Ebene ersetzt wird. Hierzu ist der politi-
sche Wille der Regierung bzw. der Eliten gefragt. Um den Transformationspro-
zess zu beschleunigen und zu einem Abschluss zu bringen, wäre es daher not-
wendig, die unterschiedlichen Versionen der Vergangenheit im Museum, in den
Schulbüchern, in Form öffentlicher Kunstwerke oder im Fernsehen zu repräsen-
tieren. Eine besondere Bedeutung käme weiterhin dem Feld der Vergangen-
heitspolitik zu, die Edgar Wolfrum als Teilbereich der Geschichtspolitik charak-
terisiert hat (Kap. I, 2.1). Diese bezieht sich vornehmlich auf praktisch-
politische Maßnahmen, wie sie in Kolumbien derzeit von der CNRR umgesetzt
werden. Ziel und Aufgabe der Vergangenheitspolitik, die meist im Umgang mit
dem institutionellen und personellen Erbe eines überwundenen Systems eine
Rolle spielt, sind demnach die Bestrafung von Tätern, deren Disqualifikation
und die Kompensation der Opfer.
Zwar haben andere lateinamerikanische Regierungen durchaus Maßnahmen
ergriffen, um die Verantwortlichen aus der Zeit der Militärdiktaturen zu bestra-
fen bzw. deren Verbrechen aufzuklären (v. a. Argentinien). Nichtsdestotrotz ist
häufig eine große Lücke zwischen den in Buchform veröffentlichten Ergebnis-
sen diverser Wahrheitskommissionen und deren Breitenwirkung feststellbar. So
ist beispielsweise in Chile oder Guatemala keineswegs die gesamte Bevölkerung
der Meinung, dass die Militärregierungen der 70er und 80er Jahre generell zu
verurteilen seien. Noch immer verweisen signifikante Teile der Bevölkerung –
wenngleich nicht die Mehrheit – auf positive Aspekte dieser Zeit, wie etwa den
Kampf gegen den Kommunismus, die Schaffung von "Ordnung" oder die wirt-
schaftliche Stabilisierung (Chile).25
Um sich endgültig zu konsolidieren, benötigt ein demokratisches Regime da-
her ebenfalls historische Legitimationsfiguren sowie die Berufung auf demokra-
tische "Traditionen". Zur Vertiefung der demokratischen Kultur in Kolumbien
könnte es sich in diesem Zusammenhang jedoch als sinnvoll erweisen, die herr-
schaftslegitimierende Erzählung von der "ältesten Demokratie Südamerikas" zu
Gunsten einer neuen, kritischeren Perspektive aufzugeben. Darin könnte sowohl
die Sichtweise der bewaffneten Gruppen als auch diejenige der zivilgesellschaft-
25 Vgl.
Aguilar Fernández/Hite.
2004, S. 216 ff.
414
414
Kapitel I
V
lichen Akteure aufgehen. In diesem Zusammenhang ist es die Aufgabe der poli-
tischen Eliten, eigene Verfehlungen im Hinblick auf die Konstruktion des ex-
kludierenden politischen Systems, die staatliche Gewalt und die soziale Un-
gleichheit einzugestehen. Im Gegenzug müsste den bewaffneten Akteuren die
politische Partizipation in Form von Parteien oder Gewerkschaften garantiert
und ihre Sicherheit gewährleistet werden. Einige Forderungen der Guerilla, wie
zum Beispiel die Einführung eines progressiven Steuersystems oder die Stär-
kung der Rechte der Arbeiter, müssten bei zukünftigen Friedensverhandlungen
ebenfalls berücksichtigt werden. Nicht minder wichtig wäre daneben eine öf-
fentliche Diskussion über die Gründe des bewaffneten Widerstandes.
In Bezug auf die Interpretation der
Violencia
könnte ein solch umfassender
Prozess dazu beitragen, die Ergebnisse der
Nueva Historia
sowie der jüngeren
Forschung endlich auf die institutionelle Ebene zu übertragen. Der bisher "na-
menlose" Krieg der 40er, 50er und 60er Jahre könnte folglich in den staatlichen
Museen als Teil einer Dauerausstellung präsentiert werden. Weiterhin würden
öffentliche Monumente, Gedenktafeln und Straßennahmen an die über 200.000
Ermordeten jener Epoche erinnern. Der höchste Stellenwert käme im Zuge einer
solchen Institutionalisierung jedoch den lokalen Erinnerungskulturen zu. Auf
Dauer ist nur eine öffentliche Debatte über die schmerzhafte Vergangenheit in
der Lage, das kollektive Trauma zu überwinden. Dabei ist es nicht einmal zwin-
gend erforderlich, zu einem einheitlichen Ergebnis zu gelangen. Die Pluralität
der Erinnerungen ist stattdessen als Voraussetzung für die Pluralität der Mei-
nungen unter den Bedingungen einer qualitativ "höherwertigen" Demokratie zu
betrachten.26
Gemeinsam mit Mark Arenhövel gehe ich davon aus, dass zur Festigung der
Demokratie in Lateinamerika eine "moralische Kultur" zur Superstruktur der
politischen Kultur erhoben werden muss, wobei die Art und Weise der innerge-
sellschaftlichen Auseinandersetzung über die Vergangenheit von entscheidender
Bedeutung ist. Schlüsselvariablen für eine partizipative Staatsbürgerkultur sind
demnach die interpersonalen Einschätzungen gegenseitigen Vertrauens und der
Ehrlichkeit durch die Bürgerinnen und Bürger.27 Zur Wiederherstellung des ver-
lorenen Vertrauens in den lateinamerikanischen Demokratien empfiehlt Aren-
hövel – im Anschluss an die Ergebnisse des chilenischen Transformationsfor-
26 Vgl. ebd., S. 210 ff.
27
Vgl.
Arenhövel, Mark.
2000.
Demokratie und Erinnerung. Der Blick zurück auf Dikta-
tur und Menschenrechtsverbrechen
. Frankfurt a. M.: Campus, S. 120 f.
415
Demokratie und Erinnerung
415
schers Carlos Santiago Nino – eine deliberative Erinnerungspolitik, die er als
"Gegengift" gegen die Ausbreitung anomischer Verhältnisse betrachtet.28
Auch wenn die individuellen Haltungen älterer Generationen in Bezug auf
den Ursprung der Gewalt oftmals nur schwer zu ändern sind, dürften zumindest
die jüngeren Generationen offen für die allgemein akzeptierten Ergebnisse einer
öffentlichen Debatte sein. Demokratie – verstanden als
civic culture
, das heißt
auf der Grundlage einer pluralistischen demokratischen Kultur im Sinne Toc-
quevilles errichtet – könnte somit auf den "Lehren" aus der Vergangenheit auf-
bauen, während zukünftige Generationen ihre Entscheidungen in einem neuen
normativen Raster fällen würden. Die Art und Weise, wie die Gesellschaft
ihre
Geschichte interpretiert, über sie debattiert und sie öffentlich darstellt, wird für
die Herausbildung und Vertiefung demokratischer Werte in Kolumbien von we-
sentlicher Bedeutung sein. Es stellt sich jedoch die Frage: Wie stehen derzeit die
Chancen für einen solchen Prozess?
2.
D
IE
V
IOLENCIA
IN DER
A
RBEIT DER
C
OMISIÓN
N
ACIONAL DE
R
ECONCILIACIÓN Y
R
EPARACIÓN
(CNRR)
–
V
ERSUCH EINER
INSTITUTIONELLEN
A
NERKENNUNG
In den 80er und 90er Jahren arbeiteten mehrere Wahrheitskommissionen in La-
teinamerika die Verbrechen der unmittelbar zurückliegenden Militärdiktaturen
auf. Ihre Reichweite hing dabei wesentlich von den politischen Rahmenbedin-
gungen ab. Während es die Kommissionen in manchen Ländern bei Wahrheits-
findung und symbolischer Wiedergutmachung beließen, forderten sie in anderen
Ländern konkrete juristische Schritte gegen die politisch Verantwortlichen. In
Kolumbien existiert zwar seit 2005 ebenfalls eine von der Regierung eingesetzte
Kommission zur Aufklärung der seit den 1960er Jahren verübten Verbrechen.
Im Unterschied zu den "klassischen" Wahrheitskommissionen in Lateinamerika
und Afrika stehen jedoch weder die Verbrechen einer Militärdiktatur noch die
umfassende Aufarbeitung eines als "abgeschlossen" betrachteten Konfliktes auf
der Tagesordnung. Tatsächlich ist der Versuch der so genannten
Comisión Na-
cional de Reconciliación y Reparación
(CNRR), während des Krieges mit der
Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen und der Suche nach den Grün-
28
Dabei bezieht sich Arenhövel auf folgende Studie:
Nino, Carlos Santiago.
1996.
Radi-
cal Evil on Trial
. New Haven u. a.: Yale Univ. Press.
416
416
Kapitel I
V
den des Konfliktes zu beginnen, weltweit einzigartig. Von besonderem Interesse
wird im Folgenden der Fokus auf die historischen Wurzeln der Gewalt sein.
Obgleich ein dauerhafter Verhandlungsfrieden mit beiden Guerillas momen-
tan in weiter Ferne liegt, schließt die Regierung eine "alternative" Konfliktlö-
sung nicht mehr grundsätzlich aus. Die Gründung der CNRR im Oktober 2005
ist daher als Teil breitangelegter Friedensbemühungen von Seiten der Regierung
zu betrachten, an denen sich auch mehrere europäische Länder und die USA be-
teiligen.
Als Grundlage der Kommission, deren Vorsitz der Konfliktforscher und Poli-
tologe Eduardo Pizarro innehat, dient Artikel 51 der im Juli 2005 verabschiede-
ten
Ley de Justicia y Paz
.29 Fünf von der Regierung berufene Persönlichkeiten,
zwei Vertreter der Opferverbände sowie eine Reihe von Staatsbeamten gehören
der CNRR für einen Zeitraum von acht Jahren an. Ihre Aufgabe ist es, die Mitg-
lieder der bewaffneten Gruppen (Paramilitärs und Guerilleros) vollständig zu
demobilisieren und in die Gesellschaft zu integrieren, Gewaltopfer in materieller
und symbolischer Hinsicht zu entschädigen, Kriegsverbrechen und Verbrechen
gegen die Menschlichkeit aufzudecken sowie einen abschließenden Bericht über
die Gründe des internen Konflikts vorzulegen.
Obgleich an der Integrität des Vorsitzenden Pizarro, dessen Bruder Carlos im
Jahre 1990 von Paramilitärs ermordet wurde und der selbst nur knapp einem
Anschlag entgangen ist, keine Zweifel bestehen, kam es bereits im Vorfeld zu
polemischen Auseinandersetzungen.30 Menschenrechtsorganisationen bemän-
gelten zahlreiche Unzulänglichkeiten. Die gesetzliche Grundlage würde interna-
tionalen Standards nicht genügen, was besonders das geringe Strafmaß für Fol-
ter, Mord oder gar Massenmord betreffe. Derartige Taten mit höchstens acht
Jahren Gefängnis zu ahnden, sofern der Angeklagte bereit ist, Reue zu zeigen,
seine Schuld zu bekennen und zur Entschädigung beizutragen, sei ein Schlag ins
Gesicht der Opfer. Die Idee, ehemalige Angehörige bewaffneter Gruppen an
speziellen Integrationsprogrammen teilnehmen zu lassen, um einen Rückfall in
das alte "Geschäft" zu verhindern, sei in Wirklichkeit kontraproduktiv. Indem
sie sich der Justiz stellten, würde den Tätern das Fortführen gesetzeswidriger
Aktivitäten unter staatlichem Schutz ermöglicht. Dass es tatsächlich Teile der
29
Vgl.
Ley 975
vom 25. Juli 2005. In: http://www.altocomisionadoparalapaz.gov.co/jus-
ticia_paz/documentos/Ley1_975.pdf (31. Januar 2008).
30
Vgl. hierzu und zum Folgenden
Amnesty International.
2007.
Jahresbericht Kolum-
bien
. In: http://www2.amnesty.de/internet/deall.nsf/74306e77ccabf47cc12565cb003dc377/ebf
074b2cb62b375c12572ff0048afde?OpenDocument (31. Januar 2008).
417
Demokratie und Erinnerung
417
Paramilitärs gibt, die auf diese Weise Drogenhandel, Entführung und Landraub
zu "legalisieren" trachten, ist in Kolumbien kein Geheimnis. Daneben sträuben
sich auch die USA, einige besonders berüchtigte Paramilitärs als Rehabilitati-
onskandidaten zu akzeptieren. Aufgrund eines Auslieferungsabkommens mit
Kolumbien pocht Washington stattdessen auf die baldige Überstellung bekann-
ter Drogenhändler, wovon praktisch die gesamte Führungsriege der Paramilitärs
betroffen wäre.31
Seit dem 20. Dezember 2005 regelt das Dekret 4760 die Anwendung der
Ley
de
Justicia y Paz
, die unter dem Aspekt einer weitgehenden Straffreiheit und
einer "oberflächlichen" Demobilisierung in Teilen der Bevölkerung auch als
ley
de impunidad
bekannt ist.32 Vor allem die oftmals unter dem Schutze des Staa-
tes agierenden Paramilitärs haben sich seit Ende des Jahres 2005 um Aufnahme
in das Demobilisierungsprogramm beworben. Schätzungen der Regierung zu-
folge ist es somit gelungen, über 32.000 Paramilitärs zu demobilisieren und in
die Gesellschaft zu integrieren. Unbeantwortet ist allerdings die Frage geblie-
ben, wie es zu dieser unerklärlichen Verdoppelung der rechtsgerichteten illega-
len Akteure kommen konnte, deren Mitgliederstärke zuvor auf zwischen 12.000
bis 15.000 Mann geschätzt worden war.33 Von Menschenrechtsorganisationen in
Auftrag gegebene Studien weisen hingegen darauf hin, dass fehlende Kontroll-
mechanismen zu einer "Politisierung" gewöhnlicher Delikte beigetragen hätten.
Vor allem die von der Auslieferung bedrohten Drogenhändler hätten es demnach
vorgezogen, im Schutze des Demobilisierungsprogramms relativ kurze Haftstra-
fen in kolumbianischen Gefängnissen anzutreten. Zu diesem Zwecke hätten sich
Tausende unpolitischer Krimineller im Nachhinein zu Mitgliedern der "politi-
schen" AUC erklärt. Hinzu kommt, dass seit der "Demobilisierung" eines Groß-
teils der angeblichen Paramilitärs in mehreren Landesteilen bereits wieder neue
rechtsgerichtete Banden entstanden sind, die offenbar direkt von den lokalen
Drogenkartellen finanziert werden.34
31
Vgl.
El Tiempo
vom 30. August 2007.
32
Dekret 4760
vom 20. Dezember 2005. In: http://www.acnur.org/biblioteca/pdf/4550.pdf
(31. Januar 2008). Kritisch dazu
Comisión Colombiana de Juristas.
2006.
Reglamentando
la impunidad a dos manos
. In: http://www.internaldisplacement.org/8025708F004C/(httpDo-
cuments)/1506CCA60CBE7409C1257122004A4661/file/Comdec4760.pdf (31. Januar 2008).
33 Vgl.
Amnesty International.
2007.
34
Vgl. etwa
Human Rights Watch.
2005.
Las apariencias engañan. La desmovilización
de grupos paramilitares en Colombia
. In: http://www.hrw.org/reports/2005/colombia-
0805/ColombiaResumenyRecs.pdf (31. Januar 2008) u.
Federación Internacional de Dere-
chos Humanos.
2007.
Colombia: la desmovilización paramilitar, en los caminos de la Corte
418
418
Kapitel I
V
Daneben stehen jedoch auch mehrere hundert Guerilleros auf den Antragslis-
ten, in der Hoffnung, als "politische Gewalttäter" anerkannt zu werden. Obwohl
das Dekret im Vergleich zu seiner gesetzlichen Grundlage einige Verbesserun-
gen enthält, gilt es vielen NROs noch immer als ein "Freibrief" für die schlimm-
sten Verbrecher. So wurde nach erheblicher Kritik zwar der Ermittlungszeitraum
von ursprünglich nur 60 Tagen auf nunmehr sechs Monate verlängert. In der
Praxis bedeutet dies aber nach wie vor, dass bestimmten Anklagepunkten nur
unzureichend nachgegangen werden kann, was einer Amnestie
de facto
gleich-
kommt.35 Außerdem legten die Macher des Dekrets fest, dass ein bestrafter Tä-
ter für die Dauer seiner Strafe seine politischen Rechte verliert. Dadurch sollte
verhindert werden, dass paramilitärische Kreise Einfluss auf die Politik erlan-
gen. Dass diese Einsicht allerdings viel zu spät kam, zeigt derzeit der Skandal
um die so genannte
parapolítica
. So wiesen Journalisten und Oppositionspoliti-
ker im Juni 2005 erstmals nach, dass die Paramilitärs weite Teile des Kongres-
ses und der Regierung unterwandert hatten. Eine definitive Aufklärung der viel-
fältigen Verstrickungen zwischen Staat und Paramilitarismus steht indes weiter-
hin aus.36
Anfang Dezember 2006 präzisierte Eduardo Pizarro erstmals die Vorgehens-
weise der Kommission und ging dabei auch auf die Kritik zahlreicher in- und
ausländischer Beobachter ein.37 Deren Skepsis sei unbegründet. Eine öffentliche
Schilderung der begangenen Verbrechen werde "starken moralischen Druck" auf
die Aufständischen ausüben. Dadurch entstehe eine ethische Barriere, die eine
weitere Zunahme der Gewalt gegen Zivilisten verhindern würde. Dies sei vor
allem dann der Fall, wenn die Opfer begännen, sich zu organisieren und Wie-
dergutmachung einzufordern. Trotz des schwachen kolumbianischen Rechtssys-
tems werde die Kommission nach und nach in alle Landesteile vordringen. Dort
sollen Regionalkomitees eingesetzt werden, die den Betroffenen auch die Mög-
lichkeit zur kostenlosen Unterbringung bieten. Obwohl, wie Pizarro selbst ein-
gesteht, viele Gewaltopfer dies aus Angst vor Vergeltung ablehnen dürften.
Weiterhin werde die Regierung allen Gemeinden, die nachweislich unter Mas-
sakern und selektiven Tötungen gelitten haben, materielle Entschädigung ge-
Penal Internacional
. In: http://www.fidh.org/IMG/pdf/Colombiejustice481-32007.pdf (31.
Januar 2008).
35
Vgl.
Human Rights Watch.
2005.
36
Mittlerweile befasst sich sogar eine eigene Website mit dem Skandal der
parapolítica
:
www.parapolitica.com.
37
Vgl. hierzu und zum Folgenden
El Tiempo
vom 3. und 4. Oktober 2005.
419
Demokratie und Erinnerung
419
währen. Eine der ersten Aufgaben der Kommission sei es daher, Massengräber
ausfindig zu machen und demobilisierte Täter zu befragen.
Da sich die Höhe der Zuschüsse von Seiten der US-Regierung, privater Geber
wie dem
Open Society Institute
, aber auch der Europäer bislang in Grenzen hält,
hat Präsident Uribe vorsorglich eine eher "symbolische Entschädigung" ange-
kündigt. Denn der Schmerz der Opfer sei so groß, dass eine "totale Wiedergut-
machung" ohnehin nicht möglich sei. In diesem Sinne sieht das Gesetz neben
der öffentlichen Entschuldigung der Täter auch die "Bewahrung des historischen
Gedächtnisses" vor, auf dass sich die Katastrophe niemals wiederhole.38
In Konsequenz klammert sich der Gesetzestext daher an den Begriff der
"Wahrheit". Das "Recht auf Wahrheit", welches insbesondere den Opfern der
Gewalt zustehe, ist ausdrücklich festgelegt (Art. 4 u. 7). Alle sollen wissen, wo
sich die entführten Angehörigen befinden und welche Verbrechen von wem be-
gangen wurden. Ein weiterer Artikel sieht vor, die Erinnerung an das Geschehe-
ne wachzuhalten (Art. 8). Dies sei Aufgabe des Staates. Am weitesten gehen
schließlich jene Abschnitte, die sich mit der Vergangenheitsaufarbeitung ausein-
andersetzen. Hier verlangt das Gesetz die Anfertigung eines abschließenden Be-
richts, in dem "die Gründe für die Entstehung und Entwicklung der illegalen
bewaffneten Gruppen" dargelegt werden und fordert die "Pflicht zur Erinne-
rung" ein. Der Staat habe alle Archive und Datenbanken zur gewalttätigen Ver-
gangenheit des Landes zu sichern und öffentlich zugänglich zu machen (Art. 56,
57 u. 58). In dieser Verpflichtung zur "Wahrheit", die vom Staat verbreitet und
verteidigt werden soll, liegt jedoch das größte Problem.
Wie ist es möglich, die Wahrheit über Gründe und Motivationen einer Tat in
Erfahrung zu bringen, solange der Konflikt andauert? Denn sollten tatsächlich
Namen und Daten von Hintermännern und Finanziers an die Öffentlichkeit ge-
langen, ist deren Sicherheit kaum mehr zu gewährleisten. Die Guerilleros bzw.
die Paramilitärs würden mit großer Wahrscheinlichkeit versuchen, diese zu er-
morden. Angesichts dessen hat Pizarro angekündigt, zunächst nur die juristische
"Wahrheit" aufdecken zu wollen, um dann eines Tages auch die tiefer liegenden
Strukturen der Gewalt zu untersuchen.39 Ob die Opfer und ihre Angehörigen
sich jedoch mit der oberflächlichen Klärung des Tathergangs und einer Reihe
öffentlicher Entschuldigungen zufrieden geben, darf bezweifelt werden. Die
Mitglieder der Kommission müssen sich darüber im Klaren sein, dass ihre Form
38 Vgl. zum Folgenden
Ley 975
vom 25. Juli 2005.
39
Vgl.
El Tiempo
vom 3. Oktober 2005.
420
420
Kapitel I
V
der Wahrheitsfindung höchstens zu einer Überführung einiger Handlanger bei-
trägt. Solange die wirklichen Interessen im Hintergrund bleiben, ist ein Ende der
Gewaltspirale nicht abzusehen.
Wie ich in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt habe, kann der bewaffnete
Konflikt nur überwunden werden, wenn die historischen, politischen und öko-
nomischen Bedingungen, die seit Jahrzehnten das soziale und politische Rück-
grat der bewaffneten Akteure darstellen, minutiös und ohne Rücksicht auf Parti-
kularinteressen aufgearbeitet werden. Die "historische Wahrheit" des abschlie-
ßenden Berichts darf sich daher nicht in einer Ansammlung ereignisgeschichtli-
cher Daten erschöpfen. Das historische Fundament einer nationalen Aussöhnung
könnte schnell brüchig werden, wenn nicht folgende Fragen beantwortet wer-
den: Welche ökonomischen und politischen Interessen stehen hinter den be-
waffneten Gruppen? Wer profitiert vom Status Quo? Welche sozialen Gruppen
werden vom politischen Prozess – was übrigens auch die Arbeit der Kommissi-
on betrifft – ausgeschlossen?
Dieser schwierigen Aufgabe widmet sich eine Unterabteilung der CNRR, die
den Namen
Comisión de Memoria e Historia
(CMH) trägt und von dem Histori-
ker Gonzalo Sánchez geleitet wird. Der Kommission gehören unter anderem die
Anthropologin María Victoria Uribe, die Historikerin María Teresa Uribe und
der Historiker Fernán González an. Ziele und Themenfelder der CMH finden
sich in einem Anfang des Jahres 2007 unter der Bezeichnung
Plan Área de Me-
moria Histórica
von Gonzalo Sánchez im Internet veröffentlichten Dokument.40
Darin sind neben einigen konkreten Aufgaben der Kommission vor allem grund-
sätzliche Positionen und mögliche Forschungsschwerpunkte genannt. Insgesamt
sind sowohl die Methodologie als auch die zu erforschenden Bereiche offen ge-
halten. Als hauptsächliche Aufgabe wird die Konstruktion einer "Erinnerung an
den Konflikt" festgehalten (Punkt 1.1), die jedoch den unterschiedlichen Sicht-
weisen der beteiligten Akteure gerecht werden soll:
La construcción de la memoria del conflicto juega un papel fundamental dado su carácter de
marco de interpretación y de acción desde el cual se definen los horizontes de expectativas de
los distintos grupos sociales, tanto en la búsqueda de salidas al conflicto armado interno, co-
mo en la tarea de redemocratizar posterior a los acuerdos de paz. Desde esta perspectiva, la
memoria constituye un principio de conocimiento y un terreno de lucha política, existiendo
tantas memorias del conflicto armado colombiano como actores involucrados en este.41
40
Vgl.
CMH.
2007.
Plan Área de Memoria Histórica
. In: http://www.cnrr.org.co/new/
areas/memoria/anexo/plan.pdf (8. Februar 2008).
41
Vgl. ebd.
421
Demokratie und Erinnerung
421
Dennoch sieht sich die CMH nicht als Teil einer Wahrheitskommission im
"klassischen" Sinne, sondern vielmehr als vorbereitendes Gremium, dessen Er-
gebnisse eines Tages die Grundlage einer solchen Einrichtung bilden könnten.
Da die CNRR weder juristische Schritte noch politische Maßnahmen veranlas-
sen kann, liegt der Sinn ihrer Tätigkeit eher in der Stimulierung einer öffentli-
chen Debatte. Im Rahmen der Anwendung des Gesetztes
Justicia y Paz
kann die
CNRR zwar Empfehlungen aussprechen. Gegenüber dem unabhängig agieren-
den Justizapparat hat ihre Stimme jedoch kaum Gewicht. Die Kommission lie-
fert lediglich das zur Amnestierung bzw. Verurteilung von "politischen" Straftä-
tern notwendige Datenmaterial. An dieser Arbeit sind naturgemäß weitere Stel-
len beteiligt, wobei eine breite Vernetzung staatlicher und nichtstaatlicher Sekto-
ren zu beobachten ist. Vornehmliche Aufgabe der CMH ist es hingegen, einen
umfassenden Bericht über die seit dem Beginn des bewaffneten Konflikts verüb-
ten Verbrechen zu verfassen, ohne die historischen Hintergründe aus den Augen
zu verlieren. Des Weiteren schlagen ihre Mitglieder zahlreiche geschichtspoliti-
sche Maßnahmen vor, um das historische Gedächtnis Kolumbiens auf institutio-
neller Ebene neu zu konstituieren.
In diesem Zusammenhang erweist sich bereits die Frage nach der "korrekten"
Periodisierung des Konflikts als großes Problem. Denn, wie Gonzalo Sánchez
betont, hängt die Festlegung des "Beginns" der bewaffneten Auseinandersetzung
stark von den jeweiligen ideologischen Überzeugungen ab. In diesem Zusam-
menhang nennt er beispielsweise die Jahre 1948 (
bogotazo
), 1964 (FARC-
Gründung) und 1985 (Erstürmung des von der M-19 Guerilla besetzten Justizpa-
lastes durch Regierungstruppen) als mögliche Ausgangspunkte des gegenwärti-
gen Konflikts. Da eine Periodisierung bereits Werturteile in sich trage, sei der
abschließende Bericht für die unterschiedlichen Sichtweisen aller Akteure of-
fenzuhalten (Punkt 1.2.1). In diesem Sinne gehe es der CMH darum, eine "integ-
rative" Erinnerung zu konstruieren:
La Comisión de Memoria Histórica busca construir una memoria integradora, es decir, una
memoria que reconozca las diferencias y que precisamente se constituya en el lugar de la
enunciación y tramitación de estas luchas hacia el futuro; una memoria integradora de las vo-
ces no sólo de todos los actores armados sino también de todas las víctimas, como fundamen-
to de comprensión y transformación del conflicto, pero sobre todo, y en relación con las
víctimas, como una forma elemental de justicia retrospectiva y restaurativa […]42
42
Vgl. ebd.
422
422
Kapitel I
V
Zugleich weist Sánchez jedoch darauf hin, dass im Unterschied zur bisherigen
Tradition von "perdón y olvido" diesmal keine völlige Amnestie zu erwarten sei.
Denn die zunehmende Internationalisierung der Justiz habe es mit sich gebracht,
dass eine Neuauflage der "klassischen" Amnestiegesetze (siehe Kap. II, 4.2) auf
breitesten Widerstand im In- und Ausland stoßen würde. Die "neuen internatio-
nalen Gegebenheiten" zwängen Kolumbien stattdessen dazu, die Unverhandel-
barkeit bestimmter Verbrechen anzuerkennen. Demnach könne absolute Straf-
freiheit keinesfalls als Vorbedingung eines dauerhaften Friedens gelten, insbe-
sondere wenn es sich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handele (Punkt
1.1).
Das Problem an dieser Feststellung ist, dass einige der 32.000 demobilisierten
Paramilitärs zwar demnächst verurteilt werden könnten. Ob es sich jedoch bei
Gefängnisstrafen von zwischen vier und acht Jahren um eine gerechte Bestra-
fung handelt, ist in der Bevölkerung heftig umstritten. Von den halbherzigen
Schuldbekundungen hochrangiger Paramilitärs bis hin zu deren vielfacher Wei-
gerung, die Opfer und Hinterbliebenen angemessen zu entschädigen, steht der
gesamte Prozess daher seit langem im Kreuzfeuer der Kritik. So gibt die CNRR
in diesem Zusammenhang selbst zu, dass die Paramilitärs bisher nur einen klei-
nen Teil ihrer illegal erworbenen Reichtümer und Ländereien an die Opfer zu-
rückgegeben und sich teilweise bereits neu formiert haben. Der Anteil konfis-
zierten Vermögens an dem von
Acción Social
eingerichteten Entschädigungs-
fonds ist demzufolge äußerst gering. Dieser Zustand hat in der öffentlichen Mei-
nung den Eindruck verstärkt, dass die meisten "geständigen" Paramilitärs den
tatsächlichen Umfang ihres Vermögens verschwiegen haben.43
Neben diesen praktischen Problemen im Umgang mit den Paramilitärs, die
sich weiterhin der Kontrolle durch den Staatsapparat entziehen, der teilweise
von ihnen unterwandert ist, ergeben sich allerdings auch theoretische Probleme.
So betont Sánchez auf der einen Seite zwar ausdrücklich, dass es nicht darum
gehen könne, individuelle Schuld zu thematisieren, sondern vielmehr um eine
"Darstellung der strukturellen Bedingungen des Konflikts". Auf der anderen Sei-
te fordert er jedoch einen abschließenden historischen Bericht, in dem alle betei-
ligten Akteure ihre Sicht der Dinge darlegen, ohne dabei Zensur zu fürchten.
Aufgrund der extrem voneinander abweichenden Interpretationen der gewalttä-
tigen Vergangenheit dürfte es in methodischer Hinsicht jedoch enorm schwierig
43
Vgl.
CNRR.
2007.
Disidentes, rearmados y emergentes: ¿bandas criminales o tercera
generación de paramilitares?
In: http://www.cnrr.org.co/new/interior_otros/informe_1_DDR
_Cnrr.pdf (20. Februar 2008).
423
Demokratie und Erinnerung
423
werden, aus dem vorhandenen Datenmaterial eine "Meistererzählung" zu for-
men, wie sie Sánchez vorschwebt:
Lo que le da, en últimas, autoridad a un trabajo como el que se propone es el compromiso
ético, el rigor de las cifras y de los planteamientos, y la fuerza de las argumentaciones. Es esta
convergencia la que puede hacer de éste un espacio de trabajo relativamente invulnerable y
sostenible. La narrativa general como la que se aspira a producir puede tener un impacto
público y transformarse en una 'auténtica memoria social de la violencia' […]44
Um eine möglichst breite öffentliche Wirkung zu erreichen, rechnet die CMH
mit der Unterstützung all jener staatlicher Stellen, die für eine Verbreitung der
"neuen" Geschichtsversion in Frage kommen. In dem Dokument bleibt aller-
dings unerwähnt, ob die kolumbianische Konfliktgeschichte in der Folge ihren
Weg in Museen, Schulbücher oder öffentliche Räume finden wird. In Bezug auf
die Ziele und Hoffnungen der CMH erklärte mir María Victoria Uribe in einem
Interview, dass die Tradition von Vergessen und Straffreiheit unbedingt zu
überwinden sei. Die abschließende Metaerzählung der Kommission solle dazu
einen Beitrag leisten, indem sie zur Grundlage einer institutionellen Aufarbei-
tung im ganzen Land werde.45
Um der Bevölkerung nicht einfach eine von elitären Akademikern erarbeitete
"Wahrheit" zu präsentieren, sei es weiterhin unerlässlich, die verschiedenen so-
zialen Gruppen an der Konstruktion der "neuen nationalen Erzählung" zu betei-
ligen.46 Hierzu schlagen die Mitglieder der CMH drei Mechanismen vor (Punkt
1.3): Zunächst sollen auf regionaler Ebene kleine Forschergruppen gebildet
werden, um die Besonderheiten der dortigen Konfliktgeschichte herauszuarbei-
ten und die dortige Bevölkerung angemessen zu repräsentieren. Denn, wie María
Victoria Uribe in einem Interview mit der Zeitschrift
Semana
betont, sei der Ge-
gensatz zwischen Stadt und Land ein Wesensmerkmal des aktuellen Konflikts.
Während sich beispielsweise die Hauptstadtbevölkerung zunehmend gleichgül-
tig gegen den Opfern des Krieges zeige, herrsche bei den auf dem Land agieren-
den Guerilleros eine Ablehnung der städtischen Kultur und Lebensweise vor.47
Im Rahmen dieser Forschung ist weiterhin vorgesehen, regionale Universitäten,
akademische Einrichtungen, Frauenverbände, Opferverbände und NROs einzu-
44 Vgl.
CMH.
2007.
45
Interview mit María Victoria Uribe, Anthropologin am
Instituto Pensar
der
Universidad
Javeriana
(Bogotá) und Mitglied der CMH, am 9. August 2007.
46
Vgl.
CMH.
2007.
47
Vgl.
Semana
, Nr. 1336, 10. Dezember 2007, S. 106 f.
424
424
Kapitel I
V
binden. Ziel der Maßnahmen ist es, die Sicht auf den Konflikt zu "dezentralisie-
ren" und die Wahrnehmung für regionale Sonderentwicklungen und Dynamiken
zu schärfen.
Daneben soll – zweitens – ein externes Team einberufen werden, das der
CMH beratend zur Seite steht. Die Aufgabe dieser Gruppe wird es sein, die so-
zialen und politischen Veränderungen auf nationaler Ebene genau zu beobachten
und die daraus resultierenden Implikationen für die Arbeit der regionalen Grup-
pen zu formulieren. Drittens soll auch ein internationales Forscherteam die Ar-
beit der CMH begleiten, wobei nicht nur ausgewiesene Kenner des kolumbiani-
schen Binnenkonflikts, sondern auch Spezialisten der internationalen Konflikt-
landschaft sowie Mitglieder früherer Wahrheitskommissionen eingeladen wer-
den sollen.
Unter den zahlreichen Vorschlägen, die der
Plan Área de Memoria Histórica
enthält, finden sich auch einige, die direkt auf die Zeit der
Violencia
verweisen.
So heißt es zum Beispiel im Abschnitt über die zu wählende Methodologie
(Punkt 4), dass bei der Auswahl historischer Quellen besonders aufsehenerre-
gende Ereignisse mit großer erinnerungskultureller Bedeutung im Vordergrund
stehen sollen. Beispielhaft für solche Ereignisse, die jeweils ein Schlaglicht auf
die betreffenden Epochen werfen, seien zum Beispiel die Ermordung Gaitáns,
der Massenmord an den Mitgliedern der UP oder der Anschlag auf den Club
El
Nogal
in Bogotá (2003). Explizit steht die Erinnerungsarbeit im Fokus zweier
von insgesamt elf Arbeitsgruppen, und zwar der
Área de Historia y Memoria de
los actores armados ilegales en Colombia
sowie der
Área de Historia, Memoria
y promoción de las expresiones culturales del conflicto
.
Der ersten Gruppe (Punkt 5.1), die unter der Leitung von Gonzalo Sánchez
steht, geht es vorrangig um die Erarbeitung einer neuen kritischen Historiografie
des Konflikts, in deren Mittelpunkt die Ursprünge, die Entwicklung und die
Dauerhaftigkeit der Gewalt stehen sollen. Das Ergebnis dieser Forschungen soll
die Grundlage für die Konstruktion eines historischen Gedächtnisses über den
bewaffneten Konflikt bilden. Besonders intensiv seien dabei folgende Themen-
felder zu behandeln: 1. Beschaffenheit und Ideologie der bewaffneten illegalen
Gruppen, deren Selbstbild und deren soziopolitische Forderungen; 2. Verbin-
dungen zwischen den bewaffneten illegalen Gruppen und der Gesellschaft bzw.
der internationalen Gemeinschaft; 3. Verbindungen der bewaffneten Gruppen
mit dem organisierten Verbrechen, insbesondere Drogenhandel, "Entführungs-
industrie" und Schutzgelderpressung; 4. Territorialität, zeitliche Einordnung,
Dynamik und Entwicklung der bewaffneten illegalen Gruppen; 5. Soziopoliti-
425
Demokratie und Erinnerung
425
sche Bedingungen, unter denen in der Vergangenheit mit den bewaffneten ille-
galen Gruppen verhandelt wurde; 6. Verstöße der bewaffneten illegalen Grup-
pen gegen die Menschenrechte und das Völkerrecht.
Während der Aufgabenkatalog der Sánchez-Gruppe auf die bewaffneten ille-
galen Akteure zugeschnitten ist, deren Teilnahme an einem möglichen Friedens-
prozess vorbereitet werden soll, widmet sich die von María Victoria Uribe gelei-
tete Sektion stärker der Zivilgesellschaft und der Konstruktion einer zukünftigen
Erinnerungskultur. Demnach sei der bis spätestens 2009 zu veröffentlichende
Bericht ein kulturelles Produkt, in dem die unterschiedlichen Erzählungen von
der
Violencia
und den
violencias
zu einer "integrativen Erinnerung" (
memoria
integradora
) verschmelzen sollen. Dabei komme dem Bereich des Kulturellen
der gleiche Rang wie dem des Politischen oder des Sozialen zu. In diesem Sinne
soll die CMH als Plattform dienen, um die verschiedenen kulturellen Repräsen-
tationen der Gewalt aus der Mitte der Gesellschaft zu repräsentieren. Die Auf-
merksamkeit der Gruppe müsse daher folgenden Bereichen gelten: 1. Katalogi-
sierung und Bewertung der kulturellen Manifestationen in Zusammenhang mit
dem Konflikt und der allgegenwärtigen Gewalt unter Berücksichtigung audiovi-
sueller, filmischer, theatralischer, literarischer, künstlerischer und musikalischer
Formen; 2. Analyse der unterschiedlichen Lesarten des Konfliktes anhand der
soeben genannten Quellen, die zugleich die Grundlage einer neuen Erzählung
der kolumbianischen Geschichte darstellen, indem sie als Vermächtnis und zur
Konsolidierung demokratischer Werte dienen; 3. Möglicher Nutzen der kulturel-
len Ausdrucksformen als pädagogische und kommunikative Mittel sowie als
Faktoren der Veränderung. Dies sowohl im Hinblick auf die kollektiven Erzäh-
lungen der Vergangenheit wie auch als Elemente zukünftiger Versöhnung und
friedlichen Zusammenlebens; 4. Förderung gesellschaftlicher Initiativen, deren
Ziel die symbolische Wiedergutmachung, das Gedenken sowie die Konstruktion
von Erinnerungsorten sind, und die den Forderungen der Opfer entsprechen.
Da die von der CMH entwickelten Mechanismen und Vorschläge insgesamt
recht vage formuliert sind, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt unklar, wie und in
welchem Umfang die Epoche der
Violencia
in dem abschließenden Bericht Er-
wähnung finden wird. Der Forschungsschwerpunkt der
violentólogos
Sánchez
und Uribe lässt jedoch vermuten, dass der Analyse dieser Epoche eine herausra-
gende Bedeutung zukommen wird. Sowohl was die Darlegung der historischen
Gründe als auch die Vorschläge zur Erarbeitung einer sinnvollen Erinnerungs-
kultur betrifft, dürfte die CMH eine umfassende Neubewertung und Repräsenta-
tion der
Violencia
auf institutioneller Ebene anstreben. Zwar gab es bereits vor
426
426
Kapitel I
V
der CNRR bzw. der CMH mehrfach Kommissionen, die den Staat zu einer ver-
änderten Geschichtspolitik aufforderten. Im Unterschied zu diesen stets geschei-
terten Vorhaben wird die Arbeit der CNRR diesmal jedoch direkt vom Staat ge-
tragen.
Ob die Ergebnisse der einzelnen Forschergruppen tatsächlich zu der erwarte-
ten öffentlichen Diskussion beitragen werden, ist derzeit nicht absehbar. Zu
vermuten ist allerdings, dass ein allzu detaillierter Bericht mit den Interessen der
Regierung kollidieren könnte. So wäre die noch bis 2010 amtierende Regierung
von Álvaro Uribe in nicht geringem Maße selbst von möglichen Enthüllungen
über die Hintergründe des Paramilitarismus und des Drogenhandels betroffen.
Eine Anerkennung bestimmter Thesen und Forderungen der Guerilleros würde
dem aktuellen politischen Diskurs der Regierung ebenfalls diametral entgegen
laufen. Da die CNRR jedoch unbedingt auf die Zusammenarbeit mit staatlichen
Stellen angewiesen ist, hängt ihr Erfolg wesentlich von den politischen Rah-
menbedingungen ab. Weil der Staat momentan aber nicht in der Lage ist, eine
unabhängige Justiz aufzubauen, die institutionelle Unterwanderung durch Para-
militärs und
narcos
zu stoppen sowie seine Präsenz in den militärisch von der
Guerilla zurückeroberten Gebieten durch die Einrichtung ziviler Institutionen
abzusichern, darf auch die politische Wirkung des CMH-Berichts bezweifelt
werden.48
In diesem Sinne gleicht die Arbeit der CNRR momentan einer staatlichen
Rechtfertigungskampagne des Demobilisierungsprozesses der Paramilitärs. Dass
diese Gruppen, die ohnehin enge Verbindungen zu Militär und Regierung auf-
wiesen bzw. aufweisen, relativ leicht zu einem Verhandlungsfrieden mit einer
ihnen "freundlich" gesonnenen Regierung zu bewegen waren, ist meiner Mei-
nung nach kaum verwunderlich. Es bleibt hingegen abzuwarten, ob die eines
Tages von der CMH veröffentlichten Sichtweisen von Guerilla und zivilgesell-
schaftlichen Akteuren in ebensolchem Maße von der Regierung respektiert wer-
den. In den kommenden Jahren wird sich erweisen, ob das Gesetz
Justicia y Paz
tatsächlich der Grundstein des ersten "ernstgemeinten" Friedensprozesses in Ko-
48
Dies bestätigt auch eine repräsentative Umfrage der
Universidad Nacional
über das Ver-
trauen der Bürger in die staatlichen Institutionen. Demnach glauben immer mehr Kolumbia-
ner an eine massive und dauerhafte Schädigung sämtlicher staatlichen Einrichtungen. Sie se-
hen die politischen Parteien, den Kongress, die Polizei, die Armee und die Gerichtsbarkeit am
stärksten von Paramilitärs,
narcos
und Guerilleros unterwandert. Nichtsdestotrotz ist eine
Mehrheit in der Bevölkerung weiterhin der Meinung, dass sich das Land unter Präsident Uri-
be auf dem richtigen Weg befindet. Vgl.
Semana
, Nr. 1336, 10. Dezember 2007, S. 52 f.
427
Demokratie und Erinnerung
427
lumbien ist, wie dies María Victoria Uribe und andere Kommissionsmitglieder
annehmen.49
3.
Z
USAMMENFASSENDE
S
CHLUSSBETRACHTUNG
Bereits zu Beginn dieser Arbeit habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass es
prinzipiell unmöglich ist, die Erinnerungsleistung einer Gesellschaft in ihrer Ge-
samtheit darzustellen. Dennoch hege ich die Hoffnung, das von den politischen
Eliten geformte historische Gedächtnis in Bezug auf die
Violencia
annähernd
erfasst zu haben.
Für das Fallbeispiel der
Violencia
habe ich mich entschieden, weil ich mir als
europäischer Betrachter einer außereuropäischen Kultur nur schwer erklären
konnte, warum ein derart massiver Konflikt kaum Spuren im historischen Ge-
dächtnis einer Nation hinterlassen hat. Dabei spielte meine Sozialisation in
Deutschland eine erhebliche Rolle. Schließlich ist die in Deutschland nach 1945
implementierte Geschichtspolitik und die daraus hervorgegangene Geschichts-
kultur eine Erfahrung, die sich auf sämtliche Bereiche unseres Lebens erstreckt,
von der Familie über die Schule bis hin zur Universität. Man könnte sagen, es
handelt sich bei dem in Deutschland geführten Geschichtsdiskurs gewisserma-
ßen um das Gegenteil der kolumbianischen Variante. Denn während Kolum-
biens politische Eliten in ihren Reden vor allem auf die Epoche der Unabhän-
gigkeit zurückgreifen, die sie meist zu einer mythisch überhöhten Gründerzeit
stilisieren, findet die negativ belegte Episode der
Violencia
keinen Platz im his-
torischen Gedächtnis. Es ist gerade so, als ob der aktuelle Binnenkonflikt, der
vornehmlich an den Rändern eines traditionell schwachen Staates tobt, keine
geschichtlichen Wurzeln hätte. Somit handelt es sich um eine von der Mehrheit
der Bevölkerung als nicht abgeschlossen betrachtete Vergangenheit, deren zeit-
liche Einordnung schwer fällt. Bereits die diffuse Bezeichnung des Bürger-
kriegs, "La Violencia", deutet darauf hin, dass es den Eliten an erster Stelle dar-
um gegangen ist, eine als "schändlich" empfundene Epoche in Vergessenheit
geraten zu lassen.
Ganz anders in Deutschland. Nach dem Ende des Dritten Reiches wurde die
negativ bewertete Vergangenheit von offizieller Seite zur Legitimierung sowohl
49
Interview mit María Victoria Uribe, Anthropologin am
Instituto Pensar
der
Universidad
Javeriana
(Bogotá) und Mitglied der CMH, am 9. August 2007.
428
428
Kapitel I
V
der BRD als auch der DDR verwendet.50 Nach einer langen Zeit des Schweigens
in den 50er und 60er Jahren übernahm im Westen die "Generation der 68er" das
schwierige Erbe ihrer Väter, jedoch nicht, um eine Rechtfertigung zu suchen,
sondern um einer Wiederholung vorzubeugen. Es entwickelte sich der spezifisch
deutsche Erinnerungsdiskurs, dessen wichtigste Achsen heutzutage der Holo-
caust und die Abrechnung mit dem DDR-Regime bilden. Im Laufe der Jahre ist
dieser Diskurs allerdings völlig erstarrt, so dass offene Debatten über gewisse
Aspekte der totalitären Vergangenheiten heute nur noch bis zu einem bestimm-
ten Grad möglich sind. Im Rahmen der Geschichtspolitik hat sich der gesamt-
deutsche Erinnerungsdiskurs hingegen immer mehr zu einem politischen
Kampfmittel entwickelt, ohne das dessen Inhalte eine weitere Vertiefung erfah-
ren hätten. Ob ein derart unantastbarer und inhaltsleerer Diskurs jedoch erstre-
benswert ist, steht auf einem anderen Blatt.
Für Kolumbien gilt indes das genaue Gegenteil. Weit davon entfernt, sich
auch nur auf einen Minimalkonsens über die Deutung der problematischen Ver-
gangenheit zu einigen, hat die Mehrheit der politischen Eliten stets das "Verges-
senmachen" der
Violencia
angestrebt. In erster Linie geschah dies, weil sie
selbst die Hauptverantwortung für den Ausbruch des Bürgerkrieges trugen. Zum
anderen erwies sich in Kolumbien die personelle und politische Kontinuität als
erdrückend. Im Unterschied zu Deutschland, wo erst die vollkommene Zerstö-
rung des Landes, der sich anschließende Systemwechsel und das Heranwachsen
einer kritischeren Generation zu einer neuen Geschichtspolitik führten, etablier-
ten die politischen Eliten in Kolumbien nach dem diktatorialen Zwischenspiel
von Gómez und Rojas bald wieder die alte Zwei-Parteien-Herrschaft. Darüber
hinaus wurde eine gründliche Aufarbeitung der
Violencia
durch den Umstand
erschwert, dass sich nach der Niederwerfung der letzten
bandoleros
bereits der
nächste Konflikt anbahnte. Den komplexen Zusammenhang zwischen
Violencia
und
violencias
wollten die politischen Eliten jedoch auf keinen Fall thematisie-
ren.
In dieser Arbeit habe ich versucht zu erklären, wie und warum die
Violencia
aus dem historischen Gedächtnis gelöscht werden konnte. Ferner ging es mir
darum zu zeigen, ob die Eliten bei ihrem Vorhaben, das Vergessen gewisserma-
ßen staatlich zu verordnen, erfolgreich waren. Gab es möglicherweise gesell-
50
Zur Entwicklung von Erinnerungsdiskurs und Geschichtspolitik in Ost- und West-
deutschland siehe
Assmann/Frevert.
1999 u.
Wolfrum.
1999.
429
Demokratie und Erinnerung
429
schaftliche Gruppen, die sich diesem Vorhaben widersetzten und eine Art "Ge-
gen-Erinnerung" etablierten?
Auf der Grundlage kultur- und politikwissenschaftlicher Theorien habe ich
anhand der Presse der Jahre 1957 bis 1962 zunächst dargelegt, wie die politi-
schen Eliten unmittelbar nach dem Sturz des Diktators Gustavo Rojas Pinilla
ihre Sicht der Vergangenheit zu verbreiten gedachten. Nach einer gründlichen
Durchsicht der so genannten
gran prensa
kristallisierten sich drei Tendenzen
heraus. Während der überwiegende Teil in der hauptstädtischen Presse für das
kollektive Vergessen der
Violencia
plädierte, setzten sich einige Führungsper-
sönlichkeiten des
Frente Nacional
dezidiert für eine Neuinterpretation der Ver-
gangenheit ein. Aufgrund der starken Verbindungen zwischen politischer Macht
und
gran prensa
handelte es sich bei fast allen Kommentatoren und Journalisten
jener Zeit um Anhänger bzw. Mitglieder der Traditionsparteien. In vielen Fällen,
wie besonders das Beispiel des Präsidenten Alberto Lleras illustrierte, schrieben
die politischen Eliten selbst an
ihrer
Version der Vergangenheit. In quantitativer
Hinsicht waren diejenigen Stimmen am deutlichsten, die ein Vergessen der 40er
und 50er Jahre einforderten. Die diversen Neu-Interpretationen hingegen, die
ebenfalls von der Schuld der Eliten ablenken sollten und auf das "Volk", die
"Kommunisten" oder den Ex-Diktator Rojas Pinilla verwiesen, waren immer mit
einem gewissen Risiko behaftet. Schließlich hätte eine "zu intensive" Beschäfti-
gung mit der Vergangenheit alte Wunden aufreißen können. Aus diesem Grunde
galt es als Tabu, die dritte Phase der
Violencia
(ca. 1957–1963) in irgendeiner
Weise mit dem Wirken der Traditionsparteien in Verbindung zu bringen. Statt-
dessen war den Redakteuren der
gran prensa
die Linie der konsequenten "Ent-
politisierung" vorgegeben.
Trotzdem fanden auch im Zeitraum von 1957 bis 1962 einige Gegenstimmen
ihren Weg in die Presse. Da es sich im Untersuchungszeitraum um weniger als
20 dezidierte Kritiken am exkludierenden System des
Frente Nacional
und sei-
ner Geschichtspolitik handelte, dürfte ihre Wirkung auf die "öffentliche Mei-
nung" jedoch gering gewesen sein. Sie zeigen allerdings, dass sich hinter der
Fassade von "Frieden, Versöhnung und Vergessen" durchaus Konflikte abspiel-
ten. So waren nicht alle Angehörigen der politischen Eliten mit dem offiziellen
Diskurs einverstanden, da manchen von ihnen klar war, dass das Zudecken der
Konfliktursachen nur weitere Gewalt heraufbeschwören würde. In breitenwirk-
samer Weise trugen diese Ansicht zum ersten Mal Germán Guzmán Campos,
Eduardo Umaña Luna und Orlando Fals Borda vor, deren heute klassisches
Werk,
La Violencia en Colombia
, den politischen Diskurs ernsthaft in Frage
430
430
Kapitel I
V
stellte. Tatsächlich sollte die Weigerung führender Politiker, die sozioökonomi-
schen Gründe der
Violencia
aufzudecken und zu bekämpfen, gegen Mitte der
60er Jahre eine neue Phase der Gewalt einleiten. Diesmal jedoch unter "revolu-
tionärem" Vorzeichen.
Dass der politische Diskurs in Bezug auf die
Violencia
in weiten Teilen der
politischen Elite bis heute überdauert hat, habe ich anhand der diversen Gedenk-
veranstaltungen anlässlich des 9. April 1948 gezeigt. Da viele Kolumbianer die-
ses Datum für den Anfangspunkt der historischen wie auch der aktuellen Gewalt
halten, kommt dem 9. April eine besondere Bedeutung als Erinnerungsort zu.
Anhand einer Analyse der offiziellen Gedenkveranstaltungen im Abstand von
jeweils zehn Jahren zwischen 1958 und 2008 habe ich versucht, Wandel und
Kontinuität des politischen Diskurses darzustellen. Dabei hat sich erwiesen, dass
die
Violencia
von den Eliten zunehmend auf das Datum des 9. April reduziert
worden ist. Dessen hoher symbolischer Gehalt wurde vor allem von liberalen
Politikern ausgeschlachtet, um ihre jeweiligen politischen Projekte mit der Figur
des ermordeten
caudillo
Jorge Eliécer Gaitán zu legitimieren. Von konservativer
Seite wurde der 9. April hingegen zu einer Art "Opfermythos" erhoben, in des-
sen Zentrum die "heldenhafte" Verteidigung der konservativen Führung gegen
den liberalen bzw. gaitanistischen "Mob" stand.
Beide Versionen sparen jedoch ganz bewusst die sozioökonomischen Bedin-
gungen der
Violencia
sowie des 9. April aus und gehen ferner mit keinem Wort
auf die nationale Dimension des Kampfes zwischen Liberalen und Konservati-
ven ein. So passt es bis heute nicht ins Bild der politischen Eliten, dass sich
während der
Violencia
die Campesinos vor allem im Auftrag der Parteien ge-
genseitig abschlachteten. Hierfür ist in erster Linie der von den politischen Eli-
ten konstruierte "demokratische Mythos" verantwortlich, demzufolge der Staat
und die Parteien das Produkt einer "langen zivilen Tradition" seien, wohingegen
die "barbarischen" Landbewohner für die vergangenen und gegenwärtigen Ge-
waltexzesse verantwortlich gemacht werden. In diesem Sinne erscheint der 9.
April als Gedenktag bis heute völlig losgelöst von seinem historischen Kontext.
Die 18 Jahre des Bürgerkriegs konvergieren stattdessen in der Figur des ermor-
deten
caudillo
Gaitán und der sich anschließenden Zerstörung der Hauptstadt.
Um den "Diskurs des Vergessens" auch institutionell abzufedern, griff die
Regierung zu Beginn des
Frente Nacional
auf konkrete politische Maßnahmen
zurück. Von besonderer Bedeutung waren in dieser Phase die so genannten
Vio-
lencia
-Kommissionen und die Amnestiegesetze. Obwohl sie offiziell der "Be-
friedung" des Landes dienten, hatten diese Maßnahmen auch einen folgenrei-
431
Demokratie und Erinnerung
431
chen Nebeneffekt: sie begünstigten ein Klima der Straflosigkeit und führten
schließlich zur staatlich legitimierten Tilgung der historischen Schuld, insbeson-
dere der regionalen und lokalen Eliten. Auf dem Höhepunkt dieser Phase kam es
zu gezielten Aktenvernichtungen und Freisprüchen berüchtigter Gewalttäter.
Der Kampf gegen die als "kommunistisch" eingestuften Guerilleros nahm hin-
gegen an Schärfe zu.
Nachdem es den politischen Eliten in der Anfangsphase des
Frente Nacional
gelungen war, ihre Darstellung bzw. ihre "Nicht-Darstellung" der
Violencia
im
staatlichen Bereich durchzusetzen, begann die institutionalisierte Verbreitung
der neuen historischen "Wahrheit". In diesem Feld der Geschichtspolitik spielten
vor allem die Schulen, die Universitäten und die Museen eine tragende Rolle.
Zwar ist das kolumbianische Bildungswesen bis heute dezentralisiert und viel-
fach in privater Hand. Dennoch ist es den Eliten über Organisationen wie der
konservativen
Academia Colombiana de la Historia
oder dem Erziehungs- bzw.
Kulturministerium lange Zeit gelungen, die
Violencia
aus den Schulbüchern zu
verbannen. Dagegen stellten linksgerichtete Akademiker an den Universitäten
die offizielle Geschichtspolitik bereits seit Mitte der 60er Jahre in Frage. Es soll-
te jedoch noch über 30 Jahre dauern, bis sich die Ergebnisse der so genannten
Nueva Historia
auch in den Schulbüchern wiederfanden. In Zeiten, in denen der
Stellenwert des Fachs Geschichte an kolumbianischen Schulen einen neuen
Tiefpunkt erreicht hat und nurmehr im Verbund mit Geografie und Sozialkunde
unterrichtet wird, dürfte diese grundsätzlich positive Entwicklung jedoch gerin-
gere Auswirkungen auf das historische Gedächtnis haben als in früheren Jahr-
zehnten. Im Vergleich zum Bereich der staatlichen Museen, in dem die
Violen-
cia
bis heute überhaupt keine Rolle spielt, ist dies dennoch ein Fortschritt.
Neben der Darstellung der offiziellen Geschichtspolitik war es auch mein An-
liegen, den gesellschaftlichen Gegenstimmen Gehör zu verleihen. So hob ich
bereits in der Einleitung hervor, dass ich all jenen Thesen, die für Kolumbien
eine "endemische Gewaltkultur" diagnostizieren, äußerst skeptisch gegenüber-
stehe. Zwar ist es richtig, dass seit 1946 ohne Unterlass bewaffnete Konflikte
das Land erschüttert haben. Dennoch ist meiner Meinung nach sehr genau zwi-
schen den einzelnen Gewaltwellen, ihrer Intensität und ihren Hintergründen zu
unterscheiden. Ich habe es allerdings nicht als meine Aufgabe betrachtet, einen
Beitrag zur Entwirrung der komplizierten Gewaltgeschichte Kolumbiens zu leis-
ten. Denn dies ist das genuine Forschungsgebiet der so genannten
violentología
.
Stattdessen habe ich den staatlichen und gesellschaftlichen Umgang mit der
problematischen Vergangenheit am Beispiel der
Violencia
aufgezeigt. Auf die
432
432
Kapitel I
V
Frage, ob der Bürgerkrieg der 40er und 50er Jahre im Sinne der Kontinuitätsthe-
se tatsächlich Kolumbiens "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts darstellt, konnte
und wollte ich keine Antwort geben. Obwohl mir manche Vertreter der Konti-
nuitätsthese zu weit gehen, indem sie die Ursprünge der aktuellen Gewalt bis ins
19. Jahrhundert verlagern, stehe ich der neuen revisionistischen Geschichts-
schreibung, die auf die angeblich "langen Phasen des Friedens" verweist, ebenso
skeptisch gegenüber.
Eine Zusammenführung dieser antagonistischen Ansätze bringt es mit sich,
auch auf die "zivilen Räume" in der Geschichte Kolumbiens zu verweisen. Die
Existenz dieser Räume ist zugleich ein Hinweis auf die Unhaltbarkeit der meis-
ten kulturalistischen oder systemtheoretischen Modelle, die Kolumbien zu ei-
nem Land "ewiger Gewalt" degradieren. Dem halte ich entgegen, dass es zu je-
der Zeit gesellschaftliche Gruppen gegeben hat, die in kritischer Weise die histo-
rischen Gründe der Gewalt reflektierten. Zwar ist die Zivilgesellschaft – wie
auch immer sie definiert sein mag – weiterhin schwach und von den illegalen
bewaffneten Akteuren bedroht. Trotzdem konnten Schriftsteller, Journalisten,
Akademiker, Theaterregisseure, Filmemacher, Künstler und andere kritische
Geister einen Beitrag zur Dekonstruktion der offiziellen Geschichtsdarstellung
leisten; und dies unter teilweise lebensgefährlichen Bedingungen. Die häufig
angeführte Bemerkung, dass sich der Begriff der "Gewaltkultur" rechtfertigen
würde, weil die Gewalt das Hauptthema der kolumbianischen Medien und der
"Kultur" im Allgemeinen sei, halte ich für falsch. Wie meine Betrachtung der
soeben angeführten Bereiche ergeben hat, kommt es wesentlich darauf an, in
welcher Weise das Thema aufbereitet wird. In diesem Sinne unterscheiden sich
beispielsweise die Bilder der Malerin Débora Arango ganz erheblich von den
täglichen Abendnachrichten im Privatfernsehen.
Während die Beiträge der Fernsehsender häufig vor Blut triefen und das
Schicksal der betroffenen Bevölkerung in plakativer und unwürdiger Weise aus-
beuten, zeichnen nicht wenige Bücher, Filme oder Gemälde ein differenziertes
Bild von der politischen Gewalt. Sie gehen auf die historischen Hintergründe
ein. In ihnen erscheinen neben den illegalen bewaffneten Gruppen auch die poli-
tischen Eliten als Hauptverantwortliche des Konflikts, wie das Beispiel der
Vio-
lencia
besonders verdeutlicht hat.
So ist es mir am Beispiel der Schriftsteller Eduardo Caballero Calderón, Ma-
nuel Mejía Vallejo und Gustavo Álvarez Gardeazábal darum gegangen, auf die
nicht immer negative Rolle des weithin geschmähten
Violencia
-Romans zu ver-
weisen. Zu dieser Gattung, die oft zu Unrecht als "schlechte Literatur" bezeich-
433
Demokratie und Erinnerung
433
net worden ist, gehören auch einige der großen Werke der kolumbianischen Ge-
genwartsliteratur. Auf der Grundlage von Astrid Erlls Konzept der "Gedächtnis-
romane" habe ich in der Folge analysiert, inwieweit sich die am häufigsten gele-
senen
Violencia
-Romane als Medien des kollektiven Gedächtnisses eignen.
Interessanterweise ließen sich die auflagenstärksten Vertreter der Gattung dabei
keineswegs der Kategorie "minderwertige Lektüre" bzw. "Schund" zuordnen.
Im Gegenteil, handelte es sich bei den Romanen
El Cristo de espaldas
,
El día
señalado
und
Cóndores no entierran todos los días
durchweg um inhaltlich und
stilistisch anspruchsvolle Texte, die unter anderem über den Einsatz als Schul-
lektüre eine breite Leserschaft erreicht haben.
Gleiches gilt für die in Kolumbien außerordentlich populäre Gattung der so
genannten Testimonial-Literatur. Deren Vertreter, wie etwa Alfredo Molano und
Arturo Alape, haben ebenfalls einen wichtigen Beitrag gegen das Vergessen ge-
leistet, indem sie in zahlreichen Werken Zeitzeugeninterviews aus der Zeit der
Violencia
literarisch verarbeitet haben. Dass die Organisation und Interpretation
dieser Interviews keineswegs so neutral ablief, wie die Verfasser dieser Werke
oftmals behaupteten, habe ich ebenso ausgeführt, wie ich auf deren herrschafts-
kritische und erinnerungskulturelle Funktion eingegangen bin. Zwar ist die Wir-
kungsmächtigkeit von Romanen und testimonialen Texten nur schwer zu ermit-
teln. Umfragen, Literaturkritiken und die Wiederverwendung bestimmter Topoi
in anderen Medien weisen jedoch darauf hin, dass deren Einfluss zumindest in
"gebildeten" Kreisen beträchtlich ist.
Ebensolches ist in Bezug auf die erinnerungskulturelle Funktion des Theaters
festzustellen, dem gerade in Kolumbien ein besonderer Stellenwert zukommt.
Im "Theater-Land" Südamerikas hat sich ausgerechnet ein Stück über die
Vio-
lencia
als populärstes Werk erwiesen. Neben einer formalen und inhaltlichen
Analyse des Klassikers
Guadalupe años sin cuenta
, habe ich mich auch mit dem
etwas weniger bekannten Stück
Los papeles del infierno
beschäftigt. In beiden
wird der unter dem
Frente Nacional
verbreitete Diskurs von "Frieden, Gerech-
tigkeit und Versöhnung" gründlich demontiert. Stattdessen stehen die paradox
anmutende Gleichzeitigkeit von fortschrittsbetontem, die Demokratie bejahen-
dem Diskurs und einer von staatlicher Gewalt und Exklusion geprägten Realität
auf dem Programm. In beiden Stücken stellen die Regisseure die "revolutionäre"
Sichtweise des "Volkes" der offiziellen Geschichtsklitterung durch die Eliten
gegenüber. Dass das "Populäre", wie es etwa in Form volkstümlicher Musikstü-
cke zum Ausdruck kommt, dabei ebenso diffus bleibt wie die angeprangerte Ge-
schichtspolitik, ist symptomatisch für einen Großteil der Kulturproduktion der
434
434
Kapitel I
V
60er und 70er Jahre. So setzten die Macher dem als dogmatisch und falsch emp-
fundenen Geschichtsdiskurs der Eliten nicht selten den ebenso dogmatischen
Geschichtsdiskurs des Marxismus entgegen.
Deutlich schwächer als im Theater zeigt sich die Anlehnung an marxistische
Theorien im Kino. Zwar sind nicht wenige Filme über die
Violencia
ebenfalls
"revolutionären" Charakters. Im Unterschied zur Literatur und zum Theater sind
diese Produktionen jedoch von recht bescheidener Qualität und den meisten Ki-
nobesuchern kaum bekannt. Lediglich drei Streifen, die die Epoche der
Violen-
cia
zum Thema haben, haben die Zeit überdauert und gelten heute als Klassiker
des kolumbianischen Films. Sowohl in inhaltlicher als auch in formaler Hinsicht
sind sie allerdings deutlich unergiebiger als die konkurrierenden Medien. Was
den Film zusätzlich als Medium des kollektiven Gedächtnisses einschränkt, ist
seine fehlende zeitliche Konstanz sowie die geringe Breitenwirkung, die aus der
schwach entwickelten kolumbianischen Filmindustrie resultiert. Lediglich über
kleine Filmklubs und über das Fernsehen sind die von mir analysierten Filme
El
río de las tumbas
,
Cóndores no entierran todos los días
und
Confesión a Laura
einem größeren Publikum bekannt geworden. Dabei ist es jedoch gleichermaßen
schwierig, die erinnerungskulturelle Funktion dieser Filme anhand ihrer mögli-
chen Breitenwirkung einzuschätzen. Im Vordergrund meiner Betrachtung stand
deshalb der Umgang der Regisseure mit dem historischen Material.
In Bezug auf die Rezeptionsebene noch schwieriger zu messen war im Fol-
genden der Bereich der bildenden Künste. Aufgrund ihres enormen Bekannt-
heitsgrades boten sich die Maler Débora Arango, Alejandro Obregón und Fer-
nando Botero als beispielhafte Exponenten einer künstlerischen Aufbereitung
der
Violencia
an. Zwar ist der historische Bürgerkrieg auch das Thema zahlloser
anderer Künstler, ein Blick in nationale und internationale Museen legt jedoch
die Konzentration auf die Werke der erwähnten Persönlichkeiten nahe. Zur for-
malen und inhaltlichen Analyse der Bilder habe ich mich der Methode der "poli-
tischen Ikonografie" bedient. Dies geschah in erster Linie, weil mich weniger
die ästhetischen und technischen Merkmale, sondern vielmehr der politische und
historische Gehalt der Gemälde interessierte. Wie sich zeigte, zählen Kunstwer-
ke wie
Masacre del 9 de abril
von Débora Arango,
La Violencia
von Alejandro
Obregón oder
La guerrilla de Eliseo Velásquez
von Fernando Botero noch heute
zu den wirkungsmächtigsten Repräsentationen der
Violencia
. Sie sind vielen
Kolumbianer ein "Begriff", da sie eine kritische Sichtweise auf den ansonsten
"namenlosen" Bürgerkrieg der 40er, 50er und 60er Jahre ermöglichen.
435
Demokratie und Erinnerung
435
In gewissem Sinne weist die Analyse der Literatur, der Theaterstücke, der
Filme und der Kunstwerke auch darauf hin, wie sehr die akademische Ge-
schichtsschreibung bis in die Gegenwart bei dem Unterfangen versagt hat, die
Epoche der
Violencia
zum Gegenstand einer öffentlichen Diskussion zu machen.
Denn obwohl seit Jahrzehnten permanent kritische und qualitativ hochwertige
Studien erscheinen, in denen die negative Rolle der Eliten ohne Scheu themati-
siert und auch die sozioökomischen Hintergründe der
Violencia
beleuchtet wer-
den, ist es bis heute nicht zu öffentlichen Diskussionen, geschweige denn zu ei-
ner sachlichen Debatte über den Zusammenhang von
Violencia
und
violencias
gekommen. Im Gegensatz dazu vermochten einige besonders provokative Bü-
cher, Theaterstücke, Filme und Kunstwerke das Thema der
Violencia
zumindest
für kurze Zeit auf die öffentliche Agenda zu setzen. Meistens reagierten die poli-
tischen Eliten darauf in ablehnender Weise, manchmal sogar mit offenen Dro-
hungen und dem Ruf nach Zensur.
Obwohl in keiner Weise der Sphäre der Zivilgesellschaft zuzuordnen, habe
ich weiterhin die
Violencia
-Interpretation der linksgerichteten FARC-Guerilla in
meine Analyse aufgenommen. Deren Version der Vergangenheit ist zwar stark
ideologisch gefärbt und in Bezug auf die Zeit der
Violencia
in der Art eines
Gründungsmythos gestaltet. Da diesem Mythos im Hinblick auf die derzeitigen
Verhandlungsbemühungen zwischen Regierung und bewaffneten illegalen
Gruppen jedoch große Bedeutung zukommt, habe ich mich entschieden, dessen
zentrale Bestandteile kurz darzulegen. Dabei hat sich gezeigt, dass der von den
Kommandanten der FARC über Jahrzehnte gepflegte "Marquetalia-Mythos"
mittlerweile stark an Überzeugungskraft verloren hat. Denn als verbindendes
Element zwischen der FARC-Führung und der überwältigenden Mehrheit jun-
ger, oft minderjähriger Kämpfer, taugt die dualistische Geschichte von der "legi-
timen Verteidigung gegen reaktionäre Kräfte und den Imperialismus" heute nur
noch bedingt. Außerhalb der FARC hat der Mythos nie eine große Rolle ge-
spielt.
Schließlich war es mein Anliegen darzulegen, warum die Erinnerung an die
Violencia
von der gesellschaftlichen auf die institutionelle Ebene übertragen
werden muss und welche Vorteile sich daraus für den Prozess der demokrati-
schen Transformation in Kolumbien ergeben könnten. Als praktisches Beispiel
diente mir hierbei die Arbeit der vom Staat eingesetzten
Comisión Nacional de
Reparación y Reconciliación
, die seit Oktober 2005 an einer Aufarbeitung und
Institutionalisierung der bis dato "verbotenen Erinnerung" arbeitet. Es ging mir
in diesem letzten Kapitel darum, die Probleme und Möglichkeiten der aktuellen
436
436
Kapitel I
V
Beschäftigung mit der Vergangenheit aufzuzeigen sowie die negativen und posi-
tiven Funktionen eines zukünftigen Erinnerungsdiskurses zu diskutieren. Im Er-
gebnis habe ich festgehalten, dass der aktuelle Prozess der Demobilisierung der
Paramilitärs und der Sondierungsgespräche mit den beiden Guerillas von großen
Schwierigkeiten gekennzeichnet ist. Um mit der notwendigen Aufarbeitung der
Vergangenheit zu beginnen, wäre ein Verhandlungsfrieden mit den bewaffneten
Gruppen bzw. die aufrichtige Demobilisierung der Paramilitärs jedoch die
Grundlage. Davon ist Kolumbien momentan allerdings noch weit entfernt.
Auch der Versuch der CNRR, das während des
Frente Nacional
entstandene
historische Gedächtnis durch ein neues, "integratives Gedächtnis" zu ersetzen,
ist mit großen Schwierigkeiten verbunden. Sowohl in theoretischer wie auch in
praktischer Hinsicht ist bisher unklar, wie die Kommissionsmitglieder mit der
bisherigen Tradition von "perdón y olvido" brechen wollen. Ebenfalls ungeklärt
ist die Frage, ob sich die politischen Eliten im Anschluss tatsächlich bereit erklä-
ren, den Bericht der Kommission – gewissermaßen als kolumbianische Variante
der
Nunca Más
-Initiativen anderer Länder – auch in vollem Maße zu unterstüt-
zen und für seine Verbreitung zu sorgen. Denn nur wenn die
Violencia
und die
sich anschließenden
violencias
in Schulbüchern, Museen und Straßennamen, auf
öffentlichen Plätzen, Denkmälern und Gedenkveranstaltungen repräsentiert
werden, wären die Bedingungen für ein Fortschreiten des Demokratisierungs-
prozesses gegeben.
Dieser Transformationsprozess ist bereits im Jahre 1957 begonnen worden.
Aufgrund schwerer Versäumnisse im politischen, ökonomischen und kulturellen
Bereich gelangte er jedoch niemals zum Abschluss. Wie ich an mehreren Bei-
spielen gezeigt habe, wäre es daher immens wichtig, die Geschichtsversionen
alternativer Akteure bei der Konstruktion eines neuen Erinnerungsdiskurses
bzw. bei der Formulierung einer neuen Geschichtspolitik zu berücksichtigen.
Selbst die kontrovers diskutierten Forderungen der FARC-Guerilla, die von ei-
nem Großteil der Bevölkerung abgelehnt werden, müssten in diesen Prozess ein-
fließen, um dauerhaft politische Stabilität zu erreichen. Denn allen Akteuren,
den zivilen wie den bewaffneten, ist die institutionalisierte Darstellung
ihrer
Vergangenheit enorm wichtig. In diesem Sinne ist die
Violencia
tatsächlich nie
zu Ende gegangen.
Den Kriterien Tzvetan Todorovs folgend, der im Hinblick auf die Formulie-
rung einer vernünftigen Geschichtspolitik nach roher, unreflektierter Erinnerung
(
mémoire littérale
) und vorbildhafter, paradigmatischer Erinnerung (
mémoire
exemplaire
) unterscheidet, möchte ich abschließend festhalten, dass die kolum-
437
Demokratie und Erinnerung
437
bianische Geschichte zwar keine "Geschichte der Gewalt" ist. Jedoch ist es sinn-
los, beständig über die "lange demokratische Tradition" oder die "außergewöhn-
liche politische Stabilität" zu sinnieren, solange in keinem anderen Land der
Welt mehr Gewerkschafter ermordet werden, Andersdenkende verfolgt und die
Polarisierung der Gesellschaft bedrohliche Ausmaße angenommen hat. Ein sol-
ches Land benötigt einen fundamental neuen Geschichtsdiskurs, eine "neue na-
tionale Erzählung", die nichts beschönigt, nichts verschweigt, aber dennoch in
die Zukunft weist. Nur die offizielle Anerkennung der Ursachen der Gewaltwel-
le, die gegen Mitte der 40er Jahre ihren Ausgang nahm und seit den 60er Jahren
in Form des bewaffneten Widerstandes "weiterlebt", eröffnet den am Konflikt
beteiligten Akteuren neue Handlungsspielräume. Sie verweist zudem auf das
Ideal einer Gesellschaft, in der Racheakte und politische Gewalt eines Tages
möglicherweise keine Rolle mehr spielen. Die institutionelle Verbreitung einer
elitenkritischen Geschichte über die
Violencia
und ihre Ursprünge wäre dem-
nach eine vorbildhafte Erinnerung, der ein paradigmatischer Wert zukommt.
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