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: Organismus und Technik

Organismus und Technik

Inhalt

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Einleitung: Das produktiv-problematische Wechselverhältnis von Organismus und Technik

von Kevin Liggieri und Marco TamboriniDer Mensch wird seit der Antike nicht nur als Organismus, sondern immer auch als Maschine beschrieben.1 Dieses konfliktreiche Deutungsmuster zwischen Leben und Technik radikalisiert sich seit dem 18. Jahrhundert mit dem Aufkommen einer umfassenden Verwissenschaftlichung, Quantifizierung und Technisierung des Men-schen. Im Streit zwischen Materialismus und Idealismus wird der Mensch auf der einen Seite als quantifizierbare und damit determinierte Marionette und auf der an-deren Seite als autonomer Puppenspieler aufgefasst.2 So beschreibt der französische Arzt Julien Offray de La Mettrie, angeregt durch René Descartes Bezeichnung der Tiere als Automaten,3 den Menschen als „vortrefflich eingerichtete Maschine.“4 Die Maschine geriet zum wichtigsten Interpretationsmuster, um den menschlichen und tierischen Organismus zu verstehen, zu erforschen und nachzubilden. Hierfür dien-ten im 17. und 18. Jahrhundert zeitgenössische Techniken wie Uhrwerke und die Hy-draulik zur Erklärung des Körpers. Descartes beispielsweise beschrieb das Herz als eine hydraulische Pumpe, die Blutgefäße oder Nervenstränge als ein Röhrensystem, und das Funktionieren des Körpers in Analogie zu einer Uhr.5 Demgegenüber stan-den die berühmten Automaten des französischen Konstrukteurs Jacques de Vaucan-son (der „Flötenspieler“6) sowie der Schweizer Uhrmacherfamilie Jaquet-Droz (der „Schreiber“, der „Zeichner“ und der „Klavierspieler“), bei denen das Vorbild (bes. für den „Flötenspieler“) der menschliche Körper und seine Bewegungen waren.7 Nicht nur der Mensch wurde also technisch zu analysieren versucht, sondern auch der Au-tomat, die Maschine, gründete sich auf die Nachahmung des Menschlichen in Ausse-hen und Ausdruck. Obwohl Technik noch weit davon entfernt war, organische Funk-tionsweisen oder gar die kognitiven Leistungen des Menschen nachzuahmen, zeigt sich bereits in der Zeit der europäischen Aufklärung eine bestimmte epistemische Verschiebung in der Organismus- und Technikvorstellung: Die physiologische oder biologische Forschung und vor allem die Literatur positionierten sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zu Mensch-Maschinen-Hybriden und künstlichen Menschen. Es ist eine paradoxe Positionierung, die den Menschen auf der einen Seite mit seinem Geist und seiner „Seele“ in Opposition zum Künstlich-Technischen stellte, ihn auf der anderen Seite jedoch auf Ebene des Körpers künstlich und damit reproduzierbar werden ließ. Das Humane liefert die Kontrastfolie, an der sich das Technisch-Künst-liche abarbeiten und statuieren kann. Wie theoretisch anregend Konzeptionen von „Organismus“ und „Technik“ ihren Tanz um 1800 begannen, zeigt sich eindrucksvoll in Heinrich von Kleists Erzählung „Marionettentheater“, bei der auf ironische Weise mit dem Problemverhältnis von Freiheit, Selbstbewusstsein, Konstruktion und De-terminismus gespielt wird.

In dieses immer komplexer werdende Problemverhältnis zwischen lebendigem Organismus und technischem System versuchten unterschiedliche Theoretiker*in-nen Licht zu bringen. In einer für die Philosophiegeschichte prägenden Unterschei-dung stellte beispielsweise der Aufklärer Immanuel Kant heraus, dass der Organis-mus nur scheinbar durch mechanistische Prinzipien erklärbar sei („als ob“).8 Mit dem Gebrauch des „Als ob“ betonte Kant so einerseits die Möglichkeit, fundierte Kenntnis über organische Vorgänge zu erlangen, andererseits thematisierte er den klaren ontologischen Unterschied zwischen Mechanismus und Organismus, Tech-nik und Leben. Damit lieferte Kant einen ersten Impuls zur bis heute anhaltenden Debatte zwischen einer Analogisierung von Mechanismus und Organismus zur Wissensgenerierung auf der einen Seite und der radikalen hierarchischen Trennung des Lebendigen vom Technischen auf der anderen Seite. Einen weiteren wichtigen ontologischen als auch anthropologischen Denkanstoß zum Verhältnis von Natur und Technik wurde von Ernst Kapp gegeben, der die Bereiche des Technischen und des Organischen dialektisch verband. Durch den Prozess der „Organprojektion“ versucht Kapp, die vermeintlich klar getrennten Gebiete des Technischen und des Organischen auf einer höheren Stufe wieder zusammenzuführen. In diesem Sinne ist „der leibliche Organismus das allgemeine Ur- und Musterbild aller besonderen Formen der Maschinentechnik.“9 Basierend auf dieser Projektion werden die Gren-zen zwischen Maschinen und Menschen durchlässiger. Zum einen hat der Mensch mit dem technischen Fortschritt immer komplexere Maschinen bauen können. Als guter Hegelianer argumentierte Kapp dabei, dass „jede Fortsetzung stets auf den Anfang zurück[weist]. Das kinematische Getriebe ist der reale Fortsatz der leibhaf-tigen organischen Kinese.“10 Damit verband sich das Gebiet des Organischen mit dem des Mechanischen. Zum anderen erkennt sich der Mensch in der kontinuier-lichen Produktion und dem Fortschritt, der mit der industriellen Produktion am Ende des 19. Jahrhunderts einhergeht, immer wieder neu. Das heißt, der Mensch kennt und erkennt sich selbst durch sein vermeintliches Gegenüber, die Technik. Kapps Erkenntnislehre zielt darauf ab, den Menschen selbst durch die Rückkop-pelung von Formen und Strukturen zwischen der organischen und technischen Ebene zu verstehen. Die Wissensgenerierung durch die Maschine hat damit eine neue einflussreiche Stufe erreicht. Nicht mehr nur der Blick auf die äußere Welt ist technisch vermittelt, auch der Blick auf das Organisch-Innere des Menschen ist technisch. Damit ist Ende des 19. Jahrhunderts der menschliche Organismus selbst zum technischen System geworden. Mensch und Maschine verschmelzen nicht nur ästhetisch und theoretisch („als ob“), sondern immer mehr auch praktisch. Der menschliche Organismus deutet sich durch die Maschine als Maschine.11 Dieses geschieht in historisch sich wandelnden Bedeutungszusammenhängen. So ist der „Organismus“ um 1800 Uhrwerk, um 1900 Dampfmaschine, Mitte des 20. Jahrhun-derts Computer, und gegenwärtig Informationssystem, Cyborg oder Posthuman.

In diesen unterschiedlichen (Be-)Deutungszusammenhängen versuchten Theo-rien den Menschen als „Organismus“ in Differenz oder aber in Analogie zur Tech-nik zu bestimmen. Gleichzeitig wird die Technik immer lebendiger und „organi-scher“. So kommt das „Organ“ etymologisch von altgriechisch ὄργανον (órganon), und bedeutet „Werkzeug“. Der Organismus ist daher im wahrsten Sinne des Wortes mit einem technischen Funktionalismus verbunden.12 In dieser Verbindung liegt bis heute die Produktivität sowie Problematik von Organismus-Technik-Beziehungen.

Darüber hinaus wurde die Komplexität der Beziehung zwischen Technik und Or-ganismus vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch das Problem der organischen Form bereichert. Viele Philosoph*innen, Ingenieur*innen, Biolog*in-nen oder Künstler*innen befassten sich mit der Frage nach den Prinzipien, die für die Entwicklung der organischen Form verantwortlich waren. Ausgehend von einer mehr oder weniger wörtlichen Lesart von Charles Darwins Evolutionstheo-rie – und seiner Analogie zwischen natürlicher und künstlicher Selektion – wurde untersucht, wie organische Formen auf mechanische, technische und ingenieurwis-senschaftliche Prinzipien zurückgeführt werden könnten. Mit anderen Worten, wie das klassische Thema des vermeintlichen Gegensatzes bzw. der Identität zwischen Organismus und Maschine verwendet werden könnte,13 um sowohl organische Phänomene (Entwicklung und Wachstum von biologischen Formen) als auch tech-nische Phänomene (Entwicklung von Apparaten) zu erklären. Auf diese Frage gab es viele unterschiedliche Antworten, von denen drei kurz hervorgehoben werden sollen. Erstens wurde die organische Form – und damit der Organismus – voll-ständig mit einer Maschine identifiziert.14 So stellte sich der deutsch-amerikanische Biologe Jacques Loeb in seinem vielgelesenen Buch The Mechanistic Conception of Life (1912) Organismen als Maschinen vor. Loeb vertrat dabei ein technisches und reduktionistisches Forschungsprogramm, bei dem sich Erkenntnis mit Kontrolle verband. Die Biologie sollte durch die Aufdeckung der physikalischen und chemi-schen Gesetze, die die Funktionsweise von Organismen bestimmen, in der Lage sein, die Formentwicklung zu kontrollieren. Zweitens wurde die Analogisierung von Organismus und Maschine verneint, da man im Organismus ein vitalistisches Prinzip vermutete. So sah der Biologe Hans Driesch beispielsweise im Organismus des Embryos einen anti-mechanistischen, teleologischen Prozess wirken ( Entele- chie ). Ein dritter Weg zwischen reduktionistischem Mechanismus und reinem Vita-lismus war der Fokus auf die „organische Form“. Nach dem schottischen Biologen D’Arcy Wentworth Thompson, der wiederum Kant folgte, war die Mechanik ein methodischer Standpunkt, ratio cognoscendi , von dem aus lebende Organismen analysiert werden konnten. Thompson verteidigte die Analogie von Organismen und Mechanismen, da er sie mehr als epistemologische denn als eine ontologische Identifikation betrachtete. Durch diese Analogie bot sich nämlich Thompson zu-folge die Möglichkeit, die materielle Struktur der Organismen, ihre Form und ihre Aktivitäten genauer zu studieren.15

Diese Debatte brachte naturwissenschaftliche Argumente in die philosophische Diskussion über die mögliche Autonomie, Reduzierbarkeit oder Überlegenheit von Maschinen gegenüber Organismen ein. Damit wurde das Problemverhältnis zwi-schen Technik und Organismus nicht nur in philosophischen Abhandlungen, son-dern auch (und gerade) in naturwissenschaftlichen Publikationen diskutiert. Diese theoretisch-technische Ebene wird mit dem Aufkommen der Kybernetik als der Wissenschaft von der Steuerung und Regelung von Organismen und Maschinen auf eine neue Stufe gehoben. Ab der Mitte des 20. Jahrhundert provozierten und in-spirierten kybernetische „Elektronengehirne“ Forscher*innen und Geisteswissen-schaftler*innen in ihren Hoffnungen und Ängsten.16 Denn in der Analogisierung von Organismus und Maschine umfasste die neue Regelungs- und Steuerungswis-senschaft „Kybernetik“ „das ganze Gebiet der Regelung und Nachrichtentheorie, ob in der Maschinen oder im Tier.“17 In diesem Sinne hatten kybernetische Ak-teur*innen eine universelle Verhaltenstheorie vor Augen, in der Mensch, Tier und Maschine sich in ihren Steuerungs- und Rückkopplungseffekten nicht unterschie-den. „Dort, wo der Regelvorgang eingesetzt hat“, so der biokybernetische Physio-loge Richard Wagner, 1954, „war das erste Leben.“18 Die Kybernetiker*innen waren also daran interessiert, die Nachrichten- und Regelungstechnik auf den lebendigen Organismus anzuwenden, um ihn damit quantifizierbar und analysierbar zu ma-chen.19 In der Verbindung von Organismus und Technik liegt somit immer auch ein Erkenntnis- und Optimierungsziel.

Das kurz dargestellte historische Wechselverhältnis von Organismus und Tech-nik verweist auf die bereits brüchige Differenz von „Mensch“ und „Maschine“, die seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert durch (Bio-)Technologien nochmals radikal subvertiert wurde. Die gegenwärtig um sich greifenden (Bio-)Technologien (wie z.  B. CRISPR/Cas, Kryonik, Biorobotik, Biohacking und künstliche Intelligenz) steigern transhumane Tendenzen, da sie das vormalig Organisch-Menschliche fast gänzlich dekonstruieren.20

Die „Manipulationsmöglichkeiten der Biotechnologien“21 lösen nicht nur das traditionelle Subjekt auf, sie dekonstruieren auch weitreichende organisch-körper-liche Grenzziehungen. Organismus und Technik stehen sich nicht mehr gegenüber, kämpfen nicht mehr gegeneinander, sondern verschmelzen zu neuen Wesen. Das Kantische „Als ob“ hat sein „ob“ verloren. Die definitorischen Oppositionen, die seit der Aufklärung die abendländische Ordnung des Wissens und der Welt begrün-deten, werden immer mehr unterlaufen. So bricht die Technik mit der vermeintlich starren Dichotomie von Natur und Kultur, Organismus und Maschine, Mensch und Tier oder Mann und Frau.22 Die teilweise ideologisch aufgebauten Differenzen und Distanzen werden durchlässig. Es kommt unter dieser Subversion immer wieder zu einer Rekonfiguration und Reflexion über das, was als Entität „Mensch“ tituliert werden kann. Die Beispiele und Programme zeigen, wie sehr der Mensch Opera-teur*in, Künstler*in und Planer*in seiner selbst ist. In der technischen Moderne ist die Verschmelzung von Organismus und Maschine ein Produktionsimperativ. Der evolutionär entstandene Organismus wird unweigerlich zu einem universalen Werkzeugkasten, der transgenetisch ausgebaut werden kann.23

An der problematischen wie produktiven Wechselbeziehung „Organismus-Tech-nik“ wird deutlich, wie aus der kantischen Frage „Was ist der Mensch“ immer mehr die nietzscheanische Frage „Was kann aus dem Menschen werden?“ wurde.24

Die Fragen, die den Menschen seit dem 18. Jahrhundert und wohl in der Zu-kunft umso radikaler umtreiben werden, lauten demnach: Was trennt und was ver-bindet Organismus und Technik? Wie haltbar sind die traditionellen Dichotomien von Mensch vs. Maschine, Leben vs. Technik, Werden vs. Sein? Das ist ebenso eine ethische wie epistemische und anthropologische Problemlage.

Eindeutige und simple Antworten können auf diese komplexen Probleme nicht ge-geben werden, auch weil das bio-technikwissenschaftliche Feld, von dem hier die Rede ist, sich gerade erst entwickelt und Probleme sich in den nächsten Jahrzehnten erst kon-kretisieren. Was die vorliegende Textsammlung aus klassischen und neueren Ansätzen jedoch bereitstellen will, ist ein Angebot zur Reflexion bestimmter technologischer Ent-wicklungen. Die ethische wie epistemische Aufgabe könnte nämlich für die nächsten Jahrhunderte sein, das Andere des Menschen, das Andere des Organismus zu verste-hen, und damit auch die Maschine und die Technik genauer (an)zuerkennen.

Die vorliegende Anthologie widmet sich hierfür dem interdisziplinären Spannungs-feld zwischen epistemologischen, anthropologischen, gendertheoretischen, naturwis-senschaftlichen und posthumanen Theorien. Neben klassischen Autor*innen (u.  a. Kant, Kleist, Kapp) sollen besonders neuere Ansätze (u. a. Bostrom, Russel, Wajcman) eines technisch-organischen Aushandlungsprozesses diskutiert und reflektiert werden.

Solch eine themenbezogene Anthologie erleichtert nicht nur Student*innen und Forscher*innen, sondern auch einer weiten interessierten Leserschaft den Zugang zum gegenwärtig relevanten Differenzproblem von „Organismus“ und „Technik“. Durch die duale Konzeption von kurzen, dafür aber überaus prägnanten, Primär-texten und einem Kommentar können die Leser*innen die Theorien einordnen und gleichzeitig einen Überblick über die Forschungsdiskussionen erhalten.

Forschendes Lernen

Die vorliegende Anthologie geht auf ein experimentelles interdisziplinäres Seminar an der Technischen Universität Darmstadt im Wintersemester 2020/21 zurück. Die Bereicherung des Seminars lag besonders in der Interdisziplinarität der Studieren-den, die aus ganz unterschiedlichen Fachbereichen kamen (Mathematik, Geschich-te, Philosophie, Informatik, Maschinenbau, etc.) und in der Diskussion ihr Fach-wissen produktiv einbrachten. So konnten sich die Studierenden über Probleme und Theorien austauschen und gegenseitig ihre disziplinären Horizonte erweitern, neue Lesarten ausprobieren und im Dialog zu gemeinsamen Lösungen kommen.

Unterstützt durch die interdisziplinären Studienschwerpunkte (iSP) an der TU Darmstadt konnten sich die Studierenden mit unterschiedlichen Theorieansätzen beschäftigen, die auf der einen Seite von den Dozenten bereitgestellt, und auf der anderen Seite besonders im Dialog und in der Diskussion von den Student*innen

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selbst vorschlagen wurden. Diese Textvorschläge haben es ebenso in den vorlie-genden Band geschafft. Unter dem methodischen Fokus des Forschenden Lernens wurde den Studierenden eine fundierte wissenschaftliche Bildung vermittelt, die zu einer eigenständigen Forschungstätigkeit führte. So haben die Studierenden die vorliegenden Texte im Seminar besprochen, reflektiert und kritisiert, um dann für den Band ebendiese Texte zu kommentieren und zu edieren. Die Kommen-tare wurden zwar von den Dozenten betreut, jedoch den Studierenden in Form und Inhalt alle möglichen Freiheiten in der Ausarbeitung gelassen. Die Edition umfasst die kritische Kommentierung, teilweise Übersetzung sowie angemessene Kürzung der Texte.25

Für die Publikation wurde mit dem wbg-Verlag in Darmstadt zusammengearbei-tet. Durch den Verlag konnte unmittelbar an die universitäre Lehre angeknüpft und ermöglicht werden, dass die Studierenden anhand eines konkreten Gegenstandes (Probleme, Theorien, Themenkomplex) eine Publikation erarbeiten, die online Open-Access sowie als Buch erscheint.26 Mit der engmaschigen Betreuung der Stu-dierenden durch die Seminarleiter wie auch den Verlag, namentlich Jan-Pieter For-ßmann, wurde den Studierenden schon früh ein Zugang zum wissenschaftlichen Arbeiten ermöglicht. Damit konnte die wissenschaftliche Praxis eingeübt und re-flektiert werden. Die Studierenden konnten dadurch nicht nur einfach passiv Ant-worten rezipieren, sondern selbst aktiv Fragen stellen und beantworten.

Die vorliegende Anthologie ist nur möglich geworden durch die produktive Be-teiligung der Studierenden, die sich auf unser Experiment mit viel Freude und En-gagement eingelassen haben. Ihnen gilt unser erster Dank.

Des Weiteren danken wir Karina Vida, die uns bei der Korrektur, Bearbeitung und Formatierung der Manuskripte mit Sorgfalt unterstützt hat.

Ein ebenso großer Dank für die Ermöglichung dieses Bandes kommt der Uni-versitäts- und Landesbibliothek Darmstadt zu, die mit dem Open-Access-Publika-tionsfonds die Kosten für die Open-Access-Version der Anthologie getragen hat.

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Einführender Kommentar zu Heinrich v. Kleists „Marionettentheater“

von Kim Lea Cordes, Marcel Lange, Marie Grenzer, Olinda Frank und Sebastian JaschkeHeinrich von Kleist (1777–1811) erlebte die ausgehende Aufklärung, die Franzö-sische Revolution und die darauffolgenden Wirren der Napoleonischen Kriege. Er entstammte dem preußischen Uradelsgeschlecht der von Kleists und trat 1792, ge-mäß der Familientradition, in die Preußische Armee ein. 1799 wurde er auf eigene Bitte aus dem Militär entlassen und widmete sich fortan der Bildung: Er begann ein Studium an der Universität Frankfurt a. d. Oder.

Kleist glaubte durch das Erreichen eines hohen Grades an Bildung in seinem Leben, welches von Lebensangst und Weltschmerz geprägt war, Wahrheit und Vollkommenheit erfahren zu können. Dabei kam Kleist jedoch mit den Wer-ken Immanuel Kants (1724–1804) in Berührung, welche bei ihm eine Sinnkrise („Kant-Krise“) auslösten, die ab etwa 1801 angesetzt wird. Kant vertrat die Über-zeugung, dass der Mensch nicht in der Lage sei, das Wesen der Dinge gänzlich zu erfassen, da der Mensch als bloß raum-zeitliches, d. h. endliches Wesen immer subjektiv geprägt sei. Dieser Gedanke erschütterte Kleists Glauben daran, die rei-ne Wahrheit der Welt durch Bildung erfahren zu können. Er verfiel in eine tiefe Sinnkrise.

Er wandte sich von der Wissenschaft ab und floh für eine Zeit lang, angeregt durch die Lektüre Rousseaus, in ein einfaches Leben in die Schweiz. Seine weiteren Reisen führten ihn nach Paris, Königsberg und Dresden, wo er Romantiker wie Caspar David Friedrich oder Gotthilf Heinrich von Schubert kennenlernte und sich für neue Werke inspirieren ließ. Seine letzten Jahre verbrachte Kleist in Berlin, wo er 1811 mit der unheilbar erkrankten Henriette Vogel einen erweiterten Suizid be-

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ging. In seinem Abschiedsbrief an seine Schwester schrieb er: „[D]ie Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war.“1

Zu Lebzeiten wurden Kleists Werke, wie auch sein Text „Über das Marionetten-theater“, kaum zur Kenntnis genommen. Erst im 20. Jahrhundert entdeckten Dich-ter*innen und Schriftsteller*innen wie Kafka, Hofmannsthal oder Thomas Mann sein Werk. Auch Theoretiker*innen der Postmoderne fanden anregende Interpre-tationsmöglichkeiten bei Kleist.

Kleists Werk lässt sich keiner Epoche eindeutig zuordnen. In ihm finden sich Ele-mente der Aufklärung, der Klassik und der Romantik wieder. Er gilt als Wegbereiter der Moderne, da er innerlich zerrissene Menschen auf der Suche nach der Wahrheit und Gerechtigkeit thematisierte und die Konsequenz zog, dass die Wahrheit nicht erkennbar sei. In Folge seiner Kant-Krise widmete sich Kleist insbesondere Themen wie Korruption, Ungerechtigkeit, Absurdität, Verdrängung und einer Romantisie-rung des Mittelalters. Viele seiner Protagonist*innen enden als menschliche Katas-trophen.

„Über das Marionettentheater“ wurde von Kleist als Folgeerzählung in seinen ei-genen Berliner Abendblättern im Dezember 1810 herausgegeben. Das Werk ist im Zuge einer Fehde Kleists mit August Wilhelm Iffland (1759–1814), Intendant des Berliner Nationaltheaters, entstanden. Die essayistische Erzählung ist teilweise in einem unernsten Ton verfasst; fantastischste Behauptungen werden als Wahrheiten präsentiert. Somit kann sie als Satire gelesen werden, die gleichzeitig Kunstideale der Romantik aufgreift: Der durch Zivilisation entfremdete Mensch könne, indem er sich selbst als technisches Kunstwerk erschaffe, die verlorene Unschuld auf einer höheren Ebene zurückgewinnen. Die zu seiner Zeit beliebte Marionettenmetapher kehrt Kleist um: Statt für buchstäbliche Gebundenheit des Menschen an höhere Mächte, steht die Marionette bei Kleist für Freiheit einer unbewussten Naivität. Die Erzählung kann als Überwindung von Kleists „Kant-Krise“ gesehen werden: Sie öffnet dem Menschen die durch Kant verschlossene Tür zum Absoluten wieder.

Die Grazie stellt dabei ein zentrales Phänomen des Unbewussten dar. Die graziö-sen Bewegungen der Marionetten verleiten den Ich-Erzähler dazu, mehr über ihren Mechanismus erfahren zu wollen. Er sucht nach der Quelle des Graziösen und ver-mutet diese erst im „Maschinisten“, also im Marionettenspieler, zu finden. Es stellt sich aber im Laufe des Textes heraus, dass sie in der Marionette selbst vorzufinden ist. Hinter der Frage nach der Grazie versteckt sich eine naturphilosophische Frage nach Gewissheit, Gefühl und Bewegung. Die natürlichen Bewegungen der Mario-nette verleihen der Puppe im Tanz Anmut. Zu dieser Anmut ist der Mensch nach dem Triadischen Geschichtsmodell nicht mehr fähig. Das Modell geht davon aus, dass der derzeitigen, unvollkommenen Ära eine einstmalige paradiesische voraus-gegangen sei, und eine letztendliche utopische folgen werde. Das Modell der ver-fallenen Sitten, die wiederhergestellt werden müssen, ist bekannt, jedoch erkennt Kleist, dass man nicht so einfach ins Paradies zurückkann, denn dieses wird von einem Engel mit einem lodernden Flammenschwert (Cherub) bewacht. Man müs-se Gott schon austricksen, indem man sich durch den Hintereingang ins Paradies hineinstiehlt.

Es wird deutlich, dass sich durch den ganzen Text die Metaphorik von Schöp-fung, Paradies und Sündenfall zieht. Kleist interpretiert den Sündenfall dabei als Selbstbewusstwerdung des Menschen („Da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und wurden gewahr“2). Erst durch seine Fähigkeit zur Selbstreflexion werde der Mensch aus dem paradiesischen Zustand des Unbewusstseins vertrieben; er fällt in den Leidenszustand der Reflexion hinein. Der Mensch erleidet demnach durch die Selbsterkenntnis einen Bruch (Körper-Geist). Sobald er sich jetzt seiner eigenen Schönheit und Anmut bewusstwerde, müsse diese schwinden, weil sie im Bewusst-sein angelangt ist. Die Geschichte des Dornenausziehers in Kleists „Marionetten-theater“ demonstriert dies auf eindrucksvolle Weise: Hier nimmt ein Freund des Ich-Erzählers unbewusst die anmutige Form einer berühmten antiken Statue ein, schaut in den Spiegel, nimmt sich dabei wahr, und versucht nun – erfolglos – diese Form bewusst nachzuahmen.

Die Antwort, die Kleist auf dieses Problem formuliert, orientiert sich, wie er-wähnt, am Triadischen Geschichtsmodell: Kleist appliziert dieses Verständnis am Verhältnis Maschine-Mensch. Durch die Marionette könne der Maschinist größere Unschuld und damit Eleganz zum Ausdruck bringen als alle menschlichen, allzu menschlichen Tänzer (wohl ein Seitenhieb auf Iffland). Kleist spielt hier ironisch mit Gegensätzen: Der Mensch steht zwischen Gott und Maschine und ist insofern von beiden weiter entfernt als die beiden voneinander. Im Unbewussten komme man dem absoluten Bewusstsein näher; der Mensch komme also seinem Gott nä-her, indem er mit der Marionette verschmelze. Im Verschmelzen mit dem Unbe-wussten findet der Mensch die höchste Beseeltheit.

Man sollte diese Überzeugung nicht als rein intellektuellen, abstrakten Glaubens-satz lesen. Kleist war es wohl sehr ernst damit. Für ihn hatte diese Talfahrt, die ab-wärts-aufwärts-Bewegung der Triade, nicht nur für das Leben als solches, sondern auch für jedes einzelne Menschenleben Bedeutung: Sowie die Korrumpierung des ursprünglichen Paradieszustandes in den heutigen, ‚sündhaften‘ Zustand irgend-wann einmal durch die Rückkehr ‚von hinten‘ ins Paradies ausgeglichen werde, müsse auch der einzelne Mensch, aus dem paradiesischen Nicht-Sein vor der Ge-burt hinaus in die kalte Welt gezerrt, irgendwann einmal ‚von hinten‘ wieder ins Nicht-Sein einkehren; konkret: nach dem Tod wieder in den Zustand vor der Ge-burt zurückkehren.

Bei Kleist lässt sich eine – im historischen Kontext sehr frühe – Idee der Ver-schmelzung von Mensch und Maschine, von Organismus und Technik erkennen: Der „Maschinist“, wie Kleist den Marionettenspieler nennt, nimmt die Position sei-ner Marionette ein und, nicht trotzdem, sondern gerade weil er nur den Schwer-punkt dieser kontrolliert, verleiht er ihr größere Anmut als er selbst als Tänzer hätte haben können. Noch expliziter wird dies in der Erwähnung der Prothesen, die es den Unglücklichen, die Extremitäten verloren haben (wohl eine Referenz auf die Napoleonischen Kriege), ermöglichen, gerade durch Beschränkung der Quantität ihrer Bewegungsmöglichkeiten, die Qualität dieser zu steigern.

Kleist stellt hier provokant die Frage, ob der Mensch, um sich dem Göttlichen anzunähern, einen Teil seiner Menschlichkeit opfern und mit der Maschine ver-schmelzen müsse. Zwar lässt er seinen Ich-Erzähler zunächst dagegen argumen-tieren, allerdings scheint Kleist im Abschluss des Textes eher der Argumentation Herrn C.s Recht zu geben.

Es stellt sich dem/der Leser*in aber auch implizit die Frage, inwieweit hier von einer Verschmelzung von Mensch und Maschine überhaupt gesprochen werden kann. Zum einen ist eine Marionette weit entfernt von dem, was wir heutzutage unter einer Maschine verstehen, zum anderen: Kann man von einer Verschmel-zung wirklich reden, wo ein organischer Körper eine anorganische Maschine nur steuert? Sicherlich ist das Beispiel der Prothese besser zur Veranschaulichung einer technisch-organischen Verschmelzung geeignet.

Es mag auf den ersten Blick so scheinen; aber man sollte sich vor Augen führen, wie wir nicht nur oft anorganischen Objekten in unserer Umgebung lebendige, gar bewusste Zustände zuschreiben – wenn wir ihnen z. B. Namen geben, mit ihnen reden etc. –, sondern wie sie phänomenologisch geradezu ein Teil von unserem Leib werden: Wenn man ein Schwert führt – oder die Feder – fühlt man mit dessen Spitze. Das technische Artefakt wird zur Verlängerung des Arms (vgl. auch Kapps „Organprojektion“). Hier zeigt sich, wie durch anorganische Gegenstände unsere Sinne erweitert werden, als wären sie ein Teil unseres Körpers.

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Heinrich v. Kleist: Über das Marionettentheater (1810)1

Als ich den Winter 1801 in M … zubrachte, traf ich daselbst eines Abends, in einem öffentlichen Garten, den Herrn C. an, der seit kurzem, in dieser Stadt, als erster Tän-zer der Oper, angestellt war, und bei dem Publiko außerordentliches Glück machte.

Ich sagte ihm, dass ich erstaunt gewesen wäre, ihn schon mehrere Mal in einem Marionettentheater zu finden, das auf dem Markte zusammengezimmert worden war, und den Pöbel, durch kleine dramatische Burlesken(2), mit Gesang und Tanz durchwebt, belustigte.

Er versicherte mir, dass ihm die Pantomimik dieser Puppen viel Vergnügen machte, und ließ nicht undeutlich merken, dass ein Tänzer, der sich ausbilden wol-le, mancherlei von ihnen lernen könne.

Da diese Äußerung mir, durch die Art, wie er sie vorbrachte, mehr, als ein bloßer Einfall schien, so ließ ich mich bei ihm nieder, um ihn über die Gründe, auf die er eine so sonderbare Behauptung stützen könne, näher zu vernehmen.

Er fragte mich, ob ich nicht, in der Tat, einige Bewegungen der Puppen, beson-ders den kleineren, im Tanz sehr graziös gefunden hatte.

Diesen Umstand konnte ich nicht leugnen. Eine Gruppe von vier Bauern, die nach einem raschen Takt die Ronde tanzte, hätte von Teniers(3) nicht hübscher ge-malt werden können.

Ich erkundigte mich nach dem Mechanismus dieser Figuren, und wie es möglich wäre, die einzelnen Glieder derselben und ihre Punkte, ohne Myriaden von Fäden an den Finger zu haben, so zu regieren, als es der Rhythmus der Bewegungen, oder der Tanz erfordere?

Er antwortete, dass ich mir nicht vorstellen müsse, als ob jedes Glied einzeln, während der verschiedenen Momente des Tanzes, von dem Maschinisten gestellt und gezogen würde.

Jede Bewegung, sagte er, hätte einen Schwerpunkt; es wäre genug, diesen, in dem Innern der Figur, zu regieren; die Glieder, welche nichts als Pendel wären, folgten, ohne irgend ein Zutun, auf eine mechanische Weise von selbst.

Er setzte hinzu, dass diese Bewegung sehr einfach wäre; dass jedesmal, wenn der Schwerpunkt in einer graden Linie bewegt wird, die Glieder schon Kurven be-schrieben; und dass oft, auf eine bloß zufällige Weise erschüttert, das Ganze schon in eine Art von rhythmische Bewegung käme, die dem Tanz ähnlich wäre.

Diese Bemerkung schien mir zuerst einiges Licht über das Vergnügen zu wer-fen, das er in dem Theater der Marionetten zu finden vorgegeben hatte. Inzwischen ahndete ich bei weitem die Folgerungen noch nicht, die er späterhin daraus ziehen würde.

Ich fragte ihn, ob er glaubte, dass der Maschinist, der diese Puppen regierte, selbst ein Tänzer sein, oder wenigstens einen Begriff vom Schönen im Tanz haben müsse?

Er erwiderte, dass wenn ein Geschäft, von seiner mechanischen Seite, leicht sei, daraus noch nicht folge, dass es ganz ohne Empfindung betrieben werden könne.

Die Linie, die der Schwerpunkt zu beschreiben hat, wäre zwar sehr einfach, und, wie er glaube, in den meisten Fällen, gerad. In Fällen, wo sie krumm sei, scheine das Gesetz ihrer Krümmung wenigstens von der ersten oder höchstens zweiten Ord-nung; und auch in diesem letzten Fall nur elliptisch, welche Form der Bewegung den Spitzen des menschlichen Körpers (wegen der Gelenke) überhaupt die natür-liche sei, und also dem Maschinisten keine große Kunst koste, zu verzeichnen.

Dagegen wäre diese Linie wieder, von einer anderen Seite, etwas sehr Geheimnis-volles. Denn sie wäre nichts anders, als der Weg der Seele des Tänzers; und er zweif-le, dass sie anders gefunden werden könne, als dadurch, dass sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Marionette versetzt, d. h. mit anderen Worten, tanzt.

Ich erwiderte, dass man mir das Geschäft desselben als etwas ziemlich Geistloses vorgestellt hätte: etwa was das Drehen einer Kurbel sei, die eine Leier spielt.

Keineswegs, antwortete er. Vielmehr verhalten sich die Bewegungen seiner Finger zur Bewegung der daran befestigten Puppen ziemlich künstlich(4), etwa wie Zahlen zu ihren Logarithmen oder die Asymptote zur Hyperbel.

Inzwischen glaube er, dass auch dieser letzte Bruch(5) von Geist, von dem er ge-sprochen, aus den Marionetten entfernt werden, dass ihr Tanz gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte hinübergespielt, und vermittelst einer Kurbel, so wie ich es mir gedacht, hervorgebracht werden könne.

Ich äußerte meine Verwunderung zu sehen, welcher Aufmerksamkeit er diese, für den Haufen erfundene, Spielart einer schönen Kunst würdige. Nicht bloß, dass er sie einer höheren Entwicklung für fähig halte: er scheine sich sogar selbst damit zu beschäftigen.

Er lächelte, und sagte, er getraue sich zu behaupten, dass wenn ihm ein Mechani-kus, nach den Forderungen, die er an ihn zu machen dächte, eine Marionette bauen wollte, er vermittelst derselben einen Tanz darstellen würde, den weder er, noch irgendein anderer geschickter Tänzer seiner Zeit, Vestris(6) selbst nicht ausgenom-men, zu erreichen imstande wäre.

Haben Sie, fragte er, da ich den Blick schweigend zur Erde schlug: haben Sie von jenen mechanischen Beinen gehört, welche englische Künstler für Unglückliche verfertigen, die ihre Schenkel verloren haben?

Ich sagte, nein: dergleichen wäre mir nie vor Augen gekommen.

Es tut mir leid, erwidert er; denn wenn ich Ihnen sage, dass diese Unglücklichen damit tanzen, so fürchte ich fast, Sie werden es mir nicht glauben. – Was sag ich, tanzen? Der Kreis ihrer Bewegungen ist zwar beschränkt; doch diejenigen, die ih-nen zu Gebote stehen, vollziehen sie mit einer Ruhe, Leichtigkeit und Anmut, die jedes denkende Gemüt in Erstaunen setzen.

Ich äußerte, scherzend, dass er ja, auf diese Weise, seinen Mann gefunden habe. Denn derjenige Künstler, der einen so merkwürdigen Schenkel zu bauen imstande sei, würde ihm unzweifelhaft auch eine ganze Marionette, seinen Forderungen ge-mäß, zusammensetzen können.

Wie, fragte ich, da er seinerseits ein wenig betreten zur Erde sah: wie sind denn diese Forderungen, die Sie an die Kunstfertigkeit desselben zu machen gedenken, bestellt?

Nichts, antwortete er, was sich nicht auch schon hier fände; Ebenmaß, Beweglich-keit, Leichtigkeit – nur alles in einem höheren Grade; und besonders eine naturge-mäßere Anordnung der Schwerpunkte.

Und der Vorteil? Zuvörderst ein negativer(7), mein vortrefflicher Freund, nämlich dieser, dass sie sich niemals zierte. – Denn Ziererei erscheint, wie Sie wissen, wenn sich die Seele (vis motrix(8)) in irgend einem anderen Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung. Da der Maschinist nun schlechterhin, vermittelst des Drahtes oder Fadens, keinen anderen Punkt in seiner Gewalt hat, als diesen: so sind alle übrigen Glieder, was sie sein sollen, tot, reine Pendel, und folgen dem bloßen Gesetz der Schwere; eine vortreffliche Eigenschaft, die man vergebens bei dem grö-ßesten Teil unsrer Tänzer sucht.

Sehen Sie nur die P … an, fuhr er fort, wenn sie die Daphne(9) spielt, und sich, ver-folgt vom Apoll, nach ihm umsieht; die Seele sitzt ihr in den Wirbeln des Kreuzes; sie beugt sich, als ob sie brechen wollte, wie eine Najade aus der Schule Bernins(10). Sehen Sie den jungen F … an, wenn er, als Paris(11), unter den drei Göttinnen steht, und der Venus den Apfel überreicht: die Seele sitzt ihm gar (es ist ein Schrecken, es zu sehen) im Ellenbogen.

Solche Missgriffe, setzte er abbrechend hinzu, sind unvermeidlich, seitdem wir von dem Baum der Erkenntnis gegessen haben. Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.

Ich lachte. – Allerdings, dachte ich, kann der Geist nicht irren, da, wo keiner vor-handen ist. Doch ich bemerkte, dass er noch mehr auf dem Herzen hatte, und bat ihn, fortzufahren.

Zudem, sprach er, haben diese Puppen den Vorteil, dass sie antigrav(12) sind. Von der Trägheit der Materie, dieser dem Tanz entgegenstrebendsten aller Eigen-schaften, wissen sie nichts: weil die Kraft, die sie in die Lüfte erhebt, größer ist, als jene, die sie an der Erde fesselt. Was würde unsre gute G … darum geben, wenn sie sechzig Pfund leichter wäre, oder ein Gewicht von dieser Größe ihr bei ihren En-trechats(13) und Pirouetten, zu Hülfe käme? Die Puppen brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu streifen, und den Schwung der Glieder, durch die augen-blickliche Hemmung neu zu beleben; wir brauchen ihn, um darauf zu ruhen, und uns von der Anstrengung des Tanzes zu erholen: ein Moment, der offenbar selber kein Tanz ist und mit dem sich weiter nichts anfangen lässt, als ihn möglichst ver-schwinden zu machen.

Ich sagte, dass, so geschickt er auch die Sache seiner Paradoxe führe, er mich doch nimmermehr glauben machen würde, dass in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmut enthalten sein könne, als in dem Bau des menschlichen Körpers.

Er versetzte, dass es dem Menschen schlechthin unmöglich wäre, den Glieder-mann darin auch nur zu erreichen. Nur ein Gott könne sich, auf diesem Felde, mit der Materie messen; und hier sei der Punkt, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt ineinander griffen.

Ich erstaunte immer mehr, und wusste nicht, was ich zu so sonderbaren Behaup-tungen sagen sollte. Es scheine, versetzte er, indem er eine Prise Tabak nahm, dass ich das dritte Kapitel vom ersten Buch Moses nicht mit Aufmerksamkeit gelesen; und wer diese erste Periode aller menschlichen Bildung nicht kennt, mit dem könne man nicht füglich über die folgenden, um wie viel weniger über die letzte, sprechen.

Ich sagte, dass ich gar wohl wüsste, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewusstsein anrichtet. Ein junger Mann von meiner Bekanntschaft hätte, durch eine bloße Bemerkung, gleichsam vor meinen Augen, seine Unschuld verloren, und das Paradies derselben, trotz aller ersinnlichen Be-mühungen, nachher niemals wieder gefunden. – Doch, welche Folgerungen, setzte ich hinzu, können Sie daraus ziehen?

Er fragte mich, welch einen Vorfall ich meine?

Ich badete mich, erzählte ich, vor etwa drei Jahren, mit einem jungen Mann, über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war. Er mochte ohnge-fähr in seinem sechszehnten Jahre stehn, und nur ganz von fern ließen sich, von der Gunst der Frauen herbeigerufen, die ersten Spuren von Eitelkeit erblicken. Es traf sich, dass wir grade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht(14); der Abguss der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spie-gel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch eine Entdeckung er gemacht habe. In der Tat hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiderte – er sähe wohl Geister! Er errötete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehn lassen, missglückte. Er hob ver-wirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! er war außerstand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, dass ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten: –

Von diesem Tage, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor. Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn. Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn um-ringten, ergötzt hätte. Noch jetzt lebt jemand, der ein Zeuge jenes sonderbaren und unglücklichen Vorfalls war, und ihn, Wort für Wort, wie ich ihn erzählt, bestätigen könnte. –

Bei dieser Gelegenheit, sagte Herr C … freundlich, muss ich Ihnen eine andere Geschichte erzählen, von der Sie leicht begreifen werden, wie sie hierher gehört.

Ich befand mich, auf meiner Reise nach Russland, auf einem Landgut des Herrn v. G …, eines livländischen Edelmanns, dessen Söhne sich eben damals stark im Fech-ten übten. Besonders der ältere, der eben von der Universität zurückgekommen war, machte den Virtuosen, und bot mir, da ich eines Morgens auf seinem Zimmer war, ein Rapier an(15). Wir fochten; doch es traf sich, dass ich ihm überlegen war; Leidenschaft kam dazu, ihn zu verwirren; fast jeder Stoß, den ich führte, traf, und sein Rapier flog zuletzt in den Winkel. Halb scherzend, halb empfindlich, sagte er, indem er das Rapier aufhob, dass er seinen Meister gefunden habe: doch alles auf der Welt finde den seinen, und fortan wolle er mich zu dem meinigen führen. Die Brüder lachten laut auf, und riefen: Fort! fort! In den Holzstall herab! und damit nahmen sie mich bei der Hand und führten mich zu einem Bären, den Herr v. G …, ihr Vater, auf dem Hofe auferziehen ließ.

Der Bär stand, als ich erstaunt vor ihn trat, auf den Hinterfüßen, mit dem Rü-cken an einem Pfahl gelehnt, an welchem er angeschlossen war, die rechte Tatze schlagfertig erhoben, und sah mir ins Auge: das war seine Fechterpositur. Ich wuss-te nicht, ob ich träumte, da ich mich einem solchen Gegner gegenüber sah; doch: stoßen Sie! stoßen Sie! sagte Herr v. G …, und versuchen Sie, ob Sie ihm eins bei-bringen können! Ich fiel, da ich mich ein wenig von meinem Erstaunen erholt hatte, mit dem Rapier auf ihn aus; der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parierte den Stoß. Ich versuchte ihn durch Finten zu verführen; der Bär rührte sich nicht. Ich fiel wieder, mit einer augenblicklichen Gewandtheit, auf ihn aus, eines Menschen Brust würde ich ohnfehlbar getroffen haben: der Bär machte eine kurze Bewegung mit der Tatze und parierte den Stoß. Jetzt war ich fast in dem Fall des jungen Herrn v. G … Der Ernst des Bären kam hinzu, mir die Fassung zu rauben, Stöße und Finten wechselten sich, mit triefte der Schweiß: umsonst! Nicht bloß, als der Bär, wie der erste Fechter der Welt, alle meine Stöße parierte; auf Finten (was ihm kein Fechter der Welt nachmachte) ging er gar nicht einmal ein: Aug in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erho-ben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte er sich nicht. Glauben Sie diese Geschichte?

Vollkommen! rief ich, mit freudigem Beifall; jedwedem Fremden, so wahrschein-lich ist sie: um wie viel mehr Ihnen!

Nun, mein vortrefflicher Freund, sagte Herr C …, so sind Sie im Besitz von allem, was nötig ist, um mich zu begreifen. Wir sehen, dass in dem Maße, als, in der orga-nischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt.  – Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem Durchgang durch das Un-endliche, plötzlich wieder auf der anderen Seite einfindet, oder das Bild des Hohl-spiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, dass sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.

Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müssten wir wieder von dem Baum der Er-kenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?

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Allerdings, antwortete er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt. Weiterführende Literatur

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Einführender Kommentar zu Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“

von Karina VidaImmanuel Kant (1724–1804) zählt zu den bedeutendsten Vertretern der abendlän-dischen Philosophie. Sein Werk Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787) vollzieht eine „Umänderung der Denkart“ in der Philosophiegeschichte und läutet den Be-ginn einer aufgeklärten Philosophie ein.

Neben Philosophie studierte Kant auch die Naturwissenschaften, Mathematik so-wie lateinische Klassiker. In seinen ersten Veröffentlichungen befasste er sich mehr mit den Naturwissenschaften als mit der Philosophie. Insgesamt finden sich unter seinen Schriften eine Vielzahl an naturphilosophischen Arbeiten.1

Kants berühmteste Werke sind ohne Frage seine drei Kritiken. In der Kritik der reinen Vernunft greift er die theoretische Philosophie auf und beeinflusst dadurch maßgeblich die Erkenntnistheorie und Metaphysik. Seine zweite Kritik, die Kritik der praktischen Vernunft ,beschäftigt sich dagegen mit der Ethik, Rechts- und Re-ligionsphilosophie. Mit der dritten und letzten Kritik der Urteilskraft schließt Kant sein kritisches Geschäft ab. Diese letzte Kritik stellt dabei Kants Versuch dar, die sinnliche und die moralische Welt – Natur und Freiheit – miteinander zu vereinen.

Diese letzte Kritik ist vor allem für den von ihm neu gesetzten Kunstmaßstab der „zweckfreien Schönheit“ bekannt, in der er die Freiheit und Autonomie der Kunst betont. Theodor W. Adorno setzt sich auf dieser Grundlage beispielsweise in seiner Ästhetischen Theorie (1970) ausführlich mit Kant auseinander.

Schaut man auf den historischen Kontext, in dem Kant sich dem Problemverhält-nis von Organismus und Maschine nähert, so zeigt sich ein Grundsatzstreit zwi-schen zwei Lagern: Auf der einen Seite stehen die Mechanisten (oder auch Reduk-tionisten genannt), die das Leben auf physisch-chemische Prozesse reduzieren. Auf der anderen Seite diejenigen, die eine solche Reduktion aus den verschiedensten Gründen ablehnen, wie beispielsweise die Anhänger des Animismus oder Vitalis-mus. Dem weitverbreiteten und einflussreichen Mechanismus zufolge lassen sich alle Prozesse in der physischen Natur allein durch Kausalgesetze erklären. Die Er-scheinungen eines Systems sind folglich auf Eigenschaften und Wechselwirkungen der Teile dieses Systems zurückzuführen. Der teleologische Ansatz, der besagt, dass alles in der Natur einen innewohnenden Zweck hat, wird dabei abgelehnt. Der Mechanismus ist also nichts anderes „als die metaphysische Hypostasierung einer analytischen Methode, die der selbstverständliche Bestandteil des Repertoires aller Biologen […] ist.“2

Aber kann der Mechanismus die Komplexität des Lebendigen überhaupt erklä-ren? Ernest Nagel zeigt in The Structure of Science (1961) zwei zentrale Probleme mechanistischer Erklärungen auf:

1. die augenscheinliche Zweckmäßigkeit der Lebensprozesse und

2. die scheinbare Unmöglichkeit, das organische Ganze als additives System von unabhängigen Teilen zu begreifen.

Kant stellt in der Kritik der Urteilskraft eine Lösung vor, die beide Probleme von derselben strukturellen Eigentümlichkeit der mechanistischen Erklärungen ablei-tet, indem er eine dem Mechanismus konforme Ergänzung durch heuristische te-leologische Prinzipien empfiehlt. Kant stellt dabei nicht die Methode des Reduktio-nismus in Frage, sondern dessen aufkommende Unzulänglichkeit bei der Erklärung des Organismus, welche, seiner Ansicht nach, eine teleologische Ergänzung not-wendig macht.In den neuzeitlichen mechanistischen Naturwissenschaften war die Teleologie in der Form der Absicht eines „Uhrmacher-Gottes“ von Anfang an ein Begleitphänomen. Das Konzept der Welt als Uhr setzt hierbei einen „Uhrmacher“ voraus, der die Weltuhr entworfen und ihr Sinn und Zweck gegeben hat.3

In seiner dritten Kritik zeigt Kant die Notwendigkeit und Zulässigkeit dieser Art von Teleologie in der Biologie auf. Er warnt allerdings in § 68 davor, diese empfun-dene Zweckmäßigkeit der Natur mit der Religion zu begründen. Weiter legt er den mechanistischen Reduktionismus als einzige wissenschaftliche Erklärungsweise fest und etabliert gleichzeitig Anforderungen an zukünftige Erklärungen des Or-ganismus.4

Kants Leitinteresse für die Kritik der teleologischen Urteilskraft ist die Untersu-chung der theoretischen Vernunft. Dabei verfolgt er die Absicht, die Hindernisse der Moral zu überwinden und betreibt einen Wechsel des wissenschaftlichen Wis-sens zugunsten von Moral und moralischem Glauben.5

Die Kritik der Urteilskraft besteht aus zwei Teilen. Während sich der erste Teil mit dem ästhetischen Urteil vom Schönen und Erhabenen auseinandersetzt, betrachtet Kant im zweiten Teil das sogenannte teleologische Urteil, welches das Verhältnis des Menschen zur Natur bestimmt. Die ästhetische Urteilskraft basiert auf dem Prinzip der subjektiven Zweckmäßigkeit, die teleologische Urteilskraft hingegen auf dem Prinzip der objektiven Zweckmäßigkeit.

Ein Zweck stellt hierbei allerdings keine Eigenschaft von Gegenständen dar, son-dern wird von uns Menschen gedacht und in die Objekte hineingelegt. Wie die Frei-heit, so ist auch der Zweck eine regulative Idee, das bedeutet, dass der Zweck zwar außerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung liegt, aber in Bezug auf die Erfahrung bestimmte, für den Prozess der Erkenntnis notwendige Annahmen formuliert. Die-ser von der Vernunft gedachte objektive Naturzweck eines Gegenstandes ergibt sich hierbei aus dem Verhältnis der Teile und des Ganzen zueinander. Wir Menschen sehen die Zusammenhänge der Natur so, als ob ihnen ein Zweck zugrunde liegen würde.

Auch wenn Kant in der ästhetischen Urteilskraft das Schöne vom Vollkomme-nen und in der teleologischen Urteilskraft die Natur von der Freiheit abgrenzt, sind beide Bereiche – die Ästhetik und die Biologie – doch durch den Begriff der Zweck-mäßigkeit verbunden. Diese in der Natur liegende Zweckmäßigkeit betrachtet Kant ausführlich im Abschnitt der teleologischen Urteilskraft. Basierend auf dem Begriff der Zweckmäßigkeit baut Kant die Darstellung seiner Methodenlehre vom End-zweck der Welt und der Moraltheorie auf.

Die Betrachtung der Natur als ein systematisches Ganzes in der teleologischen Urteilskraft ermöglicht es Kant seine moralische Anthropologie mit einer norma-tiven Naturphilosophie zu verbinden. Diese Sichtweise erlaubt es ihm, die Frage nach dem Ort des Menschen in der Schöpfung zu beantworten.6 Hierfür müssen wir zum einen eine objektive Zweckmäßigkeit in der Natur identifizieren, was die Annahme eines Endzweckes voraussetzt (dies ist der Bereich der praktischen Ver-nunft). Zum anderen lehnt unsere Vernunft aber eine rein mechanistische Erklä-rung von Naturvorgängen ab, wenn wir von lebendigen Organismen sprechen. Von der inneren Zweckmäßigkeit der Organismen ausgehend, gelangt Kant zu der Fra-ge, welcher Zweck der Natur als Ganzes zugrunde liegt. Er beantwortet dieses durch die reflektierende Urteilskraft: Der letzte Zweck der Natur ist der Mensch.

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Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790)1

Der Kritik der Urteilskraft zweiter Teil

Kritik der teleologischen Urteilskraft § 61 Von der objektiven Zweckmäßigkeit der Natur. Man hat nach transzendentalen Prinzipien guten Grund, eine subjektive Zweckmä-ßigkeit der Natur in ihren besonderen Gesetzen zu der Faßlichkeit für die menschli-che Urteilskraftund der Möglichkeit der Verknüpfung der besonderen Erfahrungen in ein System derselben anzunehmen; wo dann unter den vielen Produkten dersel-ben auch solche als möglich erwartet werden können, die, als ob sie ganz eigentlich für unsere Urteilskraft angelegt wären, solche spezifische ihr angemessene Formen enthalten, welche durch ihre Mannigfaltigkeitund Einheit die Gemütskräfte (die im Gebrauche dieses Vermögens im Spiele sind) gleichsam zu stärken und zu unter-halten dienen, und denen man daher den Namen schöner Formen beilegt.

Daß aber Dinge der Natur einander als Mittel zu Zwecken dienen, und ihre Mög-lichkeit selbst nur durch diese Art von Kausalität hinreichend verständlich sei, dazu haben wir gar keinen Grund in der allgemeinen Idee der Natur als Inbegriffs der Gegenstände der Sinne. Denn im obigen Falle konnte die Vorstellung der Dinge, weil sie etwas in uns ist, als zu der innerlich zweckmäßigen Stimmung unserer Er -kenntnisvermögen geschickt und tauglich ganz wohl auch a priori(2) gedacht wer-den; wie aber Zwecke, die nicht die unsrigen sind, und die auch der Natur (welche wir nicht als intelligentes Wesen annehmen) nicht zukommen, doch eine beson-dere Art der Kausalität, wenigstens eine ganz eigene Gesetzmäßigkeit derselben ausmachen können oder sollen, läßt sich a priori gar nicht mit einigem Grunde präsumieren. Was aber noch mehr ist, so kann uns selbst die Erfahrung die Wirk-lichkeit derselben nicht beweisen; es müßte denn eine Vernünftelei vorhergegangen sein, die nur den Begriff des Zwecks in die Natur der Dinge hineinspielt, aber ihn nicht von den Objekten und ihrer Erfahrungskenntnisse hernimmt, denselben also mehr braucht, die Natur nach der Analogie mit einem subjektiven Grunde der Ver-knüpfung der Vorstellungen in uns begreiflich zu machen, als sie aus objektiven Gründen zu erkennen.

Überdem ist die objektive Zweckmäßigkeit als Prinzip der Möglichkeit der Dinge der Natur, so weit davon entfernt, mit dem Begriffe derselben notwendig zu-sammenzuhängen, daß sie vielmehr gerade das ist, worauf man sich vorzüglich be-ruft, um die Zufälligkeit derselben (der Natur) und ihrer Form daraus zu beweisen. Denn wenn man z. B. den Bau eines Vogels, die Höhlung in seinen Knochen, die Lage seiner Flügel zur Bewegung und des Schwanzes zum Steuern usw. anführt, so sagt man, daß dieses alles nach dem bloßen nexus effectivus (3)in der Natur, ohne noch eine besondere Art der Kausalität, nämlich die der Zwecke (nexus finalis (4) ) , zu Hilfe zu nehmen, im höchsten Grade zufällig sei; d. i. daß sich die Natur, als blo-ßer Mechanism betrachtet, auf tausendfache Art habe anders bilden können, ohne gerade auf die Einheit nach einem solchen Prinzip zu stoßen, und man also außer dem Begriffe der Natur, nicht in demselben den mindesten Grund dazu a priori allein anzutreffen hoffen dürfte.

Gleichwohl wird die teleologische Beurteilung(5), wenigstens problematisch, mit Recht zur Naturforschung gezogen; aber nur, um sie nach der Analogie mit der Kausalität nach Zwecken unter Prinzipien der Beobachtung und Nachforschung zu bringen, ohne sich anzumaßen, sie danach zu erklären. Sie gehört also zur reflektierenden, nicht zu der bestimmenden Urteilskraft. Der Begriff von Verbin-dungen und Formen der Natur nach Zwecken ist doch wenigstens ein Prinzip mehr, die Erscheinungen derselben unter Regeln zu bringen, wo die Gesetze der Kausalität nach dem bloßen Mechanism derselben nicht zulangen. Denn wir füh-ren einen teleologischen Grund an, wo wir einen Begriffe vom Objekte, als ob er in der Natur (nicht in uns) befindlich wäre, Kausalität in Ansehung eines Objektes zueignen, oder vielmehr nach der Analogie einer solchen Kausalität (dergleichen wir in uns antreffen) und die Möglichkeit des Gegenstandes vorstellen, mithin die Natur als durch eigenes Vermögen technisch denken; wogegen, wenn wir ihr nicht eine solche Wirkungsart beilegen, ihre Kausalität als blinder Mechanism vorgestellt werden müßte. Würden wir dagegen der Natur absichtlich wirken-de Ursachen unterlegen, mithin der Teleologie nicht bloß ein regulatives Prin-zip(6) für die bloße B eurteilung der Erscheinungen, denen die Natur nach ihren besonderen Gesetzen als unterworfen gedacht werden könne, sondern dadurch auch ein konstitutives Prinzip(7) der Ableitung ihrer Produkte von ihren Ur-sachen zum Grunde legen: so würde der Begriff eines Naturzwecks nicht mehr für die reflektierende, sondern die bestimmende Urteilskraft gehören; alsdann aber in der Tat gar nicht der Urteilskraft eigentümlich angehören (wie der Begriff der Schönheit als formaler subjektiver Zweckmäßigkeit), sondern als Vernunftbegriff eine neue Kausalität in der Naturwissenschaft einführen, die wir doch nur von uns selbst entlehnen und anderen Wesen beilegen, ohne sie gleichwohl mit uns als gleichartig annehmen zu wollen.

Alle geometrischen Figuren, die nach einem Prinzip gezeichnet werden, zeigen eine mannigfaltige, oft bewunderte objektive Zweckmäßigkeit, nämlich der Tauglichkeit zur Auflösung vieler Probleme nach einem einzigen Prinzip, und auch wohl eines jeden derselben auf unendlich verschiedene Art an sich. Die Zweckmäßigkeit ist hier offenbar objektiv und intellektuell, nicht aber bloß subjektiv und ästhetisch. Denn sie drückt die Angemessenheit der Figur zur Erzeugung vieler abgezweckten Gestalten aus und wird durch Vernunft erkannt. Allein die Zweckmäßigkeit macht doch den Begriff von dem Gegenstande selbst nicht möglich, d. i. er wird nicht bloß in Rücksicht auf diesen Gebrauch als möglich angesehen.

In einer so einfachen Figur, als der Zirkel ist, liegt der Grund zu einer Auflösung einer Menge von Problemen, deren jedes für sich mancherlei Zurüstung erfordern würde, und die als eine von den unendlich vielen vortrefflichen Eigenschaften die-ser Figur sich gleichsam von selbst ergibt. Ist es z. B. darum zu tun, aus der ge-gebenen Grundlinie und dem ihr gegenüberstehenden Winkel einen Triangel zu konstruieren, so ist die Aufgabe unbestimmt, d. i. sie läßt sich auf unendlich man-nigfaltige Art auflösen. Allein der Zirkel befaßt sie doch alle insgesamt, als der geo-metrische Ort für alle Dreiecke, die dieser Bedingung gemäß sind. Oder zwei Li-nien sollen sich einander so schneiden, daß das Rechteck aus den zwei Teilen der einen dem Rechteck aus den zwei Teilen der anderen gleich sei, so hat die Auflö-sung der Aufgabe dem Ansehen nach viele Schwierigkeit. Aber alle Linien, die sich innerhalb dem Zirkel, dessen Umkreis jede derselben begrenzt, schneiden, teilen sich von selbst in dieser Proportion. Die anderen krummen Linien geben wiede-rum andere zweckmäßige Auflösungen an die Hand, an die in der Regel, die ihre Konstruktion ausmacht, gar nicht gedacht war. Alle Kegelschnitte für sich und in Vergleichung miteinander sind fruchtbar an Prinzipien zur Auflösung einer Menge möglicher Probleme, so einfach auch ihre Erklärung ist, welche ihren Begriff be-stimmt. – Es ist eine wahre Freude, den Eifer der alten Geometer anzusehen, mit dem sie diesen Eigenschaften der Linie dieser Art nachforschten, ohne sich durch die Frage eingeschränkter Köpfe irre machen zu lassen, wozu denn diese Kenntnis nützen sollte? z. B. die der Parabel, ohne das Gesetz der Schwere auf der Erde zu kennen, welches ihnen die Anwendung derselben auf die Wurflinie schwerer Kör-per (deren Richtung der Schwere in ihrer Bewegung als parallel angesehen werden kann) würde an die Hand gegeben haben; oder der Ellipse, ohne zu ahnen, daß auch eine Schwere an Himmelskörpern zu finden sei, und ohne ihr Gesetz in ver-schiedenen Entfernungen vom Anziehungspunkte zu kennen, welches macht, daß sie diese Linie in freier Bewegung beschreiben. Während dessen, daß sie hierin, ihnen selbst unbewußt, für die Nachkommenschaft arbeiteten, ergötzten sie sich an einer Zweckmäßigkeit in dem Wesen der Dinge, die sie doch völlig a priori in ihrer Notwendigkeit darstellen konnten. Plato, selbst Meister in dieser Wissenschaft, ge-riet über eine solche ursprüngliche Beschaffenheit der Dinge, welche zu entdecken wir aller Erfahrung entbehren können, und über das Vermögen des Gemüts, die Harmonie der Wesen aus ihrem übersinnlichen Prinzip schöpfen zu können (wozu noch die Eigenschaften der Zahlen kommen, mit denen das Gemüt in der Musik spielt), in die Begeisterung, welche ihn über die Erfahrungsbegriffe zu Ideen erhob, die ihm nur durch eine intellektuelle Gemeinschaft mit dem Ursprunge aller Wesen erklärlich zu sein schien. Kein Wunder, daß er den der Meßkunst Unkundigen aus seiner Schule verwies, indem er das, was Anaxagoras aus Erfahrungsgegenständen und ihrer Zweckverbindung schloß, aus der reinen, dem menschlichen Geiste in-nerlich beiwohnenden Anschauung abzuleiten dachte. Denn in der Notwendigkeit dessen, was zweckmäßig ist und so beschaffen ist, als ob es für unseren Gebrauch absichtlich so eingerichtet wäre, gleichwohl aber dem Wesen der Dinge ursprüng-lich zuzukommen scheint, ohne auf unseren Gebrauch Rücksicht zu nehmen, liegt eben der Grund der großen Bewunderung der Natur, nicht sowohl außer uns, als in unserer eigenen Vernunft; wobei es wohl verzeihlich ist, daß diese Bewunderung durch Mißverstand nach und nach bis zur Schwärmerei steigen mochte.

Diese intellektuelle Zweckmäßigkeit aber, ob sie gleich objektiv ist (nicht, wie die ästhetische, subjektiv), läßt sich gleichwohl ihrer Möglichkeit nach als bloß formale (nicht reale), d. i. als Zweckmäßigkeit, ohne daß doch ein Zweck ihr zum Grunde zu legen, mithin Teleologie dazu nötig wäre, gar wohl, aber nur im allgemeinen, begreifen. Die Zirkelfigur ist eine Anschauung, die durch den Verstand nach einem Prinzip bestimmt worden: die Einheit dieses Prinzips, welches ich willkürlich an-nehme und als Begriff zum Grunde lege, angewandt auf eine Form der Anschauung (den Raum), die gleichfalls bloß als Vorstellung und zwar a priori in mir angetroffen wird, macht die Einheit vieler sich aus der Konstruktion jenes Begriffs ergebender Regeln, die in mancherlei möglicher Absicht zweckmäßig sind, begreiflich, ohne dieser Zweckmäßigkeit einen Zweck oder irgend einen anderen Grund derselben unterlegen zu dürfen. Es ist hiermit nicht so bewandt, als wenn ich in einem in ge-wisse Grenzen eingeschlossenen Inbegriff von Dingen außer mir, z. B. einem Garten, Ordnung und Regelmäßigkeit der Bäume, Blumenbeete, Gänge usw. anträ-fe, welche ich a priori aus meiner nach einer beliebigen Regel gemachten Umgren-zung eines Baumes zu folgern nicht hoffen kann; weil es existierende Dinge sind, die empirisch gegeben sein müssen, um erkannt werden zu können, und nicht eine bloße nach einem Prinzip a priori bestimmte Vorstellung in mir. Daher die letztere (empirische) Zweckmäßigkeit als real von dem Begriffe eines Zwecks abhängig ist.

Aber auch der Grund der Bewunderung einer, obzwar in dem Wesen der Dinge (sofern ihre Begriffe konstruiert werden können) wahrgenommen, Zweckmäßig-keit läßt sich sehr wohl und zwar als rechtmäßig einsehen. Die mannigfaltigen Re-geln, deren Einheit (aus einem Prinzip) diese Bewunderung erregt, sind insgesamt synthetisch(8) und folgen nicht aus einem B egriffe des Objekts, z. B. des Zirkels, sondern bedürfen es, daß dieses Objekt in der Anschauung gegeben sei. Dadurch aber bekommt diese Einheit das Ansehen, als ob sie empirisch einen von unserer Vorstellungskraft unterschiedenen äußeren Grund der Regeln habe, und also die Übereinstimmung des Objekts zu dem Bedürfnis der Regeln, welches dem Verstan-de eigen ist, an sich zufällig, mithin nur durch einen ausdrücklich darauf gerichte-ten Zweck möglich sei. Nun sollte uns zwar eben diese Harmonie, weil sie, aller die-ser Zweckmäßigkeit ungeachtet, dennoch nicht empirisch, sondern a priori erkannt wird, von selbst darauf bringen, daß der Raum, durch dessen Bestimmung (ver-mittelst der Einbildungskraft gemäß einem Begriffe) das Objekt allein möglich war, nicht eine Beschaffenheit der Dinge außer mir, sondern eine bloße Vorstellungsart in mir sei, und ich also in die Figur, die ich einem B egriffe angemessen zeichne, d. i. in meine eigene Vorstellungsart von dem, was mir äußerlich, es sei an sich, was es wolle, gegeben wird, die Zweckmäßigkeit hineinbringe, nicht von diesem über dieselbe empirisch belehrt werde, folglich zu jener keinen beson-deren Zweck außer mir am Objekte bedürfe. Weil aber diese Überlegung schon einen kritischen Gebrauch der Vernunft erfordert, mithin in der Beurteilung des Gegenstandes nach seinen Eigenschaften nicht sofort mit enthalten sein kann: so gibt mir die letztere unmittelbar nichts als Vereinigung heterogener Regeln (sogar nach dem, was sie Ungleichartiges an sich haben) in einem Prinzip an die Hand, welches, ohne einen außer meinem Begriffe und überhaupt meiner Vorstellung a priori liegenden besonderen Grund dazu zu fordern, dennoch von mir a priori als wahrhaft erkannt wird. Nun ist die Ver wunderung ein Anstoß des Gemüts an der Unvereinbarkeit einer Vorstellung und der durch sie gegebenen Regel mit den schon in ihm zum Grunde liegenden Prinzipien, welcher also einen Zweifel, ob man auch recht gesehen oder geurteilt habe, hervorbringt; B ewunderung aber eine immer wiederkommende Verwunderung, ungeachtet der Verschwindung die-ses Zweifels. Folglich ist die letzte eine ganz natürliche Wirkung jener beobachte-ten Zweckmäßigkeit in dem Wesen der Dinge (als Erscheinungen), die auch sofern nicht getadelt werden kann, indem die Vereinbarung jener Form der sinnlichen Anschauung (welche der Raum heißt) mit dem Vermögen der Begriffe (dem Ver-stande) nicht allein deswegen, daß sie gerade diese und keine andere ist, uns uner-klärlich, sondern überdem noch für das Gemüt erweiternd ist, noch etwas über jene sinnlichen Vorstellungen Hinausliegendes gleichsam zu ahnen, worin, obzwar uns unbekannt, der letzte Grund jener Einstimmung angetroffen werden mag. Diesen zu kennen, haben wir zwar auch nicht nötig, wenn es bloß um formale Zweckmä-ßigkeit unserer Vorstellungen a priori zu tun ist; aber auch nur da hinaussehen zu müssen, flößt für den Gegenstand, der uns dazu nötigt, zugleich Bewunderung ein.

Man ist gewohnt, die erwähnten Eigenschaften sowohl der geometrischen Ge-stalten als auch wohl der Zahlen, wegen einer gewissen, aus der Einfachheit ihrer Konstruktion nicht erwarteten Zweckmäßigkeit derselben a priori zu allerlei Er-kenntnisgebrauch, Schönheit zu nennen, und spricht z. B. von dieser oder jener schönen Eigenschaft des Zirkels, welche auf diese oder jene Art entdeckt wäre. Allein es ist keine ästhetische Beurteilung, durch die wir sie zweckmäßig finden, keine Beurteilung ohne Begriff, die eine bloße subjektive Zweckmäßigkeit im freien Spiele unserer Erkenntnisvermögen bemerklich macht: sondern eine intel-lektuelle nach Begriffen, welche eine objektive Zweckmäßigkeit, d. i. Tauglichkeit zu allerlei (ins Unendliche mannigfaltigen) Zwecken deutlich zu erkennen gibt. Man müßte sie eher eine relative Vollkommenheit als eine Schönheit der ma-thematischen Figur nennen. Die Benennung einer intellektuellen Schönheit kann auch überhaupt nicht füglich erlaubt werden: weil sonst das Wort Schönheit alle bestimmte Bedeutung oder das intellektuelle Wohlgefallen allen Vorzug vor dem sinnlichen verlieren müßte. Eher würde man eine Demonstration sol-cher Eigenschaften, weil durch diese der Verstand als Vermögen der Begriffe und die Einbildungskraft, als Vermögen der Darstellung derselben, a priori sich gestärkt fühlen (welches mit der Präzision, die die Vernunft hineinbringt, zusammen die Eleganz derselben genannt wird), schön nennen können; indem hier doch wenigs-tens das Wohlgefallen, obgleich der Grund desselben in Begriffen liegt, subjektiv ist, da die Vollkommenheit ein objektives Wohlgefallen bei sich führt. § 63 Von der relativen Zweckmäßigkeit der Natur zum Unterschiede von der inneren.

Die Erfahrung leitet unsere Urteilskraft auf den Begriff einer objektiven und ma-terialen Zweckmäßigkeit, d. i. auf den Begriff eines Zwecks der Natur nur alsdann, wenn ein Verhältnis der Ursache zur Wirkung zu beurteilen ist9, welches wir als gesetzlich einzusehen uns nur dadurch vermögend finden, daß wir die Idee der Wirkung der Kausalität ihrer Ursache als die dieser selbst zum Grunde liegende Bedingung der Möglichkeit der ersteren unterlegen. Dieses kann aber auf zweifache Weise geschehen: entweder, indem wir die Wirkung unmittelbar als Kunstprodukt, oder nur als Material für die Kunst anderer möglichen Naturwesen, also entweder als Zweck oder als Mittel zum zweckmäßigen Gebrauch anderer Ursachen ansehen. Die letztere Zweckmäßigkeit heißt die Nutzbarkeit (für Menschen), oder auch Zu-träglichkeit (für jedes andere Geschöpf), und ist bloß relativ; indes die erstere eine innere Zweckmäßigkeit des Naturwesens ist.

Die Flüsse führen z. B. allerlei zum Wachstum der Pflanzen dienliche Erde mit sich fort, die sie bisweilen mitten im Lande, oft auch an ihren Mündungen absetzen. Die Flut führt diesen Schlick an manchen Küsten über das Land oder setzt ihn an dessen Ufer ab; und wenn vornehmlich Menschen dazu helfen, damit die Ebbe ihn nicht wieder wegführe, so nimmt das fruchtbare Land zu, und das Gewächsreich gewinnt da Platz, wo vorher Fische und Schalentiere ihren Aufenthalt gehabt hatten. Die meis-ten Landeserweiterungen auf diese Art hat wohl die Natur selbst verrichtet, und fährt damit auch noch, obzwar langsam, fort. – Nun fragt sich, ob dies als ein Zweck der Natur zu beurteilen sei, weil es eine Nutzbarkeit für Menschen enthält; denn die für das Gewächsreich selber kann man nicht in Anschlag bringen, weil dagegen eben so viel den Meergeschöpfen entzogen wird, als dem Lande Vorteil zuwächst.

Oder um ein Beispiel von der Zuträglichkeit gewisser Naturdinge als Mittel für andere Geschöpfe (wenn man sie als Zwecke voraussetzt) zu geben, so ist kein Bo-den den Fichten gedeihlicher als ein Sandboden. Nun hat das alte Meer, ehe es sich vom Lande zurückzog, so viele Sandstriche in unseren nördlichen Gegenden zu-rückgelassen, daß auf diesem für alle Kultur sonst so unbrauchbaren Boden weit-läufige Fichtenwälder haben aufschlagen können, wegen deren unvernünftiger Aus-rottung wir häufig unsere Vorfahren anklagen; und da kann man fragen, ob diese uralte Absetzung der Sandschichten ein Zweck der Natur war zum Behuf der darauf möglichen Fichtenwälder. So viel ist klar, daß, wenn man diese als Zweck der Natur annimmt, man jenen Sand auch, aber nur als relativen Zweck einräumen müsse, wozu wiederum der alte Meeresstrand und dessen Zurückziehen das Mittel war; denn in der Reihe der einander subordinierten Glieder einer Zweckverbindung muß ein jedes Mittelglied als Zweck (obgleich eben nicht als Endzweck) betrachtet werden wozu seine nächste Ursache das Mittel ist. Ebenso, wenn einmal Rindvieh, Schafe, Pferde usw. in der Welt sein sollten, so mußte Gras auf Erden, aber es muß-ten auch Salzkräuter in Sandwüsten wachsen, wenn Kamele gedeihen sollten, oder auch diese und andere grasfressende Tierarten in Menge anzutreffen sein, wenn es Wölfe, Tiger und Löwen geben sollte. Mithin ist die objektive Zweckmäßigkeit der Dinge an sich selbst, als ob der Sand für sich, als Wirkung aus seiner Ursache, dem Meere, nicht könnte begriffen werden, ohne dem letzteren einen Zweck unterzule-gen und ohne die Wirkung, nämlich den Sand, als Kunstwerk zu betrachten. Sie ist eine bloß relative, dem Dinge selbst, dem sie beigelegt wird, bloß zufällige Zweck-mäßigkeit; und obgleich unter den angeführten Beispielen die Grasarten für sich, als organisierte(10) Produkte der Natur, mithin als kunstreich zu beurteilen sind, so werden sie doch in Beziehung auf Tiere, die sich davon nähren, als bloße rohe Ma-terie angesehen.

Wenn aber vollends der Mensch, durch Freiheit seiner Kausalität, die Naturdinge zu seinen oft törichten Absichten (die bunten Vogelfedern zum Putzwerk seiner Be-kleidung, farbige Erden oder Pflanzensäfte zur Schminke), manchmal auch aus ver-nünftiger Absicht, das Pferd zum Reiten, den Stier und in Minorca sogar den Esel und das Schwein zum Pflügen zuträglicher findet: so kann man hier auch nicht ein-mal einen relativen Naturzweck(11) (auf diesen Gebrauch) annehmen. Denn seine Vernunft weiß den Dingen eine Übereinstimmung mit seinen willkürlichen Einfäl-len, wozu er selbst nicht einmal von Natur prädestiniert war, zu geben. Nur wenn man annimmt, Menschen haben auf Erde leben sollen, so müssen doch wenigstens die Mittel, ohne die sie als Tiere und selbst als vernünftige Tiere (in wie niedrigem Grade es auch sei) nicht bestehen konnten, auch nicht fehlen; alsdann aber würden diejenigen Naturdinge, die zu diesem Behufe unentbehrlich sind, auch als Natur-zwecke angesehen werden müssen.

Man sieht hieraus leicht ein, daß die äußere Zweckmäßigkeit (Zuträglichkeit ei-nes Dinges für andere) nur unter der Bedingung, daß die Existenz desjenigen, dem es zunächst oder auf entfernte Weise zuträglich ist, für sich selbst Zweck der Natur sei, für einen äußeren Naturzweck angesehen werden könne. Da jenes aber durch bloße Naturbetrachtung nimmermehr auszumachen ist, so folgt, daß die relative Zweckmäßigkeit, ob sie gleich hypothetisch auf Naturzwecke Anzeige gibt, den-noch zu keinem absoluten teleologischen Urteil berechtige.

Der Schnee sichert die Saaten in kalten Ländern wider den Frost; er erleichtert die Gemeinschaft der Menschen (durch Schlitten); der Lappländer findet dort Tiere, die diese Gemeinschaft bewirken (Renntiere), die an einem dürren Moose, welches sie sich selbst unter dem Schnee hervorscharren müssen, hinreichend Nahrung fin-den und gleichwohl sich leicht zähmen und der Freiheit, in der sie sich gar wohl erhalten könnten, willig berauben lassen. Für andere Völker in derselben Eiszone enthält das Meer reichen Vorrat an Tieren, die außer der Nahrung und Kleidung, die sie liefern, und dem Holze, welches ihnen das Meer zu Wohnungen gleichsam hinflößt, ihnen noch Brennmaterien zur Erwärmung ihrer Hütten liefern. Hier ist nun eine bewundernswürdige Zusammenkunft von so vielen Beziehungen der Na-tur auf einen Zweck; und dieser ist der Grönländer, der Lappe, der Samojede, der Jakute usw. Aber man sieht nicht, warum überhaupt Menschen dort leben müssen. Also sagen, daß darum Dünste aus der Luft in der Form des Schnees herunter-fallen, das Meer seine Ströme habe, welche das in wärmeren Ländern gewachsene Holz dahinschwemmen, und große mit Öl angefüllte Seetiere da sind, weil der Ursache, die alle die Naturprodukte herbeischafft, die Idee eines Vorteils für ge-wisse armselige Geschöpfe zum Grunde liege, wäre ein sehr gewagtes und willkürli-ches Urteil. Denn wenn alle diese Naturnützlichkeit auch nicht wäre, so würden wir nichts an der Zulänglichkeit der Naturursachen zu dieser Beschaffenheit vermissen; vielmehr eine solche Anlage auch nur zu verlangen und der Natur einen solchen Zweck zuzumuten (da ohne das nur die größte Unverträglichkeit der Menschen unter einander sie bis in so unwirtbare Gegenden hat versprengen können), würde uns selbst vermessen und unüberlegt zu sein dünken. § 64 Von dem eigentümlichen Charakter der Dinge als Naturzwecke.

Um einzusehen, daß ein Ding nur als Zweck möglich sei, d. h. die Kausalität seines Ursprungs nicht im Mechanism der Natur, sondern in einer Ursache, deren Ver-mögen zu wirken durch Begriffe bestimmt wird, suchen zu müssen, dazu wird er-fordert: daß seine Form nicht nach bloßen Naturgesetzen möglich sei, d. i. solchen, welche von uns durch den Verstand allein, auf Gegenstände der Sinne angewandt, erkannt werden können; sondern daß selbst ihr empirisches Erkenntnis, ihrer Ursa-che und Wirkung nach, Begriffe der Vernunft voraussetze. Diese Zufälligkeit seiner Form bei allen empirischen Naturgesetzen in Beziehung auf die Vernunft, da die Vernunft, welche an einer jeden Form eines Naturprodukts auch die Not-wendigkeit derselben erkennen muß, wenn sie auch nur die mit seiner Erzeugung verknüpften Bedingungen einsehen will, gleichwohl aber an jener gegebenen Form diese Notwendigkeit nicht annehmen kann, ist selbst ein Grund, die Kausalität des-selben so anzunehmen, als ob sie eben darum nur durch Vernunft möglich sei; diese aber ist alsdann das Vermögen, nach Zwecken zu handeln (ein Wille); und das Ob-jekt, welches nur als aus diesem möglich vorgestellt wird, würde nur als Zweck für möglich vorgestellt werden.

Wenn jemand in einem ihm unbewohnt scheinenden Lande eine geometrische Figur, allenfalls ein reguläres Sechseck im Sande gezeichnet wahrnähme, so wür-de seine Reflexion, indem sie an einem Begriffe derselben arbeitet, der Einheit des Prinzips der Erzeugung desselben, wenn gleich dunkel, vermittelst der Vernunft inne werden und so dieser gemäß den Sand, das benachbarte Meer, die Winde, oder auch Tiere mit ihren Fußtritten, die er kennt, oder jede andere vernunftlose Ursache nicht als einen Grund der Möglichkeit einer solchen Gestalt beurteilen; weil ihm die Zufälligkeit, mit einem solchen Begriffe, der nur in der Vernunft mög-lich ist, zusammenzutreffen, so unendlich groß erscheinen würde, daß es ebensogut wäre, als ob es dazu gar kein Naturgesetz gebe, daß folglich auch keine Ursache in der bloß mechanisch wirkenden Natur, sondern nur der Begriff von einem solchen Objekt als Begriff, den nur Vernunft geben und mit demselben den Gegenstand vergleichen kann, auch die Kausalität zu einer solchen Wirkung enthalten, folglich diese durchaus als Zweck, aber nicht Naturzweck, d. i. als Produkt der Kunst an-gesehen werden könne ( vestigium hominis video (12)).

Um aber etwas, das man als Naturprodukt erkennt, gleichwohl doch auch als Zweck, mithin als Naturzweck zu beurteilen, dazu, wenn nicht etwa hierin gar ein Widerspruch liegt, wird schon mehr erfordert. Ich würde vorläufig sagen: ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst (obgleich in zwie-fachem Sinne) Ursache und Wirkung ist; denn hierin liegt eine Kausalität, der-gleichen mit dem bloßen Begriffe einer Natur, ohne ihr einen Zweck unterzulegen, nicht verbunden, aber auch alsdann zwar ohne Widerspruch gedacht, aber nicht be-griffen werden kann. Wir wollen die Bestimmung dieser Idee von einem Naturzwe-cke zuvörderst durch ein Beispiel erläutern, ehe wir sie völlig auseinandersetzen.

Ein Baum zeugt erstlich einen anderen Baum nach einem bekannten Naturgeset-ze. Der Baum aber, den er erzeugt, ist von derselben Gattung; und so erzeugt er sich selbst der Gattung nach, in der er einerseits als Wirkung, andererseits als Ursache von sich selbst unaufhörlich hervorgebracht und ebenso sich selbst oft hervorbrin-gend, sich als Gattung beständig erhält.

Zweitens erzeugt ein Baum sich auch selbst als Individuum. Diese Art von Wirkung nennen wir zwar nur das Wachstum; aber dieses ist in solchem Sinne zu nehmen, daß es von jeder anderen Größenzunahme nach mechanischen Gesetzen gänzlich unterschieden und einer Zeugung, wiewohl unter einem anderen Namen, gleich zu achten ist. Die Materie, die er zu sich hinzusetzt, verarbeitet dieses Ge-wächs vorher zu spezifisch-eigentümlicher Qualität, welche der Naturmechanism außer ihm nicht liefern kann, und bildet sich selbst weiter aus, vermittelst eines Stoffes, der seiner Mischung nach sein eigenes Produkt ist. Denn ob er zwar, was die Bestandteile betrifft, die er von der Natur außer ihm erhält, nur als Edukt angesehen werden muß, so ist doch in der Scheidung und neuen Zusammensetzung dieses rohen Stoffs eine solche Originalität der des Scheidungs- und Bildungsvermögens dieser Art Naturwesen anzutreffen, daß alle Kunst davon unendlich weit entfernt bleibt, wenn sie es versucht, aus den Elementen, die sie durch Zergliederung dersel-ben erhält, oder auch dem Stoff, den die Natur zur Nahrung derselben liefert, jene Produkte des Gewächsreichs wiederherzustellen.

Drittens erzeugt ein Teil dieses Geschöpfs auch sich selbst so, daß die Erhal-tung des einen von der Erhaltung der anderen wechselweise abhängt. Das Auge an einem Baumblatt, dem Zweige eines anderen eingeimpft, bringt an einem fremd-artigen Stocke ein Gewächs von seiner eigenen Art hervor, und ebenso das Pfropf-reis(13) auf einem anderen Stamme. Daher kann man auch an demselben Baume jeden Zweig oder Blatt als bloß auf diesen gepfropft oder okuliert, mithin als einen für sich selbst bestehenden Baum, der sich nur an einen anderen anhängt und para-sitisch nährt, ansehen. Zugleich sind die Blätter zwar Produkte des Baums, erhalten aber diesen doch auch gegenseitig; denn die wiederholte Entblätterung würde ihn töten, und sein Wachstum hängt von ihrer Wirkung auf den Stamm ab. Der Selbst-hilfe der Natur in diesen Geschöpfen bei ihrer Verletzung, wo der Mangel eines Teils der zur Erhaltung der benachbarten gehörte, von den übrigen ergänzt wird, der Mißgeburten oder Mißgestalten im Wachstum, da gewisse Teile wegen vorkom-mender Mängel oder Hindernisse sich auf ganz neue Art formen, um das, was da ist, zu erhalten und ein anomalisches Geschöpf hervorzubringen: will ich hier nur im Vorbeigehen erwähnen, ungeachtet sie unter die wundersamsten Eigenschaften organisierter Geschöpfe gehören.

Nach dem im vorigen Paragraphen angeführten Charakter muß ein Ding, welches, als Naturprodukt, doch zugleich nur als Naturzweck möglich erkannt werden soll, sich zu sich selbst wechselseitig als Ursache und Wirkung verhalten, welches ein et-was uneigentlicher und unbestimmter Ausdruck ist, der einer Ableitung von einem bestimmten Begriffe bedarf.

Die Kausalverbindung, sofern sie bloß durch den Verstand gedacht wird, ist eine Verknüpfung, die eine Reihe (von Ursachen und Wirkungen) ausmacht, welche immer abwärts geht; und die Dinge selbst, welche aus Wirkungen andere als Ursa-che voraussetzen, können von diesen nicht gegenseitig zugleich Ursache sein. Die-se Kausalverbindung nennt man die der wirkenden Ursachen (nexus effectivus) . Dagegen aber kann doch auch eine Kausalverbindung nach einem Vernunftbe-griffe (von Zwecken) gedacht werden, welche, wenn man sie als Reihe betrachtete, sowohl abwärts als aufwärts Abhängigkeit bei sich führen würde, in der das Ding, welches einmal als Wirkung bezeichnet ist, dennoch aufwärts den Namen einer Ursache desjenigen Dinges verdient, wovon es die Wirkung ist. Im Praktischen (nämlich der Kunst) findet man leicht dergleichen Verknüpfung, wie z. B. das Haus zwar die Ursache der Gelder ist, die für Miete eingenommen werden, aber doch auch umgekehrt die Vorstellung von diesem möglichen Einkommen die Ursache der Erbauung des Hauses war. Eine solche Kausalverknüpfung wird die der End-ursachen (nexus finalis) genannt. Man könnte die erstere vielleicht schicklicher die Verknüpfung der realen, die zweite der idealen Ursachen nennen, weil bei dieser Benennung zugleich begriffen wird, daß es nicht mehr als diese zwei Arten der Kausalität geben könne.

Zu einem Dinge als Naturzwecke wird nun ersichtlich erfordert, daß die Teile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch die Beziehung auf das Ganze mög-lich sind. Denn das Ding selbst ist ein Zweck, folglich unter einem Begriffe oder einer Idee befaßt, die alles, was in ihm enthalten sein soll, a priori bestimmen muß. Sofern aber ein Ding nur auf diese Art als möglich gedacht wird, ist es bloß ein Kunstwerk, d. i. das Produkt einer von der Materie (den Teilen) desselben unter-schiedenen vernünftigen Ursache, deren Kausalität (in Herbeischaffung und Ver-bindung der Teile) durch ihre Idee von einem dadurch möglichen Ganzen (mithin nicht durch die Natur außer ihr) bestimmt wird.

Soll aber ein Ding als Naturprodukt in sich selbst und seiner inneren Möglich-keit doch eine Beziehung auf Zwecke enthalten, d. i. nur als Naturzweck und ohne die Kausalität der Begriffe von vernünftigen Wesen außer ihm möglich sein, so wird zweitens dazu erfordert, daß die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wir-kung ihrer Form sind. Denn auf solche Weise ist es allein möglich, daß umgekehrt (wechselseitig) die Idee des Ganzen wiederum die Form und Verbindung aller Teile bestimme: nicht als Ursache – denn da wäre es ein Kunstprodukt –, sondern als Erkenntnisgrund der systematischen Einheit der Form und Verbindung alles Mannigfaltigen, was in der gegebenen Materie enthalten ist, für den, der es be-urteilt.

Zu einem Körper also, der an sich und seiner inneren Möglichkeit nach als Natur-zweck beurteilt werden soll, wird erfordert, daß die Teile desselben einander insge-samt ihrer Form sowohl als Verbindung nach, wechselseitig und so ein Ganzes aus eigener Kausalität hervorbringen, dessen Begriff wiederum umgekehrt (in einem Wesen, welches die einem solchen Produkt angemessene Kausalität nach Begriffen besäße) Ursache von demselben nach einem Prinzip sei, folglich die Verknüpfung der wirkenden Ursachen zugleich als Wirkung durch Endursachen be-urteilt werden könnte.

In einem solchen Produkte der Natur wird ein jeder Teil, so wie er nur durch alle übrigen da ist, als auch um der anderen und des Ganzen willen existie-rend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht; welches aber nicht genug ist (denn er könnte auch Werkzeug der Kunst und so nur als Zweck überhaupt möglich vorge-stellt werden), sondern als ein die anderen Teile (folglich jeder den anderen wech-selseitig) her vorbringendes Organ, dergleichen kein Werkzeug der Kunst, sondern nur der allen Stoff zu Werkzeugen (selbst denen der Kunst) liefernden Natur sein kann; und nur dann und darum wird ein solches Produkt als orga-nisiertes und sich selbst organisierendes Wesen ein Naturzweck ge-nannt werden können.

In einer Uhr ist ein Teil das Werkzeug der Bewegung der anderen, aber nicht ein Rad die wirkende Ursache der Hervorbringung des anderen; ein Teil ist zwar um des anderen willen, aber nicht durch denselben da. Daher ist auch die hervor-bringende Ursache derselben und ihrer Form nicht in der Natur (dieser Materie), sondern außer ihr in einem Wesen, welches nach Ideen eines durch seine Kausalität möglichen Ganzen wirken kann, enthalten. Daher bringt auch so wenig, wie ein Rad in der Uhr das andere, noch weniger eine Uhr andere Uhren hervor, so daß sie andere Materie dazu benutzte (sie organisierte); daher ersetzt sie auch nicht von selbst die ihr entwandten Teile, oder vergütet ihren Mangel in der ersten Bildung durch den Beitritt der übrigen, oder bessert sich etwa selbst aus, wenn sie in Unord-nung geraten ist: welches alles wir dagegen von der organisierten Natur erwarten können. – Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine, denn die hat ledig-lich bewegende Kraft, sondern es besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine sol-che, die es den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert), also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanism) nicht erklärt werden kann.

Man sagt von der Natur und ihrem Vermögen in organisierten Produkten bei weitem zu wenig, wenn man dieses ein Analogon der Kunst nennt; denn da denkt man sich den Künstler außer ihr. Sie organisiert sich vielmehr selbst und in jeder Spezies ihrer organisierten Produkte, zwar nach einerlei Exemplar im Ganzen, aber doch auch mit schicklichen Abweichungen, die die Selbsterhaltung nach den Umständen erfordert. Näher tritt man vielleicht dieser unerforschten Eigenschaft, wenn man sie ein Analogon des Lebens nennt; aber da muß man entweder die Materie als bloße Materie mit einer Eigenschaft (Hylozoism(14)) begaben, die ihrem Wesen widerstreitet; oder ihr ein fremdartiges, mit ihr in Ge-meinschaft stehendes Prinzip (eine Seele) beigesellen, wozu man aber, wenn ein solches Produkt ein Naturprodukt sein soll, organisierte Materie als Werkzeug jener Seele entweder schon voraussetzt und jene also nicht im mindesten begreif-licher macht, oder die Seele zur Künstlerin dieses Bauwerks machen und so das Produkt der Natur (der körperlichen) entziehen muß. Genau zu reden, hat also die Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgend einer Kausalität, die wir kennen.15 Schönheit der Natur, weil sie den Gegenständen nur in Beziehung auf die Reflexion über die äußere Anschauung derselben, mithin nur der Form der Oberfläche wegen beigelegt wird, kann mit Recht ein Analogon der Kunst genannt werden. Aber eine innere Natur vollkommenheit, wie sie diejenigen Dinge besitzen, welche nur als Naturzwecke möglich sind und darum organisierte Wesen heißen, ist nach keiner Analogie irgend eines uns bekannten physischen, d. i. Naturvermögens, ja, da wir selbst zur Natur im weitesten Verstande gehö-ren, selbst nicht einmal durch eine genau angemessene Analogie mit menschlicher Kunst denkbar und erklärlich.

Der Begriff eines Dinges, als an sich Naturzwecks ist also kein konstitutiver Be-griff des Verstandes oder der Vernunft, kann aber doch ein regulativer Begriff für die reflektierende Urteilskraft sein, nach einer entfernten Analogie mit unserer Kausalität nach Zwecken überhaupt die Nachforschung über Gegenstände dieser Art zu leiten und über ihren obersten Grund nachzudenken; das letztere zwar nicht zum Behuf der Kenntnis der Natur oder jenes Urgrundes derselben, sondern viel-mehr eben desselben praktischen Vernunftvermögens in uns, mit welchem wir die Ursache jener Zweckmäßigkeit in Analogie betrachteten.

Organisierte Wesen sind also die einzigen in der Natur, welche, wenn man sie auch für sich und ohne ein Verhältnis auf andere Dinge betrachtet, doch nur als Zwecke derselben möglich gedacht werden müssen, und die also zuerst dem Begrif-fe eines Zwecks, der nicht ein praktischer, sondern Zweck der Natur ist, objek-tive Realität und dadurch für die Naturwissenschaft den Grund zu einer Teleologie, d. i. einer Beurteilungsart ihrer Objekte nach einem besonderen Prinzip beschaffen, dergleichen man in sie einzuführen (weil man die Möglichkeit einer solchen Art Kausalität gar nicht a priori einsehen kann) sonst schlechterdings nicht berechtigt sein würde.

Dieses Prinzip, zugleich die Definition derselben, heißt: Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechsel-seitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben.

Dieses Prinzip ist zwar seiner Veranlassung nach von Erfahrung abzuleiten, näm-lich derjenigen, welche methodisch angestellt wird und Beobachtung heißt; der Allgemeinheit und Notwendigkeit wegen aber, die es von einer solchen Zweckmä-ßigkeit aussagt, kann es nicht bloß auf Erfahrungsgründen beruhen, sondern muß irgend ein Prinzip a priori, wenn es gleich bloß regulativ wäre, und jene Zwecke allein in der Idee des Beurteilenden und nirgend in einer wirkenden Ursache lägen, zum Grunde haben. Man kann daher oben genanntes Prinzip eine Maxime der Beurteilung der inneren Zweckmäßigkeit organisierter Wesen nennen.

Daß die Zergliederer der Gewächse und Tiere, um ihre Struktur erforschen und die Gründe einsehen zu können, warum und zu welchem Ende solche Teile, warum eine solche Lage und Verbindung der Teile und gerade diese innere Form ihnen gegeben worden, jene Maxime: daß nichts in einem solchen Geschöpf umsonst sei, als unumgänglich notwendig annehmen, und sie ebenso, als den Grundsatz der allgemeinen Naturlehre daß nichts von ungefähr geschehe, geltend machen, ist bekannt. In der Tat können sie sich auch von diesem teleologischen Grundsatz eben so wenig lossagen, als von dem allgemeinen physischen, weil, so wie bei Ver-lassung des letzteren gar keine Erfahrung überhaupt, so bei der des ersteren Grund-satzes kein Leitfaden für die Beobachtung einer Art von Naturdingen, die wir ein-mal teleologisch unter dem Begriffe der Naturzwecke gedacht haben, übrig bleiben würde.

Denn dieser Begriff führt die Vernunft in eine ganz andere Ordnung der Dinge als die eines bloßen Mechanism der Natur, der uns hier nicht mehr genugtun will. Eine Idee soll der Möglichkeit des Naturprodukts zum Grunde liegen. Weil diese aber eine absolute Einheit der Vorstellung ist, statt daß die Materie eine Vielheit der Dinge ist, die für sich keine bestimmte Einheit der Zusammensetzung an die Hand geben kann, so muß, wenn jene Einheit der Idee sogar als Bestimmungsgrund a priori eines Naturgesetzes der Kausalität einer solchen Form des Zusammenge-setzten dienen soll, der Zweck der Natur auf alles, was in ihrem Produkte liegt, erstreckt werden. Denn wenn wir einmal dergleichen Wirkung im Ganzen auf einen übersinnlichen Bestimmungsgrund über den blinden Mechanism der Natur hinaus beziehen, müssen wir sie auch ganz nach diesem Prinzip beurteilen; und es ist kein Grund da, die Form eines solchen Dings noch zum Teil vom letzteren als abhängig anzunehmen, da alsdann bei der Vermischung ungleichartiger Prinzipien gar keine sichere Regel der Beurteilung übrig bleiben würde.

Es mag immer sein, daß z. B. in einem tierischen Körper manche Teile als Kon-kretionen nach bloß mechanischen Gesetzen begriffen werden könnten (als Häute, Knochen, Haare). Doch muß die Ursache, welche die dazu schickliche Materie herbeischafft, diese so modifiziert, formt und an ihren gehörigen Stellen absetzt, immer teleologisch beurteilt werden, so daß alles in ihm als organisiert betrachtet werden muß, und alles auch in gewisser Beziehung auf das Ding selbst wiederum Organ ist. § 67 Vom Prinzip der teleologischen Beurteilung der Natur überhaupt als System der Zwecke.

Wir haben oben von der äußeren Zweckmäßigkeit der Naturdinge gesagt, daß sie keine hinreichende Berechtigung gebe, sie zugleich als Zwecke der Natur zu Erklä-rungsgründen ihres Daseins und die zufällig zweckmäßigen Wirkungen derselben in der Idee zu Gründen ihres Daseins nach dem Prinzip der Endursachen zu brau-chen. So kann man die Flüsse, weil sie die Gemeinschaft im Inneren der Länder unter Völkern befördern, die Gebirge, weil sie zu diesen die Quellen und zur Er-haltung derselben den Schneevorrat für die regenlose Zeiten enthalten, imgleichen den Abhang der Länder, der diese Gewässer abführt und das Land trocken wer-den läßt, darum nicht sofort für Naturzwecke halten: weil, obzwar diese Gestalt der Oberfläche der Erde zur Entstehung und Erhaltung des Gewächs- und Tierreichs sehr nötig war, sie doch nichts an sich hat, zu dessen Möglichkeit man sich genötigt sähe, eine Kausalität nach Zwecken anzunehmen. Eben das gilt von Gewächsen, die der Mensch zu seiner Notdurft oder Ergötzung nutzt, von Tieren, dem Kamele, dem Rinde, dem Pferde, Hunde usw., die er teils zu seiner Nahrung, teils seinem Dienst so vielfältig gebrauchen und großtenteils gar nicht entbehren kann. Von Dingen, deren keines für sich als Zweck anzusehen man Ursache hat, kann das äußere Ver-hältnis nur hypothetisch für zweckmäßig beurteilt werden.

Ein Ding seiner inneren Form halber als Naturzweck beurteilen, ist ganz etwas anderes, als die Existenz dieses Dinges für Zwecke der Natur halten. Zu der letzte-ren Behauptung bedürfen wir nicht bloß den Begriff von einem möglichen Zweck, sondern die Erkenntnis des Endzwecks (scopus) der Natur, welches eine Beziehung derselben auf etwas Übersinnliches bedarf, die alle unsere teleologische Naturer-kenntnis weit übersteigt; denn der Zweck der Existenz der Natur selbst muß über die Natur hinaus gesucht werden. Die innere Form eines bloßen Grashalms kann seinen bloß nach der Regel der Zwecke möglichen Ursprung für unser mensch-liches Beurteilungsvermögen hinreichend beweisen. Geht man aber davon ab und sieht nur auf den Gebrauch, den andere Naturwesen davon machen, verläßt also die Betrachtung der inneren Organisation und sieht nur auf äußere zweckmäßige Beziehungen, wie das Gras dem Vieh, wie dieses dem Menschen als Mittel zu seiner Existenz nötig sei, und man sieht nicht, warum es denn nötig sei, daß Menschen existieren (welches, wenn man etwa die Neuholländer oder Feuerländer in Gedan-ken hat, so leicht nicht zu beantworten sein möchte): so gelangt man zu keinem kategorischen Zwecke, sondern alle diese zweckmäßige Beziehung beruht auf einer immer weiter hinauszusetzenden Bedingung, die als unbedingt (das Dasein eines Dinges als Endzweck) ganz außerhalb der physisch-teleologischen Weltbetrachtung liegt. Alsdann aber ist ein solches Ding auch nicht Naturzweck; denn es ist (oder seine ganze Gattung) nicht als Naturprodukt anzusehen.

Es ist also nur die Materie, insofern sie organisiert ist, welche den Begriff von ihr als einem Naturzwecke notwendig bei sich führt, weil diese ihre spezifische Form zugleich Produkt der Natur ist. Aber dieser Begriff führt nun notwendig auf die Idee der gesamten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke, welcher Idee nun aller Mechanism der Natur nach Prinzipien der Vernunft (wenigstens um daran die Naturerscheinung zu versuchen) untergeordnet werden muß. Das Prinzip der Ver-nunft ist ihr als nur subjektiv, d. i. als Maxime zuständig: Alles in der Welt ist irgend wozu gut, nichts ist in ihr umsonst; und man ist durch das Beispiel, das die Natur an ihren organischen Produkten gibt, berechtigt, ja berufen, von ihr und ihren Geset-zen nichts, als was im Ganzen zweckmäßig ist, zu erwarten.

Es versteht sich, daß dieses nicht ein Prinzip für die bestimmende, sondern nur für die reflektierende Urteilskraft sei, daß es regulativ und nicht konstitutiv sei, und wir dadurch nur einen Leitfaden bekommen, die Naturdinge in Beziehung auf einen Bestimmungsgrund, der schon gegeben ist, nach einer neuen gesetzlichen Ordnung zu betrachten und die Naturkunde nach einem anderen Prinzip, näm-lich dem der Endursachen, doch unbeschadet dem des Mechanisms ihrer Kausali-tät, zu erweitern. Übrigens wird dadurch keineswegs ausgemacht, ob irgend etwas, das wir nach diesem Prinzip beurteilen, absichtlich Zweck der Natur sei, ob die Gräser für das Rind oder Schaf, und ob dieses und die übrigen Naturdinge für den Menschen da sind. Es ist gut, selbst die uns unangenehmen und in besonderen Beziehungen zweckwidrigen Dinge auch von dieser Seite zu betrachten. So könnte man z. B. sagen: das Ungeziefer, welches die Menschen in ihren Kleidern, Haaren oder Bettstellen plagt, sei nach einer weisen Naturanstalt ein Antrieb zur Rein-lichkeit, die für sich schon ein wichtiges Mittel zur Erhaltung der Gesundheit ist. Oder die Moskitomücken und andere stechende Insekten, welche die Wüsten von Amerika den Wilden so beschwerlich machen, seien so viel Stacheln der Tätigkeit für diese angehenden Menschen, um die Moräste abzuleiten und die dichten, den Luftzug abhaltenden Wälder licht zu machen und dadurch, imgleichen durch den Anbau des Bodens ihren Aufenthalt zugleich gesünder zu machen. Selbst was dem Menschen in seiner inneren Organisation widernatürlich zu sein scheint, wenn es auf diese Weise behandelt wird, gibt eine unterhaltende, bisweilen auch belehrende Aussicht in eine teleologische Ordnung der Dinge, auf die uns ohne ein solches Prinzip die bloß physische Betrachtung allein nicht führen würde. So wie einige den Bandwurm dem Menschen oder Tiere, dem er beiwohnt, gleichsam zum Ersatz eines Mangels seiner Lebensorgane beigegeben zu sein urteilen: so würde ich fra-gen, ob nicht die Träume (ohne die niemals der Schlaf ist, ob man sich gleich nur selten derselben erinnert) eine zweckmäßige Anordnung der Natur sein mögen, indem sie nämlich bei dem Abspannen aller körperlichen bewegenden Kräfte dazu dienen, vermittelst der Einbildungskraft und der großen Geschäftigkeit derselben (die in diesem Zustande mehrenteils bis zum Affekte steigt) die Lebensorgane in-nigst zu bewegen; so wie sie auch bei überfüllten Magen, wo diese Bewegung um desto nötiger ist, im Nachtschlafe gemeiniglich mit desto mehr Lebhaftigkeit spielt; daß folglich ohne diese innerlich bewegende Kraft und ermüdende Unruhe, wo-rüber wir die Träume anklagen (die doch in der Tat vielleicht Heilmittel sind), der Schlaf selbst im gesunden Zustande wohl gar ein völliges Erlöschen des Lebens sein würde.

Auch Schönheit der Natur, d. i. ihre Zusammenstimmung mit dem freien Spie-le unserer Erkenntnisvermögen in der Auffassung und Beurteilung ihrer Erschei-nung, kann auf die Art als objektive Zweckmäßigkeit der Natur in ihrem Ganzen als System, worin der Mensch ein Glied ist, betrachtet werden, wenn einmal die teleologische Beurteilung derselben durch die Naturzwecke, welche uns die orga-nisierten Wesen an die Hand geben, zu der Idee eines großen Systems der Zwecke der Natur uns berechtigt hat. Wir können es als eine Gunst16, die die Natur für uns gehabt hat, betrachten, daß sie über das Nützliche noch Schönheit und Reize so reichlich austeilte, und sie deshalb lieben, sowie ihrer Unermeßlichkeit wegen mit Achtung betrachten und uns selbst in dieser Betrachtung veredelt fühlen: gerade als ob die Natur ganz eigentlich in dieser Absicht ihre herrliche Bühne aufgeschlagen und ausgeschmückt habe.

Wir wollen in diesem Paragraphen nichts anderes sagen, als daß, wenn wir ein-mal an der Natur ein Vermögen entdeckt haben, Produkte hervorzubringen, die nur nach dem Begriffe der Endursachen von uns gedacht werden können, wir weiter gehen und auch die, welche (oder ihr, obgleich zweckmäßiges Verhältnis) es eben nicht notwendig machen, über den Mechanism der blind wirkenden Ursachen hi-naus ein ander Prinzip für ihre Möglichkeiten aufzusuchen, dennoch als zu einem System der Zwecke gehörig beurteilen dürfen; weil uns die erstere Idee schon, was ihren Grund betrifft, über die Sinnenwelt hinausführt, da denn die Einheit des übersinnlichen Prinzips nicht bloß für gewisse Spezies der Naturwesen, sondern für das Naturganze als System auf dieselbe Art als gültig betrachtet werden muß. Weiterführende Literatur

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Einführender Kommentar zu Ernst Kapps „Grundlinien einer Philosophie der Technik“

von Jan Hölting, Ute Lehmann, Julian Rapp und Sina VolkErnst Kapp (1808–1896) war – wie viele Autor*innen der Technikphilosophie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – kein hauptberuflicher Philosoph. Als studierter und promovierter Altphilologe arbeitete Kapp als Gymnasiallehrer in den Fächern Geschichte und Erdkunde. Sein Fachwissen ließ er in verschiedene fachdidaktische Werke einfließen, ehe er 1845 mit der Schrift „Vergleichende allgemeine Erdkunde in wissenschaftlicher Darstellung“ ein umfangreiches Werk über die wissenschaftli-che Geographie und ihrer Wechselbeziehung zur Geschichte vorlegte.1 Georg Wil-helm Friedrich Hegel wirkte mit seinen kulturanthropologischen und universalhis-torischen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte als sein geistiger Vater.2

1877 unternahm Kapp mit seinem Hauptwerk Grundlinien einer Philosophie der Technik den Versuch, alle technischen Artefakte als eine Organprojektion des menschlichen Körpers zu begreifen und legte somit den Grundstein für die Tech-nikphilosophie.3

Organprojektion drücke aus, dass der Mensch Form und Funktion seines Kör-pers unbewusst auf das Schaffen seiner Hand überträgt und sich darüber erst hin-terher bewusst wird.4

Für Kapp gingen Erfindungen somit aus dem Vorbild des menschlichen Körpers hervor, überwiegend der menschlichen Hand. Denn die menschliche Hand gibt als angeborenes Werkzeug allen weiteren mechanischen Werkzeugen ihre Form und ihren Zweck.5

Kapp erweiterte den Begriff der Technik in dem Sinne, dass er aufzeigt, dass tech-nische Objekte „nicht nur materiale Artefakte sein müssen, sondern dass es auch Instrumente der Steuerung des sozialen und politischen Lebens gibt“.6 Aus diesem Grund begreift er auch Gesellschaft und Sprache als Arten der Organprojektion.7Technik soll auf Funktion und Nutzen, welche sie vom Menschen bekommen hat, untersucht und dadurch verstanden werden. So geht Kapp davon aus, dass der Mensch sich in der Technik widerspiegelt.8 Technik enthülle den Organismus in seinen Strukturen und Funktionsweisen und führe somit zu einer „menschliche[n] (Selbst-)Erkenntnis.“9

Bereits in der antiken Philosophie wird Bezug auf die Technik genommen. Jedoch wird die Technik in dieser Zeit als etwas angesehen, das einem gewissen Zweck dienen soll und somit keiner weiteren Untersuchung bedarf. Auch in ethischer Hin-sicht wird die Technik lange nicht beachtet. Dass aus einer Betrachtung der Technik eine Erkenntnis erworben werden kann, zeigt sich mit dem Beginn der modernen Technikphilosophie, in der Technik nicht mehr als rein zweckdienlich betrachtet wird.

Kapp möchte mit seinem Buch mittels einer eigenständigen Disziplin innerhalb der Philosophie eine Erkenntnis über die Vorgänge der menschlichen Kulturleis-tungen generieren. Die Kultur ist zuerst als das zu verstehen, was das lateinische Wort cultura meint, nämlich: bebauen, bestellen, pflegen. Dies kann wörtlich ge-nommen werden als das Bestellen und Bebauen von Feldern, also die Landwirt-schaft, aus der sich eine urbane Umgebung entwickelt hat, die zur Sesshaftigkeit des Menschen und zur Bildung von Staaten geführt hat.

Für Kapp steht der Mensch im Mittelpunkt der Welt und gilt ihm zugleich als das „Idealtier“ unter den Lebewesen. Diese „Spitze der gesamten Entwicklungsreihe der organischen Bildungen auf der Erde“10 steht im Gegensatz zum von Herder und Gehlen als „Mängelwesen“ titulierten Menschen.11 Der Begriff Organon spielt hier im doppelten Sinne eine besondere Rolle, da er nicht nur als organisches Organ übersetzt werden kann, sondern auch als Werkzeug (griech.). Vom Menschen her-gestellte Werkzeuge sind insbesondere in Form von Prothesen eine Bemühung, das organische Vorbild zu überbieten, was jedoch nach Kapp nicht gelingen kann, eben weil der Mensch die Krone der Schöpfung darstellt. Jedoch kann der Mensch aus dieser Nachbildung versuchen, das Organische durch das technische Artefakt zu erklären.

Solche Artefakte sind nach Kapp unbewusste Projektion des menschlichen Kör-pers, die erst im Nachhinein als ebendiese Nachahmungen aus Formen, Funktionen und Mechanismen erkannt werden. Auch komplexe Maschinen sind zusammen-gesetzt aus verschiedenen einfachen Organprojektionen. Die Artefakte stellen eine Übertragung des menschlichen Verstandes dar, die den Menschen erst zu einer Selbsterkenntnis führen können. Der Mensch muss also aus selbst geschaffenen kulturellen Gegenständen sich selbst erkennen. Diese Erkenntnis führt nach Kapp nicht nur zu einer Selbsterkenntnis, sondern geht über in eine Naturerkenntnis, aus der folgt, dass Natur und Kultur unzertrennlich zusammengehören.

Auch der politisierte Vergleich des Staates durch die Kulturschaffung aus Organ-projektionen und der daraus folgenden Erkenntnis ist bei Kapp zu finden. Er wider-spricht damit Thomas Hobbes und Rene Descartes, die einen mechanistischen Staat beschreiben. Kapp versteht den Staat nicht als Maschine, die einen Antrieb wie etwa Kraftstoff braucht und sich daher nicht selbst antreiben kann. Vielmehr soll der Staat in Hinsicht auf die Demokratie einer Selbstbestimmung folgen und nicht wie ein Automat in Gang gesetzt werden, um die immer gleichen Aufgaben zu erfül-len. Die Menschen sind im Staat vereint und jeder Mensch verkörpert zugleich den Staat, den der Mensch nicht als Zweck nutzt, sondern zu einem Selbstzweck durch die Erkenntnis von Natur über Kultur macht. Der Mensch kann also durch Maschi-nen und Werkzeuge mehr über sich selbst erfahren. Seinen Bezug auf Werkzeuge möchte Kapp dabei nicht falsch verstanden wissen, „denn nicht auf eine Geschichte der Werkzeuge haben wir uns einzulassen, sondern die Aufgabe ist, die Bedeutung ihrer Formierung für den Fortschritt im Selbstbewusstsein hervorzuheben.“12

Kapps Organprojektionstheorie wird von der Hauptthese geleitet, dass der Mensch sich in Werkzeugen reproduziert. Zunächst argumentiert er historisch, um zu beweisen, dass Werkzeuge immer nach dem Vorbild der Natur gebildet wurden. Weiterhin bekräftigt er seine Theorie in Anlehnung an Lazarus Geiger sprachwissenschaftlich. Ein modern interpretierbarer Aspekt ist die Unterschei-dung von Menschenarbeit und Maschinenleistung. Die Idee, dass jede produzierte maschinelle Leistung auf den Menschen zurückfällt, der die Maschine mit seiner Intelligenz konstruiert hat, könnte in Diskussionen um die Verantwortlichkeit für automatisierte Systeme Relevanz gewinnen. Kapp spricht sich dabei gegen eine Menschwerdung der Maschine und auch gegen eine Maschinenwerdung des Men-schen aus. In der Erläuterung des Telegraphensystems sieht Kapp einen finalen Beweis für die Organprojektionstheorie und spricht sogar von einem „Zwang der Analogie“.13 Trotz der vielseitigen Beweise ist die kappsche Organprojektionstheo-rie beschränkt. Ein Defizit liegt in der Eigenschaft des unbewussten Projizierens und der Einseitigkeit der Erkenntnismöglichkeit. Wenn Werkzeuge Nachbildungen sind und unbewusst zustande kommen, dann zeigt sich hier ein willkürliches Ele-ment. Es wäre unmöglich nach neuer Erkenntnis zu streben und diese gezielt durch wissenschaftliche Überlegung herbeizuführen. Neue Erkenntnis ist nämlich an das menschliche Vorstellungsvermögen gebunden. Wenn aller technischer Fortschritt aus dem Unbewussten des Menschen hervorgehen würde, könnte der Mensch nie etwas artifiziell Transzendentes erschaffen. Technischer Fortschritt beruht dagegen immer auch auf Irrationalität, menschlichen Träumen, suchendem Forschen und den daraus resultierenden neuen Erkenntnissen.

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Ernst Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik (1877)1

Es ergibt sich nunmehr die Frage, wie die ursprünglichen Werkzeuge und Geräte beschaffen waren und wie sie bei Völkerschaften niederster Kultur zum Teil noch heute beschaffen sind. Ihrer Beantwortung schicken wir eine kurze Verständigung über einige sprachliche Bezeichnungen voraus.

Das Wort „Organon“ bezeichnete im Griechischen zunächst ein Körperglied, sodann dessen Nachbild, das Werkzeug, und weiterhin sogar den Stoff, den Baum oder das Holz, woraus es verfertigt wird. Die deutsche Sprache wechselt, jedoch nur in physiologischer Anwendung, beliebig mit den Ausdrücken Organ und Werkzeug, macht also keinen Unterschied z. B. zwischen Atmungsorgan und At-mungswerkzeug, während auf dem mechanischen Gebiet lediglich von Werkzeu-gen die Rede ist. Die genauere Unterscheidung läßtfüglich das Organ der Physio-logie und das Werkzeug der Technik. Wie in der inneren Gliederung des Körpers die dessen Ernährung und Erhaltung besorgenden Gebilde Organe heißen, und ebenso die als Schwelle von außen nach innen die Wahrnehmung der Dinge ver-mittelnden Sinne, so kommt auch der äußeren Gliederung, den Extremitäten, die Benennung Organe zu.

Unter den Extremitäten gilt die Hand wegen ihrer dreifachen Bestimmung im verstärkten Sinne als Organ. Einmal nämlich ist sie das angeborene Werkzeug, so-dann dient sie als Vorbild für mechanische Werkzeuge und drittens ist sie als we-sentlich beteiligt bei der Herstellung dieser stofflichen Nachbildungen, wie Aristote- les sie nennt, – das „Werkzeug der Werkzeuge“(2).

Die Hand ist also das natürliche Werkzeug aus dessen Tätigkeit das künstliche, das Handwerkzeug hervorgeht. Sie liefert in allen denkbaren Weisen ihrer Stellung und Bewegung die organischen Urformen, denen der Mensch unbewußt seine ers-ten notwendigen Geräte nachgeformt hat.

In ihrer Gliederung als Handfläche, Daumen und Gefinger ist die offene, hoh-le, fingerspreizende, drehende, fassende und geballte Hand für sich allein oder zu-gleich mit gestrecktem oder gebogenem ganzen Unterarm die gemeinsame Mutter des nach ihr benannten Handwerkzeuges. Nur unter der unmittelbaren Beihilfe des ersten Handwerkzeuges wurden die übrigen Werkzeuge und überhaupt alle Geräte möglich.

Von den primitiven Werkzeugen erweitert sich der Begriff aufwärts bis zu den Werkzeugen der besonderen Berufstätigkeiten, den Maschinen der Industrie, der Bewaffnung bei der Kriegsführung, den Instrumenten und Apparaten der Kunst und Wissenschaft, und umfaßt mit dem einen Wort Artefakte das ganze System der in den Bereich der mechanischen Technik gehörenden Bedürfnisse, wo nur immer der Mensch „die Hand im Spiele hat“, mögen sie der täglichen Notdurft dienen oder Gegenstände des Schmuckes und der Bequemlichkeit sein.

Unter Benutzung der in der unmittelbaren Umgebung nächst „zur Hand“ befind-lichen Gegenstände erscheinen die ersten Werkzeuge als eine Verlängerung, Ver-stärkung und Verschärfung leiblicher Organe.

Ist demnach der Vorderarm mit zur Faust geballter Hand oder mit deren Ver-stärkung durch einen faßbaren Stein der natürliche Hammer, so ist der Stein mit einem Holzstiel dessen einfachste künstliche Nachbildung. Denn der Stiel oder die Handhabe ist die Verlängerung des Armes, der Stein der Ersatz der Faust.

Diese je nach Material und Gebrauchszweck sehr mannigfach veränderte Grundform des Hammers hat sich unter anderen im Hand- und imZuschlag-hammer der Schmiede und im „Fäustel“der Bergleute unverändert erhalten und ist sogar in dem kolossalsten Dampfstahlhammer noch erkennbar. – Der Ham-mer ist wie alles primitive Handwerkzeug eine Organprojektion oder die me-chanische Nachformung einer organischen Form, in welcher, mit Caspari (3) zu reden, der Mensch die durch Handgeschicklichkeit verstärkte Armkraft beliebig darüber hinaus erweitert (I, 210). Der hohen Meinung von der Wichtigkeit des Hammers gibt Laz. Geiger (4) in den Vorträgen „zur Entwicklungsgeschichte der Menschheit“(5) mit den Worten Ausdruck: „So groß der Gegensatz einer Dampf-maschine unserer Tage mit dem ältesten Steinhammer immer sein mag: dasjenige Geschöpf, welches zuerst seine Hand mit einem solchen Werkzeuge bewaffnete, welches vielleicht einen Fruchtkern zum ersten Mal auf diese Weise einer harten Schale abgewann, es mußte, so scheint es, einen Hauch jenes Geistes in sich ver-spüren, welcher einen Entdecker unserer Zeit unter dem Aufblitzen eines neuen Gedanken beseelt.“ (S. 87)

Wie das Stumpfe in der Faust vorgebildet ist, so die Schneide der Werkzeuge in den Nägeln der Finger und den Schneidezähnen. Der Hammer mit einer Schneide geht in die Umgestaltung von Beil und Axt ein; der gesteifte Zeigefinger mit seiner Nagelschärfe wird in technischer Nachbildung zum Bohrer; die einfache Zahnreihe findet sich wieder an Feile und Säge, während die greifende Hand und das Dop-pelgebiß in dem Kopf der Beißzange und in den Backen des Schraubstockes zum Ausdruck gelangt. Hammer, Beil, Messer, Meißel, Bohrer, Säge, Zange sind primiti-ve Werkzeuge, gewissermaßen die „Werk-Werkzeuges“, die urersten Begründer der staatlichen Gesellschaft und ihrer Kultur.

Wie die Herstellung der Werkzeuge sich je nach dem verwendeten Stoffe, Holz, Horn, Knochen, Muscheln, Stein, Bronze und Eisen vervollkommnete, darüber gibt die Geschichte der Erfindungen nach der beliebten Stufenfolge einer Holz-, Stein-, Bronze- und Eisenperiode Auskunft. Seiner dem leiblichen Organ entlehnten Form nach ist der Hammer von Stein so gut ein Hammer wie der von Stahl. Uns kann es auf das Einhalten der historischen Folge eben nicht ankommen, weil es sich hier nur um den Nachweis handelt, daß der Mensch in die ursprünglichen Werkzeuge die Formen seiner Organe verlegt oder projiziert hat. Es soll die innere, mehr in un-bewußtem Finden, als in beabsichtigtem Erfinden hervortretende Verwandtschaft des Werkzeugs mit dem Organ betont und gezeigt werden, daß der Mensch in dem Werkzeug stets nur sich selbst produziert. Da das Organ, dessen Gebrauchsfähig-keit und Kraft potenziert werden soll, maßgebend ist, so kann auch nur von ihm die ihm entsprechende Werkzeugform geliefert werden.

So quillt ein Reichtum von Schöpfungen des Kunsttriebes aus Hand, Arm und Gebiß. Der gekrümmte Finger wird zum Haken, die hohle Hand wird zur Schale; im Schwert, im Speer, im Ruder, in der Schaufel, im Rechen, im Pflug, im Dreizack hat man die mancherlei Richtungen des Arms, der Hand und ihrer Finger, deren Anpassung auf die Jagd-, Fischfang-, Garten- und Feldgeräte sich ohne besondere Schwierigkeit verfolgen läßt. Wie der Griffel ein verlängerter Finger, so ist die Lanze eine Verlängerung des Arms, dessen Kraftwirkung sie steigert, indem sie mit der Distanzverkürzung die Erreichbarkeit des Ziels erhöht, ein Vorteil, der durch Frei-gebung des Speeres im Wurf sich noch vervielfacht.

Der in die Handspitze auslaufende Arm hat an den ursprünglich raubtierartig mit Nägeln bewehrten Fingern die natürlichste zum Einschlagen, Aufreißen und Verwunden geeignete Vorrichtung. Dementsprechend wird der Schärfung und Zuspitzung von Holz- und Hornstücken passend nachgeholfen. Der Meeresstrand liefert zu diesem Zwecke die Bestandteile des Skeletts von Seetieren, das Binnen-land diejenigen der es bewohnenden Fauna und vor allem den Horn- oder Feuer-stein. Gleichzeitig unterstützte teilweise Benutzung des Feuers das Härten, Verkür-zen, Aushöhlen und Glätten der Holz- und Hornteile sowie das Zerstückeln der Steine. Das Bruchstück vom Hirschgeweih mit einer Endzacke, die halbe Kinnlade vom Höhlenbär konnten, so wie sie waren, zur Verlängerung der Hand, deren ge-krümmte Finger härteren Boden nicht zu lockern vermochten, benutzt werden. Aus solchem ersten Notbehelf mochte die Hacke hervorgehen, welche, in der Win-kelrichtung des Eisens die Hand und in dem Holzteil den Arm vorstellend, nach A.   Schleicher’s (6) für Ähnliches gebrauchtem, auch hier durchaus passendem Aus-druck, „eine Erscheinung des Organs selbst“(7) ist.

Die bisher aus einem unübersehbaren Vorrat herausgerissenen Beispiele werden genügend dartun, daß die elementare Beschaffenheit des Werkzeugs in allen späte-ren Metamorphosen des Gegenstandes wieder zu erkennen ist.

Die Produkte der gesteigertsten Industrie verleugnen nicht ihren Ausgang und ihre wesentliche Bedeutung. Die Dampfmahlmühle und die Steinhandmühle des Wilden sind eben Vorrichtungen zum Mahlen. Die Seele beider ist und bleibt der Mahl- oder Mühlstein, und die beiden konkav und konvex zusammenpassenden Feldsteine, sie waren die erste Vorrichtung zum Ersatz der die Körner zerreiben-den Mahlzähne des Gebisses. In allen Transformationen der Wasser-, Wind- und Dampfmühlen ist der Teil, welcher sie zu dem macht was sie sind, der Mahlstein, der nämliche, wäre er auch wie in der eisernen Handmühle durch Metallscheiben ersetzt.

Mit besonderer Beziehung auf die Entstehung des Werkzeugs hat Laz. Geiger einen Vortrag über „die Urgeschichte der Menschheit im Lichte der Sprache“(8) mit besonderer Beziehung auf die Entstehung des Werkzeugs veröffentlicht und darin unwiderlegbar gezeigt, daß die Wurzel der Benennung des Werkzeugs in innerem Zusammenhang mit einer ursprünglich organischen Tätigkeit steht, so daß das Wort und die bezeichnete Sache aus einer gemeinschaftlichen Wurzel stammen.

Die Höhe der wissenschaftlichen Sprachforschung besteht bekanntlich darin, daß von ihr auch da, wo sogar geologische Funde ausgehen, apriorisch angenom-mene urgeschichtliche Vorgänge als Tatsachen beglaubigt werden können. Denn die Sprachwurzeln transsubstantiieren sich in den Wortfamilien, sowohl innerhalb einer Sprache, wie von Sprache zu Sprache, und sind nur Wurzeln in Beziehung auf Stamm- und Zweigbildungen, in denen sie fortleben. Eine Baumwurzel getrennt vom Stamm hört in dieser außergenetischen Vereinsamung auf, Wurzel zu sein, und ist nichts mehr als jedes andere beliebige Stück Holz. Was wirklich in der Spra-che als Wurzel anerkannt ist, gilt und lebt fort in ihr, und wenn daher die sprach-lichen Spuren der Bezeichnung eines Werkzeugs sich in fernste Zeiten zurückver-folgen lassen bis zur Tätigkeit eines Organs, welche genau mit Gebrauch und Zweck des technischen Produktes stimmt, so liegt in diesem Fall auch der Beweis vor, dass das technische Produkt von der Tätigkeit eines Organs produziert und projiziert ist, und daß demnach dessen primitive Form dem unbewußt findenden und nach-schaffenden Kunsttriebe vom Innern des Organismus heraus vorgesehen und vor-geschrieben war. Wie der Mensch stets von innen nach außen, von seiner Anlage aus, lernt und von außen nach innen nur insofern als die Dinge das Material für sein Vorstellungsvermögen sind, ebenso fließen seinem Gestaltungsbedürfnisse die Musterformen für seine mechanischen Bildungen von innen heraus zu. Auch der leibliche Organismus, das verkörperte Ich-Selbst, ist ein Inneres gegenüber dem Nicht-Ich, dem Gegen-Ich, in welches er sich durch mechanische Verstärkung und Ausdehnung seiner Glieder nur insofern erweitert und vervielfältigt, als diese maß-gebend für deren Substitute waren.

Wie die Bezeichnung „Linse“, so lehrt überhaupt die gesamte anatomische und physiologische Nomenklatur, daß sie im Wesentlichen aus Namen besteht, welche von Gegenständen, die sich außerhalb des Organismus befinden, aber besonders von solchen, die der Projektion angehören, entlehnt worden sind. Wie soll es sonst zu verstehen sein, wenn die Konstruktion des Auges der einer Camera obscura (9)„ganz analog“ befunden wird; wenn gezeigt wird, daß auf der Netzhaut ein ver-kehrtes Bild der vor dem Auge befindlichen Gegenstände „ganz in gleicher Weise entstehe wie das Bild auf der Rückwand einer Camera obscuras“, und daß das Auge ein Organ sei, welches „den Daguerreotypischen Prozeß in außerordentlicher Voll-kommenheit ausführe“? (Joh. Müller, Grundriß der Physik, § 154. – L. Hermann, Grundriß der Physiologie, S. 322, 3. Aufl. – C. G. Carus, Physis, S. 402, 410)

Vom Standpunkte der Organprojektion hat man solche Aussprüche einfach um-zukehren und zu erklären, daß die Konstruktion einer Camera obscura ganz analog sei der des Auges, daß sie das von dem Organ aus unbewußt projizierte mechani-sche Nachbild desselben sei, mittels dessen Unterstützung die Wissenschaft nach-träglich in die Vorgänge der Gesichtswahrnehmungen habe eindringen können. Dies tut nun auch C. G. Carus (10), indem er sagt:

Von aller Welt gekannt, bewundert und benutzt ist die Dampfmaschine die wahr-hafte „Allerweltsmaschine“. Sie unterstützt alle menschliche Tätigkeit in Haus und Hof, in Wald und Feld, zu Wasser und zu Land, sie schafft als Zug- und Lasttier, hilft Kabel legen und Bücher drucken und ist wegen dieser Universalität ihrer Leis-tungen ganz besonders geeignet, als sinnliche Verdeutlichung des Satzes von der Erhaltung der Kraft zu dienen. Ihre Verwertung zum Vergleich mit dem leiblichen Organismus wiederholt sich daher bei vielen Veranlassungen. „Es sind in der Tat“, sagt unter anderen Otto Liebmann (12),

Ausführlich geht auf den Vergleich Helmholtz (13 ) in seinem Vortrag über die „Wech-selwirkung der Naturkräfte“(14) ein:

In ganz ähnlicher Weise äußert sich Robert Mayer (15) in einem Vortrag über die Er-nährung. Nachdem er gezeigt, wie sich die Ernährung der Tiere von derjenigen der Pflanzen unterscheidet, fährt er fort:

Die Berufung auf die großen Spezialautoritäten, R. Mayer , den Entdecker des mechanischen Äquivalents der Wärme, und Helmholtz , welcher diese Lehre zum Gesetz von der Erhaltung der Kraft fortgebildet hat, überhebt uns der Anführung noch weiterer Schutzstellen, indem durch sie das Zutreffende der Vergleichung der Normalmaschine mit dem Normalvorbild aller Maschinerie mehr als hinreichend gedeckt ist. Zutreffend aber werden wir einen Vergleich nur dann nennen, wenn er vollständig ist, und vollständig wird er, nächst der Angabe aller Punkte der Über-einstimmung, durch das Hervorheben der allgemeinen charakteristischen Unter-schiede, durch welche die gebundene Übereinstimmung ja überhaupt erst Sinn und Bedeutung erhält. In dieser Beziehung verfolgt man mit besonderem Interesse, wie entschieden von den genannten Gewährsmännern der Begriff des Organischen vor jeder Trübung durch Beimischung von Mechanistik gewahrt worden ist. Denn R.   Mayer sieht sich veranlaßt, ausdrücklich hinzuzufügen, daß eine Vergleichung auf der Auffindung von Ähnlichkeiten beruhe, daß aber die Ähnlichkeiten noch lange keine Identität gäben. „Das Tier ist keineswegs eine bloße Maschine, es steht hoch selbst über den Pflanzen, denn es hat einen Willen.“ Deutlicher hebt Helm- holtz den Unterschied zwischen Menschenarbeit und Maschinenleistung hervor:

Der degradierenden mechanistischen Weltanschauung von der Maschinenwerdung des Menschen sowie von der Menschwerdung der Maschine wird durch Erklärun-gen obiger Art gründlich vorgebaut. Das Wort von Helmholtz , daß der Begriff der Arbeit für Maschinen aus dem Vergleich mit dem Menschen hergenommen sei, schließt die unmittelbare Folgerung in sich, daß auch die Maschine selbst, wenn sie soll Menschenarbeit ersetzen können, entsprechend – d. h. entsprechend dem Organismus, dessen Arbeit sie ersetzen soll – konstruiert sein wird. Ihre Leistungs-fähigkeit, oder vielmehr ihre Brauchbarkeit, steht unmittelbar in Beziehung zum Menschen, der sie gebraucht, und zu dem Zweck, wofür bestimmte Organe auch ohne mechanische Unterstützung tätig sein würden.

An den einzelnen Werkzeugen kommt zugleich mit der Leistungsfähigkeit auch die Gestalt des Organs mehr oder minder kenntlich zur Erscheinung. Bei der kom-plizierten Maschine tritt erstere Eigenschaft überwiegend hervor, letztere dagegen zurück. Die Formen der Dampfmaschine als eines Ganzen und die Leibesgestalt des Menschen haben in ihrem Aussehen wenig oder nichts miteinander gemein, wohl aber gleichen verschiedene Teile, aus denen die Maschine zusammengesetzt ist, ein-zelnen Organen. Viele Maschinenteile, ursprünglich isolierte Werkzeuge, sind in der Dampfmaschine äußerlich zu einer mechanischen Gesamtwirkung vereinigt, wie die Glieder der animalischen Reihe innerlich zu einer höchsten im Menschen erreichten organischen Lebenseinheit.

Schienenwege und Dampfmaschinen waren eine Zeit lang, gegenseitig sich fremd, nebeneinander vorhanden. Stephenson (16 ) verlieh der Dampfmaschine feste Fortbeweglichkeit und wurde durch die Unterwerfung des Schienenweges unter die Lokomotive der Schöpfer der Eisenbahnen. Solange Schienenwege und Dampfma-schinen unabhängig von einander existierten, waren jene wenig mehr als die ver-besserte Auflage der alten im Bergbau üblichen Hundegestänge, diese waren nichts anderes als der überall aufstellbare Ersatz für Wind- und Wasserkraft; in ihrer Ver-einigung aber als Eisenbahnnetz und in dessen weiteren Fortsetzungen je nach Fluß und Meer als Dampfschiffslinien sind sie schon gegenwärtig als Träger universeller Kommunikation die Mittler menschlicher Allgegenwart auf dem Erdenrund.

In dieser Vereinigung der Schienenwege und Dampferlinien zu einem geschlos-senen Ganzen ist das Netz von Verkehrsadern, auf welchem die Subsistenzmittel der Menschheit zirkulieren, das Abbild des Blutgefäßnetzes im Organismus. Von unserem Gesichtspunkt aus müßte es befremden, wenn die wissenschaftliche Dar-stellung des Blutumlaufs auf die Vorteile hätte verzichten wollen, welche sie aus der großartigen, durch die Dampfkraft erzielten Zirkulationsmechanik des menschli-chen Lebensbedarfs für die Erklärung des organischen Vorgangs entnehmen kann. Wir stoßen indessen auf so manche Aussprüche, welche das Gegenteil besagen, daß es scheint, man könne sich in diesem Fall ebensowenig der Anerkennung der Organprojektion entziehen, wie bei dem schon ganz eingebürgerten Vergleich des Nervensystems mit dem elektrischen Telegraphen.

Seine Vergleichungmit der Funktion des Nervensystems gilt als selbstverständ-lich. Sie ist allgemein im Gebrauch, um sich das Verhalten der elektrischen Strö-mung im Organismus anschaulich zu machen. Unsere Vorstellungen vom Nerven und vom elektrischen Draht decken sich im gewöhnlichen Leben so sehr, daß man mit Fug behaupten darf, es existiere überhaupt keine andere mechanische Vorrich-tung, welche in genauerer Übereinstimmung ihr organisches Vorbild wiedergibt, und andererseits kein Organ, dessen innere Beschaffenheit in dem ihm unbewusst nachgeformten Bau so deutlich wiedergefunden wird, wie der Nervenstrang im Te-legraphenkabel. Die Organprojektion feiert hier einen großen Triumph. Die haupt-sächlichen Erfordernisse derselben: die unbewußt nach organischem Muster vor sich gehende Anfertigung, demnächst die Begegnung, das Sichfinden von Original und Abbild nach dem logischen Zwang der Analogie, und dann die im Bewußt-sein wie ein Licht aufgehende Übereinstimmung zwischen Organ und künstlichem Werkzeug, nach dem Grade denkbarster Gleichheit, – diese Momente im Prozeß der Organprojektion haben sich auch für das Telegraphensystem aufs Deutlichste herausgestellt und lassen wir hier sofort eine der kompetentesten Stimmen dafür eintreten.

R. Virchow (17 ) sagt in dem Vortrag „über das Rückenmark“(18):

Dieser Ausspruch läßt denn doch an Deutlichkeit nicht das Mindeste zu wünschen übrig! Hier schwindet jedes allzu bedächtige „gleichsam“ oder „gewissermaßen“ vor dem kategorischen „in der Tat“ aus einem Munde, dem ein kategorisches Wort so wohl ansteht, und vor der offenen, keine Nebenbedeutung und keinen Vorbehalt zulassenden Erklärung: Die Nerven sind Kabeleinrichtungen des tierischen Kör-pers, die Telegraphenkabel sind Nerven der Menschheit! Und, fügen wir hinzu, sie müssen es sein, weil das charakteristische Merkmal der Organprojektion das unbe-wußte Vorsichgehen ist. Oder hätten etwa die Männer, denen es vor anderen gelang, mittels des elektrischen Stromes Nachrichten in die Ferne zu senden, vor dem ers-ten Versuche den bewußten Vorsatz gehabt und ausgeführt, einen Nerv zu zerglie-dern, plastisch genau nachzukonstruieren und eine ihrem leiblichen Nervensystem gleiche Verzweigung von elektrischem Gestränge über den Erdboden zu legen? Weiterführende Literatur

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Einführender Kommentar zu Raoul Heinrich Francés „Die Pflanze als Erfinder“

von Marco TamboriniZu Beginn des 20. Jahrhunderts erreichte die Zusammenarbeit zwischen den Bio- und Ingenieurwissenschaften einen bedeutenden Höhepunkt. Biolog*innen, Archi-tekt*innen und Philosoph*innen arbeiteten gemeinsam an der Materialisierung einer zentralen Frage, die die Geschichte der Architektur, der Ingenieurwissen-schaften und der Biologie seit ihren Anfängen beschäftigt hatte: die Möglichkeit der Übertragung biologischer Formen in architektonische und technische Formen. Dieses Forschungsthema war umrahmt von einer breiteren biologischen Frage: Können Organismen auf Maschinen reduziert werden? Inwieweit kann das Orga-nische also erklärt und auf mechanische Modelle zurückgeführt werden bzw. gibt es eine Priorität der organischen über die technische Form?1

Einen wichtigen Beitrag dazu hat Raoul Heinrich Francé (1874–1943) geleistet – ein österreichisch-ungarischer Botaniker, Mikrobiologe, Naturwissenschaftler und Philosoph. Obwohl er heute in Vergessenheit geraten ist, zählte er zu den führenden Biologen und Bioingenieuren des frühen 20. Jahrhunderts. Als Autodidakt studier-te er analytische Chemie und Mikrotechnik und war darin so erfolgreich, dass er im Alter von 16 Jahren in die Königlich Ungarische Gesellschaft für Naturwissenschaf-ten aufgenommen wurde. Nach einem etwa zweijährigen Biologiestudium wurde er zum stellvertretenden Direktor des Instituts für Pflanzenschutz der Ungarischen Landwirtschaftlichen Akademie-Altenburg ernannt. 1906 beteiligte er sich an der Gründung der Deutschen Mikrologischen Gesellschaft und ihres Instituts, das er als Direktor leitete.

Francés wissenschaftlicher Beitrag ist umfangreich und reicht von Themen der analytischen Chemie über Aspekte der Protozoen sowie der Erkenntnistheorie und der Technikphilosophie, bis hin zu komplexen Ausarbeitungen über das der orga-nischen Welt innewohnende Prinzip der Kausalität und Teleologie. Während seines wissenschaftlichen Werdegangs veröffentlichte er mehr als 60 Bücher, von denen die meisten in andere Sprachen übersetzt wurden. Zu seinen wichtigsten Texten ge-hören Die technischen Leistungen der Pflanzen (1919) und Die Pflanze als Erfinder (1920) – ins Englische übersetzt als Plants as Inventors  – und Bios. Die Gesetze der Welt (1921).

Eines der Hauptthemen, das sich durch Francés wissenschaftliche Produktion zieht, ist ein klassischer Topos der Biologie, Philosophie und Technik des frühen 20. Jahrhunderts: die Beziehung zwischen organischen Formen und Technik. Francé fragte sich nämlich, in welchem Verhältnis die in der Natur nachweisbaren Formen zu den von Ingenieur*innen herstellbaren und gestaltbaren stehen. Wenn die natür-liche Auslese tatsächlich als Analogon der künstlichen Selektion, also der Art und Weise, wie der Mensch durch die Züchtung von Tieren arbeitet, betrachtet werden könnte – wie Charles Darwin es in seinem 1859 veröffentlichten Buch Entstehung der Arten darstellte –, müsste es eine tiefgreifende Beziehung zwischen natürlichen und künstlichen Formen geben. Ausgehend von diesen Überlegungen fragte Francé nach dem Verhältnis zwischen Technik und Biologie, bzw. zwischen von Menschen hergestellten Formen und organischen Formen. Francé kam zu dem Schluss, dass organische Formen, die in der Natur zu finden sind, als technische Vorbilder für die Herstellung von ingenieurwissenschaftlichen Artefakten zu betrachten seien. Orga-nische Formen inspirieren und ermöglichen technische Kreativität, weil sie bereits eine technische Lösung zur Bewältigung eines biologischen Problems darstellen: Die Natur arbeitet technisch, damit die Organismen in der Lage sind, sich an die Umwelt anzupassen, Schwierigkeiten zu überwinden und damit zu überleben.

Um zu untersuchen, wie organische Formen die Produktion von technischen und architektonischen Formen inspirieren und wie sie umgesetzt werden können, schlug Francé vor, eine neue Disziplin zu gründen: die Biotechnik. Diese sollte das Wechselspiel zwischen Biologie und Technik ermöglichen und untersuchen.

Nach Francé musste der/die Ingenieur*in also evolutionäre Prozesse studieren, organische Formen klassifizieren, verstehen, wie sie diese Gestaltungen erhalten hatten, und die von der Natur angenommenen Lösungen durch einen technischen und ingenieurmäßigen Prozess nachahmen. Die technische Produktion basiert also

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auf der bewussten Nachahmung der Prinzipien und Produkte der natürlichen Evo-lution. So gäbe es nach Francé optimale Formen in der Natur, die auch für techni-sche Lösungen übernommen werden sollten.

Laut dem österreichisch-ungarischen Botaniker war aber die technische Lösung der Natur nur als ein vorübergehender Zwischenstopp innerhalb eines ständigen Transformationsprozesses der organischen Formen zu betrachten. Formen lösen sich in Prozesse auf und diese verfestigen sich wiederum zu Formen. Francé weist damit auf eine Philosophie des Prozesses hin, die die Entstehung von Objekten be-gründet. Prozesse, nicht Formen, seien die grundlegenden konstituierenden Ele-mente der Welt: „Jeder Prozess schafft also seine eigene technische Form, Bewegung schafft Formen der Bewegung.“2

Francé schlug damit einen scheinbar banalen Ansatz zur Lösung von Ingenieur-problemen vor: Der/Die Ingenieur*in kann die Natur kopieren, weil es in der Natur Formen gibt, die zur Lösung des Ingenieurproblems verwendet werden können. Die Mohnkapsel, wie sie im hier wiedergegebenen Text beschrieben wird, ist daher die nachzuahmende Form, um das Problem der homogenen Verteilung von Subs-tanzen in einem Boden zu lösen. Indem er diese Struktur verstand und nachahmte, konnte der Ingenieur Francé ein Gerät patentieren, das in der Lage war, Substanzen gleichmäßig zu streuen.

Mit der Gründung der Biotechnik stellte Francé die Beziehung zwischen Tech-nik und Organismus auf eine neue Ebene. Es ging nicht mehr um einen Anthro-pozentrismus à la Kapp, in dem der Mensch im Mittelpunkt der Technik und der Natur zu betrachten war, sondern um einen gemeinsamen isomorphen Ursprung. Die gleiche Form, d. h. der gleiche morphogenetische Prozess, verbindet die beiden Sphären des Technischen und des Organischen.

Francés Überlegungen sind heute aus mindestens drei verschiedenen Gründen äußerst aktuell. Erstens, in all seinen Werken fragt sich Francé, wie sich die Technik von der Natur inspirieren lassen kann. Er reflektiert über die Grenzen, Möglichkei-ten und Probleme dieser Begegnung. Das Nachdenken über diese Fragen ist heute angesichts der wachsenden Bedeutung von Disziplinen wie Bionik, Bio-Robotik, Bio-Erinnerung etc. äußerst interessant. Zweitens, der österreichisch-ungarische Botaniker fragt nach dem kantischen (und romantischen) Thema einer möglichen Technik der Natur und nach der Möglichkeit einer Teleologie, die dem Organis-mus in demselben Maße innewohnt, wie dem technischen Produkt. In dieser Refle-xion gibt der Prozess der Nachahmung der Natur eine epistemische und technische Autonomie zurück. Drittens, Francé ist einer der ersten Technikphilosophen, der konkret untersuchen wollte, wie organische Formen entstehen. Dabei zeigt er eine Identität zwischen ingenieurwissenschaftlichen und organischen Prozessen auf, die Francés Aktualität neben allgemeinere Überlegungen zur möglichen Anwendung der Evolutionstheorie zum Verständnis und zur Programmierung der Entwicklung technischer Produkte stellt.

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Raoul Heinrich Francé: Die Pflanze als Erfinder (1920)1

I.

Ich trat eines Morgens in mein Laboratorium, nachdenklich und mißmutig, denn ich war mit meinen Arbeiten wieder einmal stecken geblieben und konnte nicht weiter. Ich studierte um jene Zeit das Leben des Ackerbodens. Längst war festge-stellt, daß die tote, schwarze Erde nicht tot sei, sondern durchsetzt und erfüllt von Myriaden kleinster Lebewesen, die alle einen bestimmten Einfluß auf das Gedeihen der Brotfrucht haben. Und es lag nahe, anzunehmen, daß es gelingen würde, viel-fältige Frucht zu ernten, wenn es zuvor gelänge, die nützlichen Erdbewohner zu vermehren. Der einfachste Weg schien zu sein, den Boden mit ihnen zu impfen. Ganz gleichmäßig, jeden Quadratmillimeter mit einem Dutzend der kleinen Le-benskeime bestreuen. Das war die Aufgabe des Tages. Sie konnte ich nicht lösen, und darum war ich mißmutig und nachdenklich.

Ich versuchte zuerst verschiedenes. Ich hatte schon Erde bereit, die reichlich die in Frage kommenden Kleinpflanzen enthielt. Ich schüttelte sie mit viel Wasser durch und begoß mein „Versuchsfeld“ mit dieser „Aufschwemmung“ aus einer kleinen Kanne. Dann untersuchte ich das Ergebnis; alles war ungleich verteilt.

Ich versuchte, den Boden gleichmäßig zu überschwemmen. Es mißlang. Es wurde mir klar, man müsse die „Impferde“ in einem halbtrockenen Zustand ganz gleich-mäßig ausstreuen. Das sei der einzige Weg zum Erfolg. So erlebte ich in den eigenen vier Wänden im kleinen die uralte Tragödie der Erfinder, denen stets der Mißerfolg der Lehrmeister ist. Es ist noch keiner von ihnen, der es zu nichts brachte, vergeb-lich gestorben: er hat allen anderen gezeigt, wie man es nicht machen darf. Und das zu wissen, ist eigentlich das Allerwichtigste beim Erfinden. Die Erfindung läuft stets zwangsmäßig, so daß sie sich nach und nach alle Wege versperrt, bis endlich der einzig richtige übrig bleibt.

So schloß damals der Tag mit der Überzeugung, mein richtiges Verfahren sei das Ausstreuen. Das, woran ich zuerst gedacht hatte. Denn es gibt auch einen dunklen Trieb zum Erfinden, und weil dem die meisten Erfinder ausschließlich vertrauen, haben sie so oft auch dunkle und traurige Schicksale.

Am nächsten Morgen brachte ich Streuer mit. Mehrere Modelle, so wie ich sie auftreiben konnte. Ein gewöhnliches Salzfaß, wie es auf jedem Wirtstische steht. Einen Puderstreuer für Ärzte und kleine Kinder, einen Zerstäuber, wie man ihn als Retter der Nachtruhe vorsorglich auf die Reisen nach Osten mitnimmt. Dann ging es ans Versuchen. Auf Bogen weißen und schwarzen Papiers, die mit nummerierten Quadraten bedeckt waren, wurde mein Material leicht ausgestreut und dann auf den Quadraten gezählt, wie viele Körnchen sich darauf befanden.

Mit dem Zerstäuber ging es überhaupt nicht. Und Puderbüchse und Salzfaß streuten Reihen. Die Quadrate der unteren Reihe enthielten das Doppelte und Dreifache an Material, wie die der höheren Reihen, und ringsum gab es entweder weniger oder, wenn man dann nachhalf, wieder mehr davon, als man haben wollte.

Da war mein Schiff festgefahren und blieb tagelang stecken, bis ich den richtigen Weg fand.

Man glaub immer, folgenschwere Ereignisse unseres Daseins müßten freilich, angekündigt durch Vorläufer, empfangen mit Glanz und Aufsehen, etwa wie die Fürsten in unser Leben eintreten. Nichts ist irriger als das. Das Freudigste und das Schrecklichste kommt immer mit dem gleichgültigen Gesicht des Alltags, verklei-det im Gewand des Unbedeutenden, und mag es darunter noch soviel bergen.

So war es auch mit jener Idee, der ich soviel zu danken habe. Ein beiläufiger Ein-fall brachte die Wendung: Die am Anfang ganz bedeutungslos erscheinende Frage, wie denn die Natur das Ausstreuen besorge. Die Pflanzen sind darauf angewiesen, und zwar, wie ein wenig Nachdenken sofort sagt, auf genau dasselbe gleichmäßige Ausstreuen, das auch ich anstrebte. Wenn ein Pilz für seine Nachkommenschaft sorgt, bleibt ihm kein anderer Weg dazu, als die junge Generation, die Pilzsporen, dem Wind anzuvertrauen, damit er sie aussäe, denn es gibt nur wenige im Was-ser lebende Pilze und noch weniger solche, denen Insekten oder Schnecken diesen Dienst besorgen. In gleicher Lage sind die Moose. Auch sie streuen ihre Sporen aus den Kapseln in die Luft. Wenn sie nicht gleichmäßig ausgestreut werden, keimen

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zwei oder noch mehr dicht nebeneinander und machen sich dann in jeder Weise den Lebensraum streitig.

Sofort sah ich ein, daß die Natur eine Lösung meines Problems gefunden haben müsse. Ich brauchte sie nur nachzuahmen und war dann jeder Sorge enthoben.

Aber so eine Sporenkapsel, wie ich sie mir sofort vom gemeinen Widerton, wie er allenthalben an feuchten Waldstellen wächst, heimtrug und daraufhin studierte, ist eine gar verwickelt gebaute Vorrichtung. Solange sie jung und grün ist, sitzt ein Häubchen darauf und darunter immer noch ein kleiner Deckel, wie eine Zipfel-mütze. Erst wenn die Kapsel reift, fällt der Deckel ab und offenbart nun erst recht allerlei neue Einrichtungen. Am Kapselrand ist eine große Anzahl feiner Zähn-chen vorhanden, deren Spitzen mit einer hauchzarten, weißen Haut verbunden sind, die die Kapsel wieder verschließt. Diese Zähne sind nun empfindlich für die Feuchtigkeit der Luft. Ist die Luft feucht, bleiben sie dichtgedrängt liegen, und die Streubüchse ist fest verschlossen. Ist aber die Luft trocken, dann trocknen auch sie aus, strecken sich grade, heben den Deckel, und nun werden seitwärts die vielen Zahnlücken sichtbar. Die Sporenkapsel federt an ihrem elastischen Stiel und streut dann Sporen aus.

Diese Erfindung war mir zu verwickelt. Da ich aber nun einmal den Weg ge-funden hatte, brauchte ich auf ihm nur weiter zu suchen, um ein für meine Zwecke geeigneteres Modell zu finden. Und ich fand es in den Kapseln des Mohns. Jeder-mann kennt sie; jedermann weiß, daß die unter dem Deckel in Kreise angeordne-ten Löcher dazu dienen, die kleinen Mohnkörner auszustreuen, aber noch nie hat jemand daran gedacht, daß hier eine Erfindung der Pflanze gegeben sei, welche die unsrigen übertrifft. Ich weiß das deswegen so genau, weil ich es geprüft habe. Eine Mohnkapsel, gefüllt mit den Körnchen meiner Erde, streute sie viel gleichmäßiger aus, als es mir bis dahin gelungen war.

Staunend, verwirrt, voll unbestimmter Freude stand ich am Anfang eines We-ges. Mit einem kühnen Entschluß wollte ich Gewissheit haben. Ich zeichnete einen Streuer für Salz, für Puder und sonst medizinische Zwecke nach dem Modell der Mohnkapsel und meldete das als Erfindung zum Musterschutz an.

Man hat mir den Schutz nicht bestritten; eine Erfindung war gemacht. Nach kur-zem erhielt ich das vom Patentamt bestätigt unter Nr. 723 730.

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Das Wichtigste war mir das Prinzip, das richtige Gesetz, und indem ich das sorgsam wägende und alles Technische kennende Patentamt mir bestä-tigte, daß hier wirkliche Erfindungen vorliegen, hat es mein Ge-setz, die Wahrheit meiner Lehre bestätigt und damit den praktischen Nutzen einer Philosophie gewissermaßen amtlich beglaubigt, bevor noch diese Phi-losophie richtig ins Leben getreten war.

So ist eine neue Wissenschaft entstanden: die Biotechnik. Und von deren Grundgedanken soll dieses Büchlein handeln.

Ich will es sagen, warum die technischen Schutzbehörden meine Einfälle für gut fanden, trotzdem ich kein Techniker bin. Weil sie auf einem Gesetz der Welt beru-hen. Und Gesetze der Natur sind immer wahr und damit auch praktisch zugleich.

Alles muß daher seine beste Form, sein Optimum haben, das zugleich sein Wesen ist. Mit anderen Worten, da der Satz gar so wichtig ist; es gibt für jedes Ding, sei das nun eine Sache oder ein Gedanke, gesetzmäßig nur eine Form, die allein dem Wesen des Dinges entspricht und die, wenn sie geän-dert wird, nicht den Ruhezustand, sondern Prozesse auslöst. Diese Prozesse wirken zwangsläufig, nämlich gesetzmäßig durch immer wieder einsetzende Zerstörung der Form, bis wieder die optimale, die essentielle Ruheform erreicht ist, in der Form und Wesen wieder eins sind.

Diese Rückkehr erfolgt auf dem kürzesten Wege. Man nennt ihn den des kleins-ten Kraftmaßes und hat das im Alltagsleben längst erfaßt, weil jeder weiß, daß der

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kürzeste Weg stets der beste ist. Dieses kleinste Kraftmaß ist auch ausgedrückt, wenn 1 = 1. Denn die Identität ist zugleich der kürzeste Weg zu sich selber. Die optimale Form ist auch die des kleinsten Kraftmaßes, die der intensivsten Funktion.

Wie eine Keilinschrift in die Felsen, sind mit diesen lapidaren Sätzen die Grund-kenntnisse über Form und Funktion unvergänglich in unser Erkennen eingemeißelt.

Was vor zwei Menschenaltern so viel bestaunt und maßlos bewundert wurde, der Gedanke der Auslese, ist durch diese höchst einfachen und so klaren Ab-leitungen, daß jeder sie im eigenen Denken nachprüfen kann, als geradezu selbst-verständliches Weltgesetz erkannt. Jede Form ändert sich, keine ist dauernd, bis sie nicht die optimale Form ist, die dann stets dem Wesen der Dinge entspricht. Ununterbrochen werden so durch eine automatische Weltselektion die Formen aus-gelesen, und alles Unvollkommene ruht so lange nicht, bis es nach seiner Art voll-kommen wird. Alle Änderungen vollziehen sich aber auch im Rahmen des Gesetzes vom kleinsten Kraftmaß, das, auf die Prozesse angewendet, auch Ökonomiege-setz heißen kann.

Es ist das Gesetz jeder Funktion, daß sie selektiv zum kürzesten Prozeß zu wer-den trachtet. In ein ganz einfaches Beispiel umgesetzt: ein Stein, der seine Ruhelage verloren hat, trachtet, auf dem kürzesten Wege sie wieder zu finden, und von vielen Steinen, die bergab rollen, wird der am raschesten die Ruhelage wieder erlangen, der senkrecht zur Tiefe fällt. Der Vorgang selbst wirkt in seiner berechenbaren Un-bedingtheit und Gleichmäßigkeit gesetzmäßig auf uns; wir sehen ihn oftmals sich abspielen und abstrahieren aus diesen Erfahrungen den Begriff Gravitationsgesetz, noch allgemeiner den des Naturgesetzes.

Der kürzeste Weg, auf dem ein Prozeß sein Ende erreicht, ist sein Naturgesetz; der kleinste Widerstand, den ein Ding gegen die Herstellung seiner dauernden Ruheform leistet, wird erreicht, wenn es seine optimale Form, seine Funktionsform im mathematischen Sinn annimmt.

Ich gebe ohne weiteres zu, daß ich mit diesen Gedanken einen beschwerlichen, anstrengenden Weg gehe. Aber wer mitging, wird mir zugeben, daß nun die Höhe erreicht ist und durch eine unbeschreiblich weite Aussicht belohnt wird.

Denn man versteht nun, was Naturgesetze sind und daß zu jedem Prozeß ebenso notwendige Urformen dessen, was sich ändert, gehören. Wenn man aus den Regionen dieser höchsten Abstraktionen, in deren klarer Eisesluft man glaubt, nicht lange atmen zu können, herabsteigt, so kann man das gleiche viel verständlicher

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und alltaggewohnter ausdrücken in dem uns nun vollständig motivierten Satz: Je-der Vorgang hat seine notwendige technische Form.

Die technischen Formen entstehen immer als Funktionsform durch Prozesse. Sie folgen dem Gesetz des kürzesten Ablaufes und sind stets Versuche, um optimale Lösungen des jeweils gegebenen Problems anzubahnen. Jeder Prozeß schafft sich so selbst seine technische Form, Kühlung erfolgt nur an auskühlenden Flächen, Druck nur an Druckpunkten, Zug an Zuglinien; Bewegung schafft sich Bewegungsformen, jede Energie ihre Energieform.

So hat auch das Leben eine Lebensform. Jeder seiner Funktionen entspricht eine bestimmte Gestaltung. Und das Leben als zusammenwirkende Einheit hat seine eigene Individuation. Jedermann, der heute auch nur ein wenig naturwissenschaft-liche Bildung hat, kennt sie bereits. Es ist das Protoplasma in seiner „technischen Form“, der Zelle.

Eine vortrefflich handsame Definition der Zelle bietet sich dadurch dar: sie ist die technische Form des Lebens.

Mit einem Schlag ist durch sie alles verständlich an dem abenteuerlichen und fremdartigen, kleinen, grauen Untier, das man eine protoplasmaerfüllte, lebende Zelle nennt. Alle ihre Absonderlichkeiten sind dadurch erklärt, daß man sie als die optimalen Formen der Lebensfunktionen ansieht. Was kann das Lebende alles ma-chen, was muß es machen, um am Leben zu bleiben? Es muß, da es auf die Dinge der Welt wirken will, selber dinghaft, substanziell sein. Es muss also Materie haben. Die Zelle muß, bevor sie sich spezialisiert, die Fähigkeit besitzen, jede Form an-zunehmen. Daher ist das Protoplasma flüssig und elastisch; es ist amöboid. Sei-ne Außenschicht ist die technische Form einer unbegrenzten Beweglichkeit, sie ist nämlich formlos, daher imstande, jede Form anzunehmen. Je nach der Bewegungs-art gestaltet daraus die Bewegung ihre für sie optimale Funktionsform: das Schein-füßchen zum Kriechen, den wogenden, wallenden Saum zu fließen, die Geißel zum schnellen Schwimmen.

Im Protoplasma selbst hat wieder jede seiner Tätigkeiten sich nach dem Gesetz des geringsten Widerstandes entsprechende Teile herausmodelliert: die Fortpflan-zung den Zellkern, die Ausscheidung ihre luft- und flüssigkeitsgefüllten Blasen und die abgeschiedenen Stoffe, zusammengedrängt in den kleinsten Raum, die kugeli-gen Körnchen.

Bis zur letzten Grenze des Sichtbaren hinab ist kein Teilchen darin, das nicht dem Gesetz der technischen Formen gehorchte. Und ihm unterworfen ist auch die

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Zelle als Ganzes, ob sie nun als Einzelgebilde Staubkorngroß für sich dahinlebt oder selber nur Teil eines größeren Systems ist, das aus der Nacht der Unsichtbarkeit he-raustritt und auch der alltäglichen Erfahrung als Pflanze und Tier wohl vertraut ist.Für alle Funktionen hat die Zelle alle technischen Formen bereit.

Es schreiben sich also die Eigenschaften selber mit Notwendigkeit ihre Formen vor. Darum läßt sich stets – und das ist der wichtigste Satz der technischen Formenlehre, deren Anfangsgründe wir hier studieren – aus der Gestalt die Tätigkeit, die Ursache der Form erschließen. In der Natur sind alle Formen erstarrte Prozesse und jede Gestaltung, an der wir uns ergötzen, eine Not-wendigkeit. Weiterführende Literatur

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Einführender Kommentar zu Hans Drieschs „Die Maschine und der Organismus“

von Tim SchumacherIn der Biologie zeigen sich am Beginn des 20. Jahrhunderts zwei Denkrichtungen als dominant. Die eine Denkrichtung (Mechanismus) postuliert, Leben sei nichts weiter als eine komplizierte, physikalisch-chemische Erscheinung. Dabei werden Lebewesen als „Maschinen“ aufgefasst und die Aufgabe der Biolog*innen wird da-rin gesehen, diese Maschinen auf Grundlage von physikalischen und chemischen Prinzipien zu erklären.

Die zweite Auffassung (Vitalismus) behauptet dagegen, es existiere eine beson-dere Lebenskraft, die den Lebewesen eigen sei. Diese physikalisch nicht erklärbare Lebenskraft sei es, die der unbelebten Materie Leben „einhaucht“.

Als der Vitalismus schon weitgehend tot geglaubt war, wird 1867 in Kreuznach der zukünftige Biologe und Philosoph Hans Adolf Eduard Driesch geboren. Durch seine biologische Ausbildung ist Drieschs Weltbild zunächst mechanistisch geprägt. Nach der Schule studiert er Zoologie und Botanik u. a. bei August Weismann1, wel-cher als einer der bedeutendsten Evolutionstheoretiker gilt. Nach seinem Studium in Deutschland forscht Driesch an der Zoologischen Station in Neapel.2 Dort führt er Experimente an Seeigelkeimen durch: Er trennt die Keime und beobachtet, dass sich die einzelnen Zellen genauso entwickeln, als wenn sie nicht von ihren Schwes-terzellen getrennt worden wären. Jede Zelle ist in der Lage, einen kompletten Or-ganismus hervorzubringen. Driesch variiert die Experimente mit anderen Orga-nismen und stößt dabei immer wieder auf die Fähigkeit, Zerstörtes selbstständig wiederherzustellen. Driesch ist irritiert, weil es ihm nicht gelingt, diese Fähigkeit auf mechanistische Weise zu erklären. Einem Mechanismus, so schreibt er, könne man nicht an beliebigen Stellen beliebige Teile entnehmen, ohne ihn zu zerstören.

Die in Drieschs Augen mechanistisch nicht erklärbaren Ergebnisse seiner Ex-perimente führen ihn zur Philosophie. Er hält es für unmöglich, die Entwicklung von Organismen mechanistisch zu erklären und fordert daher zusätzlich zu den physikalisch-chemischen Vorgängen einen Naturfaktor, welchen er – ausgehend von Aristoteles – „Entelechie“ nennt.3 Dieser immaterielle Faktor greift von „au-ßerhalb“ in die Materie ein und macht den Unterschied zwischen Belebtem und Unbelebtem.

Mit diesem Ansatz wird Driesch zu einem zentralen Vertreter des Neovitalis-mus. In den 1920er und 1930er Jahren veröffentlicht er zahlreiche Werke der Bio-philosophie und entwickelt darüber hinaus eine umfangreiche Gesamtphiloso-phie, die auch die Bereiche Psychologie, Wissenschaftstheorie, Relativitätstheorie und Ethik umfasst. In Drieschs Werken schlägt sich sein wissenschaftlicher Hin-tergrund in Form eines methodischen und wissenschaftlichen Argumentations-stils nieder.

So auch in seinem Werk Die Maschine und der Organismus von 1935. Darin bringt Driesch zahlreiche Argumente gegen den Mechanismus und erläutert schließlich seinen Begriff der Entelechie. Seine Argumente gegen den Mechanismus umfas-sen u. a. die schon oben erwähnte Regenerationsfähigkeit von Organismen, welche Driesch für mechanistisch unerklärbar hält. Ein weiterer zentraler Begriff ist der Begriff des „In Gang Setzens“4, der laut Driesch bei Maschinen im Unterschied zu Organismen immer vonnöten sei. Außerdem argumentiert er über die komplexen Abläufe im menschlichen Körper, dass eine Muskelkontraktion aufgrund eines elektrischen Impulses zwar mechanistisch erklärbar sei, aber die Tatsache, dass der Impuls genau in diesem Moment über diesen Nerv komme, nicht.5 Auch die selbstständige Nahrungsbeschaffung sieht Driesch als eine dem Organismus vor-behaltene Fähigkeit.6 Im Gegensatz zu Organismen müsse für eine Maschine die Energiezufuhr immer unmittelbar erreichbar sein.

Drieschs Begriff der „Entelechie“ unterscheidet sich in dem Sinne von der „Le-benskraft“ des klassischen Vitalismus, dass die Entelechie nur als in die mechani-schen Vorgänge eingreifender Faktor gesehen wird. Die rein physikalisch-chemische Funktionsweise von einzelnen organischen Vorgängen wird also nicht abgestritten, vielmehr liegt der Fokus auf dem Zusammenspiel dieser mechanischen Vorgänge und der Entelechie, welche an bestimmten Stellen eingreift.

Maschinen, die komplexe Bewegungen beherrschen, selbstständig den Weg zur Ladestation finden und sogar andere Maschinen bauen, sind heute Realität. Doch auch wenn Driesch die heutigen technologischen Entwicklungen nicht vo-rausahnen konnte und viele seiner Argumente inzwischen wegfallen, bleibt sein Standpunkt weiterhin relevant. Auch heute noch fällt es uns im Allgemeinen nicht schwer, Lebendiges von nicht Belebtem zu unterscheiden. Die Grenze zu ziehen, wird in Zukunft ohne Frage schwieriger werden und sicherlich viele weitere Theo-retiker*innen beschäftigen. Aber ein gänzliches Verschwinden der Grenze ist wohl auch in Zukunft nicht absehbar.

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Hans Driesch: Die Maschine und der Organismus (1935)1

1. Die Maschine

Als Maschine bezeichnet man in der menschlichen Technik ein aus verschiedenen Teilen zusammengesetztes materielles Gebilde, welches, wenn es „in Gang gesetzt ist“, durch die kausale Verkettung seiner Teile eine bestimmte Leistung erzielt.

Die Art der Zusammensetzung einer bestimmten Maschinenart ist zwar im Gro-ben bei ihren verschiedenen „Exemplaren“ dieselbe, nicht aber in Bezug auf die letzte materielle Struktur.

Die Leistung einer Maschine besteht in einer durch sie bewirkten materiellen Än-derung der Umwelt oder in einer Ortsbewegung der Maschine selbst.

Maschinen sind von Menschen nach „Zweck“-Gesichtspunkten gebaut, so daß also der Begriff des Zweckes in seinem eigentlichen psychologischen Sinne in den Begriff der „Leistung“ eingeht. Zur Herstellung der Teile einer bestimmten Maschi-nenart werden in der Technik oft Maschinen anderer meist einfacherer Art ver-wendet.

Die Ingangsetzung einer Maschine wird direkt oder indirekt von Menschen be-sorgt und erfolgt entweder durch einen Bewegungsakt ein für allemal (Ventilöff-nung bei der Lokomotive) oder für jede ihrer Einzelleistungen durch einen beson-deren Akt mit besonderem Zweck (Schreibmaschine).

Automatisch heißen Maschinen der ersten Art, also diejenigen, welche, einmal in Gang gesetzt, ohne weitere Eingriffe von außen her laufen.

Automatische Maschinen erfordern dauernde Energiezufuhr. Bei solchen Ma-schinen dagegen, bei denen jede Einzelheit des Geschehens besonders „ausgelöst“ wird, besorgt die jeweilige Auslösung zugleich die Zufuhr von Energie.

Es sind automatische Maschinen denkbar, welche mehrere bestimmte Leistungen in bestimmter Ordnung nacheinander vollziehen. Es handelt sich hier im Grunde um die Koppelung verschiedener Maschinen miteinander, derart, daß die Leistung der einen zugleich die andere in Gang setzt.

2. Die „bauende“ Maschine

Es sind in diesem Sinne auch bauende automatische Maschinen denkbar, obschon praktisch nicht verwirklicht; derart, daß in einer verkoppelten maschinellen Ge-samtheit der eine Teil einen Bestandteil der materiellen Umwelt an einen bestimm-ten Ort verlagert und durch den Vollzug dieser Verlagerungsleistung zugleich einen anderen Maschinenteil in Gang setzt, welcher dem zuerst verlagerten Bestandteil der Umwelt einen zweiten in bestimmter Lage zufügt, dadurch einen dritten Ma-schinenteil in Gang setzt, welcher Entsprechendes tut usw.

Die Gesamtleistung der Maschine ist dann ein geordneter Bau, bestehend aus maschinenfremdem Material, das natürlich als vorhanden und als von der Maschi-ne erreichbar vorausgesetzt ist.

Um zu bauen, muß die „Baumaschine“, wie wir kurz sagen wollen, einer ganz be-stimmten, eben auf ihr Bauen gerichteten Bau besitzen. Das Baumaterial aber kann in sich regellos gelagert sein, wenn es nur „erreichbar“ ist.

Kann ein von einer bauenden Maschine als Gesamtleistung gelieferter Bau selbst eine Maschine, die zu „Leistung“ befähigt ist, sein? Die Antwort lautet grundsätz-lich bejahend, und zwar ist sogar denkbar, daß die von der bauenden Maschine ge-baute Maschine selbst wieder eine bauende Maschine ist, wobei natürlich die Frage der Energiezufuhr gelöst sein muß.

Dem Gedanken, daß eine Baumaschine selbst „einen ganz bestimmten, eben auf ihr Bauen gerichteten Bau besitzen“ muß, soll jetzt im einzelnen nachgegangen werden.

Wir bleiben im Rahmen dieser Untersuchung zunächst bei dem bisher in Erwä-gung gezogenen technischen Maschinen-Begriff, also beim Begriff der von Men-schen zur Erreichung bestimmter Zwecke gebauten Maschinen, um freilich alsbald den Begriff „Maschine“ zu erweitern.

Wir wissen schon, daß die von Menschen gebaute Maschine nur eine Maschine im Groben ist; sie arbeitet vornehmlich mit starren bestimmt geformten materiellen

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Dingen als ihren Teilen und mit örtlich festgelegten Verbindungen zwischen ihnen (Gelenke, Scharniere usw.). Chemische und elektrische Geschehnisse mögen sich an bestimmten Stellen in das gesamte zur Leistung führende Geschehen an der Ma-schine einfügen. Eine Sachlage, angesichts deren man auch sagen könne, es werde nun eben im Rahmen einer Gesamtmaschine die Teilmaschine B durch das Getrie-be der Teilmaschine A in Gang gesetzt, indem eben das in Rede stehende chemische oder elektrische Geschehnis diese Neu-ingangsetzung bedingt. –

Es soll eine kleine Hütte von bestimmten Abmessungen in den drei Dimensio-nen aus Ziegelsteinen von gegebener Form gebaut werden; die Hütte soll ein Dach von bestimmter Höhe und Form haben, wobei die Größe der Winkel, welche die Dachseiten mit der Horizontalen bilden, in Frage kommen. Die Hütte habe ferner in der Mitte einer der längeren Seitenflächen eine Tür von bestimmter Größe und Form, zu beiden Seiten der Tür habe sie bestimmt geformte aus Glas bestehende Fenster; ferner habe sie 3 Fenster an der Rück-, und je 1 Fenster an den Schmal-seiten.

Ziegelsteine und große Glasscheiben, die ersten von bestimmter Form, die zwei-ten aber nicht, sind von der Maschine „erreichbar“. Wenn dieses – praktisch sehr einfache – Gebilde von einer automatischen Maschine gebaut werden soll, was ja doch nur in Etappen geschehen kann, so muß das, was am fertigen Häuschen zu-gleich da ist, sich zurückbeziehen lassen auf eine bestimmte zeitliche Folge hin-sichtlich der einzelnen Leistungsakte der bauenden Maschine. Diese Akte müssen so in der bauenden Maschine verankert sein, daß z. B. Ziegelsteine nur so lange von ihr ergriffen und jeweils an bestimmten Orten hingelegt werden, bis die vor-geschriebene Dicke und Höhe der Wände erreicht ist. Ja auch die Orte der künftigen Glasfenster müssen, in vorgesehenem Ausmaße, von Ziegeln freigelassen werden. Sodann müssen, durch besondere Teilakte seitens der Maschine, die Glasscheiben in bestimmtem Ausmaße zerschnitten und in die vorhandenen Ziegelsteinlücken eingesetzt werden (wobei wir annehmen wollen, daß die Fenster nur Licht geben, aber nicht zu öffnen sein sollen). Endlich die, sehr einfach gedachte, Tür: sie muß zu öffnen sein, und zu diesem Zweck muß die Maschine auch Eisen zur Verfügung haben, und muß ferner so eingerichtet sein, daß sie dieses Eisen in passender Weise „zuschneiden“ und formen kann.

Sehr einfach ist der Bau, den wir unserer Baumaschine an Leistungsfähigkeit zu-schreiben, sehr einfach im Vergleich zu den, freilich nicht von „Baumaschinen“ ge-bauten, Bauten, welche in der Welt verwirklicht sind. Und doch wäre schon für

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diesen sehr einfachen Bau eine Baumaschine von einem Grad der Kompliziertheit notwendig, wie es ihn praktisch nirgends gibt: zur Erzielung einer ganz bestimm-ten Sukzession von Vorgängen müßte nämlich alles, was an dem fertigen gebauten Werke zugleich in bestimmter Ordnung da sein wird, an der bauenden Maschine vorgebildet, präformiert sein. Die statische Ordnung des Hauses muß sich projizie-ren lassen auf die dynamische Ordnung der Einzelleistungen der Baumaschine und diese wieder auf ihren Bau selbst. Also ist dem Grade der Zusammengesetztheit nach der Mannigfaltigkeitsgrad der Baumaschine derselbe wie der Grad der Man-nigfaltigkeit des fertig gedachten Baues.

3. Der Begriff „Struktur“

Wir führen jetzt, mit Rücksicht auf das Kommende, den Begriff Struktur ein und sagen, daß jede Maschine, in besonderer Höhe der Zusammensetzung aber gerade eine Baumaschine, eine Struktur haben müsse, d. h. eine bestimmte, auf die Leis-tung eingestellte, Anordnung ihrer materiellen Teile.

Bei den von Menschen gebauten Maschinen ist, wie wir wissen, nur eine „gro-be“, d.  h. eine nicht auf die letzten Bestandteile der Materie gehende Struktur vorhanden.

Wer nun aber das Dasein „natürlicher“, d. h. nicht von Menschen gebauter zu-sammengesetzter materieller Gebilde nach Art des Geschehens an einer techni-schen Maschine, d. h. durch ein Gefüge von Wirkungen zwischen Teilen, genetisch erklären, also, wie man sagt, „mechanistisch“(2) verstehen will, der muß den allge-meinen Begriff der Struktur einführen und auf die letzten Teile der Materie – ganz gleichgültig, wie er sie faßt – ihrer Lage nach anwenden. Er muß daher, wenn es sich um die mechanistische Erklärung der Entstehung zusammengesetzter „natür-licher“ Gegenstände aus einem Anfangszustand heraus handelt, diesem Anfangs-zustand eine Struktur zuschreiben, in deren sukzessivem Kräftespiel die Mannig-faltigkeit der simultanen Zusammengesetztheit des Ergebnisses der bauenden Leistung präformiert ist. Auch hier muß die statische Ordnung des Ergebnisses auf die dynamische des Ausgangsgebildes, und damit auf seinen Bau selbst projiziert werden. Denn das Ausgangsgebilde ist ja eben als „Maschine“ im mechanistischen Sinne, wenn auch jetzt nicht als grobe, sondern als elementar-intime Maschine gedacht.

Angesichts der Leistungen natürlicher Baumaschinen, (falls es sie geben sollte), fehlt der Mensch, der die Baumaschine gebaut hat; daher fehlt auch im engeren Sinne des Wortes der „Zweck“ in Hinsicht auf die Leistung. Analogienhaft frei-lich darf aber auch hier dann von einem Zweck geredet werden, wenn die in Rede stehenden natürlichen bauenden Gebilde in sehr vielen, stets das gleiche Ergebnis liefernden Exemplaren da sind. Dieser Sachverhalt ist wenigstens der erste Anlaß dazu, auf die Geschehnisse, welche ohne Zutun des Menschen zur Ausgestaltung zusammengesetzter „Bauten“ führen, den Zweckbegriff analogienhaft anzuwen-den.3 Im Verlaufe der Untersuchung ergeben sich alsdann sehr viel eindrucksvol-lere Anlässe.

Materielle Gebilde, welche den Ausgang für die Entstehung hoch zusammenge-setzter Bauten bilden, haben wir empirisch vor uns in den Ausgangsstadien der organischen Formen, insbesondere also den Eiern (und Spermien).

Wir dürfen sagen: wenn diese organischen Ausgangsgebilde „Maschinen“ wären, d. h. Gebilde, die lediglich auf Grund materieller Struktur durch die von den Teilen der Materie ausgehenden Kräften ihre Leistung vollziehen, dann müßten sie Bau-maschinen sein. Denn „gebaut“ wird ja jedenfalls, und zwar ein sehr zusammen-gesetztes Etwas: der fertige Organismus.

4. Die an eine organische Maschine zu stellenden Forderungen

Es müßten nun aber, wenn die embryonalen Ausgangsgebilde in dem von uns fest-gelegten Sinne Bau-Maschinen im mechanistischen Sinne des Wortes wären, ange-sichts gewisser durch Beobachtung festgestellter Tatsachen, folgende Anforderun-gen an sie gestellt werden: erstens, daß sie automatisch ihre Bau-Leistung vollziehen, also, einmal in Gang gesetzt, bei Energiezufuhr „von selbst“ laufen; zweitens, daß die von ihnen gebauten Maschinen ihrerseits Leistungsmaschinen sind. Denn der fertige Organismus zeigt, wie die Physiologie lehrt, ein Getriebe von Funktionen. Ja jede Etappe auf dem Weg zur Fertigstellung hin wäre sogar jeweils in sich eine Leistungsmaschine; denn auch die embryonalen Stadien „funktionieren“, obschon anders als der Erwachsene; drittens, daß die gebaute Maschine in gewissen Bestandteilen auch selbst wieder Baumaschine ist, und zwar so, daß diese Bestandteile ihrerseits denselben Bau er-richten können wie die ursprüngliche Baumaschine, deren Bauergebnis sie sind. Denn die Organismen „pflanzen sich fort“. Würde doch auch, nach rückwärts, die hypothetische Baumaschine selbst von einer Baumaschine gebaut sein.

Das Ei baut also ein Gebilde, welches leistet und auch seinerseits baut.

In diesen Forderungen, die an das embryonale Ausgangsgebilde angesichts des festgestellten Sachverhalts gestellt werden müssen, ist nun freilich zunächst noch nichts gelegen, was dagegen spräche, daß diese Ausgangsgebilde in der Tat mecha-nistisch arbeitende „Maschinen“ wären, wennschon uns die Annahme eines sehr hohen Grades der Zusammengesetzheit der embryologischen Maschine bereits hier zugemutet wird. Denn wir müssen ja alles, was die Maschine im Laufe ihres Bau-es leistet, auf ihre Struktur zurückprojizieren. Aber das ist noch kein zureichender Grund dafür, die maschinenartige Natur der embryonalen Ausgangsgebilde abzu-lehnen.

Die Gestaltung des erwachsenen Organismus aus dem Ausgangsgebilde, dem Ei, geht nun freilich in ganz wesentlich anderer Weise vor sich als die Erbauung einer Leistungs-Maschine seitens eines Menschen und auch ganz anders, als es der Fall sein würde, würde der Mensch eine echte Baumaschine erbauen, was wir ja als denkbar zuließen.

Der Mensch stellt nämlich die Maschine, die er baut, als ein fremdes Ding neben sich; eine von ihm erbaute Baumaschine, wenn wir sie uns verwirklicht denken, würde auch ihrerseits in diesem äußerlichen Verhältnis zu dem, was sie leistet, d. h. zu der von ihr erbauten Maschine stehen.

Das organische Ausgangsgebilde hat aber nicht das Ergebnis seiner Leistung „neben“ sich, sondern hat sich, wenigstens für die vorläufige erste Betrachtung, in dieses Gebilde umgestaltet.

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5. Logische Möglichkeiten einer mechanistischen Formbildungstheorie

Der mechanistischen Auffassung des Organischen, also einer solchen, die das orga-nische Ausgangsgebilde eine Maschine sein lassen möchte, stehen nun theoretisch mehrere Wege „a priori“, d. h. vor intimer Überlegung aller empirisch erhärteten Sachverhalte, im Sinne von Hypothesen offen.

Ausgeschlossen, das wollen wir immerhin zu sagen nicht unterlassen, ist frei-lich von vornherein die Auffassung, es möchten die physikalischen und chemischen Kräfte der Umwelt durch Wirkung auf das Ausgangsgebilde als auf einen durchaus indifferenten Körper den Organismus gestalten. Abgesehen von dem ungeordne-ten Charakter dieser Kräfte, fällt solche Vermutung schon allein dadurch, daß Eier verschiedener Spezies, in demselben Gefäß dicht beieinander liegend, doch stets ihrer Spezies entsprechende Gebilde gestalten trotz gleicher Umwelt; ein Satz, mit dem die allgemeine energetische und vielleicht auch sonst wesentliche Bedeutung der Umweltfaktoren natürlich nicht abgestritten wird. Aber für das Spezifische der Spezies sind sie sicher nicht wesentlich.

Es wäre nun an erster Stelle hypothetisch denkbar, daß der embryologische Formgestaltungsprozeß lediglich in der Vergrößerung einer bereits im Ausgangs-gebilde fertig daliegenden Struktur bestände, wobei freilich, wegen der fortgesetz-ten Zellteilungen während des embryologischen Verlaufs, anzunehmen wäre, daß zugleich mit diesem Größerwerden die Teile des Primärorganismus, wie wir kurz sagen wollen, sich auf die einzelnen Zellen des Sekundärorganismus etappenweise verteilten. So dachten es sich die alten „Evolutionisten“ und auch noch in gewissem Sinne Weismann(4). Das Hühnerei ist schon „das Huhn“ als submikroskopisches materielles Gebilde. Bei dieser Auffassung würde der „embryologischen“ Maschine gar keine eigentlich „bauende“ Tätigkeit vorgeschrieben, sondern lediglich, neben dem Vermögen der Zellteilung, die Fähigkeit im Wege der sogenannten Assimila-tion(5) zu wachsen.

Eine zweite Vermutung läßt nicht das embryonale Ausgangsgebilde als Ganzes schon den Erwachsenen in submikroskopischem Zustande sein, sondern läßt im Ausgangsgebilde, dem Ei, wahrscheinlich in seinem „Kern“, eine echte bauende Ma-schine gelegen sein, im Verhältnis zu welcher der Rest des Eies und die Faktoren der Umwelt „ergreifbares“ Material sind – obschon nicht im Sinne der Mechanik grober Körper. Dieser Maschinenteil im Ei wäre dann eine „Baumaschine“, die in Etappen arbeitet. Wir wissen nun, daß auf die Struktur einer solchen die simultane Mannigfaltigkeit des Ergebnisses, also in unserem Fall des erwachsenen Organis-mus, im Sinne der Ermöglichung einer Dynamik sukzessiver Vorgänge projiziert werden muß. Es könnte also der Grad der Mannigfaltigkeit der Eimaschinerie nicht geringer sein als der ihres Bauergebnisses.

An dritter Stelle hat man wohl auf dem Boden des Mechanismus vermutet, das Ei als Ganzes sei zwar nicht, wie es an erster Stelle angenommen wurde, geradezu der erwachsene Organismus im submikroskopischen Ausmaße, wohl aber sei es dynamisch auf seine Lieferung eingestellt. Durch „Wechselwirkung zwischen den Teilen“ des Gesamteies, so sagt man gern, entstehe das Endergebnis; und solche Auffassung nennt man dann, mit einem der älteren embryologischen Wissenschaft entlehnten Ausdruck, Epigenesis(6). Es wäre aber gar keine „Epigenesis“ im Sinne der Alten, denn diesem Begriff liegt das grundsätzliche, das wesenhafte Mannig-faltigerwerden des in Rede stehenden Gebildes zugrunde. Ein solches aber kann, wenn man von einem mechanistischen Automatismus reden will, gar nicht vorlie-gen. Denn wieder muß ja die simultane Mannigfaltigkeit des Ergebnisses auf eine dynamisch-sukzessive der bauenden Prozesse zurückgeführt werden; diese aber setzt eine Mannigfaltigkeit in der Struktur des Ausgangsgebildes voraus, welche zwar anders als die des Ergebnisses gestaltet, aber doch von gleichem Grade wie sie sein muß.

Eine dem Grade der Mannigfaltigkeit des Erwachsenen gleiche Mannigfaltigkeit materiell struktureller Art im Ei müssen also alle Auffassungen, wenn auch in je-weils verschiedener Form, annehmen, die überhaupt auf dem Boden der Lehre vom automatischen Mechanismus des embryologischen Prozesses denken.

6. Die Verwerfung dieser Möglichkeiten angesichts der Tatsachen

Wir prüfen nun auf Grund der durch Erfahrung erhärteten Tatsachen die a priori als möglich zugelassenen Formen der Erklärung der Reihe nach.

Die erste der im Sinne des maschinellen Automatismus von uns erörterte Mög-lichkeit, daß nämlich der embryologische Prozeß lediglich ein von Zellteilung begleitetes Wachstum einer in allen ihren Teilen vorgebildeten (submikroskopi-schen) materiellen Struktur sei, ist sehr einfach zu erledigen. Schon die allerein-fachsten Experimente auf dem Boden der Entwicklungsphysiologie entscheiden gegen sie: wenn die zwei oder die vier ersten Furchungszellen(7) eines Keimes nach Trennung voneinander jeweils den ganzen verkleinerten Organismus als Resultat der Formgestaltung ergeben, so kann diese Gestaltung unmöglich in der Zerle-gung einer Maschine im Wege der Zellteilung geschehen sein. Entspräche die hier erörterte Möglichkeit der Wirklichkeit, so müßte die isolierte Furchungszelle ein Bruchstück der Organisation des Erwachsenen liefern, was sie aber, bei sehr vielen daraufhin untersuchten organischen Formen jedenfalls, nicht tut. Noch weitere Versuchsergebnisse zur Abweisung dieser ersten theoretischen Möglichkeit heran-zuziehen, ist hier geradezu überflüssig. Erwähnt sei nur noch, daß sich auch alle unter dem Namen „Regeneration“ bekannten Vorgänge dieser Möglichkeit nicht fügen; denn „woher“ sollte die für diese Prozesse der Voraussetzung nach not-wendige Struktur stammen? Alles, was von Struktur da war, ist ja doch, sozusagen, schon „verbraucht“!

Etwas schwieriger scheint zunächst die Prüfung der beiden anderen Möglichkei-ten auf ihre theoretische Zulässigkeit zu sein. Aber auch hier läßt sich bei intimer Erwägung der bestehenden Sachverhalte die Unmöglichkeit der mechanistischen Vermutungen nachweisen.

Es soll, so sagt die zweite der Vermutungen, ein Teil des Ausgangsgebildes, des Eies, eine Maschine sein, die mit dem Rest jenes Gebildes und mit den Umwelts-faktoren, die beide für sie „ergreifbar“ sind, als mit einem Material, den Ziegeln des Baumeisters entsprechend, arbeiten. Meist sieht man den Eikern als solche im Ei gelegene Maschine an; auch wir sollen das hypothetisch annehmen; es ist für unsere Betrachtung aber gleichgültig.

Unser Argument gegen die Möglichkeit der zweiten mechanistischen Hypothese nämlich ist dieses: Viele Eier werden jeweils von einem weiblichen Organismus her-vorgebracht (und dasselbe gilt von den Spermien des männlichen). Die vielen Eier aber sind im Verlaufe der Embryologie der Mutter aus einer Zelle durch Teilung entstanden, denn ihr Eierstock stellte ja auf einem frühen embryonalen Stadium der Mutter einmal eine einzige Zelle, die Ur-eizelle dar. Wie, so fragen wir, könnte eine sehr zusammengesetzte, auf die Mannigfaltigkeit des Erwachsenen eingestellte Struktur sich fortgesetzt teilen und dabei immer ganz bleiben? Solches ist undenk-bar. Läßt man aber die Ureizelle im Leibe der Mutter die notwendige Maschinen-struktur noch nicht besitzen, so muß man fragen, woher sie denn in den einzelnen fertigen Eiern stamme, und bekommt keine Antwort! Damit ist auch die zweite a priori möglich erscheinende Vermutung des mechanistischen Denkens mit Rück-sicht auf die Grundlage des embryologischen Vorganges negativ erledigt.

Ganz ebenso steht es nun mit der dritten maschinentheoretischen Vermutung, der angeblich „epigenetischen“, d.  h. der Hypothese von der maschinenartigen Wechselwirkung.

Zunächst einmal gilt hier ganz derselbe Gedankengang, der angesichts der zwei-ten Form der mechanistischen embryologischen Theorie soeben durchgeführt wur-de: auch die Wechselwirkungslehre muß ja das Dasein einer bestimmten, sehr zu-sammengesetzten, auf die Baulieferung des Erwachsenen eingestellten Struktur im Ei annehmen; diese Struktur kann aber nicht da sein angesichts der Herkunft der vielen Eier aus dem einen Ur-ei im Organismus der Mutter.

Es kommen nun aber gerade angesichts der embryologischen Wechselwirkungs-lehre zu diesen Erwägungen noch hinzu alle die Ergebnisse, welche die experimen-telle Entwicklungsphysiologie, die fälschlich sogenannte Entwicklungs-„mechanik“, gezeitigt hat, und die ich unter dem Namen einer Theorie der „harmonisch-äqui-potentiellen Systeme“ eingehend dargelegt habe.8 Der Grundgedanke dieser Lehre ist kurz dieser: Einer strukturellen Maschinerie kann man nicht an beliebigen Orten beliebige Teile nehmen, auch kann man ihre Teile nicht beliebig verlagern, ohne die Leistungsfähigkeit grundlegend zu stören. Bei harmonisch-äquipotentiellen Zell-gesamtheiten (abgefurchter Keim, junge Organanlagen, Fälle der Regeneration) ist aber ein solcher Eingriff ohne Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit möglich. Die Maschine geht „entzwei“, das harmonische System nicht!

Damit sind alle denkbaren Modifikationen der mechanistischen embryologi-schen Lehre negativ erledigt und somit die Möglichkeit einer mechanistischen Theorie auf diesem Gebiete überhaupt. Jetzt haben positive Erwägungen über We-sen und Wirkungsart des „vitalen“9 Faktors einzusetzen, die uns hier nichts an-gehen sollen.

8. Der Energiebezug bei Maschinen und beim Organismus

Wir haben an jener Stelle unserer Betrachtungen, an welcher wir aufzählten, wel-che „Anforderungen“ an eine embryonale, formbauende Maschine, wie die Me-chanisten sie sich denken, gestellt werden müßten, auch gesagt, daß eine solche Baumaschine „automatisch“ sein, also, einmal in Gang gesetzt, bei Energiezufuhr „von selbst“ laufen müsse. Diesen Gedanken, dessen Inhalt beim ersten Erwägen manchem gar nicht sehr problemreich erscheinen möchte, wollen wir jetzt noch intimer nachgehen, und zwar zunächst rein „deskriptiv“, also ohne Rücksicht auf das vitalistische Problem.

Es liegen hier, wenn man alles erfahrungsmäßig Bekannte erwägt, im Reiche des Organischen sogar drei im höchsten Grade „problematische“ Sachverhalte vor.

Zunächst die Energiezufuhr: Bei Maschinen, welche Menschen erbaut haben, wird sie entweder von der „Natur“ geliefert, wobei freilich auch gewisse maschi-nelle Vorrichtungen hinsichtlich der Ausnutzung des von ihr Gelieferten, etwa in Form von Rädern, getroffen sein müssen (Wasser- und Windmühlen), oder aber die Energiequelle wird künstlich erzeugt (Elektrische Ströme, Kohlenbelieferung). Örtlich fixiert muß sie in jedem Fall wenigstens in gewissem Maße sein; denn sie muß von der Maschine „erreichbar“ sein. Es gibt Maschinen, bei denen eine zweite Energiequelle für eine erste, die durch irgendwelche Störung ausgeschaltet ist, ein-springen kann, und solcher Ersatz kann sogar automatisch ausgelöst werden. Auch hier aber muß alles örtlich fixiert sein.

Der Organismus hat als Energiequellen, wenn wir von wenigen Ausnahmen abse-hen, Oxydation und chemische Zersetzung. Der zur Oxydation nötige Sauerstoff ist unter normalen Umständen stets „erreichbar“; Sein Gegenpartner, die „Nahrung“, ist aber nicht immer ohne weiteres erreichbar, und da hat nun der Organismus zwei sehr seltsame Mittel zur Verfügung, um sich die nötige Energiequelle zu beschaffen: Er kann im Zustand des sogenannten Hungerstadiums Teile des eigenen Körpers, die sonst intakt geblieben wären, der Verbrennung oder Zersetzung preisgeben und tut das bekanntlich in höchst „regulatorischer“ Weise.10 Freilich tut er es, falls er frei beweglich ist, erst dann, wenn der andere Weg zur Beschaffung des einen Energie-partners erfolglos war. Dieser andere, durchaus „normale“ Weg aber ist das Aufsu-chen der Nahrung: der Organismus „probiert“ entweder in seinen Bewegungen so lange, bis er Nahrung findet, oder aber, er begibt sich dorthin, wo er sie auf Grund seiner „Erfahrung“ zu finden erwartet.

Der Betrieb der Funktionen tritt hier also ins Spiel, und zwar im Interesse der Ermöglichung des Fortganges dieses Betriebes selbst.

Die Mechanisten müssen also den Organismus einer Maschine vergleichen, wel-che sich, wenn ihr die Kohlen ausgingen, aufs „probierende“ Wandern begibt oder auch sich ohne weiteres, von beliebigem Ort aus, dorthin begibt, wo sie Kohlen zu finden „erwartet“. Da es sich nun bekanntlich, wovon sogleich noch besonders zu reden ist, um eine automatische Maschine handeln soll, muß die organische Ma-schine der Mechanisten auch noch mit der Fähigkeit ausgestattet werden, sich die Kohlen einzuverleiben an richtigem Ort, also selbst zu „heizen“.

Alles hier über den Energiebezug des Organismus Gesagte geht zunächst auf den Erwachsenen und seinen „Betrieb“. Zwischenstadien, sogenannte „embry-onale“ Stadien inmitten des Weges der Formbildung, finden bekanntlich, wenn sie echte „Embryonen“ sind, alles energetisch Nötige im Ei oder dazu noch im Mutterleib in „erreichbarer“ Form vor; sind sie „Larven“, d. h. frei beweglich und ein selbständiges Leben führend, so gilt das vom Erwachsenen Gesagte für sie: sie suchen Nahrung und „heizen“ richtig, wobei beides zu ihren Betriebsautomatis-men gehört.

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9. Der „Automatismus“

Nun der Automatismus selbst und das „In Gang setzen“. Das organische Leben spielt sich bekanntlich in Generationsfolgen ab: Ei-Erwachsener-Ei-Erwachsener-Ei usw., so lautet das Schema für die meisten organischen Wesen. Die Beiden durch die Worte „Automatismus“ und „In Gang setzen“ ausgedrückten Sachverhalte aber gestalten sich hier so, daß das jeweilige ein Bau- und Betriebsgebilde bauende An-fangsgebilde, das Ei, eines „in Gang setzenden“ Anstoßes bedarf, der durch die Be-fruchtung oder, im Falle „künstlicher Parthenogene“, ihren Ersatz geliefert wird. Das In-Gang-setzen würde hier also nicht selbst zum Automatismus gehören, son-dern ein besonderer, mit Rücksicht auf das jeweils in Rede stehende Ei von außen kommender Vorgang sein – ebenso wie das In-Gang-setzen bei von Menschen er-bauten Maschinen. Aber es gibt im Organischen Ausnahmen von der Regel: das sind erstens gewisse sich mehrere Generationen hindurch natürlich parthenoge-netisch11 fortpflanzende Metazoen12 und sodann gewisse Protisten13 (Infusorien), die sich viele Hunderte von Generationen hindurch durch Teilung ohne Konju-gation14 fortpflanzen. Hier liegt im Automatismus der früheren Generation selbst unmittelbar die In-Gang-setzung des Automatismus der späteren: ein gegebenes Ausgangsgebilde baut hier nicht nur die Form mit ihrem Getriebe und in diesem das Baugebilde für neues Bauen, das aber von außen in Gang gesetzt werden muß, sondern es sichert zugleich das In-Gang-setzen des von ihm, als Teil seiner Bauleis-tung, erbauten neuen Bauausgangsgebildes usf.

Alles, was hier über die Fragen von Energiezufuhr, Automatismus und „In Gang setzen“ im Reiche des Organischen erörtert wurde, soll nicht für sich genommen als Beweis des sogenannten Vitalismus gelten – der echten Beweise für ihn gibt es genug. Es soll nur zeigen, in wie äußerst verwickelter Weise sich die Autonomie des Organischen äußert, nachdem ihr Dasein einmal festgestellt worden ist.

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10. Organische Kausalität

Ich komme jetzt noch einmal ausdrücklich auf einen sehr wichtigen Punkt der Leh-re von der organischen Autonomie, der leider auch von sehr vielen „vitalistischen“ Seiten nicht klar gesehen wird:

Wer die mechanistische Natur der organischen Vorgänge leugnet, damit also erklärt, daß sie nicht einem Wechselspiel zwischen den Teilen der Materie auf Grundlage einer gegebenen materiellen Struktur oder Konstitution verdankt sein können, der muß einen kausal in das materielle Getriebe eingreifenden nicht-me-chanischen Faktor einführen, wie ich das in meiner Lehre von der Entelechie15getan habe – (der Einzige, der hier wirklich kausal weiter gedacht hat, ist A. Gur-witsch(16)).

Ein kausaler, ein spezifisches Werden als spezifisches Werden oder Geschehen bestimmender Faktor, muß hier aber deshalb unbedingt eingeführt werden, weil ja doch die Annahme einer materiellen vorgegebenen (präformierten) Struktur als letzte Grundlage des, menschlich gesprochen, „planvollen“ Geschehens eben ver-sagt hat, und weil doch eben Geschehen in Frage steht, sei es embryonales, regene-ratives oder funktionelles; mit dem bloßen Begriff einer „Idee“, eines „Planes“ usw. kommt man nicht aus.

Und weiter: man muß auch wenigstens versuchen, sich ein Bild von der Art und Weise der kausalen Wirkung dieses Faktors zu machen.17

Der kausale, vitale Faktor muß erstens wirken können, zweitens „affiziert“, und damit zur jeweiligen spezifischen Wirkung gleichsam aufgerufen, werden können, drittens die Modifikationen des actus und der bloßen potentia(18) aufweisen.

Das alles ist unbedingt notwendige Annahme.

Descartes(19) (für das Problem „Leib und Seele“) und E. v. Hartmann(20) haben diese Notwendigkeit gesehen, alle anderen Nicht-mechanisten, von mir und dem schon genannten Gurwitsch abgesehen, nicht.

Das Problem mag nur sozusagen schematisch behandelt werden können; in die-ser Form muß es behandelt werden. Wer es umgehen zu können glaubt, zeigt damit nur an, daß er mit seinem zergliedernden Denken zu früh Halt machte.(21)

11. Die Begriffe „Automatismus“ und „Maschine“ unter neuem Gesichtspunkt

Nach Begründung der sogenannten vitalistischen Biologie, also der Lehre von der Autonomie des Organischen, ist es natürlich mit dem mechanistischen Automa-tismus aus. Aber „von selbst“, wenn einmal in Gang gesetzt, scheint jede einzelne Embryologie doch auch jetzt zu laufen, und so könnte man denn in einem allgemei-nen Sinne des Wortes auch jetzt von einem Automatismus zu reden geneigt sein. Automatisch laufen, so könnte man sagen, heißt eben doch, auch auf vitalistischem Boden: wenn in Gang gesetzt, einsinnig im Sinne einer Kette von Vorgängen laufen, die nicht jeweils einzeln eines einzelnen Anstoßes von außen bedürfen.

Mir scheint aber, daß solche Rede einen sehr wesentlichen Sachverhalt nicht ge-nügend zum Ausdruck bringen würde:

Alle organischen Geschehensabfolgen, die formbildenden sowohl wie die funk-tionalen, sind nämlich nach der Lehre von der Autonomie des Lebendigen ein fort-währendes kausalen Hin und Her zwischen der Materie und dem nicht-mechani-schen Naturfaktor, den wir Entelechie nennen.

Nicht zwar, als ob jeder einzelne Geschehensakt im Organismus, sei er Ei oder Embryo oder Erwachsener, jeweils in seiner Einzelheit von Entelechie kausal be-einflußt würde. Es gibt im funktionalen Leben sicherlich, im formbildenden wahr-scheinlich, rein mechanische Ablaufsketten, so z.  B., wenn Erregung der letzten peripheren Endstrecke eines Nervs zur Muskelkontraktion führt. Solche Ablauf-skette mag man geradezu als mechanischen Automatismus bezeichnen. Aber, daß die Nervenerregung in einem bestimmten Fall gerade über diese Nervenendstrecke läuft und nicht über eine andere, das gehört nicht in den Rahmen eines automati-schen, mechanischen Ablaufs: an jeder Nervengabelung greift Entelechie ein. Ent-sprechendes, also reine mechanische Automatie gekoppelt mit entelechialen Ein-griffen an bestimmten Orten, mag auch im Laufe der Formbildung vorkommen, nur daß es uns hier heute nicht im einzelnen bekannt ist. In diesem Sinne habe ich bereits im Jahre 1901 von einem „Regulationsmoment“ gesprochen.22 Dieser Begriff sollte dem Sachverhalt Ausdruck geben, daß, im Rahmen des Nervenleitungsge-triebes sicherlich, im Rahmen des Formbildungsgeschehens wahrscheinlich, Ente-lechie nur eingreife, „wo es nötig ist“, um dann das materielle Getriebe sich selbst zu überlassen – bis zu einem neuen, von den jeweiligen Umständen, zumal Störungen, abhängigen Eingriff. R. L. Lillie hat sich in seinem sehr beachtenswerten Aufsatz „The directive influance in living organisms“23 in ähnlichem Sinne geäußert, wobei er auf Eddingtons(24) Begriff des „Key atoms“25 hingewiesen hat.

Im Organischen gibt es nach Betriebs- und Formstörungen selbst der gröbsten Art Ersatzleistungen: die leistet das organische Gebilde selbst auf den verschiede-nen Wegen der „Regulation“. Der „Neubau“ kann sich sogar auf den Ersatz einer ganzen Hälfte der Organisation mitsamt dem Gehirn erstrecken. Der „Führer“ der organischen Maschine – das Wort „Maschine“ nun aber wahrlich nicht im Sinne ei-nes mechanistischen Automaten genommen – hat also das Vermögen des Eingriffs in die materielle Seite des organischen Gebildes, das er lenkt, in ganz ungeheurem Ausmaße: Die organische Maschine mag sich gelegentlich, vielleicht sogar biswei-len auf weite Strecken, rein mechanisch überlassen sein. So ist es im „normalen“ Formbildungs- und Betriebsverlauf. Es kann aber, und das ist das Wesen der echten „Regulation“, an jedem Geschehensort vom Führer eingegriffen, der bisher in Gang gesetzt gewesene mechanische Ablauf also gestoppt und ersetzt werden. Man wird sagen, so sei es doch nicht bei allen Organismen. Gewiß ist das richtig. Aber es ist bei einigen, sogar bei recht vielen so. Es kann also im Organischen so sein, und das genügt für die Theorie.

Übrigens tritt bei den höchsten organischen Formen, deren Formregulationsver-mögen, wenigstens im erwachsenen Stadium, in der Tat mangelhaft ist, als Ersatz dieses Mangels nun ein Vermögen der nervös vermittelten echten Bewegungsre-gulatorik auf, das kaum weniger wunderbar ist als das Formregulationsvermögen niederer Formen. Weiterführende Literatur

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Einführender Kommentar zu Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“

von Matthias Heß und Kris SchillingWalter Benjamin (1892–1940), der aus einer assimilierten jüdischen Familie stammte, nahm sich auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus das Leben. Er war eine der intellektuell herausragendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, de-ren Wirken durch die Umstände seiner Zeit ein tragisches und allzu jähes Ende fand. Auch wenn dadurch sein Werk zum größten Teil fragmentarisch und unvoll-endet blieb, fand dieses durch die editorische Arbeit seiner engen Freunde Hannah Arendt, Theodor W. Adorno sowie Gershom Scholem den Weg ins Nachkriegs-deutschland. Somit wurde er postum zu einem der prägendsten Denker der Kultur-wissenschaften. Zu Lebzeiten fand er diese Anerkennung nicht; ein Grund hier-für liegt wohl auch darin, dass er nicht den Weg einer klassischen akademischen Laufbahn einschlug, sondern als freischaffender Schriftsteller arbeitete und sich vor allem mit Kritiken und Übersetzungen einen Namen machte.Der Akademie blieb er nur lose verbunden, indem er Beiträge veröffentlichte, die in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ erschienen sind, die 1932 vom Frankfurter Institut für Sozialfor-schung unter der Leitung von Max Horkheimer begründet wurde. Benjamin wird dadurch zum äußeren Kreis der Frankfurter Schule gezählt.

Auch wenn sein Werk als unsystematisch gilt, zieht es gerade aus diesem Aspekt einen speziellen Reiz. Benjamin hatte ein Talent dafür, auf undogmatische Wei-se Gedanken und Themenfelder kritisch-reflektierend zu verbinden, die auf den ersten Blick keine Verbindung zulassen würden; in seinem Werk schlägt sich ein Bogen von historischem Materialismus, Kapitalismuskritik, Sprach- sowie Medien-theorie, Technikphilosophie, Ästhetik, bis hin zur jüdischen Mystik. Besonders die

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ästhetisierende Verwendung von Sprache zeichnet seine Schriften aus, in denen sich stets ein literarischer Einfluss manifestiert. Bei entsprechender Kontextualisierung gewinnen seine oberflächlich oft unscharf und abstrakt erscheinenden Formulie-rungen eine philosophische Tiefenschärfe, die nach entsprechender Ergründung verlangt. In diesem Stil schrieb er Texte zur Gewalt der Institutionen, den Massen-bewegungen seiner Zeit, über Kunst und Geschichte. Geradezu mühelos verbindet er diese Themenfelder immer wieder mit genial anmutenden und überzeugenden Thesen.

So auch in seinem weltbekannten und sehr einflussreichen Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Hierin verdeutlicht er das am-bivalente Verhältnis vom Kunstwerk und seinem Replikat durch den mannigfaltig zugänglichen Begriff der Aura . Mit diesem Konzept schuf er einen Schlüsselbegriff der Kultur- sowie Kunsttheorie und gilt damit bis heute als stilprägend für diese.

In seinem gewohnt kryptischen Stil definiert er die Aura als „einmalige Erschei-nung einer Ferne, so nah sie sein mag.“1 In jeder Hinsicht wird hier die wahrnehm-bare sowie nachvollziehbare Einmaligkeit eines Originals gegenüber seinem Repli-kat betont, dennoch sticht die Ferne von Benjamins Aura hervor, welche ausdrückt, dass der/die Beobachter*in immer nur einen individuellen, auf sein/ihr Erlebnis zu-geschnittenen Zugang zum Kunstobjekt habe, welcher nicht durch ein Replikat zu ersetzen sei. Die Aura des Kunstobjekts entstehe durch seinen spezifischen Schöp-fungsprozess, seine Genealogie sowie der gesamtgesellschaftlichen Einbettung in einen kulturellen Rahmen: „Als Vorbild für dieses Verhältnis dient das Heilige, das schon seit jeher als anwesend und entfernt zugleich gedacht wurde.“2 Für Benjamin befindet sich diese Aura im Zerfall, bedroht durch die technischen Möglichkeiten der Replikation eines jeden Kunstobjekts. Das Replikat sei entrissen, es besitze kei-nen einzigartigen Schöpfungsprozess mehr, es könne nicht mehr erlebt werden wie sein Original  es sei zum Massenphänomen geworden, welches durch seine akute Wirkung in Form eines enthistorisierten Endzustandes das Selbstverständnis des Menschen verändere.

Das ferne Hier und Jetzt eines Kunstobjektes, welches bei Benjamin den erfahr-baren Höhepunkt der klassisch-tradierten Kunst darstellt, zeige als Hauptcharak-teristikum seine nachvollziehbare Echtheit an. Durch die immer weiter auf Repro-duzierbarkeit ausgelegte, säkularisierte Kunstfunktion sei der Maßstab der Echtheit jedoch verloren gegangen; bei Benjamin selbst äußert sich dieser Umstand durch eine stark von marxistischer Theorie fundierte Kapitalismuskritik. Das so geartete Bewusstsein hierfür habe wiederum Einfluss auf die Funktion der Kunst, die sich der praktisch-sozialen Dimension in steigender Maßlosigkeit öffnen könne. Die Säkularisierung ihrer ursprünglichen Ritualfunktion würde die Kunst von der Di-mension der Religion in die der Politik überführen, die somit für politische Akteure Handlungs-, Widerspruchs- und Kritikraum schaffe. Eine direkte Erwähnung des von Benjamin bekämpften Faschismus in der Schrift „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ lassen sich nur im Vorwort, einer Fußnote sowie im Nachwort finden, dennoch schwingt sein Anspruch implizit mit, neue Kunstbegriffe schaffen zu wollen, die sich einem faschistischen Zugang widersetzen sollten, und das bei allen konkreteren Ausführungen zu Massenbewegungen, Äs-thetik, Technik und seiner Beurteilung zu den gesellschaftlichen Wahrnehmungs- sowie Bewusstseinsveränderungen seiner Zeit.

Dass die Massentauglichkeit einen dauerhaften Einfluss auf die menschliche, un-bewusste Perzeption habe, und damit auf die gesamte Daseinsweise der Menschheit, ergibt sich für Benjamin aus einem genuin historischen Prozess der materialisti-schen Dialektik. In einem Zeitalter, in dem das Kunstobjekt der Masse über ein Re-plikat vermittelt wird, ändere sich die Betrachtungsweise über Kunst. Er nahm an, dass hieraus der Abschied vom klassischen Kunstbegriff erfolge und ein bestimm-barer Begriff an seine Stelle trete, welcher im Endeffekt die bewusste Apperzeption und damit in einem ersten Schritt das Kunstverständnis, in einem zweiten Schritt das menschliche Selbstbild beeinflussen könne. Die durch eine veränderte Wahr-nehmung in die Krise geratene Erfahrung von Welt sei dahingehend zu erklären, dass Menschen die Welt und das Verhältnis zu ihr durch technische Mittel in eine potentiell kontrollierbare Ordnung überführen möchten, die keinen Raum mehr lassen würde für das Ereignis unvergleichlich auratischer Erfahrungen: „Möglich-keit anstelle von Einmaligkeit, darin liegt der Angriff der Reproduzierbarkeit auf die Aura.“3

Während Benjamin bei Replikationstechniken noch von Fotografie und vom Film in seiner Urform sprach, so leben wir heute in einer Welt, in der technisch produzierte Replikate jeder Art allgegenwärtig sind; theoretische Überlegungen machen oftmals nur durch ethische Bedenken, nicht jedoch durch technische Mög-lichkeitsräume, halt vor deren praktischer Umsetzung.

Mit Benjamin lässt sich nun fragen: Welche Veränderung gehen damit in unserer kollektiven Wahrnehmung, unserem Selbstverständnis einher? Es ist anzunehmen, dass wir uns schon mitten in diesem durch Reproduktionstechniken beschleunig-ten Prozess befinden, denn der abstrakte Begriff der Aura lässt sich mit diesem Hin-tergrund nicht nur auf Kunstobjekte anwenden, auch dem menschlichen Individu-um lässt sich dieser Begriff zuschreiben. Der technische Wissenschaftsfortschritt lässt erahnen, dass wir bereits an einer weiteren Schwelle stehen, an der wir nicht nur leblose Objekte replizieren, sondern womöglich den menschlichen Organis-mus selbst. Der Transhumanismus als moderne Denkrichtung legt nahe, dass sich hier eine konkrete Wahrnehmungsverschiebung der Menschheit vollzieht, die das Potential in sich trägt, nicht nur ihr Selbstbild bis zur Unkenntlichkeit zu verzerren, sondern etwas zu ermöglichen, das über sie hinausgeht.

Ist dies der Beginn der Entwurzelung des Menschen? Findet durch die Replikati-on der Begriff „Mensch“ ein Ende oder wird er gar durch etwas Neues aus der Welt geschafft? Benjamins Werk kann uns Einblicke in diesen Prozess geben, in dem es so wirkt, als würde letztendlich auch die Aura des Menschen zerfallen. Gegen-wärtiges Sein hat auratischen Charakter, wenn es in seiner Gegenwärtigkeit den Anschein hat, als sei sein Erfahren schon Fern-Vergangenes, und was in seiner zeitlich-weltlichen Einmaligkeit dazu aufruft, so wahrgenommen  und damit er-innert  zu werden, wie es ist: „Damit ist der Aura implizit auch im Verlust der Tod einbeschrieben, der im Sommer gegenwärtige Schatten des Winters. Oder der dünne Schnitt einer zukünftigen Schrift durch die Gegenwart.“4

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Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935/36)1

„Die Begründung der schönen Künste und die Einsetzung ihrer verschiedenen Ty-pen geht auf eine Zeit zurück, die sich eingreifend von der unsrigen unterschied, und auf Menschen, deren Macht über die Dinge und die Verhältnisse verschwin-dend im Vergleich zu der unsrigen war. Der erstaunliche Zuwachs aber, den unsere Mittel in ihrer Anpassungsfähigkeit und ihrer Präzision erfahren haben, stellt uns in naher Zukunft die eingreifendsten Veränderungen in der antiken Industrie des Schönen in Aussicht. In allen Küsten gibt es einen physischen Teil, der nicht länger so betrachtet und so behandelt werden kann wie vordem; er kann sich nicht länger den Einwirkungen der modernen Wissenschaft und der modernen Praxis entzie-hen. Weder die Materie, noch der Raum, noch die Zeit sind seit zwanzig Jahren, was sie seit jeher gewesen sind. Man muß sich darauf gefaßt machen, daß so gro-ße Neuerungen die gesamte Technik der Künste verändern, dadurch die Invention selbst beeinflussen und schließlich vielleicht dazu gelangen werden, den Begriff der Kunst selbst auf die zauberhafteste Art zu verändern.“ Paul Valéry, Pièces sur l᾽art, Paris [o. J.], p. 03/04 („La conquête de l᾽ubiquité“).

Vorwort

Als Marx(2) die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise unternahm, war die-se Produktionsweise in den Anfängen. Marx richtete seine Unternehmungen so ein, daß sie prognostischen Wert bekamen. Er ging auf die Grundverhältnisse der kapi-talistischen Produktion zurück und stellte sie so dar, daß sich aus ihnen ergab, was man künftighin dem Kapitalismus noch zutrauen könne. Es ergab sich, daß man ihm nicht nur eine zunehmend verschärfte Ausbeutung der Proletarier zutrauen könne, sondern schließlich auch die Herstellung von Bedingungen, die die Abschaf-fung seiner selbst möglich machen.

Die Umwälzung des Überbaus, die viel langsamer als die des Unterbaus vor sich geht, hat mehr als ein halbes Jahrhundert gebraucht, um auf allen Kulturgebieten die Veränderung der Produktionsbedingungen zur Geltung zu bringen. In welcher Gestalt das geschah, läßt sich erst heute angeben. An diese Angaben sind gewis-se prognostische Anforderungen zu stellen. Es entsprechen diesen Anforderungen aber weniger Thesen über die Kunst des Proletariats nach der Machtergreifung, geschweige die der klassenlosen Gesellschaft, als Thesen über die Entwicklungs-tendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen. Deren Dialektik(3) macht sich im Überbau nicht weniger bemerkbar als in der Ökonomie. Darum wäre es falsch, den Kampfwert solcher Thesen zu unterschätzen. Sie setzen eine Anzahl überkommener Begriffe – wie Schöpfertum und Genialität, Ewigkeits-wert und Geheimnis – beiseite – Begriffe, deren unkontrollierte (und augenblick-lich schwer kontrollierbare) Anwendung zur Verarbeitung des Tatsachenmaterials in faschistischem Sinn führt . Die im folgenden neu in die Kunsttheorie eingeführten Begriffe unterscheiden sich von geläufigeren dadurch, daß sie für die Zwecke des Fa- schismus vollkommen unbrauchbar sind. Dagegen sind sie zur Formulierung revolu- tionärer Forderungen in der Kunstpolitik brauchbar.

I

Das Kunstwerk ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen. Was Menschen gemacht hatten, das konnte immer von Menschen nachgemacht werden. Solche Nachbildung wurde auch ausgeübt von Schülern zur Übung in der Kunst, von Meistern zur Verbreitung der Werke, endlich von gewinnlüsternen Dritten. Dem gegenüber ist die technische Reproduktion des Kunstwerkes etwas Neues, das sich in der Geschichte intermittierend, in weit auseinanderliegenden Schüben, aber mit wachsender Intensität durchsetzt. Die Griechen kannten nur zwei Verfahren tech-nischer Reproduktion von Kunstwerken: den Guß und die Prägung. Bronzen, Ter-rakotten und Münzen waren die einzigen Kunstwerke, die von ihnen massenweise hergestellt werden konnten. Alle übrigen waren einmalig und technisch nicht zu reproduzieren. Mit dem Holzschnitt wurde zum ersten Male die Graphik technisch reproduzierbar; sie war es lange, ehe durch den Druck auch die Schrift es wurde. Die ungeheuren Veränderungen, die der Druck, die technische Reproduzierbarkeit der Schrift, in der Literatur hervorgerufen hat, sind bekannt. Von der Erscheinung, die hier in weltgeschichtlichem Maßstab betrachtet wird, sind sie aber nur ein , frei-lich besonders wichtiger Sonderfall. Zum Holzschnitt treten im Laufe des Mittel-alters Kupferstich und Radierung, sowie im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Lithographie.

Mit der Lithographie erreicht die Reproduktionstechnik eine grundsätzlich neue Stufe. Das sehr viel bündigere Verfahren, das die Auftragung der Zeichnung auf einen Stein von ihrer Kerbung in einen Holzblock oder ihrer Ätzung in eine Kupferplatte unterscheidet, gab der Graphik zum ersten Mal die Möglichkeit, ihre Erzeugnisse nicht allein massenweise (wie vordem) sondern in täglich neuen Ge-staltungen auf den Markt zu bringen. Die Graphik wurde durch die Lithographie befähigt, den Alltag illustrativ zu begleiten. Sie begann, Schritt mit dem Druck zu halten. In diesem Beginnen wurde sie aber schon wenige Jahrzehnte nach der Er-findung des Steindrucks durch die Photographie überflügelt. Mit der Photographie war die Hand im Prozeß bildlicher Reproduktion zum ersten Mal von den wichtigs-ten künstlerischen Obliegenheiten entlastet, welche nunmehr dem ins Objektiv bli-ckenden Auge allein zufielen. Da das Auge schneller erfaßt, als die Hand zeichnet, so wurde der Prozeß bildlicher Reproduktion so ungeheuer beschleunigt, daß er mit dem Sprechen Schritt halten konnte. Der Filmoperateur fixiert im Atelier kurbelnd die Bilder mit der gleichen Schnelligkeit, mit der der Darsteller spricht. Wenn in der

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Lithographie virtuell die illustrierte Zeitung verborgen war, so in der Photographie der Tonfilm. Die technische Reproduktion des Tons wurde am Ende des vorigen Jahrhunderts in Angriff genommen. Diese konvergierenden Bemühungen haben eine Situation absehbar gemacht, die Paul Valéry(4) mit dem Satz kennzeichnet: „Wie Wasser, Gas und elektrischer Strom von weither auf einen fast unmerklichen Hand-griff hin in unsere Wohnungen kommen, um uns zu bedienen, so werden wir mit Bildern oder mit Tonfolgen versehen werden, die sich, auf einen kleinen Griff, fast ein Zeichen einstellen und uns ebenso wieder verlassen.“5 Um neunzehnhundert hatte die technische Reproduktion einen Standard erreicht, auf dem sie nicht nur die Gesamtheit der überkommenen Kunstwerke zu ihrem Objekt zu machen und deren Wirkung den tiefsten Veränderungen zu unterwerfen begann, sondern sich einen eigenen Platz unter den künstlerischen Verfahrungsweisen eroberte . Für das Studium dieses Standards ist nichts aufschlußreicher, als wie seine beiden verschie-denen Manifestationen – Reproduktion des Kunstwerks und Filmkunst – auf die Kunst in ihrer überkommenen Gestalt zurückwirken.

II

Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet. An diesem einmaligen Dasein aber und an nichts sonst vollzog sich die Geschichte, der es im Laufe seines Bestehens unterworfen gewesen ist. Dahin rechnen sowohl die Veränderungen, die es im Laufe der Zeit in seiner physischen Struktur erlitten hat, wie die wechselnden Besitzverhältnisse, in die es eingetreten sein mag. Die Spur der ersteren ist nur durch Analysen chemischer oder physikalischer Art zu fördern, die sich an der Reproduktion nicht vollziehen lassen; die der zweiten ist Gegenstand einer Tradition, deren Verfolgung von dem Standort des Originals ausgehen muß.

Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seiner Echtheit aus. Analysen chemischer Art an der Patina einer Bronze können der Feststellung ihrer Echtheit förderlich sein; entsprechend kann der Nachweis, daß eine bestimmte Handschrift des Mittelalters aus einem Archiv des fünfzehnten Jahrhunderts stammt, der Fest-stellung ihrer Echtheit förderlich sein. Der gesamte Bereich der Echtheit entzieht sich der technischen und natürlich nicht nur der technischen – Reproduzierbarkeit. Während das Echte aber der manuellen Reproduktion gegenüber, die von ihm im Regelfalle als Fälschung abgestempelt wurde, seine volle Autorität bewahrt, ist das der technischen Reproduktion gegenüber nicht der Fall. Der Grund ist ein dop-pelter. Erstens erweist sich die technische Reproduktion dem Original gegenüber selbständiger als die manuelle. Sie kann, beispielsweise, in der Photographie An-sichten des Originals hervorheben, die nur der verstellbaren und ihren Blickpunkt willkürlich wählenden Linse, nicht aber dem menschlichen Auge zugänglich sind, oder mit Hilfe gewisser Verfahren wie der Vergrößerung oder der Zeitlupe Bilder festhalten, die sich der natürlichen Optik schlechtweg entziehen. Das ist das Erste. Sie kann zudem zweitens das Abbild des Originals in Situationen bringen, die dem Original selbst nicht erreichbar sind. Vor allem macht sie ihm möglich, dem Auf-nehmenden entgegenzukommen, sei es in Gestalt der Photographie, sei es in der der Schallplatte. Die Kathedrale verläßt ihren Platz, um in dem Studio eines Kunst-freundes Aufnahme zu finden; das Chorwerk, das in einem Saal oder unter freiem Himmel exekutiert wurde, läßt sich in einem Zimmer vernehmen.

Die Umstände, in die das Produkt der technischen Reproduktion des Kunstwerks gebracht werden kann, mögen im übrigen den Bestand des Kunstwerks unangetas-tet lassen – sie entwerten auf alle Fälle sein Hier und Jetzt. Wenn das auch keines-wegs vom Kunstwerk allein gilt sondern entsprechend z. B. von einer Landschaft, die im Film am Beschauer vorbeizieht, so wird durch diesen Vorgang am Gegen-stande der Kunst ein empfindlichster Kern berührt, den so verletzbar kein natür-licher hat. Das ist seine Echtheit. Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. Da die letztere auf der ersteren fundiert ist, so gerät in der Reproduktion, wo die erstere sich dem Menschen entzogen hat, auch die letztere: die geschichtliche Zeugenschaft der Sache ins Wanken. Freilich nur diese; was aber dergestalt ins Wanken gerät, das ist die Autorität der Sache.

Man kann, was hier ausfällt, im Begriff der Aura zusammenfassen und sagen: was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura. Der Vorgang ist symptomatisch; seine Bedeutung weist über den Bereich der Kunst hinaus. Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formu- lieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Re- produktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte. Diese beiden Prozesse führen zu einer gewaltigen Erschütterung des Tradierten – einer Erschütterung der Tradition, die die Kehrseite der gegenwärtigen Krise und Er-neuerung der Menschheit ist. Sie stehen im engsten Zusammenhang mit den Mas-senbewegungen unserer Tage. Ihr machtvollster Agent ist der Film. Seine gesell-schaftliche Bedeutung ist auch in ihrer positivsten Gestalt, und gerade in ihr, nicht ohne diese seine destruktive, seine kathartische Seite denkbar: die Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe. Diese Erscheinung ist an den großen historischen Filmen am handgreiflichsten. Sie bezieht immer weitere Positionen in ihr Bereich ein. Und wenn Abel Gance(6) 1927 enthusiastisch ausrief: „Shakespeare, Rembrandt, Beethoven werden filmen … Alle Legenden, alle Mythologien und alle Mythen, alle Religionsstifter, ja alle Religionen … warten auf ihre belichtete Auferstehung, und die Heroen drängen sich an den Pforten“7 so hat er, ohne es wohl zu meinen, zu einer umfassenden Liquidation eingeladen.

III

Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinnes-wahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt. Die Zeit der Völkerwanderung, in der die spätrömi-sche Kunstindustrie und die Wiener Genesis entstanden, hatte nicht nur eine an-dere Kunst als die Antike sondern auch eine andere Wahrnehmung. Die Gelehrten der Wiener Schule, Riegl(8) und Wickhoff(9), die sich gegen das Gewicht der klassi-schen Überlieferung stemmten, unter dem jene Kunst begraben gelegen hatte, sind als erste auf den Gedanken gekommen, aus ihr Schlüsse auf die Organisation der Wahrnehmung in der Zeit zu tun, in der sie in Geltung stand. So weittragend ihre Erkenntnisse waren, so hatten sie ihre Grenze darin, daß sich diese Forscher be-gnügten, die formale Signatur aufzuweisen, die der Wahrnehmung in der spätrömi-schen Zeit eigen war. Sie haben nicht versucht – und konnten vielleicht auch nicht hoffen –, die gesellschaftlichen Umwälzungen zu zeigen, die in diesen Veränderun-gen der Wahrnehmung ihren Ausdruck fanden. Für die Gegenwart liegen die Be-dingungen einer entsprechenden Einsicht günstiger. Und wenn Veränderungen im Medium der Wahrnehmung, deren Zeitgenossen wir sind, sich als Verfall der Aura begreifen lassen, so kann man dessen gesellschaftliche Bedingungen aufzeigen.

Es empfiehlt sich, den oben für geschichtliche Gegenstände vorgeschlagenen Be-griff der Aura an dem Begriff einer Aura von natürlichen Gegenständen zu illustrie-ren. Diese letztere definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen. An der Hand dieser Beschreibung ist es ein Leichtes, die gesellschaftliche Bedingtheit des gegenwärtigen Verfalls der Aura einzusehen. Er beruht auf zwei Umständen, die beide mit der zunehmenden Bedeutung der Massen im heutigen Leben zusammenhängen. Nämlich: Die Din-ge sich räumlich und menschlich „näherzubringen“ ist ein genau so leidenschaft-liches Anliegen der gegenwärtigen Massen wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion ist. Tagtäglich macht sich unabweisbarer das Bedürfnis geltend, des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion, habhaft zu werden. Und unverkennbar unterscheidet sich die Reproduktion, wie illustrierte Zeitung und Wochenschau sie in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschränkt wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jener. Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren „Sinn für das Gleichartige in der Welt“ so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt. So bekundet sich im anschaulichen Bereich was sich im Bereich der Theorie als die zunehmende Bedeutung der Statistik bemerkbar macht. Die Aus-richtung der Realität auf die Massen und der Massen auf sie ist ein Vorgang von unbegrenzter Tragweite sowohl für das Denken wie für die Anschauung.

120
IV

Die Einzigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zu-sammenhang der Tradition. Diese Tradition selber ist freilich etwas durchaus Le-bendiges, etwas außerordentlich Wandelbares. Eine antike Venusstatue z. B. stand in einem anderen Traditionszusammenhange bei den Griechen, die sie zum Gegen-stand des Kultus machten, als bei den mittelalterlichen Klerikern, die einen unheil-vollen Abgott in ihr erblickten. Was aber beiden in gleicher Weise entgegentrat, war ihre Einzigkeit, mit einem anderen Wort: ihre Aura. Die ursprüngliche Art der Ein-bettung des Kunstwerks in den Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult. Die ältesten Kunstwerke sind, wie wir wissen, im Dienst eines Rituals entstan-den, zuerst eines magischen, dann eines religiösen. Es ist nun von entscheidender Bedeutung, daß diese auratische Daseinsweise des Kunstwerks niemals durchaus von seiner Ritualfunktion sich löst.10 Mit anderen Worten: Der einzigartige Wert des „echten“ Kunstwerks hat seine Fundierung im Ritual, in dem es seinen originä-ren und ersten Gebrauchswert hatte. Diese mag so vermittelt sein wie sie will, sie ist auch noch in den profansten Formen des Schönheitsdienstes als säkularisiertes Ritual erkennbar. Der profane Schönheitsdienst, der sich mit der Renaissance her-ausbildet, um für drei Jahrhunderte in Geltung zu bleiben, läßt nach Ablauf dieser Frist bei der ersten schweren Erschütterung, von der er betroffen wurde, jene Fun-damente deutlich erkennen. Als nämlich mit dem Aufkommen des ersten wirk-lich revolutionären Reproduktionsmittels, der Photographie (gleichzeitig mit dem Anbruch des Sozialismus) die Kunst das Nahen der Krise spürt, die nach weiteren hundert Jahren unverkennbar geworden ist, reagierte sie mit der Lehre vom l᾽art pour l᾽art, die eine Theologie der Kunst ist. Aus ihr ist dann weiterhin geradezu eine negative Theologie in Gestalt der Idee einer „reinen“ Kunst hervorgegangen, die nicht nur jede soziale Funktion sondern auch jede Bestimmung durch einen gegenständlichen Vorwurf ablehnt. (In der Dichtung hat Mallarmé(11) als erster die-sen Standort erreicht.) Diese Zusammenhänge zu ihrem Recht kommen zu lassen, ist unerläßlich für eine Betrachtung, die es mit dem Kunstwerk im Zeitalter sei-ner technischen Reproduzierbarkeit zu tun hat. Denn sie bereiten die Erkenntnis, die hier entscheidend ist, vor: die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks emanzipiert dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual. Das reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks. Von der photographischen Platte z. B. ist eine Vielheit von Abzügen möglich; die Frage nach dem echten Abzug hat keinen Sinn. In dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte soziale Funk-tion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fun-dierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik.

IX

Dem Film kommt es viel weniger darauf an, daß der Darsteller dem Publikum einen anderen, als daß er der Apparatur sich selbst darstellt. Entscheidend bleibt, daß für eine Apparatur – oder, im Fall des Tonfilms, für zwei – gespielt wird. „Der Film-darsteller“, schreibt Pirandello(12), „fühlt sich wie im Exil. Exiliert nicht nur von der Bühne, sondern von seiner eigenen Person. Mit einem dunklen Unbehagen spürt er die unerklärliche Leere, die dadurch entsteht, daß sein Körper zur Ausfallserschei-nung wird, daß er sich verflüchtigt und seiner Realität, seines Lebens, seiner Stim-me und der Geräusche, die er verursacht, indem er sich rührt, beraubt wird.“13 Zum ersten Mal kommt der Mensch in die Lage unter Verzicht auf deren Aura wirken zu müssen. Denn die Aura ist an sein Hier und Jetzt gebunden. Es gibt kein Abbild von ihr. Die Aura, die auf der Bühne um Macbeth ist, kann von der nicht abgelöst wer-den, die für das lebendige Publikum um den Schauspieler ist, welcher ihn spielt. Das Eigentümliche der Aufnahme im Filmatelier aber besteht darin, daß sie an die Stelle des Publikums die Apparatur setzt. So muß die Aura, die um den Darstellenden ist, fortfallen – und damit zugleich die um den Dargestellten.

X

Das Befremden des Darstellers vor der Apparatur, wie Pirandello es schildert, ist von Haus aus von der gleichen Art wie das Befremden des Menschen vor seiner Erscheinung im Spiegel. Nun aber ist das Spiegelbild von ihm ablösbar, es ist trans-portabel geworden. Und wohin wird es transportiert? Vor das Publikum. Das Be-wußtsein davon verläßt den Filmdarsteller nicht einen Augenblick. Der Filmdar- steller weiß, während er vor der Apparatur steht, hat er es in letzter Instanz mit dem Publikum zu tun: dem Publikum der Abnehmer, die den Markt bilden. Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden. Diesen Anspruch ver-deutlicht am besten ein Blick auf die geschichtliche Situation des heutigen Schrift-tums. Jahrhunderte lang lagen im Schrifttum die Dinge so, daß einer geringen Zahl von Schreibenden eine vieltausendfache Zahl von Lesenden gegenüberstand. Darin trat gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ein Wandel ein. Mit der wachsenden Aus-dehnung der Presse, die immer neue politische, religiöse, wissenschaftliche, beruf-liche, lokale Organe der Leserschaft zur Verfügung stellte, gerieten immer größere Teile der Leserschaft – zunächst fallweise – unter die Schreibenden. Damit ist die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum im Begriff, ihren grundsätzlichen Charakter zu verlieren. Sie wird eine funktionelle, von Fall zu Fall so oder anders verlaufende. Der Lesende ist jederzeit bereit, ein Schreibender zu werden. Alles das läßt sich ohne weiteres auf den Film übertragen, wo Verschiebungen, die im Schrift-tum Jahrhunderte in Anspruch genommen haben, sich im Laufe eines Jahrzehnts vollzogen.

XII

Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verändert das Verhältnis der Masse zur Kunst. Aus dem rückständigsten, z. B. einem Picasso gegenüber, schlägt es in das fortschrittlichste, z. B. angesichts eines Chaplin, um. Dabei ist das fort-schrittliche Verhalten dadurch gekennzeichnet, daß die Lust am Schauen und am Erleben in ihm eine unmittelbare und innige Verbindung mit der Haltung des fach-männischen Beurteilers eingeht. Solche Verbindung ist ein wichtiges gesellschaft-liches Indizium. Je mehr nämlich die gesellschaftliche Bedeutung einer Kunst sich vermindert, desto mehr fallen – wie das deutlich angesichts der Malerei sich er-weist – die kritische und die genießende Haltung im Publikum auseinander. Das Konventionelle wird kritiklos genossen, das wirklich Neue kritisiert man mit Wi-derwillen. Im Kino fallen kritische und genießende Haltung des Publikums zusam-men. Und zwar ist der entscheidende Umstand dabei: nirgends mehr als im Kino erweisen sich die Reaktionen der Einzelnen, deren Summe die massive Reaktion des Publikums ausmacht, von vornherein durch ihre unmittelbar bevorstehende Massierung bedingt. Und indem sie sich kundgeben, kontrollieren sie sich. Auch weiterhin bleibt der Vergleich mit der Malerei dienlich. Das Gemälde hatte stets ausgezeichneten Anspruch auf die Betrachtung durch Einen oder durch Wenige. Die simultane Betrachtung von Gemälden durch ein großes Publikum, wie sie im neunzehnten Jahrhundert aufkommt, ist ein frühes Symptom der Krise der Malerei, die keineswegs durch die Photographie allein, sondern relativ unabhängig von die-ser durch den Anspruch des Kunstwerks auf die Masse ausgelöst wurde.

XIII

Seine Charakteristika hat der Film nicht nur in der Art, wie der Mensch sich der Aufnahmeapparatur, sondern wie er mit deren Hilfe die Umwelt sich darstellt. Ein Blick auf die Leistungspsychologie illustriert die Fähigkeit der Apparatur zu testen. Ein Blick auf die Psychoanalyse illustriert sie von anderer Seite. Der Film hat unsere Merkwelt in der Tat mit Methoden bereichert, die an denen der Freudschen Theorie illustriert werden können. Eine Fehlleistung im Gespräch ging vor fünfzig Jahren mehr oder minder unbemerkt vorüber. Daß sie mit einem Male eine Tiefenperspek-tive im Gespräch, das vorher vordergründig zu verlaufen schien, eröffnete, dürfte zu den Ausnahmen gezählt haben. Seit der „Psychopathologie des Alltagslebens“(14)hat sich das geändert. Sie hat Dinge isoliert und zugleich analysierbar gemacht, die vordem unbemerkt im breiten Strom des Wahrgenommenen mitschwammen. Der Film hat in der ganzen Breite der optischen Merkwelt, und nun auch der akusti-schen, eine ähnliche Vertiefung der Apperzeption zur Folge gehabt. Es wird eine der revolutionären Funktionen des Films sein, die künstlerische und die wissenschaftliche Verwertung der Photographie, die vordem meist auseinander fielen, als identisch er- kennbar zu machen.

Indem der Film durch Großaufnahmen aus ihrem Inventar, durch Betonung versteckter Details an den uns geläufigen Requisiten, durch Erforschung banaler Milieus unter der genialen Führung des Objektivs, auf der einen Seite die Einsicht in die Zwangsläufigkeiten vermehrt, von denen unser Dasein regiert wird, kommt er auf der anderen Seite dazu, eines ungeheuren und ungeahnten Spielraums uns zu versichern! Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung. Und so wenig es bei der Vergrößerung sich um eine bloße Ver-deutlichung dessen handelt, was man „ohnehin“ undeutlich sieht, sondern viel-mehr völlig neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein kommen, so we-nig bringt die Zeitlupe nur bekannte Bewegungsmotive zum Vorschein, sondern sie entdeckt in diesen bekannten ganz unbekannte, „die gar nicht als Verlangsa-mungen schneller Bewegungen sondern als eigentümlich gleitende, schwebende, überirdische wirken.“15 So wird handgreiflich, daß es eine andere Natur ist, die zu der Kamera als die zum Auge spricht. Anders vor allem dadurch, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durch-wirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer vom Gang der Leute, sei es auch nur im Groben, sich Rechenschaft ablegt, so weiß er bestimmt nichts von ihrer Hal-tung im Sekundenbruchteil des Ausschreitens. Ist uns schon im Groben der Griff geläufig, den wir nach dem Feuerzeug oder dem Löffel tun, so wissen wir doch kaum von dem, was sich zwischen Hand und Metall dabei eigentlich abspielt, geschweige wie das mit den verschiedenen Verfassungen schwankt, in denen wir uns befinden. Hier greift die Kamera mit ihren Hilfsmitteln, ihrem Stürzen und Steigen, ihrem Unterbrechen und Isolieren, ihrem Dehnen und Raffen des Ab-laufs, ihrem Vergrößern und ihrem Verkleinern ein. Vom Optisch-Unbewußten erfahren wir erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psy-choanalyse.

125
XV

Die Masse ist eine Matrix, aus der gegenwärtig alles gewohnte Verhalten Kunstwer-ken gegenüber neugeboren hervorgeht. Die Quantität ist in Qualität umgeschlagen: Die sehr viel größeren Massen der Anteilnehmenden haben eine veränderte Art des Anteils hervorgebracht. Es darf den Betrachter nicht irre machen, daß dieser Anteil zunächst in verrufener Gestalt in Erscheinung tritt. Doch hat es nicht an solchen gefehlt, die sich mit Leidenschaft gerade an diese oberflächliche Seite der Sache ge-halten haben. Unter diesen hat Duhamel(16) sich am radikalsten geäußert. Was er dem Film vor allem verdenkt, ist die Art des Anteils, welchen er bei den Massen er-weckt. Er nennt den Film „einen Zeitvertreib für Heloten, eine Zerstreuung für un-gebildete, elende, abgearbeitete Kreaturen, die von ihren Sorgen verzehrt werden … ein Schauspiel, das keinerlei Konzentration verlangt, kein Denkvermögen voraus-setzt …, kein Licht in den Herzen entzündet und keinerlei andere Hoffnung er-weckt als die lächerliche, eines Tages in Los Angeles ‚Star‘ zu werden.“17 Man sieht, es ist im Grunde die alte Klage, daß die Massen Zerstreuung suchen, die Kunst aber vom Betrachter Sammlung verlangt. Das ist ein Gemeinplatz. Bleibt nur die Frage, ob er einen Standort für die Untersuchung des Films abgibt. – Hier heißt es, näher zusehen. Zerstreuung und Sammlung stehen in einem Gegensatz, der folgende For-mulierung erlaubt: Der vor dem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein; er geht in dieses Werk ein, wie die Legende es von einem chinesischen Maler beim Anblick seines vollendeten Bildes erzählt. Dagegen versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich. Die Aufgaben, welche in geschichtlichen Wendezei- ten dem menschlichen Wahrnehmungsapparat gestellt werden, sind auf dem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation, gar nicht zu lösen. Sie werden allmählich nach Anleitung der taktilen Rezeption, durch Gewöhnung, bewältigt.

Gewöhnen kann sich auch der Zerstreute. Mehr: gewisse Aufgaben in der Zer-streuung bewältigen zu können, erweist erst, daß sie zu lösen einem zur Gewohnheit geworden ist. Durch die Zerstreuung, wie die Kunst sie zu bieten hat, wird unter der Hand kontrolliert, wie weit neue Aufgaben der Apperzeption lösbar geworden sind. Da im übrigen für den Einzelnen die Versuchung besteht, sich solchen Aufgaben zu entziehen, so wird die Kunst deren schwerste und wichtigste da angreifen, wo sie Massen mobilisieren kann. Sie tut es gegenwärtig im Film. Die Rezeption in der Zer- streuung, die sich mit wachsendem Nachdruck auf allen Gebieten der Kunst bemerk- bar macht und das Symptom von tiefgreifenden Veränderungen der Apperzeption ist, hat am Film ihr eigentliches Übungsinstrument. Der Film drängt den Kultwert nicht nur dadurch zurück, daß er das Publikum in eine begutachtende Haltung bringt, sondern auch dadurch, daß die begutachtende Haltung im Kino Aufmerksamkeit nicht einschließt. Das Publikum ist ein Examinator, doch ein zerstreuter.

NACHWORT

Die zunehmende Proletarisierung der heutigen Menschen und die zunehmende Formierung von Massen sind zwei Seiten eines und desselben Geschehens. Der Fa-schismus versucht, die neu entstandenen proletarisierten Massen zu organisieren, ohne die Eigentumsverhältnisse, auf deren Beseitigung sie hindrängen, anzutasten. Er sieht sein Heil darin, die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen. Die Massen haben ein Recht auf Veränderung der Eigen-tumsverhältnisse; der Faschismus sucht ihnen einen Ausdruck in deren Konservie-rung zu geben. Der Faschismus läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. Der Vergewaltigung der Massen, die er im Kult eines Führers zu Bo-den zwingt, entspricht die Vergewaltigung einer Apparatur, die er der Herstellung von Kultwerten dienstbar macht.

Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln in einem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg. Der Krieg, und nur der Krieg, macht es möglich, Massen-bewegungen größten Maßstabs unter Wahrung der überkommenen Eigentums-verhältnisse ein Ziel zu geben. So formuliert sich der Tatbestand von der Politik her. Von der Technik her formuliert er sich folgendermaßen: Nur der Krieg macht es möglich, die sämtlichen technischen Mittel der Gegenwart unter Wahrung der Eigentumsverhältnisse zu mobilisieren. Es ist selbstverständlich, daß die Apotheose des Krieges durch den Faschismus sich nicht dieser Argumente bedient. Trotzdem ist ein Blick auf sie lehrreich. In Marinettis(18) Manifest zum äthiopischen Kolonial-krieg heißt es: „Seit siebenundzwanzig Jahren erheben wir Futuristen uns dagegen, daß der Krieg als antiästhetisch bezeichnet wird  … Demgemäß stellen wir fest: … Der Krieg ist schön, weil er dank der Gasmasken, der schreckenerregenden Me-gaphone, der Flammenwerfer und der kleinen Tanks die Herrschaft des Menschen über die unterjochte Maschine begründet. Der Krieg ist schön, weil er die erträum-te Metallisierung des menschlichen Körpers inauguriert. Der Krieg ist schön, weil er eine blühende Wiese um die feurigen Orchideen der Mitrailleusen bereichert. Der Krieg ist schön, weil er das Gewehrfeuer, die Kanonaden, die Feuerpausen, die Parfüms und Verwesungsgerüche zu einer Symphonie vereinigt. Der Krieg ist schön, weil er neue Architekturen, wie die der großen Tanks, der geometrischen Fliegergeschwader, der Rauchspiralen aus brennenden Dörfern und vieles andere schafft … Dichter und Künstler des Futurismus … erinnert Euch dieser Grundsätze einer Ästhetik des Krieges, damit Euer Ringen um eine neue Poesie und eine neue Plastik … von ihnen erleuchtet werde!“19

Dieses Manifest hat den Vorzug der Deutlichkeit. Seine Fragestellung verdient von dem Dialektiker übernommen zu werden. Ihm stellt sich die Ästhetik des heu-tigen Krieges folgendermaßen dar: wird die natürliche Verwertung der Produktiv-kräfte durch die Eigentumsordnung hintangehalten, so drängt die Steigerung der technischen Behelfe, der Tempi, der Kraftquellen nach einer unnatürlichen. Sie findet sie im Kriege, der mit seinen Zerstörungen den Beweis dafür antritt, daß die Gesellschaft nicht reif genug war, sich die Technik zu ihrem Organ zu machen, daß die Technik nicht ausgebildet genug war, die gesellschaftlichen Elementarkräf-te zu bewältigen. Der imperialistische Krieg ist in seinen grauenhaftesten Zügen be- stimmt durch die Diskrepanz zwischen den gewaltigen Produktionsmitteln und ihrer unzulänglichen Verwertung im Produktionsprozeß (mit anderen Worten, durch die Arbeitslosigkeit und den Mangel an Absatzmärkten). Der imperialistische Krieg ist ein Aufstand der Technik, die am „Menschenmaterial“ die Ansprüche eintreibt, denen die Gesellschaft ihr natürliches Material entzogen hat. Anstatt Flüsse zu kanalisieren, lenkt sie den Menschenstrom in das Bett ihrer Schützengräben, anstatt Saaten aus ihren Aeroplanen zu streuen, streut sie Brandbomben über die Städte hin, und im Gaskrieg hat sie ein Mittel gefunden, die Aura auf neue Art abzuschaffen.

„Fiat ars – pereat mundus“ sagt der Faschismus und erwartet die künstlerische Befriedigung der von der Technik veränderten Sinneswahrnehmung, wie Marinet-ti bekennt, vom Kriege. Das ist offenbar die Vollendung des l᾽art pour l᾽art. Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben läßt. So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst. Weiterführende Literatur

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Einführender Kommentar zu Arnold Gehlens „Anthropologische Ansicht der Technik“

von Ragnar Fehrensen, Jürgen Meutgens und Marco ZivkovicArnold Franz Gehlen (1904–1976) zählt zu den Hauptvertretern der Philosophi-schen Anthropologie im 20. Jahrhundert. Seine Arbeit prägte diese Fachrichtung, beginnend damit, dass er in Der Mensch (1940) empirisch-wissenschaftliche Theo-rien aus Biologie, Paläoanthropologie, Psychologie, Ethnologie und Soziologie so-wie anderen Disziplinen miteinbezog. Seine bedeutendste These ist die Auffassung des Menschen als „Mängelwesen“, welche seine gesamten Publikationen durchzog. Er maß der biologischen Grundlage des Menschen in seinen Werken große Bedeu-tung bei, was jedoch bei einigen Philosoph*innen seiner Zeit auf Ablehnung stieß.1

Sein Werk könnte bei dem Blick auf seinen Lebenslauf jedoch nicht unproble-matisch erscheinen, hauptsächlich da er ab 1933 ein aktives Mitglied der NSDAP war und sich ab dem Folgejahr außerdem im Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbund engagierte. Eines seiner wichtigsten Werke Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt erschien zudem im Jahre 1940 in einem nationalso-zialistischen Verlag, wodurch sich die Frage stellt, ob seine philosophische Anthro-pologie ideologisch verwässert worden sein könnte. Durch seine Mitgliedschaft in der NSDAP ist es zwar durchaus möglich, Gehlen als Nazi zu bezeichnen, jedoch gibt es verschiedene Positionen in der Debatte um den ideologischen Einfluss auf das Werk Gehlens, welche zu umfassend sind, um sie an dieser Stelle auszuführen.2In welchem Spektrum lässt sich Gehlens Schaffen nun verorten? Am ehesten trifft hier die Bezeichnung des Konservatismus zu. Dies lässt sich vor allem an seinem Verständnis von Institutionen erkennen. Laut Gehlen wird zur Abwehr von Chaos eine stabile Ordnung benötigt, welche maßgeblich durch soziale Institutionen er-reicht wird: Staat, Militär, Kirche, Ehe, Familie. Der Wert der Ordnung geht sogar so weit, dass Gehlen eine kritische Hinterfragung der Institutionen ablehnt, da diese zu ihrer Destabilisierung führen würde, wie Habermas 1981 kritisierte.3 Gehlens Konservatismus traf den Zeitgeist der 1950er Jahre, wodurch er zu einem bedeu-tenden deutschen Philosophen der Nachkriegszeit wurde.4 Neben der Verortung im konservativen Spektrum können Arnold Gehlens Anschauungen dem philosophi-schen Pessimismus zugeordnet werden, was sich bei ihm hauptsächlich in negati-ven Prognosen zur menschlichen kulturellen Entwicklung niederschlägt.5

Im Unterschied zu Kapps Grundlinien einer Philosophie der Technik , die die mo-derne Technikphilosophie begründeten, setzt Gehlen seinen Ausgangspunkt zur Darlegung seiner Genese der Technik in „die organische Mittellosigkeit des Men-schen“.6 Diesem Mangel an lebensnotwendigen Organen wird mit Technik als Mit-tel zur Organentlastung, zum Organersatz und zur Organüberbietung bzw. Organ-ausschaltung abgeholfen.7 Technik wird definiert als „Inbegriff der Sachmittel und der Fertigkeiten ihrer Herstellung und ihres Gebrauchs, […].“8 Gleichsam wie ein mehrdimensionales Exoskelett schmiegt sich Technik bei Gehlen um den Men-schen, um seine von Natur bedingten Mängel zu kompensieren.

Die Kritik an Gehlens anthropologischer These des Menschen als Mängelwesen spiegelt sich beispielhaft in den Positionen des Soziologen Otto Ullrichs und des Philosophen Ernst Blochs wider. Ullrich argumentiert, „daß der Mensch als gehirn-spezialisiertes Wesen wegen seiner Intelligenz und spezifisch menschlichen Qua-litäten die Prinzipien der Organausschaltung und der Organverstärkung hervor-bringen kann und daß daher der Mensch nicht als Mängelwesen angesehen werden kann.“9 Nicht der Zustand des Mängelwesens ist Triebfeder für den Menschen, sich Technik zu erschaffen, sondern seine innewohnende Intelligenz. Ernst Bloch knüpft an die von Gehlen akzeptierte Organprojektion an.

Auch Gehlen reflektiert über die reine Kappsche Organprojektion hinausgehend die Wirkungskraft der menschlichen Intelligenz zur Technik. „[…]  denn der Bogen, das Rad, die Falle, sogar das Messer lassen sich nur als freie, konstruk-tive, aus der Experimentierpraxis heraus entstandene Erfindungen verstehen.“11Die „Experimentierpraxis“ wird getrieben durch die „technische Intelligenz.“12Der Intellekt des Menschen, sein analytisches und synthetisierendes Vermögen in Verbindung mit der Nutzung des Anorganischen ermöglicht eine komplexere Modellierung von technischen Artefakten als es mit der „analogen“ Kappschen Organprojektion möglich ist. Dies kann durchaus als eine Erweiterung der Or-ganprojektion angesehen werden, da genuin die Strukturen des menschlichen Intellekts auf die Artefakte der Technik transferiert werden. Dies legt die These einer Organprojektion 2.0 nahe. Ein derartiger technikphilosophischer Ansatz er-möglicht interessante Deutungsansätze zu Phänomenen der modernen Technik wie Künstliche Intelligenz (KI) und Robotik (z. B. neuromorphes Computing13) – einschließlich der Frage, ob Maschinen die Möglichkeit zu einem dem menschli-chen Bewusstsein Ähnlichem gegeben werden kann. „Es ist prinzipiell nicht aus-geschlossen, dass KI-Systeme in Zukunft mit bewusstseinsähnlichen Fähigkeiten ausgestattet sein werden.“14

Der Prozess der „Objektivation der menschlichen Arbeit“ verläuft nach Gehlen in Anlehnung an den Regelungstechniker Hermann Schmidt in drei Stufen: Werkzeu-ge, Arbeits- und Kraftmaschinen, Automation.15 Gehlen bleibt nach Martina Heß-ler damit dem klassischen Maschinenbegriff verhaftet, dem die „Vorstellung eines geregelten, ineinandergreifenden und funktionalen Ablaufs“ zugrunde liegt – Auto-mation eingeschlossen.16 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diagnostiziert Heßler „Verschiebungen im Maschinenbegriff“ zur „transklassischen Maschine.“17Ursache sind die Entwicklung des Computers, der KI, der Robotik und der Indus-trie 4.0. „Zentral wurde nun der Vergleich mit dem menschlichen Gehirn, das ma-schinenhaft nachgebildet werden sollte. Anders als bei der Arbeitsmaschine lieferte nun nicht mehr der menschliche Körper die Vergleichsfolie von Menschen und Maschinen, sondern das Gehirn.“18 Damit verbunden ist auch die Frage, ob sich „Bewusstsein Transklassisch-technisch“ herstellen lasse.19 Dies führt dazu, dass der aktuelle Diskurs zur „Mensch-Maschine-Verhältnisbestimmung sehr stark von der Frage der Autonomie bestimmt“ ist.20 Dem dreiphasigen Modell der Objektivation der menschlichen Arbeit von Gehlen kann damit eine vierte Phase, die der Auto-nomie, hinzugeführt werden.

Geht man dem Szenario einer vollständigen Automatisierung mit Blick auf tech-nische Entwicklungen der Gegenwart wie KI und Robotik weiter nach, wird die anthropologische Debatte um mehrere Fragen erweitert, wie z. B.: Führt eine KI in einer starken Ausprägung zu einer Diktatur der Technik, der Roboter? Wenn ja, wären die Menschen aufgrund der dadurch gegebenen vollständigen Entlastung von allem – inkl. eigener Entscheidungen – glücklich? Könnte eine Öko-KI dem einschneidenden Klimawandel besser entgegenwirken als Menschen?

Gehlen geht über den Kernbereich seiner Anthropologie hinaus, indem er die Auswirkungen der zu seiner Zeit modernen Technik sozialwissenschaftlich auf Implikationen der Beziehung Mensch-Lebenswelt extrapoliert. Ein besonderes Au-genmerk wird dabei von ihm auf die „weltumspannenden Informationsdienste“ ge-legt.21 Der Mensch, der ihnen täglich multimedial begegnet, wird neuen technisch vermittelten Sekundärerfahrungen ausgesetzt, die sich zwischen ihn und einer un-vermittelten Eigenerfahrung der Welt schieben. Gehlen antizipiert hier präzise die Lebenswelt der Moderne des digitalen Datenzeitalters, die geprägt wird durch die Allgegenwart digital vermittelter Daten, deren beidseitiger Zugriff, vom Menschen und zum Menschen, ungefiltert und unbewertet und in teilweise amorpher Taktung den Menschen „sekundäre Erfahrungen“ around the clock and anywhere aussetzt.

Mit der Weiterentwicklung der anthropologischen These des Mängelwesens „Mensch“ im Kontext von Technik als Mittel zur Organentlastung, zum Organer-satz und zur Organüberbietung bzw. Organausschaltung wird Technikphilosophie zur Blaupause zum Verständnis des gegenwärtigen High-Tech-Zeitalters. Zum Vor-teil gereicht dabei auch, dass Gehlen die Organprojektion von Kapp um den Wir-kungskreis des menschlichen Intellekts erweitert. Mit Blick z. B. auf den Stand der Entwicklung des neuromorphen Computing und dessen antizipierten gegenwär-tigen und zukünftigen Auswirkungen kann diese Komplettierung der Kappschen Organprojektion durch Gehlen als Organprojektion 2.0 verstanden werden.22

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Arnold Gehlen: Anthropologische Ansicht der Technik (1965)1

I

Den Zusammenhang zwischen der organischen Mittellosigkeit des Menschen und seiner Erfindungs-Intelligenz hat wohl zuerst E. Kapp (2) in seiner „Philosophie der Technik“ (1877) bemerkt, kurz darauf schrieb der auch als Sprachphilosoph be-deutende L. Noiré (3) sein Buch „Das Werkzeug“ (1880), in dem es heißt: „Da ward der Mensch der Freigelassene der Natur, denn er ward sein eigener Schöpfer, er erschuf sich selbst seine Organe(4), er ward zum Werkzeugwesen, zum tool making animal“(5). Dieser Ableitung der Notwendigkeit der Technik aus den Organmängeln des Menschen folgten P. Alsberg (6) (Das Menschheitsrätsel, 1922), Ortega y Gas- set (7) (Vom Menschen als utopischem Wesen, 1951), W. Sombart (8) und wir selbst. In „Der Mensch“ (1940)(9) wurde mit Hilfe des von Herder(10) entlehnten Begriffs des Mängelwesens beschrieben, wie der Mensch in jeder natürlichen, urwüchsigen Umwelt aus Mangel an spezialisierten Organen und Instinkten lebensunfähig ist, und wie er folglich aus der intelligenten Veränderung der beliebigen, vorgefunde-nen Naturumstände die Bedingungen seines physischen Überlebens erst herstellt. Der Gebrauch der Waffen, des Feuers, die Techniken der Jagd gehören daher zu den arterhaltenden Verhaltensweisen und „Technik“ wäre ein Wort für den Inbegriff der Sachmittel und der Fertigkeiten ihrer Herstellung und ihres Gebrauchs, die es diesem instinktarmen und schutzlosen Wesen ermöglichen, „sich zu halten“.

In erster Annäherung bedarf es nur einer Interpretation des Werkzeuges, und Kapps Begriff der „Organprojektion“ half da schon weiter, wobei man näher noch einzeln oder in ihrem Zusammenwirken die Prinzipien der Organentlastung, des Organersatzes und der Organüberbietung unterscheiden konnte. Doch ist bemer-kenswert, daß die Vorstellung fernzuhalten ist, die menschlichen Werkzeuge hätten ursprünglich immer eines „Naturvorbildes“ bedurft, denn der Bogen, das Rad, die Falle, ja sogar das Messer lassen sich nur als freie, konstruktive, aus der Experimen-tierpraxis heraus entstandene Erfindungen verstehen. Die Chinesen schrieben die Erfindung des Knotens ihrem ersten mythischen Kaiser zu.

Das Prinzip des Organersatzes versachlicht sich zu der Tendenz, auf der Seite der Gegenstände organische Stoffe durch anorganische zu ersetzen, hier machte die Ausschaltung hölzerner Waffen und Geräte durch solche aus Metall Epoche (Bron-cezeit(11)), und für heute genügt es, auf die Chemie der Kunststoffe hinzuweisen. Von ganz kapitalen Auswirkungen ist jedoch der erst seit 200 Jahren fortschreiten-de Ersatz der organischen Kraft der Menschen und Tiere durch anorganische oder zurückgewonnene, gespeicherte Sonnenenergien: Kohle, Erdöl, Elektrizität, Atom-energie.

Die Windkraft nämlich ließ sich eindrucksvoll nur zur See ausnutzen, und der endgültige Durchbruch aus dem antiken Weltbild erfolgte erst seit dem 15. Jahr-hundert, als die seetechnische und navigatorische Überlegenheit zugleich über die Weltherrschaft entschied. Zu Lande dagegen blieb vor Erfindung der Dampfma-schine die Menschheit auf die organischen Kräfte, auf die von Mensch und Tier aufwendbaren Leistungen angewiesen. Außer den Erfindungen der Buchdruckerei und des Pulvers, die allerdings höchst folgenreich waren, gab es wenig technischen Fortschritt, und daraus erklärt sich einmal die enorme Stabilität der Agrarperiode der Menschheit, zum anderen die Rückständigkeit der Kriegsführung zu Lande, denn wenn man von den Feuerwaffen absieht, führte Napoleon Kriege desselben Stils wie Caesar: im Fußmarsch bewegten sich die Truppen über enorme Entfer-nungen, gefolgt von endlosen Zugtier-Trossen, über Straßen hinweg, die man oft zu diesem Zweck erst bauen mußte, und schlachtentscheidend blieb letzten Endes der Angriff im Nahkampf, daher die große Bedeutung der Kavallerie(12).

Mit der Aufschließung der Kohle, des Erdöls, mit der Verwertung der Elektrizität und Kernenergie erfolgte dann eine zahlenmäßig überhaupt nicht mehr angebbare Vermehrung der zur Verfügung stehenden Energien, zu der sich die Potenz-Ex-ponenten nicht mehr schätzen lassen.

II

Hans Freyer(13) hat (Über das Dominantwerden technischer Kategorien in der Le-benswelt der industriellen Gesellschaft)(14) darauf hingewiesen, daß sich die Technik des industriellen Zeitalters schlechterdings nicht mehr in die Formel einfüge, die für alle Technik bis einschließlich zum 18. Jahrhundert hin gegolten habe – daß sich nämlich der Mensch, um seine Lebenszwecke zu erreichen, dienliche Mittel und Werkzeuge schaffe und diese so lange verbessere, bis sie für seine Zwecke geeignet seien. Der Sinn der Technik habe in der Sorge dafür bestanden, daß der Mensch daß, was er will, auch erreichen kann. Diese Vorstellung ist nach Freyers Meinung veraltet, sie entsprach einem vergleichsweise primitiven Zustand der technischen Entwicklung, und er macht gegen sie geltend, daß nunmehr die Technik ein Kön-nen überhaupt schaffe, ein sozusagen abstraktes Können, zu dem sich erst hinterher die Frage erhebe, was man mit den vorhandenen Mitteln alles „wollen“ solle.

Dieser Gedanke darf wohl in erster Linie auf die eben erörterte unmeßbare Potenzierung der Energieerzeugung bezogen werden. Jetzt wird, wie Freyer sagt, der technische Geist gleichsam absolut gesetzt, er wird aus der Führung vorge- gebener Zielsetzungen entlassen. Mental hat sich die Einstellung auf Naturbe-herrschung, auf Eingriff und Fortschritt derart verselbständigt, daß der Eindruck entstehen kann, man stelle sich absurde Ziele, wie die Mondlandung, um die un-erhört schwierigen technischen Probleme lösen zu können, die sich dann erst ergeben; während ein anderer, zunehmender Teil der verfügbaren technischen Intelligenz dazu benötigt wird, um die Nebenerfolge, Mißstände und Großpro-bleme abzufangen, die absichtslos aus dieser nicht mehr gesteuerten Jagd in die Zukunft entstehen, angefangen bei den Abgasen der Benzinmotoren und der Verkehrsverstopfung bis zu den großen und dunklen Fragen der Ernährung der Erdbevölkerung, deren gigantische Zunahme sekundär enthemmt wurde, und die nun tertiär das Versorgungsproblem entstehen läßt oder wie man die rein affektive Informationsverarbeitung unter Kontrolle bringen kann, die ganze Be-völkerungen ergreift und die aus der völlig verselbständigten weltumspannenden Informationsverbreitung folgt.

Schon hier läßt sich einsehen, daß es kaum möglich ist, den Begriff „Technik“ trennscharf zu definieren, so wenig wie etwa den Begriff „Kunst“, zumal wenn man noch an die Technik des Organischen denkt, an die biologische Züchtungstechnik oder an die überwachten Eingriffe der Heilmittel-Therapie in den Organismus, zu schweigen von den ebenfalls recht genau kalkulierbaren Effekten von Wirkungs-bemühungen im psychischen Bereich, wo man nicht einmal immer zwischen Re-klame, Propaganda und Erziehung eine sichere Unterscheidung zur Hand hat. Man muß also bei einem sozusagen schwebenden Wortgebrauch bleiben, und vor allem festhalten, daß dieser Begriff noch auf andere hinweist.

Selbst wenn man von dem engeren Umkreis der Maschinen- und Apparatetech-nik ausgeht, wird bereits die traditionelle Vorstellung falsch, daß es sich bei deren Effekten um „angewendete Naturwissenschaft“ handle. Schon diese Technik steht mit den Naturwissenschaften einerseits, mit der industriellen Maschinen-Produk-tion andererseits in einem komplizierten Verhältnis gegenseitiger Einwirkungen und Zusammenhänge, und man kann diese drei Gebiete, natürlich mit Einschluß

139

des gesamten Informations-Bereichs, als eine Superstruktur auffassen, deren Dasein in erster Linie unsere Kultur von jeder früheren unterscheidet.

Die Formel, die Technik sei angewandte Naturwissenschaft, bringt diese Wech-selwirkung zwischen den Teilen der Superstruktur nicht zum Ausdruck, denn umgekehrt sind die Naturwissenschaften für ihren Fortschritt auf die Technik angewiesen, z. B. auf die Beobachtungs- und Meßtechniken, auf den ganzen ver-fahrenstechnischen Bereich mit seiner Sonderwelt der Apparatetypen. Ein physi-kalisches Experiment bedarf heute meistens einer für diesen bestimmten Zweck erst gebauten Spezialmaschine, die die vermuteten Daten produzieren soll, und der Forscher, der den problemreichen Phänomenen nachgeht, muß für seine Ergebnis-vermutungen eine noch nicht existierende Apparatur angeben, die beobachtbare Naturprozesse erzeugt. Es handelt sich da im Dienste der Naturwissenschaften um Maschinen, die keine Güter herstellen, sondern Phänomene. Diese Kooperation von Technik und Naturwissenschaft macht man sich leicht an den Wunderwerken klar, die als Beobachtungs- und Auswertungsgeräte in den „Weltraum“ hinausge-schossen werden.

Zu dieser Wechselwirkung tritt nun noch die industrielle Verwertung hinzu, wenn Projekte in dieser Hinsicht nicht schon jene Wechselwirkung in Gang ge-setzt haben. So wird der Fertigungs-Ingenieur die verbindende Figur zwischen der Technik und der industriellen Produktion. Die großen Industriewerke ihrerseits mit ihren reichen Mitteln tragen zur Naturforschung bei, sie unterhalten teils selbst Forschungslaboratorien, in denen hohe Millionenbeträge auch ohne enge Zweck-bindung verforscht werden, teils stellen sie wissenschaftlichen Instituten Mittel zur Verfügung. Die auf beiden Wegen ausgeworfenen Beträge übersteigen in der Bun-desrepublik weit die staatlichen Budgets der Hochschulen. Das Zusammenwirken dieser Mächte, das sich seit langem einspielte, läßt sich am Einzelfall schwer be-stimmen oder rückwärts aufdröseln, im Großen entzieht er sich überhaupt der Dar-stellung. Doch ist der Begriff „Superstruktur“ festzuhalten, weil er später wieder in unsere Überlegungen eingehen muß.

So erstaunt es nicht, daß schon die Frage aufkam, ob diese nicht mehr über-sehbare Fortschrittsdünung überhaupt noch einen Herrn hat, oder ob man mit F. Jonas (15)(Aspekte des Entwicklungsproblems in Industriestaaten, Schmollers Jahr-buch 1963) von einem Zeitalter ohne Subjekt sprechen muß. Damit ist gemeint, daß die Vorstellung einer einheitlichen Struktur, die verwaltet werden könne, oder für die ein leading spirit vorstellbar sei, schon auf einem einzelnen Sektor, etwa dem des Verkehrs, eine Illusion ist, geschweige denn in Bezug auf die industriell-technische Entwicklung im Ganzen. Rationales Verhalten, sagt er, bedeute nicht mehr Kontrol-le der Zusammenhänge, sondern optimale Reaktion auf Daten, die in den unüber-sehbaren Ereignisströmen ständig neu gesetzt werden, also optimale Reaktion auf das Unerwartete.

Allerdings stellt sich dann die merkwürdige Frage, ob nicht zu dem Prozeß des sich weiterwälzenden Fortschritts wenn schon kein Subjekt, so doch ein Nutznie-ßer denkbar sei. Und dieser Nutznießer scheint in der Tat das genus humanum(16)zu sein, allerdings in rein biologischem, pathoslosem Sinne, denn es hat sich von 1650–1850 (roh gerechnet) verdoppelt, von 1850–1950 wiederum, und wird sich bis 2000 noch einmal verdoppeln – ein bedrückender Vorgang.

III

Sieht man die bisherige Entwicklung der Technik in ihrem Zusammenhang mit der Befreiung und Machterweiterung des Menschen, dann leuchtet das von Herm. Schmidt (17) aufgestellte Gesetz als überzeugend ein (Die Entwicklung der Technik als Phase der Wandlung des Menschen, in: VDI-Ztschr. 1954; Beginn und Aufstieg der Kybernetik, VDI-Ztschr. 1964). Als einen in der Vorzeit beginnenden und in unserem Zeitalter endenden Prozeß faßt er die Objektivation der menschlichen Arbeit mit technischen Mitteln auf. Dieser Prozeß verläuft in drei Stufen: Auf der ersten Stufe, der des Werkzeugs, werden die zur Arbeit notwendige physische Kraft und der erforderliche geistige Aufwand noch vom Subjekt geleistet. Man kann in dieser Phase die oben erwähnten Prinzipien unterbringen, die sich unter der Be-zeichnung der Organprojektion unterscheiden lassen. Als zweite Stufe bezeichnet H. Schmidt die der Arbeits- und Kraftmaschine, deren Leistung in der technischen Objektivation der physischen Kraft des Menschen besteht, und schließlich wird auf der dritten Stufe der Automaten auch der geistige Aufwand des Subjekts durch tech-nische Mittel entbehrlich gemacht, bis der Zweck endlich durch den Automaten allein ohne unser körperliches und geistiges Zutun erreicht wird.

Dieses Gesetz sagt ein innertechnisches Geschehen aus, einen Verlauf, der vom Menschen als Ganzes nicht gewollt worden ist, sondern dieses Gesetz greift sozu-sagen vom Rücken her oder instinktiv durch die gesamte menschliche Kulturge-schichte hindurch. Ferner kann es im Sinne dieses Gesetzes keine Entwicklung der Technik über die Stufe der möglichst vollständigen Automatisierung hinaus geben, denn es sind keine weiteren menschlichen Leistungsbereiche angebbar, die man objektivieren oder der Außenwelt aufhalsen könnte. Der technische Regelkreis(18), die Grundgestalt der dritten Stufe, begreift H. Schmidt nun als objektivierten Hand- lungskreis , der am einfachsten durch die arbeitende Hand und das kontrollierende Auge dargestellt wird, wobei der Istzustand des Systems und der Sollzustand je-weils aufeinander bezogen werden. Der Sprech-Hör-Kreis wird, was sehr wichtig ist, ebenfalls als ein solcher Handlungskreis beschrieben.

Zur Geschichte dieser Modellvorstellung sei folgendes bemerkt. Im Jahre 1940 erschien V. v. Weizsäckers (19) Buch „Der Gestaltkreis“, und gleichzeitig das Buch des Verfassers „Der Mensch“. Man darf heute die ungewöhnliche Lebensdauer dieses Buches wohl z. T. daraus erklären, daß dort erstmalig der Mensch als das beschrie-ben wurde, was man heute ein rückgekoppeltes System nennen würde, nämlich ein solches, das auf seine eigenen Produkte reagiert. Eine wesentliche Hilfe bei dieser Untersuchung hatten nun die Beschreibungen sog. sensomotorischer Prozesse ge-geben, die J. M. Baldwin (20) (1861–1934, Mental development in the child and the race) zum Verfasser hatten, der das Gehen als eine Bewegung beschrieb, die den Reiz zu ihrer eigenen Fortsetzung produziert.

H. Schmidt andererseits berichtet, daß „von etwa 1940 ab nach dem im damaligen Reichspatentamt leicht zu überblickenden Stand der Technik die Regelungstechnik als Schwerpunkt der technischen Entwicklung nicht mehr zu übersehen war“(21), und daß im gleichen Jahre die Berliner Physiologen W. Trendelenburg und K. Kra- mer (22) ihm eine Reihe von organisch-somatischen Regelkreisen bestätigt hätten. „Jede unserer sinnvollen Handlungen, sagt H. Schmidt , geschieht notwendig in der Form eines solchen in sich geschlossenen Handlungskreises, in dem wir mit uns selbst über das jeweilige Ergebnis unseres Tuns rückgekoppelt sind“.(23)

IV

Die Frage, welche Folgen diese Verlegung unserer Funktionen nach außen für das Selbstverständnis des Menschen hat, ist vielleicht im gegenwärtigen Zustand eher zu „erörtern“, als zu beantworten. Wenn der rückgekoppelte Handlungskreis, d. h. eines der menschlichen Urphänomene, nach außen verlegt wird, so handelt es sich natürlich nicht um einen Fortschritt in der technischen Herstellung organischer Systeme; auch ist der technische Regelkreis „entsubjektiviert“. Immerhin sind beide Kreise, der subjektiv inne gehabte und der nach außen verlagerte, isomorph, d. h. die „Elemente“ werden zwar durch ganz andere ersetzt, aber die Art der sinnhaften Verbindung zum Ganzen ist in beiden Fällen gleich.

H. Schmidt legte nun in der früheren Schrift Gewicht auf die Vermutung, daß der bisher bewußtlos und triebhaft während der Menschheitsentwicklung ablaufende Trend zur Objektivation nunmehr zweckbewußt und gewollt gesteuert, und damit das menschliche Leben von der Triebhaftigkeit, wenigstens insoweit, entlastet wer-de. Auch noch 1964 erwartet der Autor eine Forderung in der Fortsetzung unserer Individuation, denn wir arbeiten in der Kybernetik „an der Erweiterung und Ent-faltung unserer psychophysischen Existenz“. Offenbar liegen auf diesem Wege auch moralische Grundüberzeugungen wie die von dem Lebenswert rationaler Vernünf-tigkeit, der allerdings in diesen heute in Frage kommenden Dimensionen noch nie ausprobiert wurde.

Näherliegend ist etwa die folgende Überlegung: bisher hat das physikalische Den-ken das Objekt als eine „Natur an sich“ aus dem kreisrelationalen Zusammenhang des Denk- und Experimentierkreises heraus extrapoliert, so daß die berühmte er-kenntnistheoretische Kluft zwischen dem Subjekt und dem Objekt entstand, die im vorwissenschaftlichen Leben ja seit eh und je wesentlich durch die sprachliche Dramatisierung der Außenwelt verdeckt wird. In den rückgekoppelten Maschinen dagegen objektiviert der Mensch nicht ein „Bild“ der Natur, sondern den Hand-lungskreis, also sein Verhältnis zur Natur. Aber diesmal gibt es Grund zu der Ver-mutung, die wir zunächst auf den organischen Bereich beschränken wollen, daß die Natur in sich selbst in vielen Hinsichten nach der Modellform des rückgekoppelten Funktionskreises arbeitet, und daß somit, um eine alte Formel zu benutzen, in der Natur „an sich“ vorgeht, was im Menschen „an und für sich“ erscheint. Dies be-deutet eine Intimisierung der Natur, ähnlich der, die bloß sprachlich und daher wirkungslos schon seit undenklicher Zeit entworfen wurde, nunmehr aber in einem die Praxis einschließenden Sinne, so daß die Natur den Eingriffen und Steuerun-gen, die wir in medizinischer und biologischer Praxis längst bewirken, nun von sich aus entgegenzukommen scheint – eine Selbstverständlichkeit, die in umgekehrter Auslegung interessant werden dürfte, wenn nämlich Eingriffe in das Sozialgefüge als „natürlich“ erscheinen werden.

Hiervon zu trennen ist der eigentlich technische Fortschritt, wie er sich in der Au-tomation der Maschinenproduktion, in Raumfahrtprogrammen usw. realisiert, er besteht dann nach wie vor in der Selbstentlastung der Menschen bis hin zur Entlas-tung von den Lebensbedingungen der Erd-Umwelt. Sofern auch hierin die Verfü-gungsgewalt über die Außenwelt gesteigert wird, hängen beide Bereiche zusammen.

„Kybernetik“ ist der Name für eine übergreifende Universalwissenschaft, die sich bestenfalls im Entstehungsstadium befindet, und die seriös nur von einem ihrer Sachaspekte her, also z. B. vom automatentechnischen her, behandelt werden kann. In den vorlaufenden Gesamtkonzeptionen werden Begriffe wie Information, Spiel-theorie, selbst-optimierende Anpassung, Planung, Prognose, Automaten, Lehrma-schinen usw. in wechselnden Kombinationen vorgeführt. Es ist zu befürchten, daß die Ausreifung dieser Wissenschaft durch politischen Kurzschluß verhindert wird, denn sie wird schon als begriffliches Instrumentarium benutzt, um gesellschaftliche Einstellungen zu disqualifizieren (d.  h. umgekehrt: um Kompetenzansprüche zu legitimieren). Es gibt Interpretationen der Kybernetik, die anderen Auffassungen über Erreichbarkeiten kulturelle Rückständigkeit bescheinigen, oder Verhaftung in

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Lebensgenuß, emotionale Kindlichkeit, Anlehnungsbedürfnis usw., d. h. das Wis-senschaftsprojekt dient als eine „progressive“ Ersatzideologie für den Marxismus (s. O. W. Haseloff (24) in: Bergedorfer Gespräche, 10. Tagung 1963 und Haseloffs Zu-geständnis, „daß hier ein Stück sozialer Neuformierung einen Namen sucht“). Es ist bemerkenswert, daß ein Fachmann wie Valentin Braitenberg (25)(Neapel) sagen kann: „Die Kybernetik ist so wenig eine soziale Tatsache, wie sie eine akademische Tatsache ist. Es gibt keine Lehrstühle, es gibt nicht einmal eine einheitliche Defini-tion dessen, was man unter Kybernetik zu verstehen habe.“

V

Eine Oberwissenschaft Kybernetik gehört daher zur Zeit noch unter die Program-me, man kann die Gesellschaft noch nicht programmieren. Behandelbar ist jedoch die Frage nach den schon feststellbaren Rückwirkungen des neuartigen, von der Technik geschaffenen Lebensmilieus auf die Menschen, und dazu zitierten wir an anderen Stellen schon mehrfach das Wort Max Webers (26)aus dem Jahre 1908, nach dem die moderne Zivilisation bereits „das geistige Antlitz der Menschheit fast bis zur Unkenntlichkeit verändert“ habe und dies weiterhin tun werde (Denkschrift betr. Erhebungen über Anpassung und Auslese der Arbeiterschaft der geschloss. Großindustrie, Verein f. Sozialpolitik).

Der zunächst überall durchschlagende Effekt der Umstellung einer Agrargesell-schaft auf ein System des Überbaus besteht bekanntlich in einer tiefgreifenden Ent-wurzelung und Verunsicherung der Beteiligten, wie er dem Anthropologen aus dem vergleichbaren Vorgang der Kolonisierung primitiverer Bevölkerungen bekannt ist: die gesamte eingewohnte Denk- und Affektlage der Betroffenen wird aus dem Glei-se gebracht, und es entstehen außer neuerweckten Bedürfnissen auch zahlreiche Schockreaktionen, die von Neurosen, Massenhysterien und Panikzuständen bis zur Stumpfheit und Apathie reichen. Meist ereignet sich auch eine Aufstöberung von Reflexions- und Gedankenmassen, die man als etwas wie eine „Suchorganisation“ nach haltgebenden Führungssystemen auffassen muß. Nie gelingt jedoch das Un-ternehmen der Anpassung einer so im eigentlichen Sinne aus der Bahn geworfenen Bevölkerung allein vom Bewußtsein her. Ein generationenlanger Prozeß der anpas-senden Eingewöhnung ist erfordert, er scheint in Nordamerika, Mitteleuropa und der Sowjetunion einigermaßen gelungen zu sein.

Nun ist kein Zweifel an der zunehmenden Daseins-Abhängigkeit der Menschen von ihrem neuen, so konstruierten Milieu möglich, d. h. das physische Überleben setzt das störungsfreie Funktionieren der Energiebetriebe, der Wasserversorgung, der Verkehrs- und Nachrichtenmittel, der chemischen Industrie usw. voraus. War die Abhängigkeit des Menschen früherer Zeiten von der Natur drastisch, so steigt sie jetzt noch in dem selbstgeschaffenen Kulturmilieu, denn mit seinen natürlich-organischen Hilfsmitteln und dem, was er mit seinen Händen zuwege brachte, konnte sich ein Einzelner zwar eine Weile in der rohen Natur, aber keine drei Tage in einem nichtfunktionierenden technisch-industriellen System halten. Man kann diesen Satz mit Forsthoff (27)(Die Daseinsvorsorge als Aufgabe der modernen Ver-waltung), in der Unterscheidung des beherrschten Lebensraums vom effektiven ausdrücken, d. h. demjenigen, in dem sich das Leben tatsächlich normalerweise vollzieht: der beherrschte, dem Einzelnen allein gehörende Lebensraum ist für im-mer breitere Schichten ganz verschwunden.

Dies ist kein bloß theoretisches Problem, es kann weitergeführt werden zu der Frage eines Reserve-Lebensraums im Katastrophenfalle, und dahin lief im Oktober 1961 in der amerikanischen Presse die bedeutsame Shelter-Diskussion: man ver-kaufte dort für den Fall eines Atomangriffs Notbehausungen für eine Familie, die mit Verpflegung, Wasser, Sauerstoff, Arzneien usw. versehen waren und für einige Zeit Überlebens-Chancen bieten sollten. Die Diskussion ging darum, ob man in diesen privaten Unterstand auch Waffen zur Verteidigung gegen diejenigen hin-einnehmen solle, die im Ernstfall solche Behausungen stürmen werden, weil sie selbst keine haben. Diese Diskussion wurde in amerikanischer Drastik mit voller Namensnennung von allen denkbaren Standpunkten her geführt, sie stellte in bei-spielloser Schärfe die Frage des „beherrschten Lebensraumes“.

So gesehen, ist es nicht übertrieben, mit Hannah Arendt (28)(Vita activa) zu sagen, daß die Apparate, die wir einst frei handhabten, nunmehr anfingen, so zu unse-rem biologischen Leben zu gehören, daß es ist, als gehöre die menschliche Spezies nicht mehr zur Gattung der Säugetiere, sondern beginne sich in eine Art Schaltier zu verwandeln. Wenn man diesen Gedanken mit der oben erläuterten Ansicht zu-sammenhält, nach der ein instinktartiger, unbewußter Verlauf die verschiedenen Epochen der Technik hervorgetrieben hat, dann wird man dem von der Autorin zitierten Gedanken Heisenbergs (29)zustimmen, nach dem „die Technik fast nicht als das Produkt bewußter, menschlicher Bemühung um die Ausbreitung der materiel-len Macht erscheint, sondern eher als ein biologischer Vorgang im Großen, bei dem die im menschlichen Organismus angelegten Strukturen in immer weiterem Maße auf die Umwelt des Menschen übertragen werden; ein biologischer Vorgang also, der eben als solcher der Kontrolle durch den Menschen entzogen ist.“(30)

In diesem Zusammenhang lohnt die Erinnerung, daß sich Bergsons(31) Hoffnung einer Vermählung von „Mechanik und Mystik“ (Die zwei Quellen der Moral und der Religion) eben nicht erfüllt hat: die Industriewelt hat keine „mystische“ Geistes-blüte erzeugt, und seine Prophezeiung traf nicht ein: „Das materielle Hindernis ist beinahe gefallen, morgen wird der Weg frei sein … dann mag der Ruf des Heros kommen.“(32)

Was wir im Gegenteil sehen, ist dieselbe Auswirkung unserer von der Technik getragenen Kultur, die sich auch früher als Folge großer geistiger Anstrengungen und bahnbrechender Erfindungen immer beobachten ließ. Ob es sich nun um die Übersiedelung der Menschheit auf Ackerboden und um die sich schnell verbreiten-de agrarkulturelle Seßhaftigkeit handelt, oder seit dem Monotheismus um die Neu-tralisierung der Außenwelt und somit um ihre Auslieferung an die erfinderische Praxis, oder um die erste großzügige Ausnützung einer nichtorganischen Kraft, des Windes, und um die Ozeanschiffahrt und die großen Landnahmen der Weißen in dünnbesiedelten Überseeischen Räumen  – stets drang in die so eröffneten Frei-heitsräume wie in Nischen sofort das menschliche Leben im biologischen Sinne nach, der regelmäßige Erfolg bestand stets in einer Multiplikation der Menschen-zahlen. So auch jetzt wieder, da wir der mit dem technischen Zeitalter eröffneten Bevölkerungs-Explosion ängstlich und staunend zusehen, nämlich der in immer kürzeren Zeiten (1650–1850; 1850–1950; 1950–2000) geschehenden Verdoppelung der Menschheit.

VI

Wir wollen der Versuchung nicht widerstehen, die aufgewiesenen Linien bis in die Zukunft hinein zu verlängern, man kann sich dann etwa die folgenden Vorstellun-gen machen.

Mit der steigenden Daseinsabhängigkeit des Einzelnen wird es wahrscheinlich, daß im Sinne Max Webers eine geistige Anpassung an diesen Zustand erfolgt. Er wird zunächst darin bestehen, daß das Bedürfnis nach einem freien Raum der rea-len Lebensgestaltung und nach einer personexpansiven Lebensführung nachläßt, und daß umgekehrt die generalisierbaren Interessen in den Mittelpunkt gesell-schaftlicher Bemühungen und damit auch in den Erlebnismittelpunkt des Einzel-nen rücken. Zu derartigen Interessen gehören z. B. die zahlreichen Grundrechte, aber auch so fundamentale Wünsche wie der nach Heilbehandlung oder nach Si-cherung des Arbeitsplatzes. Folglich geht die Entwicklung zu Versorgungsgemein-wesen hin, darauf abzielend, daß jedes aktuelle, aber auch jedes aus potentiellen Notlagen heraus denkbarerweise entstehende Bedürfnis, wenn es nur verallgemei-nerungsfähig ist, umgedacht wird in einen Anspruch des Individuums, der aus den enormen Mitteln der großen Industriegesellschaften heraus zu bedienen ist.

Wenn sich diese Vorgänge eingewöhnt haben, dann wird es wahrscheinlich, daß sich im großen und ganzen in den Individuen nur noch solche Bedürfnisse regen, die auch die Chance haben, kollektiv erfüllt zu werden, oder die rechtlich und da-mit allgemeingültig abgesichert sind. Das wäre die Art, wie sich die Individuen von innen her kollektivieren und in die großen Organisationsstaaten eingefaßt werden würden, sie entwerfen dann sozusagen nur noch solche innere Wunschzettel, die sie in große Anspruchsgruppen eintreten lassen, wo man mit dem großen Topf rechnet.

Damit wäre dann zunächst dem Gründer-Unternehmer im Sinne des 19. Jahr-hunderts der Boden von innen her sehr stark beschränkt, er würde in seinem ge-schichtlichen Zusammenhang mit dem großen personalen Initiativ-Anspruch der

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Feudalzeit erscheinen. Die entschlossenen Individualisten und Subjektsokkupier-ten würden dann teils als Originale erscheinen, oder die Gesellschaft könnte ein Bedürfnis nach ihnen entwickeln und Sonderlingsrollen austeilen; teils würden literarische Tabu-Zerstörer einen theoretischen, nichtpraktikablen Freiheitsraum demonstrieren, in Fortsetzung der Mission der „progressiven“ Literatur. Sehr zu beachten sind aber Symptome, die auf eine wachsende Tiefen-Popularität der Kri-minellen hindeuten, die wie damals die Carbonari oder die Mafia als Freiheitshel-den gegen die Tyrannei der Verhältnisse erscheinen. Der Reiz der Kriminalromane besteht wohl teilweise darin, daß der Detektiv und der Verbrecher als zwei isolierte Alleinunternehmer erscheinen, abgesetzt von der gesamten Gesellschaft – es sind das Robinsonaden neuen Stils, aber praktikable.

Eine geistige Anpassung an das technische Zeitalter läßt sich, wie in konzent-rischen Ringen, von den Kontaktzonen mit der Außenwelt her bis ins Innere des Menschen hinein verfolgen. Man kann mit der Feststellung Hans Freyers beginnen, der zeigte, daß ursprünglich neutrale Worte der Umgangssprache einen rein tech-nischen Sinn bekommen, wie „beanspruchen“ oder „schalten“, oder daß Worte, die zunächst im technischen Sachbereich entstanden, in die Umgangssprache übergrei-fen, wie „Leerlauf“ oder „auslösen“. Auch wäre an die schnell sich ausbreitenden dynamischen und zugleich abstrakten Redewendungen zu erinnern, die „rasant um sich greifen“ und von allen Seiten „auf uns zukommen“.

Bereits in das Problem der Veränderung der Bewußtseinsstrukturen, nicht bloß der Inhalte hinein führt die Selbstverständlichkeit, mit der wir im Begriff der „Or-ganisation“ die Erwartung technisch-richtigen Funktionierens auf gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen. So spricht man vom Aufbau eines Verteiler- und Absatznetzes, wobei das Wort Aufbau längst aus seinem zuerst architekturtechni-schen Sinn heraus erweitert wurde („Aufbau der Person“), oder die überall gewollte Innenrationalisierung eines Betriebes strebt nach der Beseitigung von „Reibungs-stellen“ und nach dem „glatten Ablauf“. In diesen Zusammenhang gehört auch die merkwürdige Selbstverständlichkeit, mit der wir Komplizierungen ablehnen, denn wenn jemand sagt: „das muß noch vereinheitlicht werden“, dann gibt es kaum Wi-derspruch. Von daher wird alles Denkbare geplant, einschließlich des „Aufbaus“ ganzer Gesellschaften oder Regierungsformen, die wie Blaupausen kopiert werden.

Noch tiefer ins Innere der Menschen führt die zweideutige Auswirkung der welt-umspannenden Informationsdienste, denen wir täglich optisch und akustisch aus-gesetzt werden. Auf der einen Seite ergeben sich neuartige psychische Möglichkei-

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ten einer Erlebnisanreicherung und Reizversorgung, wie sie noch keine Zeit kannte, ein Prozeß, bei dem sich mit der Zeit doch ein steigendes Anspruchsniveau an Unterrichtung und Unterhaltung abzusetzen scheint. Die Menschen werden, von Rundfunk, Presse und Fernsehen laufend versorgt, reflektierter und insofern den-kender, sie werden teils verunsichert, teils aber in der Tat zielbewußter. Aber diese Zustände durchweben sich untrennbar mit den Nachteilen einer sekundären Er-fahrung, denn unsere gesamte, über den nächsten Verkehrsbereich hinausgreifende Welterfassung ist elektrisch vermittelt, zwischen die Welt und uns schieben sich elektromagnetische Informationsvorgänge, und mit ihnen eine Schar anonymer transformierender Gehirne. Bei den großen, spektakulären politischen Zwischen-fällen ist der Tatbestand selbst so undurchsichtig, daß er wie um eine imaginäre Mitte herum arrangiert aussieht.

In dieser dubiosen Bewußtseinseinlage entwickelt man unwillkürlich abstrakte Stabilisierungskerne im Bewußtsein, das sind die berühmten „Meinungen“, jene sonderbaren, donquichotischen Gebilde von subjektiver Gewißheit und objektiver Schiefheit. Sehr hohe Grade von Weltfremdheit können dann mit den ungeheuren technischen Mitteln der Gegenwart aufs wirksamste durchgesetzt werden.

An dieser Stelle, da von der Schematisierung der Vorstellungskerne die Rede ist, taucht die Möglichkeit auf, das Bewußtsein könne sich seinerseits an die Denkma-schinen anpassen, so daß beispielsweise zwar heute eine gute maschinelle Überset-zung einer Hölderlinschen Ode ins Französische unmöglich ist; künftig aber wäre der Vorgang mit der dann produzierten Lyrik denkbar, weil der Dichter dann unbe-wußt bereits in die Übersetzungschance hineindichten würde.

Nun gehört zwar immer zu den hier diskutierten Vorgängen einer Mechanisie-rung des Bewußtseins auch die Gegenrechnung, sofern das Leben auch des Geistes doch immer neu und jugendfrisch sich reproduziert. Es konnte aber gut sein, daß eine sehr gebildete, biographisch durchgeprägte, im höheren Sinne ursprüngliche Kunst den Weg zu den Verstärkermedien nicht mehr finden und also nichtöffent-lich kursieren würde, ähnlich wie in der Spätantike die Traditionszentren in ent-legene Provinzorte sich verlagerten. Auch scheinen die großen, durchgeprüften Er-fahrungen der Regierenden funkscheu zu werden, so daß man schon aus diesem Grunde nicht weiß, mit wieviel oder wie wenig Weisheit die Welt regiert wird.

Dies ist ein Gedanke, der bis in die größten Dimensionen reicht. Der ideologische Unterschied der Gegenwart von jeder anderen Epoche besteht darin, daß die Werte Gleichheit, Friede und Entwicklung um den ganzen Erdball herum akzeptiert sind,

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und zwar gegnerschaftslos . Niemals vorher gab es ein Glaubenssystem ohne Gegner, heute aber ist es von Washington bis Peking unmöglich, ihm öffentlich zu wider-sprechen. Dennoch ist die Ungleichheit unter den Menschen eine unauslöschliche Realität, der Krieg nach wie vor irgendwo im Gange, die industriegesellschaftliche Entwickelbarkeit angebbarer großer Populationen schlechthin unglaubhaft. Die gegenwärtige Kultur ist die in sich unehrlichste, die je existiert hat, und doch kam sie in der Erkenntnis der Wirklichkeit weiter, als je eine vor ihr. Fragt man nun, wie es zu dieser Übereinstimmung in den Werten der Gleichheit, des Friedens und der Entwicklung kommen konnte, so ist die Antwort, daß in ihnen die Operations-bedürfnisse des technischen Zeitalters mit den biologischen Imperativen der Be-völkerungsexplosion eine gemeinsame Fahne gefunden haben. Die Beherrschung der Natur als Technik wie als Organisationsgrundlage der Gesellschaft, die Vermeh-rung der Menschheit und wiederum jene Beherrschung als Katalysator diese Ver-mehrung kommen in diesen Ideen zur Selbstprogrammierung. Weiterführende Literatur

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Einführender Kommentar zu Hermann Schmidts „Über die Existenz des Menschen in der technischen Welt“

von Kevin LiggieriDer oft als „Vater der Berliner Kybernetik“ bezeichnete Physiker Hermann Schmidt (1894–1968) kann als einflussreicher Vertreter einer Regelungstechnik und Kyber-netik im deutschsprachigen Raum angesehen werden. Schmidts Theorien waren dabei auf der einen Seite von der Philosophie beeinflusst und evozierten auf der an-deren Seite selbst Anschlussfähigkeit in philosophischen und technikwissenschaft-lichen Diskursen.1

Diese Anschlussfähigkeit rührte daher, dass Schmidt als Physiker auf der einen Seite technische sowie als Georg Misch-Schüler anthropologische und philosophi-sche Fragen bündelte.2 Für diese Verbindung von Technik und Philosophie formu-lierte Schmidt Mitte des 20. Jahrhunderts ein neues Technik- und Wissenschafts-paradigma3:

Dieser kybernetische Imperativ Schmidts verweist auf die neuen Möglichkeiten technischer Regelung zwischen Organismus und Maschine, die jedoch grundlegen-de anthropologische Herausforderungen mit sich bringen. So war sich der Mensch als „Mensch“ in der technischen Moderne, wie Schmidt mit Bezug auf Max Sche-ler anführt, „problematisch geworden“, da er „nicht mehr [wisse], was [er] [sei].“5Kulturpessimistisch sieht Schmidt 1954 den „Verlust“ einer „inneren und äußeren Sicherheit“ heraufgekommen, wobei der Mensch im Zuge der modernen Technik-entwicklungen seine Stellung in der Welt verloren habe.6 Hier greift nun Schmidts philosophisch-technische Konzeption des „Regelkreises“, der Organismus und Maschine auf besondere Weise verbindet. Schmidts Regelkreis bildet nämlich als „Kausalring“ mehr als eine technische „Kausalkette der Steuerung“, und damit ein lebendiges „Ganzes“ als „einheitsstiftendes Element“: „Er ist das universelle Gebilde der Technik“ sowie die „Organisationsform des lebendigen Leibes“.7 Damit rücken lebendiger Organismus und technische Organisation zusammen.

Neben den technischen Funktionen, die der Regelungstechnik inhärent sind, wird der Regelkreis in der von Schmidt betitelten „allgemeinen Regelungskunde“ schon 1941 zum „Zeichen der Einheit sehr verschiedener Arbeitsrichtungen, einer Einheit, die wegen der Analogie des technischen und des organischen Regelkreises, organische Einheit heißen kann.“8 Diese Isomorphie von Organischem und Techni-schem, die „außerordentlich nahe“ liegt,9 zeigt sich deutlich in drei Ähnlichkeiten: „1) Regelung des Gleichgewichts“, „2) Regelung des Blutdrucks“ und „3) Regelung des Blutzuckers“.10 Durch diese drei somatischen Bereiche wird für Schmidt ersicht-lich, dass die kreisrelationale Rückkopplung bei einem technischen System (bei-spielsweise Thermostat) und bei der „Eigengesetzlichkeit“ des Organismus ähnlich funktioniert.11 Obwohl Schmidt erkennt, dass es sich hierbei nur um eine „ober-flächlich[e]“ Ähnlichkeit handelt12, war mit dieser Isomorphie schon „[d]er Schritt über die Grenze der Technik […] gemacht.“13 In menschlichen wie technischen Sys-temen laufen Regelkreise ab.

Obgleich Schmidts allgemeine Regelungskunde demzufolge nicht nur die techni-sche, sondern auch die menschliche Seite unter dem Regelkreis subsumierte, behielt der Mensch bei ihm dennoch als autonomes und denkendes Subjekt eine Sonder-stellung. Diese Sonderstellung des Menschen in Schmidts Technikanthropologie hängt damit zusammen, dass nur der Mensch schöpferisch tätig sein kann. Der Mensch ist es, der durch Erkenntnis und Gestaltung aus der unberührten Natur durch „schöpferische Zutat“ eine „technische Welt“ schaffen kann.14 Diese „schöp-ferische Zutat“ ist keine Leistung einer rationalen Technologie, sondern ein „we-sentlich Irrationales“, welches sich „als lebendiges Element in den Gang der Dinge ein[schaltet].“15 Der Mensch kann durch seine Irrationalität als einziges Wesen kre-ativ sein.16 In dieser schöpferischen Kreativität erschafft der Mensch die Maschine als Objektivation seiner Kultur. Für Schmidt ist es folglich das „Leben“, das sich als „Zutat“ im technischen Gegenstand „objektiviert“.17 Mensch und Technik sind demnach keine Gegensätze. Vielmehr wird die Umwelt durch die Technik als Kul-turleistung (Erkenntnis und Gestaltung) von einem dem Leben fremden „Zustand“ zu einem dem Leben „nützlichen“ Zustand.18

Schmidt vollzieht mit der anthropologischen Argumentation keine Ablehnung, sondern vielmehr eine Apologie der Technik: Technik ist durch den Menschen zum „Kulturträger“ geworden.19 Hierdurch war Schmidt ebenso für den Verein Deut-scher Ingenieure20, in dem er öffentlichkeitswirksame Sondertagungen veranstal-tete, wie für den Philosophen Arnold Gehlen ein Impulsgeber. Gehlen nahm bei-spielsweise die von Schmidt entworfene Dreistufenteilung der Technikentwicklung auf und erkannte an, dass eine „isomorph[e]“ Ähnlichkeit zwischen biologischem und technischem System bestand.21 Der menschliche Organismus trat im Bild des Schmidt’schen Regelkreises keinem „absolut Fremde[n]“ gegenüber, welches „un-heimlich“ von außen hereinbricht und nicht mehr zu meistern wäre, sondern sich selbst.22

Mit seinem Konzept der kreisrelationalen Grundformation weitet Schmidt auch den ingenieurwissenschaftlich engen Technikbegriff der 1950er Jahre, der oft nur als „Nutzbarmachung natürlicher Kräfte und Stoffe“23 verstanden wurde. Technik wurde in Schmidts Definition nicht nur auf die angewandte Naturwissenschaft beschränkt, sondern umfasste den „ganzen Kreis“ des Lebens. Technik war damit „kein intensiver, sondern ein extensiver Begriff.“24

Die Theorie des Regelkreises wird bei Schmidt zum Erklärungsmotiv und ho-listischen Programm alles Technischen und Natürlichen. Die Gefahr einer ausdif-ferenzierten Gesellschaft, in der der Mensch nur noch ein Rädchen im Uhrwerk ist, sollte dieses „Ganze“ epistemisch und ethisch lösen. Denn der „Mensch kann nur“, so Schmidt 1956, „als ganzer, mit allen seinen Kräften um sich selbst erfolg-reich ringen, […].“25 Schmidt erkennt, dass der „universelle Charakter alles Tech-nischen“ eine „Potenz für den Wandel des geistig-sittlichen Selbstbewusstseins des Menschen“ trägt.26 Der Mensch könne sich zwar der Macht der Technik nicht ent-ziehen, wolle er aber sein „Menschentum sicher begründen“ – und das ist Schmidts Projekt –, so muss er die „geistige Potenz […] erhellen“, die in dem „technischen Geschehen“ verborgen ist.27 In Schmidts Entwurf des Regelkreises zeigt sich eine Regelungstechnik, die in ihren anthropologischen Bestrebungen anders als viele Vi-sionen einer US-amerikanischen Kybernetik Mensch und Maschine, Geistes- und Naturwissenschaften sowie Theorie und Praxis zusammenbringen wollte.28 Schmidt formuliert in seiner Theorie eine anthropozentrisch-holistische Position, die sich gegen eine reduktionistisch-mechanistische Analogie von Mensch und Maschine wendet: „[W]ir dürfen die Frage der Kybernetik nicht von der nach dem Menschen lösen.“29 Mit Blick auf die US-amerikanische Kybernetik kann Schmidts technik-anthropologischer Ansatz daher nur bedingt als „Proto-Kybernetik“ gesehen wer-den.30

Anders als der US-amerikanische Kybernetiker Norbert Wiener hat Schmidt kei-ne populäre Monographie mit seinen Regelkreistheorien verfasst. Zwar arbeitete Schmidt zeitlebens an solch einer theoretischen Grundlegung, die den sprechenden Arbeitstitel „Der Regelkreis. Über die Existenz des Menschen in der technischen Welt“ tragen sollte, diese kam allerdings nie zu Stande. Aus dem Grunde erscheint eine Aufarbeitung von Schmidts Überlegungen und Dokumenten umso wichtiger. Der vorliegende Text von Schmidt stellt eine Edition aus unterschiedlichen Nach-lassfragmenten dar, die Schmidts Modell des Regelkreises zwischen Theorie und Praxis, Anthropologie und Regelungstechnik, seine Vorstellungen vom „Men-schen“ und von „Technik“ sowie seine Abgrenzungen zur und Gemeinsamkeiten mit der populären Kybernetik darstellen. Die Edition kann damit eine Argumenta-tion sichtbar machen, die nicht nur bei Philosophen wie Ernst Kapp, Ernst Cassirer oder Arnold Gehlen (von denen Schmidt stark beeinflusst war; und im Falle Geh-lens auch vice versa) vermeintlich problemlos funktionierte, sondern die sich auch die Ingenieur*innen und Praktiker*innen zu eigen machten, um eine Apologie der Technik zu entwerfen. Dabei zeigen sich besonders im Nachlass zwei Grundfragen von Schmidts Theorien als virulent: zum einen die Frage nach den „Denkformen“ des Technischen und zum anderen, ob diese „Denkformen“, die sich an den tech-nischen Gegenständen manifestieren, auch für die Beschreibung des Subjektiven, also „Geistigen“, des Menschen sinnvoll sind.31 „Wir haben uns angesichts der tech-nischen Welt zu fragen“, so Schmidt programmatisch, „ob sich das Gegenstands-bewusstsein, das die technischen Gebilde umgreift, mit unserem Selbstbewusstsein verbindet.“32

Der vorliegende Text orientiert sich an den technikanthropologischen Themen und Fragestellungen, um die Schmidts Denken Zeit seines Lebens kreisten und sei-ne Arbeit strukturierten. Gleichzeitig sind diese Problemhorizonte gerade durch die in jüngster Zeit aufkommenden epistemischen und anthropologischen Herausfor-derungen autonomer Systeme im Mensch-Technik-Verhältnis überaus bedeutsam.

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Hermann Schmidt: Über die Existenz des Menschen in der technischen Welt (1950–65)1

I. Technik als anthropologisches und ethisches Problem

Sieht man nach, zu welchem Ergebnis die hauptsächlichen Vertreter der geistigen Situation der Gegenwart bei dem Problem der Technik gekommen sind, also et-was Jaspers, Heidegger, Guardini, Ortega y Gasset(2), um nur einige noch lebende zu nennen, so sieht man: Ihr Ergebnis ist, wir haben die Technik nicht verstanden. Diesem Ergebnis muss man sich anschließen, es ist als augenblicklicher Stand des Problems anzuerkennen. Das Problem der Technik ist ja längst zu einem unentbehr-lichen Teil der natur- und geisteswissenschaftlichen Anthropologie geworden und aus diesem Rahmen nicht herauszutrennen. Aber die Anthropologen verschiedener Prägung sind noch zu keinem Ergebnis gekommen, es fehlt manchmal sehr deutlich an ausreichender Kenntnis der Technik. [Dieses führt] zu einer Simplifikation der Dinge, die der Sache Gewalt antut. Richtig erkannt ist, dass es sich in der Technik um das Problem des Menschen handelt, den wir heute fast nur noch als Fachfunk-tionär kennen. Richtig auch, dass er sich um eine Aufgabe handelt, deren Lösung zur Mission Europas gehört. Europa hat die ganze Erde technisiert, es fehlt der Mensch, der in seiner technischen Welt zu Hause wäre. [Die] Mission Europas ist es, die-sen zur technischen Welt gehörenden Menschen ins Bewusstsein zu heben. Das ist eine ethische Aufgabe. Aber – und darin liegt eine der Hauptschwierigkeiten – diese Ethik betrifft nicht nur das Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen, wie das zum Beispiel bei der Ethik Kants(3) in den verschiedenen Formen seines Impe-rativs und in der Ethik des neuen Testaments zum Ausdruck kommt, sondern diese Ethik ist auch die Ethik des Verhaltens des Menschen zur Natur in Erkenntnis und technischer Gestaltung und damit Ethik der gesamten menschlichen Existenz in je-dem Sinne dieses vieldeutigen Wortes. Aller ethischen Problematik voraus geht aber die Erkenntnis der Technik. Man muss erkannt haben, was man beurteilen will. Er-kenntnis stellt stets die Frage nach dem Gesetz. So auch hier. Gibt es ein Geschehen in der Technik? Wenn dies der Fall ist, so muss das Gesetz, das sich durch unsere Tätigkeit als statistisches Gesetz des Kollektivs vollzieht, anerkannt werden. Diese Anerkennung des Gesetzes ist der ethische Akt. Aus ihm heraus entsteht dann das, was an der Technik notwendig und allgemein ist und scheidet sich von dem, was an ihr nicht durch Notwendigkeit und Allgemeinheit ausgezeichnet ist. An diesen Teil des Nichtnotwendigen und Nichtallgemeinen richten wir dann die Frage, ob es in je-dem einzelnen seiner Bestandteile dem Gesetz der Technik widerspricht oder nicht. Diese Entscheidung ist wiederum eine ethische Entscheidung, denn das anerkannte Gesetz der Technik ist ethische Norm. Sie ist nicht an uns gerichtet, sie geht nicht von uns aus, sondern wir bestehen ebenso als ethische Subjekte kraft Anerkennung des Gesetzes der Technik. Und wir bestehen ebenso als konkrete Individuen in unserem physischen Dasein nur durch die Anerkennung des Gesetzes, das wir vollstrecken. Unser Dasein [als] ethisches Problem. Scheidung des Notwendigen und Allgemei-nen vom zufälligen Besonderen ist sein Kern. Die Gefährdung durch die Technik hat es stets nur mit dem Besonderen zu tun, durch das wir gefährdet sein könnten. Aber die Logik fordert schon, dass wir dieses Besondere dem Allgemeinen gegenüber-stellen, denn das Besondere ist nur in Korrelation mit dem Allgemeinen zu denken. Gibt es dies Gesetz nicht, so gibt es kein Problem der Technik – dann mag sich mit Technik der Fachmann befassen, dann hat sie keinen Sinn. Aber das ist ein offener Widerspruch, denn Technik gehört zur Existenz und auf ihren Sinn verzichten wir nicht ohne zugleich zugrunde zugehen.

Es ist das Glück unserer Zeit, das Glück der Katastrophen, dass in ihnen der Mensch neu geboren wird und dieser neue Mensch wird dem Christentum ver-wandter geworden sein, er wird mehr Christ sein als zuvor. Er wird in dem Ge-setz der Technik das Gesetz seiner „Individuation aus eigener Kraft“ erkennen und seine Transzendenz einsehen.(4) Existieren, das banale Dasein enthält das höchste Problem. Nietzsche(5) ahnte das sehr deutlich, wir werden das langsam in unserer technischen Welt lernen, dass alle Wahrheit nicht draussen liegt, sondern, dass wir in uns allein das Sein der Natur erreichen, dass wir selbst Erkenntnisproblem sind, und dass wir dieses Problem lösen müssen, um zu existieren. Wir haben nicht nur die Wahrheit der Wissenschaft – nein wir sind die Wahrheit und soweit wir sie sind, sind wir das Leben. Vielleicht gelingt es den vereinten Kräften der Einsichtigen, den verfinsterten Glanz des Lebens durch die Erkenntnis der technischen Welt ein paar neue Strahlen einzufügen. Aber prüfen wir noch einmal, ob wir das Thema nicht befreien können von der Sicht auf das Negative. Die Stimme des Negativen reicht nicht weit und sie erzeugt kein Echo. Diese Arbeitsgemeinschaft müsste auch Geis-teswissenschaftler und Anthropologen umfassen.

Durch die Heraufkunft der technischen Welt sind ja alle Relationen des Men-schen zu sich, zu anderen Menschen, zur Natur […] fraglich geworden(6), wir leben als Menschen der alten Welt in einer neuen eben technischen Umgebung und ver-langen nach einer neuen Haltung des Bewusstseins. Es handelt sich um einen bis in die Wurzeln unseres Seins gehenden universalgeschichtlichen Prozess, den wir vorsichtig fördern können – nein – aus ethischer Verpflichtung des Menschen zu sich selbst fördern müssen, wenn wir leben wollen. Wir sind im Nichtwissen um die Technik alle verbunden und wir wollen gemeinsam darum ringen, dass dieses Nichtwissen zum Wissen um uns wird. Da Europa das Ursprungsland der Technik ist, ist das Problem ein europäisches und gewiss eine Aufgabe, die keinen bloss aka-demischen Charakter hat, sondern die unser ganzes Sein beherrscht. Die Stellung, die die Menschen in ihrer Gesamtheit zur technischen Welt einnehmen, wird über ihr Geschick entscheiden.

Technik ist ein Formproblem, so wie es Goethe und Leibniz verstanden haben und wie es die Phänomenologen wie Cassirer behandelt haben.7 Die Technik steht damit in einem gemeinsamen Problemkreis mit der Erkenntnis, der Kunst, und der Sprache und jeder Lösungsansatz muss sich als brauchbar erweisen auch für diese anderen Gebiete. Die beiden vergangenen Kulturen des Abendlandes sind Form-kulturen gewesen, das Altertum und das Mittelalter. Die eine war ästhetisch, die andere religiös. Was jetzt heraufkommt ist eine dritte Formkultur. Sie hat ethisch-rationalen Charakter. Ihn gilt es herauszuarbeiten. Es geht um die Existenz des Menschen. Nach Goethe erwirbt man sie am besten, wenn man sich wandelt, wan-delt an Leib und Seele. Der Mensch hat das rechte Verhältnis zur technischen Welt noch nicht gefunden. Techniker, Anthropologen und Physiologen wissen das und mühen sich in vielen Ländern mit wachsender Anstrengung um die Lösung des schicksalsschweren Problems.

II. Selbsterkenntnis des Menschen durch kreisrelationale Objektivation

Wir haben uns angesichts der technischen Welt zu fragen, ob sich das Gegenstands-bewusstsein, das die technischen Gebilde umgreift, mit unserem Selbstbewusstsein verbindet. Zwischen der vom Menschen unberührten und der von ihm techni-sierten Natur steht als ihr schöpferisches Bindeglied der heute durch seine eigene technische Leistung überraschte, in seiner bloßen Existenz und in der Frage nach ihrem Sinn unsicher gewordene Mensch, der aus dieser leiblich-geistigen totalen Unsicherheit heraus sich zur Selbstbesinnung und Selbsterkenntnis wendet. Es ist die entscheidende Frage des Zeitalters, ob der im Bunde mit der Naturerkenntnis geschaffene technische Tatbestand, der sich aus irrationalem Fortschrittsglauben immerfort vermehrt, zu dieser Selbsterkenntnis beitragen kann oder nicht.(8) Ist die Technik selbst eine Potenz für den Wandel des geistig-sittlichen Selbstbewusstseins des Menschen, kann ihre Erkenntnis zur Neubestimmung der Beziehung des Men-schen zu sich selbst, zur Natur, zu anderen Menschen und zu Gott und zur Belebung jener diese Relationen tragenden vierfachen Ehrfurcht Goethe’s etwas beitragen?(9)Oder ist die Technik nur eine niedere Äußerung unseres kollektiven Menschseins, die zwar auf Geltung Anspruch hat, weil sie für die Erhaltung der ständig wachsen-den Milliardenmasse der Menschen unentbehrlich ist, die aber ohne geistig-sittli-che Potenz nach Grundsätzen, zu denen sie nichts beiträgt, vor Entartung bewahrt und zum Guten gelenkt werden müßte? Objektivation = Projektion des Lebens auf die physische Ebene. Eine Art Zerspaltung des Lebens in das physische Objekt glei-cher Form, das nun Gegenstand der Erkenntnis wird. Dieses Gegenstandwerden für die Erkenntnis ist aber die Objektivation im geistigen Bereich. Die Objektivation des Handlungskreises führt zum Regelkreis. Die Kreisrelation ist die Struktur jeder sinnvollen menschlichen Äußerung. Die Kreisrelation ist ein kaum entbehrlicher Begriff für die physiologische Forschung. Regelkreise sind Strukturelemente des Organismus (somatische Regelkreise). Die Kreisrelation ist die Struktur des Wir-kungszusammenhanges des Regelkreises, der das wesentliche Element der gegen-wärtigen Stufe der Entwicklung der Technik ist. Er ist das wesentliche Element des Automatismus.

Mit dem Denken des objektivierten Regelkreises verbindet sich Fremderkennt-nis mit Selbsterkenntnis. Soweit diese Erkenntnis Selbsterkenntnis ist, bedeutet sie Wandlung des Bewußtseins des Menschen. In der Technik geht der Übergang von der organischen Entwicklung zur geschichtlichen Entwicklung vor sich. Es wird also eine organische Struktur des Psychophysischen in das Organische übertragen unter vollständiger Erhaltung der kreisrelationalen Struktur. Hier [im Regelkreis] greift das Leben ein mit diesem Objektivationsprozeß. Die Rückkopplung, die Kreisrelation, die kreisrelationale Struktur bemisst heute unser Leben. Es schließt sich jetzt die geschichtliche Entwicklung an die organische Entwicklung an. Wir übernehmen das, was die Natur uns vorgemacht hat, nämlich die Objektivation des Arbeitskreises in unseren Willen. Der Mensch objektiviert nicht die Natur und schreibt also ihr seine Gesetze vor, wie das Kant ausdrücken würde oder gibt ihr die Gesetze an, sondern der Mensch objektiviert die Erkenntnis der Natur. Er objekti-viert die Erkenntnis der Natur, weil es die Selbsterkenntnis des Wirklichen ist. Wir leben nicht mehr triebhaft als Menschen der organischen Entwicklung, sondern wir leben als unser eigenes Werk, indem wir ganz bewußt die Existenz in der Grund-relation vollziehen.

Unter der Objektivation des Arbeitskreises, der die Natur faktisch, symbolisch und als gedachte Natur umfaßt, verstehen wir das Gegenständlichwerden des gan-zen Kreises seiner Form nach in seinen Gliedern: der Natur als Faktum, Symbol und Gedachtes. Während der Arbeitskreis als entfaltetes Ganzes, so wie er bei jeder Tätigkeit vollzogen wird, das Physische und Psychische, also verschiedene Arten des Seins, in noch ungeklärter Verknüpfung enthält, wird durch seine Objektivation seine kreisrelationale Form auf seine drei Glieder übertragen, und zwar auf jedem Falle auf den Bereich nur einer einzigen Seinsart, nämlich die Natur als Faktum, als Symbol und als Gedachtes. Mensch und Natur treten in der Objektivation des psychophysischen Arbeitskreises und der zugehörigen Subjektivation als Natur und Mensch innerhalb des Arbeitskreises auseinander.(10) Dieser Willensakt ist die zur Objektivation gehörige Subjektivation. So wird aus einem universalen Naturprozeß der menschlichen Entwicklung ein Prozeß der menschlichen Universalgeschichte, er führt zu einem neuen Verhältnis von Mensch und Natur und zu einem Selbst-verständnis des Menschen in der technischen Welt.Im Denken der Kreisrelation kommt das Denken zu sich selbst:(11)

[1.] als Sollform der technisch umformenden Natur (Regelkreislehre)

[2.] als Sollform der Natur als Symbol (Informationstheorie. Kalkül. Sprache)

[3.] als Sollform des Naturgesetzes (Gestalt und Erkenntnis)

Die Kreisrelation als Form der Relationsstruktur der Analoga erweist sich als Invariante in einem Menschen und Natur umfassenden Entwicklungsprozess. Mensch und Natur sind Relata innerhalb der Kreisrelation, ihre Begriffe sind Rela-tionsbegriffe.

III. Kritik an einer reduktionistischen Kybernetik

Die Form des Naturgesetzes als Form der Organisation unserer Naturerfahrung ist die Kreisrelation. Man darf den experimentierenden, erkennenden Menschen nicht einfach weglassen, wenn man die Natur zum Objekt macht. Die Begriffe des Des-cartes, die res cogitans und die res extensa, verlangen dringend zur Überwindung ihrer Polarität nach Vermittlung.(12) Da das Problem der Kybernetik an der Technik erwachsen und ohne seine technische Komponente nicht zu verstehen ist, sollen insbesondere die technischen Grundlagen in einer dem Philosophen und dem an-gesprochenen Fachvertretern verständlichen Weise dargestellt werden. Es ist aber schon deutlich, dass sich zwei Richtungen abzeichnen: die eine hält den Menschen für vollständig objektivierbar, also auch darstellbar als ein System von Impulsen, sodass [er] an einem beliebigen Ort telegrafiert werden kann, eine Folgerung die auch Herr Wiener selbst zieht.(13) Die andere Richtung setzt dieser Objektivierung Grenzen. Ich möchte keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass mein Ansatz zu dem des Herrn Wiener zu der klar begrenzten Objektivierung des Menschen führt, besser gesagt einiger seiner wesentlichen Funktionen. Geht man dem amerikani-schen Ansatz kritiklos nach, so entsteht die m.E. sehr ernst zu nehmende Gefahr, dass uns die Kontinuität mit dem geistigen Erbe Europas verloren geht. Man wird an la Mettrie und seinen mechanistischen Materialismus erinnert(14), wenn man von dieser Entwicklungsrichtung der Kybernetik(15 erfährt und wird schon im bloßen Rückblick auf die Geschichte des Materialismus kaum geneigt sein, der fraglichen Entwicklung der Kybernetik zu folgen. Es geht nicht darum, den gesamten Men-schen in seiner gesamten Wirklichkeit als geschichtliches Wesen mit physikalischen Kategorien zu erklären – das ist ohne Sinn –, sondern es geht hinsichtlich dieser physikalischen Theorien darum, sie dem Begriff des Menschen als dem Begriff sei-nes Existenzvollzuges in seiner Auseinandersetzung mit der Natur einzuordnen, und zu diesem Begriff des Menschen gehört neben der Biologie, Anatomie und Physiologie auch die Ethik. Man könnte sich die bisherige Gesamtentwicklung der Kybernetik in anthropologischer Sicht verständlich machen, indem man auf den ursprünglichen Ansatz der Kybernetik (Allgemeine Regelungslehre 1941) zurück-greift und fragt, inwieweit dieser Ansatz in die bisherige Entwicklung eingegangen sein könnte. Bisher gilt dies wesentlich für den ersten Teil des Ansatzes, der sich mit dem Wiener’schen Ansatz (1943) deckt und die technisch-organisch-anthropologi-sche Regelkreisanalogie zum Inhalt hat.

In ihrem anthropologischen Bezug geht die bisherige Kybernetik auf die Einord-nung ihrer Analogie in die universalgeschichtliche Auseinandersetzung von Men-schen und Natur nicht ein. Es ist aber die Frage nach der Änderung der mensch-lichen Grundrelationen zur Natur, auf die mit der Darstellung der Objektivation des Arbeitskreises eine Antwort versucht werden soll. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, daß die kybernetische Entwicklung bisher mehr oder weniger bewußt durch den Descartes’schen Dualismus einer res cogitans und res extensa bedingt ist. Die Aufspaltung des Seins in die beiden Substanzen trennt den Menschen in zwei Teile, tötet ihn ontologisch gesehen; sie wird der Wirklichkeit des Menschen und damit aller Wirklichkeit keinesfalls gerecht. Der Mensch ist, wie in der techni-schen Welt heute für jeden offenbar ist, kein etwa gar außerhalb von ihr stehender Beschauer der Natur, sondern er ändert sie als Teil der Natur fortlaufend hand-greiflich. Diese seine Grundrelation zur Natur ist durch sein polares Verhältnis, wie es bei Descartes vorliegt, nicht zu fassen. Es ist eine Änderung der menschlichen Grundrelation nötig, die die Polarität überwindet. Diese Aufgabe sollte Techniker und Philosophen künftig aneinanderbinden. Weiterführende Literatur

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Einführender Kommentar zu Alan Turings „Die chemische Grundlage der Morphogenese“

von Niklas Dillen und Sukie VetterAlan Mathison Turing (1912–1954) war ein britischer Mathematiker, der in seiner (tragischerweise) sehr kurzen Karriere zahlreiche wissenschaftliche Beiträge leiste-te, deren Auswirkungen in der gegenwärtigen Forschung, aber auch im alltäglichen Leben des 21. Jahrhunderts beachtlich sind. In der Öffentlichkeit wird der Name Turing häufig mit seiner Arbeit während des Zweiten Weltkrieges an der Dechif-frierung der Enigma1 verknüpft, deren Erfolg maßgeblich zum Sieg der Alliier-ten über die Nationalsozialisten beitrug oder mit seinem Einfluss auf die Welt der modernen Computer. Dieser Einfluss ist vielfältig, von seiner Pionierarbeit in der Theorie der Informatik (vgl. Turing-Maschine), über seinen Anteil an der Entwick-lung und dem Entwurf der ersten Computer, bis hin zu den Grundlagen der gegen-wärtigen Forschung zu Künstlicher Intelligenz (vgl. Turing-Test).

Über diese wissenschaftlichen Interessen hinaus hat sich Alan Turing in den letz-ten beiden Jahren seines Lebens auf Forschungsebene ebenfalls Problemstellungen der Biologie angenommen. In dieser Phase entstand der Text „The Chemical Basis of Morphogenesis“2 (1952). Turings Forschung zu Themen der Biologie ist in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Gerade in der „Theoretischen Biologie“ gilt seine Arbeit zur Morphogenese (dem Entstehungs- und Entwicklungsprozess eines Lebewesens) allerdings als einer der ersten Versuche dieser Forschungsrichtung und nimmt als solche eine Vorreiterrolle ein. Turing beabsichtigt in seinem Werk die Entwicklung eines Mechanismus – auch Turing-Mechanismus genannt –, um große Teile der Morphogenese zu erklären. Auf Grundlage von chemischen Reak-tionen und Diffusion, welche durch partielle Differentialgleichungen beschrieben werden können, erstellt Turing ein mathematisches Modell der Morphogenese. Mit den möglichen Lösungen eines solchen Reaktions-Diffusions-Systems versucht er, das Auftreten von Mustern und Strukturen in der Natur mathematisch-naturwis-senschaftlich zu erklären. Sein Mechanismus beschreibt, wie die Symmetrie von anfangs homogenen Systemen (wie z. B. einer Blastula) auf natürliche Weise gebro-chen werden könnte, sodass daraus biologische Strukturen und Organe entstehen.

Neben dem inhaltlichen Beitrag, den Turing durch den expliziten Mechanismus leistete, bildet seine Herangehensweise den Beginn einer methodischen Revolu-tion in der Biologie als Wissenschaft. Mit den Mitteln und der Perspektive eines Mathematikers betrachtet und bearbeitet Turing biologische Phänomene und be-schreitet den Weg, den der mathematische Biologe D’Arcy Wentworth Thompson (1860–1948) mit seinem Buch On Growth and Form (1917, 1942) geebnet hat. Hie-rin versuchte Thompson aufzuzeigen, dass ein gewisser mathematischer Aspekt der Morphologie für das Verständnis von Wachstum und Form essentiell war und in der Forschung bisher zu wenig Beachtung erfahren habe. Neben seiner mathemati-schen und physikalischen Arbeit zur Entstehung von Formen und Wachstum, wie sie in der Natur beobachtbar sind, appellierte Thompson an seine zeitgenössischen Kolleg*innen, sich für mathematische und physikalische Konzepte zu öffnen und an die Mathematiker*innen, sich den Fragestellungen der Entwicklungsbiologie und Morphologie anzunehmen.3 Da sich Thompsons Werk in der Liste der weni-gen Referenzen zu Turings Arbeit findet, ohne direkt zitiert worden zu sein, kann Thompson zumindest als Inspiration für Turings Arbeit gesehen werden.

Die Neuartigkeit in der Beschreibung durch Turing zeigt sich nicht nur am kon-kreten Inhalt, sondern auch in der Vermittlung dieser Inhalte. Turing bemüht sich, seinen mathematischen und abstrakten Ansatz auch für weniger mathematisch ver-sierte Leser*innen verständlich darzulegen und damit eine breitere Leserschaft (ins-besondere Biolog*innen) anzusprechen. Diese Bemühungen von Seiten des Autors zeigen sich an vielen Stellen des Textes. So fasst er die Resultate seiner mathemati-schen Betrachtungen beispielsweise in Abschnitt 11 zusammen und versucht sie auf Beispiele aus der Natur anzuwenden. Dabei maß er sich keine biologische Expertise an, sondern stellt potenzielle Beispiele vor, um seine Ideen zu präsentieren. Turing öffnet dadurch seinen Ansatz der mathematischen Formalisierung für die Biologie.

Eine weitere Gemeinsamkeit in Turings und Thompsons Vorgehen liegt in ihrem nicht-evolutionären Ansatz. Turing möchte mit seiner Arbeit aufzeigen, wie Formen in der Natur als natürliche Konsequenz aus dem Entstehungs- und Wachstumspro-zess resultieren, statt aus dem evolutionären Ansatz heraus zu fragen, warum eine gewisse Form vorteilhaft für einen Organismus sein sollte. Mit der Frage nach der Ursache, nicht dem Zweck der morphogenetischen Prozesse, positioniert sich Tu-ring indirekt im philosophischen Diskurs, da diese Fragestellung als ein Gegenpol zum teleologischen Prinzip verstanden werden kann.4 Daran wird die Einbettung von Turings Arbeit in Bereiche der Philosophie beispielhaft deutlich, obwohl er an keiner Stelle explizit philosophische Fragestellungen behandelt.

Es ist nur schwer vorstellbar, wie eine reine Zusammenstellung von biologischer Materie ein lebendiges und intelligentes Wesen hervorbringen kann. Zumal die ein-zelnen Teile, aus denen sich ein solches Wesen zusammensetzt (von Körperteilen, über Zellen bis hin zu Molekülen und Atomen) im Allgemeinen nicht als lebendig oder intelligent bezeichnet werden können. Daher stellt sich die Frage, ob es sich bei der Morphogenese tatsächlich um einen vollständig naturwissenschaftlich erklär-baren Prozess zwischen Molekülen handelt oder, ob noch immaterielle oder auch übernatürliche Kräfte eine Rolle spielen (und beispielsweise eine teleologische Ziel-orientierung der Morphogenese bewirken könnten). Aber allein die Tatsache, dass Turing den Prozess der Morphogenese so rigoros mathematisiert, zeugt von seiner starken mathematischen, naturwissenschaftlichen und physikalistischen Weltan-schauung. Anhand der Morphogenese demonstriert er, wie die Mathematisierung eine technische Vorstellung der Biologie realisieren kann. Mit seiner Forschung ar-gumentiert er, dass die Welt aus naturwissenschaftlichen Mechanismen besteht, die ineinandergreifen, um komplexe Entitäten wie z. B. „Menschen“ hervorzubringen. Vergleichbar dazu ist die Sicht des Organismus als eine Art Uhrwerk, in dem die einzelnen Zahnräder in Analogie zu den Mechanismen verstanden und potentiell nachgebaut werden können. Im letzten Abschnitt seiner Publikation formuliert Turing eine Vision, wie (digitale) Computer bei der Berechnung und Simulation dieser Mechanismen zum Einsatz kommen können. Damit leistet Turing auch eine Pionierarbeit in dem Bereich Artificial Life , in dem u. a. versucht wird, natürliche Lebenssysteme mittels Computersimulationen künstlich nachzubilden.

Insgesamt lässt seine Position wenig Platz für unerklärbare, immaterielle oder transzendente Elemente, die den Organismus von der Technik unterscheiden könn-ten, wie es z. B. der Vitalismus postulieren würde.5 In Bezug auf diese Philosophie stellt der Turing-Mechanismus eine konsequente Fortführung des Turing-Tests dar. Bei Letzterem argumentierte Turing, dass es prinzipiell möglich sei, einen Compu-ter zu bauen, dessen Verhalten nicht von dem eines Menschen unterscheidbar ist, und, dass das einer „denkenden“ Maschine gleichkommen könnte. Demnach redu-ziert er das Denken, und damit auch das Bewusstsein, auf das Verhalten, und pos-tuliert somit eine physikalistische beziehungsweise behavioristische Philosophie des Geistes. Nachdem er also erst das Mentale – die „Software“ des Organismus – untersucht hatte, versuchte er zwei Jahre später die Entstehung von biologischen Strukturen – die „Hardware“ des Organismus – zu entmystifizieren.

Im Jahre 1939 besuchte Turing Vorlesungen von Ludwig Wittgenstein6 über die Grundlagen der Mathematik, wobei es zu vehementen Diskussionen zwischen Tu-ring und Wittgenstein über das Potenzial der Mathematik kam. Turing widersprach Wittgenstein, der argumentierte, dass die Mathematik keine absolute Wahrheit zu-tage bringen könne. Es ist unklar, inwiefern wir als Gesellschaft auf der Suche nach Antworten mit der Mathematik an Grenzen stoßen werden. Aber zahlreiche Wis-senschaftler*innen aus der jüngsten Geschichte der Menschheit (wie z. B. Turing) zeigen, wie fruchtbar eine naturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Welt sein kann. Insbesondere durch die Formalisierung des Organismus können wir ebendiesen besser quantifizieren und kontrollieren als je zuvor. Wir können den Or-ganismus messen, in ihn eingreifen und Teile „reparieren“; fast schon wie bei einer Maschine, die von Mediziner*innen statt Mechaniker*innen gewartet wird. Dieses rationale und mechanistische Bild formt das moderne Bewusstsein, den Sprachge-brauch und das Verständnis des Menschen, sodass wir z. B. von dem Herz als eine Pumpe sprechen, die unser Blut wie Wasser durch die Rohre unseres Körpers pumpt.

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Alan Turing: Die chemische Grundlage der Morphogenese (1952)1

Es wird angeregt, dass ein System chemischer Stoffe, genannt Morphogene, die miteinander reagieren und durch Gewebe diffundieren, geeignet sein könnte, um die wichtigsten Phänomene der Morphogenese(2) zu erklären. Ein solches System, auch wenn es ursprünglich recht homogen ist, kann später ein Muster oder eine Struktur aufgrund einer Instabilität in dem homogenen Gleichgewicht entwickeln, die durch zufällige Störungen ausgelöst wird. Solche Reaktions-Diffusions-Systeme werden im Fall eines isolierten Rings aus Zellen als ein mathematisch günstiges, wenn auch biologisch ungewöhnliches, System betrachtet. Die Untersuchung be-fasst sich hauptsächlich mit dem Auftreten von Instabilität. Es stellt sich heraus, dass sechs grundsätzlich verschiedene Formen existieren, die diese Instabilität an-nehmen kann. In der interessantesten Form entstehen stehende Wellen auf dem Ring. Es wird vermutet, dass zum Beispiel die Tentakel-Anordnung der Hydra(3)oder Wirtel(4) dadurch erklärbar sind. Ein System von Reaktionen und Diffusion auf einer Kugel wird ebenfalls betrachtet. Ein solches System scheint die Gastrulation(5)zu erklären. Ein anderes Reaktionssystem in zwei Dimensionen führt zu Mustern, die an Schuppenflechte erinnern. Außerdem wird angeregt, dass stationäre Wel-len in zwei Dimensionen für die Phänomene der Phyllotaxis(6) verantwortlich sein könnten.

Der Zweck dieses Artikels ist es, einen möglichen Mechanismus zu diskutieren, durch den die Gene einer Zygote(7) die anatomische Struktur des entstehenden Or-ganismus bestimmen können. Die Theorie stellt keine neuen Hypothesen auf; sie legt lediglich nahe, dass bestimmte bekannte physikalische Gesetzmäßigkeiten aus-reichen, um viele der Aussagen zu erklären. Um die Arbeit umfassend zu verstehen, sind gute mathematische Kenntnisse, etwas Biologie sowie elementare Chemie er-forderlich. Da von den Leser*innen nicht erwartet werden kann, dass sie Exper-ten in all diesen Disziplinen sind, werden einige elementare Fakten erklärt, die in Lehrbüchern zu finden sind, deren Weglassen die Lektüre des Artikels allerdings erschweren würde.

1. Ein Modell des Embryos. Morphogene.

In diesem Abschnitt wird ein mathematisches Modell eines wachsenden Embryos beschrieben. Bei diesem Modell handelt es sich um eine Vereinfachung und eine Idealisierung und damit um eine Verfälschung. Es ist zu hoffen, dass es sich bei den Merkmalen, die für die Diskussion angenommen werden, um diejenigen handelt, die zum derzeitigen Wissensstand am wichtigsten sind.

Das Modell nimmt zwei leicht unterschiedliche Formen an. In der einen Form wird die Zelltheorie aufgegriffen, allerdings werden die Zellen zu geometrischen Punkten idealisiert. In der anderen Form wird das Gewebe als kontinuierlich ver-teilt angenommen. Dabei werden die Zellen jedoch nicht vollständig ignoriert, denn für verschiedene physikalische und physikalisch-chemische Eigenschaften der Materie als Ganzes werden Werte angenommen, die für die zelluläre Materie angemessen sind.

Bei beiden Modellen geht man analog zu einer physikalischen Theorie vor und definiert zunächst eine Entität(8), die als Zustand des Systems bezeichnet wird. Dann beschreibt man, wie dieser Zustand aus einem Zustand zu einem Zeitpunkt kurz zuvor zu bestimmen ist. In beiden Modellen besteht die Beschreibung des Zustan-des aus zwei Komponenten, der mechanischen und der chemischen. Der mecha-nische Teil eines Zustandes beschreibt die Positionen, Massen, Geschwindigkeiten und elastischen Eigenschaften der Zellen sowie die Kräfte zwischen ihnen. In der kontinuierlichen Form der Theorie werden im Wesentlichen die gleichen Informa-tionen in Form von Spannung, Geschwindigkeit, Dichte und Elastizität der Materie angegeben. Der chemische Teil des Zustandes ist (in der Zellform der Theorie) als die chemische Zusammensetzung jeder einzelnen Zelle gegeben; die Diffusionsfä-higkeit jeder Substanz zwischen jeweils zwei benachbarten Zellen muss ebenfalls gegeben sein. In der kontinuierlichen Form der Theorie müssen die Konzentratio-nen und das Diffusionsvermögen jeder Substanz in jedem Punkt angegeben wer-den. Bei der Bestimmung der Zustandsänderungen sollte Folgendes berücksichtigt werden:

(i) Die Änderungen der Positionen und Geschwindigkeiten, wie durch die New-tonschen Axiome(9) gegeben.

(ii) Die Spannungen, wie durch die Elastizitäten und Bewegungen gegeben; auch unter Berücksichtigung der osmotischen Drücke(10), wie sie sich aus den chemi-schen Daten ergeben.

(iii) Die chemischen Reaktionen.

(iv) Die Diffusion der chemischen Substanzen. Der Bereich, in dem diese Diffu-sion möglich ist, wird durch die mechanischen Daten bestimmt.

Diese Darstellung des Problems lässt einige Merkmale aus, zum Beispiel die elek-trischen Eigenschaften und die interne Struktur einer Zelle. Allerdings handelt es sich auch so schon um ein Problem von beachtlicher mathematischer Komplexität. Man kann derzeit nicht hoffen, irgendwelche Fortschritte beim Verständnis solcher Systeme zu erzielen, wenn keine starken Vereinfachungen getroffen werden. Die wechselseitige Beziehung zwischen den chemischen und mechanischen Daten er-höht die Schwierigkeit enorm. Daher gilt die Aufmerksamkeit, soweit möglich, sol-chen Fällen, in denen diese separiert werden können. Die Mathematik elastischer Festkörper ist ein gut erforschtes Themenfeld und wurde schon oft auf biologische Systeme angewandt. In dieser Arbeit soll die Aufmerksamkeit eher auf solche Fälle gerichtet werden, in denen der mechanische Aspekt vernachlässigt werden kann und der chemische Aspekt wesentlich ist. Diese Fälle versprechen interessanter zu sein, denn die charakteristische Wirkung der Gene selbst ist vermutlich chemisch. Die zu betrachtenden Systeme bestehen demnach aus Gewebemassen, die nicht wachsen, in denen aber bestimmte Substanzen chemisch reagieren und hindurch diffundieren. Diese Substanzen werden Morphogene genannt, wobei das Wort die Idee eines Form-Erzeugers vermitteln soll. Eine exakte Bedeutung ist nicht beab-sichtigt, sondern lediglich die Beschreibung einer Art von Substanz, um die es in der Theorie geht. Die Evokatoren(11) von Waddington(12) stellen ein gutes Beispiel für Morphogene dar (Waddington 1940). Diese Evokatoren, die in ein Gewebe hinein diffundieren, bringen es irgendwie dazu, sich in eine andere Richtung zu entwickeln, als es ohne ihre Anwesenheit der Fall gewesen wäre. Auch die Gene selbst können als Morphogene betrachtet werden. Aber sie bilden sicherlich eine besondere Klasse. Sie besitzen kein Diffusionsvermögen. Außerdem können Gene nur bedingt als eigenständige Moleküle betrachtet werden. Richtiger wäre es (zu-mindest bei der Mitose(13)), sie als Radikale(14) der als Chromosome(15) bekannten Riesenmoleküle zu betrachten. Vermutlich agieren diese Radikale aber nahezu un-abhängig voneinander, sodass schwerwiegende Fehler durch die Betrachtung der Gene als Moleküle unwahrscheinlich sind. Hormone können ebenfalls als typische Morphogene angesehen werden. Auch Hautpigmente können als Morphogene be-trachtet werden. Diejenigen aber, deren Wirkung hier betrachtet werden soll, fallen in keine dieser Kategorien.

Die Funktion von Genen wird als rein katalytisch(16) angenommen. Sie katalysie-ren die Produktion von anderen Morphogenen, die wiederum nur Katalysatoren sein können. Letztendlich führt die Kette zu einigen Morphogenen, deren Aufga-ben nicht rein katalytisch sind. Zum Beispiel könnte ein Stoff in eine Reihe kleinerer Moleküle zerfallen, wodurch sich der osmotische Druck in einer Zelle erhöht und ihr Wachstum fördert. Man könnte also sagen, die Gene beeinflussen die anatomi-sche Form des Organismus, indem sie die Raten derjenigen Reaktionen bestimmen, die sie katalysieren. Wenn man davon ausgeht, dass die Raten von den Genen be-stimmt werden, und wenn ein Vergleich von Organismen nicht beabsichtigt wird, können die Gene selbst aus der Diskussion ausgeklammert werden. Ebenso können alle anderen Katalysatoren, die sekundär durch die Wirkung der Gene entstehen, ignoriert werden, wenn ihre Konzentrationen nicht nennenswert variieren. Es mag jedoch einige andere Morphogene geben, die sich wie Evokatoren verhalten, die nicht ganz vergessen werden dürfen, und deren Rolle dennoch untergeordnet sein kann, wenn es um die Bildung eines bestimmten Organs geht. Nehmen wir zum Beispiel an, dass ein Bein-Evokator -Morphogen in einer bestimmten Region eines Embryos produziert wird oder vielleicht in diese hinein diffundiert, und man wür-de versuchen den Mechanismus zu erklären, durch den sich das Bein in Gegenwart des Evokators gebildet hat. Dann wäre es sinnvoll, die Verteilung des Evokators in Raum und Zeit als gegeben anzunehmen und die dadurch ausgelösten chemischen Reaktionen zu betrachten. So wurde jedenfalls in den wenigen hier betrachteten Beispielen verfahren.

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3. Chemische Reaktionen.

In einem vorangegangenen Abschnitt wurde erläutert, dass das zu betrachtende System aus einer Reihe chemischer Substanzen (Morphogene) besteht, die durch eine Gewebemasse von gegebener geometrischer Form diffundieren und darin mit-einander reagieren. Welche Gesetze bestimmen die Entwicklung dieser Situation? Sie sind ganz einfach. Die Diffusion folgt den gewöhnlichen Gesetzen der Diffusion, das heißt jedes Morphogen bewegt sich von einer Region höherer Konzentration zu Regionen niedrigerer Konzentration. Dabei ist die Geschwindigkeit proportional zu dem Konzentrationsgradienten(17) und proportional zum Diffusionsvermögen des Stoffes.

Es wird angenommen, dass die Reaktionsgeschwindigkeiten dem Massenwir- kungsgesetz unterliegen. Dieses Gesetz besagt, dass die Geschwindigkeit, mit der eine Reaktion abläuft, proportional zu den Konzentrationen der reagierenden Subs-tanzen ist.

Nach dem Zellmodell sind die Anzahl und die Positionen der Zellen vorgegeben, ebenso wie die Raten, mit denen die verschiedenen Morphogene zwischen den Zel-len diffundieren. Angenommen es gibt N Zellen und M Morphogene. Der Zustand des gesamten Systems ist dann gegeben durch MN Größen, die Menge der M Mor-phogene in jeder der N Zellen. Diese Größen ändern sich mit der Zeit, teils wegen der Reaktionen, teils wegen der Diffusion. Um den Anteil der Änderungsrate einer dieser Größen, der auf Diffusion zurückzuführen ist, zu einem beliebigen Zeitpunkt zu bestimmen, muss man lediglich die Menge des Morphogens in der Zelle und ihren Nachbarzellen sowie den Diffusionskoeffizienten dieses Morphogens kennen. Um die Änderungsrate zu bestimmen, die durch chemische Reaktionen bedingt ist, benötigt man lediglich die Konzentrationen aller Morphogene zu diesem Zeitpunkt in der betreffenden Zelle.

Bei dieser Beschreibung des Systems durch die Konzentrationen in den verschie-denen Zellen handelt es sich natürlich nur um eine Näherung. Sie wäre gerecht-fertigt, wenn zum Beispiel der Inhalt perfekt durchmischt wäre. Alternativ wird sie häufig gerechtfertigt durch die Interpretation der Konzentration in einer Zelle als Konzentration an einem bestimmten repräsentativen Punkt, obwohl die Idee der Konzentration an einem Punkt offensichtlich selbst Schwierigkeiten bereitet. Der Autor ist der Meinung, dass es sich um eine gute und praktikable Näherung handelt, welches Argument auch zu ihrer Rechtfertigung herangezogen wird.

4. Der Zusammenbruch von Symmetrie und Homogenität.

Oberflächlich betrachtet scheint es eine Schwierigkeit zu geben, die dieser Theorie der Morphogenese, und tatsächlich auch fast jeder anderen Theorie der Morpho-genese, entgegensteht. Ein Embryo in seinem kugelförmigen Blastula-Stadium(18)ist kugelsymmetrisch(19), beziehungsweise sollten Abweichungen von der vollkom-menen Symmetrie auftauchen, so können sie nicht als besonders bedeutend an-gesehen werden. Ein Grund hierfür ist, dass diese Abweichungen von Embryo zu Embryo innerhalb einer Spezies sehr stark variieren, obwohl die Organismen, die sich daraus entwickeln, kaum unterscheidbar sind. Man kann demnach von einer perfekten Kugelsymmetrie ausgehen. Allerdings wird ein System mit sphärischer Symmetrie, dessen Zustand sich durch chemische Reaktionen und Diffusion än-dert, für immer kugelsymmetrisch bleiben. (Gleiches würde gelten, wenn sich der Zustand nach den Gesetzen der Elektrizität und des Magnetismus oder denen der Quantenmechanik ändern würde.) Es kann sicherlich nicht einen Organismus, wie beispielsweise ein Pferd, hervorbringen, das nicht kugelsymmetrisch ist.

In dieser Argumentation steckt ein Trugschluss. Es wurde angenommen, dass die Abweichungen von der kugelförmigen Symmetrie ignoriert werden können, weil es keinen besonderen Unterschied macht, welche Form der Asymmetrie vorliegt. Es ist jedoch entscheidend, dass es gewisse Abweichungen gibt, denn so kann das System einen Zustand der Instabilität erreichen, in dem diese Unregelmäßigkei-ten, oder bestimmte Komponenten davon, dazu neigen, zu wachsen. Wenn dies ge-schieht, wird normalerweise ein neues und stabiles Gleichgewicht(20) erreicht, wobei die Symmetrie vollständig fehlt. Die Menge solcher neuer Gleichgewichtszustände wird normalerweise nicht so groß sein wie die Menge der Irregularitäten, die sie hervorrufen. Zum Beispiel im Fall der gastrulierenden Kugel, die am Ende dieses Artikels besprochen wird, kann die Richtung der Achse der Gastrula variieren, aber sonst nichts.

Wenn chemische Reaktionen und Diffusion die einzigen Formen physikalischer Veränderungen darstellen, die berücksichtigt werden, so kann das vorherige Ar-gument eine leicht veränderte Form annehmen. Denn insofern das System ur-sprünglich keine geometrische Symmetrie besitzt, allerdings aus einer vollkommen homogenen und möglicherweise unregelmäßig geformten Gewebemasse besteht, so wird es für alle Zeiten homogen bleiben. In der Praxis jedoch wird die Anwesen-heit von Irregularitäten, einschließlich statistischer Fluktuationen in der Anzahl der Moleküle, die die verschiedenen Reaktionen durchlaufen, dazu führen, dass diese Homogenität verschwindet, insofern das System eine geeignete Art der Instabilität aufweist.

Ein instabiles Gleichgewicht beschreibt offensichtlich keinen Zustand, der ganz natürlich auftritt. In der Regel erfordert das Vorkommen einen recht künstlichen Eingriff, wie zum Beispiel das Auflegen einer Murmel auf den höchsten Punkt einer Kuppel. Da Systeme dazu neigen, instabile Gleichgewichtszustände zu verlassen, können sie sich nicht häufig in solchen befinden. Solche Gleichgewichte können jedoch auf natürliche Weise entstehen, indem ein stabiles Gleichgewicht in ein in-stabiles übergeht. Wenn zum Beispiel ein Stab an einem Punkt etwas oberhalb sei-nes Schwerpunktes aufgehängt ist, befindet sich dieser in einem stabilen Gleichge-wicht. Wenn jedoch eine Maus an diesem Stab hochklettert, wird das Gleichgewicht schließlich instabil und der Stab beginnt zu schwingen.

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11. Zusammenfassung und biologische Interpretation der Ergebnisse.

Für Leser*innen, die sich nicht mit den detaillierten mathematischen Darlegungen der Abschnitte 6–10 auseinandersetzen möchten, werden die Annahmen und Er-gebnisse hier kurz zusammengefasst.

Das betrachtete System bestand entweder aus einem Ring von Zellen, bei dem jede einzelne Zelle Kontakt zu ihren Nachbarn hat, oder aus einem kontinuier-lichen Gewebe-Ring. Allerdings ist eine Unterscheidung zwischen diesen beiden Systemen in dieser Zusammenfassung nicht notwendig. Auch wenn nur Systeme mit zwei oder drei  Morphogenen betrachtet wurden, sind die Ergebnisse relativ allgemeingültig. Es wurde angenommen, dass anfangs stabile homogene Systeme von einigen unspezifischen Einflüssen, wie zum Beispiel brownscher Bewegung, Einflüssen von benachbarten Strukturen oder anderen Irregularitäten, leicht ge-stört werden. Außerdem wurde angenommen, dass sich die Reaktionsraten (oder möglicherweise die Diffusionsraten) der Morphogene langsam ändern. Mögliche Gründe dafür sind Zellwachstum, Temperaturveränderungen oder Veränderungen der Konzentrationen von anderen Morphogenen, die als Katalysator oder Kraft-stoffzufuhr dienen. Schlussendlich geht es darum, dass diese Veränderungen das System instabil werden lassen, denn genau diejenigen Phänomene, die in einem solchen instabilen System auftauchen, sind Gegenstand dieser Untersuchung. Um das Problem mathematisch berechenbar zu formulieren, musste die Annahme ge-troffen werden, dass das System nur leicht von seinem ursprünglichen homogenen Zustand abweicht. Diese Annahme wurde Linearitätsannahme genannt, weil die allgemeinen Funktionen, die die Reaktionsraten beschreiben, durch lineare Funk-tionen angenähert wurden. Hierbei handelt es sich um eine gewichtige Annahme, doch man kann davon ausgehen, dass die Muster, die in einer frühen Phase entste-hen (in der sie noch valide ist), eine starke qualitative Ähnlichkeit zu Mustern aus späteren Phasen aufweisen. Weitere, weniger wichtige Annahmen wurden zu Be-ginn der mathematischen Theorie getroffen. Die detaillierten Auswirkungen dieser Annahmen wurden allerdings hauptsächlich in Abschnitt 9 behandelt und waren für das qualitative Verhalten nicht relevant.

Folgende Erkenntnisse wurden erlangt. Nach einer bestimmten Zeit von Beginn der Instabilität an, erscheint ein Muster aus Morphogen-Konzentrationen, welches am besten durch Wellen beschrieben werden kann. Es gibt sechs verschiedene Fälle, die eintreten können:

1. Während das System noch im Gleichgewicht ist, können die Konzent-rationen und Reaktionsraten zu Instabilität in einer einzelnen isolierten Zelle (deren Inhalt identisch zu jeder anderen Zelle des Rings ist) füh-ren. Wenn diese Zelle aus ihrem Gleichgewichtszustand heraus drif-tet  – wie ein aufgestellter Stock, der gerade umfällt  – dann ist davon auszugehen, dass sich die anderen Zellen im Ring genauso verhalten. Benachbarte Zellen driften voraussichtlich in dieselbe Richtung, aber bei weiter entfernten Zellen (zum Beispiel an gegenüberliegenden Enden eines Durchmessers) gibt es keinen Grund zu einer solchen Annahme. Dies ist der uninteressanteste Fall. Allerdings besteht die Möglichkeit, dass hiermit gefleckte Farbmuster erklärt werden können. Abbildung 1 zeigt ein zweidimensionales Muster, welches aus diesem Prozess entsteht und einem natürlichen gefleckten Muster ähnlich sieht. Wenn gefleckte Muster auf diese Art erklärt werden sollen, dann müssen diese in einer latenten Form schon früh manifestiert werden, wenn der Fötus noch nicht viel län-ger als ein paar Zoll ist. Zu einem späteren Zeitpunkt wären die Distanzen größer als sie die Morphogene mittels Diffusion zurücklegen könnten.

2. Dieser Fall ist ähnlich zu (1), nur der Aufbruch des Gleichgewichtszustan-des ist kein unidirektionaler, sondern ein oszillierender Drift. Wie bei Fall (1) stimmen die Inhalte von Zellen, die weiter voneinander entfernt sind, nicht unbedingt überein.

Es gibt wahrscheinlich viele biologische Beispiele dieser metabolischen Oszillation(21), allerdings sind dem Autor keine wirklich zufriedenstellen-den bekannt.

3. Es kann einen Drift weg vom Gleichgewicht geben, der bei aneinander-grenzenden Zellen in entgegengesetzte Richtungen verläuft.

Für diesen Fall sind keine biologischen Beispiele bekannt.

4. Es gibt ein Muster stehender Wellen auf dem Ring und, bis auf ein langsa-mes Wachstum der Amplitude, gibt es keine Veränderungen mit der Zeit, das heißt, das Muster prägt sich nur weiter aus. Im Falle eines kontinuier-lichen Gewebe-Rings ist das Muster sinusförmig, also ergibt sich aus der Konzentration eines Morphogens aufgetragen gegen die Position auf dem Ring eine Sinuskurve. Die Wellenberge sind gleichmäßig um den Ring verteilt. Die Anzahl der Berge kann ungefähr berechnet werden, indem die sogenannte chemische Wellenlänge (22) des Systems durch den Umfang des Rings geteilt wird.

Abbildung 1: Ein Beispiel für ein geflecktes Muster, wie es durch ein Morphogensys- tem vom Typ (1) entsteht. Als Maßstab ist eine Linie mit Einheitslänge eingezeichnet.

Biologische Beispiele dieses Falls werden anschließend etwas ausführli-cher behandelt.

5. Für ein System mit zwei Morphogenen können nur die Fälle (1)–(4) ein-treten, aber mit drei oder mehr Morphogenen sind zusätzlich Wanderwel-len möglich. In einem Ring gäbe es zwei Wellenpakete; das eine schreitet im Uhrzeigersinn und das andere gegen den Uhrzeigersinn fort. In diesem Fall gibt es eine natürliche chemische Wellenlänge, eine Wellenfrequenz und eine Wellenlänge. Es wurde kein Versuch unternommen, Formeln dafür zu entwickeln.

Auf der Suche nach biologischen Beispielen hierfür ist es nicht notwendig, nur Ringe zu betrachten, denn solche Wellen können in Gewebe jeglicher anatomischer Form entstehen.

Die Schwanzbewegungen eines Spermiums sind ein mögliches Beispiel für die Wanderwellen. Dass sich die Wellen innerhalb einer Zelle befin-den, stellt kein Problem dar, doch die Geschwindigkeit scheint etwas grö-ßer zu sein als möglich, außer mit einer ziemlich großen Konstante.(23)

6. Metabolische Oszillation mit gegenphasigen(24) benachbarten Zellen. Dem Autor sind hierfür keine biologischen Beispiele bekannt.

Es ist schwierig, Beispiele zu finden, in denen Fall (4) direkt zutrifft, was lediglich der Tatsache geschuldet ist, dass isolierte Ringe aus Gewebe sehr selten sind. Aller-dings sind Systeme, die die gleiche Art der Symmetrie wie Ringe aufweisen, weit verbreitet. Man kann davon ausgehen, dass in diesen Körpern unter angemessenen chemischen Bedingungen stehende Wellen entstehen können, und, dass deren Ro-tationssymmetrie durch eine polygonale Symmetrie ersetzt wird.(25)

So kann zum Beispiel der Trieb einer Pflanze anfangs Rotationssymmetrie auf-weisen, das heißt wenn man ihn um eine bestimmte Achse rotiert, sieht er im Grun-de immer gleich aus; später entwickelt dieser Trieb eventuell einen Blattwirtel und die Symmetrie existiert nur noch für Drehungen um den Winkel zwischen zwei Blättern und Vielfache dieses Winkels. Dieses Beispiel demonstriert die Komplexi-tät der Situation, wenn nicht nur eine Dimension im Spiel ist. Blätter an einem Trieb sind eventuell nicht kreisförmig in einem Wirtel angeordnet, sondern können sich auch gegenseitig überlappen. Solche Fälle können auch mathematisch analysiert werden und werden in einer zukünftigen Arbeit im Detail behandelt.(26) Nach der Einschätzung des Autors sind die Tentakel von (zum Beispiel) Süßwasserpolypen sowie die Wirtel von bestimmten Pflanzen, wie Waldmeister ( Asperula odorata ), biologisch am ehesten mit einem isolierten Ring an Gewebe vergleichbar.

Süßwasserpolypen sind Seeanemonen ähnlich, leben aber in Süßwasser und ha-ben ca. 5–10 Tentakel. Wenn ein Teil einer Süßwasserpolype abgetrennt wird, dann wird sich daraus ein komplett neuer Organismus formen. In einem bestimmten Stadium dieses Vorgangs erreicht der Organismus die Form einer Röhre, die an ihrem Kopfende geöffnet und am anderen Ende geschlossen ist. Der externe Durch-messer ist am Kopf etwas größer als am Rest der Röhre, aber das Ganze ist immer noch rotationssymmetrisch. In einem späteren Stadium verschwindet die Symmet-rie in der Hinsicht, dass sich am Kopfende Ansätze für die Tentakel bilden (Child(27), 1941, S. 101 und Abb. 30). Gemäß der Morphogen-Theorie ist davon auszugehen, dass an dem Kopfende Reaktionen ähnlich zu denen, die für einen Gewebe-Ring betrachtet wurden, stattfinden und damit zu einem ähnlichen Symmetriebruch führen. Die Situation ist etwas komplizierter als die eines dünnen, isolierten Rings, da dieser Abschnitt der Süßwasserpolype weder isoliert noch dünn ist. Es ist nicht abwegig davon auszugehen, dass das Kopfende die einzige Region mit den richtigen chemischen Bedingungen ist, um diese Instabilität zu verursachen. Aber jegliche Substanzen, die in dieser Region produziert werden, können immer noch frei in die weniger aktive Umgebung diffundieren. Es ist keine große Schwierigkeit, diesen Punkt in Einzelfällen mathematisch zu bearbeiten. Aber wenn die aktive Region zu breit ist, kann das System das Verhalten eines dünnen Ringes nicht mehr approxi-mieren und man kann nicht erwarten, dass sich die Tentakel in einem einzelnen kreisförmigen Wirtel ausbilden. Diese Situation kann hier nicht im Detail bearbei-tet werden.

Bei Waldmeister entstehen die Blätter in Wirteln um den Stamm herum. Mit manch-mal nicht mehr als fünf und manchmal bis zu neun Stück variiert die Anzahl der Blät-ter in einem Wirtel erheblich. In angrenzenden Wirteln am selben Stamm ist diese Zahl meistens gleich, allerdings nicht ausnahmslos. Vermutlich ist die Entstehung der Wirtel auf Ringe aus aktivem Gewebe in der meristematischen Region(28) zurückzufüh-ren und diese Ringe bilden sich mit ausreichendem Abstand zueinander, um sich nicht in die Quere zu kommen. Die Anzahl der Blätter in einem Wirtel lässt sich vermutlich durch die oben angegebene Regel berechnen, nämlich durch Teilung der chemischen Wellenlänge durch den Umfang, wobei diese beiden Größen neu interpretiert wer-den sollten, sodass sie eher dem Waldmeister als dem Ring entsprechen. Ein weiteres wichtiges Beispiel einer Struktur mit polygonaler Symmetrie sind junge Wurzeln, die gerade aus der Mutterwurzel sprießen. Anfangs ist sie im Querschnitt fast homogen, aber mit der Zeit erscheint ein Ring von ziemlich gleichmäßig verteilten Flecken, die sich später zu Gefäßsträngen entwickeln. Auch in diesem Fall muss die vollständige Er-klärung in Form eines zweidimensionalen oder sogar dreidimensionalen Problems er-folgen, aber die Analyse des Rings ist trotzdem aufschlussreich. Wenn der Querschnitt sehr groß ist, können die Stränge in mehr als einem Ring, oder mehr oder weniger zufällig oder hexagonal angeordnet sein. Die zweidimensionale Theorie (die hier nicht näher erläutert wird) leistet ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Erklärung.

Blumen liefern auf den ersten Blick die offensichtlichsten Beispiele für polygonale Symmetrie und es ist wahrscheinlich, dass es viele Arten gibt, für die diese Theorie der Wellen um einen Ring im Wesentlichen zutrifft. Allerdings steht fest, dass sie nicht für alle Arten Bestand hat. Wenn dies der Fall wäre, dann gäbe es, wenn man die Gesamtheit der Blumen betrachtet, das heißt alle Arten zusammengemischt, kei-ne deutlich bevorzugten Blütenblatt- (oder Blumenkronen-, Segment-, Staubgefäß- usw.) Anzahlen. Denn wenn man alle Arten berücksichtigt, muss man damit rech-nen, dass die Durchmesser der entsprechenden Ringe fast alle Werte innerhalb eines beträchtlichen Intervalls annehmen, während benachbarte Durchmesser annähernd gleich häufig auftreten. Es kann auch eine gewisse Abweichung in der chemischen Wellenlänge geben. Eine geringe Variation im Verhältnis von Umfang zu Wellen-länge sollte auch nur zu einer geringen Variation seiner Häufigkeit führen, was be-deutet, dass aufeinanderfolgende Blütenblattanzahlen etwa gleich oft vorkommen sollten. Die Fakten sprechen aber dagegen. Während die Zahl Fünf extrem häufig ist, kommt die Sieben eher selten vor. Diese Fakten sind nach Auffassung des Autors auf der Basis der Morphogen-Theorie erklärbar und stehen in engem Zusammenhang mit der Theorie der Phyllotaxis. Sie können hier nicht im Detail betrachtet werden.

Der Fall von Gewebe in Form eines Fadens bedarf einiger Anmerkungen. Die Muster des Gleichgewichtszustandes werden auf einem solchen Faden die gleichen sein wie die auf einem Ring, der an einem Punkt aufgeschnitten wurde, an dem die Konzentrationen der Morphogene maximal oder minimal sind. Dies könnte eine Erklärung für die Segmentierung solcher Filamente(29) sein. Es ist jedoch zu be-achten, dass die Theorie nicht unverändert für in Wasser getauchte Filamente gilt.

12. Chemische Wellen auf Kugeln. Gastrulation.

Die Behandlung des Zusammenbruchs der Homogenität auf der Oberfläche einer Kugel ist nicht viel schwieriger als im Fall des Rings.

Die anatomische Struktur, die in diesem Problem behandelt wird, entspricht ei-ner Hohlkugel aus zusammenhängendem Gewebe, wie zum Beispiel eine Blastula.

Das Ergebnis der Analyse ist also Folgendes. Unter bestimmten, nicht allzu restriktiven Bedingungen (zu denen die Bedingung gehört, dass die Kugel relativ klein sein muss, aber an Größe zunimmt) ist der Zerfall der Homogenität achsensymmetrisch, nicht um die ursprüngliche Achse der Kugelkoordinaten(30), sondern um eine neue Achse, die durch Störeinflüsse bestimmt wird. Angenommen, das erste Morphogen ist ein Wachs-tumshormon oder fördert dessen Produktion, dann ist zu erwarten, dass die Blastula achsensymmetrisch wächst, aber an einem Ende der Achse schneller als am anderen. Dies kann unter Umständen zur Gastrulation führen, wobei die Auswirkungen eines solchen Wachstums nicht so einfach zu bestimmen sind, denn sie hängen von den elas-tischen Eigenschaften des Gewebes sowie von der Wachstumsrate an jedem Punkt ab. Dieses Wachstum wird mit Sicherheit zu einem Rotationskörper(31) führen, dessen Pole sich deutlich voneinander unterscheiden, es sei denn, es gibt zusätzlich zur chemischen Instabilität eine mechanische Instabilität, die den Zusammenbruch der Achsensymmet-rie verursacht. Die Ausrichtung der Achse der Gastrulation ist nach dieser Theorie eher zufällig. Es ist möglich, dass experimentell festgestellt werden kann, dass die Achse be-vorzugt in eine bestimmte Richtung liegt, wie zum Beispiel die des animalen Pols.(32) Da-durch entsteht aber kein wesentlicher Widerspruch zur Theorie, denn jede kleine Asym-metrie der Zygote kann als Störung ausreichen, um die Achse zu bestimmen.

13. Nichtlineare Theorie. Einsatz von digitalen Computern(33).

Die hier entwickelte Wellen -Theorie hängt im Wesentlichen von der Annahme ab, dass die Reaktionsraten linear von den Konzentrationen abhängen – eine Annahme, die im Falle eines Systems, das gerade beginnt, seinen homogenen Zustand zu verlassen, ver-tretbar ist. Solche Systeme sind von besonderem Interesse, wenn es darum geht, ers-te Erscheinungen von Mustern zu betrachten, aber sie bilden eher die Ausnahme als die Regel. Die meiste Zeit über entwickelt sich ein Organismus von einem Muster zum nächsten, anstatt von einer Homogenität zu einem Muster überzugehen. Auch diesen allgemeineren Prozess möchte man mathematisch nachvollziehen können. Die Schwie-rigkeit liegt allerdings darin, dass man nicht hoffen kann, eine umfassende Theorie sol-cher Prozesse über die Angabe der Gleichungen hinaus zu finden. Es könnte jedoch möglich sein, einige wenige Sonderfälle mit Hilfe eines Computers im Detail zu behan-deln. Diese Methode hat den Vorteil, dass weniger vereinfachende Annahmen getroffen werden müssen, wie es bei einer eher theoretischen Art der Analyse der Fall wäre. Mit dieser Art von Methode könnte es sogar möglich sein, neben den chemischen auch die mechanischen Aspekte des Problems zu berücksichtigen. Der wesentliche Nach-teil der Methode ist, dass man nur für bestimmte Fälle Ergebnisse erhält, wobei dieser Nachteil wahrscheinlich vergleichsweise unwichtig ist. Selbst bei dem in dieser Arbeit betrachteten Ringproblem, für das eine einigermaßen vollständige mathematische Ana-lyse möglich war, war die Berechnung eines konkreten Falles am aufschlussreichsten. Die Morphogen-Theorie der Phyllotaxis, die, wie bereits erwähnt, in einer späteren Arbeit erläutert werden soll, wird mit dieser computergestützten Berechnungsmethode bearbeitet. Es werden nichtlineare Gleichungen(34) verwendet.

Zugegebenermaßen sind die biologischen Beispiele, die in der vorliegenden Arbeit gegeben werden konnten, sehr begrenzt. Dies ist ganz einfach darauf zu-rückzuführen, dass biologische Phänomene in der Regel sehr kompliziert sind. Zu-sammen mit der relativ elementaren Mathematik, die in dieser Arbeit verwendet wurde, kann man kaum erwarten, dass damit viele der beobachteten biologischen Phänomene behandelt werden können. Es ist allerdings zu erwarten, dass die be-handelten imaginären biologischen Systeme und die erörterten Prinzipien bei der Interpretation realer biologischer Formen eine gewisse Hilfe darstellen. Weiterführende Literatur

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Einführender Kommentar zu Georges Canguilhems „Maschine und Organismus“

von Marija Leichtling, Tom Leonhardt und Jonathan MikoteitGeorges Canguilhem (1904–1995) ist außerhalb Frankreichs bisher noch wenig re-zipiert. Dabei hatten seine Werke einen großen Einfluss auf viele bekannte franzö-sische Autor*innen. Das geht wohl auch auf seine Lehrtätigkeit an der renommier-ten Pariser Hochschule Sorbonne zurück. Hier war er der Nachfolger von Gaston Bachelard. Seine Forschungen reichen von historischen Analysen der Wissenschaft über das Verständnis des Lebens und der Technik bis hin zu damit verbundenen erkenntnistheoretischen Thesen. Schon in seiner Studienzeit an der École norma- le supérieure (Paris) zeigte sich sein Interesse an den Wissenschaften. So setzten sich seine ersten Texte dezidiert mit positiven Wissenschaften auseinander, häu-fig im Zusammenhang mit Technik. Zusätzlich beschäftigten ihn Themen aus dem pädagogischen und politischen Bereich. Beispielsweise engagierte er sich aktiv in der Resistancé und bemühte sich in verschiedenen Lehrtätigkeiten, sodass er 1948 sogar zum Generalinspektor des nationalen Bildungswesens ernannt wurde. Can-guilhems Texte sind vor allem kritische Auseinandersetzungen mit den positiven Wissenschaften und folgen stets der These, dass Begriffe als historische Werkzeug zu verstehen sind, mit welchem der Mensch Erkenntnisse schaffen, formulieren und mitteilen kann. Bei Canguilhem rückt somit die Wissenschaftsgeschichte in den Vordergrund. Sie soll die Wissenschaftler*innen mit dem lebensweltlichen Ur-sprung ihrer Erkenntnisse konfrontieren und damit die Grenzen der Rationalität in Erinnerung rufen. Mit seiner Methode lässt sich Canguilhem der historischen Epistemologie zuordnen. Die Forschungsfragen über Umfang, Zweck und Sinn menschlicher Erkenntnis werden hier im Zusammenhang mit einer kritischen his-torischen Analyse der jeweiligen Begriffe, Apparate und Praktiken gedacht. Diese fungieren als Werkzeuge und sind als solche zunächst als technisches Resultat und

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Schöpfung des Menschen, und somit auch als wertend zu verstehen. Der Mensch ist nach Canguilhem also stets in Verbindung mit seiner historischen und situativen Umwelt zu denken und muss gewonnene Erkenntnis stets mit möglichem Irrtum zusammen denken. Damit einhergehend zeigt Canguilhem ein Interesse am „Le-ben“ und Lebendigen, dem er sich in seinem Studium der Medizin auch auf nicht-philosophischer Ebene widmete. Seine Ausführungen führten ihn dahin, das Leben als normativ, zweckgebend und damit auch die technischen Konstruktionen in ge-wissem Sinne als spezifisch lebendig zu verstehen. Dieser Ansatz lässt sich auch in Canguilhems Text „Organismus und Maschine“ wiederfinden. Der Text erschien 1952 in einer Aufsatzsammlung mit zwei anderen Texten, die zusammen ein gutes Bild von Canguilhems zentralen Thesen über den Menschen abgeben1. In ihnen wird der Mensch auf fundamentale Weise mit seiner Umwelt verzweigt dargestellt, indem die Erkenntnis als Vermittler des Organismus und seiner Umwelt fungiert.2

In dem hier aufgeführten Text leitet Canguilhem keine eigene Theorie über das Verhältnis von Maschine und Organismus her, sondern untersucht mit seiner histo-risch epistemologischen Methode die Entwicklung des Verhältnisses zwischen dem Organismus und der Maschine. In den Ausführungen lässt sich zum einen anhand seiner Methode seine Stellung zur Philosophie, Wissenschaft und Geschichte er-kennen, zum anderen lässt die Schrift auch eine Konzeption des „Lebens“ erken-nen. Canguilhem zeigt nicht nur Gründe, warum der Vergleich von Maschine und Organismus – im Sinne einer mechanischen Auffassung des Körpers – Limitatio-nen aufweist, sondern versucht vielmehr auch das Phänomen der Technik in seiner Eigenständigkeit gegenüber dem wissenschaftlichen Forschen abzugrenzen. Dafür geht Canguilhem bis zu Aristoteles zurück, findet dort allerdings noch nicht die Härte des mechanistischen Verständnisses, wie sie später von Descartes postuliert wird. Aristoteles behauptet einen Finalismus der Natur, bei der jede Bewegung auf eine erste unbewegte Triebkraft zurückzuführen ist. Canguilhem steht also vor der Frage, wie sich die Entwicklung hin zu Descartes Auffassung des Mechanismus als Natur beherrschendes und letztlich entwertendes Gedankenkonstrukt, dass ihr jeglichen autonomen Zweck abspricht, durchgesetzt hat.3 Canguilhem sieht die Antwort in der „Entwicklung des Maschinenbetriebs“, die „die eigentliche Ursache der mechanistischen Weltvorstellung [ist]. […] Descartes hat also bewusst eine Ma-schinentechnik rationalisiert.“4 Canguilhem merkt aber an, dass nach Descartes der „Körper“ Folge einer Konstruktion ist. Der cartesianische Gott, der Artifex Maximus , als Konstrukteur braucht für die Konstruktion nicht nur ein lebendiges Vorbild, sondern schafft dabei auch den Zweck des Körpers, der letztlich in der Konstruktionsweise liegt. Canguilhem stellt durch seine historische Analyse den irrationalen Ursprung der mechanistischen Vorstellung des Lebens heraus.5

Die Vorstellung des Lebens ohne Anbindung an Zwecke scheitert, auch wenn man die Funktionsweise vom Organismus betrachtet: Die anatomische Form eines menschlichen Beckens lässt nicht nur, sozusagen passiv, zufällig, die Geburt eines Kindes zu, sondern es scheint, als sei es mit seiner Form direkt dazu bestimmt, eine Geburt vollziehen zu können. Canguilhem argumentiert, dass ein Organis-mus im Gegensatz zur Maschine selbsterhaltend ist und seine Teile nicht nur zur Erfüllung einer bestimmten Summe von Zwecken limitiert sind, sodass bei Störun-gen eines dieser Teile sogleich das ganze System kollabiert. Organe sind polyvalent wie Canguilhem schreibt, während Maschinen funktionell inflexibel und starr sind. An dieser Stelle des Textes wird eine These impliziert, die in einem anderen Text von Canguilhem explizit gemacht wird.6 Die Norm des Lebens wird als gestalten-de verstanden: Das Leben schafft sich und seine Umgebung. Das Leben passt sich ständig an und zielt damit auf Vitalität. Die Normativität ergibt sich aus Krisen-situationen, in denen der Status Quo so in Frage gestellt wird, dass das Lebendige sich selbst überwindet, um eine neue Norm zu setzen. Somit ist dem Leben der Irrtum eingeschrieben; eine ursprüngliche Verfassung wird durch eine Krise, die nicht „einberechnet“ wurde, verbessert. Solange der spezifische Organismus diese Möglichkeiten des „try and error“ ausschöpfen kann, ist er gesund. Pathologisch ist das Leben, sobald sich seine Überlebensmöglichkeiten dezimieren. Für die Maschi-ne aber ist gerade ein starrer Zustand der äußeren Bedingungen notwendig, damit sie funktioniert. Eine pathologische Betrachtung ist auf Maschinen nicht anwend-bar. Es ist aber diese normative Kraft des Lebendigen, die die Maschine ursprüng-lich bedingt.7 Kann man sich den Organismus als Maschine vorstellen, wenn die Maschine aus der Notwendig des Organismus konstruiert wurde? Organismen sind reproduktiv und normativ. Sie schaffen sich selbst neu, Maschinen machen dies nicht.8 Daraus wird ersichtlich, worin das „Mehr“ des Organismus gegenüber der Maschine besteht.

Hier wird nicht nur der Grund für die Umkehrung der Maschine-Organismus-Beziehung ersichtlich, sondern auch Canguilhems Verständnis von philosophi-schem Arbeiten. Die Maschine zu verstehen ist wichtiger als sie zu erklären. Man muss somit das Phänomen „Maschine“ gerade auf seine systematische und histori-sche Herkunft befragen, anstatt nach wissenschaftlicher Manier nur ihre Funktio-nen und ihren Aufbau erklären zu wollen. Philosophie setzt sich also mit der his-torisch gewordenen Lebenswelt auseinander.9 Für Canguilhem ist die historische Epistemologie die Herangehensweise, mit der dieser Anspruch erfüllt werden kann. Das Verständnis der Maschine muss als ein kulturelles und historisches Ereignis verstanden werden, das durch die normative Kraft des Lebens ermöglicht wird. Das heißt also, dass wir nach Canguilhem Technik als Folge eines menschlichen Hand-lungsprozesses verstehen sollten, der nicht als rein rational, sondern irrational be-trachten werden muss. Das Verfahren der Wissenschaft ist analytisch, während die Technik vom Menschen geschaffen wurde. Hierbei spielen Wünsche und Erwar-tungen sowie äußere Umstände, die historisch kontingent sind, eine wichtige Rolle. Technische Produkte werden also auch aus einem Problembewusstsein, und nicht durch bloße Anwendung von Wissen, geschaffen. Deswegen müssen wir nach Can-guilhem den Zweck und die Entstehungsgeschichte kennen, um die Konstruktion der Maschine zu verstehen. Wie sonst ist es verständlich, dass die Lokomotive erst im 19. Jahrhundert gebaut wurde, obwohl die notwendigen mechanischen Prinzipi-en schon jahrhundertelang bekannt waren? Wir dürfen demnach nicht dem Para-digma der Rationalität verfallen, sondern müssen das Irrationale unseres eigenen Verhaltens anerkennen.10

Die Umkehrung der Maschine-Organismus-Beziehung weg von einer mechanis-tischen Auffassung ist durch die historische Analyse der Mechanisierung notwen-dig geworden. Canguilhem zeigt dieses, indem er die Begriffe auf ihre ursprüng-liche Bedeutung außerhalb des rationalen Rahmens zurückführt.

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Georges Canguilhem: Maschine und Organismus (1952)1

Die mechanische Theorie des Organismus war lange ein Dogma der Biologie. Heute halten sie die Biologen, die sich auf den dialektischen Materialismus berufen, für eine enge und ungenügende Betrachtungsweise. Wenn wir sie aus philosophischer Sicht nun wieder aufgreifen, mag das als Bestätigung für die weit verbreitete Auf-fassung angesehen werden, dass die Philosophie kein eigenes Fachgebiet habe, dass sie eine arme Verwandte der Spekulation sei und gezwungen, in die abgenutzten und liegen gelassenen Kleider der Wissenschaft zu schlüpfen. Wir möchten aber zu zeigen versuchen, dass die Frage nach der Beziehung zwischen Maschine und Organismus viel breiter, komplexer und philosophisch ernstzunehmender ist, als man glauben möchte, wenn man sie auf eine Frage der biologischen Lehrmeinung und Methode reduziert.

Sie ist schlechthin beispielhaft für jene Probleme, bei denen die Wissenschaft, die sich ihrer annimmt, selber ein Problem darstellt. Denn wenn auch gute tech-nische Werke vorliegen, so sind Begriff und Methoden einer „Organologie“(2) noch eine sehr vage Angelegenheit. Paradoxerweise würde die Philosophie der Wissen-schaft dann ihren Platz zuweisen und weit davon entfernt sein, ihrerseits verspätet einen verlassenen Posten zu besetzen. Denn das Problem der Beziehung zwischen Maschine und Organismus ist bisher in der Regel nur in eine Richtung untersucht worden. Man hat fast immer versucht, ausgehend von der Struktur und der Funk-tion der schon konstruierten Maschine die Struktur und die Funktion des Organis-mus abzuleiten; aber man hat selten versucht, ausgehend von der Struktur und der Funktion des Organismus den Aufbau der Maschine zu verstehen.

Die Philosophen und die mechanistischen Biologen haben die Maschine als ge-geben vorausgesetzt oder, wenn sie ihre Bauart studiert haben, das Problem mit Verweis auf das menschliche Kalkül gelöst. Sie haben sich auf den Ingenieur be-rufen, das heißt im Grunde genommen auf den Wissenschaftler. Getäuscht von der Mehrdeutigkeit des Wortes Mechanik haben sie in den Maschinen nichts als materialisierte Theoreme gesehen, in concreto zur Schau gestellt durch einen völ-lig sekundären Konstruktionsvorgang, durch einfache Anwendung eines Wissens, das sich seiner Reichweite bewusst und seiner Wirkungen sicher ist. Wir meinen hingegen, dass es nicht angeht, sich mit der biologischen Frage der Organismus-Maschine zu befassen, indem man sie von der technologischen Frage trennt, deren Lösung immer schon vorausgesetzt wird – nämlich dem Problem der Beziehung zwischen Technik und Wissenschaft. Dieses Problem wird gewöhnlich in dem Sin-ne gelöst, dass das Wissen der Anwendung sowohl logisch als auch chronologisch vorangehe. Wir möchten aber zu zeigen versuchen, dass man das Phänomen der Maschinenkonstruktion nicht verstehen kann, wenn man auf Naturbegriffe aus der Biologie zurückgreift, ohne gleichzeitig danach zu fragen, wo die Technik in Bezug auf die Wissenschaft herkommt.

Wir werden also der Reihe nach untersuchen: den Sinn, den es macht, Orga-nismus und Maschine miteinander zu vergleichen; die Beziehungen zwischen Me-chanismus und Zweckbestimmung; die Umkehrung der traditionellen Beziehung zwischen Maschine und Organismus; und schließlich die Folgen dieser Umkehrung für die Philosophie.

Man kann die Maschine als künstliche, von Menschen geschaffene Konstruktion definieren, deren wesentliche Funktion auf Mechanismen beruht. Ein Mechanismus ist eine Konfiguration von Festkörpern, die sich so bewegen, dass die Konfiguration dabei nicht zerstört wird. Ein Mechanismus ist also ein Gefüge von beweglichen Teilen, bei deren Bewegung die ursprüngliche Beziehung der Teile untereinander periodisch wiederhergestellt wird.

Der Mechanismus reguliert und transformiert eine Bewegung, deren Impuls er erhalten hat. Natürlich können Mechanismen durch Überlagerung oder Verkettung kombiniert werden. Man kann Mechanismen bauen, die die Konstellation eines einfachen Mechanismus modifizieren, so dass die Maschine alternativ mehrere Mechanismen durchführen kann. Das ist bei Veränderungen der Fall, die durch

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Auslösen oder Einschalten bewirkt werden, wie zum Beispiel beim Leerlauf eines Fahrrades.

Nach diesem kurzen Rückblick auf die elementaren Begriffe der Kinematik(3)können wir nun die folgende Frage in ihrer ganzen paradoxen Bedeutung stellen: Wie ist man dazu gekommen, in der Maschine und ihrem Mechanismus, so wie wir sie eben definiert haben, ein Modell für die Struktur und die Funktion des Organis-mus zu suchen?

Während langer Zeit wurden kinematische Mechanismen von menschlicher oder tierischer Muskelkraft angetrieben. In dieser Phase war es offensichtlich tautolo-gisch, die Bewegung eines Lebewesens mit der Bewegung einer Maschine zu ver-gleichen, da diese ja von der körperlichen Anstrengung des Lebewesens abhing. Folglich basiert die mechanistische Erklärung der Organfunktionen historisch  – und man hat das oft gezeigt – auf dem Bau von Automaten. Die Bezeichnung Auto-mat verweist sowohl auf den wundersamen Charakter als auch auf die scheinbare Selbstgenügsamkeit eines Mechanismus, der eine Energie umsetzt, die nicht – we-nigstens nicht unmittelbar – aus menschlicher oder tierischer Muskelanstrengung resultiert.

Eine mechanistische Erklärung organischer Phänomene beruht also darauf, dass neben Maschinen im Sinne von kinematischen Vorrichtungen auch Maschinen im Sinne von Motoren existieren, die ihre Antriebsenergie im Betrieb nicht aus einem tierischen Muskel beziehen. Aristoteles(4) beschreibt die Bewegungsorgane der Tiere als „organa“(5), vergleicht sie also mit Teilen von Kriegsgeräten, mit dem Arm eines Katapultes zum Beispiel, der ein Projektil schleudert. Den Bewegungs-ablauf vergleicht er mit Maschinen, die, wenn man sie einschaltet, aufgespeicherte Energie freigeben, mit automatischen Maschinen also, deren Archetyp seinerzeit das Katapult war. Im selben Werk beschreibt Aristoteles die Bewegung der Glieder als Mechanismen im oben definierten Sinn; in diesem Punkt übereinstimmend mit Platon(6), der im Timaios(7) die Bewegung der Wirbel als Bewegung von Scharnieren oder Angeln beschreibt.

Aristoteles’ Theorie der Bewegung unterscheidet sich erheblich von derjenigen Descartes’(8). Aristoteles zufolge ist die Seele das Prinzip jeder Bewegung. Jede Be-wegung braucht eine erste Triebkraft. Die Bewegung setzt das Unbewegte voraus; es ist der Wunsch, der den Körper bewegt, und dieser Wunsch liegt in der Seele be-gründet, so wie die Leistung in der Tat begründet liegt. Trotz dieses Unterschiedes in der Bewegungserläuterung setzt der Vergleich des Organismus mit einer Maschine bei Aristoteles, wie später bei Descartes auch, von Menschen entwickelte Apparate voraus, bei denen der automatische Mechanismus mit einer Energiequelle verbun-den ist, deren externe Antriebskraft eine verzögerte Wirkung hat. Die Energie wird umgesetzt, nachdem die menschliche oder tierische Anstrengung längst aufgehört hat. Es ist diese Verschiebung zwischen dem Zeitpunkt der Speicherung und dem Zeitpunkt des Freisetzens der Energie, die dazu führt, dass das Abhängigkeitsver-hältnis zwischen mechanischer Leistung und dem Einwirken eines Lebewesens in Vergessenheit gerät. Wenn Descartes bei den Maschinen nach Analogien sucht, um den Organismus zu erklären, beruft er sich auf gefederte oder hydraulische Auto-maten. Er ist den technischen Apparaten seiner Zeit verpflichtet: Stand- und Ta-schenuhren, Wassermühlen, künstliche Springbrunnen, Orgeln usw. Man kann also sagen: Solange das menschliche oder tierische Lebewesen an der Maschine „hängt“, kommt niemand auf die Idee, den Organismus durch die Maschine zu erklären. Eine solche Erklärung war erst möglich, als der Mensch mit seiner Erfindungsgabe Apparate konstruierte, die die Bewegungen eines Organs imitierten – das Werfen eines Projektils zum Beispiel, oder die Hin- und Herbewegung einer Säge –, mecha-nische Vorgänge also, die abgesehen von der Konstruktion und der Auslösung ganz ohne menschliches Zutun ablaufen.

Welche Maschinen waren es, deren Erfindung noch vor Descartes die Beziehung des Menschen zur Natur verändert hat, die Hoffnungen geweckt haben, die die An-tike nicht kannte, und die eine Rechtfertigung – genauer gesagt, eine Rationalisie-rung – dieser Hoffnungen verlangten? Es waren zuallererst die Feuerwaffen, für die sich Descartes jedoch ausschließlich in Zusammenhang mit dem Problem des Projektils interessiert hat.9 Dagegen hat sich Descartes sehr für Uhren, Hebevor-richtungen und Wasserkraftmaschinen usw. interessiert.

Folglich können wir sagen, dass Descartes ein menschliches Phänomen, nämlich die Konstruktion von Maschinen, in seine Philosophie integriert hat, viel mehr als dass er ein soziales Phänomen, nämlich die kapitalistische Produktionsweise, auf sein Denken übertragen hätte. Wie stehen nun in Descartes’ Auslegung des Orga-nismus als Maschine Mechanismus und Zweckbestimmung zueinander?

Um die Theorie von Descartes in ihrer vollen Bedeutung zu erfassen, schlagen wir nun die Lektüre des Anfangs des Traité de l’Homme vor, der zum ersten Mal nach einer lateinischen Kopie im Jahre 1662 in Leyden gedruckt wurde und 1664 zum ersten Mal in französischer Sprache erschien.

„Die Menschen sind – wie wir – aus einer Seele und einem Körper zusammen-gesetzt. Und es ist erforderlich, dass ich zuerst den Körper für sich und danach auch die Seele für sich beschreibe, und schließlich werde ich darlegen, wie diese beiden Wesen zusammengefügt und vereint werden müssen, damit Menschen entstehen, die uns gleichen. Ich stelle mir einmal vor, der Körper sei nichts anderes als eine Statue oder eine Maschine aus Erde, die Gott formt, so dass sie aussieht wie wir. Und dass er ihr nicht nur äußerlich die Farbe und die Gestalt all unserer Glieder gibt, sondern auch im Innern all die Teile einsetzt, die es braucht, um sie laufen, essen, atmen, kurz alle unsere Körperfunktionen nachahmen zu lassen, von denen man sich vorstellen kann, dass sie direkt aus der Materie stammen und lediglich von der Anordnung der Organe abhängen. Wir sehen Uhren, künstliche Wasser-spiele, Mühlen und andere ähnliche Maschinen, die, obwohl sie nur von Menschen hergestellt wurden, ohne Unterlass fähig sind, sich autonom auf ganz unterschied-liche Weise zu bewegen. Mir scheint, ich könnte mir bei ihnen gar nicht so viele Bewegungsarten vorstellen, wie ich sie Gottes Werk zuschreibe, noch ihm so viel Kunstfertigkeit zuschreiben, dass ihr euch nicht vorstellen könntet, dass es noch mehr gäbe.“10

Wenn wir diesen Text richtig verstehen, impliziert also die Konstruktion der be-lebten Maschine die Nachahmung eines vorher bereits existierenden organischen Wesens. Die Konstruktion eines mechanischen Modells setzt ein lebendiges Origi-nal voraus, und letztlich kann man sich fragen, ob Descartes hier nicht Aristoteles näher steht als Platon. Der platonische Demiurg(11) ahmt die Ideen nach. Die Idee ist eine Vorlage, deren natürlicher Gegenstand das Abbild ist. Der cartesianische Gott, der Artifex Maximus, zielt darauf ab, dem Lebenden selbst zu gleichen. Das Vorbild der belebten Maschine ist das Leben selbst. Die Idee vom Lebenden, das die göttliche Kunst imitiert, ist das Lebende. Und so, wie ein regelmäßiges Polygon in einen Kreis eingeschrieben ist und man das eine ad infinitum erweitern muss, um das andere zu erhalten, so ist auch der mechanische Kunstgriff in das Leben eingeschrieben, und um vom einen zum anderen zu kommen, braucht es die Un-endlichkeit – Gott.

Es ist, als ob wir mit der cartesianischen Erklärung trotz allem Anschein die Fi-nalität nie verlassen hätten. Der Grund dafür ist folgender: Der Mechanismus kann alles erklären, wenn man sich die Maschinen schenkt. Der Mechanismus kann aber nicht die Konstruktion der Maschinen erklären. Man kann sogar sagen, dass die Erklärung der Organe oder der Organismen mit mechanischen Modellen in einem gewissen Sinn dasselbe ist, wie wenn man das Organ mit dem Organ erklären woll-te. Im Grunde genommen ist es eine Tautologie, denn die Maschinen könnte man – und darauf wollen wir hier hinaus – als Organe der Spezies Mensch betrachten.12Ein Werkzeug oder eine Maschine sind Organe, und die Organe sind Werkzeuge oder Maschinen. Es ist daher schwer einzusehen, worin der Gegensatz zwischen Mechanismus und Finalität liegt.

Wir sind an dem Punkt angelangt, wo die cartesianische Beziehung zwischen Maschine und Organismus umkippt. In einem Organismus beobachtet man – es ist zu bekannt, um es zu betonen – Phänomene der Selbstkonstruktion, der Selbst-erhaltung, der Selbstregulierung und der Selbstreparatur. Der Maschine dagegen ist der Konstruktionsvorgang fremd; es braucht die Erfindungsgabe des Mechani-kers. Was die Regulierung und die Reparatur anbelangt, hängen diese ebenfalls von regelmäßigem menschlichem Eingreifen ab. Es gibt zweifellos Vorrichtungen der Selbstregulierung, aber dabei handelt es sich um Hierarchien von Maschinen, die vom Menschen geschaffen wurden.

In einer Maschine werden die Regeln rationaler Buchhaltung strikt eingehalten. Das Ganze ist genau die Summe der Teile. Die Wirkung hängt von der Reihenfolge der Ursachen ab.

Man möchte sagen, dass die Maschine zweckbestimmter ist als der Organismus, weil ihre Finalität starr und eindeutig, einwertig ist. Eine Maschine kann eine an-dere Maschine nicht ersetzen. Im Organismus beobachtet man dagegen – und auch das ist zu bekannt, um es zu betonen – Vikarianz(13) der Funktionen und Polyvalenz der Organe. Gewiss sind diese Vikarianz der Funktionen und diese Polyvalenz der Organe nie absolut, aber sie sind im Verhältnis zu Maschinen so beachtlich, dass man die beiden gar nicht vergleichen kann.14

Man könnte also versucht sein, diesbezüglich eine Behauptung von Aristoteles umzukehren: „Die Natur“, schreibt er in der Politik(15), „verfährt nicht kleinlich wie die Messerschmiede von Delphi, deren Messer zu vielen Zwecken taugen, sondern Stück für Stück sind ihre besten Instrumente jene, die nicht mehrere, sondern genau eine Arbeit verrichten.“ Ganz im Gegenteil: diese Definition der Finalität scheint bei der Maschine angebrachter als beim Organismus. Schließlich muss man zuge-ben, dass im Organismus ein einziges Organ mehrere Funktionen haben kann. Ein Organismus hat also mehr Handlungsspielraum als eine Maschine. Im Organismus gibt es weniger Finalität und mehr Potentialität.16 Die Maschine ist das Ergebnis eines Kalküls, sie hält sich streng an die Normen des Kalküls, an die rationalen Normen der Identität, der Beständigkeit und der Prognose, während der lebendige Organismus empirisch verfährt. Das Leben ist Erfahrung, es basiert auf Improvisa-tion und dem Anpassen an Gegebenheiten; es ist in jeder Hinsicht vorläufig.

Vor allem die Ergebnisse der experimentellen Embryologie(17) haben dazu ge-führt, dass man bei der Interpretation lebendiger Phänomene von mechanischen Darstellungen abgekommen ist. Denn sie haben gezeigt, dass in der Keimzelle keine „spezifische Maschinerie“ (Cuenot) steckt, die, einmal in Gang gesetzt, dazu be-stimmt wäre, automatisch dieses oder jenes Organ zu produzieren.

Scheinbar ist es eine Täuschung, zu glauben, man könne dem Organismus die Fi-nalität absprechen, indem man ihn als Kombination von noch so komplexen Auto-matismen darstellt. Solange die Bauweise der Maschine keine Funktion derselben ist, solange der ganze Organismus nicht äquivalent ist mit der analytischen Summe seiner Teile, halten wir es für legitim, die Priorität der biologischen Organisation als notwendige Bedingung für die Existenz und die Bedeutung der mechanischen Konstruktion anzusehen. Aus philosophischer Perspektive ist es weniger wichtig, die Maschine zu erklären als sie zu verstehen. Und sie zu verstehen heißt, sie in die Geschichte der Menschen einzuschreiben, indem man die Geschichte der Men-schen ins Leben einschreibt – ohne allerdings zu verkennen, dass mit dem Men-schen eine Kultur erscheint, die sich nicht mehr auf die bloße Natur reduzieren lässt.

Wir sehen also in der Maschine ein Kulturereignis, das aus Mechanismen besteht, die ihrerseits nichts anderes sind als ein zu erklärendes Naturereignis. In einer be-rühmten Passage der Prinzipien schreibt Descartes: „Alle Gesetze der Mechanik beruhen auf der Physik, so dass alle künstlichen Dinge zugleich natürlich sind. Für eine Uhr ist es ebenso natürlich, aufgrund der Rädchen, aus denen sie besteht, die Stunden anzuzeigen, wie es für einen Baum natürlich ist, Früchte zu tragen.“18 Aus unserer Perspektive kann und muss man das Verhältnis zwischen Uhr und Baum aber umkehren. Die Rädchen einer Uhr, die der Zeitmessung dienen, und über-haupt alle Teile eines Mechanismus, die zum Zweck einer zunächst nur erträumten oder erwünschten Wirkung montiert worden sind, sind unmittelbar oder mittelbar das Produkt einer technischen Tätigkeit. Diese ist genauso unverfälscht organisch wie das Fruchttragen der Bäume, und sie ist sich ihrer Regeln und Wirkungsgesetze ebenso wenig bewusst wie die Pflanze. Dass das physikalische Wissen der Konst-ruktion von Maschinen zu einem bestimmten Zeitpunkt vorangeht, kann und darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Konstruktion der Maschinen dem physi-kalischen Wissen sowohl chronologisch als auch biologisch unbedingt vorangeht.

Bedenken wir, dass der Handgriff für die Feineinstellung, das Zusammenfügen bei der Produktion, oder das, was man gemeinhin Erfindungsgabe nennt und zuweilen dem Instinkt zuschreibt, dass all das auf genauso unerklärliche Weise entsteht, wie man sich beim Säugetier das Heranreifen eines Eies außerhalb des Eierstocks nicht erklären kann, auch wenn man annimmt, dass die physische und chemische Zu-sammensetzung des Protoplasmas(19) und der Sexualhormone bekannt sind.

Aus diesem Grund erhellen die Arbeiten der Ethnographen(20) – wenn auch erst zaghaft  – die Konstruktion der Maschinen mehr als es die Arbeiten der Inge-nieure tun.21 In Frankreich sind es die Ethnographen, die heute am ehesten dabei sind, eine Philosophie der Technik zu entwickeln, an der die Philosophen das Interesse verloren haben, weil sie sich vor allem der Wissenschaftsphilosophie zu-gewandt haben. Die Ethnographen dagegen haben vor allem die Beziehung zwi-schen der Herstellung der ersten Werkzeuge, das heißt der ersten Vorrichtungen, mit denen man auf die Natur einwirkte, und den organischen Vorgängen selbst untersucht. Im Lichte dieser Bemerkungen versteht man, dass die Wissenschaft und die Technik als zwei verschiedene Tätigkeiten betrachtet werden müssen. Die eine pfropft sich nicht auf die andere auf, sondern jede borgt mal Lösungen, mal Fragestellungen von der anderen. Die Rationalisierung der Techniken lässt den irrationalen Ursprung der Maschinen in Vergessenheit geraten, und es scheint, dass man in diesem Bereich, wie in jedem anderen auch, lernen müsste, dem Ir-rationalen einen Platz einzuräumen, insbesondere wenn man den Rationalismus verteidigen will.22

Zusammenfassend können wir festhalten: Wenn wir die Technik als universelles biologisches Phänomen23 ansehen, und nicht nur als intellektuelles Unternehmen des Menschen, hat das zur Folge, dass wir einerseits die schöpferische Autono-mie von Kunsthandwerk und Gewerbe im Verhältnis zu jenem Wissen anerken-nen müssen, das fähig ist, sich diese einzuverleiben oder sie zu belehren, um ihre Wirkungen zu intensivieren. Andererseits und als Folge davon können wir das Mechanische in das Organische einschreiben. Selbstverständlich lautet die Frage nun nicht mehr, inwiefern der Organismus als Maschine betrachtet werden kann oder muss, sei es im Hinblick auf seine Struktur oder seine Funktionen. Es ist aber erforderlich herauszufinden, wieso die entgegengesetzte, die cartesianische Auffas-sung, entstehen konnte. Wir haben versucht, dieses Problem zu beleuchten. Und wir haben vorgeschlagen, dass eine mechanistische Auffassung des Organismus entgegen allem Anschein nicht weniger anthropomorph ist als eine teleologische Auffassung der physischen Welt. Die Lösung, die wir zu rechtfertigen versucht ha-ben, hat den Vorteil, dass sie den Menschen als durch die Technik mit dem Leben verbunden darstellt, bevor man auf dem Bruch beharrt, den der Mensch über die Wissenschaft zu verantworten hat. Sie hat wahrscheinlich den Nachteil, dass sie die nostalgischen Anklagereden zu bekräftigen scheint, die so viele Schriftsteller, wenig bedacht um die Originalität ihrer Themen, immer wieder gegen die Technik und ihre Fortschritte richten. Es ist nicht unsere Absicht, ihnen zu Hilfe zu eilen. Wenn menschliche Wesen sich eine mechanische Technik geschaffen haben, dann hat dieses gewichtige Phänomen offensichtlich eine Bedeutung, die nicht von un-gefähr kommt und folglich nicht auf Wunsch widerrufen werden kann. Das ist aber eine ganz andere Frage als die, die wir soeben untersucht haben. Weiterführende Literatur

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Einführender Kommentar zu Judy Wajcmans „Technofeminism“

von Ann-Christin Hübner, Thomas Landen, Steven Milbert und Lethe SilkJudy Wajcman (geb. 1950) ist Professorin an der London School of Economics and Political Science und leitet dort seit 2009 das Institut für Soziologie. Davor war sie Professorin für Soziologie an der Australian National University . In ihrer Laufbahn bekleidete sie schon Posten in Cambridge, Edinburgh, Manchester, Sydney, Tokio, Wien, Warwick und Zürich. Sie war von 2009 bis 2011 Präsidentin der Society for Social Studies of Science und hatte eine Gastprofessur am Lehman Brothers Centre for Women in Business an der London Business School inne. Von 2015 bis 2018 übte sie ebenfalls eine Gastprofessur am Oxford Internet Institute aus. Ihre Werke stehen grundsätzlich im Kontext der Social Construction of Technology (SCOT-Theorie). Mit Hilfe einer feministischen Perspektive beschäftigt sie sich mit Technologie, Wandel, Arbeit und insbesondere mit der Beziehung zwischen Technologie und Geschlecht. Eine ihrer Thesen lautet, dass Frauen von der Technologie ausgeschlos-sen werden, da diese als Männerdomäne angesehen wird. Wajcmans Ziel ist es, mit Hilfe von feministischen Theorien einen Wandel herbeizuführen. Hierbei will sie besonders auf die Geschlechtskodierung von Technologien hinweisen und eine al-ternative Geschlechterpolitik anbieten.

Judy Wajcman vertritt die Ansicht, dass Geschlechterverhältnisse, die in Techno-logien zum Vorschein kommen und diese mitunter prägen, untrennbar von den umfassenden gesellschaftlichen Strukturen sind. Dies findet aufgrund zweier Fakto-ren statt: Einerseits würden die gesellschaftlichen Strukturen die Geschlechterver-hältnisse selbst hervorbringen und sie andererseits ebenfalls konservieren. Sie stellt sich die Frage, ob Technologien mit der Unterwerfung des weiblichen Geschlechtes untrennbar verbunden sind oder ob sie auch eine ausschlaggebende und emanzipa-tive Figur in der Entwicklung der Rolle der Frauen einnehmen können. Dabei gibt

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sie zu bedenken, dass wenn eine Theorie über den vergeschlechtlichten Charakter von technischen Artefakten entwickelt werden würde, sich zahlreiche Schwierig-keiten offenbaren würden. Darunter u. a. die Gefahr, Technik als inhärent patriar-chal aufzufassen, beziehungsweise durch die definitionstechnische und definitions-historische Veränderbarkeit zahlreicher Begrifflichkeiten, wie „Frauen“, „Technik“ und/oder „Technologien“, die eigentliche Struktur von Geschlechterbeziehungen zu vernachlässigen. In ihrer feministischen Technikforschung sieht sie dabei die ge-sellschaftliche Verortung des feministischen Technikdiskurses als „Suprematie“ an.1Durch ihr Konzept der gesellschaftlichen Verortung kritisiert Wajcman besonders essentialistische Positionen in der Technikforschung und bringt Frauen als relevan-te soziale Gruppe, die maßgeblich am technologischen Wandel beteiligt sind, in den Technikdiskurs mit ein.

Technologien sind das Ergebnis einer Reihe spezifischer Entscheidungen, die von einer bestimmten Gruppe Menschen an bestimmten Orten zu bestimmten Zeit-punkten zu ihren eigenen Zwecken getroffen werden. Daher tragen Technologien die Spuren dieser Menschen und des gesellschaftlichen Zusammenhanges, in dem sie entwickelt werden.2

Im Kapitel „Technofeminism. Neu Konzipiert“ ihres Buches TechnoFeminism von 2004 versucht Wajcman das Konzept der sozialen Konstruktion von Technik darzu-stellen. Im Unterkapitel „Jenseits des Technikdeterminismus“ versucht die Autorin in einer ersten Instanz die Theorie des Technikdeterminismus zu widerlegen. Sie widerspricht somit der These, dass Technik ein autonomes, exogenes und außer-gesellschaftliches Phänomen sei, welches die Gesellschaft zu bestimmen versuche, indem sie behauptet, dass technische Artefakte sozial geprägt sind und sich dies in ihrer Nutzung aber auch im Design und in ihrer technischen Funktionsweise ab-zeichnen würde.3 Zur Erläuterung ihrer Theorie gibt sie folgendes an: „Eine Reihe von sozialen Faktoren bestimmen, welche technischen Optionen sich durchsetzen. Derartige Abwägungen und Entscheidungen formen Technologien und damit auch deren gesellschaftliche Implikationen.“4 Somit seien Technologien soziotechnische Produkte, welche von den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Gestaltung und Nutzung geprägt seien. Zur Verbildlichung ihrer Argumente zieht sie zwei An-sätze der social studies of technology 5 heran, namentlich die SCOT-Theorie und die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Beide Spielarten bieten Forscher*innen die Möglichkeit, die Interessensgemeinschaften von diversen Techniken als Ursache für den technologischen Wandel und für die Technikgenese der jeweiligen Tech-nik zu identifizieren6, beziehungsweise das Zusammenspiel von menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten in netzwerkartigen Systemen als „Gesellschaft mit-erklärend“ zu definieren.7 Anhand zahlreicher Beispiele bezeugt Wajcman, dass technische Artefakte auf Augenhöhe mit jeglichen sozialen Gruppen (und somit auch mit der sozialen Gruppe der Frauen) betrachtet werden müssen und gründet folglich aus feministischer Perspektive ein gänzlich neues Maschine-Mensch-Ver-hältnis, welches aus einer hybriden Verschmelzung zwischen Mensch und Artefakt hervorgeht.

Wajcman kritisiert in ihren Werken des Öfteren den sogenannten Mainstream der Geschichte, der Soziologie und der Philosophie. Sie wirft diesem Mainstream eine Marginalisierung des Terminus „Gender“ vor. Die Mainstream-Forschung würde die Aspekte des Geschlechtes beim technologischen Fortschritt ignorieren. Wajcman hingegen sieht die Exklusion von Frauen als abträglich für den techno-logischen Fortschritt an. Sie will die Gender-Perspektive für alle zugänglich ma-chen und beschreibt diese Form des Wandels im Unterkapitel „Von Gender-blind zu Gender-aware“. Dieser Wandel soll der Gesellschaft die männliche Dominanz im Bereich der Technologie bewusstmachen und diese folglich konsequenter- und konsekutiverweise abschaffen. Männer in leitenden und führenden technologi-schen Positionen erkennen sich selbst als Norm an. Diese Norm müssen Frauen ebenfalls erfüllen, um Erfolg zu haben. Männlichkeit wird in diesen Metiers somit mit Erfolg in Verbindung gesetzt und normiert. Daraufhin beschreibt Wajcman anhand eines gescheiterten Nahverkehrsmittel-Projektes die sozialen Einflüsse auf jegliche Technologie und die Notwendigkeit diese nicht zu ignorieren. Die Sozio-login prangert in diesem Beispiel nicht nur das Ausbleiben sozialer Perspektiven in Anbetracht von Technologie an, sondern insbesondere auch das Fehlen explizit weiblicher Partizipation. Der Blick auf Technologie soll, laut Wajcman, speziell aus der femininen Perspektive geschehen. Allerdings würde diese Perspektive sträflich vernachlässigt und somit ein wichtiger sozialer Einfluss ignoriert.

Wajcman führt in ihrem Werk lehrreich gewählte Studien an. Durch eine Aus-wahl an Technologien aus verschiedenen Feldern, in denen man gewisse Über-schneidungen bezüglich des unterdrückten Charakters der Marginalisierungskate-gorie „Gender“ feststellen kann, zeigen sich die weitreichenden historischen, aber auch aktuellen Folgen von Sexismus, die die Autorin thematisiert. Besonders die Betrachtung von Technologien in historischen Kontexten und den Effekt, den sie auf die Gesellschaft haben können, ist hier essentiell und ähnelt dabei den Erkennt-nissen aus dem Feld der Wissenschaftsgeschichte. Somit ermöglicht der Text einen breiten und tiefen Einblick in die Thematik des TechnoFeminsim .

Der Text steht im Zeichen des White Feminism . Wie es bereits 1851 von Sojourner Truth (1797–1883) in ihrer Rede Ain’t I a Woman? thematisiert wurde, gibt es seit Anbeginn der Feminismus-Bewegung einen von weißen Menschen ausgehenden Hang zur Tendenz women of color auszuschließen, ihre Perspektiven auszublenden und diese letztlich gezielt zu eliminieren, indem die Erfahrungen von weißen Frau-en in Bezug auf Gender-Unterdrückung universalisiert werden. Dieses Phänomen wird in der internationalen Literatur als White Feminism 8 bezeichnet. Diese Ge-neralisierung der Erfahrungen von weißen Frauen findet auch in Wajcmans Text statt. Dies wird deutlich, wenn die Frau als das medizinische Objekt schlechthin dargestellt wird. Die unterschiedlichen und andersartigen Erfahrungen und Be-handlungen von women of color sind in der Domäne der Medizin nicht von der Hand zu weisen. James Marion Sims (1813–1883) beispielsweisekonnte seinen Titel als „Vater der Gynäkologie“ lediglich erhalten, da er Menschenexperimente an ver-sklavten schwarzen Frauen vollzog.9 Diese historischen Begebenheiten und Fakten, wie Frauen unterschiedlicher Hauttypen entlang weiterer Marginalisierungskate-gorien unterschiedlich betroffen waren, beziehungsweise behandelt wurden, nicht zu nennen, erzeugt bei den Leser*innen ein Bild, bei dem Frauen seit jeher alle „gleichermaßen“ unterdrückt worden seien. Dabei wird besonders die Unterdrü-ckung von schwarzen Frauen ( Misogynoir ) außer Acht gelassen. Dies könnte somit zu einer Simplifizierung und Pauschalisierung der Thematik führen.

Um den Text an den heutigen Zeitgeist anpassen zu können, bedarf es einer theoretischen Erweiterung des Horizontes. Dabei sind sowohl weiter gefasste For-schungsthemen (u. a. White Feminism , Misogynoir ) als auch eine erneute Aktua-lisierung der Analysegrundlage des Feminismus unabdingbar. Die feministische Analyse würde stark an Tiefe gewinnen, wenn man sie nicht ausschließlich aus Sicht des White Feminism analysieren würde, sondern auch Überschneidungen von „Gender“ mit anderen Marginalisierungskategorien in Betracht ziehen würde. Ein theoretisches Fundament liefert hierfür die von Kimberlé Crenshaw (1959) zuerst benannte Theorie der Intersectionality .10 In dieser beschreibt Crenshaw besonders den Kontext von Misogynoir im gerichtlichen Berufsfeld. Allerdings dient Inter-sektionalität vermehrt als Grundlage, um zu beschreiben, wie sich die Überschnei-dungen von allen Marginalisierungen in einzigartiger Manier zusammensetzen und somit strukturell aufeinander aufbauen.

Für Technologiebetrachtungen würden sich demnach auch andere Überschnei-dungsgebiete eignen.11 Besonders im Feld der Disability Studies schlummern viele weitere Technologien, die auf eine strukturelle Marginalisierung schließen lassen würden. Dies vorwiegend in Bezug auf das soziale Modell von Behinderungen, wel-ches besagt, dass „Behinderungen“ nicht angeboren sind, sondern in bestimmter Art und Weise erst durch die Gesellschaft und die Technologien entstehen und de-finiert werden.12

Allerdings zeugt die bloße Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Ar-ten der Unterdrückung von Frauen davon, dass Wajcmans Werk eine unablässige Wirkungsmacht in Sachen feministischer Technikwissenschaft besitzt, das durch thematische Vielfalt und Anschlussfähigkeit zu überzeugen weiß.

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Judy Wajcman: Technofeminism. Neu Konzipiert (2004)1

Seit den 1990er Jahren nehmen feministische Ansätze eine optimistische Haltung gegenüber digitalen Technologien und deren Implikationen für Frauen ein. Sie ver-mitteln eine Vorstellung von neuen Technologien, die sich auf radikale Weise von älteren unterscheiden, und dadurch vorteilhaft für Frauen seien. In dieser großen Erwartung an technische Möglichkeiten entwickeln sie eine neue feministische „Vorstellung“ als Abgrenzung zur „materiellen Realität“ der gegenwärtigen techni-schen Ordnung. Auf diese Weise unterscheiden sie, wie auch andere Verfechter*in-nen von Informations- und Biotechnologien, neue Technologien von etablierten und leugnen damit jegliche Kontinuitäten zwischen beiden.

Während derartige Ansätze der Vergangenheit technikdeterministische Auffas-sungen(2) zuschreiben, führen sie paradoxerweise zu einer neuen Form von Tech-nikdeterminismus, der Frauen gegenüber Männern begünstigt. Die Konsequenzen werden in den folgenden Kapiteln untersucht. Wir möchten aufzeigen, dass wenn ältere Technologien in zu starrer und fester Form dargestellt werden, neuere Tech-nologien dagegen als zu offen und fügsam interpretiert werden. Wenn Ersteres einen immobilisierenden Pessimismus zur Folge hat, umgeht Letzteres die Notwen-digkeit feministischer Technopolitik. Jüngste Technik- und Wissenschaftsstudien haben unser Verständnis vom sozialen Bezug von sowohl älteren als auch neueren Technologien verändert. Ich möchte in diesem Kapitel den Einfluss sozialer Pro-zesse, beziehungsweise den Einfluss der sozialkonstruktivistischen Perspektive als Möglichkeit eines fruchtbaren Austauschs mit dem Feminismus anführen, in der Hoffnung den unbefriedigenden Dualismus, mit dem die eine oder andere feminis-tische Analyse behaftet ist, zu beseitigen.

Jenseits des Technikdeterminismus

Wenngleich der Technikdeterminismus ein zentrales Thema der soziologischen Theorie war (und in aktuellen Debatten zur Digitalisierung, sowie zu feministi-schen Konzepten wieder auflebt), wurde er seit den 1970er Jahren durch die Social Technology Studies(3) (STS) zunehmend infrage gestellt. Wissenschaftler*innen, die diese Zeit prägten, hatten einen simplen polemischen Anspruch: Die herrschende Vorstellung von Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Technologie vom Würgegriff des naiven „Technikdeterminismus“ zu befreien. Wir befürchten, dass diese Sicht auf Technologie, als externe, autonome Kraft, die auf die Gesellschaft wirkt, die Möglichkeiten demokratischer Teilhabe durch Technologien einschränkt, u. a. durch eine begrenzte Zahl an Optionen: unkritische Übernahme technolo-gischer Veränderung, defensive Anpassung oder simple Verweigerung. Dagegen gründen die Social Technology Studies auf der Annahme, dass Inhalt und Richtung technologischer Innovationen durch soziologische Analysen, Erklärungen und In-terventionen verbessert werden können.

Sozialwissenschaftler*innen haben zunehmend erkannt, dass technologische Veränderungen selbst von den gesellschaftlichen Bedingungen, in denen sie statt-finden, geprägt werden. Die neuen soziologischen Forschungen zur Technologie sind auf dem Weg zu zeigen, dass technische Artefakte sozial geprägt sind – nicht nur bezüglich ihrer Nutzung, sondern vor allem im Hinblick auf ihr Design und ihre technische Funktionsweise. Dabei wird vor allem die Vorstellung von Technologie als simples Produkt rationaler technischer Imperative abgelehnt. Mit anderen Wor-ten wird bestritten, dass sich zwingend die beste Technologie durchsetzen müsste. Obwohl technische Kriterien von entscheidender Bedeutung bleiben, müssen wir uns fragen, warum ein bestimmtes technisches Kriterium als überzeugend gewertet und nicht infrage gestellt wird, und was unter welchen Bedingungen als technisch überlegen gilt. Studien zeigen, dass während der Konzeption und Implementierung neuer Technologien zwischen mehreren technischen Optionen abgewogen wird. Welche technischen Optionen sich durchsetzen, wird dabei von einer Reihe sozialer Faktoren bestimmt. Derartige Abwägungen und Entscheidungen formen Techno-logien und damit auch deren gesellschaftliche Implikationen. In dieser Hinsicht ist Technologie ein soziotechnisches Produkt, geprägt von den Bedingungen ihrer Ge-staltung und Nutzung.

Inzwischen gibt es eine große Auswahl an Literatur zu Social Technology Studies und zu sozialkonstruktivistischen Ansätzen. Während man in den 1980er Jahren von den Studien der „New Sociology of Technology“ sprach, werden heute die Be-griffe „Konstruktivismus“ oder „Social Studies of Technology“ gebraucht, um die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT)(4), den Sozialkonstruktivismus(5), das Social Sha-ping(6) und die Systemtheorien in der Technikwissenschaft zu beschreiben.7 Zur Einführung in dieses breite Feld ist es durchaus sinnvoll, die ihm zugrundeliegen-den Konzepte zu skizzieren.

Zentral war die Idee eines technologischen „Systems“ oder „Netzwerks“. Ob-wohl technische Innovation vor allem auf bestehender Technologie aufbaut, erfolgt diese nicht in Form von separaten, isolierten Gegenständen, sondern als Teil eines Ganzen, als Teil eines Systems. Eine automatische Waschmaschine etwa kann nur funktionieren, wenn sie an einen Stromkreislauf, an eine Wasserzufuhr und an ein Abwassersystem angeschlossen ist. Eine Rakete, um ein weiteres Beispiel zu nen-nen, besteht ebenfalls aus einem geordneten System von Einzelteilen – Sprengkopf, Lenkung, Steuerung und Antrieb – und ist selbst wiederum Teil eines übergeord-neten Systems der Startvorrichtung und des Befehl- und Kontrollnetzwerks. Die Funktion eines Teils als Bestandteil vom Ganzen begrenzt die Möglichkeiten seiner Gestaltung. Somit ist ein technologisches System niemals rein technisch konstru-iert: Seine Funktionsfähigkeit in der realen Welt wird durch technische, ökonomi-sche, organisatorische, politische und sogar kulturelle Elemente bestimmt.

Nehmen wir eine alltäglich genutzte Technologie als Beispiel – den elektrischen Kühlschrank. Technikhistoriker*innen fanden heraus, dass man in früherer Zeit die Wahl hatte zwischen elektrischen und gasbetriebenen Kühlschränken, die sich in ihrer Wirksamkeit nicht unterschieden.8 General Electric(9) verfügte über die nötigen finanziellen Ressourcen, um in die Entwicklung der elektrischen Variante zu inves-tieren, während den Herstellern von Gaskühlschränken, die von Konsument*innen als besser oder nützlicher bewertet wurden, die finanziellen Mittel zur Entwicklung und Vermarktung fehlten. Somit war es nicht die technische Überlegenheit, sondern die wirtschaftliche Kraft, die den elektrischen Kühlschrank gegenüber seinem gas-betriebenen Konkurrenten begünstigte. Indessen wurde das Design dieser „weißen Ware“(10) in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auch durch die Verbreitung von Ein-familienhäusern mit entsprechend kleineren Geräten beeinflusst. Diese Lebenswelt stärkte wiederum das kulturelle Ideal von zwei getrennten Sphären, der öffentlichen und der privaten, häuslichen.11 Gender-Rollen(12) und geschlechtliche Unterscheidun-gen sind Bestandteil dieses soziotechnischen Systems oder Netzwerks.

Dieses Beispiel veranschaulicht, inwiefern technologische Entscheidungen das Ergebnis eines „heterogenen engineerings“(13) sind: Engineering als „soziales“ wie auch „technisches“ Phänomen, das eine Umwelt erschafft, in der von der Gesell-schaft begünstigte Projekte als überlebensfähig gelten.14 Die übliche Erklärung im Sinne der Ökonomie, die davon ausgeht, dass Unternehmen schlichtweg sol-che Technologien fördern, welche die größtmögliche Profitrate versprechen, war ebenfalls Gegenstand der Kritik. In Reaktion darauf führten einige Ökonom*in-nen die Konzepte des technologischen Verlaufs(15), der Pfadabhängigkeit(16) und des Lock-in-Effekts(17) an, um die Mechanismen zu erfassen, die die Entstehung einer Technologie immer unumkehrbarer machen. Je stärker Technologien übernommen und angepasst werden, desto besser wird ihre Leistung und umso öfter werden sie wiederum übernommen. Daraus entwickelt sich im Laufe der Zeit eine klare Pfad-abhängigkeit im Zeitverlauf, wodurch konkurrierende oder neue Technologien ver-drängt werden.

Die Social Technology Studies machen deutlich, dass es nicht zwangsläufig auf technische Effizienz, sondern vielmehr auf zufällige, soziotechnische Umstände an-kommt, sowie auf institutionelle Interessen, die eine Technologie gegenüber einer anderen favorisieren. So sind die Kosten- und Profitrate bei technischen Innovatio-nen von Natur aus ungewiss und können somit nicht als gegebene Fakten hinge-nommen werden. Ökonomische Berechnungen, wie Kostenvorkalkulationen und Gewinnrechnungen, sind abhängig von der gesamten gesellschaftlichen Organisa-tion und werden gar von dieser beeinflusst. Sogar Märkte werden allmählich in gesellschaftliche Netzwerke eingebunden und als Faktor anerkannt.

Der zentrale Punkt tritt am deutlichsten hervor, wenn wir die Arbeitseffektivi-tät als entscheidenden Faktor bei technischen Veränderungen betrachten. David Nobles einschlägige Studie zur Entwicklung automatisch kontrollierter Werkzeug-maschinen in den USA der Nachkriegszeit zeigt, wie Fertigungstechniken das Inte-resse des Managements an der Kontrolle der Arbeitskräfte widerspiegeln.18 Noble arbeitet zwei Optionen heraus: „Record playback“, wobei die Maschine lediglich die händischen Arbeitsschritte des/der Mechanikers*in nachbildet und „numerical control“, bei der die Ausführungen des Programms von einer Funktionsablaufein-gabe des/der Technikers*in kontrolliert werden. Noble zeigt, wie die Werkzeugma-schinenversorger*innen, Ingenieur*innen und Manager*innen in Luft- und Raum-fahrt-Unternehmen bewusst record playback zugunsten von numerical control mit dem Ziel unterdrückten, den Verantwortungsbereich der gewerkschaftlich organi-sierten Arbeiter*innen zu minimieren. Dadurch gelangte das Management zu der Einsicht, dass man qualifizierte Mechaniker*innen, die die Maschinen adäquat be-dienen können, halten müsse. Folglich wurden die, dem technischen Design zu-grundeliegenden, Pläne, die Kontrolle von der Werkstatt ins Büro zu verlagern, nicht vollständig realisiert.

Technologien bleiben nicht im Stadium der Innovation stehen, sie entwickeln sich aus ihrer Anwendung und Nutzung heraus. Dieser flexible Charakter von Technologien schlägt sich in dem Konzept der interpretativen Flexibilität nieder.19Dieses betont, dass die Entwicklung von Technologien in keiner Weise vorherge-sagt werden könne. Vielmehr sei der technologische Wandel ein kontingenter und heterogener Prozess. Unterschiedliche Gruppen von Menschen kommen mit einer Technologie in Berührung und nehmen deren technische Eigenschaften sehr unter-schiedlich wahr. Somit sind Nutzer*innen in der Lage, die Bedeutung und Verwen-dung von Technologien drastisch zu verändern.

Dieser Aspekt der interpretativen Flexibilität von Technologie bezieht sich nicht bloß auf die symbolische Bedeutung. Sie zieht insbesondere verschiedene Kriterien in Betracht, die bezeugen sollen, ob eine Technologie „funktioniert“ oder nicht. So-cial Technology Studies betonen, dass Maschinen erst funktionieren, wenn sie von relevanten sozialen Gruppen akzeptiert wurden. Das heißt, dass die „Closure“(20)oder die Stabilisierung erst dann eintreten, wenn manche technischen Artefakte sich innerhalb einer spezifischen Technologie behaupten. Die Tatsache, dass eine Maschine „funktioniert“, sollte also hinterfragt und erläutert, allerdings nicht als gegeben hingenommen werden.

Technologie und Gesellschaft sind untrennbar miteinander verbunden und ste-hen im wechselseitigen Austausch. Tatsächlich bewirkte die verbreitete Akzeptanz der „Akteur-Netzwerk-Theorie“, dass Technologie und Gesellschaft nicht länger als getrennte Sphären, die aufeinander einwirken angesehen wurden.21 Vielmehr vermittelt die Metapher vom „heterogenen Netzwerk“ die Vorstellung, dass Tech-nologie und Gesellschaft aufeinander aufbauend konstituiert sind: Beide bestehen aus dem gleichen Material – nämlich aus Netzwerken, die menschliche und nicht-menschliche Entitäten verbinden. Das Technische ist keine von der Gesellschaft unabhängige Sphäre, sondern ein Teil ebenjener, was wiederum eine breite, vielsei-tigere Gesellschaft ermöglicht. Die wohl umstrittenste Idee, dass nicht-menschliche „Aktanten“(22) eine Handlungsträgerschaft(23) verfolgen können, hat zum Verständ-nis der Rolle der Technologie innerhalb des Soziallebens beigetragen.

Die Auffassung des Nichtmenschlichen als Aktanten überwindet die starre Vor-stellung von der sozialen Struktur und geht einher mit einer Sicht auf die Gesell-schaft, die nicht nur existiere sondern auch handeln würde. Ebenso ist die Herstel-lung und Entwicklung von Technologie ein stetiger und wechselseitiger Vorgang aus alltäglichen sozialen Interaktionen: Der Charakter von Entitäten resultiert so-mit aus ihren Beziehungen zu anderen Entitäten.24

Technikwissenschaftliche Studien haben ihr Augenmerk auf die Ablehnung von Technologien, beziehungsweise von Materialität gelegt, welche in so manchen so-zialen Theorien vorherrscht. Abgesehen von der Erforschung der Wirkung von Technik auf die Gesellschaft lag der Fokus der Sozialwissenschaften auf der Sozial-struktur und auf den sozialen Beziehungen. Maschinen, Artefakte und Gegenstän-de wurden in der Regel als nebensächlich betrachtet. Sie wurden nicht auf eine Ebe-ne mit Personen, Institutionen und Ereignissen gesetzt.25 Technikwissenschaftliche Ansätze machen gesellschaftlichen Wandel verständlich, indem sie untersuchen, wie Technologien und neue Formen des Soziallebens koproduziert werden. Mate-rielle Ressourcen, Artefakte und Technologien ermöglichen Gesellschaft. Die Auf-fassung, dass soziale Verhältnisse unabhängig von Technologie seien, ist in dieser Hinsicht falsch. Vielmehr ist das, was wir „das Soziale“ nennen, genauso verfloch-ten mit dem Technischen wie mit dem Gesellschaftlichen. Die Gesellschaft selbst besteht aus Objekten und Artefakten.

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Von Gender-blind zu Gender-aware

Das Mainstream - oder Malestream -Arbeitsumfeld der Technikwissenschaft ver-nachlässigte tendenziell Fragen danach, wie technische Objekte von Gender -In-teressen oder -Identitäten geformt werden und diese formen. Dies trifft sowohl auf aktuellere Ansätze wie zum Beispiel die Akteur-Netzwerk-Theorie als auch auf frühere Arbeiten zu. Erst die Akzeptanz von Innovationen als soziotechnologische Netzwerke eröffnete Feminist*innen das Feld der Technikwissenschaften. Sie woll-ten zeigen, dass soziale Beziehungen auch Gender -Beziehungen sind. Was könnte der Grund dafür sein, dass Gender -Themen in den Social Technology Studies ver-nachlässigt werden? Hier spielen mehrere Probleme eine Rolle, die im Folgenden dargestellt werden.

Zunächst stellt die Marginalisierung von Gender nur eine von vielen Ausprägun-gen eines allgemeineren Problems der Mainstream -Methodik dar. Dieses hängt wiederum mit dem Verständnis von Macht in diesem Bereich zusammen. Vor dem Hintergrund der traditionellen Vorstellung von Technologie machten sich die Autor*innen daran, die sozialen Gruppen und Netzwerke zu identifizieren und zu studieren, die aktiv die Gestaltung und Richtung von technologischem Design be-einflussten. Ihr Fokus auf die offensichtlichen Konflikte führte zu der verbreiteten Annahme, dass Gender -Interessen nicht relevant seien. Dabei wurde in der Regel übersehen, dass einige Gruppen ausgeschlossen wurden, die – wenn auch nicht em-pirisch nachweisbar – den Prozess technologischer Entwicklung beeinflussten.

Auch wenn die Folgen struktureller Ausgrenzung von technologischer Ent-wicklung schwierig zu analysieren sind, sollten sie nicht ignoriert werden. Femi-nist*innen haben betont, dass das Fehlen von Frauen in Einflusssphären ein Schlüs-selmerkmal geschlechtlicher Machtverhältnisse darstelle. Unter den zentralen Akteur*innen technologischen Designs seien kaum Frauen, da die geschlechtliche Arbeitsteilung ihnen den Einstieg in Wissenschaft, Technik und Management er-schwere. Die Fokussierung auf die dominanten sozialen Gruppen im Prozess der technologischen Entwicklung führt also zu dem Problem, dass die strukturell ver-drängten oder ausgegrenzten Gruppen zu wenig berücksichtigt werden. Die Abwe-senheit dieser Gruppen ist folglich genauso aussagekräftig wie die Präsenz anderer Gruppen.

Frühere sozialistisch feministische Ansätze erörterten die systematische männ-liche Dominanz gegenüber dem weiblichen Geschlecht anhand von Begriffen der Klassentheorie. Sie hielten die Interessen des männlichen Geschlechts für ebenso institutionalisiert wie die Annahmen über das beständige Interesse von Kapita-list*innen an der Profitmaximierung. Das Konzept des Patriarchats wurde häufig als Kurzformel für institutionalisierte Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen gebraucht, wobei das Geschlecht den Institutionen, historischen Prozessen und Individuen untergeordnet aufgefasst wurde. Dadurch soll allerdings nicht das Bild von Männern als eine homogene Gruppe impliziert werden.

Meiner Ansicht nach ist die Überbewertung der Wirkung von Macht kaum geeig-net die starre Bindung zwischen Männern und Technik zu erschüttern. Die traditio-nelle feministische Kritik am erschwerten Zugang von Frauen zu technischen Berei-chen, die andersartige Wirkung von Technik auf Frauen, sowie das patriarchalische Design passen nicht zu dieser Analyse. Die für die Akteur-Netzwerk-Theorie inter-essanten Netzwerke sind wahrnehmbare Interaktionen. Dadurch dass diese Theorie davon ausgeht, dass Artefakte die Umstände ihrer Entstehung verkörpern und, dass diese Umstände wiederum die Verhältnisse der Nutzung oder Nicht-Nutzung im-plizieren, ist für sie das zwangsläufige Gendering in diesem Prozess nebensächlich. Derartige Ansätze verkennen häufig, dass die Etablierung und Standardisierung technologischer Systeme notwendigerweise mit einer Negierung der Erfahrungen derer einhergehen, die vom Standard abweichen. Netzwerke schaffen nicht nur In- sider , sondern auch Outsider , Teils- Insider und solche, die die Zugehörigkeit ver-weigern. Der Blick auf die Praktiken der Ausgrenzung oder Verweigerung, sowie auf deren Wirkung ist unerlässlich, um die Prozesse der Netzwerkbildung adäquat zu beschreiben.

Das Fehlen von Frauen in diesem Bild stellt außerdem eine Folge der Konzen-tration auf Design-Fragen dar. Studien über Innovationen haben die Wichtigkeit unterschätzt, weitere Gruppen in das Kräftebündnis für den Erfolg einer techni-schen Innovation einzubeziehen. Die Akteure im Mainstream der Social Technology Studies sind größtenteils männliche Helden, große Projekte und wichtige Organisa-tionen, die in einem Modell aus Akteuren und Netzwerken bestehen, welches Susan Leigh Star als „managerhaft und unternehmerisch“ beschreibt.26

Ist der Blick erst geweitet für die Berücksichtigung von Fabrikarbeiter*innen, Marketing- und Vertriebspersonal, Konsument*innen und Endverbraucher*innen von Technologien, kommen plötzlich auch Frauen ins Bild. Je tiefer man sich vom Design-Prozess wegbewegt, desto mehr Frauen sind involviert. Sie sind die versteck-te Billiglohn-Kraft, die alltägliche wissenschaftliche Arbeiten verrichtet, sie sind die Sekretärinnen, Reinigungskräfte und Köchinnen, sie gehören zum Verkaufsperso-nal und verkörpern den größten Teil der Konsument*innen von Haushalts- und Reproduktionstechnologien. Die Geringschätzung der Arbeit von Frauen führt zu ihrer Unsichtbarkeit im Mainstream der Technikwissenschaft. Der Schwerpunkt der Akteur-Netzwerk-Theorie liegt mehr auf der Delegation von „Aktanten“ als auf dem Ausmachen von Ungleichheiten unter den „Akteuren“.

Der Großteil der Wissenschaftler*innen tendiert dazu, Gender -Fragen nur dann aufzugreifen, wenn es um weibliche Subjekte geht. So gingen Mainstream -Studien in der Regel davon aus, dass Gender keinen oder nur einen geringen Einfluss auf die Entwicklung von Technologien habe, da das männliche Geschlecht der beteiligten Akteure nicht thematisiert wurde. Obwohl es immer mehr Literatur über Männer und Männlichkeit gibt, wurde die Kritik an der Rolle der Technik innerhalb einer maskulinen Hegemonie größtenteils ignoriert. Ironischerweise hat der Fokus die-ser Autor*innen auf die Repräsentation der Männer kaum für Fragen der Gender -Subjektivierung sensibilisiert. Durch die Einklammerung von Fragen über sexuelle Unterschiede und Ungleichheiten vergisst die traditionelle Technikwissenschaft da-nach zu fragen, welche Rolle Technik bei der Erzeugung von gegendertem Wissen und Wissen über Gender spielt.

Zusammenführung von feministischen und technikwissenschaftlichen Studien

Die technofeministische Forschung gehört zu den Vorreitern, wenn es um die De-konstruktion des Gegensatzes zwischen Designer*in und Nutzer*in oder allgemei-ner zwischen der Produktion und dem Konsum von Artefakten geht. Eben diese Gegensätze führen klassischerweise dazu, dass Männer der einen und Frauen der anderen Seite zugeordnet werden. Cynthia Cockburn und Susan Ormrod führten bewusst eine Kombination aus Innovations- und Nutzerstudie durch, indem sie den Weg der Mikrowelle von ihrer Entwicklung bis zur Nutzung nachzeichneten.27 Die Autorinnen überwinden damit den Fokus klassischer technikwissenschaftlicher Studien auf Innovationen, der dazu führt, dass die Rolle von Frauen herabgesetzt wird. Außerdem legen sie die geschlechtliche Arbeitsteilung in jedem einzelnen Stadium der Etablierung einer Technologie offen.

Kulturelle Faktoren bestimmen nicht nur den Wandel von konsumierten Gütern, sondern auch deren Produktion. Cockburn und Ormrod verstehen Technologie als Prozess der kontinuierlichen Verhandlung, indem Menschen beispielsweise Tech-nologien ‚domestizieren‘ oder eine neue Technik übernehmen. Allerdings findet dieser Prozess innerhalb der gegenderten Annahmen der Designer*innen über die Köpfe ihrer potentiellen Nutzer*innen hinweg statt. Dieser technofeministische Ansatz verbindet die interpretative Flexibilität oder symbolische Formbarkeit von Artefakten mit der Vorstellung davon, wie diese physisch gestaltet und erneuert werden. Insofern handelt es sich um die Studie eines soziotechnischen Produkts, die sowohl materielle als auch immaterielle Netzwerke berücksichtigt.

Die kompetentesten Abhandlungen, die feministische Anschauungen mit Social Technology Studies kombinieren, finden sich über biomedizinische Innovationen. Im Gegensatz zu früheren feministischen Analysen über Reproduktionstechnolo-gien präzisiert diese Literatur das soziotechnische Netzwerk, indem etwa der Ärzte-beruf, der Einstieg von Frauen in die Medizin, sowie Frauen als Konsumentinnen eingeschlossen werden. Einige neuere Studien zum Zervix-Screening untersuchen beispielsweise die Prozesse hinter der Anwendung und Aneignung dieser Techno-logien durch ihre Nutzer*innen.28 Eine Gemeinsamkeit mit der vorgestellten Studie über Mikrowellen ist die Wahl einer alltäglichen Routine-Technologie im Gegen-satz zur heldenhaften Technikwissenschaft. Indem sie diesen „exekutiven Ansatz“ vermeiden, der zwangsläufig männliche Technikwissenschaftler begünstigen wür-de, beziehen sie Frauen ein, indem sie den Blick weiten.

Offensichtlich hängt der Erfolg des Pap-Tests mit der Feminisierung des Berufs des Labortechnikers und der damit einhergehenden niedrigen Entlohnung von komplexer Arbeit zusammen. Hierin wird die Beziehung zwischen grundsätzlicher Geringschätzung von Frauenarbeit und der Standardisierung einer Technologie deutlich. Die Autorinnen untersuchen außerdem die Rolle der Bewegung bei der Gesundheitsfürsorge für Frauen und weiblicher Gesundheitsaktivistinnen  – also Akteurinnen jenseits des normalen Bereichs. Dies stellt somit eine erfolgreiche Neubewertung bekannter Untersuchungsmethoden dar.

Dieser Ansatz kombiniert die Akteur-Netzwerk-Theorie mit dem Feminismus und dem symbolischen Interaktionismus. Clarke begrüßt diese Betonung der Rolle nicht-menschlicher Akteure in der wissenschaftlichen Praxis, und somit den ent-scheidenden Einfluss von Maschinen und natürlichen Objekten bei der Gestaltung von Netzwerken.29 Dieser Ansatz verdeutlicht, was gewisse wissenschaftliche Ansät-ze und technische Innovationen erfolgreich macht: Die Berücksichtigung diskursi-ver und materieller Elemente zu einer möglichst großen und diversen Gruppe von Akteur*innen. Clarke richtet ihre „Analyse der sozialen Welt“ an die allgemeineren feministischen Kritiken am Mainstream der Technikwissenschaften, die ihre Auf-merksamkeit vor allem auf diejenigen richten, die in der wissenschaftlichen Praxis unsichtbar oder entmachtet werden. Ihr Ansatz verknüpft das Interne mit dem Ex-ternen, indem der Ansatz die wissenschaftliche Praxis in einen größeren sozialen und politischen Kontext einordnet. Während der Mainstream der technikwissen-schaftlichen Studien an dem Punkt stehen bleibt, wo es um Wirkungen auf das Le-ben von Menschen geht, setzen feministische Arbeiten genau an diesen Wirkungen an und ordnen diese ihrem soziotechnischen Konzept zu.30 Der/die Wissenschaft-ler*in oder der/die ausführende Akteur*in steht folglich nicht im Mittelpunkt.

Die Technik des Zervix-Screening ist das Ergebnis einer langen Abfolge von medi-zinischen Prozeduren, die speziell für den weiblichen Körper entwickelt wurden. So können medizinische Techniken beispielsweise zu Sexualhormonen abbilden, wie wir unseren Körper wahrnehmen. Nelly Oudshoorns Buch Beyond the Natural Body zeigt zum Beispiel, wie Diskurse über den menschlichen Körper die Ausgestaltung der Pille zur Empfängnisverhütung prägten.31 Oudshoorn erinnert daran, dass die Konzeptualisierung von Männerkörpern und Frauenkörpern als „fundamental an-ders“ statt „stark ähnlich“ erst im 18. Jahrhundert begann. Die Wahrnehmung des weiblichen Körpers als the Other machte ihn zum essenziellen medizinischen Unter-suchungsobjekt. Geschlecht und Fortpflanzung wurden als weiblich charakterisiert, was sich unter anderem auch in der Etablierung der Gynäkologie als eigenständiger medizinischer Fachbereich manifestierte. Mit dem Aufkommen der geschlechtli-chen Endokrinologie während der 1920er und 1930er Jahre wurde die Auffassung vom weiblichen Körper als Gebärmaschine in das Hormonmodel des Menschen in-tegriert: Frauenkörper wurden zum Hauptsubjekt biomedizinischer Praxis.

Dass sich die Forschung zur physiologischen Empfängnisverhütung ausschließ-lich auf Frauen konzentrierte, ist eine logische Konsequenz. Oudshoorn beschreibt, wie Diskurse über den menschlichen Körper die Gestaltung der Pille beeinflussten, und wie die Pille wiederum den Frauenkörper universalistisch konstruierte, indem der weibliche Körper auf die Fortpflanzung reduziert wurde. Der Anspruch der Wissenschaftler*innen bestand dabei darin, eine universelle, einheitliche Technik der Empfängnisverhütung zu entwickeln. Das verdeutlicht wiederum, dass sie alle Frauen im Wesentlichen als gleich ansahen.

Was diese Darstellung so interessant macht, ist die Tatsache, dass die Wissen-schaftler*innen dadurch auch erfolgreich waren, Frauen einander anzugleichen. So stellt sich heraus, dass das Behandlungsdesign der Pille, die man an 20 Tagen im Monat einnimmt, mit bestimmten moralischen Überlegungen und Vorstellungen von einem natürlichen Menschenkörper einhergeht. Der amerikanische Biologe und Leiter des Forschungsprojekts Gregory Pincus hätte die Dauer des Menstru-ationszyklus beliebig festlegen können – entschied sich aber dafür, den ‚normalen‘ Zyklus zu imitieren. Infolgedessen haben sämtliche Pillen-Nutzerinnen einen vier-wöchigen Zyklus, wodurch sich die Unterschiede in der Zykluslänge insgesamt re-duziert haben. Somit führte die Pille zu einer massenhaften Homogenisierung der weiblichen Reproduktionsfunktionen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreiteten Diskurse über eine neue Weiblich-keit die Idee, dass Frauen an Einfluss gewinnen könnten, indem sie im Berufsle-ben angesehene Berufe ausüben. Dadurch entwickelte sich die Vorstellung vom Maschinenschreiben als weibliche Tätigkeit. Weibliche Schreibkräfte wurden als das Sinnbild für Modernität dargestellt, die eine neue, vielversprechende Ära des Fortschritts einleiteten. Beobachter*innen und Journalist*innen lobten regelmäßig das Maschinenschreiben als ideale Tätigkeit und die Schreibmaschine als ideale Maschine für Frauen. Dadurch wurde Frauen der Zugang zum Arbeitsmarkt unter bestimmten Voraussetzungen ermöglicht, und gleichzeitig der Eintritt einer weib-lichen Maschine in die männliche Bürowelt bewilligt. Wenngleich auch männliche Stenographen in den 1880er Jahren im Maschinenschreiben ausgebildet wurden, verschwanden die männlichen Figuren mit zunehmender Professionalisierung und Konzentration auf Technik und Schnelligkeit allmählich aus diesem Metier. Fast hundert  Jahre später ermöglichte der Personal Computer , dass das Schreiben an einer Tastatur auch für Männer zur Normalität wurde – damit verlor die Tätigkeit des Maschinenschreibens ihr Geschlecht.

Die hier vorgestellten Gender -Theorien, die sich als „technofeministisch“ charakte-risieren lassen, haben einen entscheidenden Vorteil gegenüber früheren Arbeiten. Der Anspruch, eine Theorie über Gender und Technik zu entwickeln, birgt die Gefahr einer essentialistischen Sicht auf Technik als inhärent patriarchalisch. Darüber hinaus be-steht die Gefahr, die Struktur der Gender -Verhältnisse durch eine Überbewertung der historisch variablen Kategorien „Technik“ und „Frauen“ aus den Augen zu verlieren.

Judith Butler betonte beispielweise, dass Männer- und Fraueninteressen keine ob-jektiv gegebenen, sondern kollektiv konstruierte Kategorien sind. Im Sinne des Post-Strukturalismus begreift sie „ Gender als Performance“ und unterstreicht damit, dass Gender nicht unveränderlich und damit sozialer Interaktion vorausgesetzt sei, son-dern überhaupt erst durch soziale Interaktion entstehe.(32) Diese Vorstellung von der Performativität oder von „ gender as doing “ stimmt mit der Sicht der Akteur-Netz-werk-Theorie auf die Gesellschaft als handelnd und nicht bloß existierend überein. Weiterführende Literatur

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Einführender Kommentar zu Nick Bostroms „Why I want to be a Posthuman when I grow up“

von Jürgen Meutgens und Arthur Wei-Kang LiuNick Bostrom (geb. 1973) ist ein in Schweden geborener Philosoph und interdiszi-plinärer Wissenschaftler mit einem Hintergrund in theoretischer Physik, Compu-tational Neuroscience, Logik und künstlicher Intelligenz sowie Philosophie. Er ist Professor an der Universität Oxford (UK), wo er als Gründungsdirektor das Future of Humanity Institute leitet.1 Nick Bostrom erlangte einen hohen Grad an Bekannt-heit durch seine Forschungen und Veröffentlichungen auf den Gebieten der Bio-ethik und der Technikfolgenabschätzung, insbesondere zum existentiellen Risiko, anthropischen Prinzip, zu ethischen Aspekten der technischen Verbesserung des menschlichen Körpers und zu Risiken der auf KI basierenden Superintelligenz.

Er ist Autor von über 200 Veröffentlichungen, darunter Anthropic Bias (2002), Human Enhancement (2009) und Superintelligence: Paths, Dangers, Strategies (2014). Bostroms einflussreiche Arbeit, die Philosophie, Wissenschaft, Ethik und Technologie durchquert, hat die Zusammenhänge zwischen unseren gegenwärtigen Handlungen und langfristigen globalen Ergebnissen beleuchtet und damit ein neu-es Licht auf das Mensch-Sein geworfen.

Nick Bostrom zählt zu den bedeutenden Vordenkern des Post-/Transhumanis-mus der Gegenwart. Im Mittelpunkt seiner Reflexionen stehen mögliche Zukunfts-pfade der Menschheit, bedingt durch den technologischen Fortschritt. Neben dem Szenario einer globalen Katastrophe, die die Menschheit als Lebensform vernich-ten würde, beschäftigt sich Bostrom mit der Möglichkeit, dass die Menschheit sich über sich hinaus entwickelt und sich in eine Posthumanität transformiert. In sei-nem Aufsatz Why I want to be a Posthuman when I grow up (2006)2 entfaltet Bos-trom einen Argumentationsraum pro posthumanistische Weiterentwicklung des Menschen durch neue Technologien. Ausgehend von der individuell persönlichen Wünschenswertigkeit posthumaner Fähigkeiten setzt er zu Beginn seiner Reflexion zwei Thesen: „Die erste ist, dass einige mögliche posthumane Seinsarten sehr gut wären. […] Die zweite These ist, dass es sehr gut für uns sein könnte, posthuman zu werden.“3 Bostrom unterstellt somit einen intrinsischen Wert posthumaner Fähig-keiten für den Menschen. Essentiell für eine erstrebenswerte Posthumanität sind für ihn die Fähigkeiten: Gesundheitsspanne, Kognition und Emotion. Gesundheits-spanne sei die Zeitspanne, während der ein Mensch gesund, aktiv und produktiv bliebe. Kognition umfasst Gedächtnis, deduktives und analytisches Denken sowie Vermögen wie z. B. Musik, Humor oder Mathematik verstehen und wertschätzen zu können. Emotion ist die Fähigkeit, das Leben zu genießen und angemessen auf Lebenssituationen und andere Menschen reagieren zu können. Posthuman wären diese Fähigkeiten dann, wenn sie weit über das Maximum dessen, was heute kon-ventionell ohne Technologie realisierbar wäre, verbessert werden könnten.

Bostrom nutzt nun gleichsam als Blaupausen jene beiden Thesen, um die post-humanen Ausprägungen der Fähigkeiten „Gesundheitsspanne“, „Kognition“ und „Emotion“ ausführlich und unterlegt mit Beispielen einer future-state-Erörterung zuzuführen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch die Anzahl der Seinszustände des Menschen posthuman um eine Vielzahl grösser sein werden als bei einer normalen evolutionären Entwicklung und dass unter diesen erweiterten möglichen Seinszuständen sich einige befinden, die von großem Wert für den Men-schen sein werden. Dies sind Gründe prima facie für Bostrom, dass ein technologie-getragener Entwicklungssprung der drei Fähigkeiten in eine posthumane Qualität für den Menschen erstrebenswert und wertvoll sei. Zum Ende seines Aufsatzes rä-soniert Bostrom, dass er zwar die verschiedenen Fähigkeiten größtenteils getrennt diskutiert hat, aber eine Kombination dieser Fähigkeiten noch einen viel größeren Wert bereitstellen könnte. Der Frage, ob wir durch eine solche Transformation tat-sächlich das Mensch-Sein  – inklusive unserer persönlichen Identität  – aufgeben müssten, begegnet Bostrom mit dem Verweis, dass „posthuman“ einen erweiterten und erstrebenswerten Typus menschlicher Seinsweise darstellt.

Natürlich ist vieles in dem Aufsatz spekulativ. Auch das gewählte narrative For-mat bedarf aus philosophischer Perspektive einer gewissen Gewöhnung. Doch ist der Aufsatz ein gutes Indiz dafür, dass der evolutionäre Denkstil zur Reflexion menschlicher Zukunft brüchig geworden ist. Bostroms Erörterung weist einige Desiderate auf, die den/die Leser*in beim Nachvollzug seiner/ihrer Reflexion zum Wert einer Post-/Transhumanität gedanklich stolpern lassen. So indiziert Bostrom, dass Posthumanität für den Menschen „ante pro“ nur durch den Einsatz fortschritt-lichster Technologie möglich ist. Doch klammert er potentielle technische Artefak-te und Verfahren, wie z. B. Biotechnologie mit dem Schwerpunkt Gentechnik, Na-notechnologie oder KI, aus. Anzunehmen ist durchaus, dass diese transformative Technik gravierende Auswirkung auf die Qualität des posthumanistischen Lebens haben könnte. Des Weiteren stellt sich die Frage, warum er die gesellschaftlichen Implikationen eines solchen Transformationsprozesses ausspart. Ist es nicht auch ein essentieller Bestandteil einer werttheoretischen Betrachtung, den Menschen als Subjekt mit Beziehungen zu anderen Subjekten im Kontext einer posthumanen Gemeinschaft zu betrachten? Bostrom geht zwar davon aus, dass es auch andere Posthumane geben wird, aber er geht nicht darauf ein, wie sich die Zeitlichkeit der Transformation und das sich daraus ergebene Verhältnis zwischen menschlichen und posthumanen Gesellschaften entwickeln würde. Welche Schattierungen wür-de jene Koexistenz beispielsweise sozioökonomisch und (inter-)kulturell heraus-bilden? Trotz der Kritik zeigt sich im Aufsatz von Bostrom ein wichtiger Ansatz, wie der Posthumanismus analysiert werden kann und den Menschen dazu heraus-fordert, sich mit dem Wert vom Posthumanismus für die Zukunft der Menschheit auseinanderzusetzen.

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Nick Bostrom: Warum ich posthuman sein will, wenn ich groß bin (2006)1

1. Vorbereitung

Der Begriff „posthuman“ wurde von verschiedenen Autor*innen mit sehr unter-schiedlichen Bedeutungen verwendet.3 Ich stimme der Ansicht zu, dass das Wort oft mehr Verwirrung als Klarheit hervorbringt und dass es vielleicht besser wäre, es durch ein alternatives Vokabular zu ersetzen. Da der Zweck dieses Aufsatzes jedoch nicht darin besteht, eine terminologische Reform vorzuschlagen, sondern für be-stimmte wesentliche normative Thesen zu argumentieren (nach denen man in der Literatur unter dem Label „posthuman“ suchen würde), werde ich stattdessen ver-suchen, Verständlichkeit durch Klärung der Bedeutung zu erreichen, die ich diesem Begriff zuordne. Eine solche terminologische Klärung ist sicherlich eine Mindest-voraussetzung für eine aussagekräftige Diskussion darüber, ob es gut für uns sein könnte, posthuman zu werden.

Ich werde einen Posthumanen als ein Wesen definieren, das mindestens eine post-humane Fähigkeit hat. Mit einer posthumanen Fähigkeit meine ich eine allgemeine zentrale Fähigkeit, die weit über dem Maximum liegt, das ein gegenwärtiger Mensch ohne Rückgriff auf neue technologische Mittel erreichen kann. Ich werde den Be-griff allgemeine zentrale Fähigkeit nutzen, um mich auf Folgendes zu beziehen:

Gesundheitsspanne  – die Fähigkeit, geistig und körperlich vollkommen gesund, aktiv und produktiv zu bleiben.

Kognition  – allgemeine intellektuelle Fähigkeit wie Gedächtnis, deduktives und analoges Denken und Aufmerksamkeit sowie besondere Ausprägungen davon wie die Fähigkeit, Musik, Humor, Erotik, Erzählung, Spiritualität, Mathematik usw. zu verstehen und wertzuschätzen.

Emotion  – die Fähigkeit, das Leben zu genießen und angemessen auf Lebens-situationen und andere Menschen zu reagieren.

Indem ich meine Liste der allgemeinen zentralen Fähigkeiten auf diese drei be-schränke, möchte ich nicht implizieren, dass keine anderen Fähigkeiten für Men-schen oder posthumane Wesen von grundlegender Bedeutung sind. Ich behaupte auch nicht, dass die drei Fähigkeiten in der Liste disjunkt oder unabhängig sind. So überschneiden sich beispielsweise Aspekte von Emotion und Kognition deutlich. Diese kurze Liste kann aber zumindest eine grobe Vorstellung davon geben, was ich meine, wenn ich für die Zwecke dieses Aufsatzes von Posthumanen spreche.

In diesem Aufsatz werde ich zwei Hauptthesen vorbringen und verteidigen. Die erste ist, dass einige mögliche posthumane Seinsarten sehr gut wären. Ich betone, dass die Behauptung nicht lautet, dass alle möglichen posthumanen Seinsarten gut wären. So wie einige mögliche menschliche Seinsarten elend und schrecklich sind, so sind es auch einige der posthumanen Möglichkeiten. Es wäre jedoch von Inter-esse, wenn wir zeigen könnten, dass es einige posthumane Möglichkeiten gibt, die sehr gut wären.

Die zweite These ist, dass es sehr gut für uns sein könnte, posthuman zu werden.

Es ist aber denkbar, dass es gut sein könnte, posthuman zu sein, ohne dass es gut für

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uns ist, posthuman zu werden. Diese zweite These geht also über die erste hinaus. Wenn ich „gut für uns“ sage, möchte ich nicht darauf bestehen, dass es für jedes ein-zelne gegenwärtige menschliche Individuum eine posthumane Seinsart gibt, so dass es gut für dieses Individuum wäre, auf diese Weise posthuman zu werden. Ich be-schränke mich darauf, eine schwächere Behauptung aufzustellen, die Ausnahmen zulässt. Die Behauptung ist, dass es für die meisten gegenwärtigen Menschen mög-liche posthumane Seinsmodi gibt, so dass es gut für diese Menschen sein könnte, auf eine dieser Arten posthuman zu werden.

Es könnte sich lohnen, die hier vorzulegenden Thesen und Argumente in einem breiteren Diskurs über die Wünschbarkeit des Posthumanismus zu verorten. Geg-ner des Posthumanismus argumentieren, dass wir nicht nach Verbesserungen su-chen sollten, die uns oder unsere Nachkommen posthuman machen könnten. Wir können mindestens fünf verschiedene „Ebenen“ unterscheiden, auf denen Einwän-de gegen die Posthumanität erhoben werden könnten:

Ebene 0. „Er kann nicht realisiert werden“

Einwände, die auf empirischen Behauptungen beruhen, dass es unmöglich oder undurchführbar ist und bleiben wird, Posthumane zu erschaffen.

Ebene 1. „Es ist zu schwierig oder zu teuer, ihn zu realisieren“

Einwände, die auf empirischen Behauptungen beruhen, dass Versuche, Men-schen in Posthumane zu verwandeln oder neue posthumane Wesen zu erschaf-fen, zu riskant oder zu teuer wären. Bedenken wegen medizinischer Nebenwir-kungen fallen in diese Kategorie, ebenso wie die Befürchtung, dass Ressourcen, die für die notwendige Forschung und Behandlung aufgewendet werden, von wichtigeren Bereichen abgezogen würden.

Ebene 2. „Er wäre schlecht für die Gesellschaft“

Einwände, die auf empirischen Behauptungen über soziale Konsequenzen be-ruhen, die sich aus der erfolgreichen Schaffung posthumaner Wesen ergeben würden, beispielsweise Bedenken hinsichtlich sozialer Ungleichheit, Diskrimi-nierung oder Konflikten zwischen Menschen und Posthumanen.

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Ebene 3. „Posthumanes Leben wäre schlechter als menschliches“

Einwände, die auf normativen Behauptungen über den Wert posthumanem Le-ben im Vergleich zu menschlichem Leben beruhen.

Ebene 4. „Wir könnten nicht profitieren“

Einwände aus agentenbezogenen Gründen gegen die Transformation von Men-schen in posthumane Wesen, oder gegen die Schaffung posthumaner Wesen durch Menschen. Obwohl posthumane Leben gleich gut oder besser sein könn-ten als menschliche Leben, wäre es schlecht für uns , posthuman zu werden oder posthumane Menschen zu erschaffen.

Tabelle 1: Ebenen der Einwände gegen den Posthumanismus

Dieser Aufsatz konzentriert sich auf die Ebenen 3. und 4. Ich behandle daher nicht Fragen der Durchführbarkeit, Kosten, Risiken, Nebenwirkungen und sozialen Kon-sequenzen.

Einige weitere terminologische Angaben sind angebracht. Mit einer „Art zu sein“ meine ich eine Reihe von Fähigkeiten und anderen allgemeinen Parametern des Lebens. Eine posthumane Seinsart umfasst mindestens eine posthumane Fähigkeit.

Die Position, die ich verteidigen möchte, steht im Einklang mit einer Vielzahl formaler und inhaltlicher Werttheorien. Ich werde der Einfachheit und Zweckmä-ßigkeit halber vom Wert der Seinsarten sprechen, damit will ich mich jedoch nicht zu einer bestimmten kontroversen Werttheorie bekennen.

Wir könnten „die Werte“ von Seinsarten als Stellvertreter für Werte interpretie-ren, die durch bestimmte Leben verwirklicht würden, die die Art des fraglichen Seins instanziieren. Wenn wir so vorgehen, schaffen wir aber eine gewisse Un-bestimmtheit. Es ist möglich, dass eine Seinsart (und noch mehr eine Klasse von Seinsmodi) in einer Reihe verschiedener möglicher Leben instanziiert wird und dass einige dieser Leben gut und andere schlecht sind.

Trotzdem ist es nützlich, von anderen Werten von Gegenständen sprechen zu können als von denen, denen wir einen intrinsischen Grundwert zusprechen. Wenn wir sagen, dass sie wertvoll sind, meinen wir möglicherweise nur, dass diese Dinge normalerweise einen positiven Beitrag zum Wert eines Lebens leisten würden. Sie würden in einer Vielzahl plausibler Kontexte einen Mehrwert schaffen.

Ein Leben kann gut oder schlecht sein, weil es kausal bedingte Folgen für andere Menschen hat oder weil es zum Gesamtwert einer Gesellschaft oder einer Welt bei-trägt. Hier werde ich mich aber auf den Wert konzentrieren, den ein Leben für die Person hat, deren Leben es ist: wie gut (oder schlecht) es für das Subjekt ist, dieses Leben zu haben. Der Begriff „Wohlbefinden“ wird häufig in diesem Sinne verwendet.4

Wenn ich hier vom Wert eines Lebens spreche, beziehe ich mich nicht auf den mo-ralischen Status der Person, deren Leben es ist. Es ist eine andere Frage, wie der mora-lische Status von Menschen und posthumanen Wesen aussehen würde. Wir gehen für die gegenwärtigen Zwecke davon aus, dass menschliche und posthumane Personen den gleichen moralischen Status haben. Der Wert eines Lebens bezieht sich also vielmehr darauf, wie gut ein Leben für das jeweilige Subjekt ist. Unterschiedliche Menschenle-ben verlaufen unterschiedlich gut, und in diesem Sinne haben ihre Leben unterschied-liche Werte. Das Leben einer Person, die im Alter von 15 Jahren an einer schmerzhaften Krankheit stirbt, nachdem sie in extremer Armut und sozialer Isolation gelebt hat, ist in der Regel schlechter und weniger wert als das einer Person, die ein 80-jähriges Leben voller Freude, Kreativität und lohnender Erfolge, Freundschaften und Liebe führte. Un-abhängig von der Terminologie, mit der wir den Unterschied beschreiben, ist es klar, dass die letztere Art des Lebens mehr Wert hat, geführt zu werden. Eine Möglichkeit, diese Plattitüde auszudrücken, besteht darin, zu sagen, dass das letztere Leben wert-voller ist als das erstere. Dies steht im Einklang mit der Zuweisung des gleichen morali-schen Status an die beiden verschiedenen Personen, deren Leben verglichen wird.

Wir gehen nur davon aus, dass zumindest für einige Paare möglicher Leben eines definitiv besser ist als das andere.

2. Posthuman werden

Nehmen wir an, Sie würden sich zu einem Wesen entwickeln, das eine posthumane Gesundheitsspanne und posthumane kognitive und emotionale Fähigkeiten besitzt. Während der ersten Schritte dieses Prozesses genießen Sie Ihre erweiterten Fähig-keiten. Sie schätzen Ihre verbesserte Gesundheit: Sie fühlen sich stärker, energischer und ausgeglichener. Ihre Haut sieht jünger aus und ist elastischer. Eine leichte Er-krankung im Knie ist geheilt. Sie finden auch eine größere Klarheit Ihres Geistes vor. Sie können sich leichter auf schwer verständliche Sachverhalte konzentrieren und diese ergeben Sinn für Sie. Sie sehen Verbindungen, die Ihnen zuvor entgangen sind. Sie sind erstaunt zu erkennen, wie viele Überzeugungen Sie vertreten haben, ohne jemals wirklich darüber nachgedacht oder überlegt zu haben, ob Beweise sie stützen. Ihre Freunde bemerken, wie viel mehr unterhaltsamer es ist, Zeit mit Ih-nen zu verbringen. Ihre Erfahrungen scheinen lebendiger. Wenn Sie Musik hören, nehmen Sie die Struktur und eine Art musikalische Logik wahr, die Sie zuvor nicht wahrgenommen haben. Das bereitet Ihnen große Freude. Sie beginnen, fast jeden Moment des Lebens zu schätzen; und Sie fühlen eine tiefere Wärme und Zuneigung für diejenigen, für die Sie Liebe empfinden, aber Sie können immer noch verär-gert und sogar wütend sein, wenn Aufregung oder Wut wirklich gerechtfertigt und konstruktiv sind.

Wir versuchen, weiter in die Posthumanität zu blicken. Wenn das Wesen des Posthumanismus, abgesehen von ausgedehnten Gesundheitsspannen, darin be-steht, Gedanken und Erfahrungen zu haben, die wir mit unseren gegenwärtigen Fähigkeiten nicht ohne Weiteres denken oder erleben können, dann ist es nicht überraschend, dass unsere Fähigkeit, sich vorzustellen, wie posthumanes Leben aussehen könnte, sehr stark begrenzt ist. Dennoch können wir zumindest die Um-risse einige der näheren Ufer des Posthumanismus wahrnehmen, so wie wir es im obigen imaginären Szenario getan haben. Hoffentlich reichen solche Gedankenex-perimente bereits aus, um die Behauptung plausibel zu machen, dass es gut für uns sein könnte, posthuman zu werden.

Ich sehe meine Position als konservative Erweiterung der traditionellen Ethik und Werte, um der Möglichkeit der menschlichen Verbesserung durch technologi-sche Mittel Rechnung zu tragen.

3. Gesundheitsspanne

Es scheint mir ziemlich offensichtlich, warum man Gründe haben könnte, ein Post-human zu werden, im Sinne einer stark verbesserten Fähigkeit, um am Leben blei-ben und gesund bleiben zu können.5 Ich vermute, dass die Mehrheit der Menschheit bereits implizit einen solchen Wunsch hat.

Menschen versuchen, ihre Gesundheitsspanne zu verlängern, d. h. gesund, aktiv und produktiv zu bleiben.

Zugegeben, der Wunsch, die Gesundheitsspanne zu verlängern, entspricht nicht unbedingt dem Wunsch, posthuman zu werden. Um aufgrund der Erweiterung des Gesundheitsbereichs posthuman zu werden, müsste eine Gesundheitsspanne er-reicht werden, die jenes von jedem gegenwärtigen Menschen ohne Rückgriff auf neue technologische Mittel erreichbare Maximum bei weitem überschreitet. Da es zumindest einigen Menschen bereits gelingt, bis zum Alter von 70 Jahren recht gesund, aktiv und produktiv zu bleiben, müsste man sich wünschen, dass die Ge-sundheitsspanne weit über dieses Alter hinaus verlängert wird, damit man diesen Wunsch als Wunsch für ein posthumanes Leben ansehen kann.6

Die Bereitschaft der Menschen, ihr Leben um eine bestimmte Zeit zu verlängern, hängt in der Tat stark vom Gesundheitszustand und der Qualität dieses zusätzli-chen Lebens ab.7 Da das Leben über 85 Jahre sehr häufig von einer Verschlechte-rung der Gesundheit geprägt ist, wird möglicherweise erheblich unterschätzt, wie lange die meisten Menschen leben möchten, wenn ihnen eine perfekte Gesundheit garantiert werden könnte.

Selbst wenn eine erklärte Präferenz gegen eine Verlängerung der Gesundheits-spanne aufrichtig wäre, müssten wir uns fragen, wie gut überlegt und informiert sie ist. Es ist von Bedeutung, dass diejenigen, die am meisten über die Situation wissen und am unmittelbarsten von der Wahl betroffen sind, nämlich ältere Men-schen, normalerweise das Leben dem Tod vorziehen. Sie tun dies normalerweise, wenn ihre Gesundheit schlecht ist, und wählen fast ausschließlich das Leben, wenn ihre Gesundheit zumindest den Umständen entsprechend gut ist. Jetzt kann man argumentieren, dass eine geistig intakte 90-Jährige besser beurteilen kann, wie ein weiteres Jahr sich auf ihr Leben auswirkt, als sie es mit 20 oder 40 Jahren hätte tun können. Wenn die meisten gesunden und geistig intakten 90-Jährigen es vorziehen, ein weiteres Jahr zu leben (zumindest, wenn ihnen garantiert werden könnte, dass dieses zusätzliche Jahr von voller Gesundheit und Kraft geprägt ist), wäre dies ein Beweis gegen die Behauptung, dass es für diese Menschen besser wäre, wenn ihr Leben mit 90 endet.8

Menschen, die 90 Jahre alt sind, können besser beurteilen, ob es sich lohnt, ihr Leben fortzusetzen, als jüngere Menschen (einschließlich sich selbst zu einem frü-heren Zeitpunkt in ihrem Leben).

Diese Ergebnisse legen nahe, dass einige Dimensionen des subjektiven Wohl-befindens, wie die Lebenszufriedenheit, nicht mit dem Alter abnehmen, sondern tatsächlich zunehmen könnten, und dass der Rückgang einer anderen Dimension des subjektiven Wohlbefindens (positive Auswirkung) nicht auf das Altern per se zurückzuführen ist, sondern auf gesundheitliche Gründe.

Dies ist prima facie eine Bekräftigung der Behauptung, dass sich ein verlänger-tes Leben lohnt, auch wenn es nicht vollständig gesund ist. Die Tatsache, dass dies auf alle gegenwärtig realisierten Altersstufen zutrifft, legt nahe, dass es keine stark visionäre Ansicht ist, zu behaupten, dass es für viele Menschen gut sein könnte, durch die Erweiterung der Gesundheitsspanne posthuman zu werden. Eine solche Ansicht könnte von vielen implizit befürwortet werden.

4. Kognition

Die Menschen scheinen auch daran interessiert zu sein, ihre Kognition zu verbes-sern.

Wiederum bedeutet die Tatsache, dass es einen gemeinsamen Wunsch nach ko-gnitiver Verbesserung gibt, nicht, dass es einen übereinstimmenden Wunsch gibt, posthuman zu werden. Um durch kognitive Verbesserung posthuman werden zu wollen, müsste man sehr große kognitive Verbesserungen wollen. Es ist logisch möglich, dass jeder Mensch nur etwas intelligenter (oder musikalischer oder hu-morvoller) werden möchte als er oder sie es derzeit ist und keinen sehr großen Hinzugewinn wünscht.

Es scheint mir (basierend auf anekdotischen Beweisen und persönlichen Beob-achtungen), dass Menschen, die bereits überdurchschnittliche kognitive Fähigkei-ten besitzen, mindestens genauso begierig sind und, soweit ich das beurteilen kann, sogar noch begieriger sind, weitere Verbesserungen dieser Fähigkeiten zu erzielen als Menschen, die in dieser Hinsicht weniger talentiert sind.

Dieses Phänomen kann teilweise der öffentlichen Anerkennung zugeschrieben werden, die häufig diejenigen bekommen, die in einem bestimmten Bereich heraus-ragend sind.

Es wäre unplausibel anzunehmen, dass die derzeitige Spanne der menschlichen Fähigkeiten in allen Bereichen so ist, dass zwar inkrementelle Verbesserungen innerhalb dieser Spanne an sich lohnend sind, weitere Erhöhungen außerhalb der aktuellen menschlichen Spanne jedoch keinen intrinsischen Wert haben. Auch hier haben wir prima facie einen Grund für die Schlussfolgerung, dass eine Ver-besserung der kognitiven Fähigkeiten auf das höchste derzeitige menschliche Niveau und wahrscheinlich darüber hinaus, möglicherweise sogar einschließlich des posthumanen Niveaus, für die verbesserten Individuen an sich wünschens-wert wäre. Wir kommen zu diesem Schluss, wenn wir davon ausgehen, dass die-jenigen, die über eine bestimmte hohe Fähigkeit verfügen, den Wert dieser Fä-higkeit oder eine weitere Verbesserung dieser Fähigkeit im Allgemeinen besser beurteilen können als diejenigen, die die betreffende Fähigkeit nicht in gleichem Maße besitzen.

5. Emotion

Es ist einfach zu bestimmen, was als Erweiterung der Gesundheitsspanne gelten würde. Es ist schwieriger, genau zu definieren, was als kognitive Verbesserung gel-ten würde.

Es ist erheblich schwieriger zu charakterisieren, was als emotionale Verbesserung gelten würde. Die Beurteilung solcher Fälle hängt oft entscheidend von der genauen Art der normativen Überzeugungen über verschiedene Arten möglicher emotiona-ler Konstitutionen und Persönlichkeiten ab.

Trotzdem bemühen sich Menschen oft, ihre emotionalen Fähigkeiten und Funk-tionen zu verbessern. Wir können versuchen, Gefühle von Hass, Verachtung oder Aggression zu reduzieren, wenn wir bewusst erkennen, dass diese Gefühle vorein-genommen oder destruktiv sind. Viele von uns bemühen sich ein Leben lang dar-um, ihre Gefühle zu erziehen und zu veredeln, um ihren Charakter zu stärken und um zu versuchen, bessere Menschen zu werden. Durch diese Bestrebungen versu-chen wir, Ziele zu erreichen, die darin bestehen, unsere emotionalen Fähigkeiten zu verändern und zu verbessern.

Eine angemessene Konzeption der emotionalen Fähigkeit wäre eine, die diese Art von Ziel beinhaltet oder widerspiegelt, während es gleichzeitig möglicherweise eine breite Palette verschiedener Möglichkeiten zulässt, „hohe emotionale Fähigkeiten“ zu verwirklichen, d. h. viele verschiedene mögliche „Charaktere“ oder Kombinatio-nen von Gefühls- und Reaktionsneigungen, die jede auf ihre Weise als ausgezeich-net gelten kann. Eine posthumane emotionale Fähigkeit wäre eine, die viel besser ist als die, die jeder gegenwärtige Mensch ohne Hilfe neuer Technologien erreichen könnte.

Man könnte sich vielleicht fragen, ob es mögliche emotionale Fähigkeiten gibt, die viel besser wären als die jetzt Erreichbaren. Es ist vorstellbar, dass es ein Maxi-mum an möglicher Exzellenz der emotionalen Fähigkeit gibt, und diejenigen Men-schen, die derzeit über die besten emotionalen Fähigkeiten verfügen, sich diesem Ideal möglicherweise so stark nähern, dass nicht genügend Verbesserungspotenzial vorhanden ist, um Raum für ein posthumanes Reich emotionaler Fähigkeiten zu lassen. Ich bezweifle dies, weil ich denke, dass es auch völlig neue psychologische Zustände und Emotionen geben könnte, bei denen unsere Spezies die neurologisch Erlebnis-ermöglichende Maschinerie nicht entwickelt hat, und einige dieser Emp-findlichkeiten könnten diejenigen sein, die wir als äußerst wertvoll erkennen wür-den, wenn wir sie kennenlernen würden.

Es ist schwierig, intuitiv zu verstehen, wie solche neuartigen Emotionen und mentalen Zustände aussehen könnten. Es könnte hilfreich sein, einen Parallelfall aus dem normalen Bereich menschlicher Erfahrung zu betrachten. Die Erfahrung romantischer Liebe ist etwas, auf das viele von uns großen Wert legen. Dennoch ist es für ein Kind oder einen vorpubertären Teenager notorisch schwierig, die Be-deutung der romantischen Liebe zu verstehen oder warum Erwachsene so viel Auf-stand wegen dieser Erfahrung machen. Vielleicht befinden wir uns alle derzeit in der Situation von Kindern in Bezug auf die Emotionen, Leidenschaften und menta-len Zustände, die posthumane Wesen erfahren könnten. Wir haben möglicherweise keine Ahnung, was wir verpassen, bis wir posthumane emotionale Fähigkeiten er-reicht haben.

Eine Dimension des emotionalen Vermögens, die wir uns verstärkt vorstellen können, ist das subjektive Wohlbefinden und seine verschiedenen qualitativem Ausprägungen: Freude, Behaglichkeit, sinnliche Freuden, Spaß, positives Interesse und positive Aufregung.

Es ist eine interessante Frage, inwieweit das subjektive Wohlbefinden gesteigert werden könnte, ohne andere Fähigkeiten zu opfern, die wir vielleicht schätzen. Allerdings könnte es möglich sein, dass anders konstituierte Geister Erfahrungen machen, die glückseliger sind als die, zu denen Menschen fähig sind, ohne dass dadurch ihre Fähigkeit beeinträchtigt wird, adäquat auf ihre Umgebung zu reagie-ren. Wenn man über die Möglichkeit posthuman-glücklicher Wesen und ihre psy-chologischen Eigenschaften nachdenkt, muss man von potentiellen Merkmalen der menschlichen Psyche abstrahieren.

Wir können zuversichtlich sein, dass es zumindest für die meisten Individuen in diesen Dimensionen einen enormen Spielraum für Verbesserungen gibt, denn selbst innerhalb des Bereichs, der von den gegenwärtig lebenden Menschen ins-tanziiert wird, gibt es Niveaus von emotionalen Fähigkeiten und Stufen des subjek-tiven Wohlbefindens, die für die meisten von uns praktisch unerreichbar sind, bis hin zu dem Punkt, dass sie unsere Träume übersteigen. Die Tatsache, dass solche Verbesserungen von vielen eifrig angestrebt werden, deutet darauf hin, dass, wenn posthumane Level möglich wären, auch diese als höchst attraktiv angesehen werden würden.9

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6. Aufbau der Argumentation und weitere unterstützende Gründe

Ich habe einige Plausibilitätsargumente vorgebracht, die darauf hindeuten, dass es höchst wünschenswert sein könnte, ein posthumanes Niveau dieser Fähigkeiten zu haben.

Dass Menschen X begehren, bedeutet nicht, dass X wünschenswert ist. Auch die Tatsache, dass Menschen X begehrenswert finden, selbst wenn dieses Urteil von denjenigen geteilt wird, die am besten in der Lage sind, die Begehrlichkeit von X zu beurteilen, beweist nicht, dass X begehrenswert oder wertvoll ist. Selbst wenn man eine Version einer dispositionellen Werttheorie annehmen würde, folgt aus diesen Prämissen nicht, dass X wertvoll ist. Eine dispositionelle Werttheorie könnte etwas wie das Folgende behaupten:

Die Menschen, die gegenwärtig am besten in der Lage sind, zu beurteilen, ob eine Verbesserung seiner allgemeinen zentralen Fähigkeiten für ein Individuum wün-schenswert ist, sind weder vollkommen rational noch vollkommen gut informiert, noch vollkommen vertraut mit der vollen Bedeutung solcher Verbesserungen. Wenn diese Menschen rationaler wären oder mehr Informationen erhielten oder besser mit den fraglichen Erweiterungen vertraut wären, würden sie die Erweite-rungen vielleicht nicht mehr schätzen. Selbst wenn alle Menschen das Posthuman-Werden als wünschenswert erachten würden, ist es eine logische Möglichkeit, dass das Posthuman-Werden nicht wertvoll ist, selbst wenn man eine Werttheorie zu-grunde legt, die Werte in Form von Bewertungsdispositionen definiert.

Ein weiterer Weg, die obigen Schlussfolgerungen plausibel zu machen, ist die Betrachtung unserer gegenwärtigen Unwissenheit und der Weite des noch uner-forschten Terrains. SH sei der „Raum“ der möglichen Seinsweisen, die von jeman-dem mit den derzeitigen menschlichen Fähigkeiten instanziiert werden könnten. SP sei der Raum der möglichen Seinsweisen, die von jemandem mit posthumanen Fähigkeiten instanziiert werden könnten. In einem intuitiven Sinn ist SP enorm viel größer als SH

. Es gibt eine größere Bandbreite an möglichen Lebensverläufen, die während einer posthumanen Lebensspanne ausgelebt werden könnten, als während einer menschlichen Lebensspanne. Es gibt mehr Gedanken, die mit posthumanen kognitiven Fähigkeiten gedacht werden könnten als mit menschlichen Fähigkei-ten (und mehr musikalische Strukturen, die mit posthumanen musikalischen Fä-higkeiten geschaffen und geschätzt werden könnten usw.). Es gibt mehr mentale Zustände und Emotionen, die mit posthumanen emotionalen Fähigkeiten erlebt werden könnten als mit menschlichen. Warum also, abgesehen von einem Mangel an Vorstellungskraft, sollte jemand annehmen, dass die SH bereits alle wertvollsten und lohnenswertesten Seinsweisen enthält?

In ähnlicher Weise ist die schiere Größe und Vielfalt von SP an sich ein Grund pri-ma facie für die Annahme, dass es wahrscheinlich einige sehr große Werte enthält.11

7. Persönliche Identität

Unter der Annahme, dass es in den vorangegangenen Abschnitten gelungen ist, plausibel zu machen, dass es gut sein könnte, ein Posthuman zu sein, können wir uns nun einer weiteren Frage zuwenden: ob es gut für uns sein könnte, ein Post-human zu werden.

Könnte ein gegenwärtiger Mensch posthuman werden, während er dieselbe Per-son bleibt, oder ist der Fall wie der von Bloggs(12), der Haydn(13) wird, wobei die Per-son Bloggs notwendigerweise aufhört, in dem Prozess [des Werdens zu Haydn] zu existieren? Der Fall des Posthuman-Werdens ist in einer wichtigen Hinsicht anders. Bloggs müsste alle psychologischen Eigenschaften verlieren, die ihn zur Person Bloggs machten, um Haydn zu werden. Insbesondere müsste er alle seine Erinne-rungen, seine Ziele und seine einzigartigen Fähigkeiten verlieren, und seine gesam-te Persönlichkeit würde ausgelöscht und durch die von Haydn ersetzt werden. Im Gegensatz dazu könnte ein Mensch seine Erinnerungen, seine Ziele, seine einzig-artigen Fähigkeiten und viele wichtige Aspekte seiner Persönlichkeit beibehalten, auch wenn er posthuman wird. So könnte es möglich sein, dass die persönliche Identität während der Transformation zum Posthumanen erhalten bleibt.14

Die Argumente für die Annahme, dass sowohl die persönliche als auch die nar-rative Identität erhalten bleiben, sind wohl am stärksten, wenn wir davon ausgehen, dass (a) die Veränderungen in Form einer Hinzufügung neuer Fähigkeiten oder einer Verbesserung alter Fähigkeiten erfolgen, ohne dass bereits vorhandene Fähig-keiten geopfert werden; und (b) die Veränderungen allmählich über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden; (c) jeder Schritt des Transformationsprozesses vom Subjekt frei und sachkundig gewählt wird; (e) das Subjekt seine alten Erinnerungen und viele seiner grundlegenden Wünsche und Dispositionen behält; (f) das Sub-jekt viele seiner alten persönlichen Beziehungen und sozialen Verbindungen be-hält; und (g) die Transformation in die Lebensgeschichte und das Selbstverständnis des Subjekts passt. Posthumane kognitive und emotionale Fähigkeiten könnten im Prinzip so erworben werden, dass diese Bedingungen erfüllt sind.

Selbst wenn in einem bestimmten Transformationsprozess nicht alle Bedingun-gen (a)–(g) vollständig erfüllt wären, könnten die normativ relevanten Elemente der (numerischen oder narrativen) Identität einer Person immer noch ausreichend erhalten bleiben, um zu vermeiden, dass ein grundlegender identitätsbasierter Ein-wand gegen die Klugheit, sich einer solchen Transformation zu unterziehen, er-hoben wird. Wir sollten für technologische Selbsttransformation keinen strengeren Maßstab anlegen als für andere Arten menschlicher Transformation, wie z. B. Mig-ration, Berufswechsel oder religiöse Bekehrung.

Betrachten wir noch einmal einen bekannten Fall von radikaler menschlicher Transformation: Erwachsen-Werden. Sie verfügen heute über weitaus größere ko-gnitive Fähigkeiten im Gegensatz zu der Zeit, als Sie ein Säugling waren. Sie haben auch einige Fähigkeiten verloren, z. B. die Fähigkeit, eine neue Sprache ohne Akzent sprechen zu lernen. Auch Ihre emotionalen Fähigkeiten haben sich seit Ihrem Säug-lingsalter erheblich verändert und weiterentwickelt. Für jeden Identitätsbegriff, von dem wir glauben, dass er eine relevante normative Bedeutung hat – persönliche (numerische) Identität, geschichtliche Identität, Identität des persönlichen Charak-ters oder Identität der Kernmerkmale – sollten wir fragen, ob die Identität in die-sem Sinne bei dieser Transformation erhalten geblieben ist.

Die Antwort mag davon abhängen, wie genau wir diese Vorstellungen von Identi-tät verstehen. Für jeden von Ihnen, bei einer hinreichend großzügigen Auffassung der Identitätskriterien, wurde die Identität vollständig oder zu einem großen Teil während Ihres Erwachsen-Werdens bewahrt. Aber dann würden wir erwarten, dass die Identität in diesem Sinne auch bei vielen anderen Transformationen erhalten bliebe, einschließlich derjenigen, die nicht tiefgreifender sind als die eines Kindes, das zu einem Erwachsenen heranwächst; und das würde Transformationen ein-schließen, die Sie zu einem Posthumanen machen würden.

Warum sollte es dann schlecht sein, wenn sich ein Mensch weiterentwickelt, so dass er eines Tages zu einem Wesen mit posthumanen Fähigkeiten heranreift? Si-cherlich ist es genau andersherum. Wenn dies unser üblicher Entwicklungsprozess gewesen wäre, hätten wir das Scheitern der Entwicklung zu einem Posthuman leicht als Unglück erkannt, so wie wir es jetzt als Unglück für ein Kind ansehen, wenn es nicht die normalen Fähigkeiten eines Erwachsenen entwickelt.

8. Verpflichtungen

Der Grund für die Annahme, dass es für eine Person schlecht sein könnte, ein Post-human zu werden, beruht auf der Annahme, dass es für eine Person sehr schlecht sein kann, Verpflichtungen aufzugeben, die als Posthuman unmöglich zu erfüllen wären.15 Selbst wenn wir diese Annahme zulassen, folgt daraus nicht, dass es not-wendigerweise schlecht für uns wäre, ein Posthuman zu werden. Wir haben im All-gemeinen keine Verpflichtungen, die als Posthuman unmöglich zu erfüllen wären.

9. Lebensweisen

Zusätzlich zu den Bedenken über die persönliche Identität und spezifische Ver-pflichtungen gegenüber Menschen oder Projekten gibt es eine dritte Art von Grün-den, die man haben könnte, um zu bezweifeln, dass es gut für uns sein könnte, posthuman zu werden. Diese dritte Art von Gründen hat mit unseren zwischen-menschlichen Beziehungen im weiten Sinne zu tun und mit der Art und Weise, wie das Gute für eine Person mit den allgemeinen Umständen und Bedingungen, in denen sie lebt, verbunden sein kann. Man könnte meinen, dass das Konzept eines guten Lebens für einen Menschen untrennbar mit der Idee des Gedeihens innerhalb einer „Lebensweise“ verbunden ist – einer Matrix von Überzeugungen, Beziehun-gen, sozialen Rollen, Verpflichtungen, Gewohnheiten, Projekten und psychologi-schen Eigenschaften, außerhalb derer die Idee eines „besseren“ oder „schlechteren“ Lebens oder einer Lebensweise keinen Sinn ergibt.

Diese dritte Sorge scheint ein Konglomerat aus den beiden Bedenken zu sein, die wir bereits diskutiert haben. Warum könnte es nicht gut für einen Menschen sein, posthuman zu werden? Ein möglicher Grund liegt darin, wenn seine persönliche Identität durch eine solche Transformation nicht erhalten bliebe.

Aus der Tatsache, dass wir der Behauptung, es wäre gut für einen Klee, ein Rho-dodendron zu werden, keinen Sinn abgewinnen können, folgt also nicht, dass wir auch der Behauptung, es wäre gut für einen Menschen, ein Posthuman zu werden, keinen Sinn abgewinnen können.

Es ist auf jeden Fall höchst problematisch, dass etwas so Komplexes und Auto-nomes wie ein Mensch irgendeine Art von wohldefinierter „Funktion“ hat. Wir könnten sagen, dass die Funktion der Bäuerin darin besteht, Landwirtschaft zu be-treiben, und die der Sängerin darin, zu singen, usw. Aber jede einzelne Bäuerin ist auch eine Menge anderer Dinge: z. B. eine Sängerin, eine Mutter, eine Schwester, eine Hausbesitzerin, eine Autofahrerin, eine Fernsehzuschauerin, und so weiter ad infinitum . Wir könnten höchstens schlussfolgern, dass sie sich, wenn und soweit sie als Bäuerin handelt, um ihre Ernte oder ihr Vieh kümmern sollte; aber aus der Tatsache, dass sie Bäuerin ist, folgt nichts darüber, ob sie Bäuerin sein oder bleiben sollte. Ebenso könnten wir aus der Tatsache, dass sie gegenwärtig ein Mensch ist, höchstens schließen, dass sie Dinge tun sollte, die für Menschen gut sind – sich die Zähne putzen, schlafen, essen etc. – aber nur so lange, wie sie ein Mensch bleibt. Wenn sie ein Posthuman würde, der nicht schlafen müsste, hätte sie keinen Grund mehr zu schlafen. Und die Tatsache, dass sie derzeit einen Grund zum Schlafen hat, ist kein Grund für sie, kein schlafloser Posthuman zu werden.

Aber unser hypothetischer Kritiker könnte argumentieren, dass es bestimmte ka-tegorische Interessen gibt, die wir alle qua Mensch haben. Diese Interessen würden sich irgendwie aus der menschlichen Natur und aus den natürlichen Zielen und Idealen des Ausbildens ableiten, die dieser wesentlichen Natur innewohnen. Könn-te die Existenz solcher universell geteilten kategorischen menschlichen Interessen nicht die These entkräften, dass es gut für uns sein könnte, posthuman zu werden?

10. Menschliche Natur

Es gibt in der menschlichen Natur zu viel, was durch und durch schlecht ist (zusam-men mit vielem, was bewundernswert ist), als dass die bloße Tatsache, dass X ein Teil der menschlichen Natur ist, irgendeinen Grund, auch nur einen prima facie, für die Annahme darstellt, dass X gut ist.

11. Kurze Skizzen einiger Einwände und Antworten

Einwand: Man könnte meinen, dass es für einen Menschen schlecht wäre, das ein-zige posthumane Wesen zu sein, da ein einsamer Posthuman keine Gleichgestellten hätte, mit denen er interagieren könnte.

Antwort: Es ist nicht notwendig, dass es nur einen Posthuman gibt.

In der Tat gehe ich in diesem Aufsatz ganz allgemein davon aus, dass die pos-tulierte posthumane Referenzgesellschaft eine Gesellschaft ist, die an ihre post-humanen Bewohner*innen in ähnlicher Weise angepasst ist, wie die gegenwärtige menschliche Gesellschaft an ihre menschlichen Bewohner*innen angepasst ist. Ich gehe auch davon aus, dass diese Referenzgesellschaft ihren posthumanen Bewoh-ner*innen viele Erleichterungen und Möglichkeiten bietet, die im Großen und Ganzen denen entsprechen, die die heutige Gesellschaft den Menschen bietet.16 Mit diesem Postulat will ich weder eine Vorhersage treffen, dass sich diese Art von post-humaner Gesellschaft am wahrscheinlichsten bilden wird, noch will ich andeuten, dass das Dasein als Posthuman nicht auch außerhalb des Kontextes einer solchen Gesellschaft wertvoll sein könnte. Das Postulat ist lediglich eine Möglichkeit, die Behauptungen abzugrenzen, die ich in diesem Aufsatz zu verteidigen versuche.

Einwand: Die angesammelten kulturellen Schätze der Menschheit könnten ihren Reiz für jemanden verlieren, dessen Fähigkeiten die der Menschen, die sie hervor-gebracht haben, weit übersteigen. Allgemeiner ausgedrückt: Herausforderungen, die der Person interessant erschienen, als sie noch ein Mensch war, könnten trivial und damit uninteressant für sie werden, wenn sie posthumane Fähigkeiten erwirbt.

Antwort: Es ist nicht klar, warum die Fähigkeit, etwas Komplexeres oder Sub-tileres zu schätzen, es unmöglich machen sollte, einfachere Dinge zu schätzen. Ein Fan von Cézanne(17) mag es immer noch genießen, einen Sonnenaufgang zu be-obachten.

Selbst wenn es für posthumane Wesen unmöglich wäre, einige einfache Dinge zu schätzen, könnten sie dies durch die Schaffung neuer kultureller Reichtümer kom-pensieren.

Zumindest innerhalb des menschlichen Bereichs der kognitiven Fähigkeit scheint es so zu sein, dass die intellektuellen Projekte, die man in Angriff nehmen kann, umso zahlreicher und bedeutungsvoller sind, je größer die eigene Fähigkeit ist. Wenn der Verstand wächst, wird man nicht nur besser darin, intellektuelle Pro-bleme zu lösen – es eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten der Bedeutung und der kreativen Vorhaben.

Einwand: Posthumanes Talent schafft die Voraussetzungen für posthumanes Ver-sagen. Ein großes Potenzial zu haben, kann zu einem großartigen Leben führen, wenn das Potenzial verwirklicht und zu einem erstrebenswerten Zweck eingesetzt wird, aber es kann ebenso zu einem tragischen Leben führen, wenn das Potenzial verschwendet wird. Es ist besser, mit bescheidenen Fähigkeiten ein gutes Leben zu führen als ein schlechtes Leben mit herausragenden Fähigkeiten.

Antwort: Es ist nicht klar, warum posthumane Fähigkeiten mit größerer Wahr-scheinlichkeit verschwendet würden als menschliche Fähigkeiten. Ich habe vo-rausgesetzt, dass die posthumane Referenzgesellschaft ihren posthumanen Be-wohner*innen Erleichterungen und Möglichkeiten bietet, die weitgehend denen entsprechen, die die heutige Gesellschaft den Menschen bietet. Wenn Posthumane eher dazu neigen, ihr Potenzial zu vergeuden, muss dies also interne, psychologi-sche Gründe haben. Aber Posthumane müssen nicht schlechter sein als Menschen, was ihre Bereitschaft angeht, das Beste aus ihrem Leben zu machen.18

12. Schlussfolgerung

Ich habe argumentiert, erstens, dass einige posthumane Seinsweisen äußerst loh-nend wären; und zweitens, dass es für die meisten Menschen gut sein könnte, post-human zu werden.

Ich habe drei allgemeine zentrale Fähigkeiten – Gesundheitsspanne, Kognition und Emotion – für den größten Teil dieses Artikels separat diskutiert. Einige mei-ner Argumente werden jedoch noch verstärkt, wenn man die Möglichkeit in Be-tracht zieht, diese Fähigkeiten zu kombinieren. Eine längere Gesundheitsspanne ist wertvoller, wenn man die kognitive Fähigkeit besitzt, in kreativen Bemühungen und intellektuellem Wachstum praktisch unerschöpfliche Sinnquellen zu finden. Sowohl die Gesundheit als auch die Kognition sind wertvoller, wenn man über die emotionale Fähigkeit verfügt, das Leben zu genießen und Freude an geistiger Ak-tivität zu haben.

Aus der in diesem Aufsatz gegebenen Definition von „posthuman“ folgt trivia-lerweise, dass wir zum Zeitpunkt des Schreibens nicht posthuman sind. Es folgt nicht, zumindest nicht auf offensichtliche Weise, dass ein Posthuman nicht auch ein Mensch bleiben könnte. Ob dies so ist oder nicht, hängt davon ab, welche Be-deutung wir dem Wort „Mensch“ beimessen. Man könnte durchaus eine expansive Sichtweise dessen annehmen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, in diesem Fall ist „posthuman“ als Bezeichnung für einen bestimmten möglichen Typus mensch-licher Seinsweise zu verstehen – wenn ich richtig liege, ein überaus erstrebenswerter Typus.19 Weiterführende Literatur

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Einführender Kommentar zu Stuart Russells „Human Compatible“

von Karina VidaStuart Jonathan Russell (geb. 1962) ist ein britischer Informatiker, der besonders für seine Beiträge auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz bekannt ist. Er erhielt 1982 seinen Bachelor in Physik an der University of Oxford und 1986 seinen Dok-tor der Informatik von der Stanford University . Anschließend wechselte er an die Fakultät der University of California in Berkeley, wo er Professor für Elektrotechnik und Informatik, Inhaber des Smith-Zadeh-Lehrstuhls für Ingenieurwissenschaften und Direktor des Center for Human-Compatible Artificial Intelligence (CHAI) wur-de. Seine Forschung deckt ein breites Spektrum von Themen der künstlichen In-telligenz ab, darunter maschinelles Lernen, Wissensrepräsentation, Computerphy-siologie und philosophische Grundlagen. Zu seinen aktuellen Anliegen zählen die Bedrohung durch autonome Waffen und die langfristige Zukunft der künstlichen Intelligenz und ihre Beziehung zur Menschheit.

Russell ist neben Peter Norvig Co-Autor des Standardlehrbuchs zur künstlichen Intelligenz Artificial Intelligence: A Modern Approach (2010), welches in über 14 Sprachen übersetzt wurde. In dessen letztem Kapitel, What If AI Does Succeed? , fragen sich die Autoren, was passiert, wenn uns die Erschaffung der künstlichen Intelligenz gelingt. In seinem Buch Human Compatible: Künstliche Intelligenz und wie der Mensch die Kontrolle über superintelligente Maschinen behält (2020, Orig. 2019) widmet er sich den Fragen zur produktiven wie problematischen Beziehung zwischen Menschen und intelligenten Maschinen.

Ein besonderer Schwerpunkt liegt hierbei auf dem sogenannten Kontroll-Pro-blem der künstlichen Intelligenz. Das Problem beschreibt die Frage, wie eine (su-per-)intelligente Maschine konstruiert werden kann, sodass diese der Menschheit hilft und gleichzeitig verhindert, versehentlich eine Superintelligenz zu erschaffen,

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die der Menschheit schadet. Aufgrund seines Intellektes, und da das menschli-che Gehirn einige besondere Fähigkeiten besitzt, die anderen tierischen Gehirnen fehlen, dominiert derzeit der Mensch andere Lebewesen. Neben Bostrom1 und Tegmark2 argumentiert auch Russell, dass intelligente Maschinen deutlich schwe-rer zu kontrollieren sind, sobald sie die Menschheit in der allgemeinen Intelligenz übertreffen und superintelligent werden.

Im Gegensatz zu Bostrom lässt sich Russell allerdings nicht dem Post- bzw. Transhumanismus zuordnen. Für Russel ist künstliche Intelligenz ein Werkzeug zur Unterstützung – der Mensch soll also stets die Kontrolle und Macht über die Maschinen behalten. Wie er im sechsten Kapitel seines Buches Human Compati- ble ausführt, kann das Verschmelzen mit der Maschine dabei nicht die Lösung des Kontroll-Problems der künstlichen Intelligenz sein.

Ähnlich wie Kapp3 oder Gehlen4 geht auch Russell vom Menschen als „Mängel-wesen“ aus.5 Zwar sollen uns intelligente Maschinen helfen, besser Entscheidungen treffen zu können, aber bereits heute lassen sich Menschen von künstlicher Intelli-genz manipulieren. Folglich sind wir abhängig und gleichzeitig sogar manipulativ an-fällig für unsere eigene Kreation. Wie Russell im ersten Kapitel des Buches Human Compatible beschreibt, manipulieren uns schon heute Auswahl- und Empfehlungs-algorithmen in den sozialen Medien. Diese Algorithmen sind darauf ausgelegt, die Klickrate zu maximieren. Bei dieser manipulativen Blickverengung bekommen die Nutzer*innen nur solche Inhalte gezeigt, die ihnen auch gefallen. Dabei besteht eine weitere Manipulation auch darin, die Vorlieben der Nutzer*innen zu verändern. „Wie ein rationales Wesen lernt der Algorithmus, wie er den Zustand seiner Umgebung verändern kann, um die eigene Belohnung zu maximieren.“6

Für Russell zeigt sich in diesem simplen Beispiel, dass das Hauptproblem in der Definition von intelligenten Maschinen liegt. Wir definieren unsere Intelligenz dar-über, inwieweit unsere Handlungen darauf ausgerichtet sind, unsere Ziele zu errei-chen. Gleiches haben wir als Maßstab für die Intelligenz in Maschinen benutzt: Eine Maschine ist so intelligent, inwieweit ihre Handlungen darauf ausgerichtet sind, ihre Ziele zu erreichen.7 Für Russell ist diese Definition jedoch der falsche Ansatz.

Heute scheint der Traum von intelligenten Maschinen, die uns unterstützen, zum Greifen nahe. Gleichzeitig stehen wir als Spezies aber vor einem entscheidenden Wendepunkt. Wie können wir den Maschinen unsere Werte und Ziele beibringen, sodass wir nicht von ihnen verdrängt werden? Russells Antwort hierauf ist eine neue Definition von intelligenten Maschinen: Maschinen sind insoweit vorteilhaft , als ihre Handlungen darauf ausgerichtet sind, unsere Ziele zu erreichen.8 Maschi-nelle Intelligenz ist nicht an sich oder für sich , sondern für uns erstrebenswert. Hier-bei müssen wir uns dem Problem der Werteausrichtung stellen, was uns in das Ge-biet der Moralphilosophie bringt.

Im siebten Kapitel von Human Compatible, KI: Ein anderer Ansatz stellt Russell daher drei Prinzipien vor, die seiner Meinung nach sicherstellen sollen, dass wir intelligente Maschinen bauen können, die uns wie gewünscht unterstützen, aber gleichzeitig auch sicherstellen, dass wir stets die Kontrolle über sie behalten. Die drei Prinzipien, bei denen es sich „ausdrücklich nicht um in Stein gemeißelte Ge-setze für KI-Systeme [handelt]“9, lauten wie folgt:10

1. Das einzige Ziel der Maschine ist es, die Verwirklichung menschlicher Präferenzen zu maximieren.

2. Die Maschine ist zu Beginn unsicher, wie diese Präferenzen aussehen.

3. Die maßgebliche Quelle für Informationen über menschliche Präferenzen ist das menschliche Verhalten.

An dieser Stelle sei explizit darauf hingewiesen, dass Russell weder vorschlägt, ein zentrales idealisiertes Wertebild in alle Maschinen zu installieren, noch fordert, dass diese mit einer Ethik oder moralischen Werten ausgestattet werden. Zum ei-nen verdeutlicht das, dass Russell Menschen und Maschinen nicht auf eine gleiche (moralische) Ebene hebt, wodurch Unterschiede in den Kapazitäten von Menschen und Maschinen deutlich werden, und zum anderen löst er so geschickt das Problem nach der Frage, welche Ethik oder moralischen Werte denn nun in die Maschine hineingegeben werden sollen.

Erneut lassen sich Russells Ansichten mit denen von Kapp vergleichen: Zwar fin-det bei der Konstruktion von künstlicher Intelligenz keine unbewusste Organpro-jektion statt, allerdings geben die Überlegungen Rückschlüsse auf uns Menschen. Auch wenn wir uns nicht zwangsläufig in intelligenten Maschinen selbst wieder-erkennen, können wir durch sie etwas über uns lernen . Dadurch, dass wir nicht wissen, welche ethischen Werte wir in Maschinen integrieren sollen, stellen wir fest, dass wir das Problem sind. Wir Menschen sind nicht alle gleich oder wie Maschi-nen rationale Entitäten. Wäre dies der Fall, könnten Maschinen sehr leicht von uns lernen und wir wüssten, welche moralischen Ansichten wir der künstlichen Intelli-genz implementieren sollten. Durch den Unterschied, den Menschen zu Maschinen aufweisen, können wir nicht nur problematisieren, ob und wie Intelligenz über-haupt definiert werden kann bzw. soll, wir können darüber hinaus auch lernen, was Mensch-Sein ausmachen könnte.

Russell schließt seine Überlegungen damit, dass es in der Gegenwart keine pas-senden Beispiele gibt, wie die zukünftige Beziehung zwischen Menschen und „vor-teilhaften intelligenten Maschinen“11 aussehen kann. Klassische Metaphern wie die der Eltern-Kind-Beziehung oder von Haus- und Zootieren erscheinen überholt. „Es bleibt [daher] abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln.“12 In Human Compatible zeigt Russell auf, dass wir unsere Vorstellungen von intelligenten Maschinen und deren Ziele überdenken sollten. Der nachfolgende Auszug aus Human Compatible stellt die wichtigsten philosophischen Überlegungen Russells in Anbetracht einer möglichen Superintelligenz dar.

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Stuart Russell: Human Compatible. Künstliche Intelligenz und wie der Mensch die Kontrolle über superintelligente Maschinen behält (2019)1

Kapitel 5: Übermäßig Intelligente KI(2)

Zukunft, die wir ihr zugestehen. Wir möchten uns den superintelligenten Maschi-nen gegenüber bestimmt nicht in der gleichen Lage befinden. Ich nenne dies das Gorilla Problem . Es geht darum, ob die Menschen ihre Überlegenheit und Auto-nomie in einer Welt beibehalten können, in der es auch Maschinen mit einer erheb-lich höheren Intelligenz gibt. Charles Babbage(3) und Ada Lovelace(4), die 1842 die Analytical Engine konstruierten und programmierten, waren sich des Potenzials dieser Maschine bewusst, hatten aber, soweit wir wissen, diesbezüglich keinerlei Bedenken.5 Allerdings wetterte Richard Thornton, Herausgeber der religiösen Zeit-schrift Primitive Expounder , 1847 gegen mechanische Rechenmaschinen.6

Dieser Text ist vielleicht die erste Überlegung hinsichtlich des existenziellen Risi-kos, das Rechenmaschinen darstellen – aber er ist recht unbekannt. Im Gegensatz dazu war Samuel Butlers(7) 1872 veröffentlichtem Roman Erewhon oder jenseits der Berge, der das Thema sehr viel detaillierter aufgriff, sofortiger Erfolg beschieden. Erewhon ist ein Land, in dem alle mechanischen Apparate nach einem schreckli-chen Bürgerkrieg zwischen Maschinisten und Anti-Maschinisten verbannt wurden. Ein Teil des Buchs mit dem Titel „Das Buch der Maschinen“ erläutert die Ursprünge des Kriegs und stellt die Argumente beider Parteien vor.8 Er stellt die Anfang des 21. Jahrhunderts neu aufgeflammte Debatte gespenstisch genau dar. Die Anti-Ma-schinisten führen vor allem die Behauptung ins Feld, dass Maschinen irgendwann so fortgeschritten sind, dass der Mensch die Kontrolle über sie verliert: „Schaffen wir uns nicht selbst in ihnen unsere Nachfolger als Herrn der Erde, indem wir täg-lich die Schönheit und Feinheit ihrer Organisation vergrößern, täglich ihnen grö-ßere Geschicklichkeit verleihen und immer mehr von jener sich selbst regulieren-den, selbstständigen Kraft mitteilen, welche mehr wert ist als jede Art von Geist? […] Allein wir stehen vor der Alternative: entweder jetzt schwere Leiden erdulden zu müssen oder uns von unseren eigenen Geschöpfen allmählich überholt zu sehen, bis wir am Ende im Vergleich zu ihnen nicht höher rangieren als die Tiere des Fel-des im Verhältnis zu uns.“9

Der Erzähler nennt auch das wesentliche Gegenargument der Pro-Maschinisten, das die Mensch-Maschine-Symbiose vorwegnimmt, auf die wir im nächsten Kapitel noch eingehen: „Nur von einer Seite wurde ein ernstlicher Angriff gegen sie unter-nommen. Der Autor dieser Gegenschrift argumentierte etwa so: Die Maschinen sind anzusehen als ein Teil der physischen Natur des Menschen; sie sind im Grunde nichts weiter als Glieder außerhalb des Körpers.“10

Zwar gewinnen die Anti-Maschinisten in Erewhon die Diskussion, aber Butler selbst scheint hin- und hergerissen zu sein. So beklagt er sich einerseits, dass Er-ewhonier seien „schnell bereit, den gesunden Menschenverstand auf dem Altar der Logik zu opfern, wenn ein Philosoph unter ihnen aufsteht, der sie durch seinen Ruf für besondere Gelehrsamkeit mitreißt“ und sagt: „Sie sind bereit, sich für die Ma-schinen selbst zu opfern.“ Andererseits beschreibt er eine erstaunlich harmonische, produktive und geradezu idyllische erewhonische Gesellschaft. Die Erewhonier er-kennen die Torheit, sich erneut auf den Weg der mechanischen Intervention zu begeben, und stellen die Überreste der Maschinen in Museen aus „in der Weise eines Altertumsforschers, der sich für Druidensteine oder Pfeilspitzen aus Feuer-stein interessiert.“

Alan Turing(11) kannte den Roman. In einem Vortrag, den er 1951 in Manches-ter hielt, machte er sich Gedanken über die langfristige Zukunft der KI:12 „Es er-scheint wahrscheinlich, dass Maschinen, nachdem sie auf ihre Weise zu denken begonnen haben, nicht lange benötigen, um unsere geringe Leistung zu übertreffen. Maschinen sterben natürlich nicht. Und sie könnten sich miteinander unterhalten, um ihren Verstand zu schärfen. Irgendwann müssen wir damit rechnen, dass die Maschinen die Kontrolle übernehmen, wie Samuel Butler es in Erewhon zeigt.“

Im selben Jahr wiederholte Turing seine Bedenken in einer auf BBC  3 ausge-strahlten Radiosendung: „Wenn eine Maschine denken kann, dann könnte sie auch intelligenter denken, als wir es tun; und wo stehen wir dann? Selbst wenn wir es schaffen, die Maschinen in einer untergeordneten Stellung zu halten, indem wir sie beispielsweise im passenden Moment ausschalten, dann sollten wir als Spezies uns dennoch sehr gedemütigt fühlen […] Diese neue Gefahr […] ist sicherlich etwas, das uns ängstigen könnte.“

Als die Anti-Maschinisten in Erewhon „ehrliche Besorgnis für die Zukunft he-gen“, sehen sie es als ihre „Pflicht, dem Übel zu steuern, so lange es noch in [ihrer] Macht steht“, und zerstören alle Maschinen. Turings Antwort auf die neue „Ge-fahr“ und die „Angst“ davor besteht darin, bei Bedarf „den Strom abzuschalten“ (allerdings werden wir schon bald sehen, dass das nicht wirklich eine Option ist). In Frank Herberts(13) Science-Fiction-Klassiker Der Wüstenplanet hat die Mensch-heit einer sehr fernen Zukunft knapp Butlers Djihad überlebt, einen katastrophalen Krieg gegen die „denkenden Maschinen“. Daraus entsteht ein neues Gebot: „Du sollst keine Maschine nach deinem geistigen Eigenbild machen.“ Das schließt Re-chenapparate jeder Art ein.

All diese drastischen Reaktionen spiegeln die innere Furcht vor Maschinenintel-ligenz wider. Ja, die Vorstellung, superintelligenter Maschinen erregt Unbehagen. Ja, es ist rein logisch möglich, dass solche Maschinen die Welt übernehmen und sich die menschliche Rasse unterwerfen oder sie sogar auslöschen. Wenn wir al-lein danach gehen, ist die einzig vernünftige Reaktion, sofort jede Forschung an der künstlichen Intelligenz einzuschränken und insbesondere die Entwicklung und Verbreitung einer dem Menschen ebenbürtigen allgemeinen KI in welcher Form auch immer zu verbieten.

Wie die meisten KI-Forscher schaudert es mich bei diesem Gedanken. Wie kann es jemand wagen, mir vorzuschreiben, worüber ich nachdenken darf und worüber nicht? Jeder, der die Einstellung der KI-Forschung fordert, muss wirklich gute Ar-gumente auf seiner Seite haben und viel Überzeugungsarbeit leisten. Das Ende der KI-Forschung würde nicht nur einen wichtigen Weg zu einem besseren Verständnis der menschlichen Intelligenz versperren, sondern auch eine großartige Möglichkeit verhindern, das Leben der Menschen zu verbessern und eine sehr viel bessere Zivi-lisation zu schaffen. Der wirtschaftliche Wert einer dem Menschen ebenbürtigen KI lässt sich mit Tausenden von Billionen US-Dollar beziffern. Konzerne und Regie-rungen dürften daher am Fortbestand der KI-Forschung sehr interessiert sein. Ihr Gewicht ist weit größer als das eines Philosophen, egal welchen „Ruf für besondere Gelehrsamkeit“ dieser auch haben mag.

Ein weiterer Nachteil eines solchen Forschungsverbots ist die Schwierigkeit, es durchzusetzen. Fortschritte auf dem Weg zu einer allgemeinen KI werden meist auf den Tafeln und Whiteboards in Forschungseinrichtungen weltweit gemacht, und zwar bei der Aufstellung und Lösung mathematischer Probleme. Niemand weiß im Voraus, welche Ideen und Gleichungen man verbieten muss. Selbst wenn wir es wüssten, ist es kaum vernünftig, anzunehmen, dass ein solches Verbot durchsetzbar oder wirksam wäre.

Noch komplizierter wird die Sache dadurch, dass Forscher oft an anderen Dingen arbeiten und dabei indirekt zum Fortschreiten einer allgemeinen KI beitragen. Wie ich bereits gezeigt habe, führt die Forschung an spezifischen KI-Tools für Anwen-dungen wie Spiele, medizinische Diagnosen und Reiseplanungen oft zu Fortschrit-ten bei Techniken, die sich auch bei vielen anderen Problemen einsetzen lassen und uns einer dem Menschen ebenbürtigen KI näherbringen.

Aus all diesen Gründen ist es eher unwahrscheinlich, dass die KI-Community oder die Regierungen und Konzerne, die über Gesetze und Forschungsmittel be-stimmen, das Gorilla-Problem durch ein Verbot bestimmter KI-Forschungen lösen. Fakt ist: Wenn die einzige Lösung des Problems in diesem weg besteht, wird es nicht gelöst werden.

Der Ansatz, der vermutlich am besten funktioniert, besteht darin, zu ergründen, warum die Erschaffung einer besseren KI vielleicht schlecht ist. Und die Antwort auf diese Frage kennen wir schon seit mehreren Tausend Jahren. Das König-Midas-Problem

Norbert Wiener(14) hat in vielen Gebieten tiefe Spuren hinterlassen, darunter in der künstlichen Intelligenz, in den Kognitionswissenschaften und in der Kontrolltheo-rie. Anders als die meisten seiner Zeitgenossen interessierte er sich besonders für die Unvorhersehbarkeit komplexer Systeme in der Realität. (Er schrieb seine erste Abhandlung zu diesem Thema im Alter von zehn Jahren.) Er war überzeugt davon, dass das übertriebene Vertrauen der Wissenschaftler und Techniker in ihre eigenen Fähigkeiten, ihre Schöpfungen zu kontrollieren – gleich ob militärischer oder zivi-ler Natur –, katastrophale Folgen haben könnte.

1950 veröffentlichte Wiener das Buch Mensch und Menschmaschine – Kybernetik und Gesellschaft .15 Im englischen Klappentext heißt es: „Das ,mechanische Gehirn‘ und ähnliche Maschinen können menschliche Werte zerstören oder uns dabei hel-fen sie besser als jemals zuvor umzusetzen.“16 Er verfeinerte seine Ideen im Laufe der Zeit immer weiter und war 1960 zu einem Hauptproblem vorgedrungen, näm-lich der Unmöglichkeit, die wahren menschlichen Ziele korrekt und vollständig zu definieren. Dies bedeutet wiederum, dass das von mir sogenannte Standardmo-dell – nach dem Menschen versuchen, Maschinen ihre eigenen Ziele vorzugeben – zum Scheitern verurteilt ist.

Wir können dies das König-Midas-Problem nennen: Midas, ein legendärer König der griechischen Mythologie, bekam genau das, was er sich wünschte: Alles, was er berührte, sollte zu Gold werden. Zu spät erkannte er, dass dies auch seine Spei-sen, seine Getränke und seine Familie einschloss. Er starb an Trübsal und Hunger. Dieses Thema ist in der menschlichen Mythologie allgegenwärtig. Wiener zitiert Goethes Zauberlehrling, der den Besen anweist, Wasser zu holen. Aber er vergisst, die Menge vorzugeben, und weiß nicht, wie er dem Besen Einhalt gebieten kann.

Technisch ausgedrückt, könnten wir an einer Werteausrichtung scheitern und – möglicherweise versehentlich – Maschinen Ziele vorgeben, die nicht ganz mit unse-ren eigenen übereinstimmen. Bis vor Kurzem haben uns die begrenzten Fähigkeiten intelligenter Maschinen und ihr begrenzter Einfluss auf die Welt vor möglicherwei-se katastrophalen Folgen geschützt. (Tatsächlich wurde KI normalerweise in For-schungseinrichtungen auf Spielzeugprobleme angesetzt.) 1964 beschrieb Norbert Wiener, das in seinem Buch God & Golem, Inc. so:17 „Früher war eine partielle und unzureichende Auffassung von den Funktionen des Menschen nur deshalb relativ harmlos, weil sie von technischen Beschränkungen begleitet war. […] Dies ist nur eins der vielen Gebiete, auf denen menschliche Unfähigkeit uns bis jetzt vor dem vollen vernichtenden Ausbruch menschlicher Torheit bewahrt hat.“

Leider lässt die Wirksamkeit dieses Schutzschildes rasant nach. Wir haben bereits gesehen, wie Content-Algorithmen in den sozialen Medien im Namen maximaler Werbeprofite für Chaos in der Gesellschaft gesorgt haben. Sie mögen einwenden, dass maximale Werbeprofite ein schändliches Ziel sind, das niemals hätte verfolgt werden dürfen. Nehmen wir also ein edleres Ziel und fordern ein superintelligentes System der Zukunft dazu auf, ein Heilmittel gegen den Krebs zu finden. Je schneller, desto besser, denn schließlich fordert die Krankheit alle 3,5 Sekunden ein Todes-opfer. Nach wenigen Stunden hat das KI-System die gesamte biomedizinische Lite-ratur gelesen und Millionen von hypothetisch wirksamen, aber bisher ungetesteten chemischen Verbindungen gefunden. Einige Wochen darauf hat es jedem lebenden Menschen unterschiedliche Tumoren eingepflanzt, um diese Verbindungen in me-dizinischen Studien zu erproben, denn das ist der schnellstmögliche Weg, ein Heil-mittel zu finden. Ach du …

Sie möchten lieber etwas für den Umweltschutz tun? Dann lassen wir die Ma-schine nach einer Maßnahme suchen, um die rasante Übersäuerung der Ozeane aufzuhalten, die durch einen zu hohen Kohlendioxidgehalt entsteht. Die Maschine entwickelt einen neuen Katalysator, der eine extrem rasche Reaktion zwischen Oze-an und Atmosphäre fördert und so die pH-Werte der Weltmeere wieder herstellt. Leider wird dabei ein Viertel des Sauerstoffs in der Atmosphäre verbraucht, sodass wir Menschen langsam und elend ersticken. Ach du …

Diese Weltuntergangsszenarien sind grob gestrickt – und das erwartet man von ihnen ja auch. Aber es gibt viele Fälle, in denen eine Art geistiger Erstickungstod droht, der „geräuschlos und unbemerkt über uns kommt“. In der Einleitung von Leben 3.0 beschreibt Max Tegmarkdetailliert ein Szenario, in dem eine superintelli-gente Maschine nach und nach die wirtschaftliche und politische Kontrolle über die gesamte Welt erlangt, ohne dass jemand dies bemerkt. Das Internet und die davon unterstützten globalen Maschinen – mit denen bereits Milliarden von „Nutzern“ täglich interagieren – bieten einen perfekten Nährboden für eine wachsende Kont-rolle durch Maschinen über den Menschen.

Ich glaube nicht, dass das der Maschine vorgegebene Ziele lauten wird, die Welt-herrschaft zu übernehmen. Es geht wahrscheinlich in erster Linie um Gewinnmaxi-mierung oder Maximierung der Zeit, die Nutzer damit verbringen. Vielleicht auch um augenscheinlich noble Ziele wie mehr individuelles Glück, gemessen in Glücks-Indizes, oder um einen geringeren Energieverbrauch. Wenn wir uns als Wesen se-hen, deren Aktionen darauf ausgerichtet sind, unsere Ziele zu erreichen, dann gibt es zwei Möglichkeiten, um unser Verhalten zu ändern.

Die erste ist ganz klassisch: Erwartungen und Ziele bleiben unangetastet, aber die Bedingungen werden verändert. Vielleicht wird uns Geld angeboten, eine Pis-tole an die Stirn gehalten, oder man lässt uns hungern, bis wir nachgeben. Das ist teuer und für einen Computer nicht gerade praktikabel. Aber der zweite Weg, näm-lich das Verändern unserer Erwartungen und Ziele, liegt durchaus im Rahmen der Möglichkeiten einer Maschine. Sie interagieren schließlich jeden Tag viele Stunden damit. Die Maschine steuert Ihren Zugang zu Informationen und sorgt für Ihre Un-terhaltung in Form von Spielen, Fernsehkanälen, Filmen und sozialen Kontakten.

Die Reinforcement-Learning-Algorithmen(18), mit denen die Klickrate in sozia-len Medien optimiert wird, sind nicht in der Lage, über das menschliche Verhalten nachzudenken. Sie wissen letztendlich noch nicht einmal, dass es Menschen gibt. Für Maschinen mit einem sehr viel umfassenderen Verständnis der menschlichen Psychologie, unserer Vorstellungen und Antriebe wäre es ein Leichtes, uns vor-sichtig auf Pfade zu leiten, auf denen wir zunehmend Gefallen an den Zielen der Maschine finden. Ein Beispiel: Sie könnte uns helfen, unseren Energieverbrauch zu senken, indem sie uns davon überzeugt, weniger Kinder in die Welt zu setzen und so schließlich – und unabsichtlich – die Träume der antinatalistischen Philosophie verwirklichen, die den schädlichen Einfluss der Menschheit auf die Natur ausmer-zen wollen.

Mit ein wenig Übung erkennen Sie schnell, wie das Erreichen von mehr oder we-niger jedem festgelegten Ziel zu beliebig schlechten Resultaten führen kann. Eines der häufigsten Muster besteht darin, das Ziel nicht konkret genug zu formulieren und dabei ein wichtiges Element unter den Tisch fallen zu lassen. Wie der Flaschen-geist mit den drei Wünschen findet das KI-System eine optimale Lösung, in der dieses unerwähnte, aber wichtige Element auf einen haarsträubenden Wert gesetzt wird. Wenn Sie zum Beispiel ein selbstfahrendes Auto auffordern: „Bring mich so schnell wie möglich zum Flughafen!“, dann wird es dies wortwörtlich umsetzen und mit 200 Sachen über die Landstraße heizen. Das kann dann zu langen Diskussio-nen mit einem Polizisten und vielleicht sogar zu einer Gefängnisstrafe führen und Sie verpassen den Flieger. (Zum Glück nehmen die fahrerlosen Autos von heute solche Anweisungen nicht an.) Aber auch die Aufforderung „Bring mich so schnell wie möglich zum Flughafen, aber ohne die Geschwindigkeitsbeschränkungen zu überschreiten“ kann unerwünschte Ergebnisse haben: Das Auto beschleunigt und bremst rasant, fädelt sich durch den Verkehr und fährt immer mit der maximal möglichen Geschwindigkeit. Vielleicht drängt es sogar andere Fahrzeuge ab, weil es dadurch ein paar Sekunden wettmachen kann. So tasten Sie sich langsam vor, bis irgendwann genug Parameter und Eventualitäten berücksichtigt sind und die Fahrt der eines geschickten menschlichen Chauffeurs ähnelt, der jemanden, der es eilig hat, zum Flughafen bringt.

Fahren ist eine einfache Aufgabe, die nur auf lokale Gegebenheiten Rücksicht nehmen muss. Die aktuellen KI-Systeme für das Fahren sind nicht sonderlich in-telligent. Daher lassen sich viele mögliche Probleme im Voraus erahnen. Andere werden in Fahrsimulatoren oder bei zahlreichen Testfahrten mit menschlichen Fahrern, die im Versagensfall eingreifen, aufgedeckt. Wieder andere Probleme, die durch diese Maschen geschlüpft sind, treten erst im Realbetrieb auf, wenn während der Fahrt etwas Seltsames geschieht.

Bei superintelligenten Systemen mit globaler Auswirkung sind wir allerdings in einer Zwickmühle: Es gibt weder Simulatoren noch eine Reset-Taste. Es ist für bloße Menschen wie uns extrem schwierig, wenn nicht unmöglich, alle katastrophalen Möglichkeiten, für die sich die Maschine zur Erreichung eines vorgegebenen Ziels entscheiden könnte, vorherzusehen und zu verhindern. Im Großen und Ganzen gilt: Wenn Sie ein Ziel haben und die superintelligente Maschine ein anderes damit in Konflikt stehendes Ziel hat, gewinnt am Ende die Maschine. Furcht und Gier: maßgebliche Ziele

Eine Maschine, die ein falsches Ziel verfolgt – das klingt schon erschreckend. Aber es kann noch schlimmer kommen: Die von Alan Turing vorgeschlagene Lösung – im richtigen Moment den Stecker zu ziehen – ist vielleicht aus einem ganz einfa-chen Grund nicht umsetzbar: Tote holen keinen Kaffee.

Lassen Sie mich erklären, was ich damit meine. Nehmen wir an, eine Maschine erhält den Auftrag, Kaffee zu holen. Sie ist hinreichend intelligent und weiß auf jeden Fall, dass sie den Auftrag (das Ziel) nicht erreichen kann, wenn sie vor Er-reichen des Ziels (Kaffee holen) abgeschaltet wird. Das vorgegebene Ziel (Kaffee holen) bedingt also ein notwendiges Teilziel (den Ausschalter deaktivieren). Das Gleiche gilt entsprechend für die Suche nach einem Heilmittel gegen Krebs oder die Berechnung von Pi. Wer tot ist, kann keine Aufträge erfüllen. Wir können also davon ausgehen, dass KI-Systeme mit praktisch jedem klar umrissenen Ziel dafür sorgen werden, dass ihre eigene Existenz erhalten bleibt.

Wenn das Ziel konträr zu den menschlichen Wünschen ist, finden wir uns im Plot von 2001: Odyssee im Weltraum wieder. In diesem Film tötet der Bord-computer HAL 9000 vier der fünf Astronauten an Bord des Raumschiffs, um deren Eingreifen in die Mission zu verhindern. Dave, der überlebende Astro-naut, schafft es nach einem epischen geistigen Wettkampf schließlich, HAL ab-zuschalten (vermutlich damit der Film anschließend noch eine Handlung hat). Wäre HAL wirklich superintelligent gewesen, hätte er Dave abgeschaltet, nicht umgekehrt.

Ich möchte hier betonen, dass Selbsterhaltung keinen in die Maschine eingebau-ten Instinkt oder ein oberstes Gebot voraussetzt. (Und Isaac Asimovs(19) drittes Ro-botergesetz,20 das mit den Worten „Ein Roboter muss seine Existenz beschützen“ beginnt, ist damit komplett überflüssig.) Der Wille zur Selbsterhaltung muss der Maschine nicht eingegeben werden, weil die Selbsterhaltung ein maßgebliches Ziel ist, ein nützliches Teilziel für praktisch jedes vorgegebene Ziel.21 Ein Wesen oder eine Entität mit einem klar umrissenen Ziel wird stets so handeln, als wären ihm auch maßgebliche Ziele vorgegeben worden.

In unserer Gesellschaft gibt es neben dem Ziel, am Leben zu bleiben noch ein weiteres maßgebliches Ziel: Geld zu haben. Es ist also gut möglich, dass eine intel-ligente Maschine Geld haben möchte. Nicht etwa, weil sie gierig ist, sondern weil Geld ein praktischer Hebel zum Erreichen der unterschiedlichsten Ziele ist. Im Film Transcendence wird Johnny Depps Geist in einen Quantensupercomputer(22)übertragen. Die erste Amtshandlung der Maschine besteht darin, sich auf Millionen mit dem Internet verbundene Computer zu kopieren, damit sie nicht abgeschaltet werden kann. Anschließend verschafft sie sich mit einem Coup an der Börse die nötigen Geldmittel, um ihre Expansionspläne zu finanzieren.

Diese Pläne umfassen die Entwicklung und Konstruktion eines sehr viel größeren Quantensupercomputer, KI-Forschung sowie die Entdeckung neuen Fachwissens in Physik, Neurowissenschaft und Biologie. Diese Ressourcenziele  – Rechenleis-tung, Algorithmen und Wissen – sind dabei auch maßgebliche Teilziele, mit denen sich praktisch jedes übergeordnete Ziel erreichen lässt.23 Sie wirken auf den ersten Blick harmlos, bis man erkennt, dass der Erwerb dieser Ressourcen grenzenlos ver-folgt wird. Das scheint auf einen unausweichlichen Konflikt mit den Menschen hin-auszulaufen. Und natürlich kann die Maschine dank der sehr viel besseren Modelle menschlicher Entscheidungsfindung jeden unserer Züge vorausberechnen und im Keim ersticken. Intelligenzexplosionen

Der brillante Mathematiker Irving John Good(24) arbeitete gemeinsam mit Alan Tu-ring in Bletchley Park an der Entschlüsselung deutscher Codes im zweiten Welt-krieg. Er teilte Turings Interesse an Maschinenintelligenz und statistischer Inferenz. 1965 schrieb er seinen heute bekanntesten Aufsatz mit dem Titel „Speculations Concerning the First Ultraintelligent Machine“ (etwa: Überlegungen zur ersten ultraintelligenten Maschine).25 Schon der erste Satz zeigt, dass Good – alarmiert von der waghalsigen Politik des Kalten Kriegs an der Schwelle zu einem Atom-krieg – die KI als möglichen Retter der Menschheit erachtete: „Das Überleben der Menschheit hängt vom rechtzeitigen Bau einer ultraintelligenten Maschine ab.“ Im weiteren Verlauf des Artikels wird er etwas besonnener. Er stellt das Konzept einer Intelligenzexplosion auf und sorgt sich, wie schon Butler, Turing und Wiener vor ihm, um einen Kontrollverlust: „Sei eine ultraintelligente Maschine definiert als Maschine, die alle geistigen Aktivitäten selbst der klügsten Menschen bei Weitem übertrifft. Da zu diesen geistigen Aktivitäten auch die Konstruktion von Maschinen gehört, wäre eine ultraintelligente Maschine in der Lage, noch bessere Maschinen zu konstruieren. Es würde zweifellos zu einer ,Intelligenzexplosion‘ kommen und die menschliche Intelligenz bliebe weit zurück. Somit wäre die erste ultraintelli-gente Maschine auch die allerletzte Erfindung, die die Menschheit jemals machen muss, sofern die Maschine gefügig genug ist, uns zu verraten, wie wir die Kontrolle über sie behalten. Es erscheint mir seltsam, dass kaum jemand außerhalb der Sci-ence-Fiction zu diesem Schluss kommt.“

Dieser Absatz wird in Gesprächsrunden zu superintelligenten KI-Systemen gern zitiert. Allerdings fällt der Warnruf am Ende gern unter den Tisch. Goods Stand-punkt lässt sich noch dadurch verstärken, dass die ultraintelligente Maschine ihren eigenen Entwurf nicht nur verbessern könnte , sondern dies aller Wahrscheinlich-keit nach auch tun würde , da – wie wir bereits gesehen haben – eine intelligente Maschine davon ausgeht, durch eine bessere Hard- und Software Vorteile zu er-langen. Die Möglichkeit für eine Intelligenzexplosion wird oft als Hauptgefahr für die Menschheit genannt, die von einer KI ausgeht, da wir kaum Zeit hätten, das Kontrollproblem zu lösen.26

Goods Argument ist stimmig, vor allem wenn wir die natürliche Analogie einer chemischen Explosion betrachten, bei der jede molekulare Reaktion genug Energie freigibt, um mehr als eine weitere Reaktion auszulösen. Andererseits ist es logisch möglich, dass eine Verbesserung der Intelligenz zu abnehmenden Erträgen führen und der Prozess schließlich im Sande verlaufen würde, statt eine Explosion zu ver-ursachen.27 Es gibt keinen offenkundigen Weg zu beweisen, dass eine Explosion in jedem Fall stattfinden wird.

Dieser Fall der sinkenden Erträge ist es wert, sich näher damit zu befassen. Er könnte eintreten, wenn eine bestimmte prozentuale Verbesserung mit zunehmen-der Intelligenz der Maschine immer schwieriger zu erreichen ist. (Ich gehe bei die-ser Betrachtung vereinfachend davon aus, dass sich die allgemeine Intelligenz einer Maschine auf einer linearen Skala messen lässt. Allerdings bezweifle ich, dass diese Annahme jemals exakt zutreffen wird.) Das würde bedeuten, dass auch wir Men-schen keine Superintelligenz erschaffen können. Denn wenn einer Maschine, die bereits übermenschlich leistungsfähig ist, beim Versuch, die eigene Intelligenz zu optimieren, die Puste ausgeht, dann werden wir Menschen noch viel eher aufgeben.

Bisher hat noch niemand in meinem Beisein ernsthaft argumentiert, dass das Erreichen eines gewissen Grads an Maschinenintelligenz außerhalb des mensch-lichen Einfallsreichtums oder unserer Fähigkeiten liegt. Aber ich denke, wir sollten dies durchaus als logisch mögliche Option betrachten. „Logisch möglich“ und „Ich bin bereit, die Zukunft der menschlichen Rasse darauf zu verwetten“ sind natürlich zwei völlig verschiedene Dinge. Eine Wette gegen den menschlichen Einfallsreich-tum scheint mir keine besonders gute Strategie zu sein.

Falls es zu einer Intelligenzexplosion kommt und wir das Kontrollproblem bis dahin nicht in den Griff bekommen haben (also beispielsweise nicht verhindern können, dass die Maschinen sich selbst optimieren), dann haben wir auch nach diesem Ergebnis keine Chance mehr, das Kontrollproblem zu lösen und das Spiel ist aus. Das entspricht Bostroms Szenario eines schnellen Take-offs , in dem sich die Intelligenz der Maschinen binnen Tagen oder Wochen astronomisch verbessert. Mit Turings Worten ist das „sicherlich etwas, vor dem wir uns ängstigen können“.

Es gibt mehrere mögliche Reaktionen auf diese Angst: Wir können uns aus der KI-Forschung verabschieden, die Risiken bei der Entwicklung fortschrittlicher KI-Systeme verleugnen, versuchen, die Gefahren zu verstehen und durch die Kons-truktion von Systemen, die nicht ohne die menschliche Kontrolle funktionieren können, abzumildern, oder einfach aufgeben und die Zukunft den intelligenten Maschinen überlassen.

Die Alternativen Verleugnung und Abmilderung werde ich im weiteren Verlauf aufgreifen. Ich habe ja bereits gezeigt, dass ein Rückzug aus der KI-Forschung eben-so unwahrscheinlich (aufgrund der vielen Vorteile, die uns dadurch entgehen) wie schwierig durchzusetzen ist. Und aufzugeben dürfte die schlechteste aller Reaktio-nen sein. Resignation geht oft mit der Idee einher, dass KI-Systeme, die intelligenter als wir Menschen sind, es auf die eine oder andere Weise verdienen , den Planeten zu erben und den Menschen sanft in den ewigen Schlaf zu entlassen im seligen Bewusstsein, dass unser brillantes elektronisches Erbe seine Ziele geschäftig ver-folgt. Zu den Verfechtern dieser Ansicht gehört der Robotiker und Futurist Hans Moravec(28),29 der schreibt: „In den unendlichen Weiten des Cyberspace wird es von nicht menschlichen Superhirnen wimmeln, die sich mit Angelegenheiten beschäf-tigen, im Vergleich zu denen menschliche Belange genauso wichtig sind wie für uns die Belange von Bakterien.“ Das sieht nach einem Fehler aus. Für Menschen definiert sich Wert in erster Linie durch bewusstes, menschliches Erleben. Ohne Menschen und andere bewusste Entitäten, deren subjektive Erfahrung uns wichtig ist, geschieht nichts von Wert. Weiterführende Literatur

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