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: Amerikas

Amerikas

Inhalt

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Anja Bandau ( abandau@zedat.fu-berlin.de ) ist Juniorprofessorin für Lateinamerika- nistik am Lateinamerika-Institut der FU Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind hispanophone und frankophone Literaturen und Kulturen in den USA und der Karibik; Diaspora und Literatur sowie transatlantische Wissenszirkulation: Repräsentationen der haitianischen Revolution 1790-1848, postkoloniale Litera- tur- und Kulturwissenschaft und Gender Studies.

Dagmar Bechtloff ( bechtloff@uni-bremen.de ) ist Privatdozentin am Institut für Ge- schichte der Universität Bremen. Zu ihren Lehr- und Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte Lateinamerikas 16.-20. Jahrhundert, sowie die verglei- chende europäische Überseegeschichte unter besonderer Berücksichtigung des portugiesischen Estado da Índia.

Marianne Braig ( mbraig@zedat.fu-berlin.de ) ist Universitätsprofessorin für Politik Lateinamerikas am Lateinamerika-Institut und am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind politische Kultur und Transition in Lateinamerika insbesondere in Mexiko, soziale und politische In- tegrations- und Desintegrationsprozesse, Frauen- und Geschlechterforschung sowie Entwicklungstheorien und -politik.

Jürgen Buchenau ( jbuchenau@uncc.edu ) ist Professor für Geschichte und Direktor des Latin American Studies Programs an der University of North Carolina at Charlotte in Charlotte, North Carolina. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte Mexikos im 19. und 20. Jahrhundert, Lateinamerika im globalen Kontext, sowie die U.S.-lateinamerikanischen Beziehungen.

Norbert Finzsch ( norbert.finzsch@uni-koeln.de ) ist Universitätsprofessor für Anglo- Amerikanische Geschichte an der Anglo-Amerikanischen Abteilung des Histori- schen Seminars der Universität zu Köln. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der African Americans, die Geschichte der Geschlechter und Sexualitäten in Nordamerika und die Geschichte des Rassismus. In den letz- ten Jahren forscht er auch zum Siedlerimperialismus in den USA, Kanada und Australien.

Winfried Fluck ( winfried.fluck@fu-berlin.de ) ist Professor für die Kultur Nordame- rikas am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universi-

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tät Berlin und einer der Sprecher der Graduiertenschule des Instituts. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die US-amerikanische Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, die nordamerikanische Populärkultur und Theorien der nord- amerikanischen Kultur.

Hans-Joachim König ( koenighj@t-online.de ) war von 1988 bis 2006 Universitäts- professor für Geschichte Lateinamerikas an der Geschichts- und Gesellschafts- wissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Mitdirektor des dortigen Zentralinstituts für Lateinamerika-Studien. Zu sei- nen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. die Eroberung und Kolonisierung Amerikas, die europäische Expansion im Kontext Globaler Interaktion sowie die Problematik der Staats- und Nationsbildung in Lateinamerika im 19. und 20. Jahrhundert.

Ingrid Kummels ( kummels-schaefer@t-online.de ) ist Gastprofessorin für Allgemeine Ethnologie am Ethnologischen Seminar der Universität Zürich. Zu ihren For- schungsschwerpunkten zählen die soziale Identität und kulturelle Hybridisierung in einer historischen Perspektive, die Wissensethnologie mit einem Schwerpunkt auf Körperwissen sowie die Visuelle Anthropologie.

Ursula Lehmkuhl ( jf kulehm@zedat.fu-berlin ) folgte im Jahr 2002 dem Ruf der Freien Universität Berlin und lehrte seitdem am John-F.-Kennedy-Institut Neue- re Geschichte (Schwerpunkt Geschichte Nordamerikas). Ihre Forschungs- schwerpunkte sind internationale Geschichte, amerikanische Außenpolitik des 20. Jahrhunderts und Kultur- und Politikgeschichte des atlantischen Raums im 19. Jahrhundert sowie Migrations- und Stadtgeschichte. Seit Juni 2007 ist sie Erste Vizepräsidentin der Freien Universität Berlin.

Ursula Prutsch ( ursula.prutsch@lmu.de ) ist Dozentin am Amerika-Institut der LMU München für Nordamerikanische Kulturgeschichte. Ihre Forschungs- schwerpunkte bilden die Emigration aus Zentraleuropa in die Westliche Hemi- sphäre, die Geschichte Lateinamerikas und inter-amerikanische Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert.

Stefan Rinke ( rinke@zedat.fu-berlin.de ) ist Universitätsprofessor für Geschichte Lateinamerikas am Lateinamerika-Institut und am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte Lateinamerikas im 19. und 20. Jahrhundert, Lateinamerika im globa- len Kontext sowie die vergleichende Geschichte der Amerikas.

ULB + wbg
Impressum
INHALT Ursula Lehmkuhl und Stefan Rinke Vorwort Stefan Rinke 25. April 1507: Tauftag Amerikas Die Prägekraft einer Namensgebung Hans-Joachim König Die frühen Amerikabilder nach den Berichten von Kolumbus und Vespucci Dagmar Bechtloff Imago mundi cartographica Frühneuzeitliche Vor- und Darstellungen der Neuen Welt in Europa und Amerika Stefan Rinke Vom „ersten Amerika“ zu ‚Amerika’ Der Bedeutungswandel des Namens ‚Amerika’ im Zeitalter der Revolutionen Winfried Fluck Das utopische Versprechen „Amerikas“ Ursula Prutsch Inter-Amerikanismus, Panamerikanismus Genese – Wahrnehmungen – Konstruktionen. 1850 – 1930 Norbert Finzsch Von der „Double Consciousness“ zum „African American Nationalism“ Amerikakonzepte der African Americans im 19. und 20. Jahrhundert Jürgen Buchenau Von der Interventionsdebatte zum Zweiten Weltkrieg Der Amerikabegriff im Wandel, 1898-1945 Marianne Braig Mexiko und die Amerikas 7 11 33 63 85 109 131 151 169 189 Anja Bandau Von Macondo zu McOndo Literarische Reflexionen der Amerikas im 20. Jahrhundert Ingrid Kummels Von Zuania bis Abya Yala Indigene Amerika-Bilder und –Projekte Autorinnen und Autoren 199 221 243 URSULA LEHMKUHL / STEFAN RINKE Im Jahre 2007 jährte sich zum 500. Mal die Erfindung des Namens Amerika. Die Taufe Amerikas vor 500 Jahren, die Erweiterung des Wissenshorizontes und der Bedeutungswandel, den der Name seitdem erlebt hat, stehen im Mittelpunkt dieses Bandes. Im Taufschein, der "Cosmographiae introductio" von 1507, hieß es: "Ich wüßte nicht, warum jemand mit Recht etwas dagegen einwenden könnte, diesen Erdteil nach seinem Entdecker … Land des Americus, oder America zu nennen ...." Zitiert bei Wolfgang M. Gall: Martin Waldseemüller: Leben und Wirken. In: Susanne Asche und Wolfgang M. Gall (Hrsg.): Neue Welt und Altes Wissen: Wie Amerika zu seinem Namen kam. Offenburg 2006, S. 39. Dass es durchaus gute Gründe gegen diese Namensgebung gegeben hätte, wissen wir nicht erst seit heute. Amerigo Vespuccis sensationeller Bericht aus der "Neuen Welt" hatte sich jedoch tief in die Imaginationen der Europäer ein- gebrannt. Amerika wurde zu einer Projektionsfläche der "Entdecker" und Erobe- rer. Die Schreibtischgelehrten, die sich den Namen ausdachten, hatten dabei einen Ort vor Augen, den sie nicht kannten und nie mit eigenen Augen sehen sollten. Mit ihrem Taufakt verbanden sich Wünsche und Hoffnungen aber auch Ängste und Befürchtungen, die weit über die reine Ortsbezeichnung hinaus- reichten. „Amerika gibt es nicht. Es ist ein Name, den man einer abstrakten Idee verleiht“ – ob man sich nun dieses dem US-Schriftsteller Henry Miller zuge- schriebene Wort zu Eigen macht oder nicht: ‚Amerika’, das ist heute immer mehr als nur eine Ortsbezeichnung. Der Name ‚Amerika’ war zunächst die Bezeichnung der neuen Länder im Westen, und er stand für die Erkenntnis um deren Kontinentalcharakter. Anfangs bezog er sich auf den Bereich der Karibik, Zentral- und Teile Südame- rikas. Mit der fortschreitenden Besiedlung des Nordens durch Engländer und andere Europäer weiteten sich die Bezüge dann im Lauf der Kolonialzeit auf den gesamten Doppelkontinent aus. Gleichzeitig wurden zunehmend amerikanische Stimmen in den Diskussionen um das Wesen Amerikas und damit auch um die Bedeutung des Begriffs laut. Mit der US-amerikanischen Revolution und dem erfolgreichen Aufstieg der Vereinigten Staaten änderte sich die Lage insofern, als die Bezeichnung ‚Amerika’ in vielen europäischen Sprachen zum Synonym für die USA wurde. Was aber blieb dann für das südliche Amerika? Kulturell negativ besetzte Begriffe wie "Hispano" oder "Ibero"-Amerika kamen auf Grund 1 Eberhard Schmitt et al. (Hrsg.), Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 2, Die gro- ßen Entdeckungen. München 1984, S. 17. der Abgrenzungsbemühungen von der alten Kolonialmacht zunächst nicht in Frage. Die neue Namensgebung ‚Lateinamerika’ erfolgte vielmehr von Frank- reich aus und wurde erst später von den Bewohnern des südlichen Amerika rezi- piert und übernommen. Diese strenge Scheidung von Amerika und Lateinameri- ka begann sich im Lauf des 20. Jahrhunderts aufzulösen. Ein zunächst unkritisch im Sinne des aus den USA hervorgehenden Panamerikanismus gebrauchter Beg- riff gewann seit den 1920er-Jahren an Bedeutung: der Begriff ‚die Amerikas’. Mit den Auswirkungen der neuen Globalisierung wird dieser Begriff heute im- mer wichtiger und weist der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Region neue Wege, da in ihm implizit ein neues Kulturverständnis mitschwingt. Zumal im gerade vergangenen 20. Jahrhundert ist Amerika in den Mittelpunkt des Weltgeschehens gerückt. Heute verbindet sich mit ‚Amerika’ nicht nur in der deutschen, sondern in vielen Sprachen ein ganzes Arsenal von Vorstellun- gen. Mit dem schillernden Begriff ‚Amerika’, der eben meist mit den Vereinig- ten Staaten gleichgesetzt wird, verbinden wir Konzepte wie Individualismus, Fortschritt, Wohlstand, Demokratisierung, die Rationalisierung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, Technologiebegeisterung, den Aufstieg von Massenge- sellschaften und -kulturen und schließlich die Entstehung von Konsumgesell- schaften. Landläufig gilt Amerika, und das heißt eben zumeist die Vereinigten Staaten, als letzte verbliebene Weltmacht und neues Imperium. Südlich der Ver- einigten Staaten hat die einseitige Einverleibung des Namens ‚Amerika’ durch die USA dagegen viel Kritik und Widerstand hervorgerufen. Man spricht in die- sem Zusammenhang von „sprachlichem Chauvinismus“. Die wissenschaftliche Erforschung der Entdeckung und Eroberung, der Namensgebung und europäischen Auseinandersetzung mit Amerika erreichte um das Jubiläumsjahr 1992 herum einen Höhepunkt. Doch haben seitdem die kulturhistorischen Ansätze die Geschichtsschreibung von innen heraus ebenso verändert, wie die äußeren Einflüsse der neuen Globalisierung, die ständig neue Anforderungen auch an die Wissenschaft von der Geschichte stellen. Diese neu- en Ansätze in der Beschäftigung mit Amerika sind in diesem Band dokumen- tiert. Dabei steht die historische Perspektive zwar im Mittelpunkt, doch, da eine moderne Geschichtsschreibung nicht mehr ohne den Rekurs auf verwandte Dis- ziplinen auskommen kann, werden auch Beiträge aus anderen Kultur- und Sozi- alwissenschaften präsentiert. Die Veröffentlichung geht zurück auf eine interdisziplinäre Ringvorlesung der Freien Universität Berlin. Sie war das Auftaktereignis des neuen Zentrums für Regionalstudien der Freien Universität Berlin. Gleichzeitig war sie ein Beitrag des Lateinamerika-Instituts und des John-F.-Kennedy-Instituts zum Jahr der Geisteswissenschaften. Die Herausgeber danken den Autoren dieses Bandes, dem Präsidium der Freien Universität Berlin für die Förderung im Rahmen der Universitätsvorlesungen, deren Koordinatorin Brigitte Werner und unserem zu- verlässigen Organisator Mario Schenk. Ein besonderes Dankeschön geht außer- dem an die Studierenden, die die Veranstaltung mit einer schönen Ausstellung im Rahmen der Langen Nacht der Wissenschaften bereichert haben. Einige Abbildungen dieser Ausstellung finden sich auf den folgenden Seiten. Ursula Lehmkuhl Stefan Rinke STEFAN RINKE Am 25. April 1507 erschienen in der kleinen Vogesenstadt St. Dié, die sich heute stolz „Welthauptstadt der Geographie“ nennt, eine Schrift und zwei Kar- ten, die das Weltbild einschneidend und langfristig verändern sollten, enthielten sie doch die „Taufscheine“ Amerikas. Warum ist es sinnvoll sich mit dieser Namensgebung zu beschäftigen? Amerika wurde bereits 1492 „entdeckt“, und die 500-Jahrfeiern von 1992 sind vielen noch in Erinnerung. In der Tat erreichte die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Entdeckung und Eroberung der für die Europäer neuen Welt um das Jubiläumsjahr 1992 herum einen Höhepunkt. Dennoch ist das Interesse am Ursprung Amerikas im europäischen Denken kei- neswegs abgeebbt. So erreichte die Versteigerung eines Kartenblatts bei Christie’s viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, da es am 8. Juni 2005 doch den „Weltrekord für ein Blatt Papier“, die enorme Summe von 1 Mill. US- $ erzielte. Zitiert bei Wolfgang M. Gall: Martin Waldseemüller: Leben und Wirken. In: Susanne Asche und Wolfgang M. Gall (Hrsg.): Neue Welt und Altes Wissen: Wie Amerika zu seinem Namen kam. Offenburg 2006, S. 39. Dabei handelte es sich um ein Exemplar jener Globussegmentkarte Martin Waldseemüllers von 1507, die zu den Taufscheinen Amerikas zählt. Doch nicht nur das nach wie vor große öffentliche Interesse rechtfertigt eine Revision dieses Themas, sondern vor allem auch die kulturhistorischen Neuan- sätze innerhalb der Geschichtsschreibung seit 1992. Sie haben die Historiogra- phie von innen heraus ebenso verändert wie die äußeren Einflüsse der neuen Globalisierung, die ständig neue Anforderungen auch an die Geschichtswissen- schaft stellen. Die aus Sicht der Europäer „neu entdeckte“ Welt erhielt nicht wie die Kontinente der Alten Welt den Namen einer griechischen Sagengestalt oder einer Himmelsrichtung und auch nicht den ihres ersten „Entdeckers“ Kolumbus. Die Frage, warum Amerika Amerika heißt und nicht Kolumbia, hat seit Alexan- der von Humboldt Generationen von Forschern beschäftigt, und es ist sinnvoll, dieser Geschichte nachzugehen. Alexander von Humboldt: Kritische Untersuchungen über die historische Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt. Berlin 1852. Nicht nur weil die Ursprünge des Namens an sich von Interesse sind, sondern weil der Bedeutungswandel im Lauf von fünf Jahrhunderten bis in unsere Gegenwart in diesem Fall besonders frappant ist. Was ist in einem Namen? In der Regel sucht man ihn sich nicht selbst aus, doch begleitet er uns ein Leben lang und bezeichnet unser individuelles Wesen. Er soll uns von den anderen unterscheiden und ist daher für unsere Identität von zentraler Bedeutung. Nun handelt es sich bei „Amerika“ um einen besonderen Namen, einen geographischen Namen, der einen Teil der Welt bezeichnet und für diejenigen, die ihn erfanden, damit überhaupt erst als individuelle Einheit denkbar werden ließ. Im Akt der Namensgebung Amerikas liegt ein Akt der Welterfassung und -deutung, die zu Recht als Umbruch und Neubeginn gedeutet wurde und gedeutet wird. Die Entdeckung und Erfassung der „Neuen Welt“, von der Amerigo Vespucci, nach dem Amerika benannt wurde, erstmals weit vernehmbar sprach, gilt als Beginn der Neuzeit. Mit ihr entstand die Idee des „Westens“, des Okzidents, dessen vorgelagerte Peripherie die neu gefundenen Länder jenseits des Ozeans waren. Mentale und reale Landkarten veränderten sich damit unwiederbringlich. Das macht die Beschäftigung mit dieser Namens- gebung so interessant. Die neu benannte Region „Amerika“ und ihre Bewohner hatten sich ihren Namen nicht ausgesucht. Es dauerte lange, ehe die Menschen in Amerika etwas mit diesem Toponym anfangen konnten und es selbst verwendeten. Die Na- mensgebung erfolgte von außen her, von Europa, das sich mit diesem Taufakt quasi selbst die Deutung der Welt anmaßte. Die Tatsache, dass sich der Name durchsetzte und haften blieb, hat wiederum etwas mit Machtverhältnissen zu tun. Sprachbeherrschung, kartographische Erfassung und Weltherrschaft gingen Hand in Hand in der europäischen Expansion in der Neuen Welt. Zur Rolle der Sprache s. Wolfgang Reinhard: Sprachbeherrschung und Weltherrschaft: Sprache und Sprachwissenschaft in der europäischen Expansion. In: ders. (Hrsg.): Humanis- mus und Neue Welt. Weinheim 1987, S. 1-36. Zur Bedeutung der Karten in diesem Zusam- menhang: J.H. Elliott: Empires of the Atlantic World: Britain and Spain in America. New Haven 2006, S. 31-35. Sie waren die dunklere Seite des Aufbruchs der Moderne im Zeitalter der Renaissance. Walter Mignolo: The Darker Side of the Renaissance: Literacy, Territoriality, and Colonization. Ann Arbor 1995. Das Zeichnen von Karten stellte einen Akt symbolischer Besitzergreifung dar. Er ging oftmals einher mit dem Umbenennen der vorher vorhandenen indigenen Ortsbezeichnungen. Das geschah in der Regel quasi als selbstverständlicher Akt, der keiner Begründung bedurfte, handelte es sich in der Vorstellung vieler Euro- päer doch um herrenloses Land. Die Geschichte des Namens ‚Amerika’ ist im- mer auch die Geschichte der Vorstellungen und Konzepte, die sich damit ver- binden. Auf eine genauere Diskussion des umfangreichen Literaturstands muss hier aus Platz- gründen verzichtet werden. S. dazu die folgenden Fußnoten sowie die Beiträge von Hans- Joachim König und Dagmar Bechtloff in diesem Band. Interessante neue Perspektiven zu den Repräsentationen Amerikas jetzt bei Ricardo Salvatore (Hrsg.): Culturas imperiales: Expe- riencia y representación en América, Asia y Africa. Rosario 2005. Im Folgenden wird zunächst der Akt der Namensgebung genauer un- tersucht und sodann die frühe Entwicklung und Differenzierung des Namens kurz skizziert. Der Aufsatz ist somit als thematische Ein- und Überleitung zu den weiteren vertiefenden Beiträgen gedacht, die ihm folgen. 1. DIE NAMENSGEBUNG UND IHRE HINTERGRÜNDE Das, was spätere Generationen als den Taufakt Amerikas ausgemacht haben, war eine Publikation, die den neuen Namen erstmals verschriftlichte und gleich- zeitig visuell anschaulich machte. Die „Cosmographiae Introductio: cum qui- busdam geometriae ac astronomiae principiis ad eam rem necessariis; Insuper quatuor Americi Vespucii navigatione; Universalis Cosmographiae descriptio tam in solido quam plano eis etiam insertis quae Ptholomaeo ignota a nuperis reperta sunt“, deren Erstausgabe just an jenem 25. April 1507 Jahren erschien, stand an der Schnittstelle zwischen Mittelalter und Neuzeit. Sie war, wie der Ti- tel sagt, eine Kosmographie Der Begriff ergibt sich aus der Verbindung der griechischen Wörter „kósmos“ (Erde, Weltall) und „gráphein“ (beschreiben). S. dazu auch Wolfgang Neuber: Fremde Welt im eu- ropäischen Horizont. Zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit. Berlin 1991, S. 224-230. , im wahrsten Sinne des Wortes also eine Einfüh- rung in die Weltkunde. Man hatte es mit einer Weltbeschreibung zu tun, d.h. einer Beschreibung, die Erde und Weltall im Blick hatte, die ein Weltbild ver- mittelte. Die Publikation bestand aus drei, genauer vier Teilen: - einer lateinischen Einführung aus neun Kapiteln - eine kleine Globussegmentkarte zum Aufmontieren auf eine Kugel - einer großformatigen, aus zwölf Teilen bestehenden Wandkarte (1,20 x 2,40m) - den Berichten des Amerigo Vespucci in einer lateinischen Ausgabe. Es handelte sich also um ein wahrhaft ehrgeiziges Unterfangen und eine an- spruchsvolle multimediale Präsentation. Die Kosmographie stand in der Tradi- tion der mittelalterlichen Kosmographien, die geographisches und historisches Wissen mit biblischen und antiken Vorstellungen vom Kosmos vermischten. Sie stellte einen enzyklopädischen Anspruch. Die Dimensionen mittelalterlicher Weltbilder sind jüngst in der Forschung genauer untersucht worden. Zum mittelalterlichen Weltbild s. Rudolf Simek: Erde und Kosmos im Mittelalter. Das Weltbild vor Kolumbus. München 1992. Wilhelm Kölmel: Imago mundi: Studien zum mittel- zeitlichen Weltverständnis. Hamburg 1995. Klaus Anselm Vogel: Sphaera terrae: Das mittel- alterliche Bild der Erde und die kosmographische Revolution. Diss. phil. Göttingen 1995. Mancher Mythos wurde dabei entlarvt. Zur (Fehl-)Wahrnehmung des mittelalterlichen Weltbilds in der Neuzeit: Peter Aufge- bauer: „Die Erde ist eine Scheibe“ – Das mittelalterliche Weltbild in der Wahrnehmung der Neuzeit. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Bd. 57, H. 7/8 (2006), S. 427–441. Eine entscheidende Erweiterung des mittelalterli- chen Weltbildes setzte im Mittelmeerraum im späten 13. Jahrhundert ein. Das Interesse richtete sich zunächst vor allem nach Osten. Bekanntermaßen gab es Pläne eines Bündnisses zwischen Christentum und Mongolen gegen den Islam. Franziskaner wurden ausgesandt, um die Kontakte anzuknüpfen. In diesem Zu- sammenhang stehen Reise und Leben Marco Polos im Mongolen-Reich (1271- 1292). Marco Polo brachte die Überschätzung der Ost-Ausdehnung Asiens mit nach Europa, die dann später eine Voraussetzung für die Idee einer Entde- ckungsfahrt in westlicher Richtung werden sollte. Dass Marco Polos Schilderungen im Gegensatz zu den phantastischen Erzählungen John Mandevilles zunächst wenig Glauben geschenkt wurde, weil sie die christlichen Vorstel- lungsgrenzen durchbrach, hat Wolfgang Neuber herausgearbeitet: Die frühen deutschen Rei- seberichte aus der Neuen Welt. In: Hans-Joachim König et al. (Hrsg.): Der europäische Beob- achter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung. Berlin 1989, S. 44. Hinzu kam die Herausbil- dung einer auf den praktischen Gebrauch für die Seefahrt ausgerichteten Porto- lan-Kartographie seit ca. 1300. Dabei taten sich katalanische und italienische Seefahrer mit ihren Portulanen hervor. S. dazu etwa: Ricardo Cerezo Martínez: La cartografía náutica española en los siglos XIV, XV y XVI. Madrid 1994. Monique de La Roncière und Michel Mollat du Jourdin: Portulane: Seekarten vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. München 1984. S. dazu und zum folgenden auch die Ausführungen von Dagmar Bechtloff in diesem Band. Das 15. Jahrhundert ermöglichte mit der Wiederentdeckung antiker Autoren entscheidende Durchbrüche. Insbesondere die Schriften des Alexandriners Claudios Ptolemaios, der im zweiten Jahrhundert nach Christus seine „Ge- ographia“ S. dazu jetzt die Ausgabe von Alfred Stückelberger, Gerd Graßhoff (Hrsg.): Klaudius Ptolemaios. Handbuch der Geographie. Basel 2006. geschaffen hatte, sollten wichtig werden. Durch die Übersetzungs- leistung der Humanisten des späten 15. Jahrhunderts erreichte die lateinische Version dieser Schrift unter dem Titel „Cosmographia“ große Aufmerksamkeit. 1482 druckte man sie erstmals in Deutschland. Zur Überlieferung s. Bernhard Fritschler: Geographie. In: Der Neue Pauly: Enzyklo- pädie der Antike. Bd. 14: Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte, S. 122-126. Zum Zu- sammenhang von europäischem Humanismus und der „Entdeckung“ Amerikas s. den Sam- melband von Reinhard: Humanismus und Neue Welt. Ihr Wissen insbesondere von der Kugelgestalt der Erde und von der Projektion dieser Kugel auf eine Fläche wurde in zahlreichen Karten bekannt gemacht. Damit erfolgte eine Wiederbele- bung des antiken Weltbilds mit seinen Stärken und Schwächen, die weit ins 16. Jahrhundert hineinreichte. Dieses inspirierte insbesondere Kolumbus zu seiner Westfahrt, wenn er auch meinte, auf den Spuren des Hl. Brendanus zu wandeln und das irdische Paradies zu entdecken. Auf die Zusammenhänge hat unlängst erneut hingewiesen Christoph Auffarth: Neue Welt und Neue Zeit – Weltkarten und Säkularisierung in der Frühen Neuzeit. In: Renate Dürr et al. (Hrsg.): Expansionen in der Frühen Neuzeit. Zeitschrift für Historische Forschung, Bei- heft 34. Berlin 2005, S. 43-68. Dieser Wandel stand in engem Zusammenhang mit den kartographischen Fortschritten dieser Zeit, die in den so genannten Portolankarten der südeuropäi- schen Seefahrer ihren frühen Ausdruck fanden, wobei die Rolle des auf Sizilien wirkenden Arabers al-Idr ī s ī jüngst herausgearbeitet wurde. Der arabische Kartograph al-Idr ī s ī produzierte schon im 12. Jh. eine gesüdete Weltkar- te: Henri Bresc und Annliese Nef (Hrsg.): La première géographie de l'Occident - Idrîsî. Trad. du chevalier Pierre-Amédée Jaubert, rev. par Annliese Nef. Paris 1999. Carsten Drecoll: Idrísí aus Sizilien: Der Einfluß eines arabischen Wissenschaftlers auf die Entwicklung der europäi- schen Geographie. Egelsbach 2000. Im 15. Jahrhundert flossen diese Erkenntnisse vor allem in die Weltkarte des venezianischen Mön- ches Fra Mauro von 1459 ein. Zu Fra Mauro jetzt v.a. Piero Falchetta: Fra Mauro's World Map: With a Commentary and Translations of the Inscriptions. CD-Rom. Turnhout 2006. Ingrid Baumgärtner: Karto- graphie, Reisebericht und Humanismus: Die Erfahrung in der Weltkarte des venezianischen Kamaldulensermönchs Fra Mauro (+1459). In: Das Mittelalter Bd. 3 H. 3 (1998), S.161-197. Diese Karte spiegelte das sich damals durch die portugiesischen Entdeckungsfahrten und die damit wachsenden geographischen Kenntnisse rasant erweiternde europäische Weltwissen wider, wenngleich sich dieses noch keineswegs flächendeckend durchsetzen konnte. Ein gutes Beispiel dafür, wie eng der unterschiedliche Stand der Kenntnis in ein und derselben Stadt – hier Nürnberg – beieinander liegen konnte, sind der Erdglobus Martin Be- haims von 1492, auf dem immerhin schon die neuesten Erkenntnisse – so die Umsegelung des Kaps der Guten Hoffnung durch Bartolomeu Diaz von 1487 – verzeichnet sind, und Hart- mann Schedels „Weltchronik“ von 1493, die dem ptolemäischen Weltbild folgt. Ute Schnei- der: Die Macht der Karten: Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute. Darmstadt 2006, S. 32-33. der großen Wandkarte. 21 Viele Faktoren sollten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts dazu führen, dass sich dieses Wissen vergrößern und vor allem auch verbreiten konnte. Schon im Fall Fra Mauros hatte sich die politische Bedeutung der Karten gezeigt, schließlich hatte der portugiesische König Alfons V. das Werk in Auftrag gege- ben. Schneider: Macht der Karten, S. 13-14. In der Folgezeit sollte die Bedeutung von Karten als Machtinstrumente im Zuge der europäischen Territorialisierungs- und Expansionsprozesse steigen. Das verdeutlichte schon 1494 der Vertrag von Tordesillas, nach dem die Welt exakt entlang des 46. Grades westlicher Länge zwischen den damaligen Welt- mächten Spanien und Portugal geteilt werden sollte, was technisch allerdings noch unmöglich war, wie die eigens eingesetzte Expertenkommission heraus- fand. Ute Schneider: Tordesillas 1494 – Der Beginn einer globalen Weltsicht. In: Saeculum 54 (2003), S. 39-62. Antonio Rumeu de Armas: El tratado de Tordesillas: Rivalidad hispano- lusa por el dominio de océanos y continentes. Madrid 1992. Andererseits stiegen mit der neuen Drucktechnik die Möglichkeiten zur Vervielfältigung und Verbreitung der noch im 15. Jahrhundert zu den kostbaren Luxusgütern der Fürsten zählenden Karten. Die „Cosmographiae introductio“ stand in dieser Tradition, wollte sie doch das geographische Wissen ihrer Zeit dokumentieren und auf den neuesten Stand bringen. Die neueste Faksimileausgabe ist bereits 100 Jahre alt. Eine moderne kritische Ausga- be unter Auswertung der jüngsten Erkenntnisse fehlt. Martin Waldseemüller: Die Cos- mographiae Introductio. hrsg. von Franz von Wieser. Straßburg 1907. Gleichzeitig weist sie aber durch ihre Erscheinungsweise und das, was sie zeigt, weit über die traditionellen Kosmographien hinaus. Das Werk war ein großer Verkaufsschlager. Es erlebte schon 1507 vier Auflagen, denen später noch zahlreiche weitere folgten. Hans Wolff: Martin Waldseemüller. In: Ders. (Hrsg.): America: Das frühe Bild der Neuen Welt. München 1992, S. 113. Albert Ronsin, Le nom de l’Amérique: L’invention des chanoines et savants de St. Dié. Strasbourg ³2006. Man vermutet, dass allein die große Weltkarte in einer Auflage von 1000 Stück erschien. Die Neuauflage von 1509 durch den berühmten Straßburger Drucker Johannes Grüninger war mit deutschen Fassun- gen ergänzt, um so den Verkaufserfolg zu steigern. Mit Recht sprachen die Her- ausgeber der Faksimileausgabe von 1903, Joseph Fischer und Franz von Wieser von einer geradezu „sensationelle[n]“ Wirkung des Werkes und insbesondere Wer waren die Urheber von Schrift und Kartenwerk? Unumstritten ist, dass es sich dabei um eine Gruppe von Gelehrten mit Namen „Gymnasium Vosagense“ handelte, die sich im Umfeld Herzog Renés II. von Lothringen (1473-1508) auf- hielt und ihren Sitz in der kleinen Stadt St. Dié hatte. Vom Geist der Renais- sance inspiriert, strebte der Herzog mit der Förderung der Wissenschaft den ita- lienischen Vorbildern nach. Dem „Gymnasium Vosagense“, das dem Kanoniker und Sekretär des Herzogs Walter Ludd (1448-1547) unterstand, gehörten die jungen Humanisten Martin Waldseemüller (1470/75- 1518/21) und Matthias Ringmann (1482-1521) an. S.a. Karl-Heinz Meine: Anmerkungen zu Werken von Martin Waldseemüller. In: Kar- tographische Nachrichten Bd. 22, H. 5 (1972), S. 191-197. Der Mode der damaligen Zeit entsprechend gräzi- sierten sie ihre Namen und zeichneten als Martinus Ilacomilus und Philesius Vogesigena. Waldseemüller war ein Schüler des Freiburger Kartäusers Gregor Reisch, der mit der „Margarita philosophica“ den enzyklopädischen Bestseller der damaligen Zeit (14 Auflagen allein in dt. Sprache) verfasst hatte. Hans Georg Wehrens: Gregor Reisch, seine Margarita philosophica und Freiburg im Breisgau. In: Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins Schau-ins-Land, H. 123 (2004), S. 37-57. Ring- mann entstammte der Schule des Elsässer Humanisten Georg Wimpfeling. We- niger klar war jedoch lange Zeit, wer welchen Anteil an der umfangreichen Pub- likation hatte, die am 25. April 1507 in der Ludd gehörenden, einzigen Drucke- rei St. Diés erschien. Heute hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Ring- mann für den anonym erschienen Textteil, Waldseemüller dagegen für die Kar- ten verantwortlich war. Die Übersetzung der Vespucci-Briefberichte ins Lateini- sche besorgte Joann Basinus Sendacurius, ein weiteres Mitglied des Gelehrten- zirkels. 24 Was war nun das umwälzend Neue an diesem Werk? Nicht nur, dass es die damals bereits weithin akzeptierte Kugelgestalt der Erde aufgriff, sondern – und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend – es bildete die neu entdeckten Gebiete als eigenständigen Weltteil ab und schlug noch dazu einen überraschen- den Namen dafür vor. Im siebten Kapitel der „Cosmographiae Introductio“ wird dieser Name erstmals erwähnt. Dort sprach Ringmann vom: „vierten Teil der Erde, den man, da Americus ihn gefunden hat, die Erde des Americus oder America von heute an nennen könnte.“ “quarta orbis pars quam quia Americus invenit Amerigem quasi Americi terram, sive Americam nuncupare licet…“ Wenige Seiten später, im neunten Ka- pitel mit dem Titel „Einige Anfangsgründe der Kosmographie“, begründete Ringmann den Vorschlag ausführlicher: Da der Textteil etwas früher erschien als die Karten, schreiben manche Wis- senschaftler die Urheberschaft für die Namensgebung allein Ringmann zu. Al- lerdings lässt sich dies nicht mit letzter Gewissheit sagen, denn Texte und Kar- ten bezogen sich aufeinander und waren ein Gemeinschaftswerk. Man muss da- her wohl eher von einer gemeinsamen Urheberschaft Ringmanns und Waldsee- müllers ausgehen. Insbesondere nahm Waldseemüller den Gedanken des Textes in den Karten explizit auf. Zu Waldseemüller s. etwa Wolff: Waldseemüller, S. 111-126. Karl-Heinz Meine: Anmerkungen zu Werken von Martin Waldseemüller. In: Kartographische Nachrichten 22 H. 5 (1972), S. 191-197. So tauchte der Name „America“ für den neu gefun- denen vierten Erdteil in der kleinen Globussegmentkarte auf, wie Abbildung 1 zeigt. Interessant ist dabei, dass der Name ‚Amerika’ den bereits besser bekann- ten südlichen Teil der neuen Landmasse bezeichnet, nicht den Norden. Außer- dem fällt auf, dass Nord- und Südamerika hier durch eine Meerenge getrennt erscheinen, was auf der großen Weltkarte (Abb. 2) nicht der Fall ist. Auf der monumentalen Wandkarte wurde Waldseemüller noch deutlicher. Schon die Portolankarten des spanischen Entdeckers Juan de la Cosa von 1500, der als Eigner der Santa Maria selbst an den Fahrten des Kolumbus teilgenom- men hatte, und das portugiesische Gegenstück, die so genannte Cantino- Planisphäre von 1502, hatten den Kontinentalcharakter neu entdeckten Gebiete angedeutet. Vor allem die Karte des Genuesers Nicola Caveri von 1504 diente Waldseemüller als Vorlage. Marica Milanesi: Arsarot oder Anian? Identität und Unterscheidung zwischen Asien und der Neuen Welt in der Kartographie des 16. Jahrhunderts (1500-1570). In: Wolfgang Reinhard und Adriano Prosperi (Hrsg.): Die Neue Welt im Bewußtsein der Italiener und Deutschen des 16. Jahrhunderts. Berlin 1993, S. 32. Zu Caveris Karte auch Jeremy Black: Visions of the World: A History of Maps. London 2003, S. 40. Stefan Rinke Wie Caveri öffnete Waldseemüller den Raum nach Westen. Er zeichnete ihn als von Wasser umgeben, d.h. er stellte den Oze- an dar, den wir heute als den Pazifischen Ozean kennen und der erst 1513 durch den Spanier Vasco Nuñez de Balboa nach der Durchquerung des Isthmus von Panama von Europäern entdeckt wurde. Darüber hinaus zeigte er, den Vorgaben des Kartographen Henricus Martellus Germanus in seiner Weltkarte von 1489/90 folgend, den Indischen Ozean korrekterweise nicht mehr als Binnen- meer. Im Gegensatz zu den etwa zeitgleich entstandenen Weltkarten des Vene- zianers Giovanni Matteo Contarini von 1506 und des Johannes Ruysch von 1507/08 ist bei Waldseemüller keine breite Landverbindung zwischen dem nördlichen Amerika und Asien mehr vorhanden. Diese Karte hat seit jeher viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Manche Wissenschaftler beschrieben sie als herzförmig Schneider: Macht der Karten, S. 35. , andere meinten, einen riesigen Schlund zu erkennen. Jens Meinrenken: Kartographische Physiognomien. In: ATOPIA - polylogisches e- Journal 8 (2005). http://www.atopia.tk/index2.php?option=com_content&do_pdf=1&id=17 (besucht am 21.12.2006). Zweifellos ist sie ein bedeutender Versuch der Projekti- on der Kugel auf eine Fläche. Explizit stellte Waldseemüller in zwei Detailkar- ten in der für das frühe 16. Jahrhundert typischen dekorativen Gestaltung des Rahmens am oberen Bildrand das alte ptolemäische Weltbild dem neuen von Vespucci erweiterten Weltbild gegenüber, wobei er Ptolemäus und Vespucci mit den Werkzeugen der Kartographen, dem Winkelmesser und Zirkel, abbildete. Zur Darstellung Südamerikas in dieser Nebenkarte hat Hans Wolff mit Recht angemerkt: „Südamerika präsentiert sich hier in frappant richtiger Konfigurati- on, was besonders bemerkenswert erscheint, weil die Westküste Südamerikas und der Süden nach unserem Wissen keineswegs erkundet waren.“ Wolff: Waldseemüller, S. 114. In den er- läuternden Texten am linken und rechten Rand der Karte werden die bedeuten- den Entdecker genannt. Durch die hervorhebende Zeichnung in der Bildmitte wird deutlich, dass Waldseemüller Vespucci bevorzugt. Insbesondere die Dar- stellung der Nebenkarte fand in zahlreichen Kopien z.B. durch den Schweizer Geographen und Mathematiker Heinrich Glarean (1488-1563) Verbreitung. Eine Zeichnung Sebastian Münsters in seinem Kollegienbuch aus Tübingen (1515- 18) zeigt, dass sie schnell Eingang in die universitäre Lehre gefunden hatte. Ebenda, S. 122-123. Was hier geschah, war die bewusste Erweiterung des Weltwissens auf der Basis von Erfahrungen und Kenntnissen, die nun im Überfluss vorhanden waren und das antike und mittelalterliche Wissen erweiterten. Gleichzeitig handelte es sich auch um eine Übersetzungsleistung von einer Sprache in die andere, vom Text zum Kartenbild. Dabei entstanden problematische Verzerrungen, die auch die „Cosmographiae Introductio“ prägten. Auf diese Problematik hat hingewiesen Wolfgang Reinhard: Einführung. In: ders. und Prosperi: Die Neue Welt, S. 11. Warum nun Amerika und nicht Kolumbia? Der zunächst gefeierte und dann umstrittene ‚eigentliche’ Entdecker Kolumbus war 1506, ein Jahr vor der Veröf- fentlichung der „Cosmographiae Introductio“, im spanischen Valladolid gestor- ben, ohne bis zu seinem Tod die Dimension seiner Entdeckung begriffen zu ha- ben. Amerigo Vespucci dagegen hatte dies klar erkannt und vor allem anschau- lich und detailliert darüber berichtet. Übersetzt man, wie der mexikanische His- toriker Edmundo O’Gorman dies vorgeschlagen hat, das lateinische invenire in Ringmanns Text nicht mit ‚finden’, sondern mit ‚erfinden’ oder ‚konzipieren’, so hatten die Humanisten aus St. Dié den Sachverhalt korrekt erfasst. Edmundo O’Gorman: La invención de América. Mexiko ³2003, S. 122-126. S.a. José Luis Abellán: La idea de América: Origen y evolución. Madrid 1972. Der ursprüngliche Wortlaut ist: „alia quarta pars per Americum Vesputium … inventa est.“ Ob Vespucci der Erste war, der den Kontinentalcharakter der neu entdeckten Gebiete erkannte, ist umstritten. Bereits Kolumbus kamen 1498 bei der Entdeckung des Mündungsgebiets des Orinokos Zwei- fel an seiner Überzeugung, Asien bzw. diesem Kontinent vorgelagerte Inseln entdeckt zu ha- ben. Er ahnte, dass es sich um eine „andere Welt“ handeln musste, war aber nicht in der Lage, aus seinen Beobachtungen den richtigen Schluss zu ziehen, weil dies seinen religiösen Vor- stellungen widersprochen hätte. S. Hans-Joachim König: Die Entdeckung und Eroberung Amerikas 1492-1550. Freiburg 1992, S. 52. Der Florentiner Geschäftsmann Amerigo Vespucci, der das Bankhaus der Medici in Spanien vertrat, zählte seit 1491 zu den Geschäftspartnern Kolumbus. In den Jahren 1497-98 und 1499-1500 konnte er selbst an zwei der kleineren spanischen Entdeckungsfahrten teilnehmen. Nachdem er 1501 in portugiesische Dienste gewechselt war, nahm er an einer der Fahrten teil, die im Gefolge der eher zufälligen Entdeckung der Ostküste Brasiliens durch eine zu weit nach Westen abgetriebene Flotte unter Pedro Álvares de Cabral im April 1500 durch- geführt wurden, um die nach dem Vertrag von Tordesillas Portugal zustehenden Gebiete im Westen zu erkunden. Zu Cabrals Entdeckung ist um das Jubiläumsjahr 2000 eine breite Literatur erschienen. S. mit weiteren bibliographischen Hinweisen Telma Martinho: Pedro Álvares Cabral: O ho- mem, o feito e a memória. Vila Nova de Gaia 2001. Die Reise Vespuccis fand 1501/02 unter Ka- pitän Gonçalo Coelho statt und führte unter anderem zur Entdeckung der Bucht von Guanabara, die man nach dem Entdeckungsmonat Januar Rio de Janeiro taufte. Die Erkenntnisse der siebenmonatigen Forschungsreise überzeugten Vespucci davon, dass es sich bei dem neu entdeckten Land nicht, wie ursprüng- lich angenommen, nur um eine Santa Cruz benannte Insel handelte, sondern um einen Teil einer Landmasse, die einen neuen Kontinent darstellte. Zur Faszination der Insel in der frühneuzeitlichen Vorstellungswelt und ihrer Bedeu- tung bei der Erfindung Amerikas s. John Gillis: Islands of the Mind: How the Human Imagi- nation Created the Atlantic World. Basingstoke 2004, S. 53-65. erfasste. 40 Vespucci verfasste daraufhin seine berühmten Briefberichte an seinen Chef, den Florentiner Bankier Lorenzo di Pierfrancesco de Medici. Im zweiten dieser Reiseberichte formulierte er die Idee einer Neuen Welt. Die ins Lateinische übersetzte Fassung dieses Briefes wurde Ende 1502 oder Anfang 1503 unter dem Titel „Mundus Novus“ (1503) veröffentlicht. Die Authentizität und vor al- lem die Zahl der Reisen Vespuccis ist in der Forschung immer wieder angezwei- felt worden. Unumstritten ist, dass Vespucci mit Blick auf die entdeckten Gebie- te von einem neuartigen und auch der Antike unbekannten, von Europa, Afrika und Asien getrennten vierten Kontinent spricht, den er explizit Neue Welt nennt. Wie Robert Wallisch unlängst festgestellt hat, bezog sich Vespucci nur auf Süd- amerika, dessen Nordküste er schon 1499 auf einer spanischen Entdeckungsreise unter Alonso de Hojeda und Juan de la Cosa erkundet hatte. Laut Wallisch gal- ten für Vespucci „Mittelamerika, die Karibik, ja selbst die bekannten Teile Nordamerikas … nach wie vor als asiatisch“. Robert Wallisch: Der Mundus Novus des Amerigo Vespucci (Text, Übersetzung, Kommentar). Wien 2002, S. 115. Für seine Zeitgenossen war dies zumindest teilweise nicht mehr der Fall, wie die Karten Waldseemüllers in der „Cosmographiae Introductio“ belegen, auch wenn man die exakten Entfernun- gen nach Asien in der Tat erst nach Magellans Erdumsegelung 1522 endgültig Voller Stolz verwies Vespucci auf die Überlegenheit der Empirie über die Vorgaben der lange über alle Zweifel erhabenen antiken und mittelalterlichen Weltbilder. Vor allem die Nachricht von der Existenz der Antipoden, über die sich die Gelehrten schon so lange heftig gestritten hatten, galt als sensationell. Die Existenz von Land am anderen Ende der Welt war nun empirisch bewiesen, ein Erkenntniszuwachs, den andere Berichte fast zum selben Zeitpunkt bestätig- ten. Vogel: Sphaera terrae, S. 450. Dass nicht diese, sondern Vespuccis Briefe die Aufmerksamkeit der ge- lehrten Welt fanden, lag nicht zuletzt an den ethnografischen Beschreibungen und den darin enthaltenen Schilderungen der Sexualpraktiken und des Kanniba- lismus der indigenen Bevölkerung, die man in Europa besonders begierig auf- nahm. In der Art der Darstellung unterschied sich Vespuccis Briefbericht we- sentlich vom gleichfalls berühmten Kolumbus-Brief an Santángel, der seit 1493 ebenfalls mit graphischen Darstellungen zirkulierte, jedoch im Vergleich einen eher nüchternen Berichtscharakter trug. Urs Bitterli: Die Entdeckung Amerikas: Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt. München 1991, S. 117. S. zu diesem Thema vertiefend das Kapitel von Hans-Joachim König in diesem Band. Stärker noch als einige Jahre später der „Cosmographiae Introductio“ war dem „Mundus Novus“ ein reißender Absatz beschieden. Er erschien rasch in zahlreichen Auflagen und wurde in diverse Sprachen übersetzt. Wallisch: Der Mundus Novus, S. 10. Hans-Joachim König stellte treffend fest: „Kein anderer Text über die Entdeckung Amerikas hat in Europa solche Resonanz gefunden und ist in so vielen Ausgaben erschie- nen.“ König: Entdeckung, S. 66-67. S. auch Königs Beitrag in diesem Band. Vespuccis Erkenntnisse wurden also in einer für die Frühe Neuzeit er- staunlichen Art und Weise publikumswirksam vermarktet. Das galt v.a. für den deutschsprachigen Raum, wo Informationen zu Amerika bis zu diesem Zeit- punkt eher spärlich geflossen waren. Ob der Mäzen des Humanistenkreises Herzog René II. in freundschaftlichem Kontakt mit Amerigo Vespucci gestanden und dessen Sammelausgabe der ita- lienischen Reiseberichte er 1505 in einer französischen Übersetzung erhalten hat, wie manche Forscher behaupten, ob es Ringmanns italienische Kontakte waren, die ihn in den Besitz der Schriften brachte, oder ob die humanistischen Verflechtungen anderer Mitglieder des Gelehrtenzirkels entscheidend waren, ist umstritten. Für letzteres plädiert Günther Hamann: Ein Überblick über Entstehung und Quellen des Namens ‚Amerika’. In: Ders.: Die Welt begreifen und erfahren: Aufsätze zur Wissen- schafts- und Entdeckungsgeschichte, hrsg. v. Johannes Dörflinger. Wien 1993, S. 26-27. Sicher ist, dass sie dem Humanistenkreis vorlag und inspirierend wirkte. Einmal mehr bestätigte sich die Rolle der oberitalienischen Städte als entscheidender europäischer Umschlagplatz für Informationen aus der Neuen Welt. Renate Pieper: Die Vermittlung einer neuen Welt: Amerika im Nachrichtennetz des Habsburgischen Imperiums 1493-1598. Mainz 2000, S. 141. Herzog René beauftragte seine Gelehrten, eine entsprechende Karte und Ausgabe des Werks Vespuccis zu schaffen. Unter dem Titel Quattuor Navigati- ones veröffentlichten sie Vespuccis Berichte in einer ersten lateinischen Ausga- be ja auch als Teil der „Cosmographiae“. Seit dem 19. Jahrhundert sprachen extreme Kritiker Vespucci auf Grund von Unstimmigkeiten in den Berichten jegliche Glaubwürdigkeit ab und warfen ihm gar bewusste Aufschneiderei vor. Lange galt daher, dass die Namensgebung ein großer Fehler gewesen sei. Die Kritik wird kenntnisreich diskutiert und verworfen bei Wallisch: Der Mundus No- vus, S. 104-113. Schon Stefan Zweig hatte in seinem historischen Essay „Amerigo: Die Ge- schichte eines Irrtums“ (Frankfurt 1989 [1944]) die Rehabilitierung Vespuccis betrieben. Ob die Taufe auf den aus Vespuccis Vornamen ab- geleiteten Namen Amerika begründet war oder nicht, mag dahingestellt bleiben. Unstrittig ist, dass Vespuccis Leistung im Gegensatz zum Entdecker Kolumbus in der Wahrnehmung und richtigen Konzeptualisierung des Neuen lag, wenn- gleich auch Vespucci noch keine genaue Beschreibung der neuen Welt liefern konnte. Doch in der Verbreitung der richtigen Erkenntnis vom Kontinentalcha- rakter der Entdeckungen, zumindest der portugiesischen im Süden, lag sein Bei- trag zum Weltwissen. Die Gelehrten um Ringmann und Waldseemüller waren 1507 der Auffassung, dass Vespucci die Ehre des Namenspatrons verdient hatte. Allerdings lagen die Gründe für ihre Wahl wohl nicht in der Erkenntnis der Tragweite von Vespuccis „Mundus Novus“ für die „mentale Entdeckung“ der Neuartigkeit und die Erwei- terung des Weltbildes. Eviatar Zerubavel: Terra Cognita: The Mental Discovery of America. New Brunswick 1992. Dazu auch Alfred Kohler: Columbus und seine Zeit. München 2006, S. 180-185. Das war für die Zeitgenossen, die ja selbst an diesem Prozess beteiligt waren, noch außerhalb des Möglichen. Andere Motive dürften zusammengewirkt haben, um die Namensfindung zu befördern. Zum einen sind der Einfluss und die Wünsche Herzog Renés zweifellos nicht zu unterschätzen. Zum anderen lässt sich die Entscheidung auch auf die Strukturen der Kommuni- kationsnetzwerke jener Zeit zurückführen. Nach Renate Pieper, führten die vergleichsweise schwachen Verbindungen zu Kasti- lien in diesem Zeitraum in Verbindung mit der gleichzeitig anlaufenden portugiesischen In- formationsoffensive bei den Gelehrten in St. Dié zu einer „krassen Fehleinschätzung der Rol- le, die die beiden konkurrierenden iberischen Mächte bei den Entdeckungsreisen spielten.“ Pieper: Vermittlung einer neuen Welt, S. 141. In der Tat waren sich die Autoren aus St. Dié ihrer Sicht nicht unbedingt sicher. Die Zweifel an der Selbstverständ- lichkeit, mit der die jungen Humanisten ihren Namensvorschlag in die Welt setzten, zeigen sich schon an den Formulierungen, die Ringmann in seinem Text verwendete. Waldseemüller selbst kamen kurze Zeit später Bedenken, und er benutzte den Begriff Amerika auf späteren Karten nicht mehr. In seiner Karte „Tabula Terre Nove“, die 1513 in der großen Straßburger Ptolemäusausgabe, einem der frühesten Atlanten im modernen Sinn, erschien, verzeichnete er den neuen Kontinent ausdrücklich wieder als „Terra incognita“ und merkte in einer Beschriftung direkt unter der Linie des Äquators an, dass Kolumbus „dieses Land und die nahe gelegenen Inseln“ im Auftrag des kastilischen Königs ent- deckt habe. Gall: Martin Waldseemüller, S. 42-43. Der Text lautet: „Hec terra cum adiacentibus insulis inventa es per Columbum Januensem ex mandato regis Castelle.“ Auch in seiner zweiten monumentalen Weltkarte, der „Carta Ma- rina Navigatoria Portugallen Navigationes“ von 1516 blieb Waldseemüller die- ser Darstellungsweise treu. Die selbständige Lage Amerikas als von Asien los- gelöst, wird hier nicht mehr deutlich. Südamerika nannte er nun „Prisilia sive Terra Papagalli“ (Brasilien oder Papageienland). S. dazu auch Folker E. Reichert: Die Erfindung Amerikas durch die Kartographie. In: Archiv für Kulturgeschichte 78 (1996), S. 115-143. Wird man deshalb aber von der Korrektur eines bloßen Irrtums sprechen dürfen, dem Waldseemüller und seine Mitstreiter in der „Cosmographiae introductio“ aufgesessen seien, als sie den Namen Amerika wählten? Günther Hamann: Ein Überblick über Entstehung und Quellen des Namens ‚Amerika’. In: Ders.: Die Welt begreifen und erfahren: Aufsätze zur Wissenschafts- und Entdeckungsge- schichte, hrsg. v. Johannes Dörflinger. Wien 1993, S. 30-31. Der Sinneswandel Waldseemüllers zeigt jeden- falls an, dass es durchaus gute Gründe gegen die Namensgebung der neu ent- deckten Gebiete in der „Cosmographiae Introductio“ gegeben hatte. Waren nun der Akt der Namensgebung oder die Entdeckungsleistungen Vespuccis, auf die sie sich bezog, Ereignisse, die Epoche machten? Sicherlich wird man dies verneinen können. Wenn überhaupt, so gilt nicht die Namensge- bung, sondern die ‚Entdeckung’ Amerikas durch Kolumbus 1492 aus der Retro- spektive als Zeitenwende. Doch im Zeithorizont der Urheber der „Cosmographi- ae Introductio“ und ihrer zahllosen Rezipienten sah dies anders aus, war die Be- sonderheit des Dargestellten unumstritten. 2. FOLGEWIRKUNGEN UND DIFFERENZIERUNGEN Unabhängig von Waldseemüllers Entscheidung entwickelte die „Cos- mographiae Introductio“ in jedem Fall inhaltlich – indem sie im Kartenwerk Amerika als Ganzes als unabhängigen Kontinent darstellte – und rezeptionsge- schichtlich eine starke Eigendynamik. In den späteren Weltkarten und Globen des frühen 16. Jahrhunderts, beispielsweise im Pariser „Globe vert0 (1513-15), auf der Karte Leonardo da Vincis von 1516, der Peter Apians von 1520 oder in denen Sebastian Münsters und Hans Holbeins d.J. von 1535 bis hin zum Merca- tor-Atlas von 1569, fand die griffige Bezeichnung „Amerika“ Verwendung. Gute Überblicke und Abbildungen der Kartenwerke bei Hans Wolff: (Hrsg.): Ameri- ca: Das frühe Bild der Neuen Welt. München 1992. Rodney W. Shirley: The Mapping of the World: Early Printed Maps, 1472-1700. London ²1987. Seymour I. Schwartz und Ralph E. Ehrenberg: The Mapping of America. New York 1980. S.a. Karl-Heinz Kohl (Hrsg.): Mythen der Neuen Welt: Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas. Berlin 1982. Insbesondere verwendete sie auch Abraham Ortelius auf der Weltkarte „Typus Orbis Terrarum“ in seinem Kartenwerk „Welttheater“. Nach Hamann (Ein Überblick, S. 37) setzte sich der Name erst mit Ortelius wirklich durch. Aus der Welt schaffen ließ sich der neue Name nicht mehr. Dafür kam Waldseemüllers Rückzieher zu spät. Zu griffig war die neue Bezeichnung, zu gut passte sie zu den Namen der bekannten Erdteile der Alten Welt. Vespuccis sensationeller Bericht aus der „Neuen Welt“ faszinierte die Europäer und befeuerte die Phantasien, die einen Thomas Morus 1516 dazu bringen konnten, seine Insel Utopia in eben diesen neuen Weltteil zu legen. Amerika weckte nicht erst seit diesem Moment eine utopische Dimension im Denken der Europäer. Jacques LaFaye: L’Amérique Latine: Terre d’utopie, du XVIe siècle à nos jours. In: Cahiers des Amériques Latines, Nouvelle Série 4 (1985), S. 91-101. Gillis: Islands of the Mind, S. 73-81. S. dazu auch den Beitrag von Winfried Fluck in diesem Band. Andererseits war dem Namen ‚Amerika’ in den folgenden Jahrhunderten kein geradliniger Siegeszug beschieden. Der Name war trotz seiner Verbreitung vor allem in deutschen Gelehrtenkreisen weder im 16. noch in späteren Jahrhunder- ten die einzige gebräuchliche Bezeichnung für den neuen Kontinent, dessen kar- tographische Erfassung, wie viele Beispiele dieser Zeit zeigen, in diesem Zeit- raum schnelle Fortschritte machte, wenngleich sich das neue Weltbild mit den vier Kontinenten noch keineswegs flächendeckend durchsetzte. Martin W. Lewis und Kären E. Wigen: The Myth of Continents: A Critique of Meta- geography. Berkeley 1997, S. 26. Es gab viel- mehr ein Nebeneinander vieler unterschiedlicher Bezeichnungen. Die „Cos- mographiae Introductio“ hatte also Amerika zwar erstmals erwähnt, aber noch keineswegs langfristig durchgesetzt. Kolumbus glaubte bekanntermaßen den Seeweg nach Asien und damit Indien entdeckt zu haben und bezeichnete die Bewohner der von ihm entdeckten Gebiete dementsprechend als Indier, ‚Indi- os’. Hans-Joachim König: Indio. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Stuttgart 2007, Bd. 5, Sp. 847-849. Die Bezeichnung ‚Indien’, ‚reinos de las indias’ bürgerte sich im spani- schen Sprachgebrauch für das Kolonialreich ein. Auch als sich im Lauf des 16. Jahrhunderts endgültig die Erkenntnis durchsetzte, dass dies eine Fehleinschät- zung war, blieb die Bezeichnung in der Regel bestehen. Mit der fortschreitenden Erschließung und Besiedlung Amerikas entfiel in den europäischen Karten bald die Bezeichnung „Terra incognita“. Bis ca. 1540 war die amerikanische Ostküste im Wesentlichen bekannt, bis 1570 spiegelte sich dies auch in der Kartographie in der Regel wider. Milanesi: Arsarot oder Anian?, S. 15-16. Stefan Rinke Immer genauer wurden die regionalen Bezeichnungen, wie z.B. Peru oder Brasilien, die schon bald zur Regel werden sollten. Eine eindeutige Festlegung auf den Oberbegriff Amerika gab es deshalb aber selbst im deutschen Ursprungsland des Namens nicht. Der Humanist Sebastian Münster, der in seiner Studienzeit eifrig die Amerikakarte Waldseemüllers kopiert hatte, fiel in seiner eigenen großen „Cosmographia“ von 1546 wieder auf die Bezeichnung „Nüw Welt“, Neue Welt, zurück, die schon Vespucci gewählt hatte. „Neue Welt“ blieb eine Bezeichnung, die noch lange im Umlauf bleiben sollte, weil sie sich zur Gegenüberstellung mit der Alten Welt besonders gut eignete. Mit der Dichotomie ‚alt’ und ‚neu’ ließen sich die euro- päischen Hoffnungen und Ängste in Bezug auf Amerika greifbar machen. Ame- rika, das war das radikale Andere und Fremde. Allerdings geriet der Name ‚Amerika’ nicht mehr in Vergessenheit. Auch auf der iberischen Halbinsel wurde er rezipiert und fand durchaus Verwendung. Das beweist die bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts größte Karte der neuen Entde- ckungen (Abb. 3), die Diego Gutiérrez, der Kosmograph der Kolonialbehörde „Casa de la Contratación, 1562 bei Hieronymus Cock in Antwerpen veröffent- lichte. „Americae sive quartae orbis partis nova et exactissima descriptio“ Abgesehen von den genauen Bezeichnungen der einzelnen Regionen ist hier die Erklärung interessant, dass der neue Erdteil nach Amerigo Vespucci be- nannt wurde, der ihn 1497, also auf seiner ersten Reise, im Auftrag des spani- schen Königs entdeckt habe. Übersetzung des lat. Textes: "Dieser vierte Teil der Erde blieb unbekannt für alle Geographen bis zum Jahr 1497, als er durch Amerigo Vespuccio im Dienst des Königs von Kastilien entdeckt wurde und so, später den Namen des Entdeckers erhielt.“ Damit wird in gewissem Sinn der Versuch ge- macht, den neuen Namen ‚Amerika’ für die spanische Krone in Besitz zu neh- men. Insofern bezog sich der Begriff Amerika zunächst in erster Linie auf Süd- amerika. Den europäischen Entdeckungen folgend, handelte es sich in der Regel um die Ostküste des heutigen Brasiliens. Teilweise wurden auch die Bereiche der Karibik und Zentralamerikas mit einbezogen. Dennoch machen die frühen kartographischen Darstellungen auch den zweigeteilten Charakter des Konti- nents deutlich, wobei sich lange die Vorstellung einer Zugehörigkeit des Nor- dens zu Asien hielt. Eine frühe Ausnahme war der Pariser „Grüne Globus“, der „Globe vert“, von ca. 1513-15, der erstmals die Bezeichnung Amerika auch auf den Norden übertrug. Dies setzt sich später vor allem bei Mercator durch, der bereits in seiner Weltkarte von 1538 Nord und Süd mit Amerika bezeichnet. In seinem Atlas von 1569 unterschied er explizit „Nord-“ und „Südamerika“ und nannte sie „Americae pars septentrionalis“ und „meridionalis“. Wolff: Martin Waldseemüller, S. 113. Es dauerte aber einige Zeit, ehe sich diese Bezeichnungen durchsetzten. Bis dahin hieß der Nor- den in Kartenwerken abwechselnd „Terra florida“, „Terra del Labrador“ oder „Parias“, wie auf der großen Waldseemüllerkarte der „Cosmographiae Introduc- tio“. In einer Waldseemüllerkarte in einer Ausgabe von 1515 von Reischs „Margarita phi- losphica“ (14 Auflagen allein in dt. Sprache) bezeichnet er den Süden als „Paria seu Prisilia“ und den Norden als „Zona Mela“. In: Asche und Gall (Hrsg.): Neue Welt und Altes Wissen, S. 41. Stefan Rinke Mit der fortschreitenden Besiedlung des Nordens durch Engländer und andere Europäer weiteten sich die Bezüge im Lauf der Kolonialzeit auf den ge- samten Doppelkontinent aus. Hatte sich schon im Akt der Namensgebung der Herrschaftsanspruch und die Überlegenheit Europas gezeigt, so wurde dieser in den frühesten kartographi- schen und bildlichen Darstellungen Amerikas untermauert. Nirgends war dies deutlicher als in einem Gemälde des flämischen Malers Jan van der Straet, oder Johannes Stradanus, das dem berühmten Kupferstich Theodore Galles als Vor- lage diente. Der Stich war Teil einer Folge, die Galle in der Sammlung „Nova reperta“ in den 1580er-Jahren zusammenstellte und in seinem Verlag in Ant- werpen veröffentlichte. Themen der Stiche waren die großen europäischen Er- findungen und Entdeckungen der Neuzeit. Dazu zählte Amerika ebenso wie der Buchdruck, das Schießpulver und das Zuckerrohr. Stolz vergewisserte sich Eu- ropa in diesem Bildband seiner Errungenschaften. Dabei war die Darstellung des Anderen von zentraler Bedeutung. Im Bild lässt van der Straet einen bekleideten und mit den Insignien europäischen Wissens und weltlicher Macht, Astrolabium und Schwert, ausgestatteten Vespucci auf eine unbekleidete, der Hängematte entsteigende Amerika treffen. Die Feminisierung des neuen Kontinents als schamlose Indianerin, eine Szene, deren Wildheit durch die Kannibalen-Szene im Hintergrund noch unterstrichen wird, entspricht den Klischees, die Vespucci mit dem „Mundus Novus“ in die Welt setzen half und die sich im Namen Ame- rika perpetuierten. Im Gegensatz zum oft gedruckten Kupferstich hatte van der Straet im weniger bekannten Originalgemälde Vespucci sogar noch das Wort ‚America’ (spiegel- verkehrt, aufgrund der Funktion als Vorlage für einen Kupferstich) in den Mund gelegt, um den Akt der Namensgebung deutlich zu machen. José Rabasa: Inventing America: Spanish Historiography and the Formation of Euro- centrism. Norman 1993, S. 23. Van der Straet, der sich in Florenz niedergelassen hatte, schuf zahlreiche Gemälde, in denen Vespucci, der berühmte Sohn dieser Stadt, prominent auftauchte, was dem Ver- kauf sicherlich förderlich war. Die Darstellung der Gegensätze sind auf diesem Bild mehr als deutlich: Die Karavelle zur Rechten, die den technischen Vor- sprung Europas ebenso symbolisiert wie den Fortschritt, den Gang der Ge- schichte; der Ameisenfresser und andere Tiere zur Linken, die die unberührte, ursprüngliche Natur symbolisieren, vermeintlich das eigentliche Wesen Ameri- kas. Die Kultur Europas begegnet der Natur Amerikas. Mit dem abgebildeten Akt der Namensgebung wird Amerika zum Gegenstand europäischer Projektio- nen und Sehnsüchte. Die Handlungsmacht liegt deutlich einseitig bei Vespucci, dem Subjekt, und damit bei Europa, für das er steht. Das im linken Bildrand am Baum hängende Faultier verstärkt den Eindruck einer Schläfrigkeit, die quasi wie ein Schleier über dem wilden, noch unentdeckten Kontinent gelegen hat, ehe Europa kam, um ihn im Akt der Namensgebung überhaupt erst ins Leben, in den Gang der Geschichte zu rufen. Die nackte India, das Objekt, erhebt sich nun aus diesem Schlaf der Zeitlosigkeit, um, so scheint es, ihrem „Entdecker“ zu folgen. Die Bildunterschrift des Kupferstichs unterstreicht diese Aussage: „Americus ent- deckt Amerika wieder – er rief sie einmal, und seitdem war sie immer wach.“ „Americen Americus retexit – Semel vocavit inde semper excitam.“ ZUSAMMENFASSUNG Obwohl Sie mit ihren Erkenntnissen und deren Verbreitung nicht die Ersten waren, so haben sich Vespucci und die Humanisten um Waldseemüller und Ringmann durch die Nutzung der frühneuzeitlichen Kommunikationsrevolution nachhaltig in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben. Mit ihnen wird die Hori- zonterweiterung europäischen Wissens endgültig festgeschrieben. Die Existenz des vierten Kontinents ließ sich danach nicht mehr nachhaltig bezweifeln, und sein neuer Name sollte sich langfristig durchsetzen. ‚Amerika’ war aber immer mehr als nur ein Name auf einer Karte. Die Produktion der Karte und der ge- samten „Cosmographiae Introductio“ vor 500 Jahren implizierte einen Akt der Macht, einen Herrschaftsanspruch, indem das Werk ein wenngleich durchaus noch in sich widersprüchliches Weltbild textlich und bildlich als verbindlich darstellte. Den Namen in Schrift und Bild zu setzen war eine symbolische Besit- zergreifung. Es war ein Teil jener europäischen Zeremonien der Inbesitznahme, die nicht vor der bewussten Umbenennung von Orten nicht zurückschreckten, um die Deutungsmacht der Anderen auszulöschen. Die Humanisten aus St. Dié haben diese fremden Anderen nicht in ihre Überlegungen einbezogen, sondern sich die Welt nach ihren Vorstellungen benannt. Die Menschen, die im inkai- schen Tahuantinsuyu oder aztekischen Anáhuac lebten, spielten für die europäi- schen Gelehrten keine Rolle. Durch ihre Namenswahl ordneten sie die für sie neuen Territorien in ihr christliches Weltbild ein. Durch die Gegenüberstellung des Neuen im Vergleich zum Alten, Gewachsenen, der aus religiösen Vorstel- lungen erwachsenen Trias der bekannten Kontinente, ergab sich eine quasi na- türliche Hierarchie, aus der sich der koloniale Status Amerikas ableiten ließ. Doch schnell entwickelte der Name ‚Amerika’ ein Eigenleben nicht nur in Eu- ropa, sondern vor allem auch in Amerika selbst. Die folgenden Kapitel dieses Buches werden diesen Prozess der Verselbständigung genauer analysieren. HANS-JOACHIM KÖNIG DIE BEDEUTUNG VON „BILDERN“ Seit dem 15. Jahrhundert begann mit der europäischen Expansion eine neue Phase der Geschichte sowohl für Europa als auch für die außereuropäischen Re- gionen. Ohne Zweifel ist diese europäische Expansion ein bedeutsamer Vor- gang, bei dem die Entdeckungsfahrten, die Motive und Voraussetzungen für sol- che Fahrten, aber auch die Eroberung, die Etablierung von Kolonialmächten mit ihren Verwaltungs- und Handelsstrukturen interessieren. Da die europäische Expansion aber gleichzeitig auch ein Kulturkontakt oder besser gesagt ein Zu- sammenprall der außereuropäischen mit den europäischen Kulturen war, ist die Art und Weise, wie dieser Kontakt in Europa verarbeitet wurde und wie die Re- zeption der neuen Welten erfolgte, nicht weniger interessant. Ja, deren Kenntnis ist eigentlich noch wichtiger; denn es entstanden Bilder sowohl real in Form von Holzschnitten, Kupferstichen und Beschreibungen als auch mental im Kopf, Bilder, die für lange Zeit zu Stereotypen der Betrachtung und der europäischen Bewertung (Latein)Amerikas wurden. Im Folgenden möchte ich Ihnen zeigen, wie der Begriff Amerika nicht nur ei- nen geographischen Raum bezeichnete, sondern wie mit ihm auch zahlreiche positive und negative „Bilder“ – Images – und Vorstellungen verbunden waren. Dabei stütze ich mich auf die theoretischen Ansätze der Imagologie und der so- zialpsychologischen Stereotypenforschung. Zu diesem Forschungsfeld siehe u.a. Kenneth E. Boulding: The Image. Ann Arbor 1956/1969. Reinhold Bergler: Psychologie stereotyper Systeme. Bern, Stuttgart 1966. Manfred S. Fischer: Komparatistische Imagologie. Für eine Erforschung national-imagotyper Systeme. In: Zeitschrift für Sozialpsychologie 10 (1979), S. 30-44. Johannes Hoffmann: Völ- kerbilder in Ost und West. Auswahlbibliographie. Dortmund 1960. Gustav Siebenmann: Me- thodisches zur Bildforschung. In: Gustav Siebenmann / Hans-Joachim König (Hrsg.): Das Bild Lateinamerikas im deutschen Sprachraum. Tübingen 1992, S. 1-17. Denn diese vermitteln uns Einsich- ten in die Entstehung von (Fremd-)Bildern. Bilder bestimmen unsere Vorstel- lungen von den „Anderen“. Solche Bilder handeln zwar von einer fremden Wirklichkeit, doch sind sie Produkte eigener Sichtweisen und als solche Funkti- onen gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse. Sie sind unentbehrliche orientieren- de Hilfsmittel, die den Empfänger, sei es ein Individuum, sei es eine kollektive Gruppe wie eine Gesellschaft oder eine Nation, in die Lage versetzen, die viel- fältigen Informationen, Sinneseindrücke zu verarbeiten, zu strukturieren und vorhandenen Interpretationsmustern zuzuordnen, d.h. das „Fremde“ wahrzu- nehmen und es durch Rückführung auf das vorhandene „Eigene“ zu verstehen. Siehe dazu Bergler: Psychologie, S. 108 Jede Gruppe muss zum Zweck der Eigendefinition und Identitätsfindung Fremd- bilder entwickeln. Fremdbilder sind deshalb nur in Funktion des Eigenbildes zu begreifen. Ein stereotypes Bild dient geradezu als Filter, um nicht passende Tei- le der ankommenden Informationen auszublenden oder gar wegzulassen. Mit solchen Stereotypen wird die Wirklichkeit konstruiert, mit der Individuen oder Kollektive operieren. Und diese so konstruierte Wirklichkeit ist dann die Grund- lage für Wertungen, Entscheidungen, Handlungen und Verhaltensmuster. Gerade bei der Entdeckung der für die Europäer neuen Welt durch Christoph Kolumbus am 12. Oktober 1492 sind deren Zurkenntnisnahme und Einbezie- hung in das bisherige geistige und kartographische Weltbild besonders interes- sant. Denn während die Existenz Afrikas und Asiens mit Indien und China samt ihren Menschen niemals völlig unbekannt gewesen war, besaßen die Europäer über die neuen Regionen und ihre Einwohner keine Kenntnisse. Das radikal „Neue“ und „Andere“ in Bezug auf Flora, Fauna und Menschen musste auf sie geradezu wie ein Schock wirken, wurde doch u.a. die alte Dreiheit der Konti- nente, die im religiösen Sinn auch für die Trinität stand, in Frage gestellt, wurde die Problematik eines einzigen Menschengeschlechts, einer gemeinsamen Ab- stammung von Adam relevant. Im Einzelnen geht es mir darum, Ihnen die Entstehung und Entwicklung der frühen Bilder von Amerika und ihre Hauptbestandteile in den Hauptlinien zu erläutern. „Bilder“ thematisiere ich dabei als Begegnungskriterien der „alten“ mit der „neuen“ Welt. Ich möchte zeigen, welche Bilder durch welche Informa- tionen über Amerika in den Köpfen der Europäer/Deutschen geformt worden sind. Nicht wie sie war, sondern wie sie sein sollte, bestimmte das europäische Bild von der „neuen“ Welt. In den Anfängen der Amerika-Berichterstattung, als nur wenige Europäer Zugang zu diesem Kontinent hatten, gab es schlechthin phantastische Berichte, deren Realitätsgehalt naturgemäß kaum einer der Leser nachprüfen konnte. Mit zunehmenden Kommunikationsmöglichkeiten, mit dem Entstehen neuer Medien wurden die Übertreibungen seltener. Insgesamt geht die Geschichte der europäischen oder deutschen Amerikabilder einher mit der Ge- schichte ihrer Vermittlung. Neben der mündlichen Kommunikation spielen vor allem die Druck- und Bildmedien eine wichtige Rolle bei der Ausbildung spezi- fischer Wahrnehmungskategorien des Fremden, die es als Konstruktion des Ei- genen überhaupt erst erkennen lassen. Stereotype und Medien gehören zusam- men. Beide versuchen die komplexe Wirklichkeit schlagwortartig zu verdichten. Dabei entstehen teilweise notwendige, teilweise beabsichtigte Verzerrungen. In der frühen Neuzeit (16. und 17. Jahrhundert) waren es vor allem Reiseberichte, Reisebeschreibungen, Augenzeugenberichte, Flugblätter, Weltchroniken und Cosmographien sowie die – allerdings erst noch sporadische – literarische Ver- arbeitung. Danach traten neben diese Genera auch die allgemeine Geschichts- schreibung und die Literatur. Detaillierte bibliographische Angaben über das europäische Schrifttum liefern Henry Harris- se: Biblioteca Americana Vetustissima. A Description of Works relating to America, pub- lished between the years 1492 and 1551. New York 1866. Neuausgabe besorgt von Carlos Sanz, Vols. I -VI, Madrid 1958 – 1960, Joseph Sabin (Hrsg.): Biblioteca Americana: A Dic- tionary of books relating to America. From its discovery to the present time. 29 vols. New York 1868-1936. (Repr. Amsterdam 1961-62), Paul Ben Baginsky: German Works on Amer- ica, 1492-1800. Berkeley /Los Angeles 1952. Philip Motley Palmer: German Works on America 1492-1800. Berkeley and Los Angeles 1952 (= University of California Publications in Modern Philology. Vol. 36. Nr.10, pp. 271-412), Horst Dippel: Americana Germanica 1770-1800. Bibliographie deutscher Amerikaliteratur. Stuttgart 1976 (Amerikastudien Band 42). John Alden / Dennis C. Landis (Hrsg.): European Americana. A Chronological Guide to Works Printed in Europe Relating to the Americas, 1493-1776. Vol. I 1493-1600, New York 1980; Vol. II 1601-1650, New York 1982; Vol. V 1701-1725, 1987; Vol. VI 1726-1750, 1988. Ausführlichere Angaben über die deutschen Americana liefert der von Siebenmann und König herausgegebene Sammelband Das Bild Lateinamerikas im deutschen Sprachraum; dar- in u.a. G. Siebenmann: Das Lateinamerikabild in deutschsprachigen Texten, S. 181-207; und H.-J. König: Das Lateinamerikabild in der deutschen Historiographie, S. 209-229. Die frühen Amerikabilder 37 Ich werde mich heute nur mit den frühen Bildern und ihren textlichen Grund- lagen beschäftigen, die auch Martin Waldseemüller und Matthias Ringmann zur Verfügung standen und sie den Namen Amerika erfinden ließen. Dazu werde ich zum einen kurz den ereignisgeschichtlichen Kontext aufzeigen und zum anderen die Herkunft der Bilder ansprechen. Wir werden sehen, dass das Europa der Re- naissance einerseits offen war für neue Horizonte durch Reisen und Entdeckun- gen, dass ältere geographische Vorstellungen, wenn auch langsam, überwunden wurden und neue Erkenntnisse zur Geltung kamen, dass andererseits aber die Verehrung klassischer Modelle oder antiker Autoritäten stärker war als die reale Erfahrung und seit der Antike und dem Mittelalter vorhandenes „Vorwissen“ zu voreingenommener Wahrnehmung führte. Zum Abschluss gehe ich noch kurz auf das Fortleben der frühen „Bilder“ ein. DER EREIGNISGESCHICHTLICHE KONTEXT - DIE FRÜHE EUROPÄISCHE EXPANSION Die Portugiesen waren die ersten Europäer, die mit der europäischen Expan- sion in den Atlantikraum und nach Afrika begannen. Nachdem sie im August 1415 die nordafrikanische Stadt Ceuta erobert hatten, unternahmen sie Entde- ckungsfahrten entlang der afrikanischen Westküste, die eine Verbindung zu den Goldreichen im Süden und längerfristig auch den Weg zu den Reichtümern Indiens herstellen sollten. Zunächst bewegten sich die Portugiesen noch im Be- reich der Atlantikinseln: Von 1418 bis 1420 begannen sie, die unbewohnten In- seln der Madeira-Gruppe zu besiedeln; 1429 wurden die Azoren entdeckt. Doch bald wagten sie sich mit den Entdeckungsfahrten entlang der Küste weiter in bislang unbekannte Regionen vor, besonders nachdem es 1434 – nach fünfzehn vergeblichen Expeditionen – gelungen war, das berüchtigte Kap Bojador zu um- segeln, das auf der Höhe der Kanarischen Inseln liegend seit der Antike als Grenze der bewohnbaren Welt gegolten und deshalb für die Seefahrer eine psy- chologische Barriere bedeutet hatte. Jenseits dieser Zone schien wegen der gro- ßen Hitze Leben unmöglich zu sein; man hielt die Meere für unbefahrbar und glaubte nur gefährliche Monster oder merkwürdige Fabelwesen wie Kopflose, Einäugige, Langohrige, Brustgesichter oder Hundsköpfige könnten dort am Rande der Welt hausen. Antike und mittelalterliche Autoritäten wie Aristoteles, Augustinus oder Isidor von Sevilla (7. Jahrhundert) hatten in ihren Schriften sol- che Vorstellungen als glaubwürdig weiter verbreitet, und auch die mittelalterli- che Kartographie hatte solche Fabelwesen Afrika zugeordnet. So waren auf der berühmten Ebstorfer Weltkarte von ca. 1235 aus dem Kloster Ebstorf in der Nä- he Hannovers - einer beispielhaften Weltkarte für das mittelalterliche christlich geprägte Weltbild mit einer schematischen Dreiteilung der von Wasser umgebe- nen Erdscheibe und in einer T-förmigen Anordnung der drei Kontinente Asien, Europa und Afrika – zahlreiche Fabelwesen am Südrand Afrikas aufgereiht. Die Portugiesen machten natürlich andere Erfahrungen; sie entdeckten mit ih- ren Fahrten auch, dass der Kontinent eine viel größere südliche Ausdehnung be- saß, als man bisher angenommen hatte und wie es auf den bisherigen Weltkarten verzeichnet war, die sich an den Überlegungen des griechischen Naturforschers Claudius Ptolemäus aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert orientierten. In den Ausgaben seiner achtbändigen Abhandlung Geographia fügten die euro- päischen Verleger Weltkarten in sphärischer oder gerundeter Form hinzu. Damit wurde zwar die mittelalterliche Vorstellung von der Scheibenform der Erde überwunden und die Kugelgestalt angenommen –und das war eine wichtige the- oretische Voraussetzung für die Entdeckungsfahrten im 15. und 16. Jahrhundert –, aber das Gesamtbild der damals bekannten Welt war noch eher unzutreffend. Die Weltkarten umfassten das Gebiet von den Kanarischen Inseln bis Ostasien bzw. vom nördlichen Polarkreis bis zum Wendekreis des Steinbocks. Afrika knickte unterhalb des Äquators in östlicher Richtung ab und verband sich mit der Küste Südostasiens, so dass der Indische Ozean zu einem Binnenmeer wurde und der indische Subkontinent keine Halbinsel darstellte, sondern einen Teil des asiatischen Festlandsblocks bildete. Mit ihrem schrittweisen Vordringen an der afrikanischen Küste erfuhren die Portugiesen die tatsächlichen Ausmaße des Kontinents. Nachdem die spanischen Könige am 1. Januar 1492 im Rahmen der Rücker- oberung der iberischen Halbinsel von den Arabern (Reconquista) Granada als letzte noch verbliebene maurische Bastion eingenommen hatten, griffen sie in- tensiver in die Expansion ein, stießen dabei allerdings auf den Rivalen Portugal, das sich Afrika als Aktionsraum gesichert hatte, so dass ihnen auf der Suche nach einem Seeweg nach Indien die Westroute verblieb. Mit der Entdeckungs- fahrt des Christoph Kolumbus, mit der er auf der Suche nach einem Westweg über den Atlantischen Ozean am 12. Oktober 1492 zum ersten Mal Inseln auf der Westseite des Atlantischen Ozeans berührte, begann eine neue Phase der Geschichte sowohl für Europa als auch für den bislang den Europäern unbe- kannten Kontinent. Von nun an verlief die Geschichte der beiden Kontinente parallel oder besser gesagt, von nun an gab es für die nächsten drei bzw. vier Jahrhunderte eine gemeinsame Geschichte. Seit der „Entdeckung“ der ersten „neu erfundenen Inseln“ im Oktober 1492 erfolgte Zug um Zug mit weiteren Unternehmungen ausgehend von den Inseln der Karibik als Basis und Stütz- punkt ab 1518/19 die Entdeckung und Inbesitznahme des mittelamerikanischen, südamerikanischen und nordamerikanischen Festlandes sowie 1519-1522 die südliche Umschiffung dieser Landmasse. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts war die Eroberungsphase abgeschlossen, und es begann die Epoche der durchorgani- sierten Kolonisation. Relativ schnell also erfolgte die territoriale und juristische Einbeziehung der neuen außereuropäischen Regionen vor allem in das spanische Reich. 4 DIE INFORMATIONSGRUNDLAGEN FÜR DIE „BILDER“ Über diese Vorgänge informierten vornehmlich die Berichte von spanischen Entdeckern und Eroberern in vielfältigen Publikationen, die zunächst für das spanische Publikum bestimmt waren. Auch die Diskussion darüber, wie sie sich gegenüber den bisher unbekannten Wesen, die Kolumbus, als er Indien auf dem westlichen Seeweg gefunden zu haben glaubte, mit dem Sammelnamen Indios bezeichnete, verhalten und deren Kultur einschätzen sollten, betraf natürlich vor allem die Spanier als Hauptakteure, als Eroberer und Kolonisten der neuen Re- gionen. Die dabei von den Indios entstehenden „Bilder“ waren vielschichtig und reichten von einer verallgemeinernden Charakterisierung der Menschen als ab- stoßend, mit tierischem Verhalten und barbarisch (Gonzalo Fernández de Oviedo, Francisco López de Gómara, Juan Ginés de Sepulveda) bis hin zu einer idealisierenden Darstellung als edler, primitiver Wilder, der in die spanisch- christliche Zivilisation einbezogen werden konnte und musste (Bartolomé de Las Casas). Insgesamt gründete sowohl das negative als auch das positive Bild auf der Vorstellung von der kulturellen und religiösen Überlegenheit der Spanier und auf ihrem Recht, ja sogar ihrer Pflicht zur Zivilisierung und Christianisie- rung der Bewohner Amerikas. Zur Sichtweise der spanischen Chronisten siehe Hans-Joachim König: Verständnislosigkeit und Verstehen, Sicherheit und Zweifel: Das Indiobild spanischer Chronisten im 16. Jahrhun- dert. In: U. Bitterli / E. Schmitt (Hrsg.): Die Kenntnis beider ‚Indien’ im frühneuzeitlichen Europa. München 1991, S. 37-62. Zur spanischen Indianerpolitik und Diskussion über Status der Indios siehe Lewis Hanke: The Struggle for Justice in the Conquest of America. Boston 1949, 1965. Damit schufen sie übrigens ein Grundmuster der sendungsideologischen Rechtfertigung kolonialer Praxis. Siehe dazu Jürgen Osterhammel: Kolonialismus. Geschichte. Formen. Folgen. München 2003 Isidor, Erzbischof von Sevilla (um 560 in Cartagena - 04 .04 . 636 in Sevilla). Seine be- deutendste Schrift in der Reihe der naturwissenschaftlichen Werke ist die für König Sisebut geschriebene "Etymologiae", (um 630 abgeschlossen). Diese "Etymologiae" fassen als eine Realenzyklopädie das gesamte weltliche und geistliche Wissen der Zeit zusammen, Biogra- phisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 2., Herzberg 1990, Spalten 1374-1379. . Obwohl die Entdeckung und Eroberung Amerikas hauptsächlich von Spanien ausging und nur wenige Europäer aus anderen Ländern beteiligt waren, erfuhr Europa, oder besser gesagt das lesekundige Publikum, die gebildeten Kreise, die Humanisten, aber auch die interessierten Kaufleute in Italien, Frankreich und Deutschland, z.B. in Augsburg und Nürnberg, doch sehr schnell von den Vor- gängen jenseits des Atlantiks. Informationen lieferten zuerst und vor allem Brie- fe und Beschreibungen von Beteiligten und Augenzeugen, die damit der Be- richtspflicht an ihre Auftraggeber nachkamen oder ihr Vorgehen rechtfertigten. Diese Briefe zirkulierten zunächst als handschriftliche Kopien, dann wurden sie in gedruckter Form, wie z.B. in sogenannten Neuen Zeytungen auch einem brei- teren Publikum zugänglich gemacht, vor allem, wenn sie nicht in Latein, son- dern in den Volkssprachen erschienen. Weil zu dieser Zeit die westeuropäischen Länder wie Deutschland, Italien und die Niederlande Zentren des Druckereige- werbes waren, fanden die spanischen Schriften als Übersetzungen schnell Verbreitung. Gerade diese Sekundärpublikationen erzeugten durch ihre Texte und bildhaften Illustrationen Eindrücke und Bilder visueller und mentaler Art von Amerika und den Amerikanern/Indios. Wichtige Darstellungen und Analysen der ersten Bilder über die Neue Welt liefern u.a. Fredi Chiappell (Hrsg.): First Images of America: The Impact of the New World on the Old, 2 Vols. Berkeley/Los Angeles 1976. Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam. Stuttgart 1986. C.S.I.C. (Hrsg.): La Imagen del Indio en la Europa Moderna. Sevilla 1990; darin: Horst Pietschmann: Visión del indio e historia latinoamericana, S. 1-11; Benjamin Keen: European vision of the indian in the sixteenth and seventeenth centuries: A sociological approach, S. 101-116; Hans-Joachim König: La visión alemana del indio americano en los siglos XVI y XVII, S. 127-156; Helga von Kügelgen Kropfinger: El indio: ?Bárbaro y/o buen salvaje?, S. 447-487. Jean-Paul Duviols: Le régime colonial espagnole vu par les français à l'époque des Die frühen Amerikabilder 39 lumières, in CNRS (Hrsg.): L'Amérique dans la France des Lumières. Paris 1987, pp. 309- 318. Diese Art der Rezeption und die entstehenden Bilder geben besonders Aus- kunft über den schwierigen, durch „Vorwissen“ belasteten Kulturkontakt zwi- schen Europa und den neuen Regionen. Im nicht-iberischen Europa, d.h. auch im deutschen Sprachraum gab es kein direktes Herrschaftsinteresse an den neu- en Regionen, bestand nicht die Notwendigkeit wie in Spanien und Portugal, über die Feststellung von Inferiorität oder Vernunftbegabung der Eroberten die Art und Weise der Konquista und die Kolonisation zu legitimieren. Hier hätte man eigentlich eine Haltung erwarten können, die eine Vielfalt von Kulturen akzep- tierte, wie sie z.B. 1508 der Nürnberger Arzt Jobst Ruchamer im Vorwort zur ersten deutschen Sammlung von Reiseberichten aus den neuen Welten forderte. Jobst Ruchamer: Newe vnbekanthe landte Und ein newe weldte in kurtz verganger zeythe erfunden. Nürnberg 1508, fol. 1v. „Auff das meniglich erkennen vnd erkündigen mochte / die grossen wunderbarlichen wunder gottes des almechtigen / der die welte mit so mancherley geschlechten der menschen / landen / jnslen / vnd seltzamen creaturen (wie ober angezaygt ist) erschaffen vnd gezeyerthe hat.“ Wir werden sehen, dass „Vorwissen“ und Selbsteinschätzung überwogen. Zu den wichtigsten Americana des frühen 16. Jahrhunderts – den Informati- onsquellen über Amerika und seine Bewohner –, die im Kontext der Namensge- bung interessant sind, gehören die Briefe von Christoph Kolumbus und Amerigo Vespucci. DER KOLUMBUS-BRIEF Kolumbus hat während seiner Schiffsreise ein Bordbuch oder Tagebuch ge- führt, in dem er alle Ereignisse und auch seine persönlichen Gedanken festhielt. Dieses Tagebuch, das Kolumbus nach seiner Rückkehr an die spanischen Köni- ge Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragonien schickte, um seinen Auftraggebern Rechenschaft über das Unternehmen zu geben, ist im Original nicht überliefert und war auch seinen Zeitgenossen nicht zugänglich. Abschnitte von einer Kopie bzw. Zusammenfassungen finden sich in der Historia de las Indias des Dominikaners Bartolomé de Las Casas. Eine erste Veröffentlichung erfolgte erst 1825. Zugänglich für die Zeitgenossen aber war der in Briefform verfasste Kurzbericht über die entdeckten Inseln. Siehe als deutsche Ausgabe: Christopf Kolumbus: Bordbuch. Mit einem Nachwort von Frauke Gewecke. Insel Taschenbuch. Frankfurt a. M. 2006. Am 15. März 1493 war Kolumbus mit der Niña im Hafen von Palos eingelau- fen und reiste von dort weiter über Sevilla an den Hof in Barcelona, wohin ihn das Königspaar eingeladen hatte. Sie wollten verständlicherweise schnell nähere Einzelheiten erfahren und das weitere Vorgehen besprechen. Ende April erreich- te Kolumbus Barcelona und wurde dort von den spanischen Königen mit großen Ehren empfangen. Die Könige bestätigtem ihm erneut die im Vertrag (Capitula- ciones) vom 17. April 1492, der rechtlichen Grundlage seiner Entdeckungsfahrt, verliehenen Rechte. Sie fügten neue Gunsterweisungen hinzu und beauftragten ihn mit einer neuen Reise. Kolumbus konnte mit Recht stolz auf seine Leistung sein, die er in seinem Brief entsprechend beschrieb. Von diesem Brief, den Kolumbus auf der Rückreise von seiner ersten Fahrt Anfang März 1493 auf der Höhe der Azoren formulierte und an den Finanzver- walter Luis de Santangel richtete, existiert zwar kein Originalmanuskript, und über seine Echtheit ist viel diskutiert worden, doch stimmt er inhaltlich, z.T. wörtlich, mit dem Bordbuch oder Tagebuch der ersten Reise überein; er gilt deshalb allgemein als der Kolumbus-Brief. Siehe dazu Demetrio Ramos Pérez: La primera noticia de América. Valladolid 1986. Er wurde den Zeitgenossen als Kurzbericht über die Entdeckungen schnell zugänglich gemacht und diente u.a. auch dazu, von Papst Alexander VI., einem Spanier, die Legitimierung für die jüngste und weitere Entdeckungen unter dem Zeichen der Missionierung zu er- halten. Er erschien im April 1493 in Barcelona auf Spanisch und kurz danach Anfang Mai 1493 in Rom in drei ins Lateinische übersetzten Ausgaben sowie in einer italienischen Übersetzung in Versform. Danach folgten innerhalb weniger Monaten lateinische Ausgaben in Antwerpen, in Basel mit vier Holzschnitten, drei Ausgaben in Paris und zwei auf Italienisch in Versform in Florenz; ferner noch 1497 in Valladolid eine Neuausgabe der ersten spanischen Ausgabe von Barcelona und eine deutschsprachige Ausgabe in Straßburg Eyn schoen hübsch lesen von etlichen inßlen ... , jeweils im Quartformat mit einem Umfang von acht bis zwölf Seiten. Der Brief fand in Europa schnell Verbreitung, wurde in zahl- reichen späteren Werken, Chroniken und Kosmographien, rezipiert und verar- beitet, weil er erste Informationen über bisher unbekannte Regionen und Men- schen lieferte. 11 Kolumbus selbst war sich des Neuen jedoch gar nicht bewusst. Aus seinen Beschreibungen geht das Neue nicht hervor; er war ja seiner Meinung nach in Indien gelandet und befand sich in der Nähe des Großen Kahn. Im Gegenteil, den Beschreibungen im Brief liegen ein europäisches „Vorwissen“ und altbe- kannte Erwartungen zugrunde, wie aus seinen Bemerkungen über Monster und Amazonen hervorgeht. Ich benutze hier eine deutsche Übersetzung des Briefs an Santangel bei Emir Rodríguez Monegal (Hrsg.): Die Neue Welt. Chroniken Lateinamerikas von Kolumbus bis zu den Unab- hängigkeitskriegen. Frankfurt a.M. 1982 (st 811), S. 67-77. Man musste das vermeintlich Unbekannte mit dem Be- kannten in eins setzen. Ausdrücklich betonte er, auf den Inseln keine Monster oder Ungeheuer getroffen zu haben, „Auf diesen Inseln konnte ich keine Unge- heuer in Menschengestalt feststellen, wie viele glauben machen wollen, sondern fand überall Leute von angenehmem Äußeren“. Kolumbus-Brief, in Rodríguez Monegal (Hrsg): Die Neue Welt, S. 75. Von wilden Menschenfres- sern, von Anthropophagen, von Amazonen - schon Kolumbus spricht hier eine Erwartung an, die später aufgenommen wird -, von Menschen mit Schwänzen oder Hundsköpfigen, die angeblich auf anderen Inseln lebten, habe er nur ge- hört. Kolumbus-Brief, Ebenda, S. 75 f. Doch klingt in den Worten von Kolumbus an, dass er solche Fabelwesen erwartete, von denen die im Original französischsprachigen fiktiven Reiseerzäh- lungen des Jean de Mandeville, Pseudonym eines sonst unbekannten Autors, aus dem Ende des 14. Jahrhunderts berichteten. Es gab in ganz Europa zahlreiche Ausgaben in verschiedenen Sprachen. Und auch Kolumbus besaß ein Exemplar. Wie sehr das europäische Publikum solche angeblich jenseits des Äquators lebenden Wesen, von denen Hartman Schedel in seiner Weltchronik von 1493 geradezu ein Repertorium zusammengestellt hat Hartmann Schedel: Weltchronik. 1493. Facsimile . Augsburg 2001, Blatt XII recto. , aber eigentlich immer noch erwartete, zeigt beispielsweise die deutsche Fassung des Kolumbusbriefs von 1497, die an der entsprechenden Textstelle Ptolemäus als Autorität für das Vor- handensein solcher Merkwürdigkeiten anführt. Wenn Kolumbus eine weit ent- fernt liegende, von Geschwänzten bewohnte Insel erwähnt, ergänzt der deutsche Text: „Von den prouintzen unnd inßlen sagt ouch ptolemeus wie do lüt sind die schwencz hond, und ligent die inßlen in dem indischen moer gen mittag [...].“ Eyn schoen hübsch lesen ..., f. 4 v. Abb.1 Begegnung mit den friedlichen Indios; Holzschnitt aus dem Kolumbus-Brief, Baseler Ausgabe 1493/94 Kolumbus schildert die bei seiner ersten Begegnung angetroffenen Inselbe- wohner als schöne, freigebige, friedliche, sanftmütige, fast furchtsame Men- schen ohne Waffen, die kein Eisen kannten. Und zeichnet damit schon das Bild vom „guten Wilden“ vor. „Sie kennen weder Eisen noch Stahl, besitzen keine Waffen, mit denen sie umzugehen wüssten, nicht etwa deshalb, weil es ihnen an körperlicher Kraft gebrechen würde, sondern weil sie von Natur aus äußerst furchtsam sind. [...] Weiß man aber ihr Zutrauen zu gewinnen und ihre Furcht in den Wind zu schlagen, so erweisen sie sich als so ehrliche und freigebige Men- schen, dass es niemand für möglich halten würde, der es nicht selbst erlebt hat. Was man auch von ihnen verlangt, nie werden sie es einem verweigern, sondern es einem herzlich gern anbieten, wobei sie sich mit jeder noch so geringfügigen Gegengabe zufrieden geben.“ Kolumbus-Brief, Rodríguez Monegal: Die Neue Welt, S. 69-71. Diese friedliche Haltung, die Kolumbus den In- selbewohnern, den Tainos und Arawaks, im Unterschied zu den kriegerischen Stämmen der Kariben auf den Inseln über dem Wind bescheinigt, hat der Dru- cker der Baseler Ausgabe in einem entsprechenden Holzschnitt, der die erste Begegnung zwischen Europäern und Indios zeigt, wiedergegeben. (Abb.1) Kolumbus erwähnt lobend die Vernunft der Inselbewohner, er hält sie zur Annahme des Christentums würdig und fähig, da sie keinen Götzendienst pfle- gen. „Sie huldigen weder einer Sekte noch einem Götzendienst. Doch waren sie alle vom Glauben durchdrungen, dass alle Macht und alles Gute vom Himmel kommen. [...] Man darf aber nicht glauben, dass sie dumm und unwissend sind. Im Gegenteil: sie haben einen gesunden Menschenverstand, der des Scharfsinns nicht entbehrt. [...] Allerdings waren ihnen bekleidete Menschen und Schiffe, wie die unsrigen, eine vollkommene Neuheit.“ Ebenda, S. 71 f. In seinem Bordbuch hat Kolumbus die mögliche und notwendige Christia- nisierung noch ausführlicher dargestellt. Ihre Nacktheit – sie sind übri- gens eher weißhäutig, also nicht afrikanisch-schwarz und gehen „ohne Unter- schied des Geschlechts vollkommen nackt, wie Gott sie erschaffen“ Ebenda, S. 69 – er- scheint noch nicht in einem negativen Licht, vielmehr enthält der Naturzustand einen Hinweis auf das in „Indien“ vermutete irdische Paradies, mit dessen zeit- genössischen Vorstellungen Kolumbus durch die Lektüre der kosmographischen Enzyklopädie des französischen Kardinals Pierre d’Ailly Imago Mundi , wohl zwischen 1480 und 1483 veröffentlicht, vertraut war. Die Art, wie Kolumbus mit überschwänglichen Worten die Landschaft Hispaniolas (Haiti) hinsichtlich ihrer Schönheit, Fruchtbarkeit und des Reichtums an Pflanzen und Edelmetallen beschreibt, lässt tatsächlich die Vorstellung eines (wieder)gefundenen Paradie- ses entstehen, das man sich seit alters her als idyllische Gartenlandschaft vor- stellte und zu dem bestimmte Versatzstücke wie die Nachtigall oder der Honig gehörten. Siehe dazu Klaus H. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Zur Ikonographie der geographischen Utopie. Frankfurt a. M 1984. Hildegard Frübis: Die Wirklichkeit des Fremden. Die Darstellung der Neuen Welt im 16. Jahrhundert. Berlin 1995, S. 19f. „Alle diese Inseln sind von erstaunlicher Fruchtbarkeit; doch gilt dieses in ganz besonderer Weise von letzterer Insel [Spanische Insel]. An ihrer Küste öffnen sich zahlreiche Häfen, die in Europa schwer ihresgleichen finden; viele große Flüsse münden ins Meer. Das Land ist hochgelegen und wird von zahlreichen Gebirgsketten mit bedeutenden Erhebungen durchzogen, noch mehr, als dies auf der Insel Teneriffa der Fall ist. Alle Berge sind äußerst vielgestaltig und begehbar, von verschiedenerlei Bäumen besetzt und von solch’ erstaunli- cher Höhe, dass sie den Himmel zu berühren scheinen. Meines Erachtens verlie- ren diese Bäume niemals ihren Blätterschmuck; sie waren so schön grün leuch- tend wie die Bäume in der spanischen Heimat im Monat Mai. Einige von ihnen blühten, während andere fruchtbeladen waren. Dazwischen vernahm man den Gesang von Nachtigallen und zahlreicher anderer Vögel, in jenem Monat No- vember, da ich mich dort befand. Es gibt dort sechs oder acht verschiedenen Ar- ten von Palmen, deren wundersame Mannigfaltigkeit erstaunlich ist. Überdies sieht man dort außergewöhnlich viele Pinien, weite bepflanzte Ländereien und zahllose Vogelarten. Auch Honig und die verschiedensten Fruchtarten findet man dort. Das Innere des Landes ist stark besiedelt und reich an Erzgruben. Die Spanische Insel ist ein wahres Naturwunder.“ Kolumbus-Brief, Rodríguez Monegal: Die Neue Welt, S. 68 f. Bei seiner Fahrt entlang der Nordküste Hispaniolas hörte er wie schon auf an- deren Inseln von kriegerischen Eindringlingen, von wilden, menschenfressenden „Kariben“, die von der Insel „Karib“ und anderen entfernteren Inseln – den klei- nen Antillen, den Inseln über dem Wind – bis nach Kuba und Haiti vorstießen und die friedlichen Einwohner dieser Inseln drangsalierten und raubten. „Mithin sind mir Menschenungeheuer unbekannt geblieben, bis auf eine Insel, „Quaris“ genannt, die zweite Insel nächst der Zufahrt nach Indien, wo eine Bevölkerung haust, die auf allen Inseln für äußerst wild gehalten wird, da sie Menschenfleisch verzehrt. Die Einwohner von Quaris besitzen zahlreiche Kanoes, mit denen sie alle indischen Inseln unsicher machen, um alles zu rauben und zu plündern, was in den Bereich ihrer Hände kommt.“ Ebenda, S. 75, Kolumbus hört also von Menschenfres- sern, benennt sie auch in späteren Berichten, z.B. von seiner zweiten Reise. Memorial ... sobre el suceso de su segunda viaje, in: Consuelo Varela (ed.): Cristóbal Colón. Textos y documentos completos. Madrid 1982/1989, S. 153. Weil Kolumbus überall nach Belegen für Asien suchte, verstand er den Namen „Kariben“ als „Kaniben“, die Leute von Caniba oder Canima und deutete ihn, wie er im Bordbuch unter dem 26. November 1493 festhielt, als Namen der Völker des Groß-Khans und bezweifelt auch deren Menschenfresserei. „Alle Indianer, denen ich bisher begegnet, machen aus ihrer Furcht vor den Bewoh- nern von Caniba oder Canima kein Hehl. Sie behaupten, dass jene auf Bohío ansässig seien, das meiner Ansicht nach sehr groß sein muss. Diese Canibaleute sollen die Indianer aus ihren Ländern und Behausungen fortschleppen, da sie feige und wehrlos sind. [...]. Dazu beteuerten sie, dass die Canibaleute ein einzi- ges Auge und ein Hundegesicht hätten. Ich war der Meinung, dass die Indianer die Unwahrheit sprachen, und hegte den Verdacht, dass die gefürchteten Men- schenfresser nichts anderes als Untertanen des Großen Khan waren, die sie in Gefangenschaft schleppten.“ Kolumbus: Bordbuch, Frankfurt a.M. 2006, S, 122f. Vgl. den spanischen Text Diario del primer viaje, in C. Varela: Cristóbal Colón, S. 65. Seither bestand eine noch vage Verbindung zwi- schen den Caniba-Leuten, spanisch caníbales, und dem Verdacht von Menschenfresserei. In den nächsten Jahren wurden die Begriffe Canibale und Menschenfresser Synonyme. Der Begriff canibale begann den Begriff Anthro- pophage zu ersetzen. Statt Anthropophagie bürgerte sich der Begriff Kanniba- lismus ein. Im Unterschied zu diesen Wilden erschienen Kolumbus die Bewohner Hispa- niolas als besonders friedliche Menschen, die sich deshalb hervorragend als Ar- beitskräfte eignen würden. Im Bordbuch notierte Kolumbus dazu unter dem 16. Dezember 1493, nachdem er die Schönheit, Freundlichkeit und Freigiebigkeit der zu den Arawaks gehörenden Bewohner her- vorgehoben hatte: „Diese Insel, wie auch alle anderen Inseln, gehören zum Besitze Eurer Ho- heiten, genau so wie Kastilien; um die Herrschaft auszuüben, braucht man sich hier nur nie- derzulassen und den Eingeborenen anzuordnen, allen Befehlen nachzukommen. [...] Sie besitzen keine Waffen, sind unkriegerisch, harmlos, nackt und so feige, dass tausend von ih- nen drei meiner Leute nicht an sich heran lassen würden. Dafür sind sie bereit, zu gehorchen, zu arbeiten und alles Nötige zu vollführen. Mithin wäre es angezeigt, sie dazu zu verwenden, Städte und Ortschaften zu errichten, und ihnen unsere Kleidung und Gebräuche beizubrin- gen.“ Bordbuch, S. 167f. Im Übrigen sah er in der Entdeckungstat das Wir- ken Gottes zum Ruhm Spaniens durch die Erweiterung der Christenheit mit nachfolgender Christianisierung, wozu er die spanischen Könige aufforderte: „Da nun Unser Herr und Erlöser unserem erlauchtesten Königspaar und ihren Königreichen diesen Sieg beschert hat, der ihnen bis in späte Jahrhunderte Ruhm und Glanz verleihen wird, muss die ganze Christenheit frohlocken und mit großen Feierlichkeiten und Andachten der Heiligen Dreifaltigkeit dafür Dank sagen, dass die Bekehrung so vieler Völker zu unserem Glauben dem Christentum neuen Aufschwung geben wird – ganz zu schweigen vom materiel- len Wohlstand, den dies alles im Gefolge haben wird. Denn nicht nur Spanien, sondern die ganze Christenheit wird daraus mannigfachen Nutzen ziehen.“ Kolumbus-Brief, Rodríguez Monegal: Die Neue Welt, S. 77. Die positive, ideale Beschreibung von Natur und Menschen lässt auf den ers- ten Blick den Eindruck von Achtung und Objektivität des Entdeckers gegenüber den Indios entstehen. Ja, die in diesem Brief wie auch in späteren Berichten sei- ner drei weiteren Reisen erkennbare Ausdruckskraft der Sprache bei der Beo- bachtung und Beschreibung der Mineral-, Pflanzen- und Tierwelt sind als „wertvolle Sprachdenkmäler [...] der Renaissancezeit“ bezeichnet worden. Günther Hamann: Christoph Columbus zwischen Mittelalter und Neuzeit – Nachfahre und Wegweiser, In: G. Klingenstein / H. Lutz / G. Stourzh (Hrsg.): Europäisierung der Erde ? Wien 1980, S. 15-38; hier S. 33; vgl. Tzvetan Todorov: Der Reisende und der Eingeborene, in: E. Garin (Hrsg.): Der Mensch der Renaissance. Frankfurt a. M./New York 1990, S. 341- 370, hier S. 347f. Doch dürfen wir nicht übersehen, dass Kolumbus ebenso wie seine Auftragge- ber ein ganz handfestes Interesse hatten: Das Entdeckungsunternehmen, das vor allem ein Handelsunternehmen sein sollte, musste sich lohnen; zumindest muss- ten die Aussichten dazu bestehen. So wird bei genauem Hinsehen deutlich, dass auch die Art, wie Friedfertigkeit und Waffenlosigkeit, d.h. nicht zu erwartender Widerstand, als besondere Merkmale der Indios beschrieben wurden, wie ihr Nutzen als Arbeitskräfte und wie der Reichtum an Früchten und Bodenschätzen erwähnt wurden, dazu diente, zukünftige Entdeckungsfahrten als lohnend er- scheinen zu lassen. Und dem Hinweis auf die Möglichkeit, das Christentum zu verbreiten, ist trotz der Religiosität und trotz allen vorhandenen Glaubenseifers bei Kolumbus und beim spanischen Königspaar die Legitimationsfunktion für Entdeckung und Eroberung sowie für Machtzuwachs deutlich anzumerken. Diesen Aspekt von Entdeckung und Missionierung hat der Herausgeber des deutschen Kolumbus-Briefs von 1497 Rechnung getragen, indem er den Text mit zwei identischen Holzschnitten einrahmte, die den Missionsauftrag darstel- len. (Abb.2) Der Kolumbus-Brief hat gerade in Rom beim Papst seine Wirkung nicht ver- fehlt. Die spanischen Könige erreichten es, dass Papst Alexander VI., ein Spa- nier aus dem valencianischen Adelsgeschlecht der Borja, die spanischen Entde- ckungsunternehmen über das traditionelle Recht der Erstentdeckung hinaus sanktionierte. In mehreren Bullen des Jahres 1493, besonders in der auf den 4. Mai datierten „Inter Caetera“, die zeitlich mit der römischen Veröffentlichung des Kolumbus-Briefs zusammenfällt, bestätigte der Papst (donamus, concedi- mus et assignamus) der Krone von Kastilien und León die Besitzrechte über die neuentdeckten und noch zu entdeckenden Inseln und Länder, die jenseits einer hundert Meilen westlich der portugiesischen Azoren und Kapverdischen Inseln in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Linie, dem 38. Grad westlicher Länge lie- gen würden, ohne die Ausmaße dieses Aktionsgebietes zu kennen. Zugleich wird denjenigen göttliche und päpstliche Indignation angedroht, die gegen die päpstliche Zuerkennung verstoßen und die spanischen Monarchen am Erwerb oder Besitz der entdeckten und noch zu entdeckenden Gebiete jenseits der gezo- genen Linie hindern oder widerrechtlich diese Gebiete betreten. Der Papst be- gründete die Verleihung an die spanischen Monarchen mit ihrem schon bei der Einnahme Granadas bewiesenen Missionseifer, den christlichen Glauben zu verbreiten, und erwähnte in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch den Glaubenseifer von Kolumbus. Entsprechenden Missionseifer und Sorge für das Seelenheil der Heiden erwartete der Papst auch für Indien. Text der Bulle bei Mariano Delgado (Hrsg.): Gott in Lateinamerika. Texte aus fünf Jahr- hunderten. Ein Lesebuch zur Geschichte. Düsseldorf 1991, S. 68-71. Die frühen Amerikabilder 49 Mit den Papstbullen hatten die Spanier eine rechtliche Handhabe nicht nur gegenüber dem portugie- sischen Rivalen, der östlich dieser Linie, also an der Küste Afrikas weiter agie- ren konnte, sondern auch gegenüber anderen europäischen Mächten, die durch die Aufteilung der Aktionsräume im Atlantik zwischen Spanien und Portugal von Aktivitäten in den neuen Regionen ausgeschlossen wurden. Im deutschsprachigen Raum erfolgte der Hinweis auf die neuen Regionen jenseits des Atlantiks schon sehr früh. Im Jahr 1494, immerhin nur ein Jahr nach der Rückkehr des Kolumbus im Februar 1493 und nur kurze Zeit nach der ersten Veröffentlichung seines Briefes vom Frühjahr 1493, der 1494 in Basel auf Lateinisch erschien, widmete der Baseler Jurist und Dichter Sebastian Brant in- nerhalb seines Werkes „Das Narrenschiff“ im 66. Kapitel den Neuentdeckungen vier Zeilen in den Versen 53-56 Brant verwendete in diesen vier Zeilen schon die beiden wesentlichen Topoi, die auch in späteren Schriften immer wieder auftauchen und im weiteren Ame- rika- bzw. Indiobild enthalten sind nämlich Schätze und Nacktheit der Men- schen. Bereits Kolumbus hatte, wie wir sahen, in seinem Brief von 1493, den Brant in der lateinischen Ausgabe von Basel zweifellos kannte, die Nacktheit der Indios besonders erwähnt. Er sah darin noch keinen Makel, zumal ihm die auf den Karibikinseln angetroffenen Indios friedlich und vernunftbegabt er- schienen. DIE REISEBERICHTE VESPUCCIS Dadurch, dass die Trennungslinie zwischen spanischem und portugiesischem Aktionsraum relativ dicht an der afrikanischen Küste verlief, hatte sich Portugal bei seinen Indienfahrten auf der östlichen bzw. südlichen Route beeinträchtigt gesehen, weil die Schiffe wegen ungünstiger Küstenwinde und -strömungen in weitem Bogen auf den Atlantik ausgreifen mussten, also zwangsläufig in das spanische Interessengebiet eindrangen. Um seinen Ostindien-Flotten ungehin- derte Fahrten zu sichern, hatte es sich darum bemüht, die „Teilung“ nachzubes- sern und auf der Basis der päpstlichen Urkunden eine neue, weiter westlich ver- laufende Trennungslinie der beiden Interessensgebiete festlegen zu lassen. Im Vertrag von Tordesillas vom 7. Juni 1494 einigten sich Spanien und Portugal auf den 46. Grad westlicher Länge als neue Trennungslinie, die nun 370 Meilen westlich der Kapverdischen Inseln verlief. Die westlich dieser Grenze liegenden Weiten des Ozeans und die – noch unbekannten – Regionen sollten spanisches, die östlich liegenden portugiesisches Einflussgebiet sein. Damit erhielt Portugal Anteil an den neuen Inseln und Ländern im Westen, denn der östliche Vor- sprung des neuen Kontinents fiel in den Portugal zugewiesenen Einfluss- und Aktionsbereich. Portugal war entsprechend den Regelungen von Tordesillas an den Entde- ckungen und Erkundungen Westindiens kaum beteiligt, da es sich in seiner überseeischen Expansion auf Afrika bzw. auf den ostindischen Raum konzent- rierte. Nur durch Zufall erhielt es davon Kenntnis, dass ihm mit der Trennungs- linie auch ein Teil der neuen Regionen in Westindien zugefallen war. Eine weit in den Atlantik abgetriebene portugiesische Ostindienflotte unter Pedro Álvares Cabral hatte im April 1500 Land berührt und für Portugal in Besitz genommen. Mehrere Expeditionen wurden ausgeschickt, um zu klären, dass dieses von Álvares Cabral Terra do Vero Cruz genannte Land tatsächlich zum portugiesi- schen Einflussgebiet gehörte. Nach dem in den Tropenwäldern gefundenen und zur Rotfärbung geeigneten Brasilholz erhielt es den Namen Terra do Brasil, Bra- silien. In der Folgezeit blieb Brasilien ein wichtiger Stütz- und Anlaufpunkt für die portugiesischen Ostindienflotten. Die Besiedlung beschränkte sich das ganze 16. Jahrhundert hindurch auf die Küstenzonen. Hier lebten die Küstenindianer, die Tupís, auf der Wirtschaftsstufe von einfachen Pflanzenkulturen und verzehr- ten aus rituellen Gründen ihre Gefangenen. An einer dieser portugiesischen Expeditionen in den Jahren 1501/1502 nahm wohl als Kosmograph und Astronom auch der Florentiner Amerigo Vespucci (1451-1512) teil. Vespucci war Anfang der 1490er Jahre als Repräsentant des Bankhauses der Medici nach Sevilla gekommen, wo er als Schiffsausrüster tätig wurde und auch mit Kolumbus in Kontakt kam. 1499/1500 hatte er – in spani- schen Diensten – zusammen mit dem Kartographen Juan de la Cosa als Teil- nehmer an der Entdeckungsfahrt des Spaniers Alonso de Hojeda 1499 entlang der südamerikanischen Küste schon eine erste Ahnung von den Ausmaßen der neuen Regionen bekommen, ohne zu profunderen Kenntnissen von der Beschaf- fenheit des Festlandes zu gelangen. Amerigo Vespucci hat in seinem erst im 18. Jahrhundert veröffentlichten Brief vom 18. Juli 1500 an Lorenzo di Pier Fran- cesco de Medici, auf Italienisch mit zahlreichen Hispanismen geschrieben, eine interessante Skizze über den Verlauf der Hojeda-Fahrt und die Berührung mit Land und Leuten geliefert. Siehe zu den Vespucci-Texten Amerigo Vespucci: Cartas de viaje. Introducción y notas de Luciano Formisano. Madrid 1986. – Der Brief vom 18. Juli 1500, S. 51-65; bzgl. Asiens S. 59. Er berichtet von nackten Menschen, die sich mehr- heitlich vom Menschenfleisch ihrer Feinde ernähren und zu einem Stamm gehö- ren, der sich canibales nennt. Ebenda, S. 57 f. Vespucci verwendet damit den von Kolumbus für die Kariben eingeführten Namen und trägt so zur Gleichsetzung von caniba- les und Menschenfressen bei. Auf ihn und Hojeda geht auch der Name Venezue- la zurück. Die Pfahlbauten der Indios an den Küsten des Maracaibo-Sees erin- nerten sie an Venedig; sie sahen eine kleine Venezia. Ebenda, S. 61. Der Name findet sich auch zum ersten Mal auf der berühmten Weltkarte von 1500, der ersten Weltkar- te, in der Juan de la Cosa auf der Basis der bis dahin durchgeführten Entde- ckungsfahrten erstmals die neuen Regionen in die bisherige traditionelle Welt- darstellung einfügte. De la Cosa und Vespucci betrachteten wie schon Kolumbus das Land noch als Randzone Asiens. Erst zwei Jahre später korrigier- te Vespucci seine Meinung. Die von König Manuel I. 1501 zur Erkundung der brasilianischen Küste entsandte portugiesische Expedition unter der Leitung von Gonçalo Coelho überquerte von Afrika, von Guinea aus den Ozean, erreichte die brasilianische Küste bei Kap São Roque (nördlich des heutigen Natal) und folgte ihr nach Süden bis kurz vor die Mündung des Rio de la Plata, ohne diese jedoch befahren zu haben. Über diese Fahrt und seine Eindrücke von Land und Leuten an der brasilianischen Küste, über die neu entdeckte Region überhaupt hat Amerigo Vespucci im September 1502 in einem offenen, an Lorenzo di Pier Francesco de Medici adressierten Brief berichtet. Der Inhalt dieses im Original verloren gegangenen Briefes erschien dann 1503 in lateinischer Sprache in Paris und danach oft mit dem werbekräftigen Titel Mundus Novus in zahlreichen lateinischen und volkssprachigen Ausgaben in ganz Europa, meist im Umfang von vier bis acht Seiten. Die erste Veröffentlichung hieß Albericus Vespuccius Laurentio Petri Francisci de Medicis salutem plurimam dicit. Paris 1513. – Mundus Novus. Augsburg 1504. – Mundus Novus. Ve- nedig 1504. – Mundus Novus. Rom 1504. – Epistola Alberici. De nuvo mundo. Rostock 1503/1505.-De ora antarctica per regem Portugallie pridem inventa. Straßburg 1505.- Von der neu gefunden Region so wol ein Welt genent mag werden, durch den Cristenlichen künig, von portigal, wunderbarlich erfunden. Basel 1505. – Mit ähnlichen Titel: Das sind die new gefun- den menschen oder volcker. Nürnberg 1505-06. – Von der neu gefunden region. Augsburg 1505. Von den nüwen Insulen und landen. Straßburg 1505. – Von den newen Insulen und landen. Leipzig 1506. -Von der new gefunnden Region. Nürnberg 1506.- Diß büchlein saget wie die zwen durchlüchtigsten herren her Fernandus K. zu Castilien vnd herr Emanuel K. zu 50 Hans-Joachim König Ausgaben erschienen. 33 Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts hat es mindestens 50 Editionen gegeben, davon allein in Deutschland mindestens zehn lateinische und 13 volkssprachige, wobei die meisten auf dem Text der ersten lateinischen Pariser Ausgabe basierten. Kein anderer Text über die Entdeckung, der Geographie, Sternkonstellation, Himmelskörper, Pflanzen und Völkerschaften beschrieb, hat in Europa eine solche Resonanz gefunden und ist in so vielen Im Unterschied zum Kolumbus-Brief wies schon der Titel des veröffentlich- ten Berichts von Vespucci, Mundus Novus in den lateinischen bzw. Von der neu gefunden Region so wol ein welt genent mag werden oder ähnlich in deutschen volkssprachigen Ausgaben, darauf hin, dass es sich bei den neu entdeckten Re- gionen an der südamerikanischen Küste/Brasilien um etwas „Neues“, eine bisher nicht bekannte „Neue Welt“ handelte. Tatsächlich hält Vespucci diese neuen Regionen nicht mehr für ein Anhängsel Asiens, sondern für eine eigene Land- masse, ja sogar einen neuen Kontinent neben Europa, Asien und Afrika: Wie bei Kolumbus klingen auch bei Vespucci in der Art, wie er Schönheit und Reichtum der Landschaft, die milden Hügel, großen Flüsse und heilsamen Quellen, die freundlichen, hilfsbereiten, im Naturzustand lebenden Menschen beschreibt, Vorstellungen vom irdischen Paradies an, Züge, die in der Rostocker Ausgabe von 1503/1505 in einem Holzschnitt klar erfasst sind, wenn zwei nack- te Indios, Mann und Frau, entsprechend der zeitgenössischen Sündenfall- Darstellung gezeigt werden. Was die Europäer aber vor allem erregt haben muss, waren die Informationen über die Lebensgewohnheiten der Tupinamba. Das betraf weniger den korrekt beschriebenen Federschmuck oder die Sitte, sich Steine durch Nase und Wangen zu bohren – in diesen Beschreibungen bewies Vespucci geradezu ethnologische Fähigkeiten –, als vielmehr ihre als schamlos empfundene Nacktheit, ihre Geil- heit und Promiskuität, das Fehlen von Privateigentum, von politischer Ordnung und Religion sowie vor allem den Verzehr von angeblich zum Räuchern aufge- hängten Menschenfleisch. Diese Textpassagen haben das Interesse von Autoren, Verlegern, Druckern, Illustratoren und auch des Publikums geweckt, auf sie konzentrierten sich bald die Ausgaben wie beispielsweise der Baseler Druck aus dem Jahre 1505. Nach der Beschreibung des Landes, der Tiere und Pflanzen, der tropischen Üppigkeit heißt es zunächst über die Menschen, die durchaus in paradiesischem Zustand leben: Vespucci beschreibt dann weiter die Sitte, sich Steine in Nasen und Wangen zu bohren, womit sie sich seiner Meinung nach verunzieren. Weiterhin schildert er – anscheinend nüchtern objektiv, aber doch mit erkennbarer lüsterner Ab- scheu – die Geilheit und Promiskuität dieser Nackten: Interessant ist, wie Vespucci von dem beschriebenen Naturzustand hin- und hergerissen, angezogen und abgestoßen wird, wenn er einerseits den positiven, paradiesischen bzw. urkommunistischen Zustand und andererseits die Promisku- ität beschreibt: Am phantastischsten aber klang die Beschreibung der Menschenfresserei: Dieser Bericht über den ambivalenten Naturzustand der Indios, über die feh- lenden Vorstellungen von Privateigentum, über das Fehlen politischer Ordnung und Religion, über ihre abstoßenden Sitten und die Menschenfresserei hat wie kein anderer die Phantasie der Europäer erregt und gerade auch in Deutschland zu oft reißerischen Illustrationen über den „wilden und barbarischen“ Indio ge- führt. Verschiedene Ausgaben des Briefes wurden geradezu auf diesen einen Aspekt reduziert, wie etwa jene beiden Flugblätter oder Einblattdrucke aus dem Jahr 1505 Das sind die new gefunden menschen oder volcker In form und gestalt Als sie hie stend durch den Cristenlichen Kuenig von Portugal gar wunderlich erfunden. Leipzig 1505. Abge- druckt in: Wolfgang Harms und Michael Schilling (Hrsg.): Deutsche illustrierte Flugblätter 54 Hans-Joachim König des 16. und 17. Jahrhunderts. Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Teil 3. Tübingen 1989, S. 171. – Dise figur anzaigt uns das volck und insel die gefunden ist durch den cristenlichen künig zu Portugal. Augsburg 1505. Abgedruckt in: Hans Wolff: Ame- rica. Das frühe Bild der neuen Welt. München 1992, S. 29. , die wie der aus Leipzig die Ankunft der Europäer an der brasiliani- schen Küste oder wie der aus Augsburg die „Schlacht- und Räucherszene“ in Bild und Text darstellen. Beide enthalten in der Kombination von Bild auf dem oberen Teil des Blattes und von gekürztem Vespucci-Text auf dem unteren Teil die im Mundus Novus enthaltene Mischung von paradiesischem Zustand und barbarischer Menschenfresserei (Abb.4). DIE WIRKUNG DER BEIDEN ENTDECKUNGSBERICHTE Die Namensgebung Der in ganz Europa in zahlreichen Übersetzungen und Ausgaben veröffent- lichte Bericht Vespuccis hatte große Wirkung. Er führte dazu, dass die Huma- nisten Matthias Ringmann und Martin Waldseemüller in ihrer Cosmographiae introductio von 1507 vorschlugen, die von Vespucci als Kontinent erkannte Landmasse südlich der karibischen Inseln entsprechend der weiblichen Na- mensgebung für die Kontinente nach Amerigo Vespucci „America“ zu benen- nen. Beide gehörten zu einem Gelehrtenkreis in Saint-Dié, einem lothringischen Bischofsstädtchen jenseits der Vogesen. Waldseemüller nun entwarf aufgrund seiner Kenntnis spätmittelalterlicher Mappae Mundi sowie portugiesischer Materialien und der Vespucci-Berichte eine großformatige, wandtafelgroße Weltkarte und einen Globus, die erstmals den Namen America in die geographische Literatur einführten. Siehe ausführlicher Hans Wolff: Martin Waldseemüller. In. H. Wolff: America. München 1992, S. 111-126. In seiner Kai- ser Maximilian I. gewidmeten und mit Matthias Ringmann formulierten Schrift Cosmographiae introductio Cosmographiae introductio cum quibusdam geometriae ac astronomiae principiis ad eam rem necessariis. Insuper quatuor Americi Vespucii navigationes. Universalis Chosmographiae descriptio tam in solido quam plano eis etiam insertis que Ptholomeo ignota a nuperis reperta sunt. Saint-Dié 1507. Diese Schrift enthält Waldseemüllers lateinische Version der 1504 in Florenz erschienenen Lettera di Amerigo Vespucci delle isole nuovamente trovate in quattro suoi viaggi. intellegi datur.“ 42 nimmt er die berühmte Namensgebung vor in typisch humanistischer Manier. In Antike und Renaissance suchte man stets nach dem Erfinder einer Sache und seiner Herkunft; dafür gab es eigene Erfin- derkataloge, die auch bei der rhetorischen Textgestaltung (der inventio) heran- gezogen wurden. Sache und Wort gehörten zusammen; aus dem Wort und seiner Etymologie heraus ließ sich die Sache erklären. Vor diesem Hintergrund ist die Benennung zu sehen, die Waldseemüller vornimmt: „quarta orbis pars (quam quis Americus invenit) Amerigen quasi Americi terram nuncupare licet.“ Und zur Bekräftigung der Namensgebung gibt er auch die Begründung: „Nunc vero et hec partes sunt latius lustratae et alia quarta pars per Americum Vesputium (vt in sequentibus audietur) inventa est quam non video cur quis iure vetet ab Ame- rico inventore sagacis ingenii viro Amerigen quasi Americi terram sive Ameri- cam dicendam, cum et Europa et Asia a mulieribus sua sortita sint nomina. Eius situm et gentis mores ex bis binis Americi navigationibus quae sequuntur liquide Der Name für die bisher unbekannte, von Ptolemäus nicht verzeichnete Regi- on, für die sich seit 1503 der Name Neue Welt (Mundus Novus) einbürgerte, ist eine philologische Spielerei. Wie für einen Humanisten üblich, bemüht sich Waldseemüller um die ingeniöse Findung und gelehrte Deutung eines Namens. Da Ptolemäus griechisch schrieb, liegt zur Einordnung in seine Nomenklatur zunächst auch eine griechische Anspielung nahe: ge = terra. Waldseemüller stellt die Verbindung zwischen Americus – Amerige/Americi terra – America ausdrücklich unter dem einschränkenden Hinweis des „quasi“ her. In Analogie zu den weiblichen Kontinentbezeichnungen Europa, Africa, Asia, bildet er so- dann auch für den vierten Kontinent eine Femininform. Die „Einführung“ fand reißenden Absatz: Allein im Jahr 1507 gab es vier Ausgaben, und in den folgenden Jahren erschienen weitere Neuauflagen. Zu- sammen mit der monumentalen Karte, die nahezu drei Quadratmeter umfasste, und dem Globus trugen sie dazu bei, den klangvollen Namen Amerika rasch als festen Bestandteil des neuen Weltbildes zu etablieren. Auf diese Weise wurde nicht der eigentliche „Entdecker“ Kolumbus, der das Neue bis zu seinem Tod nicht erkannte, sondern Amerigo Vespucci zum Namensgeber für den Kontinent. Auch auf der Weltkarte erscheint Vespucci an prominenter Stelle. Am Kopf der Tafel sind in einer Kartusche die Porträts von Ptolemäus und Vespucci eingelassen, die beiden Autoritäten für die geographi- sche Kenntnis der Welt. Ptolemäus mit Winkelmesser, Vespucci mit Zirkel. Auf einer Schrifttafel links, nahe bei Amerika, gibt Waldseemüller als Quelle für seine Darstellung die Sammlung von Reiseberichten des Fracanzano da Montal- boddo Paesi novamente ritrovati Fracanzano da Montalboddo: Paesi novamente ritrovati. Vicenza 1507. Es handelt sch um eine Sammlung von Berichten über die portugiesischen Entdeckungen an der afrikanischen Küste sowie über die spanischen und portugiesischen Entdeckungsfahrten, wie z. B. von Ko- lumbus und Vespucci. Diese Sammlung wurde von Jobst Ruchamer ins Deutsche übersetzt und 1508 veröffentlicht, siehe oben Anm. und Vespuccis Berichte an. Kolumbus hin- gegen wird auf einem Schildchen nahe den auf der dritten Fahrt entdeckten Tri- nidad-Inseln erwähnt. Immerhin bezeichnet Waldseemüller beide als „viri magni et excellentis ingenii“. Doch wenn er auf die nunmehrige Verbindung des alten Weltbildes mit den neuen Entdeckungen eingeht, dann hebt er besonders die Reisen Vespuccis hervor. Vespucci steht im Amerikaverständnis des 16. Jahr- hunderts an erster Stelle, und seine Berichte üben prägenden Einfluss aus. Der Brief des Kolumbus tritt dahinter zurück. Das negative Indiobild Für das 16. Jahrhundert blieben die beiden von Kolumbus und Vespucci vor- gegebenen Indiobilder lebendig, wurden immer wieder rezipiert und verarbeitet. Doch so wie Kolumbus im frühen 16. Jahrhundert außerhalb Spaniens hinter Vespucci zurücktrat, wurde auch sein frühes positives Bild vom Indio durch das reißerische Bild vom Menschenfresser, das Vespucci gezeichnet hatte, zuge- deckt. Dieser Vespucci-Text brachte eine Veränderung des anfangs positiven Indiobilds zum Negativen. Auch wenn das veröffentlichte positive Indiobild, das ja Vespucci auch angedeutet hatte, weiter lebendig blieb und in den Illustratio- nen noch durchschien, so überwog doch das durch den Vespucci-Bericht ge- prägte negative Bild. Auch spätere Berichte modifizierten das Bild nur unwesentlich. Das trifft auch auf die Beschreibungen in den Dekaden des Pedro Mártir de Anglería zu, deren Wirkung hinsichtlich Rezeption und Verarbeitung durchaus mit der des Kolumbus-Briefs und des Vespucci-Briefs verglichen werden kann. Der gebür- tige Italiener war Mitglied des mit den neu entdeckten Gebieten befassten Rates und Vertrauter der spanischen Könige. Als Chronist hatte er Zugang zu spani- schen mündlichen und schriftlichen Augenzeugenberichten. Die dadurch erhal- tenen Informationen gab er in den Dekaden über die Neue Welt wieder, die ab 1511 erschienen und in den nächsten Jahren erweitert wurden. P. Martyris Angli mediolanensis opera. Legatio Babylonica, Oceani Decas, Poemata, Epi- grammata. Cum privilegio Imp. Hispali (Sevilla) 1511, (enthält die 1. Dekade). – De rebus oceanis et Orbe Novo Decades tres. Alacalá de Henares 1516.- De orbe novo decades, opus epistolarum. Alcalá de Henares 1530. Von ihnen gab es seit 1521 auch verschiedene Ausgaben in Deutschland in lateinischer oder deutscher Version. Petrus Martyr: De Nuper sub D. Caroli Repertis Insulis, simulatque incolarum moribus. Basel 1521 (Auszug aus der 4. Dekade). – Eine erste deutsche Version der ersten drei Deka- den findet sich in Michael Herr: Die New Welt, der landschaften vnnd Jnsulen, so bis hie her allen Altweltbeschrybern vnbekannt. Straßburg 1534. – Eine neuere Version Peter Martyr von Anghiera: Acht Dekaden über die Neue Welt. Übersetzt, eingeführt und mit Anmerkungen versehen von Hans Klingelhöfer. 2 Bde. Darmstadt 1972/73. Mártir de Anglería korrigierte nicht den Eindruck vom Menschenfresser-Indio. Zwar bemühte er sich um eine unvoreingenommene, zumindest nicht sensationslüsterne Darstellung, er schilderte auch lobend die handwerklichen Fertigkeiten bestimmter Indiogruppen, zeichnete also kein pau- schal negatives Bild, sprach sogar vom wieder gefundenen Paradies. Doch schrieb er noch 1511 in der 1. Dekade unkommentiert die Andeutungen von Kolumbus über Menschenfressende Kariben bzw. Caniben aus und erweckte den Eindruck von Realität. Die Art seiner Beschreibung von Menschenfressern in der Karibik ist ein weiteres Zeugnis dafür, wie der alte antike Begriff Anthro- pophage zunehmend von Kannibale abgelöst wird. Kolumbus’ Wortschöpfung wirkte fort. Das in den Vespucci-Texten gezeichnete und, wie die zahlreichen Ausgaben vermuten lassen, vom Publikum goutierte Bild von den Indios als Wilden und Menschenfressern beruhte auf der Begegnung der Europäer mit indianischer Bevölkerung auf den Karibikinseln, an den Küstenzonen des Karibikraumes und an der brasilianischen Küste, dem Hauptsiedlungsland in den ersten Jahrzehnten nach der Entdeckung. Hier trafen die Europäer tatsächlich auf indianische Völ- kerschaften, die in „paradiesischer“ Nacktheit lebten, sexuell freizügig waren, über keine durchstrukturierten politischen oder gesellschaftlichen Ordnungen größeren Stils verfügten und nur selten in größeren Ansiedlungen wohnten. An- gesichts dieser den Europäern fremdartigen Züge erscheint es verständlich, dass sie diese Andersartigkeit als Inferiorität bewerteten. Wie festgefügt das negative Bild von den Amerikanern war und das latent po- sitive überlagerte, belegt die weitere Begegnung mit den amerikanischen Kultu- ren, als die Spanier ab 1519 auf andine Gesellschaften mit staatlicher Ordnung, mit Städten, einer ausgebauten Infrastruktur und mit bekleideten Menschen tra- fen. Denn die Berichte über diese Begegnung korrigierten das negative Bild kei- neswegs. Wie die übrigen Europäer erfuhren auch die Deutschen die interessan- ten Neuigkeiten über Mexiko vor allem durch die Berichte von Hernán Cortés, den Eroberer des Aztekenreiches. Cortés gab im Zeitraum von 1519 bis 1526 eine detaillierte Darstellung seiner militärischen und politischen Aktivitäten bei der Eroberung und Neugestaltung des Aztekenreiches in Form von Brief- Berichten an Kaiser Karl V., von denen der 2. und 3. Brief fast unmittelbar nach Veröffentlichung in Spanien auch in Nürnberg auf Lateinisch (1524) und später (1550) auch auf Deutsch erschienen. Hernán Cortés: Cartas de relación. Sevilla 1522 (2. Brief); Carta de relación. Zaragoza 1523; La quarta relación. Toledo 1525. - Ausgaben im deutschsprachigen Raum: Praeclara Ferdinandi Cortesii de Nova maris Oceani Hyspania Narratio Sacratissimo ac Invistissimo Carolo Romanorum Imperatori semper Augusto, Hyspanorum et regi, Anno Domini M.D.XX. transmissa...Nürnberg 1524; - Tertia Ferdinandi Cortesii in nova maris Oceani Hyspania ge- neralis praefecti preclara Narratio..., Nürnberg 1524. Weitere Ausgaben in Latein erschienen 1532 in Köln und 1555 in Basel. - Eine deutsche Übersetzung der Briefe von 1520 und 1522 erschien in Augsburg 1550: Ferdinandi Cortesii. Von dem Newen Hispanien so im Meer ge- gem Nidergang. Zwo gantz lustige vnnd fruchtreiche Historien an den großmächtigisten vnü- berwindtlichisten Herren Carolum V. ... Erstlich in Hispanischer Sprach von Cortesio selbst beschriben. Augsburg 1550. In ihnen berichtete Cortés nicht nur über seine Taten bei der Eroberung Mexikos und über den Widerstand der Heiden gegen die christlichen Eroberer, sondern er schilderte auch voll Bewunderung die aztekische Hauptstadt Tenochtitlan, die Paläste der Stadt sowie den überwäl- tigenden Hofstaat des aztekischen Herrschers Montezuma. Diese Berichte gaben auch eine detaillierte, allerdings verständnislose Dar- stellung der aztekischen Praxis von Menschenopfern. Eine abwertende Schilde- rung der Menschenopfer und der aztekischen Religion lag begreiflicherweise im Interesse des Eroberers, der mit dem Hinweis auf seine Christianisierungspflicht sein grausames und gewaltsames Vorgehen rechtfertigen konnte. Doch scheint Cortés, wie die Resonanz auf seine Briefe und die gedruckten Randbemerkun- gen in den Ausgaben in Deutschland zeigen, mit seiner Art der Darstellung einer Grundhaltung der Europäer entsprochen zu haben. Die Bewunderung richtete sich lediglich auf den materiellen Bereich der Kultur, solange der religiöse Be- reich nicht betroffen war. Die Praxis der rituellen Tötung, deren tiefere Funktion zur Aufrechterhaltung der kosmischen und klimatischen Ordnung nicht verstan- den, vielmehr als teuflischer Gegenpol zum Christentum betrachtet wurde, rela- tivierte den hohen Zivilisationsgrad. Das führte dazu, dass ebenfalls die beklei- deten, staatlich organisierten Indios aufgrund ihrer religiösen Praxis als Barbaren galten. Hinzukam, dass Widerstand gegen die Verbreitung des Chris- tentums die Ablehnung der fremden Kultur begründete. Bis zu einem gewissen Grad ist diese Haltung zu verstehen, vollzog sich doch die Eroberung und Chris- tianisierung Amerikas zu einer Zeit, als in Europa die Christenheit gespalten war und mit der Neuen Welt eine neue katholische Welt als Ausgleich für Verluste in Europa zu entstehen schien. Vor allem aber verzerrte die Befangenheit in eu- ropäischen, frühneuzeitlich-mittelalterlichen und christlichen Wertvorstellungen die Perspektive von Autoren, Verlegern und Publikum. Das traf selbst auf die deutschen Chronisten und Kosmographen zu, von denen am ehesten ein mehr wissenschaftlich-kritischer Zugriff oder eine nüch- terne Annäherung an das Fremdartige zu erwarten gewesen wäre. Auch sie konnten sie sich weder von antiken noch mittelalterlichen Traditionen und Le- genden noch von einer europazentrischen Sichtweise freimachen. Im Übrigen stand ihnen ja keineswegs vorurteilfreies Informationsmaterial zur Verfügung. Es ist jedoch kritisch anzumerken, dass sie die Informationen selten überprüften, hinterfragten oder zu korrigieren versuchten. So übernahmen selbst so berühmte und einflussreiche Geographen und Kosmographen wie z.B. Johann Schöner Johannes Schöner: Luculentissima quaedam terrae torius descriptio cum multis utilissimis Cosmographiae iniciis. Nürnberg 1515. , Sebastian Franck Sebastian Franck: Weltbuch, spiegel vnd bildtnisz des gantzen erdtbotens. Tübingen 1534. 49 Sebastian Münster: Cosmographia. Beschreibung aller Lender [..], [...]aller völcker herr- schaften [...], Sitten, gebreuch, ordnung.[...] durch die gantze welt [...]. Basel 1544, 1545. und Sebastian Münster Francis Huntington Wilson: The Relation of Government to Foreign Investment. In: Robert H. Holden, Eric Zolov (Hrsg.): Latin America and the United States. Oxford 2000, S. 119. kritiklos und unwidersprochen die Berichte nicht nur über angeblich in Amerika angetroffene Fabelwesen, sondern auch über den nackten, Menschenfleisch verzehrenden und gottlosen Indio. Sebastian Franck kommentierte die Berichte über Nacktheit, und Menschenfres- serei lediglich mit den Randbemerkungen „schandtlicher brauch“, „blutdürstig volck“ oder „menschenthier“ Sebastian Franck: Weltbuch, S. 221v, 228v, 233v. ; kulturelle Errungenschaften der Azteken hielt er für Mach- und Blendwerk des Teufels. Ebenda, S. 234r. Auch in Sebastian Münsters Cos- mographia herrschte in den wenigen der Neuen Welt gewidmeten Seiten (Aus- gabe von 1545) das Phantastische vor. Münster erwähnte zwar die physische Schönheit der Indios und das Fehlen von Goldgier Sebastian Münster: Cosmographia. Basel 1545, S. dcclxx, dcclxvi. – hier klingt deutlich die Anschauung von Kolumbus an –, hob aber in Randbemerkungen als besonderes Charakteristikum die Nacktheit und die Menschenfresserei hervor: „Nackend leüt“, „canibali leüt fresser“, was er durch Illustrationen von einer Schlachtbank und einem Rauchfang mit Menschenfleisch, so wie es Vespucci beschrieben hat- te, noch sensationell unterstreicht. Ebenda, S. dccxci, dcclxvii, dcclxxiii. Eine Korrektur oder zumindest Infragestel- lung des stereotypen negativen Bildes ging von diesen Autoren nicht aus. Im Übrigen erscheinen hier die Begriffe Kannibale und Menschenfresser als Syn- onym. So blieb bis weit in das 16. Jahrhundert hinein das Bild der menschenfressen- den Indios erhalten, wurde durch neue „Augenzeugenberichte“ wie den des hes- sischen Kanoniers Hans Staden in portugiesischen Diensten über seine Erlebnis- se in Brasilien Hans Staden: Warhaftige Historia vnd beschreibung eyner Landtschaft der Wilden/ Nacke- ten/ Grimmigen Menschfresser Leuthen, in Newenwelt America gelegen, vor und nach Chris- ti Geburt im Land Hessen unbekant biss uff diese ij.nechst vergangene jar, Da sie Hans Sta- den zu Homburg auss Hessen durch sein eygne erfarung erkant, und yetzo durch den truc and 60 Hans-Joachim König des Rio de la Plata. 55 oder den des Straubingers Ulrich Schmidl über seine Begegnung mit Indios als Teilnehmer an der spanischen Konquista im Bereich Im deutschen Sprachraum gab es nicht die grundsätzliche Debatte über Inferi- orität oder Vernunftbegabung des Indio, wie sie in Spanien so heftig geführt wurde. Doch weist die in den unterschiedlichsten Texten erkennbare Sichtweise in Deutschland dasselbe Unvermögen auf, die fremden und andersartigen india- nischen Kulturen als Ergebnis eines eigenen historischen Entwicklungsprozesses zu würdigen oder als vollwertige Glieder des einen Menschengeschlechts zu ak- zeptieren, wie es Jobst Ruchamer gefordert hatte. Die negativen Charakterisie- rungen spiegeln die europäische Haltung und Selbsteinschätzung wieder. Die damaligen Europäer zu Haus und die Akteure der Eroberung dachten und beur- teilten nach den abendländisch-christlichen Wertvorstellungen. Sie gingen von der Allgemeingültigkeit gesellschaftlicher Normen und der Einheit des Men- schengeschlechts aus, die in der Welt als Gottes Schöpfungswerk begründet ist. Das Christentum ordnete die Verschiedenheit der Lebewesen in ein hierarchisch gegliedertes Modell einer Stufenleiter ein, deren verbindendes Element der Beg- riff des vernunftbegabten Lebewesens darstellt. Was die Europäer/Deutschen also in Amerika wahrnahmen bzw. wovon sie hörten und lasen, erschien ihnen deshalb als eine denaturierte Abweichung von der Norm, der als allgemeingültig erachteten europäischen Norm. So konnten sie das bisher nicht Gekannte und Andersartige, zumal wenn die religiöse Seite betroffen war, schwerlich als kul- turell Eigenständiges, als Ergebnis eines eigenständigen historischen Entwick- lungsprozesses verstehen. Zweifellos riefen Mehrehe, Promiskuität und Nacktheit auf den Karibikinseln und bei den Tieflandindios an der südamerikanischen Ostküste ferner die in Mexiko erlebten und in Peru berichteten Menschenopfer tiefe Verständnislosig- keit und Abscheu – allerdings auch Lüsternheit – hervor. Dass aber an sich posi- tive Züge, wie Friedfertigkeit, Waffenlosigkeit, Genügsamkeit, das Fehlen von Gier nach Gold oder das Fehlen von Individualbesitz zunehmend als Negativ- merkmale erschienen, ist befremdlich und lässt sich nur aus der eigenkulturellen Selbstwahrnehmung erklären. Die Betonung solcher Züge und der fehlende Hin- weis auf regionale und kulturelle Unterschiede bei der amerikanischen Bevölke- rung zeigen, wie stark der europäische Bewertungsmaßstab und damit Vor- Urteile zur Geltung kamen: Wenn es um die Darstellung der Kulturen ging, dann stand nicht die Verschiedenartigkeit der Kulturen im Zentrum der Betrach- tung, sondern die sich im Unterschied manifestierende Inferiorität der amerika- nischen Kulturen. Diese aber konnte legitimatorisch für Eroberung und Koloni- sierung /Zivilisierung durch Europa eingesetzt werden. Dementsprechend hielt sich die Kritik am spanisch-europäischen Vorgehen – zumindest im 16. Jahr- hundert – zurück. Die Mehrheit der europäisch/deutschen Autoren stimmte der Eroberung Amerikas und der Christianisierung seiner Bevölkerung zu. ZUSAMMENFASSUNG Seit der Entdeckung eines für die Europäer neuen Erdteils entstanden in Eu- ropa verschiedene Bilder, die sich teils überlagerten, teils auch in gewissem Widerspruch zueinander standen. Dabei lassen sich deutlich Bilder über den Raum und über die Menschen/Kulturen voneinander unterscheiden. Der neue Kontinent war insofern auch neu und unverdorben, als mit ihm angesichts der Üppigkeit und Idylle der Natur in der Rückbindung an alte Vorstellungen von der Abfolge der Weltzeitalter und der Menschheitsentwicklung das Bild vom Goldenen Zeitalter und vom irdischen Paradies entstehen konnte. Die weitge- hend naturbezogene und bäuerlich/handwerkliche Tätigkeit der Bewohner unter- stützte dieses Bild und führte zugleich zum positiven Bild des Edlen Wilden. Von Anfang an verband sich mit dem Raum Amerika aus einem Wunsch nach Wiedergewinnung des Goldenen Zeitalters und nach einem ursprünglichen Ge- sellschaftszustand die Idealtopographie als Ort der Utopie, die Thomas Morus mit seinem Werk 1516 als Alternative zum unreformierbaren Europa entworfen hatte. Siehe auch K. H. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Amerika erschien als Asyl des Neuanfangs und der Freiheit. In diesem Kontext einer gewissen europäischen Zivilisations- und Gesellschaftskritik schien im Primitivismus/Naturzustand der Urbevölkerung Amerikas die Ideal- zeit der Antike bewahrt zu sein. Primitivismus hatte hier eindeutig eine positive Konnotation. Daneben entstand im Kontext der Legitimierung europäischer Zivilisierungsanstrengungen das Bild von Amerika als Kontinent monströser Wirklichkeit, einer degradierten Natur und barbarischer Völker. Diesem Bild entsprach das Bild von den barbarischen unzivilisierten, also inferioren Indios, so wie es visuell in allegorischen Erdteildarstellungen präsentiert wurde: Ameri- ka als wilde, menschenfressende India. DAGMAR BECHTLOFF Die Welt zu erkennen, sich ein Bild von ihr zu machen, den eigenen Platz in ihr zu bestimmen, ist ein Grundbedürfnis des Einzelnen wie der menschlichen Gesellschaft insgesamt. Raum und Zeit sind dabei die beiden Koordinaten, wel- che die soziale und kulturelle Identität des Einzelnen ebenso wie die der Gesell- schaft, deren Mitglied er ist, definieren, d.h. sein Weltbild bestimmen. Das Wis- sen um Zeit und Raum befähigt den Menschen zur bewussten Gestaltung seines Daseins. Das Bild, das er sich von der Welt macht, ermöglicht es ihm, sich in ihr zurechtzufinden und zielstrebig zu handeln. Stellt, so können wir uns in diesem Sinne fragen, die Fahrt des Christoph Kolumbus’ im Jahr 1492 die Bahn bre- chende Tat eines über seine Zeit weit hinaus denkenden und imaginierenden Genies dar? Segelte er hinaus ins Unbekannte oder gab es in Europa Vorstellun- gen und Vermutungen darüber, dass es auch außerhalb der bekannten Welt von Menschen bewohnte Regionen geben könnte? Was bedeutete die Entdeckung eines bis dahin den Europäern unbekannten Kontinentes für ihre Sicht der Welt? Wurden die Entdeckungen als Appendix an das vorhandene Weltbild angehängt oder geriet für die Europäer die „Welt aus den Fugen“, so dass es notwendig wurde, grundlegende Änderungen der eigenen Weltsicht vorzunehmen? Schließlich stellt sich aus umgekehrter Perspektive, d.h. mit dem Blick aus der Neuen auf die Alte Welt die Frage, wie die Nachkommen europäischer Ein- wanderer in Amerika ihren Platz in der Welt, ja darüber hinausgehend, grund- sätzlich den Platz Amerikas in der Welt sahen. Dies galt in geographischer Hin- sicht. Die Entdeckung Amerikas umfasste die Erforschung der äußeren, von Meeren begrenzten Konturen ebenso wie Expeditionen zur Erkundung des Lan- desinneren. Letztere dauerten bis ins 19. Jahrhundert hinein an. Die Frage nach dem amerikanischen Bild der Welt stellt sich darüber hinaus aus kulturhistori- scher Perspektive. Wer oder was war „Amerika“, in welchem Verhältnis stand es zu Europa? Zumeist im Kontext der Verurteilung bzw. Rechtfertigung europäischer Er- oberung behandelt, beschäftigten diese Probleme schon früh sowohl die Nach- kommen der großen indigenen Reiche Mesoamerikas und Perus, als auch die europäischen Missionare im 16. Jahrhundert. Bereits im anschließenden Jahr- hundert eröffnete sich eine neue Perspektive. Nun waren es die Nachkommen europäischer Einwanderer, die Kreolen, die sich verstärkt zu Wort meldeten und dem alten Europa eine eigene, die amerikanische Sicht der Welt entgegenhiel- ten. Als herausragender Vertreter dieser dem humanistischem Bildungsideal verpflichteter Kreolen gilt Don Carlos de Sigüenza y Góngora, 1645 als Sohn spanischer Einwanderer in Neuspanien geboren. Er war Professor der Mathema- tik an der Universität von Mexiko, königlicher Kosmograph, Historiker und Dichter. Er war ein Mann, der gleichermaßen Karten von Neuspanien anfertigte und als Ingenieur verantwortlich für die Instandhaltung der Kanäle und Deiche, die Mexiko-Stadt vor den periodisch drohenden Überflutungen schützten, war. Er war zudem der Dichter, der 1680 im Auftrag des Stadtrates von Mexiko- Stadt, den Triumphbogen zu Ehren der Ankunft des neuen Vizekönigs in Neu- spanien schuf. Thema der Präsentation waren die „Politischen Tugenden eines Fürsten. Ratschläge der Herrscher des alten mexikanischen Imperiums“. Carlos de Sigüenza y Gongora: Teatro de virtudes políticas que constituyen a un principe: advertidas en los monarcas antiguos del Mexicano Imperio. In: Roberto Moreno de los Arcos (Hrsg.): Teatro de los Virtudes y Alboroto y Motín de los Indios de México, Mexiko 1986. Welche Karten stehen uns für unseren Rundgang zur Verfügung? Mappae mundi und Portulankarten sind die beiden Kartentypen, die Auskunft über geo- grafische Kenntnisse als auch über die Vorstellung zur Welt in der Ära vor der Entdeckung Amerikas, vor allem dem Mittelalter, geben können. Zu den Karten, die vor der Fahrt des Kolumbus’ Teile der Neuen Welt abbildeten, gehört ferner die so genannte Vinland-Karte, um deren Echtheit allerdings seit ihrem Auffin- den im Jahr 1974 heftig gestritten wird. Im Anschluss möchte ich auf die beiden ersten Weltkarten auf denen der neu entdeckte Kontinent abgebildet wurde, ein- gehen. Es schließen sich Beispiele für die Entwicklung der Kartenwerke zu Amerika im 17. und frühen 18. Jahrhundert an. Die im Verlauf des 17. Jahrhunderts zunehmend präsent werdende amerikani- sche Position verdeutlichen hierbei einige Kartenbeispiele Don Carlos de Sigüenza y Góngoras. Von ihm stammt die Vorlage der ersten „vollständigen“ Karte Neuspaniens, die während des gesamten 18. Jahrhunderts Grundlage aller diesbezüglichen kartographischen Werke aus der Werkstatt europäischer Kar- tenmacher war. 1. VOR- UND DARSTELLUNGEN DER WELT VOR DER FAHRT DES KOLUMBUS Doch beginnen wir mit den Mappae mundi, den Weltkarten, die den Aus- gangspunkt der gesamten europäischen Kartographie des Mittelalters darstel- len. In der islamischen Welt nahm die Kartographie einen gänzlich anderen Stellenwert ein. Siehe hierzu: Fuat Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums, Bd. X-XII. Mathematische Geographie und Kartographie im Islam und ihr Fortleben im Abendland. Historische Darstel- lung und Kartenband, Frankfurt a.M. 2000. Unter Kartographie wird dabei sowohl die Technik, Lehre als auch die Ge- schichte der bildlichen Darstellung der Welt sowie die Vorstellung, die sich der Mensch von ihr und seiner Stellung in ihr macht, verstanden. Die Universalkar- tographie des Mittelalters speiste sich aus zwei Quellen. Zunächst sind die aus der antiken griechischen Überlieferung hervorgegangenen Zonenkarten zu nen- nen. Sie gehen von der Kugelgestalt der Erde aus und stellen die Welt als Ganzes dar. Siehe hierzu die Werke von Posidonius (ca. 155-61 v. Chr.), Serapion von Antiochia (2. od. 1. Jh. v. Chr.), Crates von Mallos (ca. 168 v. Chr.), Eratosthenes (275-194 v. Chr.) und pythagoreische Konzepte. Die Welt wird vom Nord- bis zum Südpol in fünf waagrechte Zonen festgelegter Breite eingeteilt. An den beiden Polkappen befindet sich je- weils eine unbewohnte kalte Zone. Beiderseits des Äquators wurde wiederum eine heiße, unbewohnbare Region eingezeichnet. Zwischen diesen unbewohnten „Gürteln“ verbleiben zwei bewohnbare Zonen. In jener der nördlichen Hemi- sphäre konnte in undeutlichen Konturen die Einzeichnung der Umrisse der be- kannten Kontinente erfolgen, während die bewohnbare Region in der Südhalb- kugel der Antipodenvorstellung entsprach. Neben dieser Zonenkarte lag ein weiterer Schwerpunkt mittelalterlicher Kar- tentradition auf der Darstellung der vom Menschen bewohnbaren Erde. Diese Karten stellten eine Innovation mittelalterlicher Kartographie dar. Ihr Zweck ist in engem Zusammenhang mit der Verbreitung der christlichen Weltsicht zu sehen. Die Darstellungsform dieser Karten, das so genannte T/O-Schema geht auf Isidor von Sevilla zurück. Isidor, Erzbischof von Sevilla (um 560 in Cartagena - 04 .04 . 636 in Sevilla). Seine be- deutendste Schrift in der Reihe der naturwissenschaftlichen Werke ist die für König Sisebut geschriebene "Etymologiae", (um 630 abgeschlossen). Diese "Etymologiae" fassen als eine Realenzyklopädie das gesamte weltliche und geistliche Wissen der Zeit zusammen, Biogra- phisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 2., Herzberg 1990, Spalten 1374-1379. Diesem Schema zufolge umfließt ein Weltozean die drei bekannten Kontinente. Auf ihm findet sich die Form eines „T’s“, das die Kreisfläche in drei Teile gliedert und für das Mittelmeer, den Don und den Nil steht. Die obere Halbkugel stellt Asien dar, wodurch die gesamte Karte nach Osten ausgerichtet wird. Die These, dass die Menschen des Mittelalters glaubten, die Erde sei eine Scheibe, wird auch heute noch oftmals als epochenspezifisches Merkmal ge- nannt. Urs Bitterli: Die ‘Wilden’ und die ‘Zivilisierten’. Grundzüge einer Geistes- und Kulturge- schichte der europäisch-überseeischen Begegnung, 3. Aufl., München 2004, S. 19. Diese Vermutung gründet sich vor allem auf diesen Kartentypus der T/O- oder auch Radkarte, deren schematisch-abstrakte Aufteilung der Erde in drei Kontinente Asien, Afrika und Europa, getrennt durch Don, Nil und Mittel- meer und umflossen von einem Randozean, charakteristisch ist. Da jedoch für die gesamte Antike von der wissenschaftlichen Auffassung der Erde als einer Kugel auszugehen ist, muss auch die Art der Erdbeschreibung und -darstellung vor einem solchen Hintergrund gesehen werden. Die mit fast 13m² flächengrößte bekannte Mappa mundi, die Ebstorfer Welt- karte, ebenfalls nach dem Modell einer T-Karte aufgebaut, ist zwischen den 40er Jahren des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts entstanden. Die mehr als 500 Bildvignetten stellen weder Phantasiegebilde dar, wie die Forschung lange glaubte noch ist die Lokalisierung bestimmter Orte oder Regionen ihr Haupt- zweck, das Heilige Land beispielsweise wird immer überdimensioniert darge- stellt. David Woodward: Reality, Symbolism, Time, and Space in Medieval World Maps. In: Annals of the Association of American Geographers 75 (4) (1985), S. 510–521 und Anna- Dorothea van den Brincken: Monumental Legends on Medieval Manuscript Maps Notes on Designed Capital Letters on Maps of Large Size (Demonstrated from the Problem of Dating the Vercelli Map, Thirteenth Century). In: Imago Mundi, Vol. 42, 1990, S. 9-25. Die Karte basiert nicht auf Vermessung und besitzt keinen Maßstab. Stattdessen stellt sie Kompilationen des Wissens aus alten Texten dar, was er- klärt, dass die Nennung einzelner Länder und ihrer Lage zueinander nur annä- hernd und ohne auf politische Grenzen einzugehen, wiedergegeben wird. Eigentlicher Zweck der Weltkarte war es demnach, die Schauplätze der christlichen Geschichte in Erinnerung zu rufen. In diesem Sinne kann auch die Grundform des „T’s“ als Anspielung auf die Form des Kreuzes und gleichzeitig als Symbol der Leiden Christi interpretiert werden. Die Darstellung Jesus’ auf der Ebstorfer Weltkarte verweist zudem noch auf die mikro- und makrokosmi- sche Vorstellung hin, Jerusalem als Weltmittelpunkt, zugleich Nabel der Welt und Nabel Christi, zu sehen. Entsprechend zeigten christliche Weltkarten noch bis ins 15. Jahrhundert hinein den Osten am oberen Blattrand, wo das Paradies vermutet wurde. Wenn wir uns „orientieren" bedeutet dies also, dass wir uns „nach Osten ausrichten". 2. DER VIERTE KONTINENT: „AMERIKA“ Gehen wir nun einen Schritt weiter und fragen uns, ob in der Vorstellungswelt des Mittelalters der menschliche Lebensraum auf die drei Kontinente beschränkt war, der in den T-Karten und den Mappae mundi dargestellt ist. Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf Brigitte Englisch: Die Entdeckung Ameri- kas aus dem Weltbild des Mittelalters, Paderborn 2002. Werfen wir dazu noch einmal einen Blick auf die Ebstorfer Weltkarte. Sie zeigt dem Betrachter ein scheinbar willkürlich zusammengetragenes Wis- sen aus Geographie, Ethnologie, Mythologie und Geschichte, wodurch die Karte „gewissermaßen die graphische Darstellung der Weltchroniken, des Weltver- laufs im Raum, aufgezeichnet auf einer begrenzten Fläche“ vereint. Anna-Dorothea van den Brincken: Mappa mundi und Chronographia: Studien zur imago mundi des abendländischen Mittelalters. In: Deutsches Archiv zur Erforschung des Mittelal- ters 24 (1968), S. 123. Der um- fangreiche Textkorpus weist kurze Fragmente, meist Benennungen auf, die die vielen Bildsignaturen auf dem Kartenrund erklären. Längere Legenden gehen auf die Etymologiae des bereits erwähnten Isidor von Sevilla zurück. In diesem enzyklopädischen Standardlehrbuch des Mittelalters spricht der Autor davon, dass es extra tres autem partem , also außer den drei bekannten Teilen der Welt noch einen weiteren Teil im Süden gäbe, der aufgrund der Hitze der Sonne uns unbekannt sei und wo die sagenhaften Antipoden lebten. Dies bezog sich auf den griechischen Grammatiker Kratos von Mallos aus dem zweiten vorchristli- chen Jahrhundert, der die systematische Weltvorstellung der Antike und damit auch des Mittelalters prägte. Ausgehend von der Prämisse einer harmonischen Gliederung der Welt nahm Krato neben der bekannten Ökumene noch weitere Erdteile an. Dies betraf zu- nächst die Region, welche das südliche Pendant zu dem bekannten Lebensraum des Menschen bildet, die Anti-Ökumene, wo die Antoikoi lebten. Auf der Rück- seite befanden sich indes Menschen, deren Füße unseren entgegengesetzt waren, die Antipodes. Dieser vierte Erdteil trug den Namen Periokoi. Getrennt wurden diese Erdteile durch zwei Randozeane, die sich im rechten Winkel schneiden. Siehe hierzu auch: http://www.phil.uni-passau.de/histhw/tutcarto/index_de.html. (einge- sehen am 09.07.2007) Abb. 1: Beatus-Weltkarte, London, Kopie, 1109 n. Chr. (Santarem) Das Original ist nicht überliefert. Wir besitzen das Exemplar aus dem sogenannten Silos- Beatus (London British Library, Add. Ms 11695, fol 39 v.- 40r), Quelle: http://www.henry-davis.com/MAPS/EMwebpages/207B.html (eingesehen am 09.07.2007) . Tatsächlich gehört die Darstellung eines weiteren Kontinentes ergänzend zur Ökumene zu den Standardbestandteilen der früh- und hochmittelalterlichen Kar- tographie, wie sie die Weltdarstellung des spanischen Mönchs Beatus von Liebana aus dem 8. Jahrhundert, die er seinem Kommentar zur Apokalypse bei- legte, zeigt. Der Südkontinent, die terra australis , war, so können wir sagen, zwar dem Erfahrungshorizont des mittelalterlichen Menschen nicht zugänglich, sehr wohl aber bildete er Teil der Vorstellung. Gleichermaßen faszinierend, doch im Widerspruch zur der christlichen Auffassung stehend, dass alle Menschen von Gott erschaffen wurden und von den Noahsöhnen Sem, Ham und Japhet ab- stammten, die die drei bekannten Kontinente mit ihren Nachkommen bevölkert hätten, war die Vorstellung, der Antipodenkontinent sei mit seltsamen Wesen bevölkert. Diesen Widerspruch löste Augustinus bereits im 5. Jahrhundert, als er in sei- nem Gottesstaat Augustinus: De civitate Dei, geschrieben zwischen 418-425 vor dem Hintergrund der Eroberung Roms durch die Westgoten. feststellte, dass, wenn auf der Rückseite der Erde Menschen leben würden, diese dann gleichwohl von den Stammvätern der Menschheit ab- stammen würden, und auf irgendeine Weise, möglicherweise per Schiff dorthin gelangt sein müssten. In Übereinstimmung dazu, wird in dem die Karte des Beatus begleitenden Rahmentextes allen Aposteln konkrete Missionsgebiete zu- gewiesen. Paulus soll den „Rest der Welt“ missionieren, was alle übrigen, bis dahin unbekannten aber existierender Gebiete der Erde mit einschließt. Neben diesen theoretischen Überlegungen über die Erde als Gottesschöpfung, dem Platz des Menschen in ihr und den Vermutungen über unbekannte Teile der Welt, trat ab dem Ende des 13. Jahrhunderts in den Hafenstädten Italiens und etwas später auf Mallorca ein Kartentyp auf, der seinen ursprünglichen Darstel- lungsbereich, die umschließenden Küsten des Mittelmeeres und des Schwarzen Meeres mit ungewöhnlicher Präzision wiedergab. Vermutlich ist er Ausdruck der seit dem 9. Jahrhundert im benachbarten islamischen Kulturkreis intensiv gepflegten mathematischen Geographie und Kartographie. Im Mittelalter auch als carta de mar , Seekarte, bezeichnet, ist er heute als Portulankarte Es handelt sich hierbei um eine Wortschöpfung aus dem ausgehenden 19. Jahrhunderts. 13 Die früheste realistische Darstellung liefert Petrus Roselli 1462. geläufig. In der Darstellung der Küsten des Mittelmeeres und des Schwarzen Meeres folgte der dargestellte Bereich zunächst den Handelsinte- ressen der italienischen Seemächte. Im 14. und 15. Jahrhundert erweiterte sich der abgedeckte geographische Bereich auf die westeuropäische Atlantikküste, auf die Ostsee, Skandinavien Dabei liefert die Utopie – in Form grandioser, erhabener Landschaftspanoramen - eine sinnlich besonders eindrückliche Form sozialer Autorisierung, die dadurch zusätzliche Wirk- samkeit erhielt, dass sie oft mit einer Bildlichkeit der spirituellen Offenbarung verbunden war. Vgl. dazu Barbara Novak: „Amerikas Naturwunder wurden von vielen als Gottes Geschenk für ein auserwähltes Volk angesehen." Barbara Novak: Nature and Culture: American Land- scape and Painting 1825-1875 . New York 1980, S. 16. , die reale und legendäre atlantische Inselwelt Dulcert: 1339 Kanaren, 1468 Kap Verden, Zuane Pizigano: 1424 Antillia. das nördliche Afrika und die arabische Halbinsel. Ab dem dritten Viertel des 14. Jahrhunderts wurden diese Seekarten sogar zu Portulan-Weltkarten ausgebaut. Zum prägenden Erscheinungsbild zählte neben der charakteristischen Ein- zeichnung der Küstenlinien, die Eintragung der Toponyme, d.h. der Ortsnamen. Ferner vermerkten die Küstenlinien stark überzeichnete Buchten und Kaps. Kleine Inseln wurden in lebhaften Farben hervorgehoben, um zu verhindern, dass sie übersehen würden. Ebenso wurden Riffe durch schwarze Kreuze sym- bolisiert, während rote Punkte Untiefen verbildlichten. Flussmündungen wurden vermerkt, deren Lauf im Binnenland sich hingegen zumeist verlor. Um die Küs- tenlinie nicht zu verstellen und gleichzeitig die Eintragung besonders zahlreicher Ortsnamen zu ermöglichen, wurden Küstentoponyme in den Portulankarten senkrecht zur Küstenlinie landeinwärts eingetragen, wobei eine Unterscheidung in der Bedeutung des Küsten- oder küstennahen Punktes getroffen wurde: wich- tigere Plätze erschienen in roter Schrift, die übrigen in schwarz. Die Beschrif- tung der Örtlichkeiten unterlag in den Portulankarten keiner Orientierung, womit die Karte von allen Seiten lesbar blieb. Als Höhepunkt der Gattung Portulankarte gilt das vermutlich von Abraham Cresques Der „Katalanische Atlas“ wurde um das Jahr 1375 mit großer Wahrscheinlichkeit von Abraham Cresques auf Mallorca gezeichnet. Er besteht aus insgesamt 12 Teilen, die jeweils eine Größe von 64,0cm x 25,0cm haben. Die Karten sind auf fünf Holztafeln sowie die Innen- seiten der Einbanddecken aufgezogen und stellen die damals bekannte Welt dar. Auf vier Karten wird der gesamte Mittelmeerraum wiedergegeben. In Nord-Süd-Richtung erstreckt sich das Kartenbild von Schottland bis nach Nordafrika. Vier weitere Karten enthalten die Darstellung Asiens, wobei wahrscheinlich Kenntnis der Reisebeschreibungen von Marco Polo und Ibn Battuta vorhanden war. Von Abraham Cresques ist nur das Todesjahr 1387 bekannt. 70 Dagmar Bechtloff 1375 geschaffene kartographische Werk, das heute unter der Be- zeichnung „Katalanischer Atlas“ bekannt ist. Er besteht aus insgesamt 12 Teilen, wobei die Karten auf fünf Holztafeln sowie die Innenseiten der Einbanddecken aufgezogen sind. Sie stellen die damals bekannte Welt dar. Auf vier Karten wird der gesamte Mittelmeerraum wiedergegeben. In Nord-Süd-Richtung erstreckt sich das Kartenbild von Schottland bis nach Nordafrika. Vier weitere Karten enthalten die Darstellung Asiens, wobei hier wahrscheinlich Informationen aus den Reisebeschreibungen von Marco Polo und Ibn Battuta ausgewertet wurden. Mit ihren breitgefächerten Informationen besaßen Portulankarten für die Pla- nung und Durchführung von „Fernreisen“ großen Wert und erbrachten dem Navigator zudem auch während der Küstenfahrt wertvolle nautische Informatio- nen. Bereits um 1300 war es durch den Gebrauch von Kompass und Portulan- karte möglich, den Kurs von jedem beliebigen Abfahrts- und Zielhafen in Mit- telmeer und Schwarzem Meer festzustellen. An der Küste nutzte der Seemann die überzeichneten Buchten und abgebildete Untiefen auf den Portulankarten zur Orientierung. Für küstenferne Fahrten wurde zusätzlich der Compasso de nave- gar verwendet. Dies erklärt, warum Portulankarten genordet sind. Dabei fällt nach heutiger Quellenlage auf, dass für die Portulankarte im Mittelalter eine ste- tige Weiterentwicklung der Qualität und eine steigende Anzahl an Karten fest- zustellen ist. Dies spricht für eine originär mittelalterliche Entwicklung. Tony Campbell: Portolan Charts from the Late Thirteenth Century to 1500. In: J.B. Harley und David Woodward (Hrsg.): History of Cartography I. Chicago 1987, S. 390. die Diskussion an. 17 Heute wird nicht mehr bezweifelt, dass es vor der Fahrt des Kolumbus’ in Eu- ropa Wissen über einen Teil des später Amerika genannten Kontinentes gab. Allerdings zirkulierte diese Kenntnis nur im skandinavischen Raum und bezog sich zudem nur auf eine kleine Küstenregion Nordamerikas. Hinzugefügt wer- den muss außerdem, dass keine Erkenntnis darüber bestand, dass es sich hier um einen den Europäern bis dahin unbekannten Erdteil handeln könnte. Vermutlich um 984 n. Chr. entdeckte und besiedelte der Isländer Erik der Rote Grönland und in den folgenden dreißig Jahren wurden weitere Entdeckungsfahrten unter- nommen. Die ersten Siedler gründeten in der Gegend des heutigen Julianehab, Island am nächsten gelegen, eine erste Siedlung, die so genannte Östliche Nie- derlassung. Später kam eine Westliche Siedlung genannte Gründung hinzu und im 13. Jahrhundert folgte schließlich eine nördliche Siedlungsgründung, da hier die Jagdgründe für Seehunde besser waren. Wo genau nun Vinland lag, ist um- stritten, ebenso gibt es keinen Nachweis, dass die Skandinavier regelmäßigen Kontakt mit den Einheimischen gehabt hätten. Sporadisches Zusammentreffen muss es wohl gegeben haben, denn in der Sage von Erik dem Roten ist die Rede davon, dass Karlsefini im Verlauf seiner Expeditionen auf Einheimische traf und mit ihnen Handel trieb. In diesem Zusammenhang darf die berühmt-berüchtigte Vinland-Karte nicht unerwähnt bleiben. Seit sie 1974 entdeckt wurde, wird über ihre Echtheit erbit- tert gestritten. Für die Überzeugung, dass es sich um eine Fälschung handelt spricht, dass die angeblich um 1440 entstandene Karte die Bezeichnung „Vini- landa Insula“ trägt. Es sei, so wird argumentiert, schlicht nicht glaubhaft, dass diese Bezeichnung und die Beschreibung der Entdeckungen aus dem 11. Jahr- hundert, auf keiner früheren Karte Erwähnung gefunden haben sollten. Zudem wurde bei einer der Materialanalysen Spuren einer Tinte, die es erst im 20. Jahr- hundert gab, festgestellt. 1987 stellte sich bei einer Nachprüfung allerdings her- aus, dass die Tintenspuren auch einfache Verunreinigungen sein könnten, die bei früheren Untersuchungen der Karte gemacht wurden. Wie auch immer, solange es keinen absoluten Nachweis für die eine oder andere Überzeugung gibt, hält Europäisches vorkolumbisches Wissen über Amerika wäre ohne die Erwäh- nung des kartographischen Werkes Ptolemäus’ unvollständig. Klaudios Ptole- maios Adolf Lumpe: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Verlag Traugott Bautz, Band VII (1994) Spalten 1045-1049. , griechischer Astronom, Geograph, Physiker, Philosoph und Astrologe lebte und lehrte im 2. Jahrhundert n. Chr. in Alexandria. In seiner achtbändigen „geographischen Anleitung“, der Explicatio geographica , verzeichnete er nach einer allgemeinen Einleitung die Länge, ausgerichtet am Meridian der kanari- schen Inseln, und Breite von etwa 8.000 Orten sowie Flussmündungen, Bergen und sonstigen geografischen Merkmalen in Tabellenform, zusätzlich versehen mit einer Anleitung zum Kartenzeichnen. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts ließ der byzantinische Gelehrte Emanuel Chrysoloras die Geographie des Ptolemäus aus dem Griechischen ins Lateini- sche übersetzen. Danach fand der Text rasche Verbreitung in ganz Europa. Der Druck der ersten deutschen Übersetzung des Textes und der Kartenbeilagen er- folgte 1482 in Ulm. Alle von Ptolemäus genannten Orte und Regionen wurden, nachdem die Entdeckungsfahrten ab dem 14. Jahrhundert den Seeweg nach Indien suchten, als Teil der Alten Welt bezeichnet, im Gegensatz zu jenen Ge- genden, die während der Expeditionen erstmals besucht wurden und über die nun als Teil der „Neuen Welt“ berichtet wurde. 3. EUROPA UND AMERIKA: VERÄNDERUNG DES WELTBILDES? Vor der Entdeckung Amerikas war die Unterteilung in „Alte Welt“ und „Neue Welt“ also bereits üblich. Amerika „Neue Welt“ zu nennen hat darüber hinaus religiöse Gründe. Die christliche Mission in Übersee, die ab 1524 be- gann, wurde zunächst ausschließlich von Angehörigen der drei Bettelorden der Franziskaner, Dominikaner und Augustiner durchgeführt. Vor allem die spiritu- elle Frömmigkeit der reformierten Bettelmönche der Dominikaner, aber auch die der Angehörigen der beiden anderen Missionsorden, war geprägt durch die Naherwartung, d.h. die Hoffnung auf ein baldiges Kommen des „Reiches Got- tes“ und des erhöhten Jesus Christus’. Eine Heilserwartung, die mit dieser In- brunst bis dahin nur die Bewegung der ersten Christen ausgezeichnet hatte. „Das 15. Jahrhundert“, so beschrieb es Johan Huizinga, und dies galt auch noch für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, „zeigt die starke religiöse Ergriffenheit in einer doppelten Form. Einerseits offenbart sie sich in den heftigen Bewegungen, die von Zeit zu Zeit das ganze Volk ergriffen, wenn ein Wanderprediger mit sei- nen Worten allen geistigen Brennstoff wie dürre Reisigbündel entzündete. ... Daneben haben einige wenige die Empfindsamkeit für immer in eine stille Bahn geleitet und zu einer neuen Lebensform, der der Innigkeit, abgemildert“. Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters, Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden, 11. Aufl., Stuttgart 1975, S. 269. Die- ses übergroße Heilsverlangen der Gläubigen traf auf eine Kirche, die dem nur schwer und unvollständig entsprechen konnte. Gleichwohl bestanden auch in- nerhalb der Kirche diese Strömungen. Die mit der Missionierung der indigenen Völker der westlichen Hemisphäre beauftragten Mönche interpretierten bei- spielsweise das Matthäus-Evangelium dergestalt, dass die Gegenwart als „elfte Stunde der Welt“ aufgefasst wurde, der nach Abschluss der Bekehrung der neu entdeckten Völker nur das Ende der Welt folgen könne. Diese Naherwartung hatte deutliche messianisch-apokalyptische Züge, d.h. sie entsprang einem Glauben, dessen Zentrum die Einheit der Gottes- und Menschenliebe war. Gleichzeitig nahm diese feste Überzeugung der bevorstehenden Ankunft des „Reiches Gottes“ dem Frommen die Angst vor der weltlichen Macht, denn man „muss Gott mehr gehorchen als dem Menschen“. Mariano Delgado: Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 1. In: Missionstheologi- sche Schriften. Paderborn 1994, S. 14-15. Unerschrocken geißelten Missionare Missstände, wobei die eindrucksvolle Wahrhaftigkeit, mit der die Bettelmönche auftraten, dem Bekehrungseifer entsprach, der sie in die ganze Welt hinaustrieb, um bei den „unverdorbenen“ neu entdeckten Völkern eine neue „Urkirche“, eine „Neue Welt“, aufzubauen. Schließlich sei auf den Roman des englischen Lordkanzlers Thomas Morus „Utopia“ verwiesen, der 1516 veröffentlicht, als Gegenentwurf zur zeitgenössischen Gesellschaft Euro- pas und somit als Entwurf einer „Neuen Welt“ interpretiert wurde und rasch außerordentlich weite Verbreitung fand. Bezeichnend ist, dass sogar der erste Bischof Michoacáns/ Neuspa- nien, D. Vasco de Quiroga, ein Exemplar des Buches nach Übersee mitnahm. Er gründete in Neuspanien drei „Santa Fé“ genannte Dörfer, die sich selbst in ihrer baulichen Anlage an der Utopia von Thomas Morus orientierten. Gleichzeitig war für Fromme jener Zeit selbstverständlich, dass die ungetauften Heiden durch Gottes gehei- men Ratschluss in die Hölle fahren würden. Die sich daraus ergebende Pflicht zur christlichen Bekehrung der Heiden lieferte einerseits die Argumente für die Schwertmission Ursprünglich wurde der Begriff der „Schwertmission“ für die Sachsenkriege Karls d. Großen geprägt, bei denen sich Eroberung und Bekehrung zur "Schwertmission" vermischten. „Schwertmission“ in der Neuen Welt wurde von den Mönchen, die mit der christlichen Mis- sion beauftragt waren, so verstanden, dass die Krone zwar den militärischen Schutz der Mis- sionare sicherstellen sollte, darüber hinaus jedoch keine Legitimation für kriegerische Hand- lungen besäße. , grenzte andererseits jedoch die Rechtfertigung der Conquista in Übersee eng ein. Dies wird besonders deutlich bei der Auseinandersetzung um die Rechtstitel für die neu entdeckten Gebiete in Übersee. Schon bald nach Bekanntwerden der Entdeckung beschäftigten sich Juristen und Theologen mit den dadurch aktuell gewordenen Herausforderungen grundlegender staatsrechtlicher Bedeutung. Insbesondere Juan Gines de Sepúlveda, Francisco de Vitoria und Francisco Suárez prägten diese Diskussion, die gleichzeitig fundamentale ethische Fragen berührte. Höhepunkt der völkerrechtlichen, vor allem aber moraltheologischen Auseinandersetzung um die Rechtfertigung der Eroberung sowie die Frage des „gerechten Krieges“ war der Disput von Valladolid 1550/1551. Hier legten Juan Gines de Sepúlveda und Bartolomé des Las Casas ihre Streitschriften vor, deren Argumente sich vornehmlich aus der Auslegung der Heiligen Schrift ergaben. Während der Dominikaner Las Casas, prägnanter Vertreter der reformierten Bet- telmönche und Missionare in Amerika, sich auf Aussagen des Neuen Testamen- tes berief und das Liebesgebot Gottes, das zu einer erfolgreichen Mission durch friedliche Vorbildfunktion der Christen führen würde, betonte, hielt sich Sepúlveda bei seinem Festhalten an der Schwertmission in weitaus größerem Umfang an das Alte Testament. Für ihn stellten der strafende Gott und die stren- gen Gebote des Alten Testaments die Grundlage seiner Ausführungen wider die barbarischen Sitten und Gebräuche der Indios dar. Aus dem Neuen Testament entnahm er hingegen die Missionsaufforderungen an die Apostel. An dem Rechtstitel der ungehinderten Verkündigung des Evangeliums in allen, auch bis dahin unbekannten Regionen der Welt hielten Sepúlveda und Las Casas ebenso wie Vitoria und Suárez übereinstimmend fest: Es sei gegenüber den Barbaren nicht billig, enthielte man ihnen die Chance auf Erlösung vor, so dass Spanien und mit ihm die Christenheit geradezu verpflichtet sei, jene im Sinne der Nächs- tenliebe auf den rechten Weg zu bringen. Dies bedeutete jedoch nicht, wie Vitoria in Anlehnung an Thomas von Aquin und Aristoteles seinerseits ausführte, dass der spanische König das natürliche Recht habe, über den Erdkreis zu herrschen. Die Okkupation barbarischer Pro- vinzen, die Einsetzung neuer Fürsten und die Erhebung von Steuern seien kei- nesfalls legitim, da der Titel des Monarchen nicht auf ein Besitzrecht gegenüber dem Erdkreis ziele, sondern auf die eigene Jurisdiktion beschränkt bliebe. Vitoria, ebenso wie Francisco Suárez argumentierten mit der Idee eines Natur- rechts, dass auf die zwischenstaatlichen Beziehungen zu übertragen sei. Grund- legend war für sie die Lehre des Aristoteles, nach welcher der Mensch seiner Natur nach ein Sozialwesen sei. Daraus folgerten sie, dass auch die Völker sozi- ale Wesen und daher durch die Natur zu einer naturrechtlichen Gemeinschaft verbunden seien. Deshalb wurzele das positive Völkerrecht im Naturrecht, das mit der Natur des Menschen unlöslich verknüpft sei . Bernice Hamilton: Political Thought in Sixteenth-Century Spain. A Study of the political ideas of de Vitoria, de Soto, Suárez and Molina. Oxford 1963. Zwar sei die Menschheit in verschiedene Völker und Königreiche gegliedert, doch besitze sie einen ge- meinsamen Werte- und Normenkatalog, der sich aus dem „natürlichen Gebot der Liebe und des gegenseitigen Mitleides“ ergäbe und für alle Menschen, wel- chen Volkes auch immer, Gültigkeit habe. Daraus folgerte Suárez, dass jeder Staat gleichzeitig die vollständige Gemeinschaft seiner Bürger aber auch Glied des Universums der Menschheit sei. Da keine Gemeinschaft autark, sondern auf den Austausch mit anderen Gemeinschaften angewiesen sei, benötigten sie eine Rechtsordnung, die den Umgang miteinander regele. Ebenso, so beschloss er seine Ausführungen, wie in einem Staate oder in einer Provinz die Übung Recht schaffen könne, so könnten auch im ganzen Menschengeschlecht die Rechte der Völker durch die Übung begründet werden“. Josef Soder: Francisco Suárez und das Völkerrecht. Grundgedanken zu Staat, Recht und Internationale Beziehungen. Frankfurt a.M. 1973. 4. EUROPA UND AMERIKA: ERWEITERUNG DES BILDES DER WELT Doch zurück zu den kartographischen Werken, die getreulich Zeugnis der Erweiterung des europäischen Bildes der Welt gaben. Sie orientierten sich in ihrer Gliederung auch weiterhin an den mittelalterlichen Vorgaben. Dies bedeu- tete, dass das kartographische Bild mit Hilfe kurzer, flankierender Texte auch dort übergreifende Zusammenhänge darzustellen vermochte, wo die Karte im Mittelpunkt des Interesses und nicht nur illustrierendes Beiwerk einer längeren Abhandlung war. Die ersten gedruckten Karten entstanden in Europa in den 70er Jahren des 15. Jahrhunderts und lösten, da sie nun erheblich schneller produziert und verbreitet werden konnten, einen wahren Nachfrageboom aus. Zugleich konnten die Kar- tenhersteller auf ein deutlich reichhaltigeres und aktuelleres Informationsmateri- al bei der Herstellung ihrer eigenen Karten zurückgreifen. Nun, im an- brechenden Zeitalter der Renaissance mit seiner Hinwendung zum humanisti- schen Bildungsideal wurde verstärkt Wert auf die wörtliche weniger die allego- rische Bedeutung der klassischen Schriften gelegt. Historische Karten stellten einen Teil dieser neuen Texttreue, dieser Hinwendung zur „exakten“ Wissen- schaft des Humanismus dar. Jeremy Black: Maps and history. Hong Kong 1997, S. 7- 20. Gleichzeitig kam es in dem Maße, in dem Entde- ckungsfahrten durchgeführt wurden, zu einer Verlagerung des kartographischen Interesses vom mediterranen zum atlantischen Raum. Dennoch reflektierten die- se Karten nur zum Teil das tatsächliche kartographische Wissen, das mit den Expeditionen gesammelt wurde. Kennzeichnend blieben ebenso die Suche und das vermeintliche Auffinden legendärer Inseln und Regionen. Martin Waldseemüller, und damit kommen wir zum prominentesten Karto- graphen „Amerikas“ schuf 1507 sein bekanntestes Werk. Es umfasst, ebenfalls aus der mittelalterlichen Tradition kommend, neben der Weltkarte, einen Globus sowie ein Textheft. In ihm stellte Waldseemüller das auf den ptolemäischen Schriften gegründete geographische Grundlagenwissen sowie die kosmologi- schen Zusammenhänge mit dem einer französischen Vorlage entnommenen Be- richt des Amerigo Vespucci über seine Expeditionen nach Amerika dem Publi- kum vor. Auf seiner Weltkarte bezeichnete Waldseemüller den neu entdeckten Erdteil als Amerika. Die ursprünglich in schwarz-weiß gedruckte Karte wurde später koloriert und in einer Auflage von 1000 Stück gedruckt. Nur wenige Ex- emplare haben die Jahrhunderte überstanden. Ziel dieser drei zu einer Einheit verbundenen Werke war die Vereinigung des alten mit dem neuen Bild der Welt. Bereits im Titel „Universalis cosmographia secundum Ptolomaei traditionem et Americi Vespucci aliorumque lustrationes“. der Karte „Weltkarte nach Ptolemäus und Vespucci“ angekündigt, findet sie in der Zweigliedrigkeit der begleitenden Texte und Über- schriften ihre Fortsetzung. Oberhalb der Weltkarte sehen wir zwei Figuren um die Mittelachse gruppiert, die in den beigefügten Titeln als Ptolemäus und Vespucci vorgestellt werden. Neben Ptolemäus befindet sich eine Darstellung der Alten Welt, neben Vespucci eine der Neuen; die Karte selbst vereinigt beide, da sie nach den Prinzipien des Ptolemäus' die bekannte Welt zusammen mit dem gerade entdeckten Kontinent zeigt. Wie sehr Öffentlichkeit historisch immer wieder scheinbare Fakten schafft, wird am Beispiel der Karte Waldseemüllers in zweifacher Weise besonders deutlich. Entgegen der Legende war er nicht der erste Kartograph, der den neu entdeckten Erdteil als Kontinent wiedergegeben hat. Die erste gedruckte Welt- karte, auf der die neu entdeckte Region als eigenständiger Erdteil ausgewiesen wurde, ist 1506 von dem italienischen Kartenmacher Giovanni Contarini ge- schaffen worden. Die erste Handzeichnung, auf der die neu entdeckten Gebiete als eigenständiger Kontinent verzeichnet wurden, stammt sogar bereits aus dem Jahr 1500. Juan de la Cosa, der als Kartograph und Lotse Kolumbus auf der ers- ten und zweiten Reise begleitete, fertigte sie an. Amerika. Das alte Europa entdeckt die Neue Welt. Ausstellungskatalog zur Ausstellung der Museen der Stadt Gotha, Kartographisches Museum, zum Kolumbus-Jahr 1992, Gotha 1992, S. 70. Es war auch nicht Amerigo Vespucci, der den Kontinent als solchen erstmals erkannte. Peter Martyr d'Anghiera Petrus Martyr d’Angehieri (1457-1526) kam 1487 an den spanischen Hof und wurde nach der Eroberung Granadas von Königin Isabela zum offiziellen Chronisten der kastilischen Krone ernannt. In seinen „Dekaden über die Neue Welt“ (1493-1526) beschreibt er kenntnis- reich die Geschichte der spanischen Entdeckungen. Klaus Anselm Vogel: Sphaera terrae - das mittelalterliche Bild der Erde und die kosmographische Revolution. Göttingen 1995, S. 398. 29 Klaus Anselm Vogel: Sphaera terrae. S. 398-399. (1457-1526), der erste offizielle Chronist der spanischen Entdeckungen, schrieb bereits am 14. Mai 1493, nur sieben Wo- chen nachdem er Nachricht von der Rückkehr des Kolumbus erhalten hatte, in einem Brief an den Mailänder Patrizier (Johannes) Borromeo, dass „... von den westlichen Antipoden ( Antipodes occidui ) ein gewisser Christopherus Colonus zurückgekommen ...“ sei. Auf Peter Martyr d'Anghiera ist übrigens die Bezeich- nung „westliche Hemisphäre“ zurückzuführen, eine Bezeichnung, die er in sei- nem Schreiben an den Erzbischof von Granada aus demselben Jahr erstmals be- nutzte. 29 Waldseemüller versuchte in den folgenden Jahren zwar seine Fehlinformatio- nen Richtigzustellen, dennoch setzte sich sein Vorschlag, den neuen Kontinent „America“ zu nennen, durch. Karte, Globus und Beiheft wurden also überaus erfolgreich, man kann fast sagen erfolgreicher als vom Autor beabsichtigt, ge- nutzt, um die grundlegende Neuerung des Weltbildes, die sich aus der Entde- ckung Amerikas ergab, theoretisch und praktisch in die Kartographie zu integ- rieren ohne deshalb das bisherige Wissen zu verwerfen. Alle drei Dokumente folgten diesem Leitgedanken aber jedes Medium nutzte seine spezifischen Mög- lichkeiten zur Formulierung, so dass die Beschreibungen der Welt in Text, Bild und Figur zwar für sich allein eigenständig blieben, sie sich andererseits aber zu einer umfassenden Aussageeinheit ergänzen konnten. Diese Verknüpfung des kartographischen Bildes mit einer ausführlicheren Abhandlung, die nicht in die für kürzere Textbeigaben vorgesehenen Kartuschen neuzeitlicher Karten aufgenommen werden musste, fand sich in den nächsten Jahrzehnten auch bei den ersten Atlanten. Gerhard Mercator, Mathematiker, Kosmograph und Kartograph war es, der die Bezeichnung „Atlas“ im Jahr 1585 für Sammlungen von Karten, die nach dem gleichen Aufbauprinzip erstellt wur- den, einführte. Hierbei handelte es sich um einseitig bedruckte Kartenblätter, deren freie Rückseiten mit Texten versehen wurden, die einordnende oder er- gänzende Informationen zum Bild der Vorderseite gaben. Die Kartenblätter wurden zusammengebunden. Während einige Karten dieser Sammlung die je- weilige Rückseite nur für eine mehr oder weniger ausführliche Titelangabe nutz- ten, füllten andere den Platz mit ausführlichen Inhaltsangaben oder mit der Dis- kussion unterschiedlicher Theorien aus. Zum Beispiel wird auf Blatt II, das die Ökumene in ptolemäischer Projektion zeigt, im begleitenden Text das Gradsystem erläutert. Die Tatsache, dass Mercator von Waldseemüller die Bezeichnung „Amerika“ für den Erdteil in der westlichen Hemisphäre übernahm, dürfte wesentlich zur Verbreitung der Namensgebung beigetragen haben. 5. AMERIKA Kommen wir zu den spanischen Besitzungen in „Amerika“. Mit der kolonial- administrativen Erfassung der überseeischen Gebiete, stellte sich für die spani- sche Krone rasch die Notwendigkeit, die zukünftigen Verwaltungseinheiten, die Grenzen der Vizekönigreiche Neuspanien und Peru, deren Provinzen, Distrikte und Gemeinden kartographisch zu erfassen. Da die genaue Grenzziehung zum portugiesischen Brasilien erst im 19. Jahrhundert endgültig erfolgte, beschränke ich mich im Folgenden auf das spanische Amerika. Diese so genannten Relaciones Geográficas, 1577 vom Indienrat beschlossen, stellen einen Sonderfall kartographischer Erfassung dar, da hier mittels eines standardisierten Fragekataloges die vizeköniglichen Beamten in Amerika an- gehalten waren, sämtliche wissenswerten Informationen über alle Ortschaften, d.h. deren geografische Lage, klimatische Bedingungen, Bevölkerungsdichte usw. zu sammeln und nach Spanien weiterzumelden. Die Umsetzung der An- ordnungen erfolgte beispielsweise in Neuspanien zwischen 1578 und 1586. Hier wurden die Daten von insgesamt 191 Verwaltungseinheiten erfasst, von denen bis heute 167 bekannt sind. Teilweise sind den Texten kartographische Darstel- lungen beigefügt. Auch diese Karten sind geostet obwohl genordete Karten seit dem Gebrauch des Kompasses ab dem frühen 14. Jahrhundert in Europa bekannt waren. Tat- sächlich wurden geostete Karten der Neuen Welt sogar noch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts parallel zu genordeten Karten geschaffen. Schöne Beispiele für diesen gleichzeitigen Gebrauch geosteter und genordeter Karten finden sich im kartographischen Werk Don Carlos de Sigüenza y Góngo- ras. An der 1551 durch einen königlichen Erlass Karls I. gemeinsam mit der Universität von Lima gegründeten Universität von Mexiko , lehrte Carlos Sigüenza y Góngora (1645-1700) seit 1672. Neben seiner Professur für Mathematik, machte er sich als Philosoph, als Sammler vorspanischer Altertümer und Bilderhandschriften, Historiker, Ingenieur und königlicher Kosmograph einen Namen. Obwohl er für das Verständnis der kolonialspanischen Gesell- schaft Amerikas im 17. Jahrhundert prägend war, ist sein Name heute weitgehend in Verges- senheit geraten. In das Amt des Kosmographen war Don Carlos Sigüenza y Góngora mit ei- nem besonderen königlichen Erlass (real cédula) von Karl II im Jahr 1680 berufen worden. Teil seiner Aufgaben als königlicher Kosmograph bildeten die Tätigkeiten als „Astronom, Beobachter und Kartenmacher“. Allerdings waren diese zahlreichen Ämter zwar mit viel Ehre aber wenig Lohn verbunden. Den Lebensunterhalt sicherte dem Kleriker, der seine Ausbil- dung bei den Jesuiten erfahren hatte, die Tätigkeit als Kaplan des Hospitals del Amor de Dios, wo er ab 1682 bis zu seinem Tod am 22. August 1700 lebte. Nach ähnlichen Kriterien wie jenen der Relaciones Geográficas fertigte der vizekönigliche Kartograph vermutlich 1691 eine geostete Karte des Hochtals von Mexiko an, die 1748 erstmals gedruckt und in der Folge weitere Auflagen erfuhr. Mapa de las lagunas, ríos y lugares que circundaban a México para mayor inteligencia de la Historia y Conquista de México, que escribió Solis por Tomás Lopez. Madrid 1783. - Mapa de las que per se (sic) el círculo de noventa leguas vienen a la laguna de Texcoco, delineado por Don Carlos de Sigüenza y Góngora, reimpreso en México con algunas adicio- nes en 1786 por Don Joseph Alzate. Sie ist zwar kein Meisterwerk kartografischer Kunst. Vor allem die Hügel und Berge scheinen willkürlich und einzig zum Zwecke, die Leere des Blattes zu füllen, eingezeichnet zu sein. Sie erfüllte jedoch in geeigneter Weise ihre spezifische Aufgabe, die Zuflüsse, Kanäle und Dämme, die in und um Mexiko-Stadt lagen, wiederzugeben. Als Ingenieur in vizeköniglichen Ämtern war Sigüenza y Góngora beauftragt worden, eine Lösung für das Problem der jährlichen Überschwemmungen der Hauptstadt zu entwickeln. Neben diesen kolonialadministrativen Interessen an kartographischer Erfas- sung der Neuen Welt ist im 17. Jahrhundert ein wachsendes Bedürfnis sowohl der humanistisch geprägten Wissenschaftler in Amerika wie in Europa als auch der Leser historischer Schriften, Zeit und Raum miteinander in Verbindung zu setzen und den Platz des Individuums wie der Gesellschaft insgesamt neu zu verorten, festzustellen. Die außerordentlich komplexe Beziehung zwischen Raum und Zeit verschob sich nun hin zu einem verstärkten Interesse der Wissenschaft und des Publi- kumsverlangens nach kartographischen Werken, die den Raum, die Orte und deren genaue, unverfälschte Darstellung sowohl hinsichtlich ihrer geographi- schen Lage als auch ihrer charakteristischen Merkmale berücksichtigte. Helmut Grössing: Frühling der Neuzeit: Wissenschaft, Gesellschaft und Weltbild in der frühen Neuzeit. Wien 2000, S. 123-156. Abb. 2: Karte von Tenochtitlan um 1518, Holzschnitt in Praeclara Ferdinandi Cortesii de Nova Maris Oceani Hispania Narratio, Nürnberg, 1524 New York Public Library, Quelle: latcar.rutgers.edu/lauria/perspectives/index.htm (eingesehen am 09.07.2007). Waren vormals beispielsweise schematische Abbildungen von Städten ausreichend, so verlangte das Publikum jetzt eine möglichst wahrheitsgetreue Illustration. Deutlich lässt sich dieser Geschmackswandel an zwei Darstellungen Mexiko- Stadts verfolgen. Zunächst ein Stadtplan, der 1524 in Nürnberg gedruckt wurde und auf Angaben Hernan Cortés’ beruht. Hernan Cortés (1485 - 1547) brach 1519 mit elf Schiffen von Cuba auf, um das Reich der Azteken zu erobern. An der Küste Mexikos gründete er die erste Siedlung auf amerikani- schem Boden, Veracruz, und zog in das Landesinnere. Der Eroberer des heutigen Mexikos schickte zwischen 1519 und 1521 drei Briefe an Kaiser Karl V., in denen er von den Fortschritten bei der Eroberung berichtete. Bereits 1524 wurden diese Nach- richten in deutscher Übersetzung in Nürnberg gedruckt. Einem weiteren Band gedruckter Briefe wurde ein Stadtplan von Tenochtitlan, dem späteren Mexiko- Stadt, und eine Skizze der Karibik beigegeben. Die Darstellung ist hier noch stark von der antiken Idealvorstellung der Stadt geprägt, wobei die Lage Tenochtitlans inmitten eines Sees offensichtlich die Imagination des Kupferstechers und seines europäischen Publikums beflügelte, sich die Stadt diesem Vorbild entsprechend als beinahe kreisrunde Insel mit geometrisch genau konzipierten Wohnanlagen und Straßen vorzustellen. Dominique Gresle-Pouligny: Un plan pour Mexico-Tenochtitlan: les représentations de la cité et l’imaginaire européen (CVIe-XVIIe siècles). Paris 1999. Ganz anders ist hingegen der Kupferstich Juan Gómez de Trasmontes der Stadt Mexiko, wie sie sich dem Betrachter im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts darstellte. Deutlich und wirklichkeitsgetreu ist die Lage der Stadt im Hochtal von Mexiko, umgeben von teilweise schneebedeckten Vulkanen, die Insellage der Stadt sowie die Verbindungsdämme zum Seeufer wiedergegeben. Mit der Veränderung der Bedeutung von Raum ging eine Veränderung der Wertung der Bedeutung von Zeit einher. Die Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart wurde deutlicher und damit verbunden die Bedeutung dessen, was das menschliche Auge tatsächlich sieht. Wissenschaftliche Entwicklungen, die in den Niederlanden im Verlauf des 17. Jahrhunderts besonders im Bereich der Optik stattfanden, spiegelten sich in der Betonung der Sehens und der Augen als eines Sinnesorgans, durch welches Gott dem Menschen seine Schöpfung sichtbar mache. Dies führte dazu, dass Kartographen nun Wert darauf legten die Welt so, wie sie sie sahen und mit ihren Mitteln wiederzugeben. Don Carlos de Sigüenza y Góngora gebührt die Ehre, die Daten für die erste Karte des Vizekö- nigreiches Neuspanien erarbeitet zu haben. Ebenso wie seine Karte des Tals von Mexiko wurde auch dieses kartographische Werk von seinen Nachfolgern eifrigst genutzt und bildete die Grundlage aller in Europa während des 18. Jahr- hunderts erstellter Landkarten des Vizekönigreiches. Orozco y Berrera: Apuntes para la historia de la geografía en México, S. 327. Aufbauend auf diese kar- tographischen Vorarbeiten wurde beispielsweise auch die Karte des französi- schen Kartographen Guillaume Delisle 1703 geschaffen und noch Alexander von Humboldt nutzte eine ebenfalls auf Sigüenzas Angaben zurückgehende Kar- te von Neuspanien, die 1783 in Spanien gedruckt worden war. Eine weitere Landkarte des neuspanischen Kartographen findet sich heute im Archivo General de Las Indias in Sevilla. Sie zeigt das Gebiet zwischen Coahui- la und der Lagune von San Bernado im Norden Neuspaniens. Hier hatten sich französische Siedler mehr oder weniger legal niedergelassen. Don Carlos’ kar- tographische Tätigkeit betraf hier eine weitere im höchsten Maße brisante Mis- sion, die der militärischen Sicherung der Grenzen Neuspaniens gegen feindliche europäische Konkurrenten. Auf seinem persönlich gesicherten Datensatz beruht diese Karte der Bucht von Pensacola Diese Karte ist wiedergegeben in W.E. Dunn: Spanish and French Rivalry in the Gulf Region. S. 160. , die im Auftrag des Vizekönigs erstellt, einen primär militärischen Zweck erfüllte: die Verteidigung der Küstenlinie ge- gen französische Angriffe. Trotz aller vorurteilsfreier Genauigkeit hielten sich bis ins 18. Jahrhundert Spekulation über mögliche versunkene Städte, Inseln und Kontinente, die mit den Entdeckungen in der westlichen Hemisphäre nun endlich bewiesen werden sollten. Diese Gedankenspiele, die eher auf ein Festhalten an die Legendenwelt der Antike als auf die modernen Erkenntnisse der Kartographen hindeuten, fan- den sich beidseits des Atlantiks und, dies ist bemerkenswert, häufig im Werk ein und desselben Wissenschaftlers. Zwei Seelen wohnten ach in ihrer Brust, die des nüchternen Naturwissenschaftlers und jene des Romantikers auf der Suche nach versunkenen Inseln. Als Beispiele hierfür können das Schaffen des Europäers Edward Wells sowie wiederum mit einem Beispiel aus dem Werk Don Carlos’, die amerikanische Sicht dienen. Beide Herren waren hochgeschätzte Mathematikprofessoren, Don Carlos, wie bereits gesagt, an der Universität von Mexiko, Edward Wells am Christchurch College in Oxford. Edward Wells bezeichnet auf seiner Weltkarte „Nordamerika“ beispielsweise als „Atlantis“ und sinnt darüber nach, ob die Neue Welt nicht u.U. der legendäre “verlorene Kontinent” sei. Entsprechend wird Kalifornien dann als Insel dargestellt. Auf beiden Seiten der Weltkarte fin- den sich zudem kleine Abbildungen von Landstrichen sowie Schiffe, die Regio- nen der westlichen Hemisphäre erreichen. A New Map Of The Terraqueous Globe According To The Ancient Discoveries And Most General Divisions Of It Into Continents And Oceans, Oxford: 1700-1738. Wie seine europäischen Zeitgenossen und Kollegen, mit denen er eine aus- führlich Korrespondenz pflegte, glaubte auch Don Carlos mit geradezu dogmati- schem Eifer an die Existenz legendärer Orte, wie beispielsweise an die „Straße von Anian“, die er – wie viele andere Zeitgenossen auch - für den Ausgang der Nord-West-Passage hielt und nach der schon Francis Drake im Auftrag Elisa- beths I. in den 60er Jahren des vorherigen Jahrhunderts gesucht hatte. Don Car- los bestand darauf, dass „dieses Land (die westliche Hemisphäre) kein Konti- nent, sondern eine Insel ist, denn an ihrem antarktischen Ende wird sie von der Magellan Straße abgebrochen und am anderen Ende (ich weiß, wovon ich spre- che) werden die beiden Meere durch die Meerenge von Anian und Davits ge- eint“, schrieb er im Teatro de Virtudes Políticas Carlos de Sigüenza y Góngora: Alboroto y Motín de los Indios de México. In: Roberto Moreños de los Arcos (Hrsg.): Teatro de los Virtudes y Alboroto y Motín de los Indios de México. Mexiko 1986. , jenem Stück, das zu Ehren der Ankunft des Vizekönigs Conde de Paredes im Jahr 1680 vom Rat der Stadt Mexiko bei ihm in Auftrag gegeben wurde und in dem der Diskussion um Zeit und Raum ein neuer Aspekt hinzugefügt wurde, jener des eigenen, des amerika- nischen Weltbildes. Im Zentrum dieses Werkes steht die Frage, ob es Werte und Normen univer- seller Gültigkeit gibt, die von allen Gesellschaften und Völkern in Vergangen- heit und Gegenwart erkannt und akzeptiert wurden und werden. Daran anschlie- ßend wird das Idealbild einer Gesellschaft gezeichnet, deren Teile unterschiedlicher kultureller Herkunft sind. Es geht also, anders formuliert, um die Demonstration dessen, was wir als „americanidad“, als „amerikanische Iden- tität“ „En la obra de Sigüenza y Góngora … aparece concretamente el concepto de „patria” casi siempre en contexto donde sirve como elemento diferenciador con respecto a la indife- rencia arrogante de los europeos, y para identificar un proyecto cultural que no se extendía mucho más allá de los límites reivindicativos del sector criollo descartaba todavía la matriz española“, Mabel Moraña: Viaje al silencio: exploraciones del discurso bárroco. Mexiko 1998, S. 244. bezeichnen könnten. In den „Politischen Tugenden“ sieht das kreolische Amerika die Herrschaft des Vizekönigs in der Nachfolge der „mexikanischen Kaiser“, deren Regie- rungsgewalt alle Tugenden legitimer Herrschaft vereinte. Carlos de Sigüenza y Góngora: Teatro de los Virtudes políticas, S. 18. wurde. 45 So wird der Gottkö- nig Huizilopochtli als Idealer Fürst vorgestellt, dessen Macht von Gott legiti- miert und dessen Herrschaft von Gottes Prinzipien, von universellen Tugenden, geleitet wurde. In zwölf Szenen plus Ein- und Ausgangsszene wird die Kunst des Regierens, die Pflichten und Tugenden des Idealen Prinzen dargestellt, wo- bei jeweils eine altmexikanische Herrscherpersönlichkeit eine Tugend repräsen- tiert, die im vorspanisch-historischen Zusammenhang erläutert wird. Beispiels- weise symbolisiert Huitzilihuitl die Pflicht des Fürsten Gesetze zu erlassen, für deren Beachtung zu sorgen und gleichzeitig Gnade walten zu lassen. Dem mexi- kanischen Fürst Itzcohuatl, unter dessen Herrschaft sich das aztekische Reich zum Imperium entwickelte, das ganz Mesoamerika beherrschte, wird Klugheit zugeordnet. Ferner werden Barmherzigkeit, Mut, die Bereitschaft auf wohlmei- nenden Rat zu hören und dem Volk zu dienen, Toleranz, Großzügigkeit sowie Mut schwierige Entscheidungen zu treffen, durch jeweils einen altmexikani- schen König vorgestellt. Dieser von historischen Herrschergestalten repräsen- tierte Werte- und Normenkatalog stellt in dem Triumphbogen, mit dem der kreo- lische Stadtrat Mexikos den neuen spanischen Vizekönig begrüßte und konfrontierte, gleichzeitig die Basis des Zusammenlebens der beiden Gesell- schaften, der indianischen und der europäischen, dar. In diesem Sinne war er die Quintessenz der „ Americanidad Der Begriff und das Konzept der „Americanidad“ haben politische Philosophen, Revolu- tionäre und Literaten spätestens seit dem 18. Jahrhundert beschäftigt. Zu nennen sind Sarmiento, Bolívar, Miranda, Martí, Rodó, Vasconcelos, und viele mehr, siehe Danilo Pérez Zumbado, José Cecilio del Valle: americanidad y otros relaciones, S. 68-77 und Carmen L. Bohórquez, Miranda y Bolívar: dos concepciones de la unidad de la América Hispana. In: Procesos Históricos, Nr. 10, (2006) Mérida, Venezuela, S. 20. , der amerikanischen Identität, die nicht mehr entweder als „indigen“ oder „europäisch“, sondern als amerikanisch empfunden Kommen wir zu den Ergebnissen. Eingangs fragten wir uns, ob die Fahrt des Christoph Kolumbus’ im Jahr 1492 die Bahn brechende Tat eines weit über sei- ne Zeit hinaus imaginierenden und handelnden Genies war oder ob es in Europa Vorstellungen und Vermutungen darüber, dass es auch außerhalb der bekannten Welt von Menschen bewohnte Regionen geben könnte, gab. Die Fahrt des Kolumbus, so beeindruckend sie auch als Leistung eines Ein- zelnen gewesen ist, baute auf Kenntnissen auf, die sich aus den Ergebnissen vorangegangener Entdeckungsfahrten speisten. Die Vorstellung von der Kugel- gestalt der Erde war unter Seefahrern, Kosmographen und Mathematikern be- reits seit der Antike bekannt, ebenso wie das Wissen um den ungefähren Um- fang der Erde. Darüber hinaus bestanden seit dem Mittelalter philosophisch- religiöse Konzepte, die die Kugelgestalt der Erde als auch die Existenz eines weiteren von Menschen besiedelten Kontinentes vorsahen. Gewiss war dieses Wissen nicht Teil der Allgemeinbildung des mittelalterlichen oder frühneuzeitli- chen Menschen Europas, doch können wir davon ausgehen, dass die Kenntnis an Universitäten sowie nautischen Zentren vor allem auf der Iberischen Halbin- sel, ich denke da an den portugiesischen Prinzen Heinrich den Seefahrer und sein Lebenswerk, vorhanden war. Diese Erkenntnis leitet zur Antwort der Frage über, ob die Entdeckung eines bis dahin den Europäern unbekannten Kontinentes die europäische Sicht der Welt grundsätzlich änderte oder ob die Entdeckungen in das vorhandene Welt- bild integriert wurden. Die europäische Weltsicht änderte sich durch die Entde- ckungen in der westlichen Hemisphäre nicht; wohl aber fand eine breite Diskus- sion darüber statt, ob sich aus der Entdeckung der Neuen Welt die militärische Eroberung der dortigen Völker und Nationen legitimieren lasse. Gleich nach Abschluss der gewalttätigen Zerstörung des aztekischen Reiches im Jahr 1521, setzte in Europa eine heftige Diskussion um die Rechtfertigung der Besitznahme jener unbekannten, von fremden Völkern bewohnter Gebiete ein, deren Höhe- punkt der Disput von Valladolid war. Vor allem aber an der Universität von Sa- lamanca fand auch in der Folgezeit eine intensive Auseinandersetzung um die juristische Einordnung des Kontaktes zwischen europäischen und außereuropäi- schen Staaten und Gesellschaften statt. Diese Erörterungen mündeten in Überle- gungen eines, erst im 20. Jahrhundert ausgereiften Völkerrechtes. Schließlich versuchten wir aus umgekehrter Perspektive, d.h. mit dem Blick aus der Neuen auf die Alte Welt der Frage nachzugehen, wie sich die Nach- kommen europäischer Einwanderer in Amerika ihren Platz in der Welt, ja dar- über hinausgehend, grundsätzlich den Platz Amerikas in der Welt vorstellten: wer oder was war „Amerika“ und in welchem Verhältnis stand America, Ameri- cas zu Europa? Hier zeigte sich, dass in Übersee bereits zum Ende des 17. Jahrhunderts eine intensive Beschäftigung mit dem „amerikanischen Weltbild“ stattfand. Der Hu- manist Don Carlos de Sigüenza y Góngora beantwortete im Auftrag des Stadtra- tes von Mexiko die Frage nach dem amerikanischen Weltbild dahingehend, dass es eine Americanidad gäbe, die durch die Verbindung des indigenen mit dem europäischen Erbe originär und unverwechselbar sei, die gleichzeitig aber uni- versell gültige Werte und Normen repräsentierte. STEFAN RINKE In der Geschichtsschreibung gilt das Jahrhundert zwischen 1750 und 1850 nach Reinhart Koselleck als so genannte „Sattelzeit“ der Moderne, in denen zahlreiche revolutionäre Umbrüche das Leben der Menschen in vielen Teilen der Welt tiefgreifend veränderten. Auch für die Amerikas ist dies eine entschei- dende Übergangsphase gewesen, die Phase des Ausgangs aus der Kolonialherr- schaft und des Beginns der unabhängigen Republiken. Auf den Gesamtzusam- menhang eines "Zeitalters der demokratischen Revolution" hat schon Robert Palmer hingewiesen. Robert Palmer: Das Zeitalter der demokratischen Revolution: Eine vergleichende Geschichte Europas und Amerikas von 1760 bis zur Französischen Revolution. Frankfurt a.M. 1970. Allerdings hatten diese Revolutionen in den Amerikas höchst unterschiedliche Ausprägungen. Dieses Jahrhundert wird auch als Epochenschwelle zwischen Früher Neuzeit und Moderne gedeutet. Wie schon zu Beginn der Neuzeit, als der Name Ameri- kas erfunden wurde, implizierte auch dieser Epochenwechsel wieder einen wich- tigen im Namen der Neuen Welt. Das „erste Amerika“, wie der englische Histo- riker David Brading provokant formulierte, das Amerika Vespuccis, also der Südteil des Doppelkontinents, verlor in diesem Zeitraum seinen Anteil am Be- deutungsgehalt eines Namens, der ihm ursprünglich exklusiv gehörte. Die Aus- grenzung begann in dieser Phase, denn die exklusive Verwendung des Namens Amerika für die ehemaligen englischen Kolonien ist für diesen Zeitraum erst- mals belegt. Am Ende dieses Zeitraums stand der Name Amerika in vielen Sprachen nicht mehr für das ursprüngliche Gebiet, für das er einst erfunden worden war. Amerika, das waren um 1850 in den nun dominierenden europäi- schen Sprachen eben nur noch die Vereinigten Staaten. Es wurde sogar notwen- dig, für das südliche Amerika einen neuen Namen zu erfinden. Wie konnte es dazu kommen? Welche Kräfte bewirkten diese Ausdifferenzie- rung des Amerika-Begriffs und warum waren Sie so erstaunlich erfolgreich, dass sich die Verwendung bis auf wichtige Ausnahmen flächendeckend durch- setzen konnte? Welche Vorstellungen und Konzepte verbanden sich mit dem Namen Amerika in dieser Phase? Wandelten sie sich wegen und mit der Bedeu- WINFRIED FLUCK Die Verbindung utopischer Vorstellungen mit der Idee Amerikas hat eine lange Tradition, die bis in die Zeit der europäischen Entdeckungen zurückreicht und diese wesentlich stimuliert hat. Vgl. Dazu Eduard Batalov: „The history of the American utopia begins with the history of American society. Virtually since the time news of its discovery spread in Europe, people in the Old World pictured the new continent as a unique land in which ‘worldly social salva- tion’ could be achieved and the boldest utopian dreams realized. (…) More than any other country, America stimulated utopian hopes and favored the conduct of utopian experiments.” Eduard Batalov: The American Utopia . Moskau 1985, S. 32-3. Mit den Spekulationen über einen neuen Kontinent verband sich das Versprechen eines grundlegenden Neubeginns ohne religiöse Verfolgungen, politische Unterdrückung und soziale Demütigung. Die Gründung einer Reihe britischer Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent war unmittelbar mit utopischen Erwartungen verbunden. Massachusetts und das – bereits im Namen utopisch inspirierte – Penn-Sylvania entstan- den als Zufluchtsorte vor religiöser Verfolgung, mit denen sich die Aussicht verband, endlich ein besseres Leben ganz nach religiösen Prinzipien führen zu können. Aber auch im Fall von Maryland, South Carolina und Georgia standen utopische Vorstellungen am Beginn der Be- siedlung. Vgl. dazu James Jasper: „Most of the new colonies were carefully thought out in England as utopian projects. Lord Baltimore hoped to establish in Maryland the neatly hierar- chical feudal order that England had once had (or that he believed it had). In the 1660s John Locke himself tried to work out the first principles for the political structure of the Carolina colony, which belonged to a group of investors that included his patron the Earl of Shaftes- bury. Soon after, William Penn established his colony to avoid the kind of religious warfare that had devastated England and Europe. As late as the 1730s humanitarian reformers planned Georgia as a more egalitarian, slaveless utopia of small farmers.” James M. Jasper: Restless Nation. Starting Over in America. Chicago 2000. Endlich schien sich die Möglichkeit zu eröffnen, ein utopisches Potential menschlicher Existenz zu realisieren, das bisher nur als ideelle Vorstellung existierte. Aus dem „Nicht- Ort“, der ursprünglichen Wortbedeutung des von Thomas More kreierten Beg- riffs der Utopie (1516), schien nunmehr ein realer Ort werden zu können. Die Bedeutung des von More in lateinischer Sprache eingeführten Wortes ist heute in der Literatur zum Thema umstritten. Utopia kann sich entweder auf das griechische Outopia (kein Ort) oder Eutopia (der gute Ort) beziehen. Ame- rika ist in dieser – nicht nur zu jener Zeit weit verbreiteten – Sicht der Kontinent, in dem der Traum eines besseren Lebens endlich Wirklichkeit werden kann. Umgangssprachlich hat dieses Versprechen in der Rede vom amerikanischen Traum Gestalt angenommen. Vgl. Batalov: „The American Dream is widely regarded to be utopian in nature. More- over, some authors see it as all but the epitome of all the utopian ideals the United States has ever produced.” Batalov: American Utopia, S. 46. Die USA haben dieses utopische Versprechen zum festen Bestandteil ihres Selbstverständnisses gemacht – und sich auf diese Weise umstandslos mit der „Neuen Welt“ gleichgesetzt. Darin besteht heute der Kern der „amerikanischen Utopie“: Es geht um das Selbstbild einer Nation, die sich als Modell einer besse- ren Gesellschaft auch für den Rest der Welt ansieht. Man bezeichnet diesen Glauben an die Besonderheit und Einzigartigkeit der amerikanischen Gesell- schaft in den American Studies als Ideologie des amerikanischen Exzeptionalis- mus und meint damit die Überzeugung, den USA käme eine weltgeschichtliche Sonderrolle zu. Ein entscheidender Schritt war dabei, dass der utopische Kern „Amerikas“ national umgedeutet wurde, d. h. dass das utopische Versprechen nicht mehr mit dem Kontinent Amerika verbunden wird, sondern zu einer Ei- genschaft „der amerikanischen Nation“ oder „des amerikanischen Volkes“ der Vereinigten Staaten von Amerika wurde. Um dieser unzulässigen Verallgemeinerung entgegen zu wirken, wird in diesem Aufsatz, wo es angebracht scheint, das Attribut „US-amerikanisch“ benutzt. Es ist jedoch nicht ganz einfach, eine terminologisch saubere Trennung konsequent durchzuhalten, nicht nur weil sich die Rhetorik in vielen Fällen längst verselbständigt hat – man denke beispielsweise an den „amerikanischen Traum“ -, sondern auch, weil sich bestimmte imaginäre Konstrukte tatsäch- lich nicht nur auf die USA, sondern auf die Idee „Amerikas“ beziehen. Ich will diesen Anspruch im Folgen- den an drei Bereichen verdeutlichen: zunächst am Beispiel einiger exemplari- scher literarischer und visueller Darstellungen des utopischen Potentials Ameri- kas, also der Utopie als imaginärem Konstrukt; dann, in einem zweiten Teil, am Beispiel des „Goldenen Zeitalters“ der Utopie in den USA in der Periode vor dem amerikanischen Bürgerkrieg; drittens soll in einem abschließenden Teil die grundsätzlichere Frage gestellt werden, ob und was sich aus meiner Analyse des utopischen Versprechens „Amerikas“ für unser Verständnis der USA – und da- mit auch für das Fach American Studies – ergibt. I. Im US-amerikanischen Selbstverständnis wird der Anspruch einer Vorbild- rolle für den Rest der Welt heute zumeist aus dem amerikanischen Puritanismus abgeleitet, für den das Versprechen Amerikas in einer grundlegenden morali- schen Erneuerung lag. Eine Schlüsselstellung kommt dabei einem Satz zu, den der Puritaner John Winthrop auf der Überfahrt von England nach Amerika als Teil einer Laienpredigt sprach: „For we must consider that we shall be as a Citty upon a hill, the eyes of all people upon us.“ Dieser Satz ist zum Kern eines US- amerikanischen Gründungsmythos geworden; er gehört mittlerweile zum festen Bestandteil politischer Rhetorik und ist von zahlreichen amerikanischen Präsi- denten für den Zweck nationaler Selbstdefinition benutzt worden. Winthrops Vision ist allerdings von ihm weder vorher, noch nachher je wieder in dieser Form formuliert worden. Natürlich sahen sich die Puritaner als Avantgarde in der religiösen Auseinandersetzung mit den Kräften der Gegenreformation, die auch die Anglikanische Kirche zu gefährden schien. Insofern schrieben sie dem Neuanfang in Amerika eine Vorbildfunktion für die Erneuerung des Glaubens zu. Obwohl es auch das Gegenargument gab, dass man auf diese Weise die Anglikanische Kirche sich selbst überlassen und damit den englischen Glaubensbrüdern in den Rücken fallen würde. Es war für die Puritaner in Amerika nicht ungewöhnlich, zeitweilig oder ganz nach England zurück zu kehren. Aber dieses Erneuerungsversprechen war noch ein strikt theologisches ohne jeden nationalen Bezugsrahmen. Es bezog sich auf die Mitglieder einer Kirche und nicht einer Nation; indem es nach der Gründung der Nation für deren Selbstbild reaktiviert wurde, verwandelte sich die Nation unter der Hand zum Äquivalent einer Kirche. Man bezeichnet diese politische Appropriation heilsge- schichtlicher Rhetorik heute als amerikanische Zivilreligion. Historisch gesehen ist die Assoziation der USA mit einer puritanischen Erneuerungsvision vor allem Produkt nationaler Selbstbesinnung in der Zeit vor und nach dem 2. Welt- krieg, in der die Puritaner wiederentdeckt und nunmehr als nationale Gründervä- ter überhöht wurden. Dies ist auch die Phase, in der der amerikanische Exzepti- onalismus wiederbelebt wird – nicht zuletzt durch die Etablierung von American Studies -Programmen, die der amerikanischen Kulturpolitik der 50er Jahre wich- tige Stichworte lieferten. Eines dieser Stichworte war das eines geschichtslosen und somit historisch „unschuldigen“ amerikanischen Adam. Zur Funktion dieser Vorstellungen in der amerikanischen Kultur siehe die klassischen Arbeiten der American Studies von Henry Nash Smith: Virgin Land. The American West as Symbol and Myth. New York 1950; R. W. B. Lewis: The American Adam. Innocence, Trag- edy and Tradition in the Nineteenth-Century. Chicago 1955, und Leo Marx: The Machine in the Garden: Technology and the Pastoral Ideal in America . New York 1964. Das stand in einer Kontinuität von Paradiesvorstellungen, die neben der Rhetorik religiöser Wiedergeburt von An- fang an zur Idee Amerikas gehörten. Angesichts ihrer weiten, unberührten Natur wurde die Neue Welt nicht selten als irdisches Paradies konzipiert. Dieses ima- ginäre Konstrukt eines neuen Gartens Eden durchlief drei Stationen. Die erste war die quasi-biblische Vision eines von menschlicher Schuld noch unberührten Ortes, der es dem Neuankömmling in der Neuen Welt ermöglicht, sich vom Schuldzusammenhang der Alten Welt und ihrer Geschichte zu befreien. Das sind im Wesentlichen Visionen vor der Besiedlung des amerikanischen Konti- nents oder aus ihren Anfängen, wobei christliche Paradiesvorstellungen und der pastorale Traum von einer Harmonie zwischen Natur und Kultur bereits inein- ander übergehen. (Handelsgesellschaften, die Siedler für ihren amerikanischen Besitz rekrutieren wollten, machten sich diese Vorstellungen oft geschickt zu- nutze.) Im Folgenden entstand daneben der Glaube an die tugendbildende, ten- denziell demokratische Wirkung des Landlebens, eine Idealisierung, für die sich in der amerikanischen Kulturgeschichte die Begriffe Pastoralismus und Agraria- nismus eingebürgert haben. Beide sind, obwohl mit der Figur des Hirten/ Gentleman und der des Farmers auf zwei verschiedene Rollenvorbilder Bezug genommen wird, von der Überlegenheit einer ländlichen Existenz weitab von urbanen Zentren überzeugt, in der sich Tugend und Vernunft aus den Anforde- rungen des einfachen Lebens und der Nähe zur Natur immer wieder zu regene- rieren vermögen. So wendet sich der französische Aristokrat und Einwanderer Hector St. Jean de Crèvecoeur in seinen Letters from an American Farmer (1782), einem der „Ur-Texte“ des amerikanischen Exzeptionalismus, den günstigen Bedingungen zu, die der amerikanische Kontinent für die Herausbildung eines neuen Men- schentyps bietet. Auch Thomas Jefferson, der Autor der Unabhängigkeitserk- lärung, verbindet die selbstgenügsame ländliche Existenz mit der Vorstellung einer Auserwähltheit: „Those who labor in the earth are the chosen people of God, if ever he had a chosen people, whose breasts he has made his peculiar de- posit for substantial and genuine virtue.“ Thomas Jefferson: Notes on Virginia . In: Adrienne Koch & William Peden (Hrsg.): The Life and Selected Writings of Thomas Jefferson. New York 1944, S.164-5 Der Farmer, der das utopische Ver- sprechen einer unabhängigen, selbstbestimmten und deshalb tugendhaften Exis- tenz des einfachen Mannes einlösen kann, ist für Jefferson der exemplarische Amerikaner. Beide, Crèvecoeur und Jefferson – und mit ihnen zahlreiche Den- ker und Politiker der Zeit –, gingen davon aus, dass Amerika auserwählt sei, die- se Utopie eines neuen goldenen Zeitalters einzulösen. Es entbehrt allerdings nicht der Ironie, dass eine der für den amerikanischen Exzeptionalismus zentralen Stimmen einem Loyalisten gehörte, der Amerika nach vergleichsweise kurzem Aufenthalt als „Verräter“ verlassen musste und nach der amerikanischen Revolution die Rolle des Farmers wiederum durch die des französischen Diplomaten ersetzte. Das verstärkt den Verdacht, dass Crève- coeurs Selbststilisierung als Farmer eine literarische Maskerade war, die vom klassischen Genre der Pastorale inspiriert war. Amerika ist nicht wirklich der Ort eines historischen Neubeginns, sondern jener Ort, an dem einer ehrwürdigen literarischen Tradition neues Leben eingehaucht werden kann. Auch Jeffersons Vorstellungen waren der pastoralen Tradition und insbesondere Vergils Georgica entlehnt; auch hier ist die literarische Stilisierung unverkennbar: „One thing is certain; when Thomas Jefferson wrote that ‘those who labor in the earth are the chosen people of God,’ he was speaking from observation, not experi- ence. Aside from a small whip, Jefferson never lifted a farm implement in his life.” Darren Staloff: Hamilton Adams, Jefferson. The Politics of Enlightenment and the American Founding. New York 2005, S. 237-8. Siehe auch Staloff zum tatsächlichen Ausmaß des Landbesitzes in Virginia: „No more than one-tenth of the white population owned roughly two-thirds of the colony's wealth. At least half of all white families were landless, a fact that barred them from voting.” Ebenda S. 244. Diese Ungleichheit, die der Utopie eines „freien” Landes selbstbestimmter Bürger, die ihr eigenes Land bearbeiten, widersprach, kam ironischerweise vor allem durch eine vordemokratische, quasi feudale Besitzform zustande, von der auch Jefferson profitierte: „Slavery concentrated wealth because those who owned the labor of others could operate at a scope and scale, and with minimal labor costs that family farmers could not hope to compete with. But slaves were more than labor. They were also capital, capital that increased naturally. ‘A child raised every 2 years is of more profit,’ Jeffer- son calculated, ‘than the crop of the best laboring man.’ The value of land might improve with cultivation, but slaves multiplied of their own accord, one of those rare instances, Jefferson thought, where ‘providence has made our interest and our duties coincide perfectly’.” Ebenda, S. 244-45. Das war auch nicht notwendig, denn Jefferson war Zeit seines Lebens Sklavenhalter. Die tugendhafte Wirkung des Landlebens hatte offensichtlich durchaus ihre Grenzen. Dennoch, die Utopie eines selbstbestimmten Lebens im Einklang mit der Natur, die moralische Wiedergeburt, Tugend und nationale Identität schafft, hat sich im weiteren Verlauf der amerikanischen Kulturgeschichte als ausgespro- chen zäh und kritikresistent erwiesen. Im 19. Jahrhundert erhält sie neue Nah- rung durch einen Naturkult, in dem nunmehr die grandiosen Landschaften des amerikanischen Kontinents zum Beleg amerikanischer Exzeptionalität werden. Der Anblick einzigartiger, in Europa nicht zu findender Naturphänomene scheint die Vorstellung einer bevorzugten Schöpfung Gottes zu bestätigen. Die Entdeckung der grandiosen Natur Amerikas hatte oft Züge der Selbstberauschung. Vgl. etwa das folgende Zitat aus der Zeitschrift The Knickerbocker von 1835: „God has pro- mised us a renowned existence, if we will but deserve it. He speaks this promise in the sub- liming of Nature. It resounds all along the crags of the Alleghanies. It is uttered in the thunder of Niagara. It is heard in the roar of two oceans, from the great Pacific to the rocky ramparts of the Bay of Fundy. His finger has written it in the broad expanse of our Inland Seas, and traced it out by the mighty Father of Waters! The august TEMPLE in which we dwell was built for lofty purposes, Oh! That we may consecrate it of LIBERTY and CONCORD, and be found fit worshippers within its holy wall!“ Zitat nach Perry Miller: Errand into the Wilder- ness . Cambridge 1956, S. 210. Der Landbesitz macht den Amerikaner zum selbständigen Bürger, die Begegnung mit der Einzigartigkeit der Schöpfung macht ihn zu einem neuen Menschen. Die grandiose Natur des amerikanischen Kontinents schützt ihn vor sich selbst, denn sie verankert Phantasien von Größe in einem „natürlichen“, inhärent morali- schen Fundament: „America can progress indefinitely into an expanding future without acquiring sinful delusions of grandeur simply because it is nestled in Nature, is instructed and guided by mountains, is chastened by cataracts.“ Perry Miller: Errand, S. 211. Gleiches gilt für das Individuum: In der Begegnung mit den göttlichen Quellen der Schöpfung wird es auf sein eigenes spirituelles Potential zurückverwiesen. Die Natur, so der exzeptionalistische Glaube, spielte eine entscheidende Rolle in der Formierung des amerikanischen Wesens. Dieses Potential sollte in der amerikanischen Landschaftsmalerei unmittelbar anschaulich gemacht werden. Ein typisches Beispiel für das Naturverständnis der Zeit ist das Gemälde Kaaterskill Falls (1825) (s. Abb.) des berühmtesten amerikanischen Landschaftsmalers der Zeit, Thomas Cole, das die amerikani- sche Landschaft in Form eines quasi paradiesischen Zustands darstellt. In sei- nem programmatischen „Essay on American Scenery“ sollte Cole später die amerikanische Natur als Garten Eden beschreiben und als Metapher für die Idee eines historischen Neubeginns benutzen. Allerdings sah die Wirklichkeit längst anders aus. Denn Kaaterskill Falls stellt einen Ort dar, der keineswegs in der unberührten Natur lag, sondern erst durch ein nahe gelegenes, überaus populäres Hotel erschlossen worden war, das zu jenem Zeitpunkt bereits eine Touristenatt- raktion darstellte. Wo im Gemälde Coles noch ein Indianer als Symbol eines „unschuldigen“ vorzivilisatorischen Naturzustandes steht, kraxelten in der Reali- tät bereits Touristen herum. Gleiches gilt für die Niagarafälle, die als eines der viel gepriesenen Naturwunder der Neuen Welt zu jenem Zeitpunkt bereits von Touristen überlaufen waren. Wie heute in der Forschung hervorgehoben, waren die Bilder der romanti- schen Landschaftsmalerei keineswegs wirklichkeitsgetreue Porträts der ameri- kanischen Landschaft. Vielmehr konstruieren sie eine imaginäre Landschaft und schreiben damit, um eine prägnante Kurzcharakterisierung Angela Millers zu zitieren, “in die stumme Topographie der Natur ein kulturelles Programm ein.” Angela Miller: The Empire of the Eye. Landscape Representation and American Cultural Politics, 1825-1875. Ithaca 1993, S. 5. Abb.: Kaaterskill Falls von Thomas Cole (1825) Dieses Programm war eng mit den Idealen, aber auch Ängsten einer konservati- ven Elite verbunden, denen die Landschaftsmalerei ein willkommenes Reservoir an Bildern zur Autorisierung ihrer Opposition gegen die Demokratisierungsten- denzen der Ära Jackson bot. In diesem Zusammenhang war das kulturelle Kon- strukt einer ursprünglichen Landschaft ideal geeignet, um einer zunehmend materialistischen amerikanischen Demokratie das utopische Ideal einer noch unberührten und somit „reinen“ Neuen Welt gegenüber zu stellen. Die Utopie ist hier mit anderen Worten nicht mehr Gegenort zur Alten Welt, sondern zur ame- rikanischen Gegenwart. Sie wird zu einem Ort, an dem um die Definition der USA selbst gerungen wird. Dabei liefert die Utopie – in Form grandioser, erhabener Landschaftspanoramen - eine sinnlich besonders eindrückliche Form sozialer Autorisierung, die dadurch zusätzliche Wirk- samkeit erhielt, dass sie oft mit einer Bildlichkeit der spirituellen Offenbarung verbunden war. Vgl. dazu Barbara Novak: „Amerikas Naturwunder wurden von vielen als Gottes Geschenk für ein auserwähltes Volk angesehen." Barbara Novak: Nature and Culture: American Land- scape and Painting 1825-1875 . New York 1980, S. 16. II. War das utopische Versprechen Amerikas anfangs ein literarisches Konstrukt, so schien es in den Dekaden vor dem amerikanischen Bürgerkrieg endlich Reali- tät zu werden. Die Periode gilt als goldenes Zeitalter utopischer Experimente. Allein zwischen 1825 und dem Bürgerkrieg wurden in den USA mehr als 100 utopische Kommunen gegründet, mehr als in jedem anderen Land. Die hier behandelten Beispiele bilden insofern nur eine kleine Auswahl. Siehe beispielsweise John L. Thomas: „In New England two come-outer abolitionists, Adin Ballou und George Benson, founded cooperative societies at Hopedale and Northampton, while a third Garrisonian lieutenant, John Collins, settled his followers on a farm in Skaneateles, New York. Brook Farm, Fruitlands and the North American Phalanx at Redbank acquired notoriety in their own day; but equally significant, both in terms of origins and personnel, were the ex- periments at Raritan Bay under the guidance of Marcus Spring, the Marlboro Association in Ohio, the Prairie Home Community of former Hicksite Quakers, and the Swedenborgian Brocton Community. In these and other experimental communities could be seen the various guises of perfectionism.” John L. Thomas: Romantic Reform in America, 1815-1865. In: Lawrence Levine & Robert Middlekauff (Hrsg.): The National Temper. Readings in Ameri- can Culture and Society. New York 1972, S. 181. Der litera- rische Agrarianismus konstruiert noch eine Utopie individueller Autarkie. Da- gegen geht es in den sozialistisch oder kommunitaristisch inspirierten utopi- schen Kommunen der Ära Jackson um das Ideal sozialer und ökonomischer Gleichheit. Einem Individuum die Möglichkeit zum Landbesitz zu geben und damit zu Unabhängigkeit und Eigenverantwortung wird nicht mehr als ausrei- chend angesehen. Denn dieses Individuum muss mit anderen konkurrieren; da- mit aber wird es in einen Wettbewerb und Zwang zur Optimierung der eigenen Ressourcen gezwungen (einschließlich eines gewitzten Marktverhaltens), die der Herausbildung eines tugendhaften Charakters gerade entgegen wirken. Es muss daher darum gehen, den Zwang zur Konkurrenz zu beseitigen, und das kann nur durch die Überwindung des Individualismus gelingen. Erst wenn das Indivi- duum nicht mehr allein für sich verantwortlich ist, sondern die Vorteile der Ko- operation erkennt, wird es vom Kampf aller gegen alle befreit. Die utopische Bewegung der Zeit war transatlantisch. Die Theorien waren zumeist in Europa entwickelt worden – man denke an Saint-Simon, Robert Owen und Charles Fourier –, aber die USA wurden zu jenem Ort, an dem sich endlich eine Chance zu ihrer Verwirklichung zu ergeben schien. Das Fehlen ei- ner Ständegesellschaft, das Selbstverständnis als Einwanderungsland und staat- liche Freiräume, aber auch billiges Land vor allem in den dünner besiedelten Gebieten des Westens schufen günstige Voraussetzungen für gesellschaftliche Experimente. Bereits vor der Gründung der Vereinigten Staaten hatten britische Kolonien als Fluchtorte für religiöse Sekten fungiert, die in ihrem Heimatland der Verfolgung ausgesetzt waren. Die Mennoniten, anabaptische Brüdergemein- den oder das Ephrata Cloister of the Seventh Day Baptists fanden Zuflucht in Kolonien wie Pennsylvania, zu deren offiziellem Selbstverständnis die Freiheit vor religiöser Verfolgung gehörte. Ende des 18. Jahrhunderts kam die religiöse Sekte der „Shaking Quakers” oder auch Shaker aus England und mit den Rappisten eine weitere pietistische Sekte aus Süddeutschland. Die Shaker etab- lierten mehrere Kommunen, die ökonomisch und sozial von radikal egalitären Ideen geprägt waren, die Rappisten gründeten unter anderem utopische Gemein- den in Pennsylvania (von 1805 bis 1814) und Indiana (von 1815 bis 1824), ge- prägt von ihrem Selbstverständnis als Harmony Society . Im Jahr 1825 kam der britische Industrielle Robert Owen in die USA, der sich in Schottland als Mana- ger einer Baumwollfabrik einen Ruf als Reformer erworben hatte, und gründete, frustriert vom langsamen Gang gesetzlicher Reformbemühungen in England, die erste nicht-religiöse utopische Gemeinschaft. Dieses Interesse an der Utopie muss im Kontext der Zeit gesehen werden. Die Ära Jackson war durch eine Vielzahl von Reformbewegungen von ungewöhnli- cher Intensität und Radikalität gekennzeichnet. In einem Brief an Thomas Carlyle schrieb der führende amerikanische Transzendentalist Ralph Waldo Emerson im Jahr 1840: „We are all a little wild here with numberless projects of social reform. Not a reading man but has a draft of a new community in his waistcoat pocket.“ Zum einen hatte sich die Rhetorik der Unabhängigkeitserklä- rung, die im Wesentlichen von einer (sklavenhaltenden) Elite aus Virginia im Vertrauen auf die Führungsrolle einer „natürlichen Aristokratie“ auch nach der politischen Unabhängigkeit formuliert worden war, zu verselbständigen begon- nen und zu einer kulturellen Ermächtigung des common man geführt. Diese Tendenz wurde durch eine zweite große religiöse Wiedererweckungsbewegung, das Second Great Awakening , verstärkt und erhielt durch einen Wandel in den religiösen Grundannahmen neuen Antrieb. Denn im Gegensatz zum Kalvinis- mus der Puritaner, der von einer grundlegenden Sündhaftigkeit des Menschen ausging, von der er nur durch die Gnade eines unergründlichen Gottes erlöst werden kann, wird in den evangelikalen Gruppen des Second Great Awakening postuliert, dass der Mensch eine sündenfreie Existenz bereits auf Erden errei- chen könne, und es somit von ihm selbst abhänge, ob er von seinen Sünden er- löst werde oder nicht. Mit diesem Glauben an die menschliche Perfektabilität ( perfectionism ) wurde die kalvinistische Doktrin der Prädestination endgültig überwunden. Die Erlösung von der eigenen Sündhaftigkeit lag nicht mehr in der Hand eines strengen Gottes, sondern hing vom Gläubigen selbst ab. Wenn aber ein Zustand der Sündhaftigkeit bereits im Hier und Jetzt überwunden werden konnte, dann war es fahrlässig, das Streben nach religiöser Wiedergeburt und moralischer Vervollkommnung auf morgen zu verschieben: „Perfectio- nism…demanded total commitment and immediate action.” John L Thomas: Romantic Reform, S.168. Das utopische Versprechen „Amerikas“ 119 Der Sklavenhalter Jefferson, laut eigener Aussage eigentlich ein Gegner der Sklaverei, hatte noch auf eine allmähliche Reform der Institution der Sklaverei vertraut. Diesem „Gradualismus“ wurde nunmehr ein ungeduldiger, auf sofortige Emanzipation drängender „Immediatismus“ gegenüber gestellt. Im Streben nach moralischer und spiritueller Vervollkommnung konnte es keine faulen Kompromisse und keine Reform in kleinen Schritten geben. Die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei (Abolitionismus) oder auch die Abstinenzlerbewegung ( temperance movement ) wurden vom neuen Perfektio- nismus erfasst und radikal verändert. Gleiches gilt für das utopische Denken, das einen neuen Stellenwert erhielt. Denn warum sollten Vorstellungen von einer gerechten Gesellschaft, in der ökonomische und soziale Gleichheit herrschte, immer nur auf einen „Nicht-Ort“ in ferner Zukunft verschoben werden, anstatt den Versuch zu unternehmen, sie sofort umzusetzen? Für den Perfektionismus war die Idee utopischer Gemeinschaften in mehrfacher Hinsicht maßgeschnei- dert. Anstelle der mühsamen Reform einzelner Missstände tat sich mit der utopi- schen Gemeinschaft die Möglichkeit auf, eine vorbildliche soziale Ordnung ra- dikal von neuem und auf einen Schlag zu errichten. Damit konnten zugleich gewalttätige Konflikte vermieden werden, da die Teilnahme am utopischen Ex- periment ja freiwillig war. Niemand wurde zu seinem Glück gezwungen. Eine umfassendere gesamtgesellschaftliche Veränderung würde allein durch den Modellcharakter der utopischen Gemeinschaft angestoßen werden. In diesem Sinne vereinte die neue Utopiebewegung das Beste zweier Welten: Sie stellte eine „Revolution" in Aussicht, aber in gewaltfreier Form – und damit auch ohne schmerzhafte Opfer. Das scheinbar Unvereinbare wurde miteinander vereint: Da die utopische Gemeinschaft klein genug war, konnte man – wie der Gläubige, der eine religiöse Wiedergeburt erfährt – einen radikalen Neuanfang sofort in Angriff nehmen; da die utopische Mikroordnung Modellcharakter haben sollte, ging man zugleich über eine bloß individuelle Regeneration hinaus und konnte das Vorbild einer progressiven sozialen Ordnung entwickeln. Man kann in diesem Zusammenhang von einer Bewegung sprechen, weil die utopischen Bewegungen, ob religiös oder säkular, voneinander wussten und oft aufeinander Bezug nahmen. Owen beispielsweise war insbesondere von der kommunalen Lebensform der Shaker beeindruckt, die ihn in seiner Ansicht be- kräftigte, dass utopische Gemeinschaften überlebensfähig und erfolgreich sein konnten. Die wachsende Vertrautheit mit den utopischen Gemeinschaften der Shaker, der Rappisten und der Brüdergemeinden bestärkte ihn schließlich in der Absicht, den Sprung über den Atlantik zu wagen. Als die Rappisten zurück nach Pennsylvania gingen, ergriff er die Gelegenheit, erwarb die von ihnen errichtete Siedlung Harmony in Indiana und benannte sie als Zeichen des Neubeginns in New Harmony Community of Equality um. Dieses Laboratorium einer „New Moral World” war der Ort, an dem Owen sein neues Gesellschaftssystem („New System of Society“) endlich realisieren und zum Flagschiff der kommunitaristi- schen Bewegung in den USA ausbauen wollte. Von den insgesamt 19 amerika- nischen und 9 britischen Gründungen des Owenismus wurde New Harmony (ge- gründet 1825) die prominenteste. Ganz im Sinne des Immediatismus versprach Owen „eine sofortige, ja fast augenblickliche Revolution im Denken und Han- deln”. Das Vorhaben hatte einen idealen Start. Owen war ein erfolgreicher Ge- schäftsmann und angesehener Reformer. Er konnte nicht einfach als Phantast abgestempelt werden und fand daher im Reformklima der Ära Jackson eine inte- ressierte Öffentlichkeit vor. Zweimal durfte er seine Reformvorstellungen im amerikanischen Abgeordnetenhaus in Anwesenheit des noch amtierenden und des neu gewählten Präsidenten präsentieren. Kein anderer Reformer der Zeit hat wohl je eine derart prominente und einflussreiche Zuhörerschaft gefunden. Owens Analyse war schonungslos: Für Owen wurde der Mensch entscheidend von seinen Umständen geprägt: Man kann den Menschen daher nicht für seine „Sünden“ schuldig sprechen, sondern muss die Umstände ändern. Owens Denken ist durchgehend vom Kon- trast zwischen individuellem und sozialem System geprägt. Das kooperative kommunitaristische System würde aufgrund seiner Effizienz einen Überschuss für alle schaffen und damit den einzelnen von der Abhängigkeit aus dem System individueller Konkurrenz befreien. Eine Abschaffung des Privateigentums war daher unnötig. Nach Meinung Owens waren die USA zu diesem Systemwandel längst bereit: In seinen Reden hatte Owen alle Utopiewilligen eingeladen, nach New Har- mony zu kommen, und sah sich bei seiner Ankunft nahezu 1000 Menschen ge- genüber, auf die die Neugründung nicht vorbereitet war. Das war nur der Beginn einer Reihe von planerischen Unzulänglichkeiten. Das bloße Vertrauen in die Transformationskraft des kooperativen Arrangements erwies sich als unzurei- chend; der Systemwandel musste organisiert werden. Ausgerechnet dafür aber hatte der erfolgreiche Manager Owen keinen Plan entwickelt. Bald entstanden Konflikte zwischen Arbeitswilligen und weniger Willigen, aber auch zwischen verschiedenen Schichten, während Owen selbst oft unterwegs war, um seine Ideen landesweit zu propagieren. New Harmony entwickelte ein ausgezeichnetes Bildungsprogramm, aber es gelang der utopischen Kommune nicht, sich wirt- schaftlich selbst zu tragen. So blieb sie letztlich ein philanthropisches Projekt Owens, der dabei einen großen Teil seines Privatvermögens einbüßte und bald die Notbremse ziehen musste. Nach nur 3 Jahren kam es zu einem wenig rühm- lichen Ende. Das Verdienst von New Harmony liegt gewiss nicht im Vorbildcha- rakter, sondern bestenfalls in einer Pionierfunktion. Eine tiefe wirtschaftliche Krise führte dennoch in den 1840er Jahren dazu, dass die utopische Bewegung neues und verstärktes Interesse fand. Einen we- sentlichen Anteil daran hatten die Schriften von Charles Fourier, in denen eine utopische Gemeinschaft auf streng wissenschaftlicher Grundlage entworfen worden war – was wiederum deren praktische Realisierbarkeit zu garantieren schien. Vgl. Albert Brisbane, der Fouriers Werk in den USA unermüdlich propagierte: „We have the same repugnant, degrading and ill-requited system of Industry as Europe; the same system of Free Competition, or false rivalry and envious strife and anarchy in the field of commerce and industry; the same menial and slavish system of Hired Labor or Labor for Wages; the same wasteful, intricate and grasping system of Trade; the same exclusive ownership of ma- chinery by capital, or machinery monopolized by a few, which competes with the laborer and drives him from the field of Industry; the same complicated system of Law; and at the root of all social falseness, the same system of isolated or separate Households.” („Exposition of Das utopische Versprechen „Amerikas“ 121 Views and Principles Adopted by the Peace Convention” The Phalanx 1 (Oct. 5, 1843); zit. nach David Brion Davis (Hrsg.): Antebellum American Culture . Lexington 1979, S. 451-2. Fourier erhob den Anspruch, die ideale Gesellschaftsform auf der Grundlage streng wissenschaftlicher Kalkulation bestimmen zu können. Auf der Basis seiner Berechnungen entwarf er soziale Gemeinschaften von jeweils 1620 Personen, die er „Phalanx“ nannte. Diese Gemeinschaftsform würde es erlauben, allen Bedürfnissen nach abwechslungsreicher Arbeit, Gemeinschaft, Kultur, Un- terhaltung und Sexualität gerecht zu werden. Durch die Zugehörigkeit zu ver- schiedenen Gruppen mit verschiedenen Aufgaben würde die Arbeit von ihrer Monotonie befreit werden; ein sorgfältig ausgeklügelter Tagesplan sollte dar- über hinaus dafür sorgen, dass Zwang vermieden wurde (einschließlich des Zwangs ausschließlich ehelicher sexueller Beziehungen) und alle Bedürfnisse zu ihrem Recht kommen könnten. Ralph Waldo Emerson, der sich Fouriers Plan von dem führenden amerikanischen Fourieristen Albert Brisbane erklären ließ, musste konzedieren: “The merit of the plan was that it was a system; that it had not the partiality and hint-and-fragment character of most popular schemes, but was coherent and comprehensive of facts to a wonderful degree.” Albert Brisbane und R.W. Emerson: Fourierism and the Socialists. In: The Dial III (1842). Reprint in: George Hochfield (Hrsg.): Selected Writings of American Transcendental- ists. New York 1966, S. 340. Mit Hilfe des einflussreichen Verlegers der New York Tribune , Horace Gree- ley, gelang es Brisbane, Fouriers Denken in den USA bekannt zu machen. Das konnte nur durch eine Amerikanisierung Fouriers gelingen. Brisbane argumen- tierte, dass die amerikanische Revolution als weltgeschichtlich bedeutsame Leis- tung unvollständig bleiben würde, wenn sie nicht durch eine soziale Revolution ergänzt werden würde. Angesichts des starken evangelikalen Einflusses auf die amerikanische Reformbewegung war es jedoch undenkbar, weiterhin an Fouriers Programm einer sexuellen Befreiung festzuhalten. Es wurde ebenso fallen gelassen wie Fouriers Insistenz auf der notwendigen Mitgliederzahl einer Phalanx. Keine amerikanische Kommune der Zeit hätte dieses Kriterium erfül- len können. Um zusätzliche Distanz zu Fourier zu schaffen, dessen „unmorali- sches“ System in der amerikanischen Öffentlichkeit immer wieder attackiert wurde, wurde „Fourierism“ als „Associationism“ redefiniert. Diese Adjustierun- gen hatten unmittelbaren Erfolg. Das Jahr 1842 war der Beginn einer erfolgrei- chen Dekade in der nahezu 30 utopische Kommunen nach Fouriers Vorstellun- gen errichtet wurden. Brisbanes größter Erfolg war es, George Ripley, den Gründer und Leiter der transzendentalistischen Kommune Brook Farm , der berühmtesten utopischen Kommune der USA im 19. Jahrhundert, dazu zu bewegen, sich der Fourierschen Bewegung anzuschließen. Der unitarische Pastor Ripley und seine Frau Sophia hatten Brook Farm 1841 in der Nähe von Boston gegründet, um die Trennung von manueller und intellektueller Arbeit zu überwinden. Der offizielle Name The Brook Farm Institute for Agriculture and Education deutete bereits darauf hin, dass Landwirtschaft und Bildungsangebote die hauptsächlichen Einnahme- quellen sein sollten. In einem Brief an Emerson hatte Ripley seine Ziele darge- legt: “Our objects, as you know, are to insure a more natural union between in- tellectual and manual labor than now exists; to combine the thinker and the worker, as far as possible, in the same individual.” Joel Myerson (Hrsg.): Transcendentalism. A Reader . New York 2000, S. 308. In ihrer Ankündigung “Plan of the West Roxbury Community”, stellte Elizabeth Peabody das Prinzip der Kooperation heraus und verband es mit dem Versprechen persönlicher Entwick- lung: “These principles are cooperation in social matters instead of competition or balance of interests, and individual self-unfolding, in the faith that the whole soul of humanity is in each man and woman.” Elizabeth Peabody: Plan of the West Roxbury Community. In: The Dial II (1842). Re- print in: George Hochfield (Hrsg.): Selected Writings of American Transcendentalists. New York 1966, S. 388. Die Überwindung der Trennung von manueller und intellektueller Arbeit und der Gedanke individueller Selbst- entfaltung waren Ziele, die auch Emerson am Herzen lagen, und dennoch zöger- te er lange, ob er sich Brook Farm anschließen solle. Am Ende entschied er sich dagegen, obwohl er seine große Übereinstimmung mit den Zielen betonte. Füh- rende Transzendentalisten wie Emerson, Orestes Brownson, Theodore Parker, William Henry Channing, und Margaret Fuller lieferten moralische Unterstüt- zung, doch konnte sich letztlich keiner von ihnen dazu entschließen, Brook Farm beizutreten. Ein prominentes Gründungsmitglied war dagegen der Schriftsteller Nathaniel Hawthor- ne, der allerdings vor allem von der Erwartung geleitet war, er könne nach seiner Heirat hier ein Heim für sich und seine Frau finden. Hawthornes Erfahrungen mit Brook Farm sind in- struktiv. Die ersten Briefe enthalten amüsante Beispiele eines selbstironisch pastoralen Rol- lenspiels: „After Breakfast, Mr. Ripley put a four-pronged instrument into my hands, which he gave me to understand was called a pitch-fork; and…we all three commenced a gallant attack upon a heap of manure.” Nathaniel Hawthorne: The Blithedale Romance. In: Seymour Gross & Rosalie Murphy (Hrsg.): Norton Critical Edition. New York 1978, S. 233. Am Ende des Sommers hatte Hawthorne allerdings das Gefühl, „fünf goldene Monate” vor allem mit dem Füttern von Kühen und Pferden zugebracht zu haben, während seine schriftstellerische Tätigkeit nicht vorangekommen war. Er verließ Brook Farm daher nach wenigen Monaten. Zehn Jahre später nutzte er Notizen aus jener Zeit für den Roman The Blithedale Romance (1852) , in dem sich das pastorale Idyll als bloße Fassade für geheime Machtspiele entpuppt. Man hat das Buch lange Zeit als Hawthornes Abrechnung mit Brook Farm gelesen, aber da seine Erinnerungen daran auch in späteren Jahren im wesentlichen positiv blieben, lässt sich schwerlich von einem Schlüsselroman sprechen. Vielmehr benutzte Hawthorne den Stoff in der für ihn typischen Weise, um das Versprechen eines neuen Edens in eine psychologische Studie von Manipulation, Schuld und Selbstzerstörung zu verwandeln. Die Zusammensetzung der Mitgliedschaft von Brook Farm stellte von Anfang an ein Problem dar. Das Ziel war es, eine Balance zwischen allen sozialen Gruppen herzustellen, “vom einfachen Arbeiter bis zum Künstler”. Elizabeth Palmer Peabody: Plan of the West Roxbury Community. In: Joel Myerson (Hrsg.): The Brook Farm Book. A Collection of First-Hand Accounts of the Community. New York 1987, S. 214. Aber de facto dominierten Intellektuelle und die gebildete Mittelschicht, die sich Anstö- ße für die eigene Persönlichkeitsentwicklung erhofften. Das verlieh der Gemein- schaft eine durchaus positive soziale Homogeneität, trug jedoch andererseits nicht dazu bei, das Ziel wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu erreichen, obwohl sich die gebildeten Mitglieder ganz im Sinne der Programmatik Brook Farms nicht zu schade waren, zu melken, die Ställe auszumisten und den Misthaufen abzutragen oder, im Fall der weiblichen Mitglieder, zu kochen, waschen, bügeln und das Geschirr abzuräumen. Clara Endicott Sears: Bronson Alcott’s Fruitlands. Philadelphia 1975, S. 37. Obwohl Brook Farm viele allein stehende Frau- en anzog, die von der zwanglosen intellektuellen Atmosphäre angezogen waren, so gehörte die Emanzipation von traditionellen Geschlechterrollen – zumindest in der Praxis - nicht zum utopischen Programm. Zeitgenössische Berichte vermitteln den Eindruck, dass Brook Farm anfangs durchaus erfolgreich war. Die Kommune war weder religiös motiviert, noch folgte sie einem allumfassenden Generalplan im Stile Fouriers. Das trug dazu bei, dass das Klima von entspannter Informalität geprägt und nicht missiona- risch war. Der freizügige, offene Umgang der etwa 150 Kommunemitglieder untereinander, die idyllische Landschaft, das ausgezeichnete Bildungspro- gramm, die lebhaften Diskussionen und abendliche Geselligkeiten wie die gern gesehenen Maskeraden wurden in Berichten immer wieder hervorgehoben. Weniger erfolgreich war die finanzielle Seite. Da weniger Anteile erworben wurden als erhofft und eingeplant, war der Kapitalstock von Anfang an zu ge- ring. Für Erweiterungen und andere Investitionen mussten immer neue Kredite aufgenommen werden. Die Landwirtschaft erbrachte keine Überschüsse; im Ge- genteil, sogar Milch und Brot mussten von außen dazu gekauft werden. Die ein- zig verlässliche Einnahmequelle war die angesehene Schule. Trotz mehrfacher Sparrunden verschlechterte sich die finanzielle Situation zunehmend. Als sich die Unzufriedenheit verstärkte, musste Ripley handeln, um seinem Utopia eine Zukunft zu sichern. 1844 beschlossen daher auch die Brook Farmer, sich den Fourieristen anzu- schließen und Brook Farm nach Fouriers Prinzipien zu reorganisieren. Mit dem neuen Namen Brook Farm Association for Industry and Education wurde eine Ausweitung auf die Warenproduktion signalisiert, die die Kommune auch für Arbeiter interessant machte. Gemäß Fouriers Überlegungen zur Reorganisation der Arbeit wurde diese systematisiert und in diverse Tätigkeitsfelder unterteilt. Jeder einzelne gehörte dabei mehreren spezialisierten Gruppen an und die ge- leistete Arbeit musste nunmehr in einem „labor log“ festgehalten werden. Für eine kurze Zeit wurde Brook Farm zum Zentrum und Schaustück des Fourieris- mus in den USA. Doch trotz vorübergehender Konsolidierung blieb die wirt- schaftliche Lage prekär und als eine nahezu fertig gestellte Phalanstery - Fou- riers Name für ein großes Gemeinschaftsgebäude, in dem alle Funktionen von der Wohnung und dem Essen bis zu Bildungs- and Kulturangeboten vereint sind – nieder brannte, konnte dieser neuerliche Rückschlag von der hoch verschulde- ten Gemeinschaft nicht mehr aufgefangen werden. Auch mit der neuen Ausrich- tung war es nicht gelungen, profitable Produktionsbereiche zu entwickeln. Brook Farm Phalanx löste sich im folgenden Jahr auf. Für die Fourieristische Bewegung war das ein schwerer Schlag: Nach 1855 blieb nur noch eine Phalanx bestehen. Auch die zweite transzendentalistische Kommune, Fruitlands , wurde keine Erfolgsgeschichte. Eine kleine Gruppe eigenwilliger Reformer, denen Brook Farm nicht hinreichend idealistisch war, schloss sich im Jahr 1843 unter Füh- rung des transzendentalistischen Philosophen und Erziehers Bronson Alcott und des englischen Reformers (und Geldgebers) Charles Lane zusammen, um auf einer Farm in Massachusetts das Modell eines selbstgenügsamen, asketischen Lebens zu etablieren. Alcott und Lane sprachen eine öffentliche Einladung an alle Interessenten aus, ihrer „Familie” von Gleichgesinnten beizutreten, doch nur wenige folgten der Einladung. Einschließlich der Familie von Alcott, Abba Al- cott und ihren 4 Töchtern, die durch Louisa May Alcotts Roman Little Women späteren Ruhm ernteten, umfasste die Fruitlands Association nie mehr als 20 Mitglieder und bestand nur 6 Monate. Ein Grund dafür mag im asketischen Ideal der Gruppe gesehen werden. Fruit- lands folgte jener Richtung des Transzendentalismus, für die nicht die Gesell- schaftsreform vorrangig ist, sondern die Freisetzung des Entwicklungspotentials des Individuums, denn diese ist die Voraussetzung für die Möglichkeit gesell- schaftlichen Wandels: “The evils of life are not so much social, or political, as personal; and a personal reform only can eradicate them. (…) Hence our perse- verance in efforts to attain simplicity in diet, plain garments, pure bathing...“ Charles and A. Bronson Alcott Lane: The Consociate Family Life. (8 September 1843). In: Joel Myerson (Hrsg.): Transcendentalism. A Reader. New York 2000, S. 435-442, S. 437. 27 Ebenda, S. 440. Für die Fruitlander verunreinigten tierische Substanzen den Körper und durch ihn die Seele. Das Diätprogramm musste daher kompromisslos sein: “No animal substances, neither flesh, butter, cheese, eggs, nor milk pollute our tables, nor corrupt our bodies. Neither tea, coffee, molasses, nor rice, tempts us beyond the bounds of indigenous productions. Our sole beverage is pure fountain water.” Vgl. Peter Birle: Brasilien und die Amerikas. In: Peter Birle, Marianne Braig, Ottmar Ette, Dieter Ingenschay (Hrsg.): Hemisphärische Konstruktionen der Amerikas. Frankfurt a.M. 2006, S. 143. In ihrem satirischen Rückblick “Transcendental Wild Oats” (1873) gibt Louisa May Alcott eine eindrückliche Vorstellung des täglichen Menus: Für das Ziel der Selbstreform und Selbstentwicklung propagierte Fruitlands einen festen Tagesablauf: „Our other domestic habits are in harmony with those of diet. We rise with early dawn, begin the day with cold bathing, succeeded by a music lesson, and then a chaste repast. Each one finds occupation until the me- ridian meal, when usually some interesting and deep-searching conversation gives rest to the body and development to the mind.” Bronson Alcott Lane: Family Life, S. 437. Dieses Programm zog eine Reihe von exzentrisch-weltfremden Kommunarden an, die Louisa May Alcott in ihrem Rückblick Revue passieren lässt. Ihr Bericht spießt die Diskre- panz zwischen rhetorischer Selbstberauschung am utopischen Ideal und einer teilweise rührend hilflosen Praxis auf. Selbstbewußt hatte Lane zu Beginn des Experiments geschrieben: „This, I think you will admit, looks like an attempt at something which will entitle transcendentalism to some respect for its practical- ity…” Endicott Sears: Fruitlands, S. 15. Das Gegenteil war jedoch der Fall. Die Feldarbeit begann zu spät, war unkoordiniert und teilweise dilettantisch: „Such farming probably was never seen before since Adam delved”, urteilte Louisa May. May Alcott: Wild Oats, S. 36. Als man feststellen musste, dass die Vorräte für den Winter nicht ausreichen würden, blieben schließlich nur ein zutiefst enttäuschter Alcott und seine Familie zurück. Doch auch sie mussten im Januar vor der drohenden Hungersnot weichen. Emersons Kommentar nach einem ersten Besuch sollte sich als weitsichtig erweisen: “They look well in July; we will see them in December.” III. Fruitlands war die exzentrischste der utopischen Gemeinschaften der Zeit und am wenigsten geeignet, als Modell für die Zukunft zu dienen. Ihr Scheitern war jedoch keineswegs ungewöhnlich. Insgesamt kann die Bilanz der bekanntesten nicht-religiösen utopischen Kommunen der Zeit nicht gerade als eindrucksvoll bezeichnet werden: Owens New Harmony bestand 3 Jahre (1825-1828), Nasho- ba , ein Folgeprojekt konzipiert von der schottischen Reformerin und Feministin Frances Wright als interrassische Kolonie mit voller sozialer und sexueller Gleichberechtigung, brachte es nur auf 2 Jahre. Die anfangs zahlreichen Fourie- ristischen Kommunen der 1840er Jahre waren nach einem Jahrzehnt allesamt aufgelöst; Brook Farm bestand von April 1841 bis September 1847. Eine prominente Ausnahme bilden hier die 6 ikarischen Kommunen, die insgesamt 48 Jahre (1847-1895) existierten. Die Ikarier wurden jedoch durch ihre ethnische und kulturelle Identität zusammengehalten; so war beispielsweise die französische Sprache Vorbedingung der Aufnahme. Vgl. dazu Guarneri: „Pietistic communities like the Rappites and Shakers tended to last much longer than the secular utopian socialist groups. Their members were held together by religious ideals, isolated themselves from the rest of society, and were willing to defer to charismatic leaders or other authority figures. By contrast, utopian-socialist move- ments were joined by contentious, independent-minded local artisans and entrepreneurs. In the few cases these communities managed to persist, such as the French Icarians, it was due more to their shared foreign language and ethnicity than to their social doctrines. Most uto- pian-socialist experiments were torn by doctrinal disputes and struggled to find a secular faith that could be as compelling as religious bonding.” Charles Guarneri: The Utopian Alternative. Fourierism in Nineteenth-Century America . Ithaca 1991, S. 429 Im Ver- gleich dazu erwiesen sich religiöse Kommunen wie die Rappisten, die Shaker, Amana oder Oneida als wesentlich überlebensfähiger und langlebiger: Ephrata bestand insgesamt 172 Jahre (1733-1905), die Rappistischen Gemeinden 102 Jahre (1803-1905), Amana 89 Jahre (1843-1932) und Oneida über 30 Jahre. In den religiösen utopischen Gemeinschaften waren Selbstdisziplinierung und Unterwerfung unter die Gemeinschaftsregeln selbstverständlich, denn sie waren Teil der eigenen religiösen Wiedergeburt. Die Selbstentfremdung, die überwun- den werden sollte, war die von Gott und dabei konnte kein laissez-faire akzep- tiert werden. Dagegen gab es in den nicht-religiösen utopischen Gemeinschaften keine andere Basis der Konsensbildung als den Appell an die Vernunftfähigkeit der Beteiligten. Die Kommunen wollten in der Wiederherstellung eines ganz- heitlichen Lebenszusammenhangs ja gerade die Zwanghaftigkeit der modernen Arbeitsteilung aufbrechen und die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens eröffnen. Die Erwartung war dabei offensichtlich die, dass sich den Beteiligten die Überlegenheit kooperativer sozialer Arrangements von selbst erschließen würde. Aber Kooperation erforderte umfassende Koordination, Zeitpläne, Kommissio- nen, Kommissionssitzungen, und mehr oder minder regulierte Tagesabläufe. Es kann nicht überraschen, dass der Transzendentalist Emerson auf Fouriers bis ins kleinste ausgearbeitete Tagesabläufe mit einer Beschwörung der Unberechen- barkeit des Lebens antwortete: „Our feeling was that Fourier had skipped no fact but one, namely life. He treats man as a plastic thing …but skips the faculty of life which spawns and scorns system and system-makers...” Nathaniel Hawthorne: Blithedale Romance, S. 262. „R. W EMERSON TO GEORGE RIPLEY, 15 DECEMBER 1840 Die nicht- religiösen utopischen Kommunen gingen davon aus, dass die kommerzielle Konkurrenzgesellschaft der Selbstentfaltung und Selbstbestimmung des Indivi- duums im Wege stehen würde und daher Formen der Kooperation gefunden werden müssten, die diese Hindernisse aus dem Weg räumten. Emerson setzte dem entgegen, dass das nur um den Preis neuer Hindernisse gelingen könne. In der Tat führte die Argumentation der utopischen Gemeinschaften in letzter Kon- sequenz zu einem Paradoxon: Sie beschwor die Notwendigkeit sozialer Koope- ration mit der Begründung, dass dem Individuum auf diesem Wege gänzlich neue Möglichkeiten für die Entwicklung des eigenen Potentials eröffnet werden würden. Das Ziel waren ökonomische und soziale Gleichheit, aber nicht als Selbstzweck, sondern weil diese als Vorbedingung für eine von Zwängen freie Selbstentfaltung angesehen wurden. Wenn aber letztlich Selbstentfaltung das Ziel war, warum dann dieses Ziel nicht direkt verfolgen, anstatt den kooperati- ven Umweg zu nehmen? Eine andere Konsequenz erwies sich aber als vielleicht noch folgenschwerer. Denn was Reformer wie Owen offensichtlich nicht realisierten, war, dass die Art von Selbstbestimmung, die sie anstrebten, eine inhärent pluralistische und zent- rifugale Dimension besaß und damit eben jene Haltung stärkte, die ja gerade überwunden werden sollte, nämlich die des selbstbezogenen Individualismus. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Begründung, die Emerson dafür gab, warum er sich Brook Farm schließlich doch nicht anschließen wollte: Mit anderen Worten: Ich, Emerson, stimme sehr wohl mit den utopischen Zie- len Brook Farms überein, aber am besten kann ich sie letztlich bei mir zu Hause realisieren. Emersons berühmtester Schüler, Henry David Thoreau, setzte diese Überle- gung konsequent in die Tat um und schuf mit seiner „community of one“, Walden, den wohl einflussreichsten Entwurf eines alternativen Lebens im 19. Jahrhundert. Wir begreifen rückblickend, dass sich in den utopischen Bewegun- gen des 19. Jahrhunderts zwei verschiedene Utopien vermischten. Auf der einen Seite steht das Versprechen eines Neuanfangs in einer Gemeinschaft, in der der Wettbewerb und der ständige Kampf um Arbeit und Ansehen überwunden sind, in der die Vorbedingung für den Neuanfang somit die Überwindung des Indivi- dualismus ist. Auf der anderen Seite geht es um die Utopie eines selbstbestimm- teren Lebens, durch das die individuelle Selbstentfaltung zum eigentlichen uto- pischen Versprechen wird. In seinem Buch Democracy in America , in dem der Begriff des Individualismus zum ersten Mal als systematische Kategorie der Analyse benutzt wurde, hatte Alexis de Tocqueville den Individualismus als eine neue Lebensform der Demokratie vom Egoismus absetzt und ihn als quasi pastoralen Zustand beschrieben: „Die Selbstsucht ist eine leidenschaftliche und übersteigerte Liebe zu sich selber, die den Menschen dazu treibt alles nur aus sich zu beziehen und sich vor allem den Vorzug zu geben. Der Individualismus ist ein überlegenes und friedfertiges Gefühl, das jeden Bürger drängt, sich von der Masse der Mitmenschen fernzuhalten und sich mit seiner Familie und seinen Freunden abzusondern; nachdem er sich eine kleine Gesellschaft für seinen Be- darf geschaffen hat, überlässt er die große Gesellschaft gern sich selbst“. Alexis de Tocqueville: Über den Individualismus in den demokratischen Ländern. In: Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika. 2. Zürich 1987, S. 147. Wie in so vielen anderen Dingen erwies sich Tocqueville auch in diesem Fall als weitsichtig: Das utopische Versprechen Amerikas besteht historisch gesehen letztlich nicht darin, dass Amerika europäischen Utopien endlich eine Realisie- rungschance bot, sondern dass es diesen Utopien eine eigene hinzufügte, die völlig anderer Art war, nämlich die der Möglichkeit individueller Selbstbestim- mung. Das war der eigentlich „utopische“ Neuanfang, der in „Amerika“ möglich wurde. Und was heißt das, um noch einmal zur ideengeschichtlichen Ebene zurück- zukommen, für unsere Sicht speziell des amerikanischen Exzeptionalismus? Methodologisch gesehen ist der Exzeptionalismus ein System, in dem man sich der Analyse eines Landes über die Beschreibung seiner Ideale bzw. idealen Selbstdefinition annähert. Diese ist, wie gesehen, ein Konstrukt, das in Form beispielsweise von ästhetischen Objekten starke Wirkung entfalten kann, sich aber bei näherer Betrachtung auch als rein imaginär und substanzlos erweisen kann. Der Revisionismus, der die Amerikastudien seit einiger Zeit dominiert, hat die Gründungsmythen der USA nach und nach als interessengeleitete Konstruk- te entlarvt und damit neue Perspektiven für die Analyse der amerikanischen Ge- sellschaft eröffnet. Aber er hat die Praxis, die USA über ein Ideal zu definieren, nicht aufgegeben, auch wenn an die Stelle der „citty upon a hill“ nunmehr Stichworte wie das der „diversity“, der multikulturellen Vielfalt, getreten sind. Einzelne Utopien werden als ideologisch zurückgewiesen, aber die grundsätzli- che Assoziation von Utopie und Amerika bleibt bestehen. Oder, anders ausge- drückt: Das Problem besteht für den Revisionismus nicht in der Verbindung von „Amerika“ und Utopie, sondern darin, dass man die falsche Utopie gewählt hat, der nunmehr eine politisch progressive gegenüber gestellt wird. Darin scheint mir die eigentliche theoretische Herausforderung des „utopischen Versprechens Amerikas“ zu liegen. Es hat neulich in einem Briefwechsel zwischen amerikani- schen Politologen in der New York Herald Tribune einen aktuellen Ausdruck gefunden. Ann-Marie Slaughter hatte in einem Artikel „Reviving American Ide- als“ argumentiert, dass angesichts des Irak-Disasters eine Rückbesinnung auf die wahren amerikanischen Werte notwendig sei. Ann Marie Slaughter: Reviving American Ideals. In: The International Herald Tribune (May 18, 2007). Von den Antworten finde ich die von David Rieff besonders bedenkenswert: „What if it’s not true that there is an admirable, essential core of American values from which we have strayed and to which we wish we could return? What if the United States is a country like all others neither superior nor inferior in its values and whose most impor- tant leaders have been a morally mixed bag (Wilson, Jefferson)”. David Rieff: American Exceptionalism: Is there a Moral High Ground? (excerpts from letters) In: The International Herald Tribune (May 23, 2007). „Während Humboldt die Brille untersuchte, faltete Jefferson die Hände auf der Brust und be- gann Fragen zu stellen. Wenn Humboldt abschweifte, schüttelte er mild den Kopf, unterbrach und fragte noch einmal. Auf dem Tisch lag wie zufällig eine Karte von Mittelamerika. Er wollte alles über Neuspanien, dessen Transportwege und Bergwerke wissen. Es interessierte ihn, wie die Administration arbeitete, wie im Land und über den Ozean hinweg Befehle übermittelt wurden, wie die Stimmung unter den Adeligen war, wie groß die Armee, wie aus- gerüstet, wie gut ausgebildet. Wenn man eine Großmacht zum Nachbarn habe, könne man nie genug Information besitzen. [...] Jefferson bedankte sich seufzend. Was wisse man hier schon? Man sei eine kleine Protestantengemeinde am Rand der Welt. Unendlich weit von Die Frage sei daher abschließend in den Raum gestellt: Können wir, wollen wir Amerika ohne Utopie denken? URSULA PRUTSCH Dieses Zitat aus Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt schil- dert die Begegnung zwischen dem herausragenden Gelehrten Alexander von Humboldt, der 1803 aus dem heutigen Mexiko nach Washington gereist war, und Thomas Jefferson, dem dritten Präsidenten der Vereinigten Staaten, eines damals noch recht schwachen Föderalgebildes. 1846, fast ein halbes Jahrhundert später, stellte sich das Machtverhältnis schon anders dar; die USA führten nach der Eingliederung von Texas in ihren Staatenverband zwei Jahre lang Krieg gegen Mexiko. Mexiko verlor und musste ein Drittel seines Territoriums an den Nachbarn im Norden abtreten. Der massi- ve Landgewinn für die USA leitete eine – politisch ideologisch als manifest destiny legitimierte – kontinuierliche Expansion in Richtung Süden ein, die nach Meinung lateinamerikanischer Kritiker schon in der Monroe-Doktrin von 1823 angelegt gewesen sei. Die USA waren zu jener Zeit vielmehr am Schutz ihrer künftigen Einflusssphären interessiert und nicht an der Verteidigung der gesam- ten Hemisphäre. Vgl. Leopoldo Zea: The Role of The Americas in History. Savage, MD 1992, S. 156. James Dunkerley zitiert einen anonymen US-amerikanischen Text aus dem Jahr 1821, in dem es heißt: „We have here no concern with South America; we have no sympathy [...]. James Dunkerley: The United States and Latin America in the Long Run (1800-1945). In: Victor Bulmer-Thomas, James Dunkerley (Hrsg.): The United States and Latin America: The New Agenda. London 1999, S. 3-31, hier: S. 8. In seiner erst ab der Jahrhundertmitte als „Doktrin“ bezeichne- ten Dezemberansprache vor dem Kongress hatte Monroe auch von der Freiheit und Unabhängigkeit gesprochen, welche die „amerikanischen Kontinente“ er- worben hätten. Diese sollten nicht als Subjekte zukünftiger Kolonisation einer europäischen Macht betrachtet werden. Monroe hatte die USA fast durchwegs als United States bezeichnet; sein Amerika-Begriff subsumierte alle Staaten süd- lich des Rio Grande; gelegentlich wandte er ihn auch auf die USA an, wenn er von „the American Continents“ und vom amerikanischen System sprach, dass er vom europäischen getrennt wissen wollte. Vgl. History of Congress, December 1829, President’s Annual Message, S. 12-24. In: A Century of Lawmaking for a New Nation: U.S. Congressional Documents and Debates, 1774- 1875. http://memory.loc.gov/ammem/amlaw/lawhome.html [Zugriff am 10.9.2007]. Latein- amerika wurde von Monroe in seiner „Doktrin“ auch als „those Powers“, „those new Governments“ bezeichnet. Der Ausdruck „the American continents“ findet sich auf S. 14. 1826 hatte Simón Bolívar die erste internationale Konferenz Amerikanischer Republiken in Panama einberufen. Sein Amerika-Konzept – er sprach von América del Sur Vgl. Vicente Lecuna (Hrsg.): Simón Bolívar: Obras Selectas de Bolívar, Bd I. New York 1951, S. 179. - integrierte die jungen hispanoamerikanischen Republiken, d.h. die ehemaligen Kolonien der Spanischen Krone, jedoch nicht das unabhän- gig gewordene, doch monarchistische und eng mit Europa verbundene Brasilien, ebenso wenig Haiti und auch nicht die USA, die erst nachträglich zur Teilnahme aufgefordert worden waren. Brasilien ließ eine verspätete Einladung unbeant- wortet. Bolívar sprach vom US-amerikanischen Volk als „pueblo norteamericano“, die USA be- zeichnete er auch als „República de los Estados Unidos“. 6 Das bolivarianische Integrationskonzept fand im Ersten Amerikani- schen Kongress – von Dezember 1847 bis März 1848 – in Lima seine Fortset- zung, wo die Verteidigung demokratischer Rechte und Staatsgrenzen festgeschrieben und die Abschaffung der Sklaverei postuliert wurde. Nur fünf Nationen der amerikanischen Konföderation , wie sie bezeichnet wurde, nahmen daran teil. Die Bezeichnung Lateinamerika kam in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf, allerdings nicht in der Westlichen Hemisphäre, sondern im Frankreich Napole- ons III., der mit diesem politisch-kulturellen Konzept des Panlatinismus Ge- meinsamkeiten romanischsprachiger, katholischer Monarchien (Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, Rumänien) und ihrer (ehemaligen) Kolonialgebiete demonstrierte, die dem anglo-amerikanischen, protestantisch dominierten Raum gegenübergestellt wurden. Gleichzeitig wollte Napoleon III. den französischen Imperialismus im Süden der Westlichen Hemisphäre (in Amérique Latine ) legi- timiert wissen. Schon er schrieb den USA Merkantilismus, Egoismus, Materia- lismus und mangelnde Kreativität zu. Vgl. Marc T. Berger: Under Northern Eyes: Latin American Studies and US Hegemony in the Americas 1898-1990. Bloomington, Indianapolis 1995, S. 15. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in Frankreich das Konzept der „race latine“. Vgl. Käthe Panick: La Race Latine – Politischer Romanismus im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Bonn 1978, S. 260f. Die Bezeichnung Amerika wandelte sich mit dem kontinuierlichen Ausgreifen der USA nach dem Süden – argumentativ gestützt mit dem politisch- missionarischen Programm des manifest destiny – immer stärker zum Synonym für die USA. Der US-amerikanische Historiker Lester Langley macht das Beg- riffspaar USA–America schließlich folgendermaßen fest: USA stehe für eine politische Einheit ( political entity ), Amerika für einen Ort ( place ). Vgl. Berger: Under Northern Eyes, S. 18. Er wirft auch die Problematik des Nordameri- ka-Begriffes auf, der geographisch Kanada und Mexiko einschließe, wobei Mexiko kulturell eindeutig zu Lateinamerika zu zählen sei. Kanada, seit 1867 eine Konföderation mit eigenem Parlament, spielt im konfliktbeladenen interamerikanischen Beziehungsgeflecht zwischen 1850 und 1930 keine Rolle. Wie entwickelten sich die Beziehungen zwischen den Amerikas ab der Mitte des 19. Jahrhunderts? Welche Funktionen hatten diese Beziehungen und wel- chen Strategien folgten sie? Waren sie ideologisches Konstrukt? Klafften Inten- tion und Rhetorik sowie Realpolitik auseinander? Wen schloss man ein bzw. aus? Wie unterschieden sich die Wahrnehmungen im „Süden“ der Hemisphäre von jenen im „Norden“ in Bezug auf die inter- bzw. panamerikanische Politik? Daran anschließend ist auch die Frage einer lateinamerikanischen Identität zu beantworten, wenn es darum ging, den immer mächtiger werdenden USA ein Gegengewicht zu bieten. Auch die Rolle Brasiliens in diesem lateinamerikani- schen Kontext soll also näher beleuchtet werden. Was die Thematik zudem so multiperspektivisch und komplex macht, ist, dass inter-amerikanische bzw. panamerikanische Konzepte immer auch vor dem Hintergrund des europäischen Einflusses – mit all seinen politischen, ökonomi- schen und kulturellen Seiten – formuliert wurden. Dieser Einfluss manifestierte sich in Form militärischer Interventionen, wie sie jene von Napoleon III. zwi- schen 1861 und 1867 in Mexiko zeigte Mit dieser Intervention sollte etwa die race latine gestärkt werden. Napoleon schätzte allerdings die geopolitische Lage falsch ein. Das Mexiko-Unternehmen scheiterte 1867. , und auch in Form von Referenzkultur, wie sie gerade Einwanderungsländer transferierten, die Frankreich als Vorbild in Kunst und Geschmack huldigten. Auch hier wird zu differenzieren sein. VOM MEXIKANISCH-AMERIKANISCHEN KRIEG ZUR PANAMERIKANISCHEN KONFERENZ VON 1889/1890 Der Krieg mit Mexiko stellte erst den Beginn des US-amerikanischen Aus- greifens nach den politisch instabilen, von britischen Investitionen abhängigen Staaten Zentralamerikas dar. Zum ökonomisch lukrativen Interessensgebiet zählte auch die spanische Karibikinsel Kuba. „We must have Cuba [...] We shall acquire it by a coup d’etat at some propitious mo- ment“ schrieb der spätere US-Präsident James Buchanan an den Senator Henry Clay im Jahr 1849. Zit. n. Dunkerley: The United States and Latin America, S. 3. Die Bemühungen des damaligen Präsidenten Franklin Pierece, Kuba zu kaufen bzw. Vorwände für eine militärische Intervention zu schaffen, scheiterten am Widerstand Spaniens und des US-amerikanischen Nordens, der die Schaffung eines weiteren Sklavenstaates befürchtete. Vgl. Christof Mauch/ Jürgen Heideking: Geschichte der USA (5. Aufl.), Tübingen/ Basel 2007, S. 132. 11 Die Vereinigten Staaten bekun- deten ihre wirtschaftsexpansionistischen Pläne nicht nur durch (nie ratifizierte) Freundschaftsverträge mit Honduras und Nicaragua, sondern auch durch ihre Zustimmung zur Präsidentschaft von William Walker, der im zentralamerikani- schen Staat sogar die Sklaverei wieder einzuführen trachtete. Der amerikanische Abenteurer war mit einer Gruppe von Söldnern nach Nicaragua gezogen und hatte sich nach Gefechten mit Einheimischen den Weg zu einer kurzen Präsi- dentschaft geebnet. Nach Auseinandersetzungen mit dem US-amerikanischen Großunternehmer Cornelius Vanderbilt, dessen Monopol des Personen- und Gü- tertransportes quer durch Nicaragua Walker zu beschneiden trachtete, floh er ins Exil und wurde 1860 ermordet. Wenn die US-amerikanische Außenpolitik gegenüber Mexiko und Zentral- amerika in Lateinamerika vehemente Kritik provozierte, so fanden gerade ame- rikanische Werte wie Fortschritt, Liberalismus und Bildungspolitik auch Befür- worter. Einer von ihnen war der spätere argentinische Staatspräsident Domingo Faustino Sarmiento, der als Flüchtling vor der Diktatur von Juan Manuel Rosas 1847 die USA besuchte, Abraham Lincoln bewunderte und kulturelle Koopera- tionen zwischen Nord und Süd vorschlug. Sarmiento, ein Kosmopolit und Kriti- ker eines hispanophilen Konservativismus, reiste als inoffizieller Vertreter Argentiniens zum Zweiten Amerikanischen Kongress , der Ende 1864/Anfang 1865 wiederum in Lima tagte. Auch diesmal waren nicht alle Republiken, son- dern nur sieben Staaten vertreten; die vom Bürgerkrieg geschwächten USA fehl- ten ebenso wie Brasilien, das auch die in Lima entworfenen Verträge über eine defensive Allianz nicht ratifizierte. Die organisatorische Initiative war wiederum von den Andenstaaten ausgegangen. Es waren Bolivien, Chile, El Salvador, Kolumbien, Ecuador, Venezuela und Peru. Vgl. Whitaker: The Western Hemisphere Idea, S. 56f. Als zentrales Thema lag die europäische Bedrohung der Hemisphäre auf dem Tapet. Das Gastgeberland Peru sah in der Rekolonisierung von Santo Domingo und der Positionierung von spanischen Kriegsschiffen vor den peruanischen Chincha-Inseln, einem Guano-Reservoir, deutliche Zeichen für wiederbelebte imperiale Interessen Spaniens. In Mexiko regierte gerade der vom französischen Kaiser Napoleon III. unterstützte Habs- burger Maximilian. Der argentinische Politiker Sarmiento meldete als inoffiziel- ler Teilnehmer seines Landes Zweifel an einer politischen Einheit der Americas an und plädierte stattdessen für eine künftige Kooperation in kulturellen Berei- chen. Vgl. Samuel Guy Inman: Problems in Pan Americanism. New York 1925 (2. Aufl.), S. 116. Seit den 1850er Jahren existierten statt einer Kooperation innerhalb der Hemisphäre, für die auch Bolívar nicht eingetreten war, eine Parallelexistenz „zweier Américas“, wobei man zumindest das monarchische Brasilien ein- zugliedern versuchte, d.h. aus einem hispanoamerikanischen Amerika ein Lateinamerika kreieren wollte. Die USA wurden in hemisphärischen Kooperati- onsbemühungen erst Anfang der 1880er Jahre aktiv, als sie eine Wirtschaftsre- zession durchmachten. James G. Blaine, der später als großer Architekt der Pan- amerikanischen Bewegung gefeiert werden sollte, wurde 1881 zum Secretary of State ernannt und verfolgte sogleich die Idee einer amerikanischen Konferenz als Vermittlungsinstanz im Pazifikkrieg (1879-1883) zwischen Chile, Peru und Bolivien um die Kontrolle über die mineralienreiche Atacama-Wüste. Auch Blaine störte die europäische Präsenz, wie etwa das Engagement beim Bau des Panama-Kanals. So begann er Pläne für eine Zollunion nach deutschem Vorbild mit gemeinsamer Währung und koordiniertem Transportsystem zu entwerfen. Vgl. Whitaker: The Western Hemisphere Idea, S. 79f. Vgl. Joseph Byrne Lockey: Panamericanism: Its Beginnings. New York 1970, S. 7. „Blaines Projekt des Panamerikanismus war als Mischung aus einem Frei- handelsabkommen und einer innerhemisphärischen Friedensinitiative unter US- amerikanischer Führung angelegt,“ charakterisierte der Politikwissenschafter Wolfgang Dietrich die Bestrebungen des Secretary of State, Wolfgang Dietrich: Von der Intervention zur Integration. Lateinamerika im Schatten der nordamerikanischen Hegemonialmacht und die politisch-militärische Rolle der USA im 20. Jahrhundert. In: Martina Kaller-Dietrich, Barbara Potthast, Hans Werner Tobler (Hrsg.): La- teinamerika. Geschichte und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Wien 2004, S. 137. der rasch am Wi- derstand der Parteien im Pazifikkrieg und als Politiker scheiterte; denn Argenti- nien stellte sich federführend gegen die amerikanischen Zollunionspläne. Noch im selben Jahr wurde Blaine (im Zusammenhang mit der Ermordung von Präsi- dent Garfield) seines Amtes enthoben. Sein Nachfolger Frederick T. Freyling- huysen rief eine südamerikanische Kommission ins Leben, eine Investitionsbe- ratungsstelle für US-amerikanische Firmen über die Bedingungen auf lateiname- rikanischen Märkten. Vgl. Lester D. Langley: The Americas in the Modern Age. New Haven, London 2003, S. 38. Denn eine zu jener Zeit unternommene Studie belegte, wie schwach die USA im Vergleich zu Großbritannien noch im mittelamerikani- schen Handel präsent waren. Die Importe aus dem Süden in die USA übertrafen zudem deren Exporte nach Lateinamerika bei weitem. Als Blaine 1889 schließlich die Wiederbestellung als Secretary of State gelang, setzte er seinen Plan einer inter-amerikanischen Konferenz sofort um. DIE GENESE DER PANAMERIKANISCHEN BEWEGUNG Vom 2. Oktober 1889 bis zum 19. April 1890 tagte die von James Blaine ins Leben gerufene International American Conference in Washington, die als Erste Panamerikanische Konferenz in die Geschichte einging und bis auf die Domini- kanische Republik erstmals alle Staaten vereinigte. Samuel Guy Inman und Arthur Whitaker verfolgten die Genese des Begriffes und nannten beide die New York Evening Post als dessen Urheberin, allerdings mit unterschiedlichen Datie- rungen. Inman gab den 27. September 1889 an; vgl. Inman: Problems in Panamericanism, S. 219; Whitaker nannte den 27. Juni 1882; vgl. Whitaker: The Western Hemisphere Idea, S. 71f. Das New Yorker Abendblatt kündigte die Konferenz zunächst in einer Anspielung auf die pan-germanischen und pan-slawistischen Bewegungen in Europa als Pan-Americas-Congress an – nicht auf der Titelseite, sondern im Mittelteil der Zeitung neben anderen Ereignissen wie der Pariser Weltausstel- lung; am Eröffnungstag schließlich übertitelte sie einen Artikel über die Konfe- renz, mit Auszügen aus der Rede Blaines, mit den Worten The Pan-American Congress . Damit war der Begriff festgelegt, der in der Folge auch als Reaktion auf die europäischen Pan-Bewegungen gewertet wurde. Zu den Agenden des Kongresses gehörten Themen wie Staatsbürgerschaft, Devisenkontrollen, ein- heitliche Zollregelungen und Gesundheitspolitik. Vgl. Dunkerley: The United States and Latin America, S. 16. 20 Blaines Zollvereinsplan wur- de wiederum durch federführende Intervention Argentiniens abgeschmettert. Nicht von ungefähr bemerkte der Delegierte des stark an Europa orientierten Staates Argentinien: „What I lack is not love for America but suspicion and ingratitude toward Europe“. Amerika sollte nicht nur für die Amerikaner exis- tieren. Mit dem während des Kongresses am 14. April 1890 ins Leben gerufene Commercial Bureau of the American Republics (1890-1906) fand die inter- amerikanische Politik ihre institutionelle Verortung. Dieser 14. April sollte dann ab 1931 jährlich als Pan American Day begangen und während des Zweiten Weltkriegs, dem Höhepunkt der Good Neighbor Policy, als besonders symbol- geladener Tag gefeiert werden. Vgl. A América. Ontem – Hoje – Amanhã. Washington 1944, S. iii. 1907 wurde das Commercial Bureau of the American Republics in die Pan-American Union umbenannt. Sie bildete die Kooperationsbasis von Staaten der Westlichen Hemisphäre unter der Vormacht- stellung der USA. Wenn die Panamerikanische Bewegung auch allgemein als „politisches, kulturelles, soziales und wirtschaftliches Solidaritätsgefühl der spanisch-portugiesisch-, englisch- und französischsprechenden (sic) Republiken Amerikas“ definiert wurde, Otto C. Stoetzer: Panamerika – Idee und Wirklichkeit. Die Organisation der Amerikani- schen Staaten. Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Heft 2. (1964), S. 9. 23 war die Vorrangstellung ökonomischer Interessen in einem Klima des Wettstreites zwischen den USA und europäischen Mächten um die lateinamerikanischen Märkte schon von Beginn an klar. Auch von sen- siblen Interpretationen lateinamerikanischer Kulturen konnte zu jener Zeit noch keine Rede sein. Die von den USA formulierte special relationship , welche die Gemeinsamkeit von Werten und Parallelen in der historischen Entwicklung her- vorhob, diente zur Legitimierung einer Handelspolitik, die immer stärker nach Märkten im Süden ausgerichtet war. Bis 1923 kam dem US-Außenminister ex officio der Vorsitz in der Pan American Union zu, auch die Vertretung der lateinamerikanischen Staaten vor der Union war von deren Botschaftern in Wa- shington wahrzunehmen. LATEINAMERIKANISCHE KRITIK AM PANAMERIKANISMUS DER USA Die US-amerikanischen Strategien blieben im Süden nicht unkommentiert. Bald nach dem ersten Panamerikanischen Kongress reagierte der in New York lebende Exilkubaner José Martí auf die Politik des manifest destiny . In seiner erstmals in der mexikanischen Zeitung El Partido Liberal erschienenen Streit- schrift Nuestra América (1891) träumt Martí in bolivarianischer Rhetorik von einem Kontinent, dessen Politiker den „inneren Gesetzen und Notwendigkeiten“ von Staat und Gesellschaft Rechnung tragen und nicht als Agenten fremder poli- tischer und kultureller Institutionen agieren sollten. Zudem plädiert er für die Inklusion der bislang vom Nationsprojekt dezidiert ausgeschlossenen indigenen Bevölkerung in die Zivilgesellschaft. Langley: The Americas in the Modern Age, S. 38. Den Amerika-Begriff will er nicht den USA überlassen wissen, deren historische Leistungen er zwar schätzte; das Su- perioritätsdenken der angelsächsischen „Rasse“ empfand er aber als bedroh- lich. Vgl. Martina Kaller-Dietrich: Las Américas. Vom modernismo zum Redigieren der la- teinamerikanischen Identitäten unter besonderer Berücksichtigung des mexikanischen Diskur- ses. In: Thomas Fröschl, Margarete Grandner, Birgitta Bader-Zaar (Hrsg.): Nordamerikastu- dien. Historische und literaturwissenschaftliche Forschungen aus österreichischen Universitäten zu den Vereinigten Staaten und Kanada. München 2000, S. 313-340, hier: S. 324f. Brasilien, das im Laufe des 19. Jahrhunderts eine andere Entwicklung durch- lief als das spanische Kolonialreich, war in die inter-amerikanischen Konferen- zen zunächst nicht involviert gewesen und kultivierte – übrigens bis weit in das 20. Jahrhundert hinein – eine Inselposition auf dem Kontinent – „uma ilha no continente“ –, wie Eduardo Prado es ausdrückte Eduardo Prado: A illusão americana. Paris 1895 (2. Aufl.), S. 10f. 27 . Erst 1888 hatte Brasilien als letzter Staat der Welt die Sklaverei abgeschafft und 1889 die Republik ausgeru- fen. Damit gingen eine allmähliche Hinwendung zu den anderen lateinamerika- nischen Staaten und eine deutliche Orientierung zu den USA einher. Gerade mit den Vereinigten Staaten pflegte Brasilien bald erfolgreiche Wirtschaftsbezie- hungen; Anfang des 20. Jahrhunderts gingen 50 Prozent der brasilianischen Ausfuhren, und hier vor allem das Exportgut Kaffee, in die USA. Das gute Klima einer jungen wirtschaftspolitischen Allianz beeinträchtigte jedoch bald der mittlerweile zum „Klassiker“ erhobene Essay A ilusão america- na von Eduardo Prado. In diesem analytisch trocken geschriebenen Text klagt der Monarchist Prado 1893 die USA an, Panamerikanismus lediglich als Rheto- rik zu üben und mit diesem verlogenen Diskurs eine berechnende kapitalistische Wirtschaftspolitik recht schlecht zu verkleiden. Prado handelt in nüchterner radikaler Sprache einen Fall imperialistischen Vorgehens nach dem anderen ab So kritisiert Prado etwa die amerikanische Untätigkeit, als Großbritannien und Frank- reich in Argentinien gegen Rosas intervenierten. Er kritisiert Großbritanniens Annexion der Falklandinseln und die permanenten Grenzverletzungen der USA gegenüber Mexiko. Maxi- milian von Mexiko sei hingegen einer der besten Herrscher gewesen. und widmet sich im Detail den US-amerikanischen Mineninteressen in Chi- le. Prados Abrechnung erschien derart störend, dass die junge Republik Brasi- lien den Essay kurzerhand verbot, worauf die zweite Auflage in Paris herauskam – mit einem stolzen Vermerk dieses Verbotes auf dem Deckblatt. Prados Kritik richtete sich jedoch nicht nur gegen die USA, sondern auch gegen die Aggressi- onen lateinamerikanischer Staaten untereinander: „A fraternidade americana é uma mentira. Tomemos as nações ibericas da America. Ha mais odios, mais inimisades entre ellas do que entre as nações da Europa“. Prado: A illusão americana, S. 8. Auch der brasilianische Schriftsteller Euclides da Cunha, Autor des mittler- weile als Nationalepos rezipierten Werkes Os Sertões (1902), warnte vor allzu engen Beziehungen mit anderen Staaten in Südamerika, weil die brasilianische Inselposition auch Schutz bedeutet habe. Wie Prado hielt er eine kontinentale Solidarität für unrealistisch und problematisch. Vgl. Birle: Brasilien und die Amerikas, S. 143. 31 Brasiliens Außenminister Rio Branco bekannte sich explizit zum Panamerikanismus, verstand ihn jedoch zu- nächst als Allianz der beiden mächtigsten Staaten der Hemisphäre. Brasilien sollte 1906 den Dritten Panamerikanischen Kongress beherbergen. Der spanisch-amerikanische Krieg von 1898, der Kuba zu einem Protektorat der USA und Puerto Rico zu einem assoziierten amerikanischen Bundesstaat machte, verdrängte Spanien endgültig aus der Westlichen Hemisphäre. Auf die- se neue Etappe in der Ausweitung US-amerikanischer Machtbereiche reagierte ein anderer lateinamerikanischer Schriftsteller, der Uruguayer José Enrique Rodó. Im Gegensatz zum Kubaner José Martí rief er nicht zu einer Einheit La- teinamerikas gegen die imperiale Gefahr im Norden auf; er definierte jedoch intellektuelle Widerstandsstrategien, die ihre Anregungen aus der europäischen klassischen Antike und der lateinamerikanischen Kolonialzeit schöpfte. Bernd Hausberger: Die Teile und das Ganze. Entwürfe kontinentaler Identität und trans- nationaler Integration in und für Lateinamerika von Simón Bolívar bis George W. Bush. In: Martina Kaller-Dietrich, Barbara Potthast, Hans Werner Tobler (Hrsg.): Lateinamerika. Ge- schichte und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Wien 2004, S. 125. Des europäischen Erbes sollte man sich besinnen, es aber nicht nachahmen. In sei- nem berühmten und viel zitierten Essay Ariel schrieb er – wie Napoleon III. – den USA Macht und Dynamik, Maschinenzivilisierung und Gefühlskälte, Prag- matismus und mangelnde humanistische Bildung zu, den Lateinamerikanern hingegen Humanität und Gefühl, Esprit, Poesie und Geschmack. Vgl. Thomas Fröschl: Antiamerikanismus in Europa und Lateinamerika. Sieben histori- sche Dimensionen. In: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit Jg. 3, H. 2 (2003), S. 82-97, hier: S. 94. Der Titel des Essays von Rodó bezieht sich auf den Luftgeist Ariel aus Shakespeares Drama Der Sturm . Diese Dicho- tomie fand Eingang in viele Darstellungen und verfestigte sich zu Stereotypen der Wahrnehmung des jeweils anderen. Gegen die Vorstellungen des Nordens, Bewohner des Südens als tropisch dekadente, unzivilisierte und dunkelhäutige Menschen einzuschätzen, die nicht einmal die so reichhaltige Natur produktiv zu nutzen verstanden Vgl. Corinne A. Pernet: Die Zivilisierungsmission der Zivilgesellschaft. Die andere Art der US-Intervention in Lateinamerika von 1910 bis 1945. In: Boris Barth, Jürgen Osterham- mel (Hrsg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert. Konstanz 2005, S. 311-334, hier: S. 311. , reagierten Intellektuelle im Süden immer wieder mit Gegen-Diskursen. DIE DRAGO-DOKTRIN UND BRASILIENS „INSELPOSITION“ IM PANAMERIKANISCHEN KONTEXT Um die Jahreswende 1901/02 tagte die Zweite Panamerikanische Konferenz in Mexico City. Alle Nationen waren vertreten und diskutierten unter anderem über den Bau einer Panamerikanischen Eisenbahnline. Zwei Jahre zuvor hatten ein Kapitän, ein Banker aus New England und ein Eisenbahningenieur die Uni- ted Fruit Company gegründet, die sich rasch zu einem Monopolunternehmen in Mittelamerika entfaltete und zu einem Symbol US-amerikanischer Interventi- onspolitik zum Schutz eigener Wirtschaftsinteressen avancierte. Mexikos Staats- präsident Porfirio Diaz, der Gastgeber der Konferenz, schloss im Laufe seiner Regierungszeit mit den USA Grenzabkommen, die auch Duty-Free-Zonen vor- sahen, und vergab großzügig Konzessionen zum Landerwerb, für Minen und für den Eisenbahnbau an US-amerikanische Unternehmen. Vgl. Langley: The Americas in the Modern Age, S. 19. Im Dezember 1902 bombardierten italienische, deutsche und britische Kriegs- schiffe venezolanische Häfen, um gewaltsam Schulden einzutreiben. Der euro- päischen interventorischen Präsenz begegnete der argentinische Aussenminister Luis María Drago Ende Dezember in einer Note, der sogenannten Drago- Doktrin, die das gewaltsame Eintreiben von Vertragsschulden durch Gläubiger- staaten in der Westlichen Hemisphäre als unzulässig sanktionieren wollte. Drago sah – wie Präsident Theodore Roosevelt – im venezolanischen Konflikt ein Zei- chen für den europäischen Imperialismus, der Lateinamerika für territoriale Ex- pansionen wieder ins Auge gefasst habe und argumentierte im Sinne der Mon- roe-Doktrin. 36 37 Dragos Vorstoß bedeutete zudem ein erstmalig klares Engagement Argentiniens zum Vorteil einer konstruktiven inter-amerikanischen Politik. Doch nicht nur die USA waren gegen den Vorschlag, auch Brasilien lehnte die Idee sofort ab. Präsident Theodore Roosevelt entschied sich entgegen den Vorschlägen Dragos für ein unilaterales Vorgehen und präsentierte 1904 in seiner Dezember- Botschaft an den Kongress ein Korollar zur Monroe-Doktrin, in dem er das Vorgehen der europäischen Mächte als legitim ansah, deren Präsenz in Latein- amerika jedoch als Auftakt für einen wiederaufkeimenden europäischen Imperi- alismus wertete. Gleichzeitig warnte er die lateinamerikanischen Staaten davor, durch Fehlverhalten solche Situationen heraufzubeschwören, und sprach den USA das Handlungsmonopol im Eingreifen gegen Attacken von außen zu. Im Gegensatz zu vielen lateinamerikanischen Staaten akzeptierte Brasilien das Korollar Roosevelts. Außenminister Rio Branco verteidigte das amerikani- sche Vorgehen gegenüber unverlässlichen desorganisierten Partnern mit sozial- darwinistischen Argumenten Vgl. Birle: Brasilien und die Amerikas, S. 146f. 39 , wie sie 12 Jahre später der Assistant Secretary of State Francis Huntington Wilson ebenso gegenüber Lateinamerika anwenden sollte. Die „Big-Stick-Politik“ Theodor Roosevelts zeigt, wie die USA europä- ische Interventionen nutzten, um ihrerseits ihren Einflussbereich im Süden aus- zudehnen. Das brasilianische Verhalten zeigt deutlich, dass dieser mächtige Staat nicht a priori eine lateinamerikanische Solidarität verteidigte und dass der sozialdarwinistische Diskurs des Aussenministers Rio Branco jenen von US- amerikanischen Politikern durchaus ähnelte. 1903 erwarben die USA die Rechte an der Kanalzone des unabhängig gewor- denen Panama. Drei Jahre später, 1906, sprach sich Secretary of State Elihu Root – der eigentliche Urheber des Roosevelt Corollary Vgl. Whitaker: The Western Hemisphere Idea, S. 98. – in einer Rede in Kansas City für eine aggressivere Handelspolitik gegenüber Lateinamerika aus, die Wirschaftshilfen für US-Geschäftsleute und Vergünstigungen bei Banken einschließe. „From the U.S. perspective, the most promising changes in he- mispheric relations were not political or cultural but economic and commeri- cal“. Vgl. Langley: The Americas in the Modern Age, S. 75. 42 Kurz zuvor hatte er auf der Dritten Panamerikanischen Konferenz in Rio de Janeiro die lateinamerikanischen Delegierten folgendermaßen begrüsst: „I bring from my country a special greeting to her elder sisters in the civilization of America“. Diese Aussage wurde 15 Jahre später von Samuel Guy Inman, ei- nem politisch engagierten Historiographen des Panamerikanismus als außenpoli- tischer Meilenstein gewertet, weil ein Vertreter der USA hier den Nachbarn im Süden eine viel ältere Kultur zugestand und somit vorgeblich Sterotypen auf- brach, sie zeigt gleichzeitig jedoch die unterschiedlichen Diskurse im Ökonomi- schen wie Kulturellen auf. Elihu Root’s Besuch in Rio de Janeiro 1906 war übrigens der erste eines amerikanischen Außenministers in Brasilien; er wurde deshalb unternommen, weil die Ressentiments im Süden gegen das Roosevelt- Corollar – mit Ausnahme Brasiliens – so negativ gewesen waren. Vgl. Whitaker: The Western Hemisphere Idea, S. 103. Root betonte die friedensstiftende Rolle dieses Corollars. Joaquim Nabuco, zu jener Zeit brasilianischer Botschafter in Washington und Initiator der Rio-Konferenz von 1906, pries in einem Vortrag an der University of Wisconsin die Vorbildwirkung der USA für den Süden: ihre peace keeping- Rolle, religiöse Toleranz, politische Freiheit, Wohlstand, Demokratie und die Leistungen der Monroe-Doktrin. Während der Panamerikanischen Konferenz von Rio schlug Nabuco vor, dass die Teil- nehmer sich bei den USA wegen der Monroe-Doktrin bedanken sollten, was abgelehnt wurde; vgl. Inman: Problems in Panamericanism, 207f. Der vehemente USA-Kritiker Eduardo Prado (er starb 1901) sollte es nicht mehr erleben, wie sein ehemals enger Freund Nabuco sein Werk A Ilusão Americana in den USA kritisierte: „a little book which hurts us a great deal, which entertains in the public spirit a mistrust against that country, our only possible ally“. Vgl. Stephanie Dennison: Joaquim Nabuco. Monarchism, Panamericanism and Nation-Building in the Brazilian Belle Epoque. Oxford (et.al.) 2006, S. 144f. Wenn man bedenkt, dass die USA zwischen 1840 und 1902 mehr als ein Dutzend Mal im Isthmus von Panama intervenier- ten, dann ist die Zuschreibung der friedensstiftenden Rolle der USA seitens Bra- siliens schon sehr erstaunlich. „Peace and Pan-Americanism are convertible terms for you and for us“, erklärte Nabuco. „But, as what gives the greatest strength to your power for peace is immigration, I would classify immigration as the greatest of all contributions of America to civilization. Joaquim Nabuco: The Share of America in Civilization. In: The American Historical Review (1909), S. 54-65, hier S. 56. 46 In der US- amerikanischen Einwanderungspolitik sieht Nabuco auch einen Unterschied zwischen der nationalen Entwicklung der USA und jener lateinamerikanischer Staaten. Während die USA ein Resultat freie Einwanderung seien und sich selbst bestimmen konnten, war Lateinamerika ein Kontinent der Eroberung. Amerika [USA] sei das neue Europa; während das alte Europa seine „Rassen- Barrieren“ durch unterschiedliche Patriotismen, nationale Traditionen und Spra- chen aufrechterhalte, würden diese Gedächtnisse in Amerika verloren gehen und sich in eine Amerikanische Identität eingliedern. Panamerikanismus reduzierte sich für Nabuco auf die Allianz zwischen USA und Brasilien. Das US-amerikanische Ausgreifen nach dem Süden manifestiert sich deutlich in den Statistiken: Von den 1880er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg stiegen die US-Exporte nach Lateinamerika und in die Karibik um 600 Prozent Vgl. Langley: The Americas in the Modern Age, S. 75. 48 , das Gros ging nach Kuba und Brasilien. Der Federal Reserve Act von 1913 ermöglichte amerikanischen Banken, in Lateinamerika Filialen zu eröffnen. 1914 und 1916 intervenierten die USA in ihrem Nachbarstaat Mexiko. 1915 marschierten sie in Haiti ein, sandten mehrmals Militärs in die Dominikanischen Republik, nach Honduras und Nicaragua, das sie okkupierten, obwohl Präsident Woodrow Wil- son bei seiner Mobile Address im Oktober 1913 angekündigt hatte, die Nach- barn im Süden als gleichwertige Partner zu behandeln. Die Interventionen wur- den mit dem Argument begründet, gefährdete Wirtschaftsinteressen vor Ort schützen zu müssen. Diese Dollar Diplomacy , legitimiert mit der Vorstellung von der white man’s burden , wurde – und das zeigen die Reden des Assistant Secretary of State Francis Huntington Wilson – auch mit sozialdarwinistischen Argumenten belegt. Wilson und seine Berater wollten ihre expansive Wirtschaftspolitik, die auch gegen die Vormachtstellung der Briten gerichet war, mit zivilisatorisch humani- tären Aufgaben verbunden wissen. LATEINAMERIKA ALS „KRANKER KONTINENT“ – DIE USA ALS VORBILD UND FEINDBILD Wie gingen lateinamerikanische Intellektuelle im Umfeld von José Enrique Rodós einflussreichem Werk Ariel mit der Dollar Diplomacy ihres Nachbarn im Norden um? Nicht nur Reflexionen über die notwendige kulturelle Eigenstän- digkeit wurden angeboten, sondern auch kritisch analytische Reflexionen über die Verfasstheit eigener lokaler Politik und Gesellschaft. Die Yankeephobie fand ihre Distributoren in den Schriften des Mexikaners Carlos Pereyra und des Argentiniers Manuel Ugarte. Der Venezolaner César Zumeta sprach 1916 vom „kranken Kontinent“, der den allmächtigen USA we- nig entgegenzusetzen habe; Vgl. César Zumeta: El Continente Enfermo. Caracas 1916. „El norteamericano, idólatra del dólar todopoderoso , representa mayor suma de energía y de bienestar que el iberoameri- cano, esclavo de la fatalidad todopoderosa“ (S. 39). Zumeta bezieht sich auch auf alldeutsche Schriften. der Mexikaner Francisco Bulnes hatte 1899 vor- ausgesagt, dass der Kontinent von Kuba bis Bolivien von Barbarei, Misere und Bürgerkrieg gezeichnet sein und bis 1980 seine Unabhängigkeit verloren haben werde, weil die tropischen Zonen einer Industrialisierung hinderlich wären. Vgl. Inman: Problems in Panamericanism, S. 47. Vgl. Francisco Bulnes: Europa y los Estados Unidos. Mexiko 1899, S. 264. Sein brasilianischer Kollege José de Manoel Bomfim hatte 1903 ein Werk mit dem Titel O parasitismo social e evolução: A América Latina geschrieben, in dem er das spanische und portugiesische koloniale Erbe des Parasitentums und der dekadenten politischen Traditionen heftig gegeißelt hatte. Im Gegensatz zu US-amerikanischen Theoretikern wird bei lateinamerikani- schen Kollegen oftmals das Trennende (angelsächsisch versus lateinisch) vor das Gemeinsame gestellt. Und hier lassen sich, vereinfacht gesagt, zwei Rich- tungen definieren: die der Pan-Amerikanisten und der Pan-Latinisten. Während die Pan-Latinisten die lateinamerikanische Kultur gegenüber der als homogen wahrgenommenen, protestantischen USA als die wertvollere verteidigten und die Beziehungen zu Europa hochhielten, nahmen die Pan-Amerikanisten die USA differenzierter wahr und sahen sie gesellschaftspolitisch in ihrer Dynamik und ihrer Progressivität auch als Vorbild. Die Pan-Latinisten argumentierten ihre Überlegenheit laut Samuel G. Inman mit einer philosophischen, auf ethnischen Differenzen basierenden Linie und auf einer historischen, die auf der imperialis- tischen Politik der USA beruhe. Vgl. Inman: Problems in Panamericanism, S. 323f. a day.” 54 Beiden Gruppierungen gemeinsam war, dass sie in selbstkritischen, teils sehr komplexen Bestandsaufnahmen ihrer Politiken und Gesellschaften eine Reihe von Mängeln konstatierten, die zu beheben für die Selbstbehauptung gegenüber den USA existentiell wären. Was waren nun die Vorwürfe an die eigene Politik und Gesellschaft? Man nannte besonders Feudalismus und Bürokratie, krasse soziale Gegensätze, man- gelnde Ausbildungsmöglichkeiten für eine breite Bevölkerungschicht, Sittenver- fall und Rückständigkeit der indigenen Gesellschaft. So schrieb Julio R. Barcos in der Zeitschrift Cuasimodo: Der rechtskonservative Kritiker César Zumeta, ein Vertreter der Pan- Latinisten, schrieb 1916 in seinem Werk El Continente Enfermo noch viel radi- kaler als Rodó: Der peruanische Diplomat Federico García Calderón sieht den Pan- Latinismus als konsequente lateinamerikanische Version eines „Kampfes für die Zukunft“, der nicht nur den USA, sondern auch den globalen Pan-Bewegungen Eigenes entgegenzusetzen habe. Lateinamerika sei der „Zukunftskontinent“, wenn er einig auftrete. 56 Der Liberale Alfredo Colmo argumentiert in seinem Werk América Latina , das dezidiert Brasilien ein- und die USA ausschloss, ähnlich. Dass Lateinmame- rika arm sei, ungebildet, semibarbarisch bis hin zur Kriminalität, liege einerseits an externen Faktoren der Ausbeutung, andererseits auch an seinen Bewohnern und ihrem passiven Charakter: „Precisa salir del indolente pasivismo que nos es tan común, y entrar en lo activo de los hechos, en la espontaneidad de conductas que quieren y obran, que tienen iniciativa y que sienten el pragmatismo venturo- so de todo lo que es evolucíon, marcha ascendente y adelante“. Alfredo Colmo: América Latina. Madrid 1915, S. 649. Colmo begründet die Ausklam- merung der USA damit, dass diese mit Lateinamerika wenig gemein hätten, für ihn allerdings die Glorie des Kontinents seien. Colmo versucht auch mit psychologischen Theorien Mentali- täten und Diskurse in Lateinamerika kritisch zu analysieren. Beim Thema Bildungschancen favorisiert er auch dezidiert Ausbildung für Frauen, allerdings für „klassische Berufe“. Das Thema „Indio“ war für viele Autoren ein zentrales. Hier überwog die Sichtweise, dass die indigene Bevölkerung aufgrund ihrer Rückständigkeit ein eklatantes Fortschrittshindernis darstelle, jedoch erziehbar sei. Der vor dem Hin- tergrund der aufkeimenden „Mestizaje“-Bewegung argumentierende boliviani- sche Diplomat und Historiker Alcides Argüedas macht die Jahrhunderte lange Versklavung und Ausbeutung – auch durch die katholische Kirche – für den Zu- stand indigener Gesellschaften verantwortlich, die von ehemals komplexen Hochkulturen auf niedere Stufen der Zivilisation gefallen seien. Vgl. Inman: Problems in Panamericanism, S. 61. Auch Alfredo Colmo argumentiert in Indio-Fragen wie Argüedas und macht die katholische Kirche für gesellschaftlichen Rück- schritt verantwortlich. „Nuestro catolicismo es sumamente intransigente: dogmático, sectario o medieval“; vgl. Colmo: América Latina, S. 58; vgl. S. 464. Diese Krank- heitsmetaphern für Lateinamerika ziehen sich durch die zahlreichen Werke der Pan-Amerikanisten wie der Pan-Latinisten bis in die 1920er Jahre, ebenso wie die Konzepte, wie Fortschritt in Bildung und Gesundheit zu erzielen sei. PANAMERIKANISMUS-EXPORT DER USA: CIVILIZING MISSION VON 1914 BIS 1928 Die gesundheitlichen Probleme, der hohe Grad von Analphabetismus wurde US-amerikanischen Magnaten und Philanthropen bewusst. Das Engagement der Familien Carnegie, Rockefeller, Ford und Guggenheim resultierte auch aus der Überzeugung, dass Gesundheit und Bildung die Grundbedingung für Wohlstand darstellen und dass Fortschritt und Technik die unzähligen Probleme jener Welt lösen würden, die man später als „die Dritte Welt“ bezeichnete. Die von pro- gressiven Reformern inspirierten Foundations amerikanischer Milliardäre waren stille Partner der US-Außenpolitik in der Ausweitung der amerikanischen He- gemonie. 59 60 Die Rockefeller Foundation etablierte sich ab 1914 in 18 Staaten Zentral- und Südamerikas zur dominanten säkularen philanthropischen Organi- sation und baute Forschungszentren zur Bekämpfung von epidemischen Krank- heiten auf. Ökonomische und politische Macht, die Überzeugung technischer und ethi- scher Überlegenheit bestärkten die USA in einer global ausgerichteten Civilizing Mission durch universalisierbare kulturelle Werte, die dazu dienten, die von ih- nen als unterlegen angenommenen Gesellschaften zu betreuen und zu kontrollie- ren. Solche Werte waren die parlamentarische Demokratie, das Repräsentativ- system und der gesellschaftliche Pluralismus, das Privateigentum, der gesellschaftlich verankerte Anspruch des Individuums auf Chancengleichheit und der freie Markt. Vgl. Michael Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive? Der Kongress für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München 1998, S.10. Die USA intensivierten nach dem Ersten Weltkrieg auch das wissenschaftliche und kulturelle Interesse am Nachbarn im Süden; ist doch – wie Jürgen Osterhammel explizit machte – Wissen über den Anderen eine Vor- bedingung für ökonomische und ideologische Zivilisierungsmissionen. So mehr- ten sich die Handbücher über Facts and Figures , Erfolgschancen und Verhal- tensregeln für amerikanische Jungunternehmer im Süden. Vgl. Ricardo D. Salvatore: Early American Visions of a Hemispheric Market in South America. In: Berndt Ostendorf (Hrsg): Transnational America. The Fading of Borders in the Western Hemisphere. Heidelberg 2002, S. 45-64. 1918 erschien die erste Ausgabe des Hispanic American Historical Review , das die US-Interessen in der Region wissenschaftlich legitimierte, vier Jahre später das erste College- Textbuch zur lateinamerikanischen Geschichte, A History of Latin America . Auch angeregt durch die Pioniere der Lateinamerikaforschung, durch Charles D. Chapman, William L. Schurz und Herbert E. Bolton, boten Colleges und Uni- versitäten in den 1920er und 1930er Jahren Kurse über lateinamerikanische Ge- schichte an. Zahlreiche private Organisationen wie das Institute of International Educati- on (IIE), die Young Men’s Christian Association (YMCA) und Universitäten etablierten Stipendienprogramme, errichteten Summer Schools und bereiteten Lehrmaterial auf. Der Panamerikanischen Union kam in diesem Kontext eine wichtige Bedeutung zu. Bereits 1917 hatte sie eine eigene Division of Intellectu- al Cooperation gegründet, um die wissenschaftlichen und universitären Bande zwischen den USA und Lateinamerika zu stärken. Vgl. Concha Romero James: The Pan American Union in the field of Inter-American Cultural Relations. Washington D.C. 1941. 65 Dazu gehörte eine erste Be- standsaufnahme lateinamerikanischer Studierender in den USA. Diese hatten gegenüber Europa in dieser Hinsicht viel aufzuholen. Denn abgesehen von fellowships amerikanischer philanthropischer Organisationen für Naturwissen- schaften wählten lateinamerikanische Studierende der Geistes- und Sozialwis- senschaften noch bevorzugt europäische Staaten für Auslandssemester. Eine wichtige Rolle in der frühen panamerikanischen Kulturpolitik spielte der protestantische Pastor Samuel Guy Inman. 1913 gründete er das Mexican Chris- tian Institute und einige christliche Schulen, 1915 das Committee on Cooperati- on with Latin America , das bis 1939 existierte. In seinem monumentalen, 1921 publizierten Werk Problems in Panamericanism geht er von zwei kulturell un- terschiedlich geprägten Americas aus. Inman faßt Charakteristika und Probleme des Panamerikanismus zusammen und bietet Themen für eine konstruktive Kul- turpolitik an. Damit nahm er einige Strategien voraus, die im Rahmen der Good Neighbor Policy während des Zweiten Weltkrieges angewandt wurden. Dazu gehörte zum Beispiel das stete Hervorkehren der älteren hispanoamerikanischen Universitätstradition im Vergleich zur US-amerikanischen. „The first university in America, that of St. Thomas, was founded in Santo Domingo in 1538, a hundred years before John Harvard conceived his plan for a college in Cam- bridge.“ Inman: Problems in Panamericanism, S. 18. In seinen Bestrebungen, pejorative Stereotypen umzukehren und Latinophilie zu üben, geht er sogar so weit zu behaupten, dass Lateinamerikaner den US-Amerikanern als überlegen empfunden werden können: „ [...] we may find that the Latin Americans are superior to the North Americans. They did not destroy the Aborigines when they came to this new land as did the North Ameri- cans“. Ebenda, S. 39. In der Aufzählung lateinamerikanischer Probleme, die im Sinne paname- rikanischer Politik zu beheben seien, zählt der protestantische Missionar auch den Sittenver- fall durch illegitime Kinder, Prostitution und Promiskuität, den er unter anderem mit der Förderung des Sports beheben will, sowie Unpünktlichkeit, Unehrlichkeit, Unverlässlichkeit und Mangel an Initiative, der er Selbstdisziplin, Opferbereitschaft und Geduld entgegensetzt (vgl. S. 61). Panamerikanismus definierte er 1921 vorsichtig und vage „mehr als Gefühl, als Erwartung, denn als ein klar definiertes System“. In den 1930er Jahren sollte er die Kulturaussenpolitik von Präsident Franklin D. Roosevelt ent- scheidend mitprägen. Im Wissenstransfer spielte die Panamerikanische Union, spielten philanthropische Organisationen, Intellektuelle und Wissenschaftszent- ren eine große Rolle. In den 1920er Jahren wurden von den USA und Lateinamerika die durch den Krieg unterbrochenen Beziehungen mit Europa auf der kulturellen und diploma- tischen Ebene wieder gestärkt. Der Völkerbund spielte in diesem Kontext eine wichtige Rolle. Mit Blick auf die Dominanz der USA, auf die wiedererstarkten transatlantischen Beziehungen und die mangelnde inner-lateinamerikanische Solidarität kritisierten Delegierte der panamerikanischen Konferenzen wie Leo Rowe und Ernesto Quesada die Laschheit ihrer Politik, sie bemängelten auch fehlende panamerikanische Gefühle in einzelnen Staaten des Südens und kriti- sierten, dass Strategien sich meist nur in einer Fülle von Akten und gedruckten Memoiren niederschlagen würden. Vgl. Ernesto Quesada: El panamericanismo bolivariano. Buenos Aires 1927. Für Quesadas Landsleute José Ingenieros und Alfredo Palacios waren engere diplomatische Bande mit Europa ebenfalls attraktiv, weil die USA die Monroe-Doktrin für ihre Interessen und ihren öko- nomischen Machtgewinn ausnutzten. Amerikanische Aktiengesellschaften waren Anfang der 1920er Jahre an Schlüsselstellen lateinamerikanischer Wirtschaft, in Erdöl- und Minenunter- nehmen sowie in der Landwirtschaft präsent. Vgl. Thomas F. O’Brien: The Century of U.S. Capitalism in Latin America. Albuquer- que, N.M. 1999, S. 55f. Von 1924 bis 1929 stiegen die Direktinvestitionen der USA in Lateinamerika von 1,5 auf 3,5 Milliarden Dollar, die der Briten blieben hingegen gleich. Der Schriftsteller José Ingenieros hatte im Jahr 1922 bei Mexikos Bildungs- minister José Vasconcelos die Panamerikanische Bewegung für gescheitert er- klärt und stattdessen die Gründung einer Unión Latino Americana angeboten, einer Konföderation lateinamerikanischer Staaten gegen die USA. Sie wurde tatsächlich drei Jahre später in Buenos Aires ins Leben gerufen. Die vom Historiker Arthur Whitaker 1954 in seinem Werk The Western Hemisphere Idea als Fiasko bezeichnete Fünfte Panamerikanische Konferenz in Havanna (1928) gab die Fragmentiertheit inter-amerikanischer Positionen wider; die Dollar Diplomacy der USA, die Spaltung der lateinamerikanischen und kari- bischen Staaten in die panamerikanische und die panlatinistische Bewegung. Dieses Dilemma konnte auch der chilenische Delegierte Alejandro Álvarez nicht überdecken, wenn er die Koexistenz zweier, von ihm als monolithisch wahrge- nommenen „Blöcke“ darstellte, dem lateinischen und dem angelsächsischen: „Le groupe latin, n’est en réalité, qu’une grande nation divisée en Etats, car ceux-ci ont presque tous la même origine, la même langue, la même religion, la même mentalité, le même idéal el les mêmes institutions politiques et juridi- ques.“ Alejandro Alvarez: Le Panaméricanisme et la Sixième Conférence Panaméricaine. Tenue à la Havane en 1928. Paris 1928, S. 31. Die Parallelen mit den kulturell so divergierenden USA ergäben sich laut Alvarez durch die Rolle Europas als Quelle der Referenzkulturen für beide Hälften der Hemisphäre. Vgl. Ebenda. Indigene Völker spielten bei Alvarez keine Rolle, der zu den Gemeinsam- keiten zwischen Nord und Süd auch die kürzere historische Vergangenheit als in Europa zählt. Solche Positionen waren für die panamerikanischen Konferenzen charakteris- tisch gewesen und wurden auch bis in die 1960er Jahre tradiert. Vgl. Lewis Hanke: Do the Americas Have a Common History? A Critique of the Bolton Theory. New York 1964. Thomas Fröschl meint in seinen Überlegungen zu einer Hemisphä- rengeschichte, dass erst der „Europabezug“ die Einheit der Amerikas ausmache. Vgl. Thomas Fröschl: Gibt es eine Geschichte der Amerikas? Versuch einer Antwort auf Herbert E. Bol- tons Vortrag „The Epic of Greater America“. In: Leo Truchlar (Hrsg.): One America – Many Americas. Erkundungen und Verortungen aus historischer, kultureller und literarischer Sicht. Wien 2004, S. 1-14, hier: S. 12. 77 Gerade das ungeschriebene Gesetz der solidarischen Haltung sollte 1928 gebrochen werden, um mit den USA kontroversiell über den Widerspruch zwischen einer Realpoli- tik der Interventionen und einer zivilisierungsmissionarischen Rhetorik zu dis- kutieren. Der vom Hauptdelegierten Charles Evans Hughes vorgebrachte seman- tische Kniff, die USA würden eingreifen (to interpose) und nicht intervenieren (to intervene), glättete die Wogen nicht. Ein Jahr später brach der neu gewähl- te Präsident Herbert Hoover zu einer good-will-tour nach Lateinamerika auf – was von Lateinamerikanisten als Auftakt zu einem Umdenken gewertet wurde. Erst die Weltwirtschaftskrise von 1929 und die steigende Bedrohung der Hemisphäre durch den Aufstieg europäischer Faschismen sollten die Panameri- kanische Bewegung stärker konsolidieren. Nationalistische Staaten und Präsi- dent Franklin D. Roosevelts Politik der Guten Nachbarschaft, die auf bilaterale Verträge mit Partnern statt auf Interventionen setzte, gab der Panamerikanischen Bewegung in den 1930er und 1940er Jahren neue Perspektiven. NORBERT FINZSCH 1. WILLIAM EDWARD BURGHARDT DU BOIS UND DIE “DOUBLE CONSCIOUSNESS” 1896 entschied der Oberste Gerichtshof der USA in einem berühmt geworde- nen Urteil im Fall Plessy vs. Ferguson, dass African Americans weißen Ameri- kanern nicht gleichgestellt seien und sicherte damit juristisch ein System der Apartheid ab, das bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein Bestand hatte. Der kommentierte Text von Plessy v. Ferguson findet sich in Bill Hayes: Landmarks: Historic U.S. Supreme Court Decisions. Los Angeles, CA 2007. Zur Bedeutung des Urteils Tim McNeese: Plessy v. Ferguson: Separate but Equal. New York 2007. Dieser Grundsatzentscheidung des höchsten amerikanischen Gerichts war die Etablierung einer Praxis vorausgegangen, die man in den USA als Jim Crowism bezeichnet und die die Entrechtung von Menschen afroamerikanischer Abstammung durchgesetzt hatte. Weder vor dem Straf- noch vor dem Zivilrecht genossen African Americans ab 1896 die Rechte von weißen Amerikanern. Am Arbeitsplatz wurden sie genauso diskriminiert wie beim Schulbesuch oder bei der Ausübung des Wahlrechts. Einschlägig Davison M. Douglas: Jim Crow Moves North: The Battle over Northern School Segregation, 1865-1954. New York 2005. Michael J. Klarman: From Jim Crow to Civil Rights: The Supreme Court and the Struggle for Racial Equality. Oxford, New York 2004. Sehr knapp dagegen Anne Wallace Sharp: A Dream Deferred: The Jim Crow Era. Detroit, MI 2005. Der schwarze Historiker, Soziologe und Gesell- schaftskritiker W. E. B. Du Bois veröffentlichte eine Unzahl von Büchern, Auf- sätzen, Gedichten, Romanen, Essays und Zeitungsartikeln, unter denen eine Arbeit hervorscheint und bis heute seinen Ruhm begründen würde, selbst wenn Du Bois außer diesem einen Buch nichts hinterlassen hätte. Die Rede ist von „The Souls of Black Folk“, das 1903, also wenige Jahre nach dem berüchtigten Urteil des Supreme Court, erschienen ist. In diesem Text, der auf wunderbare Weise zwischen einer politischen Kampfschrift, einer soziologischen Untersu- chung und einem poetischen Text zu schweben scheint, gibt es eine Passage, die immer wieder zitiert worden ist. Dieses Buch und dieses Zitat definierten die 300 Jahre währende Interaktion von Weißen und Schwarzen in Amerika. Du Bois anerkannte die Tatsache, dass die schwarze Bevölkerung auf Grund ihrer geringen politischen, ökonomischen und kulturellen Macht, eine soziale Revolution aus eigener Anstrengung heraus nicht organisieren konnte. Er glaubte an die Möglichkeit einer symbiotischen Beziehung zwischen Weiß und Schwarz in Nordamerika und er versuchte, auch seine weißen Leser über die spezifischen psychologischen und wirtschaftlichen Widersprüche aufzuklären, denen die African Americans unterworfen waren. Daher sollte „The Souls of Black Folk“ nicht nur ein Text sein, der von Schwar- zen gelesen werden sollte, sondern es sollte auch ein spiritueller Führer für Wei- ße sein, von denen die meisten keine Ahnung hatten, welchen realen Problemen Schwarze 1903 ausgesetzt waren. Stanley Brodwin: The Veil Transcended: Form and Meaning in W. E. B. DuBois' [sic] "The Souls of Black Folk". In: Journal of Black Studies. Bd. 2, H. 3, (1972), S. 303-321, S. 306. Es wurde zu einem bis heute wirksamen Be- zugspunkt für die Definition dessen, was Schwarzsein in Amerika bedeutet. Die- ses elektrisierende Manifest wirkte nicht nur innerhalb der USA, sondern beein- flusste auch Menschen auf dem afrikanischen Kontinent. Max Weber schlug 1906 eine Übersetzung ins Deutsche vor und bot sich, aus Heidelberg schreibend, an, die Einleitung dafür zu schreiben. David L. Lewis: W.E.B. DuBois [sic]. New York 1993, S. 277. „The colored people of the United States have no destiny separate from that of the nation of which they form an integral part [...] If we, born in America, cannot live upon the same soil in Zu diesem Buch gibt es eine umfangreiche Forschung, die ich hier nur aus- zugsweise anführen werde. Was ich zu zeigen versuche, ist die Bedeutung des Du Bois’schen Ansatzes für die weitere Definition dessen, was die afroamerika- nische Community unter Amerika verstand. Der Bezug auf Amerika, und auch das werde ich versuchen zu zeigen, ist im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr durch einen Bezug auf Afrika und Afrikanität ersetzt bzw. begleitet wor- den. Der Gang der Ereignisse und Texte wird deshalb von Du Bois weg und hin zu Ansätzen des afroamerikanischen Nationalismus führen, wie sie im frühen 20. Jahrhundert weit verbreitet waren und wie sie auch heute noch von afro- zentristischen Gruppen in und außerhalb der Akademie vertreten werden. 2. SCHWARZER NATIONALISMUS Der moderne Schwarze Nationalismus, eine Denkrichtung, die heute vor allem mit Namen wie Malcolm X oder Louis Farrakhan verbunden wird, ist eine Denkrichtung, die African Americans dazu auffordert, politische, wirtschaftliche und kulturelle Autonomie innerhalb der amerikanischen Gesellschaft zu verlan- gen und durchzusetzen. Sie ist eine Antwort sowohl auf den institutionalisierten als auch individuellen Rassismus der dominanten Gesellschaft und als solche so alt wie die Sklaverei selbst. Zum schwarzen Nationalismus rechnet man den Separatismus ( separatism , extrem in der Forderung nach einem eigenen afro- amerikanischen Staat auf dem Territorium der USA) ebenso wie die Tendenz, sich mit der - oft romantisch überhöhten - afrikanischen Herkunft zu identifizie- ren ( emigrationism ). Obwohl sich der schwarze Nationalismus im 19. Jahrhun- dert stark von dem des 20. Jahrhunderts unterscheidet und auch verschiedene Strömungen nebeneinander existierten, ist die treibende Kraft hinter allen For- men des schwarzen Nationalismus die racial solidarity , die Solidarität einer auf Grund fiktiver biologischer Differenz ausgegrenzten Gruppe, die sich auf die gleichen afrikanischen Vorfahren zurückführt. Die beste Einführung in den Black Nationalism sind die Anthologien von Moses und Van Deburg. Wilson Jeremiah Moses: Classical Black Nationalism from the American Revolution to Marcus Garvey. New York 1996. William L. Van Deburg: Modern Black Nationalism from Marcus Garvey to Louis Farrakhan. New York 1997. Du Bois’ Definition des doppelten Bewusstseins, der gespaltenen Identität, die die Existenz von African Americans als Amerikaner und Schwarze bestim- me, war indessen nicht vollständig neu. Du Bois hatte den Grundwiderspruch zwischen einer amerikanischen und einer afroame- rikanischen Identität schon 1897 formuliert, als er schrieb: „Am I an American or am I a Negro? Can I be both?” W.E.B. Du Bois: The Conversation of the Races [Web Page]. 1897, S. 11. Benutzt am 6. Juni 2007. URL: http://www.gutenberg.org/dirs/etext04/conra10.txt. the ground.” 8 Elemente des fundamentalen Wider- spruchs eines schwarzen Lebens in einem weißen Amerika finden sich bei älte- ren Texten. William Cooper Nell, von vielen als der erste schwarze Historiker in den USA bezeichnet, schrieb am Vorabend des Amerikanischen Bürgerkriegs: Während also sowohl William Cooper Nell als auch W.E.B. Du Bois sich mit der Frage beschäftigten, wie man zugleich Amerikaner und African American sein könne, den Widerspruch in der Existenz schwarzer Amerikaner in einer Synthese auflösen könne, die beides im dreifachen Hegelschen Sinne aufhöbe, schlugen zeitgleich afroamerikanische Aktivistinnen und Theoretikerinnen im- mer wieder Lösungen vor, die die Unmöglichkeit des „wahren Lebens im fal- schen“ betonten und für eine separatistische und möglicherweise auch gewalt- samen Lösung des Dilemmas optierten. Theodor Wiesengrund Adorno: Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Le- ben. Frankfurt a.M. 1951, S. 42. David Walker (1785-1830) veröffentlichte 1829 in Boston einen Aufruf, in dem er dem weißen Amerika den Kampf ansagte und zum gewaltsamen Auf- stand gegen die Sklaverei aufrief. David Walker: Walker's Appeal with a Brief Sketch of His Life. New York 1848. In seinem Aufruf schrieb Walker: „[…] Die Weißen haben uns durch die Sklaverei so elend gemacht, sie haben so viele Mil- lionen von uns ermordet, zwingen uns, für sie zu arbeiten. Sie sind Teufel, neh- men uns die Frauen, die wir so sehr lieben wie uns selbst, schießen uns vor Zeu- gen wie Bären nieder [...] Die Weißen wissen, dass, wenn wir Menschen sind, wir ihnen, angesichts dieser Behandlung, nur den Tod wünschen können.“ „Als den Menschen die Augen geöffnet wurden, hetzten sie ihre Mörder. Die Art und Weise, wie sie ihnen die Tyrannenhälse durchschnitten, war nicht schlechter als die Mörder [...] sie zuvor behandelt hatten, als sie sie in Elend und Erniedrigung geknechtet hatten.“ Walker, Walker's Appeal, S. 72, S. 83. Eine derartig deutliche Sprache, die obendrein von einer abolitionistischen Exegese der Bibel und den Zitaten aus der Unabhängigkeits- erklärung unterstützt wurde, musste bei Weißen im Süden und im Norden zu starken emotionalen Reaktionen führen. Dexter B. Gordon: Black Identity: Rhetoric, Ideology, and Nineteenth-Century Black Nationalism. Carbondale, IL 2003, S. 81-82. Nach der Veröffentlichung seines Appeal wurden im Süden Kopfgelder auf Walker ausgesetzt; seine Frau und sei- ne Freunde nötigten ihn, nach Kanada zu gehen, weil man seine Entführung be- fürchtete, doch Walker starb, bevor er das Land verlassen konnte. Der Verdacht, er sei von Agenten der „Sklavokratie” vergiftet worden, konnte nie bewiesen werden. 3. DER ETHIOPIANISM ALS EINE FRÜHE FORM DES BLACK NATIONALISM Ein weiterer Text aus der Frühzeit des afroamerikanischen Separatismus ist der militante Aufruf Robert Alexander Youngs mit dem Titel „The Ethiopian Manifesto, Issued in Defence of the Blackman's Rights, in the Scale of Univer- sal Freedom“, das ebenfalls im Jahre 1829 herauskam. Stark an der Sprache der Offenbarung des Johannes orientiert, sagte dieser Text den Untergang der Skla- verei und den Aufstieg der Afroamerikaner voraus, wobei sich der separatisti- sche Geist dieses Pamphlets schon in der Adressierung der Schwarzen als „Äthiopier“ manifestiert. Robert Alexander Young: The Egyptian Manifesto: Issued in Defence of the Black Man’s Rights in Scale of Universal Freedom, New York 1829, abgedruckt in Herbert Apthe- ker: A Documentary History of the Negro People in the United States. New York 1951, Bd. 1, S. 90-93. Als Webseite einsehbar unter American Egyptomania, URL: http://chnm.gmu.edu/egyptomania/sources.php?function=detail&articleid=11, gesehen am 24.9.2007. Aus dieser Bezeichnungspraxis erwuchs eine religiös-politische Strömung in- nerhalb der afroamerikanischen Bevölkerung, die man als Ethiopianism be- zeichnet. Der Ethiopianism stellt eine Richtung innerhalb des frühen schwarzen Nationalismus dar, die Wilson J. Moses als "[…] millennial Christianity of vari- ous sects and cults arising at the end of the nineteenth century" bezeichnet hat. Moses verweist auch auf die historischen Wurzeln dieses Phänomens, das auf das 18. Jahrhundert zurückgeht. Wilson Jeremiah Moses: Black Messiahs and Uncle Toms: Social and Literary Manipu- lations of a Religious Myth. University Park, PA 1993, S. 8. Äthiopien als historischer und religiöser Be- zugspunkt geht zurück auf den Psalm 68:31, der in der Luther-Übersetzung lau- tet „Die Fürsten aus Ägypten werden kommen; Mohrenland wird seine Hände ausstrecken zu Gott“ im englischen Text der King James-Bibel aber „Princes shall come out of Egypt; Ethiopia shall soon stretch out her hands unto God“. Dennis L. Durst: The Reverend John Berry Meachum (1789-1854) of St. Louis: Prophet and Entrepreneurial Black Educator in Historiographical Perspective. In: The North Star: A Journal of African American Religious History, Bd. 7, H. 2 (2004), S. 1-24, S. 8. Der erste ordinierte schwarze Pfarrer in Nordamerika war John Marrant, der seine Arbeit als Prediger 1755 in New York aufnahm. Später predigte er in Georgia. John Marrant: A Narrative of the Lord's Wonderful Dealings with John Marrant, a Black, (Now Going to Preach the Gospel in Nova-Scotia) Born in New-York, in North- America. London 1785. 1789 hielt er eine Predigt, in der er die kulturelle und spirituelle Be- deutung Afrikas hervorhob. Schon in dieser Predigt mit dem programmatischen Titel „You Stand on the Level with the Greatest Kings on Earth“ scheint das Thema des Ethiopianism auf. Robert J. Branham; Philip S. Foner: Lift Every Voice: African American Oratory, 1787- 1900. Tuscaloosa, AL 1998, S. 27-38. Ein weiterer schwarzer Theologe, der ehemalige Sklave Absalom Jones wurde erster schwarzer Pfarrer einer Episcopal Church in den USA. 1788 gründete er die Free African Society, eine religiöse Gemein- schaft, in Philadelphia. 1808, dem Jahr der Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels, hielt er eine berühmt gewordene Predigt mit dem Titel “On Account of the Abolition of the African Slave Trade." Ebenda, S. 73-79. In dieser Predigt entwi- ckelte Jones unter Berufung auf Exodus, dem zweiten Buch Mose, die Parallele zwischen der Sklaverei und der Gefangenschaft Israels in Ägypten und Babylon. So wie Gott intervenierte, um die Juden aus der Gefangenschaft zu befreien, so würde er es auch im Falle der Sklavinnen und Sklaven tun. Exodus 3:7, 8 “And the Lord said, I have surely seen the affliction of my people which are in Egypt, and have heard their cry by reason of their task-masters; for I know their sor- rows; and I am come down to deliver them out of the hand of the Egyptians.” William Hamilton, einer der Anführer der afroamerikanischen Gemeinde in New York, hielt 1815, anlässlich des siebten Jahrestags der Abschaffung des afrikanischen Sklavenhandels eine Rede in der Episcopal Asbury African Church auf der Elizabeth Street in New York. Auch er erwähnte die große histo- rische Leistung Afrikas vor dem Beginn des Sklavenhandels und beschrieb den Kontinent Afrika als ein friedliches und idyllisches Land: „The country of our forefathers might truly be called paradise, or the seat of ease and pleasure.“ Branham, Foner, Lift Every Voice, S. 81. Weiterhin: “Africa, thou first fair garden of God's planting, thou once delightful field and original nursery for all those delicious fruits, tasteful herbage, and fragrant plants, that man highly prises, thou tract of earth over which the blest luminary, the sun, delights to make his daily splendid pass, thou spot of earth, where fair science first descended and the arts first began to bud and grow; how art thou chang'd and fallen.” Ebenda, S. 93. Aus Afrika, so argumentierte er, stammten die feinen Künste und die Wissen- schaften, vor allem aus Ägypten, dem Ursprung aller afrikanischen und asiati- schen Völker. Wir können also sehen, dass schon vor dem Bürgerkrieg der theo- logische Bezug auf Afrika als besserem Ort, als christliche Utopie und als Platz, in dem Gott die Befreiung der Sklaven bestimmte entwickelt ist und W.E.B. Du Bois Beharren auf der Doppelnatur des schwarzen Bewusstseins als Amerikaner und als Afrikaner hier seine Vorläufer hat. Ebenfalls vor dem Bürgerkrieg wurde das Thema Äthiopien von African Americans benutzt, um Kritik am europäischen Kolonialismus in Afrika zu üben, wenn auch im gleichen Atemzug gefordert wurde, Afrika müsse durch schwarze Missionare christianisiert werden. Norbert Finzsch: Die Kolonisierungsbewegung von African Americans in Liberia bis zum amerikanischen Bürgerkrieg, 1816-1866. in: Laurence Marfaing und Brigitte Reinwald, Brigitte (Hrsg.): Afrikanische Beziehungen, Netzwerke und Räume. Münster, Hamburg, Ber- lin 2001, S. 39-59. Es blieb nicht bei einer rein reli- giösen Bewegung, denn schon in den 1820er Jahren etablierte sich eine Organi- sation, die die Remigration von African Americans nach Westafrika aktiv be- trieb und dort einen schwarzen Staat gründete. 4. EXODUS Im Jahre 1820 hatte die American Colonization Society eine Finanzspritze vom Kongress der Vereinigten Staaten erhalten und ging daran, ihre eigene Ko- lonie mit Namen Liberia zu gründen. Pfarrer Daniel Coker, einer der prominen- testen schwarzen Führer seiner Zeit, führte die ersten 86 afroamerikanischen Siedler nach Westafrika. Daniel Coker: Journal of Daniel Coker, a Descendant of Africa, from the Time of Lea- ving New York, in the Ship Elizabeth, Capt. Sebor, on a Voyage for Sherbro, in Africa, in Company with Three Agents, and about Ninety Persons of Colour. Baltimore, MD 1820. “Open your eyes and look within: Vor allem in den Staaten des oberen Südens, also in Virginia und Maryland, genossen die Kolonisierungspläne der ACS große Un- terstützung. Hier waren die Entfaltungsmöglichkeiten für freie Schwarze inzwi- schen so stark eingeschränkt, dass die Auswanderung als eine Alternative er- schien. Obendrein waren einige Sklavenbesitzer bereit, ihre Sklaven zu befreien, wenn sie ihrerseits einwilligten, das Land zu verlassen. Einige African Ameri- cans aus Richmond, Virginia, waren Teil einer weiteren Gruppe, die das Land 1821 in Richtung Liberia verließ. Unter ihnen war Lott Cary, ein ehemaliger Sklave, der seine Freiheit gekauft hatte. Seine Auswanderung wurde von der First Baptist Church in Richmond unterstützt, eine Gemeinde von Weißen und Schwarzen, die ihn als christlichen Missionar nach Afrika entsandte. Wie viele der Siedler hatte Cary ein ganzes Bündel von Gründen, wegen denen er die USA verlassen wollte. „I am an African“, erklärte er und brachte so zum Ausdruck, dass er wieder Anschluss an die Kultur seiner Vorfahren herstellen wollte. Seine Begabung sollte sich entfalten können ohne die Beschränkungen, die schwarzen Amerikanern in den USA auferlegt wurden. Für in Afrika geborene Ex-Sklaven bot die Remigration die Gelegenheit, Verwandte und Freunde wiederzufinden, die sie vor vielen Jahren hatten zurücklassen müssen. Boston Crummel, ein in der Gegend um Sierra Leone geborener Sklave, der in New York gelebt hatte, wollte nach Afrika zurückkehren, aber seine auf Long Island geborene Frau war sehr viel skeptischer, was die Migration nach Afrika und die American Coloni- zation Society anging. Diese Haltung war und blieb typisch für African Ameri- cans im Norden. Die Referenz auf Äthiopien wurde zwar weiterhin von Theolo- gen und Aktivisten wie Alexander Crummell benutzt, um die Kolonisierungs- pläne zu propagieren, doch war die Auswanderung aus den USA für die Mehr- heit der freien Schwarzen vor dem Bürgerkrieg keine akzeptable Lösung. Durst: The Reverend John Berry Meachum, S. 8-9. W. E. B. Du Bois: The Souls of Black Folk. New York 1994, S. 165-174. Bei- nahe wichtiger noch als der Ethiopianism wurde das Exodus-Motiv aus dem Alten Testament, die Befreiung Israels aus der ägyptischen oder babylonischen Gefangenschaft. Eddie S. Glaude und andere Historiker haben zu Recht darauf hingewiesen, dass das Exodus-Thema extrem wichtig für die Formierung einer gemeinsamen Gruppenidentität der African Americans war. “Nation language emerged in African American political discourse as a synonym for peoplehood [sic], a way of grounding solidaristic efforts in an understanding of America’s racial, hegemonic order.” Eddie S. Glaude: Exodus! Religion, Race, and Nation in Early Nineteenth-Century Black America. Chicago, IL 2000, S. 54. Im Gegensatz zu den Puritanern, die Amerika als „gelobtes Land“ verstanden hatten, sahen Afri- can Americans die USA als eine Gesellschaft, die von gierigen Pharaonen ge- lenkt wurde. Da Israel aber befreit wurde, kam diesem Vergleich der Charakter eine prophetischen Sozialkritik zu, deren rhetorische Kraft man kaum unter- schätzen kann und das bis heute in afrozentristischen Texten und Lieder fortlebt, so in Bob Marleys 1977 erschienener Schallplatte „Exodus“, in der es in Anleh- nung an das biblische Thema des Auszugs aus Babylon heißt: Die Gesänge der Sklaven, genauso wie später Bob Marleys Songs, enthielten eine duale Botschaft, denn zum einen wurde sich auf Kanaan als das gelobte Land bezogen, das mit dem Himmel gleichgesetzt wurde, andererseits konnte der Exodus auch in ein reales Land erfolgen, entweder in den sklavenfreien Norden oder in das gelobte Land Afrika. Das Äthiopienthema und das Exodus- thema ergänzten sich hervorragend, weil beiden die Möglichkeit der Zusammen- führung in einer utopischen Landschaft innewohnte. Ägypten und Äthiopien – da waren sich alle Zeitgenossen einig – verwiesen in einer metonymischen Verschiebung auf Afrika. In einer mythischen Geographie wurden beide alte Kulturen als Beispiele für eine ruhmreiche afrikanische Vergangenheit und Zu- kunft gesehen, die es jederzeit mit den Vorläuferkulturen der Weißen, Rom und antikes Griechenland, aufnehmen konnte. Albert J. Raboteau: Fire in the Bones: Reflections on African-American Religious Histo- ry. Boston, MA 1995, S. 42-43. Wenige Zeitgenossen konnten damals ahnen, dass es eine Zeit geben würde, wo genau die whiteness der greco-römischen Kulturen in Zweifel gezogen würden. Siehe Jacques Berlinerblau: Heresy in the University: The Black Athena Controversy and the Responsibilities of American Intellectuals. New Brunswick, NJ 1999. Martin Bernal: Black Athena: The Afroasiatic Roots of Classical Civilization. New Brunswick, NJ 1987. Martin Bernal und David Chioni Moore: Black Athena Writes Back: Martin Bernal Responds to His Critics. Durham, NC 2001. 1879 kam es im Süden der USA zu einem Aufmerksamkeit erregenden Ereig- nis: Tausende von African Americans verließen den Süden der USA und ver- suchten, sich in Kansas niederzulassen. Diese Gruppe, die bald den Namen „Exodusters“ erhielt, verließ den Süden fluchtartig, ja beinahe panisch. Der An- führer dieser Gruppe war der afroamerikanische Nationalist Benjamin „Papp“ Singleton, aber motiviert wurden die Exodusters durch den Abzug der Bundes- truppen aus dem Süden im Jahre 1877, zwölf Jahre nach dem Ende des Bürger- kriegs. Damit überließ der Norden dem Süden wieder die politische und ökono- mische Macht, was ein Ende der offiziellen Rekonstruktionspolitik und die Einführung rassistischer Diskriminierung in den ehemaligen Sklavenstaaten be- deutete. Das Gerücht von der unmittelbar bevorstehenden Wiedereinführung der Sklaverei war der unmittelbare Auslöser für die Migration der African Ameri- cans gewesen. Auslöser dieses Gerüchts war die Einberufung einer Verfassung gebenden Versammlung in Louisiana im Frühjahr 1879. Viele weiße Bürger Louisianas erwarteten als Ergebnis der neuen Verfassung Gesetze, die den schwarzen Bewohnern des Staates das Wahlrecht entziehen und ihre Bewe- gungsfreiheit einschränken sollten. Nell Irvin Painter: Millenarian Aspects of the Exodus to Kansas of 1879. In: Journal of Social History, Bd. 9, H. 3 (1976), S. 331-338, S. 335. Hinzu kamen die Präsidentschaftswahlen des Jahres 1880, die auch nichts Gutes verhießen. Kansas wurde zum Ziel ihrer Fluchtlinie, weil dies das Land von John Brown gewesen war, jenem von der Bibel inspirierten radikalen Abolitionisten, der 1859 das Arsenal der US-Armee in Harper’s Ferry überfallen hatte, um einen allgemeinen Sklavenaufstand anzu- zetteln. Zudem hatte der Staat Kansas eine tolerantere Haltung gegenüber Schwarzen als andere Staaten der USA. Wenig bekannt ist, dass auch Exodusters als eine apokalyptisch-religiöse Be- wegung verstanden werden können – und müssen. Painter: Millenarian, S. 331 widerspricht hier Cohn in Sylvia L. Thrupp: Millennial Dreams in Action. The Hague 1962, S. 31. “[M]any industrious colored men tell me that the reason why they have never bought homes [in Texas] is because they have believed since their emancipation some general movement would eventually be made to take them out of the South. All freedmen seem to be imbued with the idea that God has foreordained that they shall be made a great people whereby He will manifest to all Nations His great power“. Der Texaner S.A. Hackworth an den Gouverneur von Kansas, John Pierce St. John, am 11. August 1879, in: Painter: Millenarian Aspects, S. 333. Auch wenn der Exodus aus dem Süden nicht als primär religiöse Bewegung verstanden worden ist, so sind doch enge Analogien zu religiösen Bewegungen unübersehbar. Die Sklaverei nahm den gleichen Stellenwert ein, wie die ewige Verdammnis, Freiheit bedeu- tete Errettung. Schon der Name Exodus mahnt an das alte Testament und an den Auszug der versklavten Juden aus Ägypten, wie er im zweiten Buch Mose be- schrieben ist. „We’s like the chilun of Israel when dey was led from out o’ bondage by Moses“, bekannte ein Exoduster in St. Louis. Painter: Millenarian Aspects, S. 333. Ein weißer Republi- kaner beschrieb das religiös motivierte Grundvertrauen der Exodusters: Dieser Exodus war in gleicher Weise eine Flucht wie eine Bewegung zur Er- lösung, denn für das Leben in Kansas wurden keine Pläne gemacht. Diese Ret- tung war also eine vollständige. Das Kansas-Fieber erreichte seinen Höhepunkt im März 1879. Viele Migranten und Migrantinnen erreichten St. Louis über den Mississippi auf Dampfschiffen, aber dann wussten sie nicht weiter. Konkrete Pläne, wie sie von St. Louis ins knapp 400 Meilen entfernte Kansas kommen sollten, hatten sie nicht gemacht. Zudem wurde es immer schwieriger, noch Schiffe aufzutreiben, die an den Landestegen auch anhielten, um schwarze Pas- sagiere aufzunehmen. Die Kapitäne der Schiffe waren von den Großgrundbesit- zern aufgefordert worden, keine afroamerikanischen Passagiere nach St. Louis mehr an Bord zu nehmen. Es sah so aus, als ob der Pharao seine Sklaven nicht gehen lassen wollte. Ebenda, S. 332. den Hintergrund. 33 Die Migrantenfamilien nahmen an, die Bundesregierung würde sich ihrer annehmen und sie mit Transportmitteln, Werkzeugen und Land ausstatten. Aber anders als die Kinder Israels hatten die Exodusters keinen mächtigen Führer. Das Kansas-Fieber endete so abrupt wie es begonnen hatte. Ab 1880 waren kaum noch African Americans auf dem Weg ins Gelobte Land. Stattdessen orientierten sie sich in der sogenannten Great Migration zwischen 1880 und 1930 auf die Großstädte im Osten und Nordosten der USA, wo in Harlem und Chicago Ghettos entstanden, die sie aufnahmen. 5. MARCUS GARVEY UND DER MODERNE SCHWARZE NATIONALISMUS Die Frage, wer der erste schwarze Nationalist der USA gewesen ist, wird in der Forschung unterschiedlich beantwortet. Victor Ullman sieht Martin R. Delany als den Begründer des schwarzen Nationalismus, während Sterling Stuckey Walker als den Begründer der afrozentristischen Bewegung sieht. Kwame Anthony Appiah hingegen sieht die Quadriga Alexander Crummell, Edward W. Blyden, Africanus Horton und Martin Delany als Individuen an, die den Titel 'Father of Pan-Africanism' beanspruchen könnten. Victor Ullman: Martin R. Delany: The Beginnings of Black Nationalism. Boston, MA 1971. Sterling Stuckey: Slave Culture: Nationalist Theory and the Foundations of Black Ame- rica. New York 1987, S. 120-121. Anthony Appiah: In My Father's House: Africa in the Phi- losophy of Culture. New York 1992, S. 21. Gordon: Black Identity, S. 78. Wenn auch alle diese Männer – und es sind ausnahmslos Männer, die die afrozentristische Ideo- logie formulierten – alle vor Du Bois aktiv waren, so nimmt die Attraktivität des Black Nationalism erst nach der Veröffentlichung von „Souls of Black Folk“ wirklich zu. Der Grund dafür liegt in der Bedeutung des Amerikanischen Bür- gerkriegs für die schwarze Bürgerrechtsbewegung. Während des Kriegs und der ersten Jahrzehnte nach dieser „zweiten Amerikanischen Revolution“ konzent- rierten sich afroamerikanische Intellektuelle und Autoren auf die Verbesserung der Lebenssituation der Schwarzen in den USA selbst. Für einen kurzen Mo- ment sah es so aus, als könnte das System des Rassismus in den USA auch durch die Zusammenarbeit mit aufgeschlossenen Weißen gekippt werden. Pro- minente Befürworter einer Auswanderung nach Afrika kehrten aus Liberia zu- rück und engagierten sich in der politischen Arbeit in den Vereinigten Staaten. Wie die Historikerin Katja Füllberg-Stolberg einleuchtend ausführt, trat Afrika während des Bürgerkriegs und der folgenden Rekonstruktionsphase merklich in Den Beginn des modernen Black Nationalism verlegt William L. Van Deburg auf das Erscheinen von Marcus Garvey in den USA, der ja nicht zufällig aus ei- nem Teil der Americas kam, in dem die Abschaffung der Sklaverei schon vor 1865 vollzogen worden war. Als der junge schwarze Schriftsteller Richard Wright 1927 aus dem ländlichen Süden nach Chicago ging, fand in der Stadt nicht nur bessere wirtschaftliche Möglichkeiten vor als im Süden, er entdeckte auch eine ausgesprochen kontroverse politische Organisation, die seine Vorstel- lungen von schwarzer Kultur nachhaltig beeinflusste, die Universal Negro Im- provement Association (UNIA). Der schwarze Nationalist Marcus Moziah Gar- vey aus Jamaika hatte die Organisation gegründet. Er selbst war in die USA gekommen und hatte die Organisation hier vor dem Ersten Weltkrieg etabliert. Nach seiner Ankunft in New York im Frühjahr 1916 hatte Garvey sein Haupt- quartier in der kulturellen Hauptstadt des schwarzen Amerika, in New Yorks Stadtteil Harlem, aufgeschlagen und war anschließend zu einer Reise durch 38 Staaten der USA aufgebrochen, um sich vor Ort ein Bild von der Lage der Afri- can Americans zu machen und mit den Repräsentanten der schwarzen Amerika- ner zu reden. Auf seinen Reisen gewann Garvey die Überzeugung, „dass die Führer [der schwarzen Gemeinschaft] kein Programm [für die Verbesserung der Bedingungen von African Americans ] hatten, sondern reine Opportunisten, die von ihrer sogenannten Führung profitierten, während die Armen in der Dunkel- heit umhertappten.“ Edmund David Cronon: Black Moses: The Story of Marcus Garvey and the Universal Negro Improvement Association. Madison, WI 1969, S. 41. Mit dieser Kritik meinte er vor allem die integrierte Bür- gerrechtsbewegung NAACP, der er wie anderen Organisationen vorwarf, sich zu sehr auf die Zusammenarbeit mit weißen Organisationen und Reformern zu verlassen. Er verurteilte hellhäutige African Americans als das „Mulatto Estab- lishment” und attackierte besonders Du Bois, den er „schlicht und einfach einen Neger der Weißen [white man's nigger]” schimpfte. Die UNIA hatte 1920 weltweit rund eine Million Mitglieder und war in den USA so weit konsolidiert, dass Garvey eine Parade von 50.000 African Ameri- cans durch die Straßen New Yorks führen konnte und im Madison Square Gar- den den Bundeskongress seiner Organisation mit 25.000 Delegierten einberufen konnte. Die UNIA gab ab 1933 eine Zeitschrift „The Black Man: A Monthly Magazine of Negro Thought and Opinion” heraus, die in Kingston und in London verlegt wurde. Bei der UNIA handelte es sich um eine internationale Massenorgani- sation, die die Form einer Aktiengesellschaft hatte und Unternehmen aller Art besaß. Am wichtigsten war die Reederei The Black Star Line und die Zeitung Negro World , aber daneben gab es Einzelhandelsgeschäfte, Hotels, Restaurants, Wäschereien und kleinere Fabriken, die von der UNIA betrieben wurden. Die UNIA war einerseits ein beeindruckendes Wirtschaftsunternehmen und eine schwarze politische Bewegung zur Förderung der schwarzen Kultur in einem, andererseits war das Reedergeschäft der Black Star Line eine gigantische Fehl- unternehmung. Die meisten der Schiffe, die die Linie erwarb, waren kaum seetüchtig zu nennen und et- liche mussten aufgegeben oder auf Auktionen versteigert werden. Moses (1996): 241. Auf dem Programm der Organisation stand vor allem die För- derung des Selbstbewusstseins der African Americans als Afrikaner. Die häufig anzutreffende Meinung, Marcus Garvey habe Millionen von African Americans wieder in Afrika ansiedeln wollen, entspringt einem Missverständnis. Für Garvey war Afrika die Heimat der Vorfahren und die kulturelle Grundlage für Menschen afrikanischer Abstammung. Sein politisches Ziel war es vor allem, Afrika vom europäischen Kolonialismus zu befreien und politisch zu einigen. Die Wiege der Zivilisation sei Afrika, der weiße Mann habe sich Afrika und sei- ne Kultur angeeignet und sie ausgebeutet. „Wenn der Weiße fertig damit ist, den Neger zu missbrauchen, wenn er seine fünf Sinne wieder beisammen hat, dann wird er erkennen, dass er alles, was er heute besitzt, dem Neger verdankt. Der Neger gab ihm die Naturwissenschaften, die Kunst, die Literatur und alles, was [dem Weißen] heute lieb und teuer ist. Der Weiße hat diese Dinge für Tausende von Jahren besessen und er hat die Welt ausgebeutet.” Moses: Classical Black Nationalism, S. 243. Die radikale Sozialkritik, die kämpferische Rhetorik und der explizite Protest gegen die Lebensbedingungen der marginalisierten Schwarzen unterstrichen die Unabhängigkeit der UNIA von eher reformerisch eingestellten Gruppen wie der National Urban League und der NAACP. Garvey war ein Führer mit Charisma, der in seinen Reden das System der Diskriminierung und der Gewalt gegen Afri- can Americans attackierte und dazu aufrief, sich durch weiße Rassenphantasien nicht einengen und ausschließen zu lassen. Zur Bespitzelung durch das FBI siehe Federal Bureau of Investigation: Marcus Garvey, FBI Investigation File. Wilmington, DE 1978 (Mikrofilm). Garvey ermunterte schwarze Ame- rikaner, sich mit dem Status Quo nicht abzufinden und propagierte dabei die Idee eines Heimatlandes in Afrika, in dem African Americans , unbeschadet von Rassismus und Ausbeutung, würden siedeln können. Marcus Garvey und Amy Jacques Garvey: Philosophy and Opinions of Marcus Garvey or, Africa for the Africans. London 1967. Marcus Garvey et al.: More Philosophy and Opini- ons of Marcus Garvey. London, Totowa, NJ 1977. Marcus Garvey und Tony Martin: Message to the People: The Course of African Philosophy. Dover, MA 1986. „Wenn Europa für die Europäer da ist, dann soll Afrika für die schwarzen Völker der Erde da sein. Wir sagen und wir meinen es: Auf Du mächtige Rasse, was Du willst, kannst Du auch erreichen [!]” 40 Der Erfolg der Bewegung um Garvey hatte viel damit zu tun, dass seit dem Beginn der Abolitionsbewegung und vermehrt nach dem unrühmlichen Ende der Reconstruction 1896 African Americans immer wieder darüber nachgedacht hat- ten, ob sie nicht menschenwürdiger würden leben können, wenn sie den Verei- nigten Staaten den Rücken kehrten. Amerika schien ihnen keine Zukunft bieten zu können. Afrika war die Heimat ihrer Vorfahren und in ihm wollten sie die Freiheit finden, die ihnen in den Vereinigten Staaten versagt wurde. Wie schon in Verbindung mit den anderen Rückwanderungsbewegungen nach Afrika galt auch diesmal, dass nicht alle African Americans daran glaubten, dass sie ihre Freiheit in Afrika und durch Afrika finden würden. Richard Wright war einer unter ihnen. Etwa zur gleichen Zeit als Wright in Chicago eintraf, wurde Garvey wegen Betrugs angeklagt und verurteilt. Das Bundesgesetz, ge- gen das er verstoßen hatte, untersagte den Verkauf von Aktien für ein Schiff der Black Star Line auf dem Postwege. United States. Congress. House. Committee on the Judiciary, and Subcommittee on Criminal Justice: Mail Fraud Charges against Marcus Garvey: Hearing before the Subcom- 164 Norbert Finzsch hen.” 42 1923 trat Garvey eine Haftstrafe an und wurde 1927 aus den USA deportiert. Trotz dieses Vorkommnisses glaubte ein erheblicher Teil der amerikanischen Schwarzen weiter an ihn und seine Anhän- ger unterhielten eine sehr aktive Organisation in Chicago. Wright nahm Garvey und seine Gefolgsleute als „romantische Rebellen, Träger unmöglicher Träume“ wahr und er misstraute der gesamten Bewegung, die einen schwarzen Nationa- lismus propagierte, nachdrücklich. „Schwarze sind Menschen des Westens und werden dies für immer sein, bis sie mit dem Westen verschmelzen oder verge- 6. DU BOIS, GARVEY UND DIE HARLEM RENAISSANCE Auch W. E. B. Du Bois konnte sich mit Garveys Variante des schwarzen Na- tionalismus nicht anfreunden. Du Bois nannte Garvey einen ungebildeten De- magogen und einen Betrüger und verurteilte das Garvey'sche Projekt als naiv und fehlgeleitet, denn es habe die African Americans eine Million Dollar gekos- tet. Seine Beschreibung eines UNIA-Treffens offenbart seine Geringschätzung Garveys, den er letztlich für einen Spinner hielt: „Es war am zehnten August, mitten in Harlem auf der Insel Manhattan, wo hunderttausend Neger leben. Das Ganze fand statt in einem langen niedrigen und halbfertigen Kirchenkeller, über den ein Dach gebaut worden war. Ein kleiner, fetter Mann, hässlich, aber mit intelligenten Augen und einem großen Kopf, saß auf einem Bretterpodium neben einem ‘Thron’, bekleidet mit einer grellen Phantasieuniform des viktoria- nischen Zeitalters, dicht mit Gold bestickt, Epauletten, Federhut und Degen. Neben ihm die ‘Potentaten’ und vor ihm knieten eine Reihe von mehreren farbi- gen Herren. Diese wurden in der Gegenwart von rund tausend Zuschauern wür- devoll als Ritter und Herzöge von Uganda und Niger ‘zum Ritter geschlagen’ oder ‘in den Adel erhoben’.“ Gilberto Freyre: Casa-grande e senzala : formação da familia Brasileira sob o regime de economía patriarcal. 6. Aufl. Rio de Janeiro 1950. Du Bois unterstellte Garvey, er habe Zulauf be- kommen durch Slogans wie „Gebt auf, resigniert! Der Kampf ist umsonst. Auf nach Afrika und kämpft gegen die Welt der Weißen.“ Für Du Bois war dies eine politische Falle, in die die schwarze Bürgerrechtsbewegung hätte tappen kön- nen, was aber zum Glück - so Du Bois - nicht passierte. Ebenda, S. 274. Garvey schätzte den Stimmungswandel und den Umschwung des Bewusst- seins unter African Americans in den Zwanziger Jahren richtig ein. Seine Ideo- logie richtete sich an die schwarzen Massen (im Gegensatz zur schwarzen Elite, die Du Bois erreichen wollte) und er ermunterte sie dazu, stolz auf ihre „Rasse” und ihre Afrikanität zu sein. Seine größte Popularität hatte er unter den weniger gebildeten Arbeitern der Städte im Norden. Seine Bewegung profitierte von der sogenannten Great Migration , jener demographischen Verschiebung, die Hun- derttausende von African Americans in die Städte des Nordens gebracht und so zu einer Konzentration von African Americans geführt hatte, die über Geld ver- fügten, um Anteile an seiner Aktiengesellschaft zu kaufen. Davarian L. Baldwin: Chicago's New Negroes: Modernity, the Great Migration, and Black Urban Life. Chapel Hill, NC 2007. Monica Halpern: The Great Migration: African Americans Move to the North, 1915-1930. Washington, DC 2002. Milton C. Sernett: Bound for the Promised Land: African American Religion and the Great Migration. Durham, NC 1997. Seine militante Sprache tat ein Übriges, um die städtische Arbeiterklasse zu mobilisieren, die ihre zunehmende Kraft selbst wahrnahm und ihr Klassenbewusstsein in „Ras- senbewusstsein“ ummünzte. Die United Negro Improvement Association Gar- veys war aber nur eine Facette des wachsenden „Rassenbewusstseins” und der Kulturrevolution der African Americans in den Zwanziger Jahren. Ein anderer Ausdruck des Stolzes darauf, schwarz zu sein, lag in der hohen Produktivität afroamerikanischer Künstler, Autoren und Musiker vor allem in den städtischen Zentren des Nordens, die in den USA und in Europa für Aufsehen sorgten. Ob- wohl diese künstlerische Produktivität ein Phänomen war, das sich in vielen Städten des Nordens beobachten ließ, leitete es seinen Namen von der dynami- schen Gemeinschaft von African Americans in New York City ab und hieß die Harlem Renaissance . Die Harlem, Renaissance als Künstlerbewegung wies den gleichen Doppel- charakter auf, den Du Bois schon in der Seele der Schwarzen herausgefiltert hat- te. Teilweise abhängig von weißen Geldgebern, die in der schwarzen Kunst den exotischen „Primitivismus“ Afrikas entdecken wollten, konnten sich afroameri- kanische Künstlerinnen und Künstler wie Langston Hughes, Zora Neale Hurston und Louise Thompson nur schwer dem Drängen dieser Mäzene entziehen, sich in ihren Werken auf Afrika zu beziehen. Langston Hughes konnte nur unter Schwierigkeiten einen eigenen Weg finden und erinnerte sich: „"I did not feel the rhythms of the primitive surging through me, and so I could not live and write as though I did. I was only an American Negron – who had loved the sur- face of Africa and the rhythms of Africa – but I was not Africa. I was Chicago and Kansas City and Broadway and Harlem." Langston Hughes: The Big Sea: An Autobiography. New York 1940, S. 325, zitiert in Victor A. Kramer und Robert A. Russ: The Harlem Renaissance Re-Examined. Troy, NY 1997, S. 71. Der anhaltende Rassismus der weißen Leserschaft, der sich nur mühsam als Exotismus tarnte, war einer der Gründe, warum die Harlem Renaissance sich eher an Amerika als an Afrika ori- entierte und die Verwurzeltheit afroamerikanischer Kultur in der allgemeinen amerikanischen Kultur betonte. Dennoch behielt Afrika im Schreiben der Frauen und Männer aus dem Umfeld der Harlem Renaissance einen prominenten Platz. Der Historiker Nathan Irving Huggins hat dies schon 1971 schön zusammenge- fasst, als er schrieb: „America and Americans were provincials. That was the problem. Black men as well as white men were forced through condition and education to look elsewhere for the springs of civilization and culture […] So black men yearned as American provincials, to find meaning and identity in Af- rica; their frustration was a measure of their Americanization." Nathan Irvin Huggins: Harlem Renaissance. New York 1971, S. 82-83. Die Harlem Renaissance and der afroamerikanische Nationalismus Garveys rieben sich an- einander, denn obwohl Garvey großen Einfluss unter den Massen hatte, beachte- ten ihn die Mitglieder der Harlem Renaissance kaum. Zum einen hatte der Gar- veyismus in der Mitte der zwanziger Jahre schon an Anziehungskraft verloren, weil Vorwürfe von schlechtem Management und finanzieller Machenschaften gegen Garvey im Raum standen. Garvey wurde in dieser Zeit von den Bohe- miens der Harlem Renaissance zunehmend als intolerant und kleingeistig emp- funden, da er verstärkt nach afroamerikanischer Propaganda- oder Tendenzlite- ratur verlangte. Immer mehr Mitglieder der Harlem Renaissance distanzierten sich von ihm. Cary D. Wintz: Black Culture and the Harlem Renaissance. Houston, TX 1988, S. 151. 49 George Samuel Schuyler: The Negro-Art Hokum. In: The Nation, 16. Juni 1926, Bd. 121, H. 3180, S. 662-663. Hinzu kamen große Unterschiede in Bildung und Kultur. Die schwarze Intelligenz nahm Garvey seine operettenhaften Auftritte übel und hatte auch wenig Verständnis für die westindische Kultur, aus der die Garveybewe- gung stammte. Die Auseinandersetzungen um die Frage, ob African Americans Amerikaner oder Afrikaner seien, nahm rasch leidenschaftliche Züge an. Der konservative Schriftsteller und Journalist George S. Schuyler (1895-1977) veröffentlichte 1926 einen polemischen Artikel mit dem Titel „The Negro-Art Hokum“, in der er argumentierte, dass African Americans „merely [...] lampblacked Anglo- Saxons“ seien und deshalb sollten sie Kunst in der europäischen und amerikani- schen Tradition schaffen, in der ihr Bewusstsein wurzele. Heriberto Yepez: A.B.U.R.T.O., S. 209-213 Schuyler bestand darauf, dass Klassenzugehörigkeit und regionale Geographie für das Entstehen einer Kultur wichtiger seien als Rasse und stellte sich damit in das Lager der Konstruktivisten, die „Rasse“ als wissenschaftliche Kategorie rundherum ab- lehnten. J. Martin Favor: Authentic Blackness: The Folk in the New Negro Renaissance. Durham NC 1999, S. 121. Mit „Black No More“ legte dieser Kritiker des afrikanischen Nationa- lismus 1931 einen satirischen Roman vor, der das Ende der Harlem Renaissance einläutete. Für ihn bedeutete „Rasse“ nicht mehr und nicht weniger als „Kultur“ im Sinne eines erlernten Vorrats an Zeichen und Praktiken. Jede essentialisti- sche Bestimmung von Rasse fehlte in diesem Buch und damit war auch die Idee einer gemeinsamen afrikanischen Kultur auf der Basis einer gemeinsamen rassi- schen Identität für ihn Mumpitz, oder „Hokum“, wie er es ausdrückte. George Samuel Schuyler: Black No More: Being an Account of the Strange and Won- derful Workings of Science in the Land of the Free, A. D. 1933-1940. New York 1931. Favor: Authentic Blackness, S. 114. Jane Kuenz: American Racial Discourse, 1900-1930: Schuyler's "Black No More". In: NOVEL: A Forum on Fiction, Bd. 30, H. 2 (1997), S. 170-192. Interessanterweise verschob sich das Verhältnis von W.E.B. Du Bois zum African Nationalism während der Niedergangsphase der UNIA und der Harlem Renaissance. Zwischen 1919 und 1927 organisierte Du Bois vier Panafrikani- sche Kongresse, 1919 in Paris, 1921 in London, Brüssel und Paris, 1923 in Lon- don und Lissabon und 1927 in New York. Hier trafen sich afrikanische Politiker und Kulturschaffende, um gemeinsame anti-koloniale Positionen zu bestimmen und so Druck auf die Kolonialmächte auszuüben. Dabei trug Du Bois’ antiras- sistischer Antiimperialismus sehr dazu bei, dass so etwas wie ein panafrikani- sches Bewusstsein entstehen konnte. Sein Sinneswandel ist vor allem als Ergeb- nis der ab 1906 lang anhaltenden Arbeitsfreundschaft zum deutschstämmigen Anthropologen Franz Boas zu verstehen, der in ihm ein Verständnis für die Ge- schichte und Kultur Afrikas weckte. Julia E. Liss: Diasporic Identities: The Science and Politics of Race in the Work of Franz Boas and W.E.B. Du Bois, 1894-1919. In: Cultural Anthropology, Bd. 13, H. 2 (1998), S. 127-166. Aber auch Du Bois erste Reise nach Libe- ria in den Jahren 1923/24 hat wesentlich dazu beigetragen, seine Position im Sinne einer afrozentristischen Neubestimmung zu verändern. Liest man seine Autobiographie ohne Kenntnis der „Souls of Black Folk“, so fragt man sich, ob Du Bois jemals etwas anderes war als ein schwarzer Nationalist. Der Text ist voller Anspielungen auf Du Bois’ afrikanische Vorfahren, deren Geschichte in extenso dargestellt wird. W. E. B. Du Bois: The Autobiography of W. E. B. DuBois [sic]: A Soliloquy on Vie- wing My Life from the Last Decade of Its First Century. New York 1968 , S. 62-77. Allerdings sollte man Vorsicht walten lassen: Der Panafrikanismus von Du Bois war taktischer Natur. Er diente der wirtschaftli- chen und politischen Besserstellung der afrikanischen und der afroamerikani- schen Bevölkerung in gleicher Weise. Auch 1933 dachte Du Bois noch, dass die meisten angeblich rassischen Unterschiede „idiotisch“ seien. Liss : Diasporic Identities, S. 152. „[...] if for another century, we Negroes taught our children – in our own bettering schools, with our own trained teachers – we would never be Americans but rather another nation with a new culture. But if beginning now, gradually, all American children, black and white, Euro- pean, Slavic and Asiatic are increasingly taught as one – in one tradition and one ideal – there will emerge one race, one nation, one world … Am I glad? I should be, but I am not. I dreamed too long of a great American Negro race. Now I can only see a great Human Race. It may be the best, I should indeed rejoice –“ W. E. B. Du Bois: Worlds of Color. New York 1961, S. 317. 1961 trat er in die Kommunistische Partei der USA ein, nachdem er in den Jahren seit 1951 wegen seiner politischen Gesinnung mehrfach Ziel politischer und juristischer Verfol- gungen in den USA geworden war. Im gleichen Jahr erschien sein Roman „Worlds of Color“, in dem Du Bois am Ende eines langen Lebens verrät, wie die „double consciousness“, wenn nicht beseitigt, dann aber doch aufgehoben wer- den kann: 7. FAZIT Ich fasse zusammen: W.E.B. Du Bois ist von einem Afroamerikaner, mit ei- nem gespaltenen, entfremdeten Bewusstsein, ein Mensch, der Amerikaner und Schwarzer sein wollte, über die Auseinandersetzung mit Positionen des Afro- zentrismus und der Panafrikanischen Bewegung zu einem Verfechter antirassis- tischer Positionen geworden. Sein politischer Aktivismus und seine Erfahrungen im Ausland haben ihn eine Kehrtwendung vollziehen lassen und aus ihm einen Verfechter einer Weltgesellschaft gemacht, in der die Kategorie Rasse wie übri- gens auch seine amerikanische Identität keine Rolle mehr spielten. Wo für ihn am Anfang das doppelte Bewusstsein als Schwarzer und als Amerikaner stand, lehnte er am Ende jede Form nationalstaatlichen Bezugs ab. Damit war die Fra- ge nach der Möglichkeit, Amerikaner und Afroamerikaner in einer Person zu sein, für Du Bois endgültig negativ beschieden. James B. Stewart: Psychic Duality of Afro-Americans in the Novels of W.E.B. DuBois [sic]. In: Phylon, Bd. 44, H. 2 (1983), S. 93-107, S. 107. ... si el tipo de gobierno ... que un pueblo decide darse en ejercicio de su soberanía afecta intereses norteamericanos ... o se desata una intervención unilateral violenta de Estados Unidos o salta algún canciller o general latinoamericano dispuesto a traicionar a su pueblo y solicita urgentemente que el panamericanismo entre en acción en defensa de lo indefendible. „Wenn eine Regierung, die sich ein Volk in der Ausübung seiner Souveränität geben will, U.S.-amerikanische Interessen negativ beeinflusst, löst dies entweder eine gewaltsame unila- terale Intervention der Vereinigten Staaten aus, oder irgendein lateinamerikanischer Außen- minister oder General kommt hervor, bereit sein Volk zu verraten, und bittet dringend, dass der Panamerikanismus um der Verteidigung dessen in Aktion treten möge, das auf keinen Fall verteidigt werden sollte.” Alonso Aguilar Monteverde: El Panamericanismo: De la Doctrina Monroe a la Doctrina Johnson. México 1965. Die konsequente Abkehr von den USA wurde durch die Übersiedlung von Du Bois nach Akkra in Ghana im Jahr 1960 und die Übernahme der ghanaischen Staatsbürgerschaft symbolisiert. JÜRGEN BUCHENAU In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Lateinamerika zu einer intensiven und oft konfliktiven Aus- einandersetzung mit dem Amerikabegriff Zu diesem Thema im späten 20. Jh., vgl. Greg Grandin: Your Americanism and Mine: Americanism and Anti-Americanism in the Americas. In: American Historical Review, Bd. 111, Nr. 4 (Oktober 2006), S. 1042-1066. . Auf beiden Seiten des Rio Grande war man sich einig, dass der amerikanische Doppelkontinent eine historische Sonderrolle spielte. Überall, selbst im zum Commonwealth gehörigen Kanada, beruhte das politische Selbstverständnis zumindest der Eliten auf der Abgren- zung von der Alten Welt. Dem gleich waren sich U.S.- und Lateinamerikaner nicht einig über die Bedeutung des Amerikabegriffs. Während U.S.-Amerikaner keine Gelegenheit ausließen, den Doppelkontinent als eine gemeinsam zu ver- teidigende Festung gegen europäische Einflüsse zu propagieren, sahen viele La- teinamerikaner, und vor allem die Einwohner Mexikos sowie der zentralameri- kanischen und karibischen Staaten, die USA als eine größere Bedrohung als die europäischen Mächte. Vor dem Hintergrund der zahlreichen militärischen Inter- ventionen der Vereinigten Staaten erwuchs ein separates Konzept, das die ge- meinsamen Wurzeln des spanischen Amerikas hervorhob. Noch ein anderer Ge- danke entstand im Portugiesisch sprechenden Brasilien, das sich als größtes Land Südamerikas mehr an seiner regionalen Vormachtstellung als an seinem Bezug auf den Rest Amerikas orientierte. Diese Vorstellungen wandelten sich erst, als die Weltwirtschaftskrise sowie die rechtsextreme Bedrohung aus Europa und Japan die amerikanischen Republiken zu einer engeren Zusammenarbeit trieben. Dieses Kapitel liefert einen Überblick über die Amerikadiskussion zwischen der Jahrhundertwende und dem Zweiten Weltkrieg unter besonderer Berücksich- tigung des Dialogs zwischen U.S.-amerikanischer Außenpolitik und lateiname- rikanischer Reaktion. Aufgrund der umfangreichen Thematik muss sich dieser Aufsatz auf die Perzeption der Eliten und Regierungen—unter besonderer Be- rücksichtigung der U.S.-Außenpolitik und lateinamerikanischen Intellektuellen — beschränken. 1. PANAMERIKANISMUS, HISPANOAMERIKANISMUS UND DER U.S.-LATEINAMERIKANISCHE GEGENSATZ, 1898-1928 1.1. Panamerikanismus und U.S.-Intervention Jede Darstellung der Amerikadebatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts muss mit einer Erörterung des Panamerikanismus U.S.-amerikanischer Prägung beginnen. Die Ursprünge des Panamerikanismus stammen aus der nordamerika- nischen Unabhängigkeitsbewegung. Als erstes unabhängiges Land des Doppel- kontinents hatten die Vereinigten Staaten bereits zu Ende des 18. Jahrhundert den Amerikabegriff für sich beansprucht. Im Laufe des nächsten Jahrhunderts erlangten alle iberoamerikanischen Staaten ihre Souveränität, mit einem chrono- logischen Schwerpunkt zwischen 1810 und 1828, der Zeitraum der großen Un- abhängigkeitskriege in Argentinien, Mexiko und Neugranada. Nicht nur griff Spanien in diese Kriege zum Erhalt seines Kolonialbesitzes ein, sondern Eng- land bemühte sich um größeren Einfluss, insbesondere im Río de la Plata- Gebiet. 1806 besetzten englische Truppen gar Buenos Aires, eine Intervention, die zur Erklärung der Unabhängigkeit Argentiniens vier Jahre später entschei- dend beitrug. Zur gleichen Zeit blickten die USA nach Westen und Norden, wo dem Expansionseifer nach dem Kauf Louisianas im Jahre 1803 englischer und russischer Kolonialbesitz im Wege stand. Konzipiert von Thomas Jefferson und Henry Clay entstand der Panamerikanismus zunächst als defensive Maxime ge- gen den europäischen Kolonialismus. Arthur P. Whitaker: The Western Hemisphere Idea. Ithaca 1954, S. 27-34. Seine erste offizielle Formulierung erfuhr der Panamerikanismus durch die Monroe-Doktrin von 1823, die den amerikanischen Doppelkontinent für die „Amerikaner“ beanspruchte und die europäischen Mächte dazu aufforderte, sich der weiteren Kolonisierung in Amerika zu enthalten. Laut Monroe waren die USA dazu ausersehen, die lateinamerikanischen Republiken in ihrem Streben nach Unabhängigkeit zu unterstützen. Jedoch stellte die Monroe-Doktrin zu- nächst lediglich eine rhetorische Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegun- gen dar. Ernest May: The Making of the Monroe Doctrine. Cambridge 1975. Auch blieb die U.S.-amerikanische Position in den folgenden Dekaden zu schwach, um beispielsweise die Besetzung der Malvinas-Inseln vor der Küste Argentiniens durch Großbritannien und der Einsetzung des habsburgischen Kai- ser Maximilians durch Napoleon III. zu verhindern. Mittlerweile hinderte aber die Vereinigten Staaten nichts daran, sich im Namen des „Manifest Destiny“ die Hälfte Mexikos sowohl das britische Oregon-Territorium sowie das russische Alaska einzuverleiben. Lediglich in Kanada erfuhr der U.S.-amerikanische Ex- pansionismus einen Rückschlag. Die rasche territoriale Expansion feuerte aber eine brennende innenpolitische Frage an: die Debatte um die Sklaverei, die schließlich den U.S.-amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) auslöste. In den Worten des U.S.–Historikers Michael H. Hunt rief die Expansion ein „bad case of territorial indigestion” Michael H. Hunt: Ideology and U.S. Foreign Policy. New Haven 1987, S. 33. hervor, das erst durch die durch den Krieg verursachte wirtschaftliche Integration der einzelnen Bundesstaaten geheilt wurde. Nach dem Bürgerkrieg fand die Außenpolitik der USA daher neue Ziele in Amerika: die Ausweitung des inneramerikanischen Handels und der Ausschluss europäischer Kanonenbootpolitik, die von den westlichen Großmächten zur Ein- treibung von Schulden verwendet wurde. In den Worten des U.S.-Historikers Walter LaFeber bauten die Vereinigten Staaten ein „New Empire“—ein auf wirtschaftlicher Macht anstatt Kolonien begründetes Imperium. Walter LaFeber: The New Empire: An Interpretation of American Expansion. Ithaca 1963. war Gesetz. 8 Als Konse- quenz erlangte der Panamerikanismus vor allem im Zeitalter der raschen Indust- rialisierung der USA eine neue Bedeutung. Im Jahr 1889 rief der Staatssekretär James G. Blaine Vertreter aller amerikanischen Staaten zu der ersten „Internati- onal Conference of American States“ zusammen. Es war diese Konferenz, die den Terminus „Pan Americanism“ in den Vereinigten Staaten popularisierte. Blaine sah die Möglichkeit eines interamerikanischen Systems, das die Monroe- Doktrin sanktionierte und der USA eine Führungsrolle bei der Verteidigung Amerikas gegen europäische Interventionen zubilligte. Das von Blaine und sei- nen Beratern zusammengestellte Programm zielte auf einen panamerikanischen Zollverein sowie einen Vertrag, der alle Dispute zwischen amerikanischen Staa- ten einem verpflichtenden Schiedsgericht unterstellte. Amerika, so glaubte Blaine, sollte eine von den USA dominierte Freihandelszone werden. Des Wei- teren legte Blaine den lateinamerikanischen Vertretern einen Plan vor, nach dem die sich in einem anderen amerikanischen Staat befindlichen U.S.-Staatsbürger berechtigt waren, den diplomatischen Schutz ihres Heimatlandes in Anspruch zu nehmen. Diese Ideen scheiterten an dem Widerstand der großen lateinamerika- nischen Staaten, und vor allem Argentinien und Mexiko, die den Handel mit Eu- ropa als ein entscheidendes Gegengewicht gegen den U.S.-amerikanischen Ein- fluss sahen. Joseph Smith: The First Conference of American States (1889-1890) and the Early Pan American Policy of the United States. In: David Sheinin (Hrsg.): Beyond the Ideal: Pan- Americanism in Inter-American Affairs. Westport 2000, S. 19-33. Jedoch blieben die USA sich ihrer durch die Industrialisierung gewachsenen Vormachtstellung zumindest in Nordamerika und dem karibischen Raum bewusst: in den Worten von Blaines Nachfolger, Richard Olney, waren die USA „practically sovereign“ in der westlichen Hemisphäre, und ihr „fiat“ Im Jahr 1898 bewiesen die USA ihre wachsende Macht durch ihr Eingreifen in den kubanischen Unabhängigkeitskrieg, ein Eingriff, der Kuba drei Jahre spä- ter durch das Platt Amendment in eine quasi-koloniale Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten brachte. Puerto Rico wurde U.S.-Territorium. Auch stieg der U.S.-amerikanische Handel mit Lateinamerika stark an: zum Zeitpunkt der Jahrhundertwende hatten die USA Großbritannien als größten Handelspartner von Mexiko und mehreren anderen Staaten abgelöst. Für die Vereinigten Staaten bedeutete Panamerikanismus also den Ausbau der eigenen Vormachtstellung unter Ausschluss der europäischen Mächte und—nach 1898—die Rechtferti- gung des eigenen militärischen Einflusses in Lateinamerika. Diese Rechtferti- gung wurde im Jahr 1904 durch den Präsidenten Theodore Roosevelt ausge- drückt. Roosevelt lieferte eine neue Interpretation der Monroe-Doktrin, die seiner Meinung nach den Vereinigten Staaten das Recht gab, als hemisphäri- scher Polizist in die inneren Belange der lateinamerikanischen Staaten ein- zugreifen, um die Entstehung von Situationen zu verhindern, die zum militäri- schen Eingreifen europäischer Großmächte führten. James D. Richardson (Hrsg.): A Compilation of the Messages and Papers of the Presi- dents. New York 1918, Bd. 15, S. 6894-6930. Solche Interventionen in von „barbarous or semi-barbarous peoples” bevölkerten Staaten waren laut Roo- sevelt eine „most regrettable but necessary . . . duty which must be performed for the sake of the welfare of mankind.” Zitiert in Emily S. Rosenberg: Spreading the American Dream: American Economic and Cultural Expansion, 1890-1945. New York 1982, S. 41. Tatsächlich war die Intervention in Kuba ein Vorspiel für die langfristigen Militäroperationen in Nikaragua (1912- 1925 und 1927-1933) und Mexiko (1914, 1916-1917) sowie der Kanonenboot- politik in Kuba, der Dominikanischen Republik und Haiti. 1.2. Hispanismus, Hispanoamerikanismus und Interventionskritik in Lateinamerika Das Wachstum des U.S.-amerikanischen Einflusses in der westlichen Hemi- sphäre und insbesondere die militärischen Interventionen sowie die die zur ihrer Rechtfertigung dienende panamerikanistische Rhetorik riefen unter lateinameri- kanischen Regierenden und Intellektuellen — und besonders im spanischspra- chigen Hispanoamerika— heftige Kritik hervor. Auf Aufforderung des venezo- lanischen Unabhängigkeitsführers Simón Bolívars hatten hispanoamerikanische Regierungen schon in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts den Versuch eines Staatenbundes gemacht, und das besonders vom U.S.-Expansionismus ge- beutelte Mexiko bemühte sich im Laufe des Jahrhunderts um eine eigene Ein- flusssphäre unter den kleineren Staaten Zentralamerikas und der Karibik. Jürgen Buchenau: In the Shadow of the Giant: The Making of Mexico’s Central America Policy, 1876-1930. Tuscaloosa 1996, S. 16-108. Kon- servative Politiker wie der Mexikaner Lucas Alamán und der Guatemalteke Rafael Carrera befürworteten nach der Unabhängigkeit ein enges Verhältnis mit Spanien als Bollwerk gegen die anglo-amerikanische Macht. Die Befürworter der diversen Unionsversuche der zentralamerikanischen Staaten führten zwi- schen 1860 und 1923 das Argument der Verminderung des U.S.-amerikanischen Einflusses in der Region ins Feld. Thomas L. Karnes: The Failure of Union: Central America, 1824-1960. Chapel Hill 1964. Zu einer durchgreifenden Auseinandersetzung mit dem Amerikaverständnis allgemein und insbesondere dem Panamerikanismus kam es in Lateinamerika aber erst nach dem Krieg zwischen Spanien und den USA im Jahre 1898. Der Krieg führte zum endgültigen Verlust des spanischen Kolonialreiches, das da- mals noch aus Kuba, Puerto Rico, und den Philippinen bestand, und zum Auf- stieg der USA als Weltmacht. Der kubanische Patriot und ehemaliger Exilant in New York, José Martí, der sein Leben in diesem Krieg verlor, schrieb einen Tag vor seinem Tod, er habe im Monster gewohnt und dessen Eingeweide gesehen. Zitiert in Carlos Ripoll: José Martí, the United States, and the Marxist Interpretation of Cuban History. New York 1984, S. 51. Eres los Estados Unidos, eres el futuro invasor de la América ingenua que tiene sangre indígena que aún reza a Jesucristo y aún habla en español … Der Konflikt machte die USA zu einer Quasi-Kolonialmacht und leitete unter spanischen und lateinamerikanischen Intellektuellen eine als Hispanismus be- kannte Annäherung ein. Der U.S.-amerikanische Historiker Fredrick Pike hat Hispanismus als „unassailable faith in the existence of a transatlantic Hispanic family, community, or raza” Fredrick B. Pike: Hispanismo, 1898-1936: Spanish Conservatives and Liberals and Their Relations with Spanish America. Notre Dame 1971, S. xvii. definiert. In der Folge von Vordenkern wie Alamán war Hispanismus ursprünglich eine konservative Bewegung. Ebenda, 1. Im Ver- lauf der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts wurde der Hispanismus aber auch unter liberalen Intellektuellen populär. Der erste lateinamerikanische Pionier des Hispanismus war wohl der Uruguayer José Enrique Rodó, der in seinem Aufsatz Ariel einen Gegensatz zwischen einer idealistischen und katholischen spanisch- sprachigen Welt und der materialistischen und protestantischen anglo- amerikanischen Welt formulierte. José Enrique Rodó: Ariel. Madrid 1919. Hispanisten redeten von der spanischspra- chigen Welt als „patria“, oder Vaterland, und von ihren Einwohnern als „raza“, oder Rasse. Bis heute ist der hispanistische Diskurs beispielsweise in Mexiko überliefert, wo der 12. Oktober — der Jahrestag der Landung von Kolumbus in Amerika — als „día de la raza“ gefeiert wird. Richard V. Salisbury: Hispanismo versus Pan-Americanism: Spanish Efforts to Counter U.S. Influence in Latin America Before 1930. In Sheinin: Beyond the Ideal, 67-77. Jedoch war die Annäherung an Spanien nur ein Zwischenstadium zur Heraus- bildung einer spanisch-amerikanischen Identität. Als Fusion zwischen dem His- panismus und dem immer stärker werdenden Nationalismus der spanischspra- chigen Einzelstaaten entstand der Hispanoamerikanismus. Der nicaraguanische Dichter Rubén Darío lieferte in seinem berühmten Gedicht „Oda a Roosevelt“ (Ode an Roosevelt) im Jahre 1905 vielleicht das beste Beispiel des Hispanoame- rikanismus: Dieses Gedicht zeigt ein wichtiges Element, das den Hispanoamerikanismus vom Hispanismus unterscheidet: die Betonung des indigenen Elements, und vor allem der Hochkulturen der Azteken und Inkas. Darío und andere Hispanoame- rikanisten konzipierten ihr Amerika als Kontinent ohne die Vereinigten Staaten und Kanada, aber auch als eine von einer reichen präkolumbischen Vergangen- Eine weitere Kritik des Panamerikanismus kommt aus der mexikanischen Re- volution von 1910. Drei Mal griffen die Vereinigten Staaten direkt in den Ver- lauf der Revolution ein, zum Teil, um die Pläne des Deutschen Reiches in Mexiko zu vereiteln. Im Februar 1913 spielte der U.S. Botschafter Henry Lane Wilson eine entscheidende Rolle in der Planung des blutigen Coups von General Victoriano Huerta, die den Sturz und Ermordung des gewählten Präsidenten Francisco I. Madero zur Folge hatte. Etwas mehr als ein Jahr später besetzten U.S.-amerikanische Truppen die Hafenstadt Veracruz, die zu der Zeit von einem deutschen Kanonenboot angesegelt wurde, und im März 1916 kam es nach Pancho Villas Angriff auf die Kleinstadt Columbus, New Mexico zur Entsen- dung einer „Punitive Expedition“ in den mexikanischen Bundesstaat Chihuahua. Die U.S.-amerikanischen Truppen blieben bis zum Sommer 1917, nachdem der Präsident Woodrow Wilson den Mittelmächten Deutschland und Österreich den Krieg erklärt hatte und somit in den Ersten Weltkrieg eintrat. Die beste Analyse der ausländischen Interventionen im revolutionären Mexiko ist immer noch Friedrich Katz: The Secret War in Mexico: Europe, the United States, and the Mexican Revolution. Chicago 1981. Als Antwort auf die fortlaufenden Interventionen sowie der wirtschaftlichen Vormachtstellung der USA in Mexiko kam es Anfang 1917 zur Formulierung der ersten nationalistischen Verfassung Lateinamerikas. Zum Anlass seines jähr- lichen Berichts an den mexikanischen Kongress formulierte Carranza im Sep- tember 1918 seine Antwort an die U.S.-amerikanische Interventionspolitik. „Todos los países son iguales … no país debe interferir en los asuntos internos de los demás … Nacionales y extranjeros son iguales ante la soberanía del país donde viven. … La diplomacia … no debe usarse por la protección de los intere- ses privados.“ „Alle Staaten sind gleich … kein Land darf in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes eingreifen … Einheimische und Ausländer sind im Bezug der Souveranität des Landes, in dem sie leben, gleichgestellt…. Diplomatie … darf nicht zum Schutz von Privatinteressen verwendet werden” Luis González y González (Hrsg.): Los Presidentes de México ante la nación. Mexiko 1966, Bd. 3, S. 250. Carranza, der sich im vorherigen Jahr um die Neutralität der lateinamerikanischen Staaten im Weltkrieg bemüht hatte, lud auch die spanisch- sprachigen Nachbarstaaten dazu ein, der mexikanischen Anti-Interventions- Die mexikanische Revolution trug ihrerseits zur Formulierung eines weiteren alternativen Konzept zum Panamerikanismus bei—dem Indoamerikanismus des Peruaners Víctor Haya de la Torre. Der Antiimperialist Haya de la Torre lebte in den frühen 1920er Jahren in der Stadt Mexiko, wo er zu einem Bewunderer der mexikanischen Revolution wurde. Dort gründete er 1924 eine neue Partei, die „Alianza Popular Revolucionaria Americana,” oder „Amerikanische Revolutio- näre Volksallianz.” Die APRA stand für Einheit unter den lateinamerikanischen Ländern, die Internationalisierung des Panama-Kanals und Einführung einer va- ge definierten sozialistischen Wirtschaftsform in der Region. Lester Langley: America and the Americas: The United States in the Western Hemi- sphere. Athens 1989, S. 133. Diese Partei sah Haya de la Torre vom Beginn an als eine supranationale Bewegung an, die die nationalistischen Gesetze Mexikos in andere lateinamerikanische Länder brin- gen sollte. Jedoch war die APRA nur in Peru erfolgreich, wo sie in den folgen- den zwei Jahrzehnten praktisch als Instrument der politischen Ambitionen von Haya de la Torre fungierte. 1930 reiste der Peruaner nach Berlin zum Anlass der Gründung des Iberoamerikanischen Instituts und gab eine Rede, die seine politi- sche Ideologie genauer erklärte. In dieser Rede definierte Haya de la Torre In- doamerikanismus als ein neues Konzept, das auf der den amerikanischen Län- dern gemeinsame präkolumbische Vergangenheit und Gegenwart basierte. „Indoamericanismo es la expresión de la nueva concepción revolucionaria de América, que pasado el período de las conquistas españolas y sajonas, se estruc- turará en una definida organización … sobre la base nacional de sus fuerzas de trabajo representadas por la tradición, la raza y la explotación de sus masas indígenas que … representan la base de nuestra productividad.” „Indoamerikanismus ist der Ausdruck des neuen revolutionären Amerikakonzepts, das sich im Gefolge der spanischen und (angel)sächsischen Eroberungen in einer genau definierten Organisation strukturieren wird … auf der nationalen Basis seiner Arbeitskräfte, repräsentiert durch die Tradition, die Rasse und die Ausbeutung seiner indigenen Massen die … die Basis unserer Produktivität darstellt.” Víctor Raúl Haya de la Torre: A dónde va Indoamerica? 3. Aufl. Santiago, Chile 1936, S. 23. Nach Ansicht Haya de la Torres sollten auch die Einwohner der Vereinigten Staaten ihre nati- onale Identität überdenken, da auch die USA durch ihre indigene Vergangenheit entscheidend geprägt worden sei. Gegen Ende der zwanziger Jahre trugen diese hispanoamerikanistischen und antiinterventionistischen Diskurse zu einer weitverbreiteten Kritik der U.S.- amerikanischen Politik in Lateinamerika bei. Ein wichtiger Brennpunkt dieser Kritik war die zweite U.S.-amerikanische Besetzung von Nikaragua (1927- 1933), während der sich die Marines einem populären Volkshelden—Augusto César Sandino—entgegensahen. Wie wohl kein anderer Rebell des frühen 20. Jahrhundert repräsentierte Sandino und sein wohl berühmtester Ausspruch „yo no me vendo ni me rindo“ („ich verkaufe mich nicht, und ich ergebe mich auch nicht“) den Widerstand gegen die U.S.-amerikanische Intervention. Donald C. Hodges: Intellectual Foundations of the Nicaraguan Revolution. Austin 1986, S. 24-29. Zu einer Zeit, in der die USA auch in Kuba und Mexiko ihre Vorherrschaft mit militärischer Drohung zu sichern suchten, trug die Intervention zu Nikara- gua dazu bei, dass die U.S.-amerikanische Lateinamerikapolitik endlich auch ein Thema der International Conference of American States wurde. Seit 1889 hatten sich Vertreter der amerikanischen Staaten auf Wunsch der U.S.-Regierung vier Mal getroffen, um multilaterale Themen zu erörtern: 1901 in der Stadt Mexiko, 1906 in Rio de Janeiro, 1910 in Buenos Aires und 1922 in Santiago de Chile. Während schon in Santiago der lateinamerikanische Unmut über die U.S.- Interventionspolitik laut geworden war, kam es bei der sechsten Konferenz in Havanna im Jahre 1928 zu einer lautstarken Konfrontation zwischen den Dele- gierten der USA und einer Mehrheit der lateinamerikanischen Vertreter, vor allem über das Thema Nikaragua. Delegierte aus Argentinien, Mexiko und meh- reren anderen Staaten forderten eine Erklärung, das den amerikanischen Staaten den Eingriff in die inneren Belange eines anderen Staates verbot. Für die latein- amerikanischen Delegierten konnte Panamerikanismus nur funktionieren, wenn er die Souveränität eines jeden amerikanischen Einzelstaates garantierte. Langley: America and the Americas, S. 130-32. Südamerika. 27 Nur ein Jahr vor der Weltwirtschaftskrise war eine Tatsache klar geworden: der uni- laterale Panamerikanismus der Vereinigten Staaten war an der Interventionspoli- tik gescheitert, und die lateinamerikanischen Staaten sahen die USA — weit mehr als die europäischen Mächte — als Bedrohung an. Für die Lateinamerika- ner hatte der Begriff „Amerika“ jedenfalls in den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts eine kulturelle und politische Bedeutung, die die Vereinigten Staa- ten als Koloss des Nordens ausschloss und die Völker südlich des Rio Grande zur Zusammenarbeit gegen den Imperialismus aufforderte. In diesem Zusammenhang muss noch der Sonderfall Brasilien erwähnt wer- den. Anders als die spanischsprachigen Länder orientierte sich Brasilien — das bei weitem größte Land Lateinamerikas — an seinen transatlantischen Bezie- hungen mit Portugal und Afrika. Als einziger Staat Amerikas hatte Brasilien seine Unabhängigkeit unter der Führung eines Mitglieds des Könighauses des Mutterlands — dem Bragança Pedro I. — erlangt, nachdem die portugiesische Monarchie zur Zeit der napoleonischen Kriege nach Brasilien übersiedelt wor- den war. Zudem stand das riesige Land in einer Konfrontation mit mehreren sei- ner spanischsprachigen Nachbarn — in den 1830er Jahren bildete sich Uruguay im Machtvakuum zwischen Argentinien und Brasilien, und zwischen 1864 und 1870 führte Brasilien einen Krieg mit Paraguay. Insbesondere Argentinien be- mühte sich, Brasilien den Führungsanspruch in Südamerika streitig zu machen. Aus diesem Grund war Brasilien das einzige Land, das den Großteil der U.S.- amerikanischen Initiativen bei den International Conferences of American States unterstützte und sich auch an der Interventionsdebatte praktisch nicht beteiligte. Formuliert von dem langjährigen Außenminister Rio Branco und seinem Bot- schafter in Washington, Oliveira Lima, bildete Brasilien eine Achse mit den Vereinigten Staaten zum Ziel der Verteidigung der eigenen Vormachtstellung in AMERIKAIDEEN ZWISCHEN WELTWIRTSCHAFTSKRISE UND DEM ZWEITEN WELTKRIEG, 1929-1945 2. 1. Die „Good Neighbor Policy“ und hemisphärische Solidarität Schon vor der Weltwirtschaftskrise war sich die U.S.-Regierung der wach- senden Kritik an ihrer Außenpolitik bewusst. Im Jahr 1930, nach der Konferenz von Havanna verfasste der Rechtsanwalt des Department of State, J. Reuben Clark, ein Memorandum, das Präsident Herbert Hoover empfahl, die seit Teddy Roosevelt andauernde Interventionspolitik aufzugeben. Auch hatte Hoovers Vorgänger Calvin Coolidge in Mexiko den aggressiven Botschafter James R. Sheffield durch Dwight Morrow ersetzt, der zwischen 1927 und 1930 die Wo- gen der bilateralen Beziehungen erfolgreich glättete. Entscheidend für einen fundamentalen Wandel im U.S.-Amerikakonzept war allerdings die Weltwirt- schaftskrise, die mit dem „Black Friday“ im Oktober 1929 begann. Die Massen- arbeitslosigkeit in den USA erforderte von der U.S.-Regierung die Vermeidung internationaler Krisen, und in Lateinamerika führte der Verlust ausländischer Märkte zur politischen Destabilisation. Zusätzlich kosteten Militärinterventionen viel Geld, und Geld war in allen Staatskassen knapp. Zugleich waren sich die U.S.-amerikanischen Politiker zunehmend der Bedrohung bewusst, die durch den Aufstieg faschistischer und anderer rechtsextremer Parteien in Europa ent- standen war. Während Mussolinis Triumph in Italien im Jahr 1922 keinen Un- terschied in der U.S.-amerikanischen Außenpolitik hervorbrachte, stellten der Erfolg der NSDAP in Deutschland sowie die Bedrohung Ostasiens durch Japan Gründe zum Umdenken dar. Von größter Bedeutung war die so genannte „Good Neighbor Policy", die Po- litik der guten Nachbarschaft von Präsident Franklin D. Roosevelt, der 1933 als erster Demokrat seit Woodrow Wilson an die Regierung kam. Bereits im ersten Jahr seiner Regierung führte die Good Neighbor Policy zu praktischen Resulta- ten. Bei der siebten „International Conference of American States“ in Montevi- deo unterschrieb die U.S.-amerikanische Delegation die fünf Jahre vorher von den lateinamerikanischen Staaten geforderte Nichtinterventionserklärung. Im gleichen Jahr annullierte der U.S.-Kongress das Platt Amendment, das seit 32 Jahren den USA in Kuba das uneingeschränkte Recht zur Intervention zum Zweck der Wiederherstellung politischer Stabilität gegeben hatte. Schließlich zog Roosevelt auch 1933 die Marines endgültig aus Nikaragua ab und endete so zwei Jahrzehnte fast fortlaufender Besetzung dieses zentralamerikanischen Staates. Sandino erklärte sich darauf hin sofort zur Niederlegung der Waffen seiner Widerstandsbewegung bereit. Allerdings zeigte das nikaraguanische Bei- spiel auch einen Nachteil des Abzugs der U.S.-Truppen auf. Im folgenden Jahr wurde Sandino von der von den Marines ausgebildeten Nationalgarde Nikaragu- as unter der Führung des ehemaligen West Point-Studenten Anastasio Somoza García ermordet, und 1936 leitete Somoza einen erfolgreichen Putsch. Seine Familie blieb bis 1979 an der Regierung und lieferte (genau wie „Papa Doc“ Duvalier in Haiti und Jorge Ubico in Guatemala) ein trauriges Beispiel für die Militärdiktaturen seiner Zeit. Bryce Wood: The Making of the Good Neighbor Policy. New York 1961, S. 159-284. Allein im Jahr 1930 fielen sechs zivile Regierun- gen Lateinamerikas, darunter die von Argentinien, Brasilien und Peru, einem Die „Good Neighbor Policy“ führte also nicht zur Demokratisierung von La- teinamerika, sondern sie beschränkte sich auf das Unterlassen von Intervention. Die Lateinamerikaner sollten zur Zeit der Weltwirtschaftskrise und wachsender internationaler Spannungen mit ihren Problemen selbst fertig werden. Roosevelt erklärte die „Good Neighbor Policy“ wie folgt: Interessant an dieser Erklärung ist die doppelte Bedeutung des Wortes “Ame- rican”, das sich im ersten Fall auf den ganzen Doppelkontinent bezieht und im zweiten Fall nur auf die Vereinigten Staaten. Im Laufe der dreißiger Jahre wurde die „Good Neighbor Policy“ immer mehr von der von Europa und Japan ausgehenden Bedrohung bestimmt. Ein gutes Beispiel für das Umdenken in der U.S.-Regierung ist ihre Reaktion auf die Ent- eignung der 16 größten ausländischen Ölproduzenten am 18. März 1938 — nur zwei Wochen nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland. Obwohl sich Staatssekretär Cordell Hull und der Botschafter Josephus Daniels nicht mit der Enteignung einverstanden erklärte, kam es nicht zu einer internationalen Krise. Nachdem der Boykott der Ölfirmen gegen Mexiko den Präsidenten Lázaro Cárdenas zwang, Öl an das nationalsozialistische Deutschland im Tauschhandel mit Industrieprodukten zu liefern, setzte sich das State Depart- ment für eine friedliche Lösung ein, und vier Jahre später einigten sich die me- xikanische Regierung und die Ölfirmen auf eine zu zahlende Entschädigung. Klaus Volland: Das Dritte Reich und Mexiko: Studien zur Entwicklung des deutsch- mexikanischen Verhältnisses 1933-1942 unter besonderer Berücksichtigung der Ölpolitik. Frankfurt a.M. 1976, S. 83-147. Die Kehrseite der „Good Neighbor Policy“ lag in der von Lateinamerika er- warteten hemisphärischen Solidarität. Bereits 1936 rief die Roosevelt-Regierung die amerikanischen Staaten zu einer „Inter-American Conference for the Main- tenance of Peace“ in Buenos Aires zusammen. Auf dieser Konferenz wurde nur drei Jahre nach dem Abzug U.S.-amerikanischer Truppen aus Nikaragua zum ersten Mal von „hemispheric solidarity“ gesprochen. Zwei Jahre später stand dieses Thema bei der siebten International Conference of American States in Lima erneut zur Debatte. Nach dem Anschluss Österreichs und dem Einmarsch japanischer Truppen nach China stellte die sogenannte Lima-Erklärung von 1938 die Bedrohung von Übersee bereits in den Vordergrund. Wie die Erklärung postulierte, “respect for the personality, sovereignty, and independence of each American state constitutes the essence of international order sustained by conti- nental solidarity.” 32 Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs setzte dann die hemisphärische Solida- rität in die Praxis um. Die USA trat nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 in den Krieg ein, und im folgenden Jahr erklärten die meisten lateinamerikanischen Staaten den Achsenmächten den Krieg. Nur Chile (bis 1943) und Argentinien (bis März 1945) blieben zunächst den Alliierten fern. Die gemeinsame Kriegsführung wurde von einer kontinentalen Verteidigungs- strategie begleitet — ein Schritt, der noch vor der Montevideo-Konferenz für lateinamerikanische Politiker undenkbar gewesen wäre. Diese Strategie bedeute- te die Gegenwart von U.S.-amerikanischen Militärberatern in Lateinamerika sowie die Benutzung lateinamerikanischen Luftraums und Häfen durch U.S.- amerikanische Flugzeuge und Schiffe. Besonders die Einwohner Kubas und Mexikos erlebten die Militärpräsenz der Vereinigten Staaten hautnah. Schließ- lich kooperierten die lateinamerikanischen Staaten auch mit den USA in der wirtschaftlichen Kriegsführung. Fast alle Staaten südlich des Rio Grande über- nahmen die U.S.-amerikanischen Schwarzen Listen, die den Bürgern der Achsenmächte und sogar Lateinamerikaner deutscher, italienischer und japani- scher Herkunft den Handel untersagte, und die meisten dieser sogenannten „enemy aliens“ wurden enteignet. Im übrigen lieferten auch die Regierungen zentral- und südamerikanischer Staaten wie Costa Rica, Guatemala, Kolumbien und Peru tausende dieser „enemy aliens“ an die USA aus, wo sie den Krieg in Gefangenenlagern verbrachten. Max Paul Friedman: Nazis and Good Neighbors: The United States Campaign Against the Germans of Latin America in World War II. Cambridge 2003, S. 102-55; María Emilia Paz: Strategy, Security, and Spies: Mexico and the U.S. as Allies in World War II. University Park 1997. Mit Recht sehen U.S.-amerikanische Historiker den Zeitraum 1933-1945 als eine relativ harmonische Periode, in der sich die USA und die lateinamerikani- schen Staaten in ihrem Amerikakonzept näherkamen. Die „Good Neighbor Poli- cy“ und die Politik der hemisphärischen Solidarität bedeutete eine zunehmende Identifikation mit Amerika als eine von den zwei größten Ozeanen von den blu- tigen Kriegsfeldern von Asien und Europa getrennte Festung. Bezug auf den Zweiten Weltkrieg bezeichnete der U.S.-Historiker Arthur Whitaker seinen Kontinent sogar als die „hemisphere of peace.” Whitaker: Western Hemisphere Idea, S. 132. „Hitler, aunque dispone de un poder absoluto, se halla a mil leguas del cesarismo. La fuerza no le viene a Hitler del cuartel, sino del libro que le inspiró ... El poder no se lo debe Hitler a las tropas, ni a los batallones, sino a sus propios discursos... Hitler representa, en suma, una idea, la idea alemana, tantas veces humillada antaño por el militarismo de los franceses, la perfidia de los ingleses. En contra de Hitler, es verdad, se hallan combatiendo ‘Democracias’ gobernadas por civiles. Pero son democracias de nombre.” „Obwohl Hitler absolute Macht genießt, ist er tausend Meilen weit weg vom Caesarismus. Die Macht kommt Hitler nicht durch das Militärquartier zu, sondern durch das Buch, das ihm Inspiration gab. Die Macht verdankt Hitler weder den Truppen noch den Bataillonen, sondern seinen eigenen Reden. Hitler stellt, summa summarum, eine Idee dar, die einst so viele Male durch den Militarismus der Franzosen und die Perfidie der Engländer gedemütigte deutsche Idee. Gegen Hitler stehen tatsächlich von Zivilisten regierte Demokratien. Aber es sind nur dem Namen nach Demokratien.” El Timón, 8. Juni 1940. „No cabe duda que el Presidente Roosvelt [sic] y sus colaboradores inmediatos … son cinceros [sic] en su política de Buena Vecindad. Pero se advierte claramente que los direc- tores de la fuerza armada de E.U. tienen designios de acción lejana de hegemonía militar en los países latinoamericanos. Se nota una tendencia a subordinar nuestros mandos al de ellos … las probabilidades son que los E.U. emerja de este [sic] guerra como potencia militar mun- Aus der Perspektive der Verei- nigten Staaten erschien der amerikanische Doppelkontinent tatsächlich als Insel des Friedens im Vergleich mit der Zerstörung in Europa, Nordafrika, Ostasien und Ozeanien, die insgesamt mehr als 60 Millionen Menschenleben forderte. Dennoch war genau genommen diese Beschreibung verfehlt, da zumindest Hawaii, mit dem Brennpunkt Pearl Harbor, in der westlichen Hemisphäre lag. Auch nahmen die amerikanischen Nationen — und allen voran Kanada und die USA — unter hohen Menschenverlusten am Weltkrieg teil. Zudem hatten in den 1930er Jahren regionale Militärkonflikte wie der Chacokrieg zwischen Paraguay und Bolivien die zwischenstaatlichen Spannungen unter mehreren der latein- amerikanischen Staaten aufgezeigt. 2.2. Die lateinamerikanische Reaktion auf den guten Nachbarn Die „Good Neighbor Policy“ wurde in Lateinamerika allgemein begrüßt, auch wenn man sich nicht überall über die Motivation der Roosevelt-Regierung einig war. Besorgt über die Bedrohung durch faschistische Bewegungen in Argenti- nien, Brasilien, Chile und mehreren anderen südamerikanischen Staaten unter- stützten die meisten lateinamerikanischen Regierungen auch die Solidaritäts- rhetorik vor und während des Zweiten Weltkriegs. Beeinflusst vom langjährigen Außenminister Oswaldo Aranha, der die brasilianische Politik in der Nachfolge von Rio Branco und Oliveira Lima führte, war Brasilien bis zum Ende des Weltkrieg ein besonders verlässlicher Verbündeter der Vereinigten Staaten und setzte sogar Bodentruppen in Europa ein. In den Worten von Unterstaatssekretär Sumner Welles, Aranha „holds an unswerving conviction that Brazilian- American amity is a necessary keystone of practical Pan-Americanism.“ Zitiert in W. Michael Weis: Pan American Shift: Oswaldo Aranha and the Demise of the Brazilian-American Alliance. In: Sheinin, Beyond the Ideal, S. 140. Je- doch war diese Unterstützung nicht einstimmig, da insbesondere das weiterhin auf absolute Neutralität pochende Argentinien dem U.S.-Streben nach hemi- sphärischer Solidarität im Weg stand. David Sheinin: Argentina and the United States: An Alliance Contained. Athens 2006, Kap. 3. Auch unter den Intellektuellen konservativer Prägung machte sich Unmut über die bedingungslose Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten laut. Für den früheren mexikanischen Erziehungsminister José Vasconcelos beispielswei- se stand Hitler noch im Juni 1940 für eine Alternative zu den angelsächsischen Demokratien. In den Worten von Vasconcelos: Vasconcelos’ Worte sind umso bemerkenswerter, wenn man seinen eigenen politischen Werdegang als Intellektueller im revolutionären Mexiko betrachtet. In den frühen zwanziger Jahren hatte Vasconcelos als Erziehungsminister dem Caudillo und Präsidenten Alvaro Obregón gedient, sich aber Obregóns und sei- ner regierenden Clique aufgrund dessen militaristisch aufgezogenen Regie- rungsstils zunehmend entfremdet. Zu jener Zeit hatte Vasconcelos seinen be- rühmten Essay La raza cósmica (die kosmische Rasse) veröffentlicht, in dem er die Vorteile der ethnischen Mischung Mexikos zwischen indigener Bevölkerung und den spanischen Konquistadoren betonte. Jedoch blieb dieser Vordenker des revolutionären Nationalismus Mexikos seiner Regierung nicht treu, und Vasconcelos überwarf sich mit Obregóns Nachfolger, Plutarco Elías Calles. Als Calles im Jahr 1929 nach Obregóns Ermordung eine Regierungspartei gründete, die Partido Nacional Revolucionario (eine Vorgängerin des heutigen Partido Revolucionario Institucional), ließ sich Vasconcelos als Gegenkandidat gegen den PNR-Kandidaten Pascual Ortiz Rubio aufstellen. In einem vom Religions- konflikt gezeichneten Land kandidierte er im Namen der Demokratie und Reli- gionsfreiheit und bezeichnete Calles und die anderen Generäle in der mexikani- schen Regierung als gottlose und militaristische Sozialisten. John Skirius: José Vasconcelos y la cruzada de 1929. Mexiko1978; Jürgen Buchenau: Plutarco Elías Calles and the Mexican Revolution. Lanham 2007, S. 154. Vasconcelos’ spätere Lobrede auf Hitler ist nicht nur bezeichnend für seinen eigenen Weg in die politische Rechte, sondern sie weist auch auf die für diesen mexikanischen Intellektuellen wichtigste Eigenschaft Hitlers hin: sein Wille, die Vorherrschaft der westlichen Demokratien über die Welt zu beenden. Als mexikanischer Poli- tiker wäre Hitler wohl kaum für Vasconcelos akzeptabel gewesen, und die nati- onalsozialistische Rassenidee stand im direkten Widerspruch zu seinen eigenen Schriften. In Mexiko, ein Land, dessen Einwohner wie die keines anderen außer Kuba die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten miterlebten, machte sich auch im Militär Unmut über die Präsenz des U.S.-amerikanischen Verteidigungsappa- rates breit. So beklagte sich der frühere Präsident Abelardo L. Rodríguez, an- sonsten ein verlässlicher Freund der U.S.-amerikanischen Interessen in Mexiko, bei seinem Präsidenten Manuel Avila Camacho: Während es innerhalb des Militärs demnach kritische Stimmen gab, die die Zusammenarbeit mit den USA mit Sorgen betrachteten, lieferte die Filmindust- rie ein Gegenbeispiel. In den dreißiger Jahren wurden Argentinien, Brasilien und Mexiko zu bedeutenden Filmproduzenten — in Mexiko begann in jener Dekade sogar das so genannte „edad de oro“, oder das Goldene Zeitalter des mexikani- schen Films. In allen drei Ländern spielte Hollywood eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der Filmindustrie, und in allen drei Fällen erkannten die Produ- zenten die Möglichkeit, ein breites Publikum zu erreichen. Wie auch in Europa wurde Film zu Propagandazwecken gedreht, und Mittel der U.S.-Regierung standen jedem Regisseur zu, der die hemisphärische Zusammenarbeit zum The- ma seines Films machte. Das beste Beispiel für Film als Propaganda für die amerikanische Zusammenarbeit ist wohl „Mexicanos al grito de guerra“ (Mexi- kaner zum Schrei des Krieges) aus dem Jahr 1943. Der Titel des Films ist der Beginn der mexikanischen Nationalhymne und weist auf den Kampf von Präsi- dent Benito Juárez und seinen liberalen Truppen gegen die Armee von Napoleon III. und den von den Franzosen eingesetzten habsburgischen Kaiser Maximilian. Tatsächlich behandelt der Film das Freiheitsstreben der Mexikaner unter europä- ischer Herrschaft und zeigt implizit Parallelen zwischen Juárezs erfolgreicher Kampagne und der mexikanischen Teilnahme am Zweiten Weltkrieg auf. Seth Fein: Myths of Cultural Imperialism and Nationalism in Golden Age Mexican Cin- ema. In: Gilbert M. Joseph, Anne Rubenstein, und Eric Zolov (Hrsg.): Fragments of a Golden Age: The Politics of Culture in Mexico Since 1940. Durham 2001, S. 172-76. Der Film mythologisiert auf diese Weise die Kriegsteilnahme auf Seiten der Alliier- ten als Fortsetzung des alten Kampfs gegen ausländische Bedrohung. Tatsäch- lich hatte im Jahr zuvor die Versenkung zweier mexikanischer Tanker die Kriegserklärung von Präsident Manuel Avila Camacho ausgelöst. Auch stand die Roosevelt-Regierung im Zweiten Weltkrieg genau wie die Lincoln- Regierung zu Zeiten Maximilians für die Verteidigung Mexikos gegen europäi- schen Expansionismus. So deutet der Film auf eine Identifizierung mit Amerika als Kontinent hin, und er stellt eine Rechtfertigung für die Zusammenarbeit mit den USA dar. In Südamerika verlief die Diskussion anders, da starke faschistische Bewe- gungen die politische Landschaft bedrohten. In Argentinien übernahmen die Faschisten für einige Jahre die Regierung, in Chile blieben sie bis 1945 gefähr- lich und in Brasilien wurden sie in Getúlio Vargas’ Estado Novo kooptiert. Der andere entscheidende Unterschied zu Mexiko und Kuba war die große Entfer- nung zu den Vereinigten Staaten, die eine wesentlich geringere augenscheinliche Präsenz des U.S.-Militärs zu Folge hatte. Für Südamerikaner war der Faschis- mus also nicht nur ein Feind von außen, sondern auch von innen. Demokraten unterstützten aus diesem Grund Roosevelts kontinentale Verteidigung, während Faschisten sie selbstverständlich ablehnten. Sandra McGee Deutsch: Las Derechas: The Extreme Right in Argentina, Brazil, and Chile, 1890-1939. Stanford 1999, S. 143-308. kas positioniert. 43 Dazu mussten sich die Regierun- gen Argentiniens, Brasiliens und Chiles auch noch mit ihren deutschen, italieni- schen und japanischen Minderheiten beschäftigen — eine mögliche „quinta columna“, oder fünfte Kolonne im Kampf gegen die Achsenmächte. Tatsächlich hatte die Auslandsorganisation der NSDAP eifrig Mitglieder in Lateinamerika rekrutiert, vor allem in den ABC Staaten. Jürgen Müller: Nationalsozialismus in Lateinamerika: Die Auslandsorganisation der NSDAP in Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko. Stuttgart 1997. Im Gegenzug neutralisierte der Var- gas-Staat die Deutschbrasilianer durch eine Kampagne der so genannten „brasi- lianidad“, die auf die Nationalisierung der kulturell isolierten ethnischen Min- derheiten Südbrasiliens zielte. Deutsche Schulen wurden geschlossen und deutschsprachige Vereine verboten, und ähnliche Repressalien drohten den Ita- lienern und Japanern, die im Bundesstaat São Paulo konzentriert waren. Schließ- lich gab es unter den Brasilianern noch ein weiteres Kriterium, das die Zusam- menarbeit mit den Vereinigten Staaten attraktiv erscheinen ließ—die Tatsache, das Afrika nur 1,600 Meilen, oder vier Flugstunden, von Nordostbrasilien ent- fernt lag. Afrika stellte im Zweiten Weltkrieg eine potentielle strategische Ge- fahr für Brasilien dar. Die Nähe Afrikas zu Brasilien ist jedoch auch unter einem anderen Gesichts- punkt interessant, da zeitgenössische nationale Ideen das afrikanische Element in den dreißiger und vierziger Jahren in den Vordergrund rückten. Am bedeu- tendsten waren die Ideen des Soziologen Gilberto Freyre, der an der Columbia University in New York die Gelegenheit gehabt hatte, die Rassenbeziehungen seines Heimatlandes mit denen in den Vereinigten Staaten zu vergleichen. Frey- re war aus dem Bundesstaat Bahia in Nordostbrasilien, einer Kernregion der Zu- ckerproduktion und des Sklavenhandels bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhun- derts. Anders als die auf die indigene Vergangenheit fixierten Haya de la Torre und Vasconcelos sah Freyre die Zuckerplantage als den Mörser, in dem aus Eu- ropäern und Afrikanern Brasilianer wurden. Er blieb aber nicht bei der Idee der Rassenmischung stehen. In seinem bekanntesten Buch, Casa-grande e senzala (Das Herrenhaus und die Hütte) postulierte er die portugiesische Sklaverei als die relativ humanste Form des Eigentums an anderen Menschen. Portugiesische Sklavenhalter, so Freyre, hätten sich anders als alle andere Europäer an die Tro- pen angepasst und auch in wesentlich größerem Maße die mestiçagem, oder Rassenmischung, mit ihren Sklaven gesucht, unter anderem weil die meisten Kinder der Plantagenbesitzer von afrikanischen Ammen gesäugt worden wären. Freyres populäres Konzept des lusotropicalismo, das bald in allen öffentlichen Schulen gelehrt wurde, stellt nicht nur eine romantisch und nationalistisch ver- klärte Darstellung der Rassenbeziehungen in Brasilien dar, sondern es zeigte einen neuen brasilianischen Sonderweg auf. Freyres Brasilien war an einem Winkel eines Dreiecks mit Portugal und Afrika, und demnach außerhalb Ameri- AUSBLICK Im Jahre 1948, kurz nach Beginn des Kalten Krieges, wurde auf der Internati- onal Conference of American States in Bogotá die Organization of American States (OAS) ins Leben gerufen. Für U.S.-amerikanische Politiker erschien ein langfristiges Ziel erreicht. Angesichts der fortlaufenden Bedrohungen des ame- rikanischen Doppelkontinents, erst durch rechtsextremen Faschismus und Nati- onalsozialismus und danach durch linksextremen Kommunismus, hatten sich die lateinamerikanischen Staaten zu der Gründung einer übernationalen Organisati- on bereiterklärt, die Frieden und Sicherheit in der westlichen Hemisphäre sicherstellen sollte. Obwohl die OAS-Charter die Mitgliedsstaaten (anders als jene von NATO) nicht zu der gegenseitigen Verteidigung verpflichtete, schien durch das militärische, politische und wirtschaftliche Übergewicht der Vereinig- ten Staaten eine Organisation entstanden zu sein, die die alte panamerikanische Rhetorik der USA in die Praxis umgesetzt hatte. Amerika erschien ein politi- scher und nicht nur geographischer Begriff geworden zu sein. Tatsächlich hatte die durch Weltwirtschaftskrise und faschistische Bedrohung erzwungene Ko- operation Früchte gezeitigt. Verstummt waren die lateinamerikanischen Stim- men, die vor U.S.-Interventionismus und unilateraler Machtpolitik warnten, und lateinamerikanische Diplomaten sahen das interamerikanische System als Ga- rant für Frieden und Stabilität. Noch 1952 beispielsweise schrieb der mexikani- sche Diplomat Luis Quintanilla, dass die westliche Hemisphäre eine Gemein- schaft von Nachbarn sei, die eine gemeinsame Idee von staatlicher Organisation habe. Zitiert in Whitaker: Western Hemisphere Idea, S. 4. Außerdem kurbelten sowohl der Zweite Weltkrieg als auch der Kalte Krieg die lateinamerikanischen Exportwirtschaften an und trugen so entschei- dend zur importsubstituierenden Industrialisierung südlich des Rio Grande bei. In den folgenden Jahren verflog allerdings diese Hoffnung auf hemisphäri- sche Harmonie. Der erste Grund dafür war der neue Interventionismus der USA im Kalten Krieg. Im Juli 1954 wurde die demokratisch gewählte sozialistische Regierung Guatemalas durch einen Militärcoup mit Hilfe des U.S.- amerikanischen CIA gestürzt. Im Vorfeld dieses Putsches hatten die Vereinigten Staaten bei der zehnten „International Conference of American States“ in Cara- cas eine Resolution vorgelegt, die alle amerikanischen Staaten zur Zusammen- arbeit gegen die sogenannte „kommunistische Infiltration“ verpflichten sollte. Thomas Leonard: Central America and the United States: The Search for Stability. Ath- ens 1989, S. 139. Die Resolution war so formuliert, dass sie als Vorwand zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten Guatemalas dienen konnte. Vergeblich versuchten die Delegationen Argentiniens, Costa Ricas und Mexikos, die Resolution abzu- schwächen. Piero Gleijeses: Shattered Hope: The Guatemalan Revolution and the United States. Princeton 1991, S. 274-77. Einmal mehr war der Unilateralismus der U.S.-Außenpolitik klar geworden, und einige Jahre später machte das die Konfrontation mit der kubani- schen Revolution von 1959 noch deutlicher. Der zweite Grund für das Abkühlen der panamerikanischen Zusammenarbeit war die relative Vernachlässigung La- teinamerikas durch die U.S.-amerikanische Politik. Selbst die traditionelle U.S.- brasilianische Harmonie verschwand in den frühen fünfziger Jahren, als Aranha spürte, dass von Washington keine Hilfe für die wirtschaftliche Entwicklung der Region zu erhoffen wäre. Für die ehrgeizige brasilianische Entwicklungspolitik war der indirekte wirtschaftliche Stimulus durch den Kalten Krieg nicht genug, insbesondere in einem Zeitalter, in denen die früheren Kriegsfeinde Deutsch- land, Italien und Japan hohe Beträge zur Wiederaufbauhilfe erhielten. Weis: Pan-American Shift, S. 145-47. Das Ergebnis dieses erneuten Versuches, den Amerikabegriff für unilaterale politische Ziele der Vereinigten Staaten zu missbrauchen, war eine Woge von lateinamerikanischer Kritik an der OAS und anderen panamerikanischen Institu- tionen. Trotz der fortschreitenden kulturellen und wirtschaftlichen Integration Amerikas (Kuba einmal abgesehen) hatte der Amerikabegriff nach der Kubakri- se außerhalb der Vereinigten Staaten kaum eine positive politische Bedeutung mehr. MARIANNE BRAIG 1. WO LIEGT EIGENTLICH MEXIKO? Wer die Frage nach den Grenzen Mexikos stellt, begibt sich auf ein schwieriges Terrain. Ein mexikanischer Migrant in Chicago, der sich dafür einsetzt auf beiden Seiten des Rio Grande an Wahlen teilnehmen und seine politischen Rechte wahrnehmen zu können, antwortet nach seiner politischen Heimat befragt, ohne zu zögern: „La nación mexicana llega hasta donde estamos los mexicanos” Stephanie Schütze: La nación mexicana llega hasta donde estamos los mexicanos: los partidos políticos mexicanos y su participación política transnacional. In: Iberoamericana. América Latina, España, Portugal: Ensayos sobre letras, historia y sociedad. Notas. Reseñas iberoamericanas Vol. 7, Nr. 25 (2007), S. 143-154. . Dass die mexikanische Nation sich auf das Territorium erstrecke, in welchem Mexikaner leben, zumal wenn dieses historisch zu Mexiko gehört hat, ist für Samuel Huntington ein Grund von einer „Hispanic Challange“ Samuel P. Huntington: The Hispanic Challenge. In: Foreign Policy, März-April (2004), S. 30-45. zu sprechen. Er warnt vor dem „historical claim to U.S. territory” oder der „Reconquista“, die rechte Gruppen in den USA schon lange anhand der Ausbreitung der „Latinos“ und der spanischen Sprache glauben belegen zu können. Für viele Mexikaner wiederum ist die heutige Grenze zu den USA eine „offene Wunde“, wie Carlos Fuentes sie bezeichnet, steht sie doch für den Verlust der Hälfte des mexikanischen Staatsgebietes. Bis zum Frieden von Guadalupe Hidalgo von 1848 war es den USA gelungen, die Südgrenze massiv zu verschieben und sich die Staaten Texas, New Mexico, Arizona, California, Nevada, und Utah sowie Teile von Wyoming, Colorado un Oklahoma in das Staatsgebiet einzuverleiben. Einige Chicanos, wie die in den USA lebenden Mexikaner bezeichnet werden, teilen wiederum den Traum von Charles Truxillo, Professor für Chicano Studies an der University von New Mexico der in der Persistenz der spanisch/mexikanischen Sprache und Kultur sowie in der verstärkten Präsenz von „Latinos“ in den USA gar Hinweise darauf sieht, dass ein neuer, dritter Staat zwischen den USA und Mexiko entstehen könnte. Seine „República del Norte“ hat man sich als eine souveräne hispanische Nation vorzustellen, die sich vom Pazifik bis zum Golf von Mexiko erstrecke und sowohl die Bundesstaaten Kalifornien, Arizona, New Mexico, Texas und Colorado auf der US-amerikanischen Seite als auch die mexikanischen Bundesstaaten Baja California, Sonora, Chihuahua, Coahuila, Nuevo Leon und Tamaulipas umfassen solle. Regiert werde von einer Hauptstadt, nämlich Los Angeles, aus – ein Szenario, das etwa bis zum Jahre 2080 realisierbar sein könnte. Wer eine klare Antwort in der Geographie sucht, findet auch hier keine eindeutige Ortsbestimmung. Definieren die einen die Vereinigten Mexikanischen Staaten als einen Staat in Nordamerika, der im Norden an die Vereinigten Staaten von Amerika und im Süden an Belize und Guatemala grenze, und vom Pazifik im Westen und im Osten vom Golf von Mexiko sowie vom Karibischen Meer, beides Randmeere des Atlantiks, umgeben sei. So behaupten die anderen, auf Sprach- und Kulturräume verweisend, das spanisch sprechende Land sei ein Staat in Mittelamerika. Nimmt man neben den spanisch Sprechenden noch andere Sprachgruppen und deren Praktiken wahr, werden vielsprachige und multiethnische Räume sichtbar, in welchen vor, neben und mit den Europäern Azteken, Chichimeken, Huaxteken, Maya, Mixteken, Olmeken, Purépecha, Tolteken, Totonaken, Zapoteken u.v.a.m. leben. Klassifiziert man deren vielschichtigen kulturellen Ausdrucksformen nach ethnographischen Phänomenen entsteht ein Raum, der vom deutschen Anthropologen und Philosophen Paul Kirchhoff 1943 als „Mesoamerika“ bezeichnet wurde. Offensichtlich lassen sich hier keine Herderschen Kugeln Johann Gottfried Herder prägte einen Kulturbegriff, welcher Kultur als homogene soziale Einheit sieht. abgrenzen, sondern überlagern und verschränken sich unterschiedliche Räume, die gerade keine Einheit mit klaren ökonomischen, politischen, demographischen und sprachlichen Grenzen bilden. Trotzdem setzen sich auch in den Amerikas homogenisierende Raumvorstellungen durch, die diese Überlagerungen und die hybriden Wurzeln ausblenden. Dabei entsteht eine doppelte Containervorstellung; die eine ist mit der Konstruktion der Nationalstaaten, die andere mit der zweier verschiedener, ja gegensätzlicher Amerikas verbunden. In der letzteren stehen sich der angelsächsische und der lateinische Kulturraum gegenüber. Damit einhergeht – nicht nur in Mexiko – die Verdrängung anderer, indianischer und mesoamerikanischer Kulturen ins Museum. Néstor García Canclini: Culturas híbridas. Estrategia para entrar y salir de la modernidad. Mexiko 1989. Außerhalb derselben überleben sie in der Imagination eines „México profundo“, einer wie der Anthropologe Guillermo Bonfil schreibt „verleugneten Zivilisation“ Guillermo Bonfil Batalla: México profundo. Una civilización negada. Mexiko 1987. . In der nationalstaatlichen Konstruktion des mexikanischen, spanisch sprechenden Mestizos aber auch in der von Intellektuellen des Subkontinents bevorzugten Konstruktion „Lateinamerika“ als eines eigenen Kulturkreises haben die „Amerind“ die „American Indians“ keinen Platz ebenso wenig wie die schwarze Bevölkerung der Amerikas. Der Begriff Amerind (American Indians) wurde 1899 geprägt, siehe: Christian Feest (Hrsg.): Kulturen der nordamerikanischen Indianer. Köln 2000; Sérgio Costa: Vom Nordatlantik zum "Black Atlantic". Postkoloniale Konfigurationen und Paradoxien transnationaler Politik. Bielefeld 2007. “Chronic wrongdoing, or an impotence which results in a general loosening of the ties of civilized society, may in America, as elsewhere, ultimately require intervention by some civilized nations, and in the Western hemisphere, the adherence of the United States to the Monroe Doctrine may force the United States, however reluctantly, in cases of wrongdoing or impotence, to the exercise of the international police power.” Zitiert in Martin Sicker: The Geopolitics of Security in the Americas. Hemispheric Denial from Monroe to Clinton. Westport 2002, S. 61. „When I say that Russia may go her own way, and Mexicos hers, I say so with a sense that I have a right in Russia and in Mexico, and also a right to see that they do not go their own way to the extent of blocking my way to what of good they hold. …That is why we are talking of backward peoples and recognizing for them another law of self-determination, a leading- Für die Entstehung nationalstaatlicher Vorstellungen, aber auch für die Konfrontation zwischen den USA, welche immer mehr mit dem Begriff Amerika verschmolz, und einem Amerika des Südens, waren es weniger die „Indios“ oder die „Schwarzen“, die ohnehin nicht wahrgenommen wurde, von denen es sich abzusetzen galt. Kulturell prägend für die Amerikas wurde sowohl für die nationalstaatliche als auch die regionale Abgrenzung die Differenzierung zwischen einer angelsächsischen und einer ibero- oder lateinamerikanischen Welt. Diese scheinen den Kontinent kulturell zu spalten. Mexiko als Grenzland kommt bei dieser geokulturellen Aufspaltung des Kontinents in einen Doppelkontinent eine zentrale Bedeutung zu. 2. GESPALTENE AMERIKAS: WESTLICHE HEMISPHÄRE ….. Die Erfahrungen des südlichen Amerikas mit den USA waren und sind geprägt durch Annexion, Intervention und kulturelle Polarisierung; zugleich gab es immer wieder Versuche, eine gemeinsame Geschichte der Befreiung vom europäischen Kolonialismus und vom Kampf für Unabhängigkeit zu entwerfen. Die konkrete Verlust- und Gewalterfahrung Mexikos sind für die Entgegensetzung der beiden Amerikas zentral: Bereits 1811 legalisierte der US- Kongress nachträglich die Besetzung spanischen Territoriums durch anglo- amerikanische Siedler; 1845 erfolgte die Annexion von Texas; und 1846-1848 im Krieg gegen Mexiko verschoben die USA ihre Staatsgrenze im Süden bis zum Rio Grande. Handelte es sich bei diesen Gebieten um relativ dünn besiedelte Territorien, die demographisch und kulturell als leicht einnehmbar galten, so warnte der damalige US-Präsident James K. Polk nach der erfolgreichen Aneignung großer Teile des mexikanischen Territoriums vor den kulturellen Differenzen, die südlich des Rio Grande zu erwarten wären. Er lehnte ein weiteres Vordringen in das „Herz Mexikos“ entschieden ab und setzte sich erfolgreich gegen diejenigen Stimmen durch, die ganz Mexiko besetzen wollten, indem er neben den finanziellen Risiken einer Okkupation gerade auch auf die kulturellen Divergenzen hinwies. Der Rio Bravo wurde als geokulturelle Grenze zwischen den Amerikas markiert. Freilich, das Argument einer möglichen innenpolitischen Destabilisierung der USA im Zuge einer Intervention in einen anderen ‘Kulturkreis’ sorgte nicht für eine grundsätzliche Zurückhaltung. Im Gegenteil: In einer der einflussreichsten Reinterpretationen der Monroe-Doktrin, Die Monroe-Doktrin gilt als Gründungsdokument für eine US-Außenpolitik. Präsident James Monroe formulierte mit der Doktrin 1823 ein Angebot an die europäischen Kolonialmächte, sich nicht in die dortigen Revolutionsprozesse einzumischen, um zugleich von ihnen zu fordern, von Versuchen der Rekolonialisierung der Neuen Welt Abstand zu nehmen. dem 1904 von Präsident Theodore Roosevelt formulierten “Roosevelt Corollary of the Monroe Doctrine”, wurde die Notwendigkeit einer Intervention in andere Staaten (gerade auch jenseits der im Mexiko-Krieg konstruierten geokulturellen Grenze) mit der Fehlerhaftigkeit und dem Versagen staatlicher Institutionen jenseits dieser Grenze begründet. Ähnlich wurde während des Krieges mit Mexiko argumentiert. “Mexico’s failure to improve California, a land of Eden, was attributed to an incompetent local bureaucracy, degenerating into a state of anarchy, and to a slothful population” zitiert in Frederick Merk: Manifest Destiny and Mission in American History. A Reinterpretation. [mit Lois Bannister Merk und neuem Vorwort von John Mack Faragher]. Cambridge 1995 [1963]. Zielte die Monroe-Doktrin zunächst darauf ab, eine neue politische Sphären gegen die der Alten Welt, gegen das monarchistische Europa abzugrenzen, also eine westliche Hemisphäre frei von Kolonialisierungsbestrebungen und Interventionen zu schaffen, so führten ihre Weiterentwicklungen dazu, dass lediglich die Vereinigten Staaten den Anspruch hätten, in inneramerikanische Angelegenheiten zu intervenieren. Unter Berufung auf die Monroe-Doktrin nahm sich Washington immer wieder das Recht heraus, die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in „seiner Hemisphäre“ als eine zentrale Aufgabe seiner Politik zu sehen. Diese richtete sich nicht allein gegen mögliche Interventionen europäischer Staaten sondern gegen jede Art von politischen Bewegungen innerhalb der lateinamerikanischen Länder, die die Interessen der USA gefährden konnten. Die Reaktion Washingtons auf die mexikanische Revolution und postrevolutionäre Entwicklung macht dies deutlich. So waren es weniger die revolutionären Auseinandersetzungen, vor diesen wussten beispielsweise die ausländischen Erdölproduzenten ihre Ölquellen zu schützen. Es war vor allem die mexikanische Verfassung von 1917 und deren Artikel 27, der unterschiedliche Eigentumsformen, die Enteignung von Privateigentum sowie die Nationalisierung der Bodenschätze ermöglicht, der immer wieder zu Konflikten und zu einer Mexikopolitik unter dem Motto führte: „watching them narrowly and insisting that they shall take help when help is needed“. Wilson zitiert in P. Edward Haley: Revolution and intervention: the diplomacy of Taft and Wilson with Mexiko, 1910 – 1917. Cambridge, Mass. 1970, S. 138. Mexiko kommt jedoch nicht allein wegen seiner unmittelbaren Nachbarschaft unter besondere Beobachtung, sondern der „revolutionäre Nationalismus“ der mexikanischen Revolution und des aus ihr hervorgehenden politischen Regimes galt vielen in den USA als eine Infragestellung us-amerikanischen Ordnungsvorstellungen auf dem amerikanischen Kontinent. Um die Dramatik der Abgrenzung zu unterstreichen, wurden Vergleiche mit dem revolutionären Russland keineswegs gescheut. Franklin K. Lane, Innenminister unter Wilson, sah gar eine Doppelbedrohung, auf die mit einer Neubestimmung des Selbstbestimmungsrechtes, zumindest für rückwärtsgewandte Völker, reagiert werden müsse: Eine solche Einschätzung stieß nicht auf ungeteilte Zustimmung. Gegen die Gleichsetzung mit Russland verwehrte sich insbesondere der Bankier Thomas W. Lamont und warnte vor der Anwendung ausschließlich angelsächsischer Maßstäbe auf die südlichen Nachbarn. „These Mexican people ought not to be proud and peculiar, but they are, and we can’t change them overnight into Anglo-Saxons. “ Zitiert in ebenda, S. 222. „Our continents are bound together by a common history, the endless exploration of new frontiers. Our nations are the product of a common struggle, the revolt from colonial rule. And our people share a common heritage, the quest for dignity and the freedom of man. The revolutions which gave us birth ignited, in the words of Thomas Paine, ‘a spark never to be extinguished’. … the revolution which began in Philadelphia in 1776 and in Caracas in 1811 – is not yet finished. Our hemisphere’s mission is not yet completed.” Zitiert in ebenda, S. 234. “De una parte hay en América un pueblo que proclama su derecho de propia coronación a regir, por moralidad geográfica, en el continente, y anuncia, por boca de sus estadistas, en la prensa y en el púlpito, en el banquete y en el congreso, mientras pone la mano sobre una isla y trata de comprar otra, que todo el norte de América ha de ser suyo, y se le ha de reconocer derecho imperial del istmo abajo, y de otra están los pueblos de origen y fines diversos, cada día más ocupados y menos recelosos, que no tienen más enemigo real que su propia ambición, y la del vecino que los convida a ahorrarle el trabajo de quitarles mañana por la fuerza lo que le pueden dar de grado ahora.” Martí zitiert in Josef Raab: Pan-amerikanisches Ideal und US-amerikanische Vormacht: José Martís Sicht des ‘vecino formidable’. In: Hans-Joachim König, Stefan Rinke (Hrsg.), Transatlantische Perzeptionen: Lateinamerika – USA – Europa in Geschichte und Gegenwart. Stuttgart 1998, S. 153. Doch bis zur politischen Praxis drang er nicht durch; erst als die mexikanische Regierung versprach, die umstrittenen Passage aus der Revolutionsverfassung nicht anzuwenden, anerkannten die USA 1923 den mexikanischen Präsidenten Obregon. Als in den 1930er Jahren Cárdenas, die Nationalisierung des Besitzes der us-amerikanischen und britischen Erdölgesellschaften wieder auf die Tagesordnung brachte, fürchtete die Regierung Roosevelt, dass andere lateinamerikanische Staaten angesichts der großen Bedeutung Mexikos und seiner Revolution für den ganzen Süden diesem Beispiel folgen könnten. Angesichts der internationalen Situation wurde 1941 jedoch mit dem Nachbarland ein Kompromiss ausgehandelt. Allerdings blieb die Eindämmung des „revolutionary nationalism“ bzw. die Containment-Strategie gegen revolutionäre Bewegungen bestimmend für die Lateinamerikapolitik von Roosevelt und Truman sowie deren Nachfolgern. Zwar suchte nach dem Sieg der kubanischen Revolution 1959 die Regierung Kennedy unter dem Motto „Allianz für den Fortschritt“ eine engere Zusammenarbeit mit dem südlichen Amerika. Der nicht von langer Dauer währende „new approach“ umfasste neben konkreten Hilfsprogrammen, die die wirtschaftliche und politische Entwicklung Lateinamerikas unterstützen sollten, auch eine diskursive Rückbesinnung auf gemeinsame historische Erfahrungen. Unter Verweis auf die beiden Revolutionen von 1776 und 1811 appellierte Kennedy 1961 an eine gemeinsame Geschichte: 3. …. VERSUS PANAMERIKANISMUS Die Vorstellung einer Einheit der westlichen Hemisphäre schien im 19. Jahrhundert durchaus auch in Diskursen im südlichen Amerika auf und wurde mit dem Ideal eines Pan-Amerika verbunden. Die Bewunderung für die Befreiung der nordamerikanischen Kolonien von England (1776) und speziell für George Washington unter den Unabhängigkeitsbewegten im Süden, sowie die rasche Anerkennung der unabhängig gewordenen Republiken durch die USA bildeten eine der Grundlagen für die Bestrebungen, die Beziehungen zu verstärken und inter-amerikanische Konferenzen zu initiieren. Doch erst 1889 gelang es (u.a. aufgrund des Engagements des US-Außenministers James Gillespie Blaine), den ersten Pan-Amerikanischen Kongress in New York abzuhalten, an dem mit Ausnahme der Dominikanischen Republik alle Staaten der westlichen Hemisphäre vertreten waren. Die Distanzierung von einem tyrannischen Europa war zwar auch den jungen südamerikanischen Republiken ein zentrales Anliegen und prägte die von Simón Bolívar vorgeschlagene hispano-amerikanische Konferenz in Panama 1826. Doch richtete sich diese in erster Linie gegen die alte, gerade abgeschüttelte Kolonialmacht Spanien und nicht gegen Europa als Ganzes. Auch der Kubaner José Martí gehörte zu denjenigen, die sich klar für eine Abkopplung der westlichen Hemisphäre von Europa aussprachen. Seine eigene Biographie, die ihn ins Exil nach New York führte, prädestinierte ihn zwar als Vermittler pan- amerikanischer Ideale zwischen Nord und Süd; zugleich warnte er vor dem Hintergrund der Geschichte und der geographischen Lage seines Heimatlandes Kuba Kuba, das bis zum Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 spanische Kolonie geblieben war, geriet danach unter US-amerikanische Besatzung. Als es 1902 formal unabhängig wurde, blieb seine Souveränität eingeschränkt. Aufgrund des auf Druck der USA zustande gekommenen so genannten Platt-Amendment in der kubanischen Verfassung war es den USA jederzeit erlaubt, militärisch einzugreifen, sobald sie ihre politischen und ökonomischen Interessen auf der Insel in Gefahr sahen. Neben einem ständigen Interventionsrecht im Falle innerer Unruhen wurde auch die Abtretung kubanischen Territoriums an die USA festgeschrieben. Guantánamo Bay, das bis heute von US-amerikanischem Militär besetzt gehalten und seit dem Afghanistan-Krieg zur völkerrechtswidrigen Inhaftierung von Kriegsgefangenen genutzt wird, stellt einen interessanten Fall von Extra-Territorialität dar. vor der Hegemonie der USA, und sah in ihrem Bestreben die grundsätzliche Gefahr für eine pan-amerikanische Einheit. Die im Spanisch- Amerikanischen Krieg von 1898 deutlich zutage tretende expansionistische Interessenpolitik der USA gab nachträglich denjenigen Recht, die vor der wirtschaftlichen Übermacht und dem politischen und militärischen Imperialismus des nördlichen Nachbars gewarnt hatten. In diesem Rahmen konnte es keine gemeinsame Interessensphäre aller Nationen in den Amerikas geben. Die Neue Welt war bereits eine zweigeteilte: Aus der Sicht des Südens war die „Neue Welt“ gespalten in einen imperialen Norden und eine Vielfalt von Völkern, die um ihre Würde kämpften. Aus der Perspektive des Nordens wiederum standen der Demokratie und der Freiheit des Handels revolutionäre und nationale Bewegungen und Regime im Süden gegenüber. Hieraus ergebe sich, so der New Yorker Journalist John L. O’Sullivan 1845 die „offenkundige Bestimmung der Nation sich auszubreiten und den gesamten Kontinent in Besitz nehmen, den die Vorsehung uns für die Entwicklung des großen Experimentes Freiheit und zu einem Bündnis vereinigter Souveräne anvertraut hat.“ Den Begriff „Manifest Destiny“ prägte der New Yorker Journalist John L. O’Sullivan 1845 in einem Artikel der Democratic Review . Die Zweiteilung der Amerikas wurde in unterschiedlicher Weise von beiden Seiten vorangetrieben. Die USA blieben verstrickt in den Widerspruch zwischen der eigenen revolutionären Tradition und einer Außenpolitik, die problemlos mit reaktionären und konterrevolutionären Kräften im Süden kooperierte. Ermöglichte die revolutionäre Tradition durchaus die Anrufung eines gemeinsamen emanzipativen Ursprungs, so zerstörte die konkrete Hinterhofpolitik eine Kooperation unter Gleichen. Der Süden wiederum war, wie Knud Krakau Knud Krakau: Die politischen Beziehungen zwischen Nord- und Südamerika: Von der Monroe-Doktrin zum Interamerikanischen System. In: ders. (Hrsg.): Lateinamerika und Nordamerika. Gesellschaft, Politik und Wirtschaft im historischen Vergleich. Frankfurt a.M. 1992, S. 191. betont, vom „zähen politische Kampf Lateinamerikas um seine Gleichrangigkeit, letztlich um seine Würde” geprägt. Solange diese verwehrt bleiben, und wirtschaftliche Abhängigkeit die Beziehungen zwischen dem südlichen und dem nördlichen Amerika dominieren, bleibt der Kontinent gespalten. Die Aktualität der Spaltung zeigt sich nicht zuletzt auch in den heftigen Diskussionen um Freihandelzonen und -abkommen. In der 1991 von Georg Bush proklamierten Schaffung eines „Gemeinsamen Markt von Alaska bis Feuerland“, englisch: Free Trade Area of the Americas (FTAA); spanisch: Área de Libre Comercio de las Américas (ALCA) „Beim gegenwärtigen Stand der Weltzivilisation ist der Reichtum Amerikas für Europa nicht gleichgültig, denn davon ernährt sich unsere Industrie und lebt unser Handel. Wir sind daran interessiert, dass die Republik der Vereinigten Staaten mächtig und wohlhabend ist, doch haben wir kein Interesse, dass sie sich des ganzen Golfs von Mexiko bemächtigt, um von dort aus die Antillen und Südamerika zu beherrschen und die einzige Ausgabestelle für Produkte aus der Neuen Welt wird. Wenn sie einmal Mexiko und damit Zentralamerika und damit den Durchgang zwischen zwei Meeren beherrscht, wird es in Amerika keine andere Macht mehr als die Vereinigten Staaten geben. Wenn es uns im Gegenteil gelingt, eine stabile Regierung sieht der venezolanische Präsident Hugo Chávez lediglich ein „Werkzeug des Imperialismus“. Dagegen versuchte er mit seiner Initiative im Jahre 2005 mit Bezug auf Simon Bolívar seine „Alternativa Bolivariana para las Américas“ (ALBA) zu setzen, die sich an Europa, nämlich am Modell der Europäischen Union orientieren soll. 4. DER RIO BRAVO ALS GEOKULTURELLE GRENZE? Die Europäer wiederum, die mit der Monroe-Doktrin aus der westlichen Hemisphäre der unabhängigen Republiken herausgehalten werden sollten, mischten sich durchaus in die Aufteilung des Doppelkontinents ein. Bereits Alexis de Tocqueville hatte bei seinen Reisen zwei sehr unterschiedliche Amerikas wahrgenommen. Er ist es auch, der zusammen mit Michel Chevalier die Idee eines lateinischen, über Europa hinausgreifenden Kulturkreises oder von einer „race latine“ unterstützte, die auch in außereuropäischen Regionen, insbesondere in Amerika, zu verorten sei. Damit verband er zugleich die Warnung vor einer Expansion der USA und vor der Gefahr eines Konflikts entlang der Scheidelinie zwischen dem lateinischen und dem angelsächsischen Amerika. Mit der Annexion von Texas durch die USA sah man in Frankreich diese Befürchtungen bestätigt. Frankreichs Außenminister François Pierre Guillaume Guizot formulierte in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit, die „race latine“ nicht allein in Europa, sondern auch in Amerika zu schützen, damit sie nicht unter das Joch der Angelsachsen käme: „qu’elle ne tombe pas sous le joug, et ne soit pas dévorée par la race anglo-américaine”. Zitiert in Frank Ibold: Die Erfindung Lateinamerikas: die Idee der latinité im Frankreich des 19. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf die Eigenwahrnehmung des südlichen Amerika. In: Hans-Joachim König, Stefan Rinke (Hrsg.), Transatlantische Perzeptionen: Lateinamerika – USA – Europa in Geschichte und Gegenwart. Stuttgart 1998, S. 80. Doch erst unter der Herrschaft Louis Bonapartes, im „Seconde Empire“, wurde „Latinität“ in Frankreich zunehmend politisiert und mit geostrategischen Überlegungen verbunden. Mit der französischen Intervention in Mexiko (Januar 1862 bis März 1867), die mit der Hinrichtung des vom französischen Monarchen unterstützten Kaisers Maximilian endete, erlebte die Konstruktion einer transatlantischen „race latine“ ihr geostrategisches Fiasko. Der unmittelbare Anlass für das koloniale Abenteuer waren kommerzielle Interessen Frankreichs, etwa die Eintreibung höchst dubioser Schulden. Die weitergehenden geopolitischen Motive Frankreichs zielten jedoch eindeutig darauf, im Wettlauf mit den USA schneller zu sein und Mexiko im Einflussbereich Frankreichs zu verankern, bevor die USA die Vorherrschaft über den ganzen Kontinent erlangen konnten. Die Gelegenheit schien günstig. Der nördliche Nachbar Mexikos war während seines Bürgerkrieges seit 1861 weitgehend handlungsunfähig und konnte, selbst wenn er gewollt hätte, seine 1823 gegen die europäischen Kolonialmächte formulierte Monroe-Doktrin nicht militärisch durchsetzen, so dass die Warnung der USA an das monarchistische Frankreich, sich in Mexiko einzurichten, von Napoleon III sogar öffentlich gering geschätzt werden konnte. In seinem veröffentlichten Schreiben an General Forey vom 3. Juli 1862 heißt es: Legitimiert wurde das militärische Abenteuer von Napoleon III mit der Behauptung, einen gemeinsamen lateinischen Kulturkreis beschützen zu müssen. Zugleich bemühte man sich auch über wirtschaftspolitische Maßnahmen um eine stärkere Integration. Die Zollunion der lateinischen Länder und die Gründung einer „Union monétaire latine“ 1865 in Paris waren jedoch ebenso wenig erfolgreich wie die militärische Intervention in Mexiko. Ende des 19. Jahrhunderts war das mit der französischen Außenpolitik eng verbundene Projekt der „Latinität“ gescheitert. Allerdings bedeutete dies in keiner Weise das Ende der „Latinität“ und der damit verbundenen Abgrenzung gegenüber der angelsächsischen Kultur. Im Gegenteil durch die Aneignung im Diskurs lateinamerikanischer Intellektueller im Begriff „Lateinamerika“ gewann beide, die „Latinität“ und ihre Frontstellung gegenüber dem „Angelsächsischen“, im 19. und beginnenden 20 Jahrhundert eine neue Bedeutung, die mit Überlegenheitsgefühlen der europäisierten Intellektuellen des Südens gegenüber dem pragmatischen Norden einherging. Zugleich erfährt der Begriff bis heute eine andauernde Karriere und Ausweitung, und reicht mit der Zuschreibung „latino“ weit nach Nordamerika hinein, wo mit ihm die spanischsprachige Bevölkerung, erfasst wird. 5. MEXIKO VOM SPRECHER DER „DRITTEN WELT“ ZUM SCHLEUSENRAUM GEGEN DEN SÜDEN Wie und wo immer man Mexiko auch konkret verorten mag, stets wird man auf den Nachbarn im Norden verwiesen. Fast niemand kommt ohne das bekannteste Zitat des mexikanischen Diktators Porfirio Díaz Mexikanischer Präsident von 1877 bis 1880 und von 1884 bis 1911 , aus, der das Schicksal seines Landes stärker von den USA denn von Gott geprägt sah, „pobre México, tan lejos de Dios y tan cerca de los Estados Unidos”. Damit wird zugleich die Differenz als auch die Abhängigkeit von den USA erfasst, in der sich die mexikanische Politik und Gesellschaft bewegt. Die mexikanische Republik hat sich seit ihrer Gründung stets als souveräner Staat und nicht als Damm zwischen Nord- und Südamerika gesehen und lange Zeit die Abhängigkeit zu überspielen versucht bzw. einen pragmatischen Umgang praktiziert. Nach der Vertreibung der napoleonischen Truppen und erst recht nach der Revolution (1910-1917) beruhte das außenpolitische Verständnis der Republik auf der “Doctrina Juárez”, Die “Doctrina Juárez” geht zurück auf eine Rede von Präsident Benito Juárez im Juli 1867, in der er die außenpolitischen Leitlinien Mexikos formulierte: “Que el pueblo y el gobierno respeten los derechos de todos. Entre los individuos, como entre las naciones, el respeto al derecho ajeno es la paz”. Zitiert in Raúl Benítez Manaut: Soberanía política exterior y seguridad nacional en México: 1821-1990. In: Revista de Administración Pública, No.98 (1998), S. 58. Das Prinzip der “igualdad jurídica de las naciones” reformulierte Francisco Madero 1913, wiederum mit Blick auf die als Bedrohung wahrgenommene Übermacht der USA. ebenda, S. 60f. die das Selbstbestimmungsrecht der Nationen einfordert. Die mexikanische postrevolutionäre Nation geformt haben dabei in erster Linie die Revolutionsgeneräle des Nordens. Nach Venustiano Carranza aus dem nördlichen Coahuila sind es die Sonorenser, Alvaro Obregón und Elias Plutarco Calles, Repräsentanten der „frontera nómada“ Hector Aguilar Camin: La frontera nómada. Sonora y la Revolución Mexicana. Mexiko 1985. , die in den 1920er Jahren ihre südlichen Mitbürger mit der Geringschätzung von Prokonsulen regierten. Sie fühlten sie zu weit entfernten wilden Stämmen abkommandiert. Alan Knight: The Mexican Revolution (Vol.1 und Vol.2). Cambridge 1986. Die „Indios“ galt es in einer Art Bildungskreuzzug zu missionieren, damit sie für eine moderne Nation zivilisiert genug wären. Marianne Braig: Frauen als Vermittlerinnen zwischen der Nation und der ”Welt der Dörfer” - Lehrerinnen im postrevolutionären Mexiko. In: Hispanorama, Nr. 81. (August 1998), S. 12-27. Die Politik des „forjar patria“ hatte Erfolg, auch wenn der mexikanische Staat über die ökonomischen und demographischen Entwicklungen sowie über seine Grenzen nur eine begrenzte Kontrolle ausübte. Die sozialen Bewegungen, auch die oppositionellen, mussten sich viele Jahrzehnte mit ihm in Beziehung setzen, in der Regel innerhalb korporativer Strukturen und in der akklamativen Form gegenüber eines „Leviatán en el zócalo“ Joe Foweraker, Ann. L. Craig: Popular Movement and popular Change in Mexico. Boulder 1990. „Obwohl auch früher schon sechzig bis siebzig Prozent des mexikanischen Außenhandels mit den Vereinigten Staaten abgewickelt worden seien, hätte man bei Debatten in den Vereinten Nationen oder in Gesprächen über die Zukunft Mittelamerikas den Eindruck gewinnen müssen, beide Staaten seien ‘Erzfeinde’. Jetzt hingegen sei die übliche ‘demagogische Rhetorik der Dritten Welt’ einer ‘in internationalen Fragen verantwortungsbewußteren . In den 1970er Jahren verstärkten sich vor allem während der Präsidentschaft von Luis Echeverría die Bemühungen, nicht als Vorhof der USA zu gelten und eine prononcierte, eigenständige Außenpolitik zu betreiben. So positionierte sich Mexiko in dieser Zeit nicht nur als Teil Lateinamerikas, sondern ganz bewusst auch als Teil der „Dritten Welt“ und suchte sich als Sprecher der „Blockfreien“ für die damit verbundenen Interessen zu profilieren. Umgekehrt sah der nördliche Nachbar viele Jahre distanziert, ja irritiert auf den südlichen, der sich aus seiner Warte angesichts der auch schon lange vor dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) bestehenden engen wirtschaftlichen Verflechtungen und der wachsenden Migration undankbar, ja feindlich gerierte. Der damalige US-amerikanische Botschafter in Mexiko, John D. Negroponte, verband deshalb schon zu Beginn der NAFTA-Verhandlungen diese mit der Hoffnung auf eine proamerikanische Neuorientierung der mexikanischen Außenpolitik. Lautstark beklagte er: Diese Polemik war sicherlich unangebracht. Trotz anti-amerikanischer Gefühle sind die Mexikaner in ihrer Beziehung zu den USA stets äußerst pragmatisch. Insbesondere die mexikanische Diplomatie suchte traditionell einen professionellen Umgang mit dem Hegemon des Kontinents. Diese Praxis galt es in den 1990er Jahren den neuen Gegebenheiten einer globalisierten Welt anzupassen, in die Mexiko vor allem über rasch wachsende legale und illegale Wirtschafts(be)- und Migrationsbeziehungen zu den USA eingebunden ist. Nicht nur wurde die bereits in den 1980er Jahre begonnen außenwirtschaftliche Öffnung danach massiv vorangetrieben; zugleich wurden auch wirtschaftspolitische Vorstellungen der USA übernommen und damit mit den früheren in Lateinamerika lange Zeit stark verankerten Praxen der Importsubstitution und der Abgrenzung der eigenen Volkswirtschaft nach außen, gebrochen. Viele Lateinamerikaner glaubten die Mexikaner könnten als Mitglieder von TLCLandia TLC ist die Abkürzung des spanischen Tradado de Libre Comercio zwischen Canada, Mexiko und den USA. Zu TCLandia siehe Alan Knight: Cartografiar el cambio. Conferencia impartida el 13 de octubre de 2006 en el marco de la Cátedra Alfonso Reyes. In: CONfines 3/5 enero-mayo 2007, S. 11- 15. von Lateinamerika abrücken und dem südlichen Teilkontinent den Rücken zuwenden. Die ökonomische Einbindung des mexikanischen Territoriums in den Norden vollzog sich in den vergangenen Jahrzehnten in verschiedenen Etappen. Dabei stellt die ökonomisch selektive Öffnung nur eine dar. Die seit 1994 geltende nordamerikanische Freihandelszone NAFTA ist ganz im angelsächsischen Sinne der freien Beweglichkeit von Waren und Dienstleistungen verpflichtet; die der Menschen suchte man aus den Dokumenten fernzuhalten. Vorausgegangen war das mexikanische Grenzindustrieprogramm von 1965, in welcher eine 12,5 Meilen breite Sonderzone entlang der 2.000 km langen Grenzen zu den USA festgelegt worden war. Dieses war als Ersatz für das 1951 unterzeichnete und 1964 durch den us- amerikanischen Kongreß nicht mehr verlängerte Bracero-Abkommen gedacht. Dieses hatte die saisonale Arbeitsvermittlung von mexikanischen, hauptsächlich männlichen Arbeitskräften in den USA rechtlich geregelt und Tausenden von Arbeitsmigranten zeitweilig Einkommen gesichert. Das Programm sollte die hohe Arbeitslosigkeit in den Grenzregionen bekämpfen, indem ausländischen Investitionen Sonderbehandlung außerhalb des mexikanischen Arbeits- und Sozialrechts zugebilligt wurde. Der Grenzraum zog weitere Migration an und verwandelte zahlreiche twin cities an der Grenze zu boomenden Industrie- und Dienstleistungszentren. Von diesen gingen in den letzten Jahren oftmals nicht nur stärkere ökonomische sondern auch kulturelle Impulse aus. Darüber hinaus ist es in der Tat den USA in letzter Zeit gelungen, Mexiko nicht nur ökonomisch über die nordamerikanische Freihandelszone, sondern auch geostrategisch in die hemisphärische Konstruktion eines neuen “North America” einzubeziehen. Dieses neue “North America” ist Teil einer veränderten Sicherheitsperspektive auf die Amerikas, Hierzu Marianne Braig, Christian Baur: ?Hemisferio occidental dividido?“ O bien: ?Hasta dónde llega México?. In: Iberoamericana, No. 20 (2005), S. 109-126. ein Blick, der den Kontinent neu aufteilt und Mexiko die Funktion eines Schleusen- und Grenzraumes gegenüber Südamerika zuweist. Aus der Perspektive des US- amerikanischen Verteidigungsministeriums gehört Mexiko seit 2002 zum „Northern Command“ oder „NorthCom“ und bildet damit Teil der „homefront“. Ins Visier geraten dabei weniger befeindete Staaten, sondern sich bewegenden Individuen. Es geht um die Kontrolle illegaler und illegalisierter Bewegungen von Menschen und Waren, von Migranten, Terroristen und Drogen. Obgleich es in den 1990er Jahren gelungen ist, legitimiert durch verschiedene Sicherheitsdiskurse, massiv Ressourcen für Programme wie Operation Gatekeeper (in Kalifornien), der Operation Hold-the-Line (in Texas) und Operation Safeguard (in Arizona) zu mobilisieren, und begonnen wurde im Rahmen des „Plan Sur“, den mexikanischen Südens in einen befestigten Grenzraum zu verwandeln, sind die Erfolge des „Rebordering“ der lange Zeit relativ offenen Grenze zwischen den USA und Mexiko empirisch kaum festzustellen. Denn trotz deutlich verstärkter Grenzkontrollen, technischer Aufrüstung, Mauerbau und einer gewachsenen Zahl von im Grenzraum aufgegriffener und zurückgeschickter Personen steigt die Zahl der spanisch sprechenden Bevölkerung in den USA. Im Zeitraum zwischen 1990 und 2000 ist die „Hispanic Population“, in den USA um 60% angewachsen - viermal stärker als die Gesamtbevölkerung. Als solche erfasst das US Census Bureau Spanisch sprechende Personen, gleichgültig ob sie in Lateinamerika geboren sind oder ihre Herkunft in die früheren spanischen Kolonien, die seit dem 19. Jahrhundert zu den USA gehören, zurückverfolgen können. Diese aufgrund ihrer Sprache zusammengefasste Gruppe wird seit der Publikation der Bevölkerungsdaten von 1980 in der Öffentlichkeit als die größte und schnellstwachsende Minderheit diskutiert und in einigen Kreisen als Gefahr für die anglo-amerikanische Kultur wahrgenommen. Dabei werden im öffentlichen Diskurs die Differenzen innerhalb dieser äußerst heterogenen Bevölkerung eingeebnet. Ausgeblendet werden nicht allein die sprachlichen, religiösen, ethnischen und sozialen Differenzen der Arbeitsmigranten, ob legal oder „indocumentados“, verdrängt werden dabei ebenso die historischen Unterschiede: Das Wissen darüber, dass große Teile des Südens zunächst zum spanischen Kolonialreich oder zum unabhängigen Mexiko gehörten, ebenso wie die Geschichte der „Mexican Americans“, der Bevölkerung aus Puerto Rico, deren Bewohner seit 1917 Bürger der USA sind, oder der im Kontext der kubanischen Revolution nach Florida migrierten Kubaner. Alles und alle gehen in der Konstruktion der „Hispanics/Latinos“ auf. AUSBLICK: PERSPEKTIVE VON UNTEN AUF DIE AMERIKAS Folgt man dem Kulturwissenschaftler Hector García Canclini erleben die Lateinamerikaner Globalisierungsprozesse anders als ihre nördlichen Nachbarn, nämlich als Kulturproduzenten, als Migranten und als Schuldner, García Canclini: Latinoamericanos buscando lugar en este siglo. Buenos Aires 2002, S.12. leicht kann man den Handel mit Drogen und anderen illegalen oder auch illegalisierten Waren und Diensten hinzufügen Aus einer Perspektive von unten, geht es, wie Ludger Pries es ausdrückt, um die „Transnationalisierung der sozialen Welt“ Ludger Pries: Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Frankfurt a. M. 2008. . Eine solchen findet an vielen Orten statt diesseits und jenseits des einstmals als geokulturelle Grenze fixierten Rio Bravo. Transmigrationsprozesse ziehen nicht allein Verbindungslinien zwischen indianischen Dörfern im Süden und ländlichen Regionen oder städtischen Slums weit im Norden, sondern sie verändern die Räume an den Staatsgrenzen, am deutlichsten sichtbar in den wachsenden twin cities an der US-mexikanischen Grenze, aber auch in Stadtvierteln wie Pilzen in Chicago oder in Dörfern in Michoacán. Sie sind geprägt durch die Bewegungen und Praxen der etwa 10 Millionen legal und etwa 10 bis 12 Millionen ohne Aufenthaltspapiere in den USA lebender Migranten und ihren Überweisungen von ca. 20 Milliarden US- Dollar. Ebenda, S. 10. Die damit verbundenen politischen Themen prägen neue grenzüberschreitende Politikfelder, so genannte intermestics, aber auch die Wahlkämpfe auf beiden Seiten des Flusses. In wachsendem Maße werden die Stimmen der „Latinos“ als entscheidend wahrgenommen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2004 stellten sie 16% der Wähler in Kalifornien, 17% in Arizona, 11% in New York und 9% in Florida. Süddeutsche Zeitung Nr. 16, 19./20. Januar 2008, S. 9. „A Day without Mexican“ Ein Film von Sergio Arau aus dem Jahre 2004 ist mehr als ein Film; im „Great American Boykott“ verweigerten sich am 1. Mai 2006, in den USA im Unterschied zu Lateinamerika ein normaler Arbeitstag, Millionen legaler und „illegaler“ Latinos und blieben der Arbeit, den Schulen und den Einkaufszentren fern. Us-amerikanische Organisationen, wie Gewerkschaften, haben sich in den letzten Jahren durch den Zuwachs lateinamerikanischer Mitglieder, viele auch ohne legale Aufenthaltsgenehmigung, massiv verändert. Umgekehrt erobern us-amerikanische Organisationen, wie die evangelikalen Kirchen und andere religiöse Gruppierungen den Süden des Kontinents, und verändern den Alltag und die sozialen Praxis von immer mehr Menschen im Süden. Geschätzt wird, dass heute in kleinen „Sekten“ oder Mega-Kirchen, die Wirtschaftsunternehmen gleichen, sich mehr Menschen den auch innerweltlichen Wohlstand verheißenden Evangelikalen zugewandt haben, als Katholiken in Europa im Zuge der Reformation protestantisch wurden. In Mexiko scheint der Anteil an der Mehrheitlich katholischen Bevölkerung noch geringer als in anderen mittel- und südamerikanischen Ländern; doch gerade im Süden, wie im Bundesstaat Chiapas mit einem hohen Anteil indianischer und armer Bevölkerung, ist der offizielle Anteil der Nicht-Katholiken auf 21% angestiegen. 38 Eine weitere Transnationalisierung der sozialen Welt lässt sich im Konsumbereich beobachten. Produktpiraterie, Produktfälschung oder Markenpiraterie stellen nicht allein Einkommensquellen dar, sondern vor allem erlauben sie dem wachenden Teil der armen Bevölkerung Lateinamerikas am Konsummodell der westlichen Welt teilzunehmen, unabhängig davon, wo die Billigprodukte produziert und gehandelt werden. Unabhängig davon, ob sie nun direkt in Mexiko-Stadt oder Lima produziert oder aus China legal oder illegal eingeführt werden, prägen sie den Konsum der Menschen und verändern zugleich das Straßenbild der großen lateinamerikanischen Städte. In diesen und vielen anderen transnationalen Prozessen entstehen “zonas de negociación transnacional” oder “terrenos disputados”, jenseits der Gegenüberstellung angelsächsischer und lateinamerikanischer ‚Kulturkreise’; die auszuhandelnden Territorien reichen weit über die Grenzstädte hinaus, in die Kernregionen des Nordensund Südes hinein. Sie schaffen neue mentale Landkarten. Weit jenseits nationalstaatlicher Grenzziehungen verändern sie die Beziehungen der Menschen der Amerikas zueinander. In diesen kommt Europa immer weniger vor. Ja es scheint die transatlantischen Beziehungen verlieren zunehmend an Bedeutung. Sie werden durch die rasch wachsenden transpazifischen Beziehungen an den Rand gedrängt, die sich in die inneramerikanischen Verflechtungen einlagern. ANJA BANDAU EINLEITUNG Ende des 19. Jahrhunderts setzt im Anschluss an die Strömung des Panlati- nismus das Nachdenken über Lateinamerika ein. Dem voraus geht der Traum Simón Bolívars von einer Föderation Lateinamerikas in Anlehnung an die USA (in seinem Brief aus Jamaika von 1815) ebenso wie der Entwurf einer pan- amerikanischen Identität in den Schriften des venezolanischen Universalgelehr- ten Andrés Bello. Während die Gründungsromane der Zeit der Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert vor allem nationale Einigungserzählungen in Abgrenzung von Europa schufen – Domingo Faustino Sarmientos hybrider Text Zivilisation und Barbarei (1845) reiht sich in diesen Kontext ein, wird aber später auch kon- tinental interpretiert –, erfolgten die lateinamerikanischen Entwürfe in Abgren- zung von den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts eher in der Essayistik sowohl in Süd- sowie Zentralamerika als auch in der Karibik. Seit dem lateinamerikani- schen Boom hat die Literaturkritik zunehmend eine kontinentale Perspektive eingenommen und in Hinblick auf eine eigenständige lateinamerikanische Literatur analysiert. Mit den Prozessen der Globalisierung, gewandelten Wahrnehmungen geopo- litischen Raums durch Waren- und Wissensströme und durch die Bewegungen von Transmigranten zwischen ihrem Herkunftsort und ihrem Arbeits- und Le- bensort verändert sich seit den 1980er Jahren der Blick auf Amerika. Die Tren- nung zwischen Nord und Süd verwischt zusehends, wenn insbesondere die Grenze zwischen USA und Mexiko den perfektesten Bewachungsmethoden zum Trotz immer durchlässiger wird. Die vermeintlichen Entitäten Latein- und Nord- amerika werden unterwandert, das gestiegene Interesse an den verschiedenen argentinischen, chilenischen, kubanischen, zentralamerikanischen Diaspora- Gemeinschaften in den europäischen und amerikanischen Metropolen stützt die- se Beobachtung. Die Positionen, von denen aus Amerika entworfen wird, haben sich entsprechend vervielfältigt und der Tendenz zur Abgrenzung hat sich Ende des 20. Jahrhunderts eine Neu-Aneignung, eine Verschiebung und Offenheit für den Dialog hinzugesellt. Dem einen Amerika, mit dem zumeist die USA und dann erst ein „iberoamerikanisches“ Amerika gemeint ist, stellen sich die „ande- ren“ Amerikas gegenüber, die Identitäts- und Raumentwürfe der ethnischen, po- litischen und ökonomischen Minderheiten, das indigene Amerika (Amerindia), das Afro-Amerika in nationalen und supranationalen Entwürfen. Diese Prozesse finden Ausdruck in Aneignungen und Einschreibungen in die Namensgebung: América mit Akzent beschreibt nicht nur die Hispanisierung der USA, sondern entwirft auch einen transregionalen interamerikanischen Raum mit Süd-Nord-Ausrichtung; dem Amerikkka kristianizante kolonizante kapitali- zante stellt der Chicano-Poet Alurista Alurista: hacendado. In: Timespace Huracán. Poems, 1972-1975. Albuquerque/N.M. 1976. in der Hochkonjunktur der Chicano- Bewegung Aztlán und Amerindia gegenüber; L’autre Amérique prägt Edouard Glissant als das Andere des weißen Amerikas. Dieser Beitrag behandelt Entwürfe aus und in Zusammenhang mit zwei Regi- onen, die in Bezug auf ihren politischen und geostrategischen Einfluss als „Randgebiete“ Lateinamerikas galten, jedoch im ausgehenden 20. Jahrhundert konzeptionell an Bedeutung für das ‚Denken der Amerikas’ Ich beziehe mich hier auf den einflussreichen Band von Birgit Scharlau (Hg.): Lateiname- rika denken. Tübingen 1994. gewonnen haben: die Karibik und das mexikanisch-US-amerikanische Grenzgebiet. Die veränder- te Wahrnehmung beider Räume lese ich als symptomatisch für ein verändertes Verständnis der Amerikas, das auch durch ein weiteres Beispiel aus dem Cono Sur gestützt wird. KONTINENTALE SELBSTVERSTÄNDIGUNG ZU BEGINN DES 20. JAHRHUNDERTS IM LATEINAMERIKANISCHEN ESSAY Die Entwürfe, die sich in größeren regionalen Einheiten verorten, entstehen mit der Rückbesinnung auf die hispanischen Wurzeln des Kontinents, die seit der Unabhängigkeitsbewegung im 19. Jahrhundert eher abgelehnt worden wa- ren, mit dem Konzept des Panlatinismus und der Erfindung Lateinamerikas. Die Essayistik ist es vor allem, die diese Gedanken in der Verbindung von philoso- phischen, literarischen und schließlich politischen Kriterien formuliert: von Martís Nuestra América über Enrique Rodós Ariel bis hin zu José Vasconcelos’ Raza cósmica . Der Essayist, Dichter und Politiker der Unabhängigkeit José Marti schrieb 1891 aus „dem Inneren des Monsters“, den USA, in Abgrenzung von eben je- nem utilitaristischen Norden seine Vision Lateinamerikas als die eines mestizi- schen Amerikas. Im Entwurf des Uruguayers José Enrique Rodó kommt in der Konfrontation mit Angloamerika Europa als lateinisches zurück und wird gegen die USA ausgespielt. In dem 1900 erschienenen Ariel – das die lateinamerikani- sche Essaytradition mitbegründet – stellt der Autor auf der Grundlage des Panla- tinismus die Opposition zwischen den calibanesken Vereinigten Staaten (Utilita- rismus) und den lateinamerikanischen Ländern Ariels (Idealismus und Kultur) her. Der Shakespearsche Luftgeist verkörpert das interessenlose Ideal des Geis- tes, der Kunst und Wissenschaft sowie der Moral als Wesenszüge Lateinameri- kas. Caliban ist hier der nicht kultivierte barbarische Untertan. Diese Lesart wird sich in der Folge ändern und in den karibischen Entwürfen einer Pan-Identität den indigenen Caliban aufwerten. In Rodós Entwurf wird der Schriftsteller als “maître penseur“, als Vordenker einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung konstituiert, der als Politiker-Philosoph-Poet tatsächlich diese verschiedenen gesellschaftlichen Sphären in sich vereinte. Vgl. Ottmar Ette: Lateinamerika und Europa. Ein literarischer Dialog und seine Vorge- schichte. In: José Enrique Rodó, Ariel, übers., hg. und erläutert v. Ottmar Ette. Mainz 1994, S. 9-58. Siehe auch Roberto Gonzáles Echeverría: The voice of the masters. Writing and Authority in Modern Latin American Literature. Austin 1985, S. 16. Rodós Entwurf ist an die Jugend des Kontinents gerichtet und umreißt eine Zukunft, in der Lateinamerika als Träger von Kultur an Bedeutung gewinnt. Auch der Mexikaner José Vasconcelos propagiert 1925 in La raza cósmica die Mestizen als kosmische „Rasse“ Ich beziehe mich hier auf den historisch gewachsenen Begriff Rasse und verstehe ihn als diskursives Produkt, der durchaus materialisierte Ergebnisse zeitigt. der Zukunft. Die aus heutiger Sicht höchst problematische Idee der Überlegenheit einer fünften, „iberoamerikanischen Ras- se“, in der die jeweils besten Eigenschaften aller anderen durch den Prozess der Mestizierung zusammenkommen, stellte für Vasconcelos die Möglichkeit dar, die Trennung zwischen den verschiedenen „Rassen“ zu überwinden. Seine Vor- stellungen sind von der Eugenik und der Evolutionslehre des 19. Jahrhunderts geprägt, sie sehen die Teilhabe der indigenen Bevölkerung nur über die Aufhel- lung der Hautfarbe, also ihre Assimilierung an einen weißen Standard vor. Die- ses nationale mexikanische Modell steht hier stellvertretend für die vielen ande- ren Entwürfe eines mestizischen Staatsbürgers. In unserem Zusammenhang erhellt er jedoch interamerikanische Rezeptionslinien, denn auf Vasconcelos’ raza cósmica beziehen sich mexikanisch-amerikanische Autorinnen und Auto- ren in ihren Identitätsentwürfen seit den 1950er Jahren in den USA. Anders als Vasconcelos suchen der Dominikaner Pedro Henríquez Ureña, der Venezolaner Mariano Picón Salas und der Mexikaner Octavio Paz nach einer (latein)amerikanischen Ausdrucksweise in den Quellen der Kolonialkultur. Pedro Henríquez Ureña: Seis Ensayos en busca de nuestra expresión. Buenos Aires 1928; Mariano Picón Salas: De la Conquista a la Independencia. Tres siglos de historia cultural hispanoamericana. Mexiko 1944. Interessanterweise taucht bei Picón Salas der Begriff der Transkulturalität bereits 1944 auf. Octavio Paz: Sor Juana Inés de la Cruz o las trampas de la Fe. Mexiko 1982. Auf die verschiedenen Romane Anfang des 20. Jahrhunderts, die die Be- drohung durch die USA zum Thema haben, kann ich hier nicht weiter eingehen. Zu nennen sind der Guatemalteke Máximo Soto Hall mit seinen Romanen El Problema von 1899 und La 208 Anja Bandau sombra de la casa blanca (1927) oder auch der Venezolaner Manuel Díaz Rodríguez mit Idolos rotos (1901). Diese allerdings ausschließlich lateinamerikanische Selbstvergewisserung setzt sich fort bis in die 1980er Jahre. AMERIKA AUS KARIBISCHER SICHT: EINE POETIK DER RELATIONALITÄT UND ARCHIPELISCHES DENKEN Michael Dash argumentiert 1998 in The Other America für eine hemisphäri- sche Identität der Amerikas, die von der Karibik aus gedacht wird, da diese Re- gion die Prozesse der Kolonisation und Dekolonisation und der damit verbunde- nen Transkulturation exemplarisch und in aller Schärfe durchlaufen habe: die Ausrottung der autochthonen Bevölkerung, die Einwanderung und Neubesied- lung, die Plantagenökonomien und die Abhängigkeit von der kolonialen Metro- pole. Michael Dash: The Other America. Charlottesville/London 1998, S. 5. Obwohl die Region im Zusammenhang mit Lateinamerika oft vergessen oder ausgespart wurde und strategisch lange kein Gewicht hatte, kommt ihr Laborcharakter in Sachen Kulturkontakt zu. Es entsteht hier eine Vielzahl theo- retischer Modelle und Texte, die transkulturelle Prozesse beschreiben. Auch Ottmar Ette führt dies überzeugend aus und spricht von einem archipelischen Modell für Pluralitäten weltweit. Siehe dazu seinen Aufsatz: Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik. In: Marianne Braig/Ottmar Ette/Dieter Ingenschay/Günther Maihold (Hg.): Grenzen der Macht-Macht der Grenzen. Frankfurt a.M. 2005, S.135-180 und Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin 2005. Den Begriff des anderen Amerika übernimmt Dash von Edouard Glissant, Kulturtheoretiker und Poet aus Martinique (Landsmann von Frantz Fanon und Aimé Césaire), der in seinem umfangreichen Discours antillais (1997) ein ande- res Amerika zeigt, das gerade nicht „lateinisch“ ist. Das Konzept des Anderen sieht Glissant untrennbar verbunden mit einer rhizomatisch gedachten „eigenen“ Identität, die vernetzt ist und vielfältige Bezüge herstellt. Seine Poetik der Be- ziehung(shaftigkeit) – die poétique de la relation – ermöglicht, ja erfordert eine Pluralisierung Amerikas. In Anlehnung an Glissant entwirft Dash einen multi- lingualen karibischen Kanon und überwindet hier die für die Karibik oft konsta- tierten Rezeptionsgrenzen entlang der Sprachgrenzen zwischen spanisch-, fran- zösisch-, englisch- und holländischsprachiger Karibik, ganz abgesehen von den diversen Kreolsprachen. Glissants Kanon von amerikanischer Literatur fasst ent- sprechend seines Konzepts der Beziehungen sowohl den US-Amerikaner Willi- am Faulkner, den Kubaner Alejo Carpentier als auch karibisch-kanadische Auto- ren wie Jacques Ferron. In Faulkner/Mississippi (1996) zieht er die Verbindung zwischen den US-amerikanischen Südstaaten und der Karibik; Siehe Edouard Glissant: Le Discours antillais. Paris 1997, 17, 435ff. und Edouard Glissant: Faulkner /Mississipi. Paris 1996. sein Entwurf sieht die Karibik als „the advancing front of America“. Glissant in Dash: The Other America, S. 13. Glissant schreibt sich insofern in eine „lateinamerikanische“ Tradition ein, als er alternative Formen der Theoriebildung in einer Zwischenform zwischen Essay und Poetik nutzt und in seinen Texten, die Titel wie Traktat, Diskurs oder Poetik tragen, eine Poetik der Kultur entwirft, die sich den herkömmlichen Rastern wissenschaftlichen Schreibens entzieht, aber Lateinamerika hört auf, alleiniger Bezugsrahmen zu sein. Ein weiterer Repräsentant der Theorie des anderen Amerikas, der zugleich einen theoretischen Beitrag dazu leistet, ‚Amerika zu denken’, ist der Exilkuba- ner Antonio Benítez-Rojo. In seinem Text La isla que se repite (1989) Antonio Benítez-Rojo: La isla que se repite. Hanover 1989. Die englische Version: The Repeating Island. Durham 1992 und in einer zweiten erweiterten Auflage Durham 1996. prägt er die Begriffsmetapher des Archipels. Das Archipel versteht der Autor als „dis- kontinuierliche Verbindung“ Benítez-Rojo: Repeating Island, S. 2. im geografischen Sinne ebenso wie im kulturel- len und ökonomischen Sinne, als fragile Verbindung sowohl zwischen den In- seln der Karibik als auch zwischen den Amerikas. In Antonio Benitez-Rojos archipelischem Denken wird der karibische Raum geöffnet und bis auf das la- teinamerikanische Festland hin ausgedehnt sowie mit Brasilien in Beziehung gesetzt. Die Karibik als „fragile link between the Americas“ ruft dabei das Bild der Brücke auf, das an anderer Stelle, nämlich im Diskurs der Chicanas, wieder auftaucht. Die hemisphärische Qualität pan-karibischen Denkens ist nicht erst Ergebnis der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern findet sich bereits bei karibi- schen Denkern und Politikern wie dem Haitianer Antenor Firmin, dem Kubaner José Marti Ende des 19. Jahrhunderts oder dem Trinidader C.L.R. James zu Be- ginn des 20. Jahrhunderts. Die Kubaner José Lezama Lima und Fernando Ortiz stellen in den 1940er Jahren sowohl ästhetische Überlegungen als auch kultur- historische bzw. –theoretische Überlegungen zum spezifisch Lateinamerikani- schen an. Basierend auf den philosophischen Grundlagen Spenglers, sieht Lezama Lima den „amerikanischen Menschen“ als transkulturelles Produkt vor allem aus eu- ropäischen und präkolumbischen Elementen, ein Produkt der Kolonialepoche. Lezama Lima: Expresión Américana. La Habana 1957. Die amerikanische Ausdrucks- welt. Frankfurt a.M. 1992. Das afrikanische Erbe kommt in seinen Darlegungen kaum vor. Immerhin er- wähnt er in seinen Ausführungen zum Barock als dem grundlegenden schöpferi- schen Prinzip Lateinamerikas nicht nur die Schule von Quito sondern auch und insbesondere den brasilianischen Bildhauer Aleijadinho, der afrikanischer Ab- stammung war. Der kubanische Anthropologe Fernando Ortiz beschreibt die Geschichte der Antillen als ökonomische, religiöse und kulturelle Prozesse der De- und Rekul- turation, die er in Abgrenzung von Redfields Begriff der Akkulturaltion in ihrer Gesamtheit als Transkulturation bezeichnet, als eine Koexistenz von Eigenem und Fremdem, bei der beide einen Transformationsprozess durchlaufen. Fernando Ortiz: Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar. La Habana 1940. Tabak und Zucker. Ein kubanischer Disput. Frankfurt a.M. 1987. Diese Analyse bezieht sich nicht nur auf die kubanische Wirklichkeit, sondern be- schreibt die Rückwirkungen sowohl auf dem europäischen wie auf dem afrikani- schen Kontinent. Diese Dynamiken werden etwa von Angel Rama (1989) als zentrale Charakteristik lateinamerikanischer Kultur von Literatur- und Kultur- kritikern wieder aufgenommen und finden sich ebenfalls in Konzepten wie der contact zone . Im Zusammenhang mit dem Entwurf Lateinamerikas als postkoloniale Dritte Welt in den 1960er Jahren steht Roberto Fernández Retamars Antwort auf die Frage nach der Identität der lateinamerikanischen Literatur mit der Figur des Caliban. Roberto Fernández Retamar: Calibán. Apuntes sobre la cultura en nuestra América. La Habana 1971. Der Autor baut Caliban als identitätstiftendes Symbol nicht nur der Karibik sondern darüber hinaus auch Lateinamerikas auf, das Lateinamerika als moralisch integere und bessere Welt repräsentiert. In Antwort auf Rodós Ariel und vor allem in Zusammenhang mit der Diskussion um die Rolle des kubani- schen Intellektuellen 1971 ist es hier der widerständige Caliban, der rebellische Sklave und Indigene, der für die Subalternen, das Volk, steht. Er löst den in der europäischen Tradition gebildeten, seinem Herrn Prospero gegenüber gehorsa- men Ariel ab. Ariel verkörpert bei Fernández Retamar den Intellektuellen, der entweder zum anti-(latein)amerikanischen Verräter wird oder im Dienste der antikolonialen Befreiung Caliban zur Seite stehen kann. Der Kontext, in dem Fernández Retamars Essay entsteht ist, die Debatte um den Dichter Heberto Padilla, der 1971 einem öffentlichen Prozess unterzogen wurde. Der Autor listet unter der Figur des Caliban eine seitenlange Reihe von Namen lateinamerikanischer Intellektueller auf: die Revolutionsführer Toussaint L’Ouverture und Fidel Cast- ro, die guatemaltekische Indígena-Führerin Rigoberta Menchú, den Verfasser des Manifestes der brasilianischen Modernisten Oswald de Andrade, den Archi- tekt Oscar Niemeyer, u.v.a. Die Neuauflage von Retamars Essay zwanzig Jahre später, die der marxisti- sche Theoretiker Frederic Jameson in den USA herausgibt, stellt der Kubaner Ivan de la Nuez 1998 in den Zusammenhang einer globalen und hemispheri- schen Erfolgstory der Retamarschen Caliban-Figur. Caliban and Other Essays. Roberto Fernandez Retamar. Übersetzung von Edward Baker. Vorwort von Fredric Jameson. Minneapolis 1989. Caliban als Figur des Intellektuellen findet gerade in den theoretischen Überlegungen aus dem Kontext ethnischer Gruppen in den USA Aufnahme, so etwa in Hortense Spillers: Comparative American Identities. New York 1991 und José David Saldivar. The Dialectics of Our America. Durham 1991. Calibans Wiederkehr im multikulturellen Kontext zu Beginn der 1990er Jahre, so der Kunst- und Kultur- wissenschaftler aus der Position der kubanischen Diaspora in Spanien, symboli- siere die „peripheren Irruptionen“ in westliche Kultur ebenso wie die Aneignung lateinamerikanischer Theoriebildung durch postmoderne, postkoloniale und eth- nische Minderheiten-Diskurse. Ivan de la Nuez. La Balsa perpetua. Soledad y Conexiones de la Cultura Cubana. Barce- lona 1998, S. 23. Das ewige Floß. Kubanische Kulturpassagen. Frankfurt a.M. 2001. Das habe die Figur des Widerständigen, Caliban, mit dem „wunderbar wirklichen“ Macondo gemein, das sich vom Mar- ker einer spezifisch lateinamerikanischen Ästhetik zu einer rentablen und globa- len Kartographie entwickelt habe. 40 JAHRE MACONDO: DIE ERFOLGSSTORY DES MAGISCHEN REALISMUS Alejo Carpentiers Wunderbar Wirkliches ( real maravilloso ) und Gabriel Gar- cía Márquez’ magisch-realistische Form der „Dorfliteratur“ sind zwei oft zu- sammengefasste Versuche, das Lateinamerikanische, genauer die lateinamerika- nische Literatur nicht nur autonom von der europäischen sondern als transkulturierte und unkontrollierbare Gegenidentität zu etablieren. Carpentier setzt 1949 im Vorwort zu seinem Roman über die haitianische Revolution Das Reich von dieser Welt ( El reino de este mundo ) die karibische Wirklichkeit als das reale Wunderbare und die daraus entstehende Kultur/Literatur von dem „er- fundenen“ Wunderbaren der ästhetischen Entwürfe der französischen Surrealis- ten ab: „Was ist denn die Geschichte ganz Amerikas anderes als eine Chronik des wunderbaren Wirklichen?“ Alejo Carpentier: Vorwort. In: Ders.: Das Reich von dieser Welt. Frankfurt a.M. 2004, S. 115-121, S. 121. El reino de este mundo. La Habana 1949. „Von Mackandal, dem Amerikaner, zeugte eine ganze Mythologie und magische Hymnen, die von einem ganzen Volk aufbewahrt und bei Wodu-Zeremonien noch immer gesungen werden. [...] Und das kommt daher, daß Amerika durch die Unberührtheit der Landschaft, durch die Kultur, das Seinsverständnis, das Faustische des Indianers und des Negers, durch die Offenbarung, die deren Entdeckung vor noch nicht allzulanger Zeit darstellte, und die fruchtbaren Mestizierungen, die sie zeitigte, weit davon entfernt ist, seinen Reichtum an My- thologien erschöpft zu haben.“ Alejo Carpentier: Vorwort, S. 120. Das Konzept entwickelte er allerdings in der Diskussion mit Miguel Ángel Asturias und Arturo Uslar Pietri in den 1930er Jahren in Paris. In der Realität das Wunderbare suchen, hieß die Koexistenz verschiedener Epochen herauszuarbeiten, zyklische Zeitstrukturen zu etablieren. In der Figur des Mackandal, einem der vorrevolutionären Rebellenführer in Saint Domingue, kristallisiert sich die Verbindung von Rationalem und Irrationalem heraus, die berühmte Levitationszene im Roman lädt zu ganz unterschiedlichen Lesarten ein: Der Beitrag des magischen Realismus zur lateinamerikanischen Identitätsdis- kussion ist unbestritten. Die schöpferische Leistung von Austauschprozessen zwischen Genres (Realismus und Phantastik), Weltsichten (Magie und rationale Logik) und Traditionen (Schriftlichkeit und Mündlichkeit), die sich im magi- schen Realismus vollziehen, wurde als Quelle einer eigenständigen lateinameri- kanischen Ästhetik eingeschätzt. Er beantwortete die Frage nach dem Besonde- ren in der lateinamerikanischen Literatur mit der literarischen Konstruktion einer anderen, magisch-mythischen Realität, die durch Oralität, zyklisches Nach-, Neu- und Umerzählen, die Dinge in eine neue Ordnung bringt und so eine neue Realität schafft. Macondo ist der 1967 von Gabriel García Márquez in Hundert Jahre Einsam- keit geschaffene Ort, an dem Magisches und Reales ineinander fließen, ohne wie in der Fantastik gegeneinander gestellt zu werden. Der Roman erzählt die hun- dertjährige Familiengeschichte der Buendías, die vom Zigeuner Melchíades auf Pergamentpapier festgehalten bzw. vorausgesagt wird. Die Buendía verlassen die Küste und dringen in das unbesiedelte Landesinnere vor. Dort hat José Ar- cadio eine Vision und gründet Macondo. In diesem magischen Dorf kehren die Toten aus dem Jenseits zurück, um mit den Lebenden zu plaudern, bewegen sich Menschen auf fliegenden Teppichen durch die Lüfte oder werden beim Wäsche- aufhängen in den Himmel entrückt, eine Schlaflosigkeitsepidemie verwüstet das Dorf, das ein anderes Mal vier Jahre, elf Monate und zwei Tage eingeregnet wird etc. In zyklischen Schleifen, doch halbwegs chronologisch, beschreibt der Roman Macondos hundertjährige Entwicklung vom Dschungeldorf zur moder- nen Gemeinde und streift alle zentralen Stationen der lateinamerikanischen bzw. kolumbianischen Geschichte: die Utopie in der Wildnis, der schrittweise Kon- takt mit der Außenwelt – hier wird der Regionalismus, Konflikt zw. Region und Nationalstaat abgehandelt –, Bürgerkriege, US-Handelsimperialismus, techni- sche Modernisierung, Wirtschaftskrise und urbaner Verfall. Ein apokalyptisches Unwetter löscht Macondo bis auf die letzten drei Buendía aus. Diese Erzählung kommt als Verwirrspiel daher, Macondo wird zur Metapher eines mündlich ge- prägten Lateinamerikas, García Márquez spricht selbst von populären Reflexio- nen, von Nacherzählungen einer historischen Realität, die ungeheuerlich und trotzdem real ist. Dieses Macondo ist an viele andere Orte exportiert, übertragen und transfor- miert worden. Zu einem Zeitpunkt, an dem die lateinamerikanische Literatur längst andere Wege beschreitet und die Kritik das Diktum des magischen Rea- lismus längst durchbrochen hat, werden in Lateinamerika selbst die am Erzähl- modell der magischen Realismus orientierten Romane – Isabel Allendes Geis- terhaus (1981 im Original) und Laura Esquivels Bittersüße Schokolade (1992) – zum erfolgreichen Exportschlager in die USA und nach Europa. Diese erfolgrei- che Rezeptionsgeschichte findet sich auch im Export der Schreibweise: Die US- Latino-Literatur, die Literatur der Native Americans und andere ethnisch defi- nierte Literaturen übernehmen Erzählstrukturen und Versatzstücke einer lokalen Kultur, die sich auf magisch-realistische und mündliche Traditionen besinnt. Cecile Pinedas The Love Queen of the Amazon: A Novel (1992), Rolando Hino- josas Klail City Series und Ana Castillos So Far From God (1993) sowie Leslie Marmon Silkos Ceremony (1977) greifen darauf zurück bzw. werden von der Kritik in diesen Zusammenhang gestellt. Zu den interamerikanischen Rezeptionen des magischen Realismus siehe Karsten Düs- dieker: Transkulturation und Textresistenz. Interamerikanische Exkurse zu Ceremony und Cien años de soledad. In: Hermann Herlinghaus/Utz Riese (Hrsg.): Heterotopien der Identität. Heidelberg 1999. S. 211-260. MCONDO’S VIRTUELLER REALISMUS Als eine Verbindung aus „Feministischen Stereotypen und Exotik“ resümiert Vittoria Borsò (1994) die Texte Allendes und Esquivels, Diana Palaversich be- scheinigt ihnen Postmodernismus light. Vgl. Vittoria Borsò: Mexiko jenseits der Einsamkeit - Versuch einer interkulturellen Analyse. Kritischer Rückblick auf die Diskurse des Magischen Realismus. Frankfurt a.M. 1994, S.14 und Diana Palaversich: De Macondo a McOndo. Senderos de la postmodernidad latinoamericana. Mexico 2005, S. 61-71. „Unser Land McOndo ist größer, überbevölkert und voller Verschmutzung, mit Autobahnen, U-Bahn, Kabelfernsehen und Elendsvierteln. In McOndo gibt es McDonalds, Mac Computer und Eigentumswohnungen … und gigantische Malls. [...] Hier gibt es keinen magischen Rea- lismus, hier gibt es virtuellen Realismus.” Ebenda. Es ist grundsätzlich darüber gestritten worden, ob Macondo selbst nicht schon das Symbol einer tropischen Drittwelt- Postmoderne avant la lettre sei, dafür sprächen seine weitreichenden Auswir- kungen in Afrika und Asien. Auf diese Erfolgsgeschichte beziehen sich jeden- falls jene „jungen Wilden“, die 1996 das magische „Macondo“ dezidiert ablösen wollen und ein Manifest unter dem Titel McOndo verfassen. Die Chilenen Alberto Fuguet und Sergio Gómez, Herausgeber der gleichnamigen Anthologie, etablieren sich als neue Generation, stempeln den magischen Realismus à la Gabo als langweilig und stereotyp ab. Sie bevorzugen globalisierte Populärkul- tur, sie wollen nicht politisch korrekt sein. Sie beklagen sich darüber, dass in den USA „Latino in ist“, sich der Erfolg als Schriftsteller jedoch auf eine ganz be- stimmte Schreibweise reduziere, die von den „Latinos“ erwartet werde: magi- scher Realismus. Im Manifest von McOndo wird der Blick zum nordamerikani- schen Nachbarn dezidiert vorgenommen. Man distanziert sich von dem, was dort als Latino-Literatur verstanden wird, ist gegen einen essentialistischen Re- duktionismus des realistisch magischen als Inbegriff lateinamerikanischer Iden- tität und Kultur. Dabei wird diese Position in den mittel- und südamerikanischen Diskussionen um Literatur längst geteilt. Der magische Realismus, auf den die McOndistas Bezug nehmen, ist nur noch parodistisches Zerrbild seiner selbst. Die Welt der McOndistas ist eine Informationsgesellschaft, vernetzt und global; ihr Entwurf dekonstruiert Lateinamerika als das ausschließlich Indigene, Folklo- ristische, Links Denkende und konstruiert eine Generation „post-alles: post- modern, post-yuppie, post-kommunistisch, post-babyboom“ Alberto Fuguet, Sergio Gómez: McOndo. Barcelona 1996, S. 10. Die deutschen Überset- zungen im Folgenden sind, wenn nicht anders vermerkt, von der Verfasserin. . Es umfasst die Populärkultur der Telenovelas, MTV latina, Miami als Umschlagplatz von Migrationsrouten, NAFTA sowie andere Realitäten wie Umweltverschmutzung, Megacities und natürlich McDonald. Diese Aneignung einer Populärkultur ist nicht neu, andere haben vor und parallel zu McOndo (wie etwa Manuel Puig und die Gruppe Crack) darauf hin- gewiesen. Die Entwürfe sind eher privater Natur und verweigern sich Kollektiv- entwürfen oder etwa einer gemeinsamen Erinnerungskultur im Bezug auf die Vergangenheit der Diktatur. In Fuguets Kurzgeschichte „La verdad o las conse- cuencias“ entschließt sich der Protagonist aufgrund einer privaten Sinnkrise, in die USA zu gehen. Doch auch die Reise nach Norden verbessert die Situation nicht, und in Texas fühlt er sich ebenso allein wie in Santiago. Er landet schließ- lich im Grenzraum zwischen den USA und Mexiko, in dem nomadische Subjek- te von ihrer Heimat entfremdet, die Unmöglichkeit der Suche nach Identität konstatieren. Gefasst wird diese andere Realität und Kultur unter dem „Hybri- den“, der „Bastardkultur“, der Grenze. Es wurde bereits andernorts bemerkt, dass die Visionen der McOndistas überwiegend einer Mittelschicht entstammen, die subalterne Positionen eigentlich nur begrenzt kennt. Die Figuren bewegen sich zwischen Nord- und Südamerika relativ privilegiert frei hin und her. Für ihre Realität trifft sicherlich zu, dass es sich in den vornehmen Vierteln von San- tiago de Chile genauso nah an der Grenze lebt wie in Tijuana. Vgl. Diana Palaversich: De Macondo a McOndo. Senderos der la postmodernidad latino- americana. Mexiko 2005, S. 16. GRENZRÄUME UND KONTAKTZONEN ALS NEUES PARADIGMA DER AMERIKAS Die Reise gen Norden, die Latin(o)isierung der USA, die Gemeinschaften ka- ribischer und südamerikanischer Migranten in Kanada haben das Bild, das sich uns bietet, in Richtung der Amerikas verändert, die physisch, ökonomisch, sozi- al und kulturell miteinander verschränkt sind. Die literarischen und kulturtheore- tischen Entwürfe sind vielfältig und setzen konzeptuell an unterschiedlichen Punkten an: Während McOndo auf die neoliberalen Globalisierungsprozesse mit den transnationalen Implikationen abzielt, sich vor allem den virtuellen Realitä- ten der Informationsgesellschaft widmet und die Entwurzelung aus vorherigen Interpretationsmustern an privaten Geschichten zeigt, sind diese Tendenzen durchaus auch Gegenstand der Grenz- und Diaspora-Literaturen. Was bei McOndo fehlt, wird bei Entwürfen marginalisierter Gruppen und ethnischer Minderheiten deutlich, insbesondere bei feministischen Entwürfen. So gibt es keinen einzigen Text einer Autorin, der Eingang in die Anthologie gefunden hat. Sie alle diskutieren kollektive Entwürfe, wenn auch auf einer prekären Basis, die fragile und temporäre Ergebnisse von identitären Aushandlungsprozessen darstellen. Dazu gehört auch die literatura gay des chilenischen Autors Pedro Lemebel, der die Grenzräume der Norm mit seiner exaltierten Figur der loca latinoamericana in der Auseinandersetzung mit einem globalisierten Bild des Homosexuellen auslotet. Vgl. dazu Dieter Ingenschay. Hemisphärische Blicke auf literarische Aids-Diskurse. In: Peter Birle/Marianne Braig/Ottmar Ette/Dieter Ingenschay (Hrsg.) Hemisphärische Konstruk- tionen der Amerikas. Frankfurt a.M. 2006, S. 77-104. Ingenschay arbeitet für Lemebel eine postkoloniale Position heraus, insofern dieser eine eigene Poetik kreiert im kritischen Bezug auf hemisphärische Diskurse. Eine Metapher, die schon im Zusammenhang mit der karibischen Po- etik der Beziehungshaftigkeit auftrat und die aus den feministischen Entwürfen entsteht, ist die Brücke. In der 1983 veröffentlichten Anthologie This Bridge Called my Back Gloria Anzaldúa/Cherríe Moraga (Hrsg.): This Bridge Called my Back. Writings by Radical Women of Color. New York 1983. von Texten nicht-weißer Frauen ist der Titel Programm und meint die US-drittweltfeministische Praxis der Übersetzungs- und Vermittlungs- arbeit zwischen kulturell und historisch unterschiedlichen Standpunkten, bei der die verschiedenen Amerikas metaphorisch im Körper der woman of color aus- gehandelt werden. Eine der Herausgeberinnen – die Chicana-Autorin Cherríe Moraga – artikuliert den Anspruch an das eigene Schreiben als „Art in América con Acento“. Cherríe Moraga: Art in América con Acento. In: Dies.: The Last Generation. Boston 1993, S. 52. Dieser panamerikanische Versuch öffnet die mexikanisch- amerikanische Identität für andere LateinamerikanerInnen. In ihrem hochpoliti- schen Essay fragt die Chicana-Autorin nach der eigenen Verortung angesichts der Rolle der USA in Lateinamerika und angesichts der steigenden Zahlen poli- tischer, ökonomischer und Kriegsflüchtlinge aus Zentralamerika und der Kari- bik. Sie plädiert für ein Überschreiten der geopolitischen Grenzen im Sinne eines Gedächtnisses von Diskrimination und Marginalisierung. Ausgehend von einem racial memory schreibt sie über das Konzept des Queer Aztlán homose- xuelle Identitätspositionen in das mythische Heimatland der Chicanos ein. Ebenda, S. 62. BORDER MATTERS: BORDERLANDS/LA FRONTERA Das bekannteste Grenzgebiet, Gegenstand einer Vielzahl von Studien und ei- ner neuen Disziplin der Border Studies , ist der Grenzraum zwischen Mexiko und den USA. Andere Grenzräume, etwa im Río de la Plata-Raum zwischen Brasilien, Argentinien und Uruguay, werden im Zuge der veränderten Wahrnehmung ebenfalls zu Studienobjekten. „Die US-amerikanisch-mexikanische Grenze ist eine offene Wunde wo sich die Dritte Welt an der ersten reibt und blutet. Und bevor sich Schorf bildet, blutet sie wieder das Blut zweier Welten, das zu einem dritten Land verschmilzt – einer Grenzkultur. [...] Ein Grenzgebiet ist ein vager, unbestimmter Ort, der durch den emotionalen Nachlass einer unnatürlichen Grenze hervorgebracht wird. Es befindet sich in einem permanenten Übergangsstadium. Das Verbo- tene und Unerlaubte sind seine Bewohner. Los atravesados leben hier: die Schielenden, die Perversen ... jene, die [...] die Grenzen des ‚Normalen’ überschreiten.“ Anzaldúa: Borderlands, S. 3. Im Konzept der Grenze überlagern sich verschiedene Logiken: 1. die binäre Logik der abgegrenzten Räume; 2. die Logik des Überquerens als Konsequenz aus Punkt 1; und 3. die Logik eines Grenzraums, der durch ein Netz ineinandergreifender Bewegungen definiert wird. Ist der Grenzraum vor allem ein geopolitischer Raum, der das Nationale und Identität homogen gedacht in Frage stellt, so wird er mit dem veränderten Bild der Amerikas zusammenge- bracht. Als Interaktionsraum, theoretisches Konzept, das das Ende eines Staats- gebietes mit einem transnationalen und transkulturellen Raum verschränkt, lässt es Macht- und Herrschaftsräume auf besondere Art sichtbar werden. Denn an dieser überdeterminierten Grenze kommen eben nicht nur Mexiko und die USA zusammen, sondern auch Anglo- und Hispanoamerika, Nord- und Süd, erste und dritte Welt, aber auch HighTech-Phantasien und indianische Rituale, Brasilianer in mexikanischen Telenovelas. Dieses Verständnis des Grenzraums präsentierte Gloria Anzaldúa 1987 in einem nunmehr schon historischen utopischen Ent- wurf, der in den geopolitischen, physischen aber auch sexuellen, psychischen und spirituellen Grenzräumen angesiedelt ist. Mit der „Neuen Mestizin“ greift Borderlands /La Frontera auf José Vasconcelos’ Entwurf einer kosmischen Ras- se zurück, öffnet dieses Identitätsangebot aber für jegliche marginale Position, sei sie hinsichtlich der ethnischen Zugehörigkeit, hinsichtlich der sexuellen Aus- richtung oder des Geschlechts begründet: 14 Jahre nach dem Erscheinen von Anzaldúas Text konstatiert das Time Ma- gazine in einer Spezialausgabe zur mexikanisch-amerikanischen Grenze: Hier wird einer zahlenmäßigen Realität – den Latinos als größte ethnische Minderheit in den USA – Rechnung geleistet und der Grenzraum und die Ame- rikas konkret zusammengedacht; überschwänglich wird gar das baldige Ver- schwinden dieser Grenze prophezeit. Siehe Gabriele Pisarz-Ramirez. MexAmerica. Genealogien und Analysen postnationaler Diskurse in der kulturellen Produktion von Chicanos/as. Heidelberg 2005. Pisarz-Ramirez nennt ihr Buch treffend MexAmerica nach dem Konzept des Journalisten Joel Garreau und diskutiert die in diesem Artikel behandelten Tendenzen aus der Perspektive der Nordamerika- studien. Dieser etwas zu kurz geratene Blick be- schreibt nur einen Ausschnitt der Realität des Grenzraums, die freie Zirkulation von Gütern, lässt zugleich aber außer acht, dass dieselbe Grenze mehr denn je bewacht ist und sich für bestimmte Individuen als unüberwindlich erweist. Dass aber mit dem Paradigma der Grenze eine neue Perspektive und ein entsprechen- des analytisches Instrumentarium im Rahmen der American Studies aufgerufen werden, um den ‚interamerikanischen’ Realitäten des nordamerikanischen All- tags gerecht zu werden, scheint eine angemessene Schlussfolgerung Vgl. Pisarz-Ramirez: MexAmerica, S.1. , für die Publikationen wie Border Matters von José David Saldívar José David Saldívar führt in Border Matters (1997) das Konzept der transfrontera con- tactzone ein und bezieht sich dabei auf die kulturelle Praxis der Chicana/os, die Grenzkultur sowie auf Mary Louise Pratts Begriff der Kontaktzone. Die Vorläufermonographie The Dia- lectics of Our America (Durham 1991) befasst sich bereits mit den hemisphärischen Kon- struktionen Amerikas, den geographischen, politischen und kulturellen Verbindungen und einer pan-amerikanischen Identität. Dabei rekurriert er vor allem auf die spanischsprachigen Traditionen wie die mexikanisch-amerikanische und die kubanische. symptomatisch sind. Damit nimmt die US-amerikanische Forschung auf, was Nestor García Canclini bereits 1990 in seinem Buch Hybride Kulturen herausstellt: der Grenz- raum ist ein Labor der Postmoderne. An Canclinis optimistischer Sicht auf die Möglichkeiten der Hybridisierung und auf ihren Avantgardecharakter entzünde- te sich eine Polemik um die weniger euphorische, materielle Seite der illegalen Grenzüberquerung, um die Gewalt an der Grenze aber auch um die alltäglichen regulären Arbeitsmigranten. Diese Kritik wurde auch an Anzaldúas Grenzutopie herangetragen. Mit der Globalisierung, Mercosur und NAFTA werden Grenzen überschritten, rücken Grenzen ins Zentrum der Aufmerksamkeit, werden aber eben auch neu gezogen. Die Grenze als Ort konkreter Kulturproduktion ist ein Moment, das auch die Künstler und Aktivisten in Tijuana oder Ciudad Juárez einfordern und durch ihre Texte, Performances und Installationen einbringen. Trotzdem kann nun Anzaldúas Text mit Fug und Recht als Klassiker bezeich- net werden, auf den sich unzählige theoretische aber auch literarische Interven- tionen affirmativ und kritisch beziehen: Die Bewegung der Öffnung von Identi- tät für marginale Positionen ist dabei nach wie vor wesentlich. Eine popkulturelle mexikanische Antwort ist der an moderner Märchenparodie, Tele- novela und postmoderner Collage orientierte Erzähltext von Luis Humberto Crostwhaite The Moon is a forever distant love . La Luna siempre es un amor difícil ist zunächst auf Spanisch (Mexiko 1994) und dann in der englischen Übersetzung The Moon is a forever distant love (El Paso 1997) erschienen. Er erzählt die Geschichte der spanischen Eroberung über die Liebesgeschichte des Eroberers Balboa und der Indígena Florinda/Xochitl als eine Geschichte der Migration und der Grenz- überquerung neu. Die Grenze wird hier personifiziert und zur Protagonistin, der Grenzraum zu jenem Raum, in dem die indigene Frau und der neuspanische Eroberer ihr Glück versuchen. Eine weitere Tendenz besteht in der konzeptuellen Ausweitung des Grenz- raums, sodass die mexikanische Südgrenze zu Guatemala und damit Mittelame- rika in die Überlegungen einbezogen und auf die neue Landkarte gesetzt wer- den. Siehe der Beitrag von Marianne Braig in diesem Band sowie Marianne Braig/Christian U. Baur: Mexikos Süden: Grenzüberschreitungen und die Schleusen hemisphärischer Sicher- heit. In: Grenzen der Macht, S.181-206. Juan Felipe Herrera denkt in seinem hybriden Text The Mayan Drifter. Chicano Poet in the Lowlands of America (1997) von Chiapas aus über Amerika nach. Dabei changiert der Gebrauch der Bezeichnung Amerika zwischen den USA und dem gesamten Kontinent. Vgl. Pisarz-Ramirez: MexAmerica, S.331-340. “Norteamérica has grown back to its original size from Yucatán to Greenland from Michigan to Michoacán Chiapas wird zum Präzedenz-Fall für die Indio-Bevölkerung des gesamten Kontinents und Anlass für eine gemeinsame indigene subalterne Position. Der Performance Künstler Guillermo Gómez-Peña, der aus Mexiko Stadt stammt und seit einigen Jahrzehnten in den USA lebt, ist mit seinen Performan- ces an und über die mexikanische Nordgrenze vor allem in Kreisen der Litera- tur- und Kulturtheoretiker berühmt geworden. In seinen Performances, die dem Publikum als Textversionen mit Bildern, als Internetinstallationen und Life- Performances zugänglich sind, ersetzt er die konventionelle Landkarte Amerikas mit einer neuen Weltordnung, The New World Border (1996): „a great trans- and intercontinental border zone, a place in which no centers remain“ Guillermo Gómez-Peña: The New World Border. San Francisco 1996, S. 7. . In seinen Performances inszeniert er den Grenzraum als Ort permanenter in- terkultureller Interaktion, an dem mehrere Sprachen aufeinander treffen, binäre Weltsichten und nationale Stereotypen kollabieren. So überquerte er zwischen 1988 und 1992 die Grenze zwischen den USA und Mexiko mehrfach im Kostüm eines „Border Brujo“, eines Grenzschamanen, und verkörperte 15 verschiedene Charaktere des Grenzraums. Vgl. Pisarz-Ramirez: MexAmerica, 364f. Die Namen der Performances „Border Brujo“/ „Grenzschamane“, „El Aztec High-Tech“/“Der High-Tech Azteke“ sprechen für sich: Gómez-Peña setzt einander ausschließende Konzepte zusammen. Er insze- niert das andere Amerika, das jenseits der durch die Kolonialzeit geprägten Landkarte von Nord-, Mittel- und Südamerika sichtbar wird: “Hybridamerica”, “Transamerica” neben den klassischeren “Amerindia”, “Afro-America”, „Ame- ricamestiza-y-mulata. In Gómez-Peñas Entwurf des anderen Amerikas ist das mobile, das unreine, die absurd anmutende Mischung zentral. Sein Bezug auf das zu Beginn erwähnte „Nuestra América“ von José Martí ist explizit, die Ant- wort auf die Frage, welches Amerika sich hier in welche Richtung ausdehnt, bleibt ambivalent: Seine Vision integriert jedoch in jedem Fall die in traditionellen Amerika- Diskursen ausgegrenzten Subjekte. Und auch das liest sich wie eine, wenn auch augenzwinkernde Reminiszenz an Gloria Anzaldúas Entwurf des Borderlands : experimentelle Künstler, nicht stromlinienförmige Intellektuelle, nicht domesti- zierte Afro-Amerikaner und Latinos, Frauen, Schwule, Obdachlose. Das Ande- re, Differente wird überhöht, stereotype Mexiko-Bilder mit einer Fülle von an- deren kulturellen Elementen gemischt. Inwiefern es dem ephemeren Genre Per- formance gelingt, die evozierten Stereotype tatsächlich nachhaltig zu unterlau- fen, bleibt zu diskutieren. CYBORG-AMERICA, VERNETZUNG UND DAS TIJUANA-PRINZIP Eine andere Dichotomie, die in Rodós Ariel und Vasconcelos’ La raza cosmi- ca zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch eine Rolle spielt – das technisierte Angloamerika gegen das indigene, kulturtragende Amerindia – steht zur Dispo- sition. War auch in Macondo die Eisenbahn als Inbegriff von Modernisierung und Technisierung noch das Fremde, das die Dorfbewohner sich aneignen muss- ten, so erhält die Technisierung, verkörpert in der Figur des Cyborg – Synthese aus Mensch und Maschine, Lebendigem und Nichtlebendigem –, Eintritt in die Ikonographie der Latinos. Und nicht nur das, sie wird zum integrierten Bestand- teil, der allerdings in den verschiedenen Entwürfen durchaus ambivalent aus- fällt: Sowohl in Gómez-Peñas Texten als auch in denen verschiedener Chicano- Autorinnen und -Autoren taucht diese Figur im Zusammenhang mit den identitä- ren Entwürfen zu den Amerikas auf. Der hochtechnisierte Cyber-Vato sitzt in einer Performance von 1995 am Schalthebel der Medienzentrale, nimmt die Bilder der anderen Figuren auf und verbreitet sie über Bildschirme und über das Netz. Die Textversion der Performance von 1995 El Shame-man and El Mexican't Meet Cy- bervato at the Ethno-Cyberpunk Trading Post & Curio Shop on the Electronic Frontier ist veröffentlicht in Guillermo Gomez-Peña: The New World Border. San Francisco 1996, hier S. 105-106. Die positiv ausfallenden Entwürfe werden relativiert durch nach wie vor existente technikkritische Töne: Alejandro Morales, Autor und niversitätsprofessor aus Irvine/Kalifornien, prä- sentiert in The Rag Doll Plagues (1992) Alejandro Morales: Rag Doll Plagues. Houston 1992. die Verschmelzung von Cyborg, mexikanischer und mestizischer sowie amerikanischer Identität in dystopischer Form. LAMEX – EIN STAATENVERBUND ZWISCHEN KALIFORNIEN UND MEXIKO In Morales’ Roman werden drei in verschiedenen Zeitebenen angesiedelte Geschichten durch Protagonisten gleichen Namens verbunden, die als Ärzte mit dem Ausbruch von Epidemien (ausgelöst durch ökologische Katastrophen) kon- frontiert sind. Während das erste Buch die koloniale Begegnung Spanien–Mexiko im 18. Jahrhundert zum Gegenstand hat, das zweite im Los Angeles der 1980er spielt, ist der dritte Teil in der sogenannten LAMEX Coastal Region of the Triple Alliance um das Jahr 2090 angesiedelt. Der Protagonist des dritten Teils – Gregory Revueltas – schwankt zwischen der Nostalgie im Hinblick auf die alte (in diesem Falle me- xikanische) Kultur und der Affirmation der neuen Hyper-Welt des Staates LA- MEX – ein Staatenverbund zwischen Kalifornien und Mexiko im Jahre 2090. Seine Geliebte Gabi Chung – eine Cyborg, ausgestattet mit einem Roboterarm, in den ein computerisiertes Labor eingebaut ist – stirbt (wie übrigens die Frauen- figuren in den anderen beiden Teilen auch) daran, dass ihr Körper die Maschine abstößt. Zum utopischen Entwurf wird in Morales’ Text nicht die Cyborg, son- dern der Mestize Gregory. Er ist es, der mit Hilfe des jahrhundertealten medizi- nischen Wissens in Gestalt der geisterhaften Erscheinungen Papá Damián und Großvater Gregorio im Blut der Einwohner Mexiko Citys das Antidot gegen die Epidemie findet. Mestizaje – symbolisiert sowohl in der Figur Gregorys als auch in der Metapher des Bluts – ist demzufolge das eindeutig favorisierte Konzept. Gregory wird zum Subcomandante Marcos des ausgehenden 21. Jahrhunderts, der die nichtprivilegierten Bevölkerungsmassen unterstützt. Die alte Dichotomie zwischen einer inhumanen, technischen Fortschritt verheißenden Moderne und deren humanem, in der Natur verankertem Anderen, die bereits der mexikani- schen Nationenbildung zugrunde lag, bleibt in Kraft. Realistisch-magische Ele- mente in Form der Figuren, die durch die Jahrhunderte gehen, binden die drei Teile und die drei Jahrhunderte zusammen. In der Tradition des magischen Rea- lismus entsteht in englischer Sprache der Entwurf des Staates LAMEX auf dem Territorium von Kalifornien und Mexiko Mitte des 21. Jahrhunderts, der die Modelle der Hybridisierung und des Mestizaje mit Science Fiction-Elementen wie der Cyborg verschränkt. TIJUANA, DAS NEUE MACONDO? Der in Tijuana lebende Autor und Akademiker Heriberto Yepez versucht in seinem Roman A.B.U.R.T.O. (2005) Heriberto Yépez: A.B.U.R.T.O. Mexiko D.F. 2005. „An diesem morgen war Mario, auf dem königlichen Sitz seiner Maschine, der Präsident des gesamten Schicksals der Grenze. ... [d]as ganze Volk, ALLE, haben sich versammelt, Mario weiß es, um die Mauer niederzureißen, die Städte zu überrollen, sie zu plündern, mit dem ein- zigen Ziel, hört gut zu, verdammte Gringos, ihr verfluchten Amerikaner! Mit dem einzigen Ziel, jeden Millimeter des Territoriums zurückzubekommen, das während der Invasion von 1847 geraubt wurde. Alle Marios Golems. Alle zornig gegen die nordamerikanische Maschi- nerie. Und all das war und geschah an diesem Morgen dank Mario, dem borderline-Arbeiter, dem Aleph der Wut der Ahnen, dem Naftamanen, dem Autodidakten des Quinto Sol (fünften Zeitalters), dem Trans-Quijote vierhundert Jahre später.“ Heriberto Yepez: A.B.U.R.T.O., S. 209-213 , die einst abseits gelegene Grenzstadt als Kreuzungspunkt von Migrationsbewegungen und Gewaltakten sowie Modell des Chaos zu lesen, das nicht nur mexikanische Geschichte, sondern auch ein neues Macondo, das die Verbindung und Durchdringung Süd-, Mittel- und Nordamerikas neu definiert. Er untersucht die Geschichte des vermeintlichen Mörders des mexikanischen Präsidentschaftskandidaten der PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) im März 1994 in einem Armenviertel Tijuanas. Die Geschichte um die Kompromittierung der politischen und intellektuellen Eliten, ihre Gewaltbereitschaft und die allgemeine Gewaltdurchdringung der zwischenmenschlichen Beziehungen sowohl in den Ober- als auch in den Unter- schichten spitzen sich in diesem Grenzraum zu, der lange als gesetzlos, gewalt- tätig, korrupt, lasterhaft, und chaotisch konnotiert war. Zur Geschichte dieses Stereotyps siehe Félix Berúmen: Tijuana, la Horríble. Tijuana 2003. Ein Ort, an dem alles passieren kann und der zugleich das Abbild der postmodernen, post-NAFTA Gesellschaft ist. Aus dieser Grenzstadt wird ein chaotisches Zentrum, das mit der Hauptstadt konkurriert, ein Ort des Simulakrums, der Übertreibung, des Missbrauchs, von dem aus der Kosmos, die Welt, die Amerikas und Mexiko ge- dacht werden. Yépez liefert ein Feuerwerk der Stereotypen von Tijuana, aber auch was sei- nen Protagonisten anbelangt. Die Figur des Maquila-Arbeiters Mario-Aburto, der unter dem borderline-Syndrom leidet und mit der von ihm bedienten Maschine ganz verschmolzen ist, gibt das Signal für Tausende von Migranten – Brasilianer, Guatemalteken, Panamesen, Mexikaner –, mit einem gigantischen Sprung die metallene Mauer der Grenze zu überwinden. Sie setzen die Border patrol, die Grenzpolizei, mit ihren Fahrzeugen und Helikoptern außer Gefecht, weil sie all die Toten, die an dieser Grenze gestorben sind, auf ihrer Seite haben: los hombres de maíz Titel des berühmten Romans Miguel Angel Asturias’ (Buenos Aires 1949), der sich auf den Maya-Mythos der Erschaffung des Menschen aus Mais bezieht und die indigene Welt- sicht ins Zentrum stellt. , alle von spanischen Einwanderern ermordeten Azteken, alle aus Afrika verschleppten Sklaven, alle Mitglieder mexikanischer Drogen- kartells. Diese delirante Invasion korrigiert nicht nur mexikanische Geschichte, sondern schreibt in einer subalternen transkontinentalen Migrationsbewegung die „anderen Amerikas“ in den US-amerikanischen Norden ein. Mario entspricht dem Muster des subalternen Rächers, der jedoch in seinem psychisch labilen Zustand nicht ganz Ernst genommen werden kann. Die göttli- che Mission besteht in der (phantasmagorischen) Öffnung der Grenze, die als virtuelle Realität daher kommt. Die Ermächtigung des psychisch gestörten und halluzinierenden Subproletariers beunruhigt, denn der Intellektuelle in Gestalt des Erzählers wird entmächtigt. Er kann seine eigene Position nicht mehr autori- sieren. Tijuana ist ein dystopischer Alternativentwurf zu Anzaldúas Grenzraumkon- zept der Borderlands : Als Modell des Konfusen, Ort des entgrenzten Gewaltdis- kurses (Fernando Vallejo ist nicht weit). Yepez etabliert mit dem Tijuana- Prinzip die einst abseits gelegene Grenzstadt als neues dekonstruiertes Zentrum, als das neue Macondo, als den Ort, wo die Amerikas verhandelt werden „Städte wie Tijuana helfen, Genet, Becket, Rulfo oder Kafka zu verstehen. Sie helfen dabei zu verstehen, was passiert ist. Ich sage ja nicht, dass Tijuana der Grund war, für das, was er [Mario] getan hatte. Es gibt keine Ursachen, Bruder. Aber es gibt Tijuanas. Das Wer- den hat keine Ursachen, denn diese werden von der Vernunft, dem ach so Klaren bestimmt. Und das, was in dieser Welt passiert, ist im Unterschied dazu einer Verwechslung des Inter- nen mit dem Externen geschuldet, einer Verwechslung dessen, was einige das Psychologische und dessen, was andere das Soziale nennen. [...] das Reale ist das Konfuse, das Konfuse real.“ (Yepez: A.B.U.R.T.O., S. 50) . Hier an dieser Grenze trifft sich Yepez mit den McOndistas, die auf ihrem Weg von Santiago über Texas in Ciudad Juárez, einer weiteren der Zwillingsstädte an der Grenze, stranden und hier einen Raum finden, der ihrem dekonstruktivistischen Bild von den Amerikas entspricht. AUSBLICK – EINE LOGIK DER RELATIONALITÄT? Nord und Süd rücken nicht nur näher aneinander, sie durchdringen einander, bilden Allianzen politischer, imaginärer, utopischer und dystopischer Natur. Ei- ne Annäherung nicht nur der Inhalte sondern auch der Stile findet statt. Neue Räume und Topographien werden zu Trägern neuer Visionen der Amerikas. Der Paradigmenwandel hin zu den Amerikas lässt sich an verschiedenen Punkten festmachen. Territoriale Entwürfe wie Morales’ LAMEX, Entwürfe des Grenzraums als Territorium und metaphorischer Raum in Anzaldúas Border- lands /La Frontera, der Raum des Transnationalen und der Bewegung in Gómez- Peña betonen unterschiedliche Aspekte der Relationalität. McOndo vereint als imaginäres Land Nord und Süd in den künstlerischen Projekten und Alltagsprak- tiken. Alternative Entwürfe generieren neue Namen jenseits von Latein- und Angloamerika; was Amerika bedeutet, bleibt nach wie vor umkämpftes Terrain Walter Mignolo sieht „das alte ‚Latein’ Amerika“ in seinem 2006 erschienenen The Idea of Latin America in eine Vielzahl von politischen Projekten explodie- ren, die neue Kartographien hervorbringen. Walter Mignolo: The Idea of Latin America. Malden/Oxford 2006. Bei aller Differenzierung ist der veränderte Blick des „Hemispherischen“ Siehe dazu die Ausführungen von Ottmar Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Ver- such über die fraktale Inselwelt der Karibik. In: Marianne Braig/Ottmar Ette/Dieter Ingen- schay/Günther Maihold (Hrsg.): Grenzen der Macht-Macht der Grenzen. Frankfurt a.M. 2005, S.135-180. eine Tatsache, hinter die nicht zurückgegangen werden kann. Die Poetik der Verbindung und auch das archipelische Denken haben dies auf der Grundlage des Nachdenkens über transkulturelle Prozesse ermöglicht. Bewegungen der De- territorialisierung kennzeichnen diese Position, die literarische Produktion der kubanisch-amerikanischen, haitianisch-amerikanischen, mexikanisch- amerikanischen sowie karibisch-amerikanischen Autorinnen, der Nuyorikane- rInnen, zieht neue Verbindungen zwischen den Ursprungsorten und der Diaspo- ra. Wenn Jana Evans Braziel ihren Aufsatz über den haitianisch-kanadisch- amerikanischen Autor Dany Laferrière provokant betitelt „C’est moi l’Amérique“ Jana Evans Braziel: ‘C’est moi l’Amérique’. Canada, Haiti and Dany Laferrière’s Port- au-Prince/Montréal/Miami textual transmigrations of the hemisphere. In: Comparative Ame- rican Studies Bd. 3, H. 1 (2005), S. 29-46. Laferrière äußert sich in verschiedenen Zusam- menhängen zu der problematischen amerikanischen Identität. Vgl. Dany Laferrière: Je suis fatigué: essai. Outremont/Quebec 2001, S. 115-116. , dann mag das banal klingen oder wie eine Parodie auf das geflü- gelte Wort Ludwigs des Sonnenkönigs, der Titel verweist aber auf eine Plurali- sierung der Amerikas ebenso wie auf eine „karibische Perspektivierung des He- mispherischen“ Ette: Inseln, Grenzen, Vektoren, S. 153. Bild 1: Der bolivianische Staatspräsident Evo Morales wird von Aymara-Priestern gesegnet, Tiwanaku, 21.1.2006. Siehe: http://abyayala,nativeweb.org/about.html (eingesehen am 2.5.2007) und Takir Mamani 1986, In: Alison Brysk: From Tribal Village to Global Village. Indian Rights and International Relations in Latin America. Stanford 2000, S.104. : Zwischen Montreal, Miami und Port-au-Prince lebend verkörpert er nicht nur eine afrokaribische Dimension, sondern auch die Realität vieler karibisch-amerikanischer – Edwidge Danticat, Junot Díaz –, und anderer Latino-AutorInnen wie Ariel Dorfman, aber auch Gustavo Pérez-Firmat, die auf Englisch schreiben. Solchermaßen entstehen Bewegungsräume, und die Subjekte, die diese Be- wegungen ausführen, ob tatsächlich oder imaginär, tun es von unterschiedlichen Positionen aus: Sie sind subaltern oder aus der Mittelschicht, ihre Bewegungen sind offiziell oder klandestin, freiwillig oder fremdbestimmt. Die Figur der Sub- alternen taucht in Gestalt der ethnisierten, in Hinblick auf Sexualität und Ge- schlecht markierten Charaktere auf. Die kategorische Nord-Süd-Abgrenzung wird aufgehoben, und Trennlinien verlaufen entlang ökonomischer, sozialer Grenzen, über den Zugang zu Kommunikationsnetzen und virtuellen Verbin- dungen. Einst abgelegene Orte werden zu dekonstruierten Zentren. Tijuana ist mit sei- ner Zwillingsstadt San Diego ein neuer urbaner Raum, der vernetzt und ohne Zentrum all die postmodernen Deplatzierungen und Deterritorialisierungen auf- weist, die auch für andere Großstädte in den Amerikas gelten. Wenn die Grenze bis nach Chicago oder Santiago de Chile reicht, dann deutet sie die Perspektive des Hemisphärischen, ein Hybrid- und Transamerika an. INGRID KUMMELS 1986 wurden die Amerikas neu erfunden: Takir Mamani, ein Aymara- Intellektueller aus Bolivien, der früher den Namen Constantino Lima getragen hatte, schlug vor, die kulturelle Technologie der Europäer nun gegen sie anzu- wenden. Alle indigenen Völker der Amerikas sollten ihr Ursprungsland Abya Yala nennen und nur noch diese Bezeichnung in Manifesten verwenden, denn: „unseren Dörfern, Städten und Kontinenten fremde Namen zu geben, bedeutet unsere Identität dem Willen der Invasoren und ihren Erben zu unterwerfen.“ Siehe: http://abyayala,nativeweb.org/about.html (eingesehen am 2.5.2007) und Takir Mamani 1986, In: Alison Brysk: From Tribal Village to Global Village. Indian Rights and International Relations in Latin America. Stanford 2000, S.104. Die Idee fand Anklang. Seither wird Abya Yala – ursprünglich ein Ausdruck der in Panama lebenden Kuna für „Festland voller Leben“ – zunehmend von india- nischen Organisationen für ein alternatives, nicht euro- zentrisch geprägtes Amerika verwendet. Auch wenn viele Europäer den Ausdruck nicht kennen, wird ihnen in anderen Zusammenhängen klar, dass Indigene durchaus eine eigene Amerika-Vorstellung haben. So bei der Amtsübernahme von Evo Morales – in den hiesigen Medien gern als „Indio-Präsident“ Boliviens tituliert. Am Tag der Sommersonnenwende, dem 21. Januar 2006, sprach er mit traditionellem Aymara-Gewand und viereckiger zeremonieller Kopfbedeckung vor dem so genannten Sonnentor der präkolumbischen archäologischen Stätte Tiwanaku zu den rund 20.000 Anwesenden. Überall flatterten die Wiphalas, Flaggen aus 49 diagonal gereihten Stoffquadraten in den Farben des Regenbo- gens, die aktuell als altes Symbol der andinen Völker gelten. Tiwanaku wurde plötzlich bildlich zur alten und zugleich neuen Hauptstadt eines indigenen Kon- tinents und Morales zu seinem Inka-ähnlichen Oberhaupt. Luis A. Gómez: Recibe Evo Morales en Tiwanaku el mando de pueblos indígenas, In: La Jornada,22.1.2006, http://www.jornada.unam.mx/imprimir.php?fecha=200060122&nota=031n1mun.php&... (eingesehen am 7.5.2007). Morales schlug auch in seiner Rede eine Brücke zur Vergangen- heit. Er verkündete, dass: „ein neues Jahrtausend... der vorkolonialen Völker nicht nur Latein- amerikas, sondern der ganzen Welt beginne.“ http://www.nzz.ch/2006/01/23/al/articleDIGVC.html (eingesehen am 7.5.2007) Die Symbole, Ritua- le und Kleiderordnungen auf den Fotos der internationalen Zeitungen vermittel- ten einprägsam dieses parallele Amerika. Der folgende Beitrag widmet sich den alternativen Raumkonzepten vom ame- rikanischen Doppelkontinent sowie den symbolischen Repräsentationen und den politischen Projekten, die indigene Erst seit dem 20. Jahrhundert verwenden die Nachkommen derjenigen, die erstmals von den europäischen Invasoren indios und indígenas genannt wurden, diese Bezeichnungen als Kampfbegriffe, um Forderungen nach einer Teilautonomie innerhalb der Nationalstaaten zu erheben und so die anhaltende, kolonial verwurzelte Diskriminierung zu überwinden. Die Übersetzung von indio mit Indianer und indígena mit Indigene/r ist grundsätzlich problema- tisch, weil der Gebrauch und die Bedeutungszuschreibung dieser Begriffe seitens der so Be- zeichneten, der sie so Bezeichnenden und der Wissenschaft differiert und zudem Moden un- terliegt. Als indianistisch werden die eigenständigen ideologischen Entwürfe indigener Akteure bezeichnet, die ethnische und kulturelle Dimensionen in den Vordergrund stellen. Siehe Andrew Canessa: Making the Nation on the Margins. In: Ders.: Natives Making Na- tion: Gender, Indigeneity, and the State in the Andes. Tucson 2005, S.24. Intellektuelle und Gemeinschaften damit verbinden. Er beleuchtet in einer weiten historischen Perspektive signifikante Verflechtungen der „geteilten Geschichten“ der Amerikas und Europas und da- mit Situationen, in denen Indigene mit selbständigen ‚Amerika-Projekten’ in die Auseinandersetzungen um die kulturelle und politische Kontrolle eingriffen. Den Begriff „geteilte Geschichte“ entlehne ich Sebastian Conrad/Shalini Randeria: Ge- teilte Geschichten Europa in einer postkolonialen Welt. In: dies. (Hrsg.): Jenseits des Euro- zentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frank- furt a.M. 2002, S.9-49. Das Unterfangen ist komplex. Zu berücksichtigen ist, dass Europäer den Akt der Benennung des Doppelkontinents und seine Eingliederung in eine eurozentri- sche Konstruktion von kultureller Differenz als wesentliche Mittel einsetzten, um das Denken Anderer zu kolonialisieren und in Besitz zu nehmen. Mit dem Konzept der „Entdeckung“ versuchten sie glaubhaft zu machen, erst sie hätten die Urbewohner in ‚die’ Geschichte hineingeschrieben. Siehe Edmundo O’Gorman: The Invention of America: An Inquiry into the Historical Nature of the New World and the Meaning of its History. Bloomington 1961. Zu diesem Zweck igno- rierten sie das bestehende geographische Wissen und zerstörten systematisch die Medien, die zu dessen Aufzeichnung und Archivierung entwickelt worden wa- ren. Sehr diverse präkoloniale Wissenskulturen waren davon betroffen. Vor der europäischen Invasion lebten auf dem amerikanischen Doppelkontinent ca. 40 bis 50 Millionen Menschen, die in Bezug auf Bevölkerungsstärke, Sprache, Kul- tur sowie soziale, wirtschaftliche und politische Organisation außerordentlich vielfältig waren. Ingrid Kummels: Indianer. In: Friedrich Jäger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit Bd.5. Stuttgart 2007, S.814-823. Das Spektrum reichte von saisonal umherziehenden Jägern und Sammlern mit informeller politischer Führerschaft bis hin zu in permanen- ten Siedlungen ansässigen Bauern, die in übergreifende politische Systeme mit urbanen Zentren und Klassenschichtung integriert waren. Die Mitglieder der heterogenen Gesellschaften, die u.a. im Rahmen von Fernhandelsnetzen auch über große Entfernungen miteinander interagierten, einte kein übergreifendes Kollektivbewusstsein. Deshalb hatten sie keine Bezeichnung für die Gesamtheit aller Bewohner. Erst die Europäer zwangen ihnen aus Interesse an ihrer Christi- anisierung, an der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft und am Handel mit ihren Pro- dukten einen homogenisierenden Untergeordnetenstatus als indios auf. Trotzdem verfolgten diese Menschen auch nach ihrer Unterwerfung partikula- re Geschichten und politische Projekte. Sie legten diese weiterhin in Schrift, aber vor allem in oralen Traditionen, in Bildern und in Körperperfomances, dar- unter Tanz, nieder. Die Mainstream-Geschichtsschreibung blendete diese Histo- rizitäten lange Zeit aus, indem sie solche nicht-schriftliche Medien ignorierte. Die Interpretation von Bildern, Musik und Tanz als Manifestationen und Aufzeich- nungsmedien von Kulturen, die miteinander einen oft asymmetrischen Dialog führen, be- darf einer spezifischen Methodik. Siehe William Rowe/Vivian Schelling: Memory and Mod- ernity. Popular Culture in Latin America. London 1991. Deren Bedeutung für kollektive Identitäten, die face-to-face Gemeinschaften transzendieren, indem sie imaginiert werden, gilt es im Folgenden genauer zu beleuchten. Benedict Anderson entdeckte im „Gefühl der Gleichzeitigkeit“, das Druckerzeugnisse in Menschen zu erzeugen vermochten, den wesentlichen Motor für das Entstehen eines Zugehörigkeitsgefühls zu den europäischen Nati- onalstaaten. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nationalism. London 1983, S.32-40. Für Arjun Appadurai lösten elektronische Medien und Migration im 20. Jahrhundert über eine innovative Vorstellungsdynamik ( work of imagina- tion ) weltweit eine neue Form von Subjektivität aus. Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapo- lis 1996, S.31,52. Zu erkunden ist, inwiefern als ‚traditionell’ bezeichnete visuelle und kinetische Medien eine vergleichbare Rolle bei der (Re)Konstruktion ethnischer und panindianischer Zugehörigkeits- gefühle spielen. Im Folgenden werden alternative Amerika-Projekte von Indigenen angesichts kolonialer und neokolonialer Durchdringung, die sich über den langen Zeitraum von mehr als fünf Jahrhunderten erstrecken, analysiert, um Kontinuitäten und Brüche genauer zu erfassen. Besondere Aufmerksamkeit gilt folgenden Aspek- ten: Welche präkolonialen Weltbilder gab es in den Amerikas? Inwiefern unter- scheiden sie sich von oder ähneln sie den Weltdarstellungen, die zu jener Zeit in Europa vorherrschten? Welche interkulturellen Weltbilder entwarfen Indigene im Zuge des ersten Globalisierungsschubs und welche Amerika-Projekte enthalten sie? Welche Amerika-Entwürfe verfolgen die indigenen Bewegungen, die sich in Reaktion auf das so gennate Kolumbusjahr von 1992 neu formierten? 1. PRÄKOLONIALE WELTBILDER IN DEN AMERIKAS UND IN EU- ROPA Von Edmundo O’Gormans Paradigma der „Erfindung Amerikas“ aus betrach- tet kannten die Bewohner des amerikanischen Doppelkontinents vor der Ver- flechtung ihrer Geschichten ebenso wenig wie die Europäer ein Amerika im Sinne des Teils einer übergreifenden Welt. Siehe auch Walter D. Mignolo: The Idea of Latin America. Malden 2005, S.2. Doch ließen insbesondere die Eli- ten zentral organisierter Staaten komplexe kosmographische Illustrationen erstellen, weil sie ein großes Interesse daran hatten, mit Hilfe der Vergangen- heitskonstruktion ihre Herrschaft zu legitimieren und die Zukunft zu gestalten. Im zentralen Mesoamerika wurde mit Schwerpunkt Karten produziert bzw. Do- kumente, die räumliches Wissen systematisierten. Barbara E. Mundy: Mesoamerican Cartography. In: David Woodward/Malcolm Lewis (Hrsg.): The History of Cartography, Bd. 2(3). Chicago 1998, S.183,185. Dies scheint eine universelle Charakteristik von Staaten zu sein, die mit Hilfe einer Klasse von Berufsspezia- listen intensive Landwirtschaft, Landnutzungsrechte, Fernhandel, Militärorgani- sation und Tributbeziehungen verwalten und organisieren. William Gustav Gartner: Mapmaking in the Central Andes. In: David Wood- ward/Malcolm Lewis (Hrsg.): The History of Cartography Bd. 2(3). Chicago 1998, S.257. In den Staaten und Stadtstaaten der Zapoteken, Mixteken, Maya und Azteken – sie entwickelten Schriftsysteme, mit denen Wissen in Büchern aus Rindenbastpapier niedergelegt wurde – waren verschiedene Formen von kartographischen Repräsentationen in Gebrauch: 13 - So genannte kartographische Geschichten, die historische Begebenheiten und Rituale an den Stationen einer Route in linearer Zeitabfolge wiedergeben. Eliten gaben so ihre Version von Migrationen, der Besiedlung von Territorien, der Gründung von Städten und Eroberungszügen kund. - So genannte Kosmogramme, die die Welt abbilden und sie auf einer hori- zontalen Ebene in fünf Segmenten einteilen, welche die vier Kardinalpunkte sowie die Weltmitte symbolisieren. Ein Beispiel ist das Kosmogramm des Co- dex Féjerváry-Mayer, das aus Puebla-Veracruz stammt und möglicherweise im 15. Jahrhundert von Mixteken hergestellt wurde. Im Zentrum steht der Feuergott Xiuhtecutli, der über Blutströme mit den vier Körperteilen des zerstückelten Schöpfergottes Tecatzlipoca verbunden ist. Darin integriert ist der Ritualkalen- der, dessen 260 Tage als kleine Kreise über Trapeze und Ellipsen verlaufen. Der mesoamerikanische Betrachter jener Zeit vermochte im Kosmogramm zu lesen, dass für die Erhaltung von Raum und Zeit weiterhin solche Blutgaben notwen- dig waren, wie sie der Schöpfergott bei der Erschaffung der Menschheit mittels Selbstopfer geleistet hatte. Ebenda, S.229-232. In den mesoamerikanischen Karten wurden somit Raum und Zeit eng mitein- ander verknüpft. Europäische Systematisierungen einer Welt umfassenden Raumordnung folgten anderen Prinzipien, können aber ebenso nur in ihrem je- weiligen sozialen und kulturellen Kontext entziffert werden. Im Europa des Mit- telalters oblag die Wissensaufzeichnung religiösen Gelehrten. Hinsichtlich der europäischen Kartographie jener Zeit folge ich Mignolos Argumentati- on. Siehe Mignolo: Idea, S.22-34. Sie schrieben ab dem 8. Jahrhundert explizit eine biblische Weltauffassung in Karten ein und ga- ben die hegemoniale Weltsicht wieder, die auch die nicht-klerikalen Eliten mit- prägten. So genannte orbis terrae-Karten mit folgendem Grundmuster waren damals verbreitet: Sie bildeten auf der oberen Hälfte der Erdscheibe das Mittel- meer in der Form eines „T“ ab, das die drei Kontinente Asien, Europa und Afri- ka trennte. Die Aufteilung orientierte sich nicht an einer topographischen ‚Naturgegebenheit’. Das ist auch daran zu erkennen, dass jeder Kontinent mit einem der Söhne Noahs identifiziert wurde: Asien mit Shem, Afrika mit Ham und Europa mit Jafeth. Sie galten als Stammväter entsprechender Völker. Dies implizierte eine ‚rassische’ Geographie der Welt. Orbis terrae-Karten wurden nur allmählich von solchen abgelöst, die detailliert Städte und Flüsse Europas und die Größe der Landmassen den empirischen Forschungsergebnissen und Erkenntnissen der arabischen Kartographie anpassten. Amerika wurde als vierter Kontinent dem eurozentrischen Schema untergeordnet. Das Bildverstehen, das fest in den kulturellen und religiösen Praktiken Europas verankert war, wurde den Bewohnern Amerikas nach und nach aufgezwungen. In den ersten Jahren hingegen waren die „Entdecker“ noch auf die empirischen Kenntnisse der Ein- heimischen angewiesen. Hernando Colón, der Sohn von Kolumbus, dokumen- tierte 1493, wie die Spanier auf der karibischen Insel Guadeloupe von einer Taíno-Frau über den weit verzweigten interkontinentalen Goldhandel unterrich- tet wurden. Sie erfuhren erstmals, dass es im Süden ein Festland gab, das sehr groß sei und „Zuania“ heiße. Ferdinand Columbus: The Life of Admiral Christopher Columbus. Chapel Hill 1992, S.113. 2. GUAMAN POMA DE AYALAS MAPPA MUNDI Die Spanier untermauerten ihre Eroberungszüge ab 1519 im heutigen Mexiko und ab 1532 in Peru theologisch: Sie postulierten die Notwendigkeit, den heid- nischen Einheimischen das Christentum nahezubringen und legitimierten damit deren militärische Unterwerfung völkerrechtlich. Anthony Padgen: The Fall of Natural Man. The American Indian and the Origin of Comparative Ethnology. Cambridge 1987. Auch zu diesem Zweck ging der spanische Klerus systematisch gegen die als Götzenwerk betrachteten Schriftwerke vor; er nahm sie als Teil eines rivalisierenden Wissenssystems wahr. Besonders gründlich ging der Franziskaner Fray Diego de Landa vor, der 1562 zahllose Maya-Handschriften verbrennen ließ, so dass heute nur vier erhalten sind. Punktuell konservierten jedoch die Kleriker – sie waren, ebenso wie ‚die’ indios, keine homogene Gruppe – die medialen Praktiken der Einheimi- schen oder vermittelten ihnen ihre eigenen. Sie glaubten, den Gebrauch kontrol- lieren und für die Christianisierung nutzten zu können. Don Felipe Guaman Poma de Ayala ist ein Beispiel für die Fallstricke dieser Kolonialpolitik: Der christianisierte Indio aus dem heutigen Ayacucho in Peru schrieb und zeichnete zunächst im Dienst der Kolonisierenden, so des Priesters Martín de Murúa. Dies betrifft die von Murúa verfasste „Historia del origen y genealogía real de los Reyes Incas del Perú“ von 1590; siehe Rolena Adorno: Guaman Poma and His Illustrated Chronicle from Colonial Peru. Kopenhagen 2001, S.25,31. Dann aber nutzte er die lateinische Schrift und spanische Sprache, um seine eigenen Ansichten niederzulegen. Zuvor hatte er versucht, Landrechte bei der Kolonialverwaltung einzuklagen und argumentierte, dass er Nachkomme einer Lineage sei, die den Inka-Herrschern eng verbunden gewesen war. Als Guaman Poma vor Gericht eine bittere Niederlage erfuhr, wurde er zum Sozialaktivisten. Ab 1613 verfasste er aus eigenem Antrieb die über 1000- seitige „Nueva corónica y buen gobierno“, eine kunstvolle Kombination aus Text und Kalligraphie mit um die 400 Abbildungen. Siehe die Internetausgabe der Königlichen Bibliothek von Kopenhagen http://www.kb.dk/permalink/2006/poma/ (eingesehen am 23.6.2007) schaft münde. 23 Guaman Poma klagte an, dass achtzig Jahre nach der spanischen Eroberung die Welt des Inka-Staates „auf den Kopf gestellt“ worden sei: die sozialen Hierarchien wurden missachtet, indios arbeiteten sich in den Minen zu Tode und die früheren ethnischen und sozialen Gruppen lösten sich infolge der Vermischung mit den Spaniern auf. Auf der Grundlage seines profunden Wissens sowohl der andinen als auch der spanischen Welt entwarf Guaman Poma eine neue Version der Weltgeschichte und darauf beruhend ein Reformprogramm, mit dem er vor allem einen Leser überzeugen wollte, König Philipp III. Die Koordinaten der spanischen Herr- schaft – das Christentum und die Monarchie – schien er dabei nicht in Frage zu stellen: Als überzeugter Katholik ordnete er die andine Geschichte einem christ- lich-spanischen Modell universeller Historie unter, die konventionell bei Adam und Eva beginnt. Eine andere mögliche Lesart ist, dass er diese Koordinaten doch in Zweifel zog. Sie stützt sich auf die Interpretation seiner Bilder, darunter seine „Mapa Mundi del Reino de las Indias“. Einerseits folgte Guaman Poma der europäi- schen Konvention der mappae mundi. Darin wurde, im Gegensatz zu den See- fahrtskarten, für abstraktere Zwecke das über die Welt in Erfahrung Gebrachte auf einer Karte geordnet. Andererseits bildete er eine Raumordnung ab, die den vergangenen Inka-Staat evozierte: tawantinsuyu oder die „vier vereinigten Tei- le“ mit den vier Hauptstraßen, die sie symbolisieren. In diese Ordnung fügte er punktuell Symbole des spanischen Reiches ein: Cuzco versah er mit den Wappen Kastiliens und des Papsttums und betonte so die zentrale Stellung der Stadt. – Zeichnete Guaman Poma mit dieser Weltkarte gezielt eine Alternative zur eurozentrischen Weltsicht? Ist sie als Teil eines Programms zu interpretie- ren, mit dem er für die Rückkehr zur inkaischen politischen Ordnung plädier- te? Für eine entsprechende Interpretation siehe Gartner: Mapmaking, S.297. Diese Fragen werden nach wie vor kontrovers diskutiert. Nathan Wachtel wies als erster darauf hin, dass Guaman Poma mit andinen und europäischen Raum- und Geschichtskategorien eine neue, interkulturelle Weltsicht entwerfe. Nathan Wachtel: Los vencidos: los indios del Perú frente a la conquista española (1530- 1579). Madrid 1976, S.246-263. Guaman Poma zog auch im Text eine Analogie zwischen der um Kastilien zentrierten Welt mit vier Kontinenten und dem um Cuzco organisierten, viertei- ligen Inka-Reich. Siehe auch das Bild Pontifical Mundo http://www.kb.dk/permalink/2006/poma/42/es/text/?open=id3085015 (eingesehen am 23.6.2007) Er versuche die andine und europäische Welt in ein einziges diachrones und synchron-räumliches Schema zu synthetisieren. Guaman Poma zeichne damit die messianistische Utopie einer rückwärtsgewandten, aber im Prinzip neu struk- turierten Welt, die in eine gedankliche Rebellion gegen spanische Kolonialherr- Folgt man Wachtels Beweisführung, stellt sich trotzdem die Frage, inwiefern Guaman Poma ein ‚indigenes’ Amerika-Projekt entwarf. An dieser Stelle sei an Andersons und Appadurais Thesen zur Wechselwirkung zwischen den medialen Praktiken und den sozialen Identitäten erinnert. Guaman Poma wirkte innovativ, weil er in erster Linie nach Kompatibilität in der Kommunikation mit den Euro- päern suchte. Er war nicht der einzige: Um die gleiche Zeit legten auch indigene Maler der Schule von Cuzco sowie Bernardino de Sahagúns nahuatlsprachige Informanten in Mexiko kühne neue Entwürfe in Schrift und Bild nieder. Sie alle erwiesen sich für die Kolonisierenden als trojanische Pferde, denn die Materiali- tät von Medien führte vielfach zu nicht intendierten Transformationsprozessen: Allein durch die Notwendigkeit, europäisch/christliche Termini zu übersetzen und, dazu auf einheimische Intellektuelle zurückzugreifen, fanden deren Denk- kategorien Eingang in die koloniale Wissensproduktion. Ähnlich argumentiert Silvia Spitta: Silvia Spitta: Between Two Waters. Narratives of Transculturation in Latin America. Texas 1995, S.92. Guaman Pomas Bestreben, einen “west- lichen” Leser zu erreichen und das damit einhergehende Pressen von andinen Konzepten in den Rahmen europäischer Kartographie und Geschichtsschrei- bung, hätten diesen Rahmen von innen her untergraben. Als Folge sei in Guaman Pomas Werk ein subversiver Subtext entstanden, der die sozialen Posi- tionen und Hierarchien, die von der Kolonialverwaltung als antagonistisch kon- struiert wurden, auf der diskursiven und bildlichen Ebene in Frage stellte. Die Herrschenden versuchten zu Verwaltungszwecken u.a. Spanier, Kreolen, Zwi- schenschichten wie Mestizen, indios sowie schwarze Sklaven rigide nach dem Kriterium ethnischer Herkunft zu trennen. Guaman Poma trug dazu bei, dass diese Kategorien bis zu einem gewissen Grad „rechtliche Fiktionen“ blieben. Douglas Cope: The Limits of Racial Domination. Plebeian Society in Colonial Mexico City, 1660-1720, Madison 1995. Er verkörperte die damit einhergehenden Widersprüche, indem er einerseits eine kulturell essentialistische Position vertrat und die rasche Zunahme der mestizi- schen Bevölkerung für den Untergang der andinen Welt mitverantwortlich machte; andererseits hatte er sich selbst kulturell weitgehend den Spaniern an- gepasst und wurde deshalb von letzteren als ein zweideutiger indio ladino kate- gorisiert. Adorno: Guaman Poma, S.28,31,35. Guaman Poma ist meines Erachtens ein Beispiel dafür, wie Indigene früh über die Aneignung neuer medialer Praktiken indigene Identität in einem Dialog mit ‚dem Westen’ mitgestalteten. Dies erzeugte ein Spannungsfeld zu den kolonialen Herrschaftsdiskursen. Guaman Pomas Entwurf könnte die gesellschaftlichen Verhältnisse auch strukturell verändert haben: Vergleichbare Modelle, die sich auf die Vergangen- heit des Inka-Staates bezogen und zugleich tawantinsuyu in einem interkulturel- len Dialog neu konzipierten, blieben lange attraktiv. Die quechuasprachige Be- völkerung und weitere Gruppen bedienten sich ihrer bis weit ins 18. Jahrhundert hinein als Referenz für die Formulierung alternativer Staatsmodelle und für die politische Auflehnung gegen die spanische Herrschaft. Steve Stern: Resistance, Rebellion, and Consciousness in the Andean Peasant World, 18 th to 20 th Centuries. Madison 1987. 3. AMERIKA-ENTWÜRFE ALS PROTEST GEGEN DIE JUBILÄUMS- FEIERN ZUR „ENTDECKUNG“ AMERIKAS Beim Schlagwort „indigenes Amerika“ denken viele ausschließlich an die Entwürfe der Nachkommen von Spaniern, die in Amerika geboren wurden. Kleine kreolische Eliten beriefen sich Ende des 18. Jahrhunderts erstmals auf das lange verachtete indianische Erbe, um die Eigenständigkeit amerikanischer Nationen gegenüber Europa zu legitimieren. Indigene Personen hätten als intel- lektuelle Autoren mit eigenen Projekten in diese Auseinandersetzungen nicht eingegriffen, hieß es lange in der offiziellen Geschichtsschreibung. Neue ethnohistorische Ansätze gehen hingegen auf die kulturellen Formen indigenen Widerstands in jener Zeit ein, so Brooke Larson: Trials of Nation Making: Liberalism, Race, and Ethnicity in the Andes, 1810-1910. Cambridge 2004. Fokussiert man aber nicht-schriftliche mediale Praktiken im Rahmen von spätkolonialen Aufstandsbewegungen, ergibt sich ein anderes Bild. Im Zuge der spanischen Kolonialpolitik eines Teile-und-Herrsche waren Gemeinden nach einem ethni- schen Kriterium getrennt worden (in repúblicas de indios und repúblicas de españoles ) . Die Folge war eine Fragmentierung, die zur Entstehung neuer, lokal geprägter indigener Identitätshorizonte beitrug. Bauern, Zwangs- und Lohnar- beiter entwickelten jedoch in der Auseinandersetzung mit der Ausbeutung auf Haziendas, in Minen und Städten gemeinsame Interessen und formulierten bis- weilen ein neues gesamt-indigenes Bewusstsein in religiösen Termini. Die als indios Klassifizierten identifizierten sich vielerorts erstmals als macehuales , ein ehemals aztekischer Ausdruck für Nicht-Adlige, und solidarisierten sich im Sinne einer sozia- len Klasse; siehe Ingrid Kummels: Land, Nahrung und Peyote. Soziale Identität von Rarámuri und Mestizen nahe der Grenze USA-Mexiko. Berlin 2006, S.149. Alter- native Amerika-Entwürfe waren dafür prägend. Als solche lassen sich die mille- naristischen Vorstellungen eines „spanierfreien Landes“ interpretieren und ihre Personifizierung in einem indigenen König oder in einer braunhäutigen, indige- nen Muttergottes. Indios an der Küste und im Hochland Westmexikos erhoben sich um 1800 und wollten einen Parallelstaat unter der Herrschaft von „El Indio Mariano“, ein angeblicher Nachfahre des Gouverneurs von Tlaxcala, errichten. Eric Van Young: The Other Rebellion. Popular Vio- lence, Ideology, and the Mexican Struggle for Independence, 1810-1821, Stanford 2001, S.452-494. Indigene formulierten diese Ideen in Konkurrenz zum Erlö- sungsglauben des Katholizismus, nahmen dabei aber auch auf Kontinuitäten Be- zug: Im mesoamerikanischen und im andinen Raum sprach man den katholischen Heiligen eine ähnliche Symbolkraft für räumliche, zeitliche und soziale Einheiten zu, wie sie die präkolonialen Lokalgottheiten innegehabt hat- ten. Juan Ossio: La imagen de la unidad social en las fiestas andinas. In: Antonio Garrido Aranda (Hrsg.): Pensar América. Cosmovisión mesoamericana y andina. Córdoba 1997, S.334. Über diese eigenständigen indigenen Projekte wissen wir immer noch zu wenig, weil sie systematisch als „anachronistisch“ diskreditiert und aus der Na- tionalgeschichte ausgeblendet wurden. Vor diesem Hintergrund schlugen die modernen indigenen Mobilisierungen der 1990er- Jahre tief in das Bewusstsein der nationalen Öffentlichkeiten, die sich als mestizisch definierten, ein. Besonders die Proteste im Vorfeld des Jubi- läumsfestes, das Spanien in Erinnerung an die „Entdeckung Amerikas“ vor 500 Jahren plante (siehe unten), markierten eine Zäsur. Neu war, dass soziale Bewe- gungen, die regional verankert und in Bezug auf Organisationsformen und poli- tische Programme sehr unterschiedlich waren, ein gemeinsames Anliegen publi- kumswirksam vertraten. Damit setzten sich Indigene erstmals als politische Akteure auf der internationalen Bühne durch. Dazu trugen auch charismatische Führungspersönlichkeiten wie Rigoberta Menchú, die 1992 den Friedensnobel- preis erhielt, bei, und die Vernetzung mit transnationalen Aktivisten aus anderen Kontinenten. Diese panindianische Strömung erzielte sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene beachtliche Erfolge. Im Rahmen von Verfassungsre- formen u.a. in Mexiko, Kolumbien, Ecuador und Bolivien wurden den indigenen Völkern als Teil eines multikulturell verfassten Staates bald kollektive kulturelle Rechte zuerkannt. Juliana Ströbele-Gregor: Indigene Völker und Gesellschaft in Lateinamerika: Herausfor- derungen an die Demokratie, In: Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit: Indigene Völ- ker in Lateinamerika und Entwicklungszusammenarbeit, 2004, S.20, FN 14. In mehreren Ländern erkämpften sich indigene Persönlich- keiten und Organisationen einen festen Platz in der politischen Parteienland- schaft. Zu ihren Errungenschaften zählt, dass nach 22 Jahre dauernden Verhand- lungen im Mai 2006 die Kommission für Menschenrechte der Vereinten Nationen die Erklärung der Rechte indigener Völker unterzeichnete. Ich werde im Folgenden argumentieren, dass die Konzeptualisierung eines neuen Amerika-Bildes ein wesentlicher Bestandteil dieser ethnischen Wende war. Bevor ich die Vorstellungen von Abya Yala detaillierter erläutere, seien die unterschiedlichen Formen interner Dynamik auf der nationalen Ebene dargelegt, die diese neue Entwicklung mit auslösten. Ab Ende der 1960er- Jahre wurden insbesondere in Kanada, den USA, in Mexiko, Ecuador, Peru und Bolivien un- abhängig voneinander indigene Identitäten revitalisiert. Im lateinamerikanischen Kontext lassen sich gemeinsame Faktoren ausmachen: Als Folge davon, dass mit der Unabhängigkeit der koloniale indio -Status in den meisten Staaten for- mell aufgehoben worden war, verloren Indigene ihre Sonderrechte in Bezug auf Selbstverwaltung und Gemeindebesitz an Land. Sie wurden zudem kulturell dis- kriminiert. Die herrschenden Eliten sahen in der kulturellen Heterogenität ein Defizit der jungen Staaten und legten diese den indigenen Bevölkerungsgruppen zur Last. Letztere erhoben gerade in Ablehnung des mestizaje , des homogenisie- renden Nationenmodells, zunehmend politische Forderungen auf ethnischer Basis und verlangten kollektive Rechte auf eine eigene Kultur, auf Land und natürliche Ressourcen sowie eine Selbstverwaltung und damit eine Teilautono- mie innerhalb der Nationalstaaten. Bewohner von Landgemeinden, die zuvor versucht hatten, Landrechte und Agrarreformen in Klassentermini als Bauern einzuklagen, hatten die Erfahrung gemacht, dass ihre Interessen im Rahmen von Bauernverbänden und Gewerkschaften zu kurz gekommen waren. Auch sah sich eine aufkommende indigene Bildungselite nach wie vor mit Diskriminierung konfrontiert, weshalb sie im Gegenzug die indigene Identität positiv definierte und als politische Waffe einsetzte. Zu den modernen indigenen Bewegungen siehe Juliana Ströbele-Gregor (Hrsg.): Nuevas tendencias de los movimientos indígenas en los países andinos y Guatemala del nuevo milenio. In: Indiana 17/18 (2000/2001); Kay Warren/Jean Jackson (Hrsg.): Indigenous Movements, Self-Representation and the State in Latin America. Austin 2002; Erick D. Langer/Elena Muñoz: Contemporary Indigenous Movements in Latin America, Wilmington 2003; Brysk: Tribal Village. Die neuen politischen Subjekte nannten sich im englischsprachigen Raum Native Americans (USA) und First Nations (Kanada), im spanischsprachigen Pueblos Indígenas und im portugiesischspra- chigen Nações Indígenas . Einige Wissenschaftler weisen mit Recht darauf hin, dass Analysen des natio- nalen Kontexts allein nicht genügen, um den Rekurs der sozialen Bewegungen auf Ethnizität in jenen Jahrzehnten zu erklären. Shane Greene: Getting over the Andes: The Geo-Eco-Politics of Indigenous Movements in Peru’s Twenty-First Century Inca Empire, In: Journal of Latin American Studies 38 (2005), S.327-354. So entwickelten gerade nume- risch kleine Gruppen wie die Inuit Kanadas und die Amazonas-Ethnien Ecua- dors, Perus und Brasiliens eine große Schlagkraft, indem sie als Erste über die nationale Ebene hinaus Allianzen mit der globalen Ökobewegung schmiedeten. Im Fall von Ecuador und Peru beeinflussten sie trotz der großen Interessensun- terschiede zwischen Hochland- und Tieflandindigenen die ethnische Politisie- rung der an Zahl überlegenen Hochlandbevölkerung maßgeblich mit. Ebenda, S.339f. ruhen sollte. 39 Hinter- grund war, dass sie ihre Belange in enger Interaktion mit internationalen Fürsprechergruppen wie Cultural Survival, IWGIA und Oxfam sowie mit Blick auf Themen von globaler Tragweite wie Ökologie und Menschenrechte formu- lierten. Diese Entwicklung legt nahe, dass lokal verankerte Bewegungen erst auf der Grundlage interkulturell ‚lesbarer’ politischer Programme und symbolischer Repräsentationen ihre Themen an die Spitze der nationalen politischen Tages- ordnungen zu setzen vermögen. Damit schlagen sie eine Brücke zwischen parti- kularen Belangen und diejenigen global agierender Interessensgruppen. Raumkategorien waren von Anfang an ein wichtiges Feld dieser Identitätspo- litik. Die Inuit – die innerhalb Kanadas eine kleine Minderheit bilden – erzielten mittels entsprechender Debatten innerhalb weniger Jahrzehnte einen weltweit einzigartigen Erfolg: 1999 wurde das Territorium Nunavut gegründet, das wei- terhin Teil des kanadischen Staates ist, aber autonom von dessen Bewohnern, zu 85 % Inuit, verwaltet wird. Im 19. Jahrhundert waren Euro-Kanadier bei der Aneignung des Lebensraums der Inuit ähnlich wie die Spanier vorgegangen. Die Arktis galt ihnen als „unbewohnt“, Orte benannten sie nach den euro- kanadischen „Entdeckern“ neu und dies hatte tiefgreifende Implikationen. In- dem sie die bestehenden geographischen Namen übergingen, negierten sie eine über Jahrhunderte gewachsene enge Beziehung zwischen Menschen und Orten. Orte sind mehr als Schrift oder materielle Kultur ein wesentliches Medium des kollektiven Gedächtnisses. Béatrice Colligon: Inuit Place Names and Sense of Place. In: Pamela Stern/Lisa Steven- son (Hrsg.): Critical Inuit Studies. An Anthology of Contemporary Arctic Ethnography. Lin- coln 2006, S.187-205. Als Inuit in den 1950er-Jahren in feste Niederlas- sungen umgesiedelt wurden, artikulierten sie die Sorge, dass die alten Topony- me vergessen werden könnten. Inuit-Politiker gaben in den 1970er-Jahren mit dem Namen „Nunavut“ („unser Land“) der Forderung nach einem selbst verwal- teten Territorium griffig Ausdruck. Sie unterstützten damit keimende Prozesse einer überlokalen Solidarisierung als Angehörige einer unterdrückten Ethnie und Klasse. Der 1981 gegründete Ältestenrat der Inuit fasste den Beschluss, alle Ortsnamen im Einzugsgebiet der modernen Siedlungen zu erheben. Ludger Müller-Wille: Geographische Namen und Souveränität. Kulturelle Behauptung der Inuit in Nunavik, Kanada. In: Peter Gerber (Hrsg.): 500 Jahre danach: zur heutigen Lage der indigenen Völker beider Amerika. Zürich 1993, S.37. Mit der Rückgewinnung der alten Raumkategorien und ihrer erstmaligen Aufzeichnung auf Karten untermauerten sie Forderungen nach einer selbstbestimmten umwelt- verträglichen Nutzung des Landes, die auch auf der kulturell tradierten Jagd be- Das Beispiel zeigt, dass territoriale Denkbilder für diese Bewegung wie auch für weitere nordamerikanische Indigenenbewegungen ab den 1970er-Jahren zentral waren. Den Anspruch auf kollektive Rechte an Land und Bodenschätzen begründeten sie mit einem ganzheitlichen Konzept, nach dem das Land nicht bloß Ressource, sondern von sakraler Qualität sei. Die in Nordamerika ideolo- gisch diversen Strömungen konvergierten in die Zukunftsvision einer die Natio- nalstaaten übergreifenden indianischen Zivilisation. Letztere gründe auf einer engen Beziehung mit der natürlichen Welt und unterscheide sich grundlegend von der merkantilistischen westlichen Zivilisation. Ein solches Landkonzept erläuterte ein Vertreter des International Indian Treaty Council 1981 vor den Vereinten Nationen wie folgt: “The oneness of the earth has been shattered by artificial entities called ‘nations’ that separate people from each other – even people sharing a common history, culture and tradition. The oneness of the earth has been shattered within these nations by other artificial boundaries dividing the open land into segments of ‘private property’.” (Burger 1987, In: Brysk: Tribal Village, S.99). Dieses ‚rein’ indigen wir- kende Konzept von mother earth handelten Führungspersönlichkeiten indessen in einem interkulturellen Kontext aus. Sie inkorporierten darin neben Lokaltradi- tionen sowohl christliches Gedankengut – mit dem sie aufgrund ihrer eigenen christlichen Erziehung vertraut waren –, als auch die Umweltschutzideen von Lobbyisten indigener Belange, mit denen sie zusammenarbeiteten. Zur vergleichbaren Synthese verschiedener ideologischer Strömungen in der Rede von Häuptling Seattle siehe Peter Gerber: Der Indianer – ein homo oekologicus? In: Fritz Stolz (Hrsg.): Religiöse Wahrnehmung der Welt. Zürich 1993, S.221-244. Parallel hierzu entstand das Denkbild von Abya Yala. Lokal und regional ge- prägte Indigenenorganisationen, die sich transnational agierenden Dachverbän- den angeschlossen haben, beziehen sich darauf. Abya Yala wird aktuell auf den Internetseiten von solchen Verbänden als ein „Kontinent und kollektives Terri- torium der indigenen Völker“ definiert. Siehe die Website der Indigenenvertretungen, die an den kontinentalen Gipfeltreffen teilnehmen: http://www.cumbrecontinentalindigena.org/nahaucalli06_en.php (eingesehen am 4.5.2007). Abya Yala ist der Namensgeber von einer Reihe von Organisationen, die sich mit indigenen Belangen befassen, so von einem Verlag, einer Zeitung, einer gemeinnützigen Stif- tung und einer Website. Bezeichnenderweise ist Takir Mamani, der 1986 als erster den Begriff in die Diskussion einführte (siehe Anfang), ein Gründungsmitglied der Aymara-Bewegung Tupak Katari. Mamani soll den Begriff im Sommer 1977 von Autoritäten der Kuna Panamas – die er- folgreich um territoriale Autonomie gekämpft hatten – übernommen haben. Letztere erklär- ten: „Der wahre Name unseres Kontinents ist Abya Yala. Das ist in der Kuna-Sprache, aber jedes Volk hatte in seiner Sprache dafür einen eigenen Begriff.“ (Übersetzung I.K.) Siehe: http://www.panamaprofundo.org/boletin/pueblosindigenas/porque_abya_yala.htm (einge- sehen am 4.7.2007). Zum Katarismus siehe Juliana Ströbele-Gregor: Vom indio zum mesti- zo... zum indio, In: Dirmoser, Dietmar et al. (Hrsg.): Lateinamerika. Analysen und Berichte Bd. 16. Münster 1993, S.95-112; Andrew Canessa: Contesting Hybridity: Evangelistas and Kataristas in Highland Bolivia. In: Latin American Studies 32, (2000), S.115-144. Diese hatte ab dem Ende der 1960er-Jahre neue, an ethnische Kategorien orientierte Akzente gesetzt und das politische Programm und die Symbolik eines indigenen Nationalismus auch über ihr Ursprungsland Bolivien hinaus geprägt. Im Verlauf der Jahrzehnte verbanden verschiedene Akteure – neben Bauern insbesondere Hochlandbe- wohner, die in die Städte migriert waren –, damit das politische Ziel einer Selbstermächtigung der Aymara nach eigenen Maßstäben. Mit Verweis auf den antikolonialen Kampf des Aymara Tupac Katari Ende des 18. Jahrhunderts for- derten sie die Errichtung einer modernen Version des prä-Inka-Reiches. Dazu sollten die‚ traditionelle’ Religion und Lebensweise sowie insbesondere die in- digenen basisdemokratischen Strukturen revitalisiert werden, die auf eine präko- loniale Aymara-Zivilisation von Tiwanaku zurückgeführt werden. Canessa dekonstruiert die Interpretation, Tiwanaku sei eine „präkoloniale Hauptstadt der Aymara“, und weist auf deren frühere multikulturelle Zusammensetzung hin, siehe Canessa: Evangelistas and Kataristas, S.120, Fußnote 28. gung. 47 In Bolivien berufen sich verschiedene Gruppierungen, darunter neue indianistische Parteien, auf diese Ideologie des Katarismus, um eine alternative Staatsform zu fordern. Sie vertreten allerdings unterschiedliche, bisweilen konträre Nationenkonzepte. Nur eine Minderheit wie die radikal-indianistische Partei Movimiento Indígena Pachakutik (MIP) spricht der mestizisch-weißen Bevölkerung ein Wohn- und Nutzungsrecht in „indigenen Territorien“ und einen entsprechend konzipiertem Staat ab. Andere Gruppierungen stellen den bestehenden bolivianischen Staat nicht grundsätzlich in Frage, sondern wollen ihn in Richtung einer plurikulturel- len Staatsform reformieren. Von der Anerkennung der kulturellen Unterschiede zwischen den „Nationalitäten“ (ein Gegenbegriff zur früheren Bezeichnung „ethnische Minderheiten“) versprechen sie sich künftig eine gleichberechtigte Koexistenz zwischen indigenen Ethnien und Mestizen. Abya Yala ist zum flexiblen Bezugspunkt indigener Organisationen in La- teinamerika geworden, die dort ein ähnlich breites Spektrum wie in Nordameri- ka aufweisen,. Ihre Vertreter sprechen nun oft von Abya Yala, mother earth, madre naturaleza und Pachamama Zur Komplexität des Aymara-Begriffes Pachamama , der oft verkürzt als „Erdgöttin“ übersetzt wird, der aber auch auf die Raum- und Zeitverknüpfung des Kosmos Bezug nimmt, siehe Xavier Albó: La Gente de las Alturas. 16.9.2006 In: http://www.mail- archive.com/aymaralist@yahoogrups.com/msg03587.html (eingesehen am 16.7.2007) in einem Atemzug. Mit Hilfe dieses inter- kulturell vermittelbaren Amerika-Konzepts stellen sie eine internationale Öf- fentlichkeit für indigene Gesellschaftsprojekte her, auch wenn diese Projekte im Einzelnen ideologisch unterschiedlich sind. Zunächst zur bildlichen Darstellung von Abya Yala: Die Identitätspolitik in einer globalisierten Welt kreist zuneh- mend um Symbole, Bilder und Diskurse, die grenzübergreifend zirkulieren, und Verbindungen mit lokalen Identitätshorizonten eingehen. Im Zuge dessen neh- men die Bilder selbst eine neue Qualität an: „Sie beinhalten viele komplizierte Windungen“, stellt Arjun Appadurai fest, weil sie sowohl „das eigene imaginier- te Leben, als auch das von Anderen, die an entfernten Orten wohnen“, syntheti- sieren. Appadurai: Modernity, S.35. Das Plakat des „II. Cumbre de los Pueblos y Nacionalidades Indígenas de Abya Yala“, der 2004 in Quito stattfand, ist dafür ein Beispiel. Auch diejeni- gen, die mit der aktuellen panindigenen Symbolik wenig vertraut sind, mögen folgendes darin lesen: Die horizontale Lage des Doppelkontinents widerspricht der hegemonialen Weltrepräsentation; die Vielfalt der darin inkorporierten Symbole steht für die Plurikulturalität indigener Völker. Umweltaktivisten kön- nen sie als eine alternative Weltgesellschaft, die vom Respekt vor Natur und Kosmos geleitet wird, interpretieren und Esoteriker darauf achten, dass dies in der Spiritualität einer indigenen Lebensgemeinschaft begründet erscheint. Wei- tere Leseschichten für Eingeweihte sind: Der Adler und der Kondor repräsentie- ren Nord- und Südamerika, die gemäß einer Prophezeiung durch den Kolonia- lismus getrennt wurden und die es nun wiederzuvereinen gilt. Potentiell Trennendes (Hochland/Tiefland; Männer/Frauen) ist dual angeordnet, und zwar in der Chacana, dem andinen Kreuz, das indianistischen Erweckungsbewegun- gen wie den Kataristen bis hin zu US-amerikanischen Esoterikgruppen als Welt- symbol gilt. Das Plakat vermag somit Brücken zwischen den verschiedensten Referenzsystemen zu schlagen, auch gerade innerhalb der panindigenen Bewe- Vom Bild zu den Akteuren: Die beteiligten Akteure handeln diese neuen in- digenen Amerika-Konzepte derzeit bei face-to-face Begegnungen in den räumli- chen Knotenpunkten von globalen Netzwerken wie Universitäten, NGO-Büros und bei internationalen Veranstaltungen aus. Indigene, die in die Städte migriert sind und deren Zahl in den letzten Jahrzehnten stetig angewachsen ist, sind eine treibende Kraft der Re-Indianisierungsprozesse. Dazu zählen Studenten und Studienabgänger, die dort beruflich Fuß gefasst haben. Letztere Gruppen mobi- lisierten sich gerade in ihrer Ablehnung von Manifestationen symbolischer Poli- tik der global players wie Spaniens, das 1992 ein Jubiläumsfest aus Anlass der 500. Wiederkehr der „Entdeckung und Eroberung Amerikas“ beging. Spanien, das sich eine neue Vermittlerrolle zu Lateinamerika versprach, war bestrebt, über die Feierlichkeiten den Gewinn zu demonstrieren, den die europäische Kul- tur den Amerikas gebracht habe. Das Vorhaben, Nachbauten von Kolumbus’ Karavellen medienwirksam auf die historische Reiseroute zu entsenden, enthüll- te allerdings die iberische Sicht von der so genannten „Endeckung“ als dem Er- eignis, das die eine Vorstellung von der Welt verändert hatte. Der Gedenktag wurde 1984 als „Begegnung zweier Welten“ neu definiert, siehe Walther Bernecker: Rauchender Spiegel. Das Jubiläum der „Entdeckung“ Amerikas im Widerstreit der Meinungen. In: Wolfgang Reinhard et al. (Hrsg.): Nord und Süd in Amerika. Gemein- samkeiten, Gegensätze, europäischer Hintergrund. Freiburg 1992, S.1303. Die politisch engagierten Indigenen setzen dieser Vorstellung aber schon seit 1987 Diskurse und Bilder von ihrer Gegenwart entgegen. Ihre Zeitgenossen- schaft untermauerten sie nicht nur diskursiv mit Forderungen nach der Wieder- gewinnung „unserer Identität als Nationen mit ethnischer und kultureller Viel- falt“. Bernecker: Spiegel, S.1310. Sie wählten auch moderne Formen des politischen Protests wie Märsche und Straßenblockaden. Botschaften wie: „Wir haben unser Amerika selbst ent- deckt“ und „Es lebe unser dunkelhäutiges Amerika“ Ebenda, S.1309; Philip Wearne: Return of the Indian. Conquest and Revival in the Americas, Pittsburgh 1996, S.187, Bild. vermittelten sie visuell vor allem über die Märsche, an denen sich Tausende Angehörige verschiedener Dorfgemeinschaften und Ethnien beteiligten. Sie führten vom tiefsten Land in die Hauptstädte, wie zum Beispiel das legendäre „Levantamiento Nacional Indí- gena“, das die Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador (CO- NAIE), Ecuadors Indigenendachverband, im Juni 1990 ausrief. Erwin Frank: Geschichte und Utopie: Die indianistische Bewegung in Ekuador. In: Dietmar Dirmoser et al. (Hrsg.): Lateinamerika. Analysen und Berichte Bd. 16. Münster 1993, S.48-65; Leon Zamosc: Agrarian Protest and the Indian Movement in the Ecuadorian Highlands, In: Erick D. Langer/Elena Muñoz: Indigenous Movements, S.37-63. Mit der Wortwahl levantamiento stellte die Confederación einen Zusammen- hang mit den kolonialzeitlichen Aufständen her, wenngleich die Mobilisierung die moderne Form eines Generalstreiks annahm. Die Demonstranten klagten ihre desolate wirtschaftliche Situation, die Landkonflikte und weitere Missstän- de an, warfen jedoch auch die grundsätzliche Frage nach der Staatsform von Ecuador auf, die bis dahin als mestizisch definiert worden war. Die Marginali- sierten präsentierten sich erstmals im zentralen öffentlichen Raum als „Nationa- litäten“ mit eigener Geschichte und kollektiven Identitäten und zwangen die Landesregierungen so, in direkte Verhandlungen mit ihnen zu treten. Als Natio- nalitäten beanspruchten sie eine Gleichrangigkeit mit dem mestizischen Natio- nalstaat und gaben dieser Forderung über Symbole Ausdruck, die indessen letz- terem entlehnt sind. Ein Beispiel ist die Wiphala (siehe Anfang). Aymara- Aktivisten hatten als Erste die altandine Symbolik des Regenbogens mit der Flagge europäischen Ursprungs kombiniert. Aktuell beziehen sich zahlreiche Indigene und Indigenenorganisationen in ganz Lateinamerika auf die Wiphala als Symbol von Verschiedenheit und Einheit der „originären Völker“ der Ame- Die Organisatoren des „Levantamiento“ setzten solche interkulturell verständ- lichen Symbole sehr gezielt ein. Luis Macas, der damalige und gegenwärtige Anführer von CONAIE, erklärte: „Unsere Taktik ist nicht nur Reifen zu verbrennen, Steine zu werfen und Straßen zu blockieren. Wir sind in der Lage, unseren Protest in Form einer fiesta zu artikulieren. Denn das ist unsere cosmo- visión .“ In Brysk: Tribal Village, S.73. Er und andere schlugen eine Brücke von der Gegenwart zur präkolo- nialen Vergangenheit, etwa mit Massenkundgebungen in der alten Inka- Hauptstadt Cuzco oder auf dem berüchtigten Minenberg Cerro Rico – was da- mals neu war. Wearne: Return, S.187. Diese gedankliche Verbindung zwischen den Epochen verstärk- ten sie über ‚traditionelle’ Medien wie Kleidung, Musik und Tanz. Gerade das Bild des ‚zeitlos Indigenen’ zog die Fotografen und Fernsehleute der Massen- medien an. Sie lichteten Quichua-Aktivisten ab, die ihrer Sitte gemäß ihren Hut nicht einmal vor den höchsten Repräsentanten des Staates Ecuador ablegten. Frank: Utopie, S.48. Durch solche Bilder nahm die nicht-indigene Öffentlichkeit erstmals den Ver- gangenheitsbezug in Kleidung und Kultur und die moderne politische Akteurs- rolle von Indigenen auf der nationalen Bühne nicht mehr als Gegensätze, son- dern als sich gegenseitig bedingend wahr. Die Konvergenz in ein panindigenes Symbolrepertoire hält an. Indigene Ak- teure formen dieses Repertoire mit Hilfe von Ideen und ideologischen Konstruk- ten, die eher auf die präkolonialen Staaten Mesoamerikas und des Andenraums Bezug nehmen als auf die dezentralen politischen Gebilde der nordamerikani- schen Wüstengebiete und des südamerikanischen Regenwaldes. Ehemals säkula- re, marxistische Bewegungen wie Evo Morales’ Partei Movimiento al Socialis- mo (MAS) haben sich inzwischen dieses Repertoire angeeignet – wie bei Morales’ Amtsantritt eindrucksvoll gezeigt wurde. Zum innovativen Charakter des Aymara-Neujahrsfestes, siehe Xavier Albó: La Gente. weitergegeben. 59 Insbesondere indigene Poli- tiker aus dem Maya-Gebiet und dem andinen Hochland verstehen ihre politi- schen Forderungen als cosmovisión , als Teil einer Philosophie, die auf panindi- gene Spiritualität gründet . Diese formulieren sie nicht als ein in sich widerspruchsfreies Wissenssystem, sondern mit Verweis auf einzelne Schlüssel- konzepte; neben Abya Yala auch Pachakutik. Indigene Sozialaktivisten bedie- nen sich dieses Quichua-Begriffes (wörtlich: Transformation in Zeit und Raum, Revolution) als Namensgeber für zahlreiche indianistische Parteien und Organi- sationen und beziehen sich damit auf eine zyklische Zeitvorstellung, der gemäß die Welt in regelmäßig wiederkehrenden Abständen grundlegend erneuert wird. Sie legen den aktuellen ethnischen Aufbruch als den Vorboten eines solchen neuen Zeitalters aus, der die Welt in bessere Bahnen lenken wird. Diese ‚traditi- onelle’ millenaristische Vorstellung wird als Speerspitze gegen einen modernen Feind, ‚die’ neoliberale Politik und die Kehrseiten der Globalisierung, gerichtet. Beim letzten Gipfel der indigenen Völker von Abya Yala im März 2007 in Iximché, Guatemala, drehten sich die Diskussionen einerseits um sehr weltliche Themen. So richteten die Teilnehmer ihre Klagen vor allem gegen Kapitalisie- rung und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in indigenen Gebieten. In der Schlusserklärung wurden u.a. die geplante Freihandelsvereinbarung (Free Trade Agreement of the Americas) und der Ausbau des Grenzzauns seitens der USA zu Mexiko hin verurteilt. Gefordert wurden u.a. die Legalisierung des Koka- Anbaus und der Friedensnobelpreis für Evo Morales. Die Indigenenvertreter übertrugen diese weltlichen Themen aber auch gezielt in ein spirituelles Regis- ter. Rodolfo Pocop von der Maya-Organisation Waqib’ Kej beantragte, den merkantilistischen Begriff „Ressourcen“ künftig durch „Mutter Erde“ zu erset- zen. Marc Becker: Continental Summit of Indigenous Peoples Meets in Guatemala. 4.5.2007. In: http://upsidedownworld.org/main/index2.php?option=com_content&task=view&id=6... (eingesehen am 4.5.2007) Darüber hinaus gab man dem kollektiven Raum- und Zeitempfinden in neuen Ritualen kinetisch/visuell Ausdruck. Das Gipfeltreffen wurde mit einer „Zeremonie an das heilige Feuer“, das den Schöpfergott Feuer symbolisiert, er- öffnet. Das Feuer, das 1990 beim ersten kontinentalen Treffen der indigenen Völker in Quito entfacht wurde, wird seither im Stil eines olympischen Feuers Neue Inhalte im traditionellen Gewand werden auch über moderne Medien vermittelt. Viele Indigenenorganisationen haben deshalb letztere zur Chefsache erklärt und seit dem „Levantamiento“ Presseeinrichtungen, Ausbildungszentren und ähnliches weiterentwickelt und institutionalisiert. Mario Bustos, der Direk- tor der Kommunikationsabteilung von CONAIE, betont: „...ein Video zu drehen, einfach nur um ein Video zu erzeugen, führt uns nirgendwo hin. Wir müssen dies vielmehr in Verbindung und in Funktion zu den politischen, kulturellen und sozialen Prozessen tun, die wir von Seiten der indigenen Völker in Bewegung setzen.“ Und er analysierte: „(...) Es ist wichtig, sehr umfassend an der Wieder- gewinnung von Identität zu arbeiten, mit Identität zu sprechen sowie die cosmo- visión zu konzeptualisieren und weiterzuentwickeln. Denn es gilt den politischen Diskurs mit sehr viel cosmovisión aufzuladen.“ Bustos: Comunicación, S.2,14. Was bedeutet dies für die aktuelle Kategorie des Indigenen, die in einem komplexen gesellschaftspolitischen Kontext ausgehandelt wird und sich stetig wandelt? Im Rahmen der beschriebenen Dynamik vermochten ressourcenarme soziale Bewegungen, Schwäche in Stärke zu verwandeln. Sie gebrauchen immer gezielter Informationen und Bilder, um kollektive Identität zu erschaffen und sie über nationale Grenzen hinweg zu projizieren. Siehe Brysk: Tribal Village, S.35. Indigene Spiritualität in der Form einer sakralen, kollektiven Beziehung zum Land und die Visualisierung eines alternativen Amerikas bilden flexible Bezugspunkte. Sozialaktivisten ver- weisen darauf, um nach innen zu mobilisieren; zugleich einen diese Bezugspun- ke die vielen ideologisch nach wie vor diversen Bewegungen, die von Indigenen getragen werden, so zum Beispiel, wenn sie sich gemeinsam gegen die aktuellen massiven Zugriffe auf Land und Bodenschätze seitens multinationaler Konzerne wehren. Darüber hinaus nutzen die Akteure die Bezugspunkte, um eine Brücke zu allgemeineren globalisierungskritischen Diskursen zu schlagen, die von Um- weltschutzbelangen bis zu zentralen Fragen von Demokratie und Menschenrech- ten ansprechen. Der Blick auf mediale Praktiken zeigt, dass indigene und panin- digene Identitäten zunehmend aus dieser mehrfachen Perspektive konstruiert werden: Repräsentationen, die die Akteure schaffen oder wieder erschaffen, be- währen sich in dem Maß, in dem sie an Imaginationen anknüpfen, welche die Zuschauer von den Akteuren haben und sie so emotional ansprechen. Appelliert wird an die Vorstellung von Indigenen als den Garanten einer harmonischen Zukunft, weil dies schon immer ihre Tradition war. 4. AMERIKA IN DEN PERFORMANCES VON TANZGEMEINSCHAF- TEN UND ALS TEIL DER POLITISCHEN MOBILISIERUNGEN AN DER GRENZE ZWISCHEN MEXIKO UND DEN USA Wie sehr die Vorstellungen eines indigenen Amerikas im Fluss sind, zeigen die sozialen Bewegungen in der Grenzregion zwischen Mexiko und den USA. Sie organisieren und imaginieren sich zunehmend jenseits von ethnischen und politischen Grenzen, um sich in einer Ära transnationaler Antiglobalisierungspo- litik international Gehör zu verschaffen. Sirena Pellarolo: La Otra Campaña Transfronteriza: De-nationalizing Trans-border Grassroots Organizing. 25.2.2007 http://www.inmotionmagazine.com/auto/sp_trans.html>(eingesehen am 4.5.2007) Von der Grenzregion gehen aktuell verstärkt neue Impulse auf die transkontinentale panindigene Strömung aus. Be- zeichnenderweise bereiste die alternative Wahlkampagne des Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN) mit Subcomandante Marcos im Oktober 2006 erstmals Nordmexiko – ein Gebiet mit wenig indigener Bevölkerung, deren ethnopolitische Bewegungen von der breiten Öffentlichkeit lange kaum regist- riert wurden. Die Neozapatisten machten Etappen bei den Rarámuri, Kiliwa, Mayo und Yaqui sowie an den Brücken, die die Zwillingsstädte auf beiden Sei- ten der Grenze verbinden. Nicht Photos von Massenveranstaltungen in Ruinen- stätten gingen um die Welt, sondern von einer menschenarmen Wüstengegend – wo die Fischer der Mikro-Ethnie Cucupá, um ihre Existenz kämpfen, weil die US-Agrarindustrie Wasser aus dem Colorado-Fluss abzweigt. Ferner tauschte sich die Delegation mit Globalisierungsgegnern aus, die sich nicht in konventio- nelle ethnische Kategorien einordnen lassen. Sie traf Mitglieder der Danza Mexica Cuauhtemoc, die bei Protestaktionen in einer neoaztekischen, folkloris- tisch wirkenden Tracht auftreten. Kaum ein Außenstehender vermutet, dass sie langjährige, treue Anhänger der Neozapatisten sind. Siehe http://www.narconews.com/Issue45/articulo2637.html (eingesehen am 4.5.2007) 64 Carol Nagengast/Michael Kearney: Mixtec Ethnicity: Social Identity, Political Con- sciousness, and Political Activism. In: Latin American Research Review 25(2), (1990), S.61- 91. Tanzvereine wie die Danza Mexica Cuauhtemoc bilden Teil einer aktuell so- wohl in Mexiko wie auch in den USA expandierenden transnationalen Bewe- gung, die Amerika-Projekte mit eigenen Akzenten entwirft. Hintergrund ist die spezifische Geschichte der Region: Indigene und nicht-indigene Gemeinschaften wurden als Folge des US-mexikanischen Krieges von 1848 über die neu gezo- gene Grenzlinie voneinander getrennt. Im Zuge von massiven Migrationsbewe- gungen in die USA seit den 1970er-Jahren artikulieren sie über kulturelle und politische Organisationen ein transnationales Zugehörigkeitsgefühl. Auch Be- wohner aus dem südlichen Oaxaca, die sich früher in erster Linie mit ihrer Ge- meinde identifizierten und von Nachbargemeinden der gleichen indigenen Sprachgemeinschaft abgrenzten, solidarisieren sich fern der Heimat an ihren neuen Wohnorten in Nordmexiko und in den USA erstmals als Angehörige der gleichen Sprachgruppe und als Indigene. Die gemeinsame Erfahrung von Dis- kriminierung als landwirtschaftliche Kräfte in der Agrarindustrie motiviert sie dazu. Die Frente Indígena Oaxaqueña Binacional (FIOB) – ein Dachverband, der 1991 in Los Angeles als Reaktion auf das für 1992 geplante Kolumbusjahr gegründet wurde –, eint inzwischen in der Grenzregion lebende Mixteken, Zapo- teken und Triqui. Das Spektrum ihrer politischen Forderungen reicht von der Legalisierung des indigenen Straßenhandels bis hin zur Einstellung der Lage- rung nuklearer Abfälle im Grenzgebiet. Eine weitere transethnische Bewegung ist die Alianza Indígena Sin Fronteras. Native Americans, mexikanische Indige- ne und mexikanischstämmige Chicanos treten darin gemeinsam für einen freien Grenzverkehr für Angehörige tribaler Gesellschaften ein. Entsprechende Forde- rungen sind inzwischen ein Teil der Abschlusserklärung des indigenen Welt- gipfels. Tänze wie die danza conchera oder azteca bilden eine gemeinsame kulturelle Plattform dieser sozialen Bewegungen und werden bei Protestaktionen regelmä- ßig aufgeführt. Die Danza Mexica Cuauhtemoc mit Hauptsitz in Minneapolis und Niederlassungen in Arizona und Südkalifornien ist eine von vielen Gemein- schaften in den USA und in Mexiko, die sich vorwiegend diesem Tanz widmen. Der Verein, der eine von Wellness geprägte Lebensphilosophie mit politischem Engagement für die Neo-Zapatisten verbindet, zieht in erster Linie Chicanos an, aber auch Native Americans, die von der spanischen Kolonialkultur geprägt wurden. Die Semantik und offene Struktur der danza azteca erleichtert die Inklusion heterogener sozialer Gruppen. Anáhuac González: Los concheros. La reconquista de México. In: Jesús Jauregui/Carlo Bonfiglioli: Las danzas de la conquista I. Mexiko-Stadt 1996, S.207-227. Der Tanz macht den präkolonial als fünfteilig konzipierten Kosmos kinetisch wie etwa über die Choreographie „Gruß an die vier Winde“ erfahrbar. Ein vergleichbares rituelles Grundmuster wird in Hunderten von mexikanischen indigenen Gemeinden praktiziert: Man begeht die vier Himmelsrichtungen und bringt jeweils ein symbolisches Opfer dar. Die danza azteca schlägt auch zu einer weiteren Tanztradition eine Brücke, nämlich zu den spanischen danzas de la conquista , die einst die Eroberung der Einheimischen Amerikas darstellten, aber von den Lokalbevölkerungen gemäß eigener Geschichtsversionen neu interpretiert wurde. Die danza azteca nimmt folglich auf Formen kinetisch-visueller Semantik Bezug, die in zahllose Ge- meinden im Süden der USA bis hin nach Chile praktiziert und verstanden wer- den. Zugleich wird über die danza azteca ein teils essentialistisches, teils hybrides Amerika-Bild vermittelt. Bereits in den 1960er-Jahren setzten Chicanos den Tanz im Rahmen von politischem Aktivismus in den Universitäten ein und ver- knüpften ihn mit dem Konzept einer eigenständigen kulturellen Nation der Me- xikanischstämmigen. Sie entwarfen Aztlán, den mythischen Ursprungsort der Azteken, und Anáhuac, das Aztekenreich, als zentrale Sinnbilder dieser Chica- no-Nation. Mit Aztlán, das im heutigen Nordmexiko oder im US-Staat Kalifor- nien gelegen haben soll, unterstreichen die Chicanos gegenüber den Angloame- rikanern ihre Erstrangigkeit. Die Chicana-Schriftstellerin Gloria Anzaldúa zeichnete Aztlán als eine psychische Landschaft von fluiden Übergängen zwi- schen Kulturen und Geschlechtsidentitäten, die auch nationale Grenzen trans- zendiert. Zu verschiedenen Aztlán-Konzepten in der Chicana/o-Literatur siehe Dieter Ingenschay: Pepsicoatl, Nation of Aztlán and New World Border. Problematisierung, Hybridisierung und Überwindung der mexicanidad im Lichte der Kultur der chican@s. In: Marianne Braig et al.: Grenzen der Macht – Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext. Berlin 2005, S.77-101. Die Gemeinschaft Danza Mexica Cuauhtemoc setzt einen etwas an- deren Akzent, indem sie das Aztekenreich Anáhuac mit Blick auf eine künftige aztekische Renaissance in den Vordergrund rückt. Der Verein vermittelt dies auch über eine legendäre Rede des letzten Azteken-Herrschers Cuauhtemoc, die er auf seiner Website wiedergibt. http://www.cuauhtemoc.org/ (eingesehen am 25.6.2007) Cuauhtemoc prophezeit, dass eines Tages die Sonne über Anáhuac wieder aufgehen werde. Auf der Basis dieser millenaristi- schen Erwartung solidarisieren sich nicht nur diejenigen, die sich als Leidtra- gende der spanischen Eroberung ansehen, sondern darüber hinaus auch jene, die sich in Analogie dazu als Benachteiligte der Globalisierung betrachten. Die Denkfigur Anáhuac, die zuvor von Chicanos entworfen wurde, vermag deshalb neuerdings auch Native Americans und mexikanische Indigene anzusprechen. 5. FAZIT Die Fallbeispiele zeigen, wie Indigene über einen Zeitraum von mehr als fünf Jahrhunderten wiederholt mit alternativen Amerika-Entwürfen in die Auseinan- dersetzungen um die kulturelle und politische Kontrolle des Kontinents eingrif- fen, die infolge der europäischen Invasion einsetzten. Bereits im 16. Jahrhundert kombinierten indigene Sozialaktivisten‚ traditionelle’ und ‚moderne’ Medien und formten damit die neuen medialen Techniken, mit welchen sie ihre Ameri- ka-Projekte niederlegten. Die Denkbilder wurden einerseits von diesen Akteuren gezielt gestaltet, andererseits wurden sie von der Materialität der Medien beein- flusst. Die darüber geschaffenen Amerika-Bilder und Gesellschaftsentwürfe stel- len folglich keine indigenen Essenzen dar. Wie bereits der Fall von Guaman Poma zeigt, sind die Brüche zwischen präkolonialer Kosmologie und späteren Konzepten tief. Eine Analyse in großer historischer Tiefe belegt aber auch Kon- tinuitäten, insbesondere in der kolonialen und postkolonialen Zeit. Eine besteht in der Suche von indigenen Akteuren nach Kompatibilität in der Kommunikati- on mit den Herrschenden, um letzteren ihre alternativen Ideen effektiver zu kommunizieren. Umfassende gesellschaftliche Neuerungen konzipierten sie oft auf der Basis einer idealisierten indigenen Vergangenheit, die sie in die Zukunft projizierten. Indigene entwarfen damit als Erste indianistische Projekte, die lan- ge ausschließlich den so genannten mestizischen Indigenisten zugeschrieben wurden. Spitta: Two Waters, S.102. In ihrer Gesamtheit betrachtet ergeben die Vorhaben, die indigene Akteure über Schrift, Bild und Körper entwarfen, eine kontinuierliche Narration im Sinne einer indigenen „Genealogie“ (Foucault). Darin wird das Handeln von Indigenen in die Geschichte und Politik der Amerikas eingeschrieben und sie bildet so einen Diskurs der Gegenerinnerung innerhalb der global ungleichen Geographie des Wissens. Im Zuge der Wechselbeziehung zwischen medialen Praktiken und kollektiven Identitäten in den Amerikas erfuhren die Wissensfor- men und Lebenswelten indigener Akteure eine umfassende Transformation; gleichzeitig sind sie ein Jahrhunderte alter Bestandteil der Pluralität von Ent- wicklungslinien der globalen Moderne.

Zitiert bei Wolfgang M. Gall: Martin Waldseemüller: Leben und Wirken. In: Susanne Asche und Wolfgang M. Gall (Hrsg.): Neue Welt und Altes Wissen: Wie Amerika zu seinem Namen kam. Offenburg 2006, S. 39.

Zitiert bei Wolfgang M. Gall: Martin Waldseemüller: Leben und Wirken. In: Susanne Asche und Wolfgang M. Gall (Hrsg.): Neue Welt und Altes Wissen: Wie Amerika zu seinem Namen kam. Offenburg 2006, S. 39.

Alexander von Humboldt: Kritische Untersuchungen über die historische Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt. Berlin 1852.

Zur Rolle der Sprache s. Wolfgang Reinhard: Sprachbeherrschung und Weltherrschaft: Sprache und Sprachwissenschaft in der europäischen Expansion. In: ders. (Hrsg.): Humanis- mus und Neue Welt. Weinheim 1987, S. 1-36. Zur Bedeutung der Karten in diesem Zusam- menhang: J.H. Elliott: Empires of the Atlantic World: Britain and Spain in America. New Haven 2006, S. 31-35.

Walter Mignolo: The Darker Side of the Renaissance: Literacy, Territoriality, and Colonization. Ann Arbor 1995.

Auf eine genauere Diskussion des umfangreichen Literaturstands muss hier aus Platz- gründen verzichtet werden. S. dazu die folgenden Fußnoten sowie die Beiträge von Hans- Joachim König und Dagmar Bechtloff in diesem Band. Interessante neue Perspektiven zu den Repräsentationen Amerikas jetzt bei Ricardo Salvatore (Hrsg.): Culturas imperiales: Expe- riencia y representación en América, Asia y Africa. Rosario 2005.

Der Begriff ergibt sich aus der Verbindung der griechischen Wörter „kósmos“ (Erde, Weltall) und „gráphein“ (beschreiben). S. dazu auch Wolfgang Neuber: Fremde Welt im eu- ropäischen Horizont. Zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit. Berlin 1991, S. 224-230.

Zum mittelalterlichen Weltbild s. Rudolf Simek: Erde und Kosmos im Mittelalter. Das Weltbild vor Kolumbus. München 1992. Wilhelm Kölmel: Imago mundi: Studien zum mittel- zeitlichen Weltverständnis. Hamburg 1995. Klaus Anselm Vogel: Sphaera terrae: Das mittel- alterliche Bild der Erde und die kosmographische Revolution. Diss. phil. Göttingen 1995.

Zur (Fehl-)Wahrnehmung des mittelalterlichen Weltbilds in der Neuzeit: Peter Aufge- bauer: „Die Erde ist eine Scheibe“ – Das mittelalterliche Weltbild in der Wahrnehmung der Neuzeit. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Bd. 57, H. 7/8 (2006), S. 427–441.

Dass Marco Polos Schilderungen im Gegensatz zu den phantastischen Erzählungen John Mandevilles zunächst wenig Glauben geschenkt wurde, weil sie die christlichen Vorstel- lungsgrenzen durchbrach, hat Wolfgang Neuber herausgearbeitet: Die frühen deutschen Rei- seberichte aus der Neuen Welt. In: Hans-Joachim König et al. (Hrsg.): Der europäische Beob- achter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung. Berlin 1989, S. 44.

Dabei taten sich katalanische und italienische Seefahrer mit ihren Portulanen hervor. S. dazu etwa: Ricardo Cerezo Martínez: La cartografía náutica española en los siglos XIV, XV y XVI. Madrid 1994. Monique de La Roncière und Michel Mollat du Jourdin: Portulane: Seekarten vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. München 1984. S. dazu und zum folgenden auch die Ausführungen von Dagmar Bechtloff in diesem Band.

S. dazu jetzt die Ausgabe von Alfred Stückelberger, Gerd Graßhoff (Hrsg.): Klaudius Ptolemaios. Handbuch der Geographie. Basel 2006.

Zur Überlieferung s. Bernhard Fritschler: Geographie. In: Der Neue Pauly: Enzyklo- pädie der Antike. Bd. 14: Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte, S. 122-126. Zum Zu- sammenhang von europäischem Humanismus und der „Entdeckung“ Amerikas s. den Sam- melband von Reinhard: Humanismus und Neue Welt.

Auf die Zusammenhänge hat unlängst erneut hingewiesen Christoph Auffarth: Neue Welt und Neue Zeit – Weltkarten und Säkularisierung in der Frühen Neuzeit. In: Renate Dürr et al. (Hrsg.): Expansionen in der Frühen Neuzeit. Zeitschrift für Historische Forschung, Bei- heft 34. Berlin 2005, S. 43-68.

Der arabische Kartograph al-Idr ī s ī produzierte schon im 12. Jh. eine gesüdete Weltkar- te: Henri Bresc und Annliese Nef (Hrsg.): La première géographie de l'Occident - Idrîsî. Trad. du chevalier Pierre-Amédée Jaubert, rev. par Annliese Nef. Paris 1999. Carsten Drecoll: Idrísí aus Sizilien: Der Einfluß eines arabischen Wissenschaftlers auf die Entwicklung der europäi- schen Geographie. Egelsbach 2000.

Zu Fra Mauro jetzt v.a. Piero Falchetta: Fra Mauro's World Map: With a Commentary and Translations of the Inscriptions. CD-Rom. Turnhout 2006. Ingrid Baumgärtner: Karto- graphie, Reisebericht und Humanismus: Die Erfahrung in der Weltkarte des venezianischen Kamaldulensermönchs Fra Mauro (+1459). In: Das Mittelalter Bd. 3 H. 3 (1998), S.161-197.

Ein gutes Beispiel dafür, wie eng der unterschiedliche Stand der Kenntnis in ein und derselben Stadt – hier Nürnberg – beieinander liegen konnte, sind der Erdglobus Martin Be- haims von 1492, auf dem immerhin schon die neuesten Erkenntnisse – so die Umsegelung des Kaps der Guten Hoffnung durch Bartolomeu Diaz von 1487 – verzeichnet sind, und Hart- mann Schedels „Weltchronik“ von 1493, die dem ptolemäischen Weltbild folgt. Ute Schnei- der: Die Macht der Karten: Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute. Darmstadt 2006, S. 32-33. der großen Wandkarte. 21

Schneider: Macht der Karten, S. 13-14.

Ute Schneider: Tordesillas 1494 – Der Beginn einer globalen Weltsicht. In: Saeculum 54 (2003), S. 39-62. Antonio Rumeu de Armas: El tratado de Tordesillas: Rivalidad hispano- lusa por el dominio de océanos y continentes. Madrid 1992.

Die neueste Faksimileausgabe ist bereits 100 Jahre alt. Eine moderne kritische Ausga- be unter Auswertung der jüngsten Erkenntnisse fehlt. Martin Waldseemüller: Die Cos- mographiae Introductio. hrsg. von Franz von Wieser. Straßburg 1907.

Hans Wolff: Martin Waldseemüller. In: Ders. (Hrsg.): America: Das frühe Bild der Neuen Welt. München 1992, S. 113. Albert Ronsin, Le nom de l’Amérique: L’invention des chanoines et savants de St. Dié. Strasbourg ³2006.

S.a. Karl-Heinz Meine: Anmerkungen zu Werken von Martin Waldseemüller. In: Kar- tographische Nachrichten Bd. 22, H. 5 (1972), S. 191-197.

Hans Georg Wehrens: Gregor Reisch, seine Margarita philosophica und Freiburg im Breisgau. In: Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins Schau-ins-Land, H. 123 (2004), S. 37-57.

“quarta orbis pars quam quia Americus invenit Amerigem quasi Americi terram, sive Americam nuncupare licet…“

Zu Waldseemüller s. etwa Wolff: Waldseemüller, S. 111-126. Karl-Heinz Meine: Anmerkungen zu Werken von Martin Waldseemüller. In: Kartographische Nachrichten 22 H. 5 (1972), S. 191-197.

Marica Milanesi: Arsarot oder Anian? Identität und Unterscheidung zwischen Asien und der Neuen Welt in der Kartographie des 16. Jahrhunderts (1500-1570). In: Wolfgang Reinhard und Adriano Prosperi (Hrsg.): Die Neue Welt im Bewußtsein der Italiener und Deutschen des 16. Jahrhunderts. Berlin 1993, S. 32. Zu Caveris Karte auch Jeremy Black: Visions of the World: A History of Maps. London 2003, S. 40. Stefan Rinke

Schneider: Macht der Karten, S. 35.

Jens Meinrenken: Kartographische Physiognomien. In: ATOPIA - polylogisches e- Journal 8 (2005). http://www.atopia.tk/index2.php?option=com_content&do_pdf=1&id=17 (besucht am 21.12.2006).

Wolff: Waldseemüller, S. 114.

Ebenda, S. 122-123.

Auf diese Problematik hat hingewiesen Wolfgang Reinhard: Einführung. In: ders. und Prosperi: Die Neue Welt, S. 11.

Edmundo O’Gorman: La invención de América. Mexiko ³2003, S. 122-126. S.a. José Luis Abellán: La idea de América: Origen y evolución. Madrid 1972. Der ursprüngliche Wortlaut ist: „alia quarta pars per Americum Vesputium … inventa est.“ Ob Vespucci der Erste war, der den Kontinentalcharakter der neu entdeckten Gebiete erkannte, ist umstritten. Bereits Kolumbus kamen 1498 bei der Entdeckung des Mündungsgebiets des Orinokos Zwei- fel an seiner Überzeugung, Asien bzw. diesem Kontinent vorgelagerte Inseln entdeckt zu ha- ben. Er ahnte, dass es sich um eine „andere Welt“ handeln musste, war aber nicht in der Lage, aus seinen Beobachtungen den richtigen Schluss zu ziehen, weil dies seinen religiösen Vor- stellungen widersprochen hätte. S. Hans-Joachim König: Die Entdeckung und Eroberung Amerikas 1492-1550. Freiburg 1992, S. 52.

Zu Cabrals Entdeckung ist um das Jubiläumsjahr 2000 eine breite Literatur erschienen. S. mit weiteren bibliographischen Hinweisen Telma Martinho: Pedro Álvares Cabral: O ho- mem, o feito e a memória. Vila Nova de Gaia 2001.

Zur Faszination der Insel in der frühneuzeitlichen Vorstellungswelt und ihrer Bedeu- tung bei der Erfindung Amerikas s. John Gillis: Islands of the Mind: How the Human Imagi- nation Created the Atlantic World. Basingstoke 2004, S. 53-65. erfasste. 40

Robert Wallisch: Der Mundus Novus des Amerigo Vespucci (Text, Übersetzung, Kommentar). Wien 2002, S. 115.

Vogel: Sphaera terrae, S. 450.

Urs Bitterli: Die Entdeckung Amerikas: Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt. München 1991, S. 117. S. zu diesem Thema vertiefend das Kapitel von Hans-Joachim König in diesem Band.

Wallisch: Der Mundus Novus, S. 10.

König: Entdeckung, S. 66-67. S. auch Königs Beitrag in diesem Band.

Für letzteres plädiert Günther Hamann: Ein Überblick über Entstehung und Quellen des Namens ‚Amerika’. In: Ders.: Die Welt begreifen und erfahren: Aufsätze zur Wissen- schafts- und Entdeckungsgeschichte, hrsg. v. Johannes Dörflinger. Wien 1993, S. 26-27.

Renate Pieper: Die Vermittlung einer neuen Welt: Amerika im Nachrichtennetz des Habsburgischen Imperiums 1493-1598. Mainz 2000, S. 141.

Die Kritik wird kenntnisreich diskutiert und verworfen bei Wallisch: Der Mundus No- vus, S. 104-113. Schon Stefan Zweig hatte in seinem historischen Essay „Amerigo: Die Ge- schichte eines Irrtums“ (Frankfurt 1989 [1944]) die Rehabilitierung Vespuccis betrieben.

Eviatar Zerubavel: Terra Cognita: The Mental Discovery of America. New Brunswick 1992. Dazu auch Alfred Kohler: Columbus und seine Zeit. München 2006, S. 180-185.

Nach Renate Pieper, führten die vergleichsweise schwachen Verbindungen zu Kasti- lien in diesem Zeitraum in Verbindung mit der gleichzeitig anlaufenden portugiesischen In- formationsoffensive bei den Gelehrten in St. Dié zu einer „krassen Fehleinschätzung der Rol- le, die die beiden konkurrierenden iberischen Mächte bei den Entdeckungsreisen spielten.“ Pieper: Vermittlung einer neuen Welt, S. 141.

Gall: Martin Waldseemüller, S. 42-43. Der Text lautet: „Hec terra cum adiacentibus insulis inventa es per Columbum Januensem ex mandato regis Castelle.“

S. dazu auch Folker E. Reichert: Die Erfindung Amerikas durch die Kartographie. In: Archiv für Kulturgeschichte 78 (1996), S. 115-143.

Günther Hamann: Ein Überblick über Entstehung und Quellen des Namens ‚Amerika’. In: Ders.: Die Welt begreifen und erfahren: Aufsätze zur Wissenschafts- und Entdeckungsge- schichte, hrsg. v. Johannes Dörflinger. Wien 1993, S. 30-31.

Gute Überblicke und Abbildungen der Kartenwerke bei Hans Wolff: (Hrsg.): Ameri- ca: Das frühe Bild der Neuen Welt. München 1992. Rodney W. Shirley: The Mapping of the World: Early Printed Maps, 1472-1700. London ²1987. Seymour I. Schwartz und Ralph E. Ehrenberg: The Mapping of America. New York 1980. S.a. Karl-Heinz Kohl (Hrsg.): Mythen der Neuen Welt: Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas. Berlin 1982.

Nach Hamann (Ein Überblick, S. 37) setzte sich der Name erst mit Ortelius wirklich durch.

Jacques LaFaye: L’Amérique Latine: Terre d’utopie, du XVIe siècle à nos jours. In: Cahiers des Amériques Latines, Nouvelle Série 4 (1985), S. 91-101. Gillis: Islands of the Mind, S. 73-81. S. dazu auch den Beitrag von Winfried Fluck in diesem Band.

Martin W. Lewis und Kären E. Wigen: The Myth of Continents: A Critique of Meta- geography. Berkeley 1997, S. 26.

Hans-Joachim König: Indio. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Stuttgart 2007, Bd. 5, Sp. 847-849.

Milanesi: Arsarot oder Anian?, S. 15-16. Stefan Rinke

„Americae sive quartae orbis partis nova et exactissima descriptio“

Übersetzung des lat. Textes: "Dieser vierte Teil der Erde blieb unbekannt für alle Geographen bis zum Jahr 1497, als er durch Amerigo Vespuccio im Dienst des Königs von Kastilien entdeckt wurde und so, später den Namen des Entdeckers erhielt.“

Wolff: Martin Waldseemüller, S. 113.

In einer Waldseemüllerkarte in einer Ausgabe von 1515 von Reischs „Margarita phi- losphica“ (14 Auflagen allein in dt. Sprache) bezeichnet er den Süden als „Paria seu Prisilia“ und den Norden als „Zona Mela“. In: Asche und Gall (Hrsg.): Neue Welt und Altes Wissen, S. 41. Stefan Rinke

José Rabasa: Inventing America: Spanish Historiography and the Formation of Euro- centrism. Norman 1993, S. 23.

„Americen Americus retexit – Semel vocavit inde semper excitam.“

Zu diesem Forschungsfeld siehe u.a. Kenneth E. Boulding: The Image. Ann Arbor 1956/1969. Reinhold Bergler: Psychologie stereotyper Systeme. Bern, Stuttgart 1966. Manfred S. Fischer: Komparatistische Imagologie. Für eine Erforschung national-imagotyper Systeme. In: Zeitschrift für Sozialpsychologie 10 (1979), S. 30-44. Johannes Hoffmann: Völ- kerbilder in Ost und West. Auswahlbibliographie. Dortmund 1960. Gustav Siebenmann: Me- thodisches zur Bildforschung. In: Gustav Siebenmann / Hans-Joachim König (Hrsg.): Das Bild Lateinamerikas im deutschen Sprachraum. Tübingen 1992, S. 1-17.

Siehe dazu Bergler: Psychologie, S. 108

Detaillierte bibliographische Angaben über das europäische Schrifttum liefern Henry Harris- se: Biblioteca Americana Vetustissima. A Description of Works relating to America, pub- lished between the years 1492 and 1551. New York 1866. Neuausgabe besorgt von Carlos Sanz, Vols. I -VI, Madrid 1958 – 1960, Joseph Sabin (Hrsg.): Biblioteca Americana: A Dic- tionary of books relating to America. From its discovery to the present time. 29 vols. New York 1868-1936. (Repr. Amsterdam 1961-62), Paul Ben Baginsky: German Works on Amer- ica, 1492-1800. Berkeley /Los Angeles 1952. Philip Motley Palmer: German Works on America 1492-1800. Berkeley and Los Angeles 1952 (= University of California Publications in Modern Philology. Vol. 36. Nr.10, pp. 271-412), Horst Dippel: Americana Germanica 1770-1800. Bibliographie deutscher Amerikaliteratur. Stuttgart 1976 (Amerikastudien Band 42). John Alden / Dennis C. Landis (Hrsg.): European Americana. A Chronological Guide to Works Printed in Europe Relating to the Americas, 1493-1776. Vol. I 1493-1600, New York 1980; Vol. II 1601-1650, New York 1982; Vol. V 1701-1725, 1987; Vol. VI 1726-1750, 1988. Ausführlichere Angaben über die deutschen Americana liefert der von Siebenmann und König herausgegebene Sammelband Das Bild Lateinamerikas im deutschen Sprachraum; dar- in u.a. G. Siebenmann: Das Lateinamerikabild in deutschsprachigen Texten, S. 181-207; und H.-J. König: Das Lateinamerikabild in der deutschen Historiographie, S. 209-229. Die frühen Amerikabilder 37

Zur Sichtweise der spanischen Chronisten siehe Hans-Joachim König: Verständnislosigkeit und Verstehen, Sicherheit und Zweifel: Das Indiobild spanischer Chronisten im 16. Jahrhun- dert. In: U. Bitterli / E. Schmitt (Hrsg.): Die Kenntnis beider ‚Indien’ im frühneuzeitlichen Europa. München 1991, S. 37-62. Zur spanischen Indianerpolitik und Diskussion über Status der Indios siehe Lewis Hanke: The Struggle for Justice in the Conquest of America. Boston 1949, 1965.

Siehe dazu Jürgen Osterhammel: Kolonialismus. Geschichte. Formen. Folgen. München 2003 .

Isidor, Erzbischof von Sevilla (um 560 in Cartagena - 04 .04 . 636 in Sevilla). Seine be- deutendste Schrift in der Reihe der naturwissenschaftlichen Werke ist die für König Sisebut geschriebene "Etymologiae", (um 630 abgeschlossen). Diese "Etymologiae" fassen als eine Realenzyklopädie das gesamte weltliche und geistliche Wissen der Zeit zusammen, Biogra- phisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 2., Herzberg 1990, Spalten 1374-1379.

Wichtige Darstellungen und Analysen der ersten Bilder über die Neue Welt liefern u.a. Fredi Chiappell (Hrsg.): First Images of America: The Impact of the New World on the Old, 2 Vols. Berkeley/Los Angeles 1976. Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam. Stuttgart 1986. C.S.I.C. (Hrsg.): La Imagen del Indio en la Europa Moderna. Sevilla 1990; darin: Horst Pietschmann: Visión del indio e historia latinoamericana, S. 1-11; Benjamin Keen: European vision of the indian in the sixteenth and seventeenth centuries: A sociological approach, S. 101-116; Hans-Joachim König: La visión alemana del indio americano en los siglos XVI y XVII, S. 127-156; Helga von Kügelgen Kropfinger: El indio: ?Bárbaro y/o buen salvaje?, S. 447-487. Jean-Paul Duviols: Le régime colonial espagnole vu par les français à l'époque des Die frühen Amerikabilder 39 lumières, in CNRS (Hrsg.): L'Amérique dans la France des Lumières. Paris 1987, pp. 309- 318.

Jobst Ruchamer: Newe vnbekanthe landte Und ein newe weldte in kurtz verganger zeythe erfunden. Nürnberg 1508, fol. 1v. „Auff das meniglich erkennen vnd erkündigen mochte / die grossen wunderbarlichen wunder gottes des almechtigen / der die welte mit so mancherley geschlechten der menschen / landen / jnslen / vnd seltzamen creaturen (wie ober angezaygt ist) erschaffen vnd gezeyerthe hat.“

Siehe als deutsche Ausgabe: Christopf Kolumbus: Bordbuch. Mit einem Nachwort von Frauke Gewecke. Insel Taschenbuch. Frankfurt a. M. 2006.

Siehe dazu Demetrio Ramos Pérez: La primera noticia de América. Valladolid 1986.

Ich benutze hier eine deutsche Übersetzung des Briefs an Santangel bei Emir Rodríguez Monegal (Hrsg.): Die Neue Welt. Chroniken Lateinamerikas von Kolumbus bis zu den Unab- hängigkeitskriegen. Frankfurt a.M. 1982 (st 811), S. 67-77.

Kolumbus-Brief, in Rodríguez Monegal (Hrsg): Die Neue Welt, S. 75.

Kolumbus-Brief, Ebenda, S. 75 f.

Hartmann Schedel: Weltchronik. 1493. Facsimile . Augsburg 2001, Blatt XII recto.

Eyn schoen hübsch lesen ..., f. 4 v. Abb.1 Begegnung mit den friedlichen Indios; Holzschnitt aus dem Kolumbus-Brief, Baseler Ausgabe 1493/94

Kolumbus-Brief, Rodríguez Monegal: Die Neue Welt, S. 69-71.

Ebenda, S. 71 f. In seinem Bordbuch hat Kolumbus die mögliche und notwendige Christia- nisierung noch ausführlicher dargestellt.

Ebenda, S. 69

Siehe dazu Klaus H. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Zur Ikonographie der geographischen Utopie. Frankfurt a. M 1984. Hildegard Frübis: Die Wirklichkeit des Fremden. Die Darstellung der Neuen Welt im 16. Jahrhundert. Berlin 1995, S. 19f.

Kolumbus-Brief, Rodríguez Monegal: Die Neue Welt, S. 68 f.

Ebenda, S. 75,

Memorial ... sobre el suceso de su segunda viaje, in: Consuelo Varela (ed.): Cristóbal Colón. Textos y documentos completos. Madrid 1982/1989, S. 153.

Kolumbus: Bordbuch, Frankfurt a.M. 2006, S, 122f. Vgl. den spanischen Text Diario del primer viaje, in C. Varela: Cristóbal Colón, S. 65.

Im Bordbuch notierte Kolumbus dazu unter dem 16. Dezember 1493, nachdem er die Schönheit, Freundlichkeit und Freigiebigkeit der zu den Arawaks gehörenden Bewohner her- vorgehoben hatte: „Diese Insel, wie auch alle anderen Inseln, gehören zum Besitze Eurer Ho- heiten, genau so wie Kastilien; um die Herrschaft auszuüben, braucht man sich hier nur nie- derzulassen und den Eingeborenen anzuordnen, allen Befehlen nachzukommen. [...] Sie besitzen keine Waffen, sind unkriegerisch, harmlos, nackt und so feige, dass tausend von ih- nen drei meiner Leute nicht an sich heran lassen würden. Dafür sind sie bereit, zu gehorchen, zu arbeiten und alles Nötige zu vollführen. Mithin wäre es angezeigt, sie dazu zu verwenden, Städte und Ortschaften zu errichten, und ihnen unsere Kleidung und Gebräuche beizubrin- gen.“ Bordbuch, S. 167f.

Kolumbus-Brief, Rodríguez Monegal: Die Neue Welt, S. 77.

Günther Hamann: Christoph Columbus zwischen Mittelalter und Neuzeit – Nachfahre und Wegweiser, In: G. Klingenstein / H. Lutz / G. Stourzh (Hrsg.): Europäisierung der Erde ? Wien 1980, S. 15-38; hier S. 33; vgl. Tzvetan Todorov: Der Reisende und der Eingeborene, in: E. Garin (Hrsg.): Der Mensch der Renaissance. Frankfurt a. M./New York 1990, S. 341- 370, hier S. 347f.

Text der Bulle bei Mariano Delgado (Hrsg.): Gott in Lateinamerika. Texte aus fünf Jahr- hunderten. Ein Lesebuch zur Geschichte. Düsseldorf 1991, S. 68-71. Die frühen Amerikabilder 49

Siehe zu den Vespucci-Texten Amerigo Vespucci: Cartas de viaje. Introducción y notas de Luciano Formisano. Madrid 1986. – Der Brief vom 18. Juli 1500, S. 51-65; bzgl. Asiens S. 59.

Ebenda, S. 57 f.

Ebenda, S. 61.

Die erste Veröffentlichung hieß Albericus Vespuccius Laurentio Petri Francisci de Medicis salutem plurimam dicit. Paris 1513. – Mundus Novus. Augsburg 1504. – Mundus Novus. Ve- nedig 1504. – Mundus Novus. Rom 1504. – Epistola Alberici. De nuvo mundo. Rostock 1503/1505.-De ora antarctica per regem Portugallie pridem inventa. Straßburg 1505.- Von der neu gefunden Region so wol ein Welt genent mag werden, durch den Cristenlichen künig, von portigal, wunderbarlich erfunden. Basel 1505. – Mit ähnlichen Titel: Das sind die new gefun- den menschen oder volcker. Nürnberg 1505-06. – Von der neu gefunden region. Augsburg 1505. Von den nüwen Insulen und landen. Straßburg 1505. – Von den newen Insulen und landen. Leipzig 1506. -Von der new gefunnden Region. Nürnberg 1506.- Diß büchlein saget wie die zwen durchlüchtigsten herren her Fernandus K. zu Castilien vnd herr Emanuel K. zu 50 Hans-Joachim König Ausgaben erschienen. 33

Das sind die new gefunden menschen oder volcker In form und gestalt Als sie hie stend durch den Cristenlichen Kuenig von Portugal gar wunderlich erfunden. Leipzig 1505. Abge- druckt in: Wolfgang Harms und Michael Schilling (Hrsg.): Deutsche illustrierte Flugblätter 54 Hans-Joachim König des 16. und 17. Jahrhunderts. Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Teil 3. Tübingen 1989, S. 171. – Dise figur anzaigt uns das volck und insel die gefunden ist durch den cristenlichen künig zu Portugal. Augsburg 1505. Abgedruckt in: Hans Wolff: Ame- rica. Das frühe Bild der neuen Welt. München 1992, S. 29.

Siehe ausführlicher Hans Wolff: Martin Waldseemüller. In. H. Wolff: America. München 1992, S. 111-126.

Cosmographiae introductio cum quibusdam geometriae ac astronomiae principiis ad eam rem necessariis. Insuper quatuor Americi Vespucii navigationes. Universalis Chosmographiae descriptio tam in solido quam plano eis etiam insertis que Ptholomeo ignota a nuperis reperta sunt. Saint-Dié 1507. Diese Schrift enthält Waldseemüllers lateinische Version der 1504 in Florenz erschienenen Lettera di Amerigo Vespucci delle isole nuovamente trovate in quattro suoi viaggi. intellegi datur.“ 42

Fracanzano da Montalboddo: Paesi novamente ritrovati. Vicenza 1507. Es handelt sch um eine Sammlung von Berichten über die portugiesischen Entdeckungen an der afrikanischen Küste sowie über die spanischen und portugiesischen Entdeckungsfahrten, wie z. B. von Ko- lumbus und Vespucci. Diese Sammlung wurde von Jobst Ruchamer ins Deutsche übersetzt und 1508 veröffentlicht, siehe oben Anm.

P. Martyris Angli mediolanensis opera. Legatio Babylonica, Oceani Decas, Poemata, Epi- grammata. Cum privilegio Imp. Hispali (Sevilla) 1511, (enthält die 1. Dekade). – De rebus oceanis et Orbe Novo Decades tres. Alacalá de Henares 1516.- De orbe novo decades, opus epistolarum. Alcalá de Henares 1530.

Petrus Martyr: De Nuper sub D. Caroli Repertis Insulis, simulatque incolarum moribus. Basel 1521 (Auszug aus der 4. Dekade). – Eine erste deutsche Version der ersten drei Deka- den findet sich in Michael Herr: Die New Welt, der landschaften vnnd Jnsulen, so bis hie her allen Altweltbeschrybern vnbekannt. Straßburg 1534. – Eine neuere Version Peter Martyr von Anghiera: Acht Dekaden über die Neue Welt. Übersetzt, eingeführt und mit Anmerkungen versehen von Hans Klingelhöfer. 2 Bde. Darmstadt 1972/73.

Hernán Cortés: Cartas de relación. Sevilla 1522 (2. Brief); Carta de relación. Zaragoza 1523; La quarta relación. Toledo 1525. - Ausgaben im deutschsprachigen Raum: Praeclara Ferdinandi Cortesii de Nova maris Oceani Hyspania Narratio Sacratissimo ac Invistissimo Carolo Romanorum Imperatori semper Augusto, Hyspanorum et regi, Anno Domini M.D.XX. transmissa...Nürnberg 1524; - Tertia Ferdinandi Cortesii in nova maris Oceani Hyspania ge- neralis praefecti preclara Narratio..., Nürnberg 1524. Weitere Ausgaben in Latein erschienen 1532 in Köln und 1555 in Basel. - Eine deutsche Übersetzung der Briefe von 1520 und 1522 erschien in Augsburg 1550: Ferdinandi Cortesii. Von dem Newen Hispanien so im Meer ge- gem Nidergang. Zwo gantz lustige vnnd fruchtreiche Historien an den großmächtigisten vnü- berwindtlichisten Herren Carolum V. ... Erstlich in Hispanischer Sprach von Cortesio selbst beschriben. Augsburg 1550.

Johannes Schöner: Luculentissima quaedam terrae torius descriptio cum multis utilissimis Cosmographiae iniciis. Nürnberg 1515.

Sebastian Franck: Weltbuch, spiegel vnd bildtnisz des gantzen erdtbotens. Tübingen 1534. 49 Sebastian Münster: Cosmographia. Beschreibung aller Lender [..], [...]aller völcker herr- schaften [...], Sitten, gebreuch, ordnung.[...] durch die gantze welt [...]. Basel 1544, 1545.

Francis Huntington Wilson: The Relation of Government to Foreign Investment. In: Robert H. Holden, Eric Zolov (Hrsg.): Latin America and the United States. Oxford 2000, S. 119.

Sebastian Franck: Weltbuch, S. 221v, 228v, 233v.

Ebenda, S. 234r.

Sebastian Münster: Cosmographia. Basel 1545, S. dcclxx, dcclxvi.

Ebenda, S. dccxci, dcclxvii, dcclxxiii.

Hans Staden: Warhaftige Historia vnd beschreibung eyner Landtschaft der Wilden/ Nacke- ten/ Grimmigen Menschfresser Leuthen, in Newenwelt America gelegen, vor und nach Chris- ti Geburt im Land Hessen unbekant biss uff diese ij.nechst vergangene jar, Da sie Hans Sta- den zu Homburg auss Hessen durch sein eygne erfarung erkant, und yetzo durch den truc and 60 Hans-Joachim König des Rio de la Plata. 55

Siehe auch K. H. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies.

Carlos de Sigüenza y Gongora: Teatro de virtudes políticas que constituyen a un principe: advertidas en los monarcas antiguos del Mexicano Imperio. In: Roberto Moreno de los Arcos (Hrsg.): Teatro de los Virtudes y Alboroto y Motín de los Indios de México, Mexiko 1986.

In der islamischen Welt nahm die Kartographie einen gänzlich anderen Stellenwert ein. Siehe hierzu: Fuat Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums, Bd. X-XII. Mathematische Geographie und Kartographie im Islam und ihr Fortleben im Abendland. Historische Darstel- lung und Kartenband, Frankfurt a.M. 2000.

Siehe hierzu die Werke von Posidonius (ca. 155-61 v. Chr.), Serapion von Antiochia (2. od. 1. Jh. v. Chr.), Crates von Mallos (ca. 168 v. Chr.), Eratosthenes (275-194 v. Chr.) und pythagoreische Konzepte.

Isidor, Erzbischof von Sevilla (um 560 in Cartagena - 04 .04 . 636 in Sevilla). Seine be- deutendste Schrift in der Reihe der naturwissenschaftlichen Werke ist die für König Sisebut geschriebene "Etymologiae", (um 630 abgeschlossen). Diese "Etymologiae" fassen als eine Realenzyklopädie das gesamte weltliche und geistliche Wissen der Zeit zusammen, Biogra- phisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 2., Herzberg 1990, Spalten 1374-1379.

Urs Bitterli: Die ‘Wilden’ und die ‘Zivilisierten’. Grundzüge einer Geistes- und Kulturge- schichte der europäisch-überseeischen Begegnung, 3. Aufl., München 2004, S. 19.

David Woodward: Reality, Symbolism, Time, and Space in Medieval World Maps. In: Annals of the Association of American Geographers 75 (4) (1985), S. 510–521 und Anna- Dorothea van den Brincken: Monumental Legends on Medieval Manuscript Maps Notes on Designed Capital Letters on Maps of Large Size (Demonstrated from the Problem of Dating the Vercelli Map, Thirteenth Century). In: Imago Mundi, Vol. 42, 1990, S. 9-25.

Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf Brigitte Englisch: Die Entdeckung Ameri- kas aus dem Weltbild des Mittelalters, Paderborn 2002.

Anna-Dorothea van den Brincken: Mappa mundi und Chronographia: Studien zur imago mundi des abendländischen Mittelalters. In: Deutsches Archiv zur Erforschung des Mittelal- ters 24 (1968), S. 123.

Siehe hierzu auch: http://www.phil.uni-passau.de/histhw/tutcarto/index_de.html. (einge- sehen am 09.07.2007) Abb. 1: Beatus-Weltkarte, London, Kopie, 1109 n. Chr. (Santarem)

Das Original ist nicht überliefert. Wir besitzen das Exemplar aus dem sogenannten Silos- Beatus (London British Library, Add. Ms 11695, fol 39 v.- 40r), Quelle: http://www.henry-davis.com/MAPS/EMwebpages/207B.html (eingesehen am 09.07.2007) .

Augustinus: De civitate Dei, geschrieben zwischen 418-425 vor dem Hintergrund der Eroberung Roms durch die Westgoten.

Es handelt sich hierbei um eine Wortschöpfung aus dem ausgehenden 19. Jahrhunderts. 13 Die früheste realistische Darstellung liefert Petrus Roselli 1462.

Dabei liefert die Utopie – in Form grandioser, erhabener Landschaftspanoramen - eine sinnlich besonders eindrückliche Form sozialer Autorisierung, die dadurch zusätzliche Wirk- samkeit erhielt, dass sie oft mit einer Bildlichkeit der spirituellen Offenbarung verbunden war. Vgl. dazu Barbara Novak: „Amerikas Naturwunder wurden von vielen als Gottes Geschenk für ein auserwähltes Volk angesehen." Barbara Novak: Nature and Culture: American Land- scape and Painting 1825-1875 . New York 1980, S. 16.

Dulcert: 1339 Kanaren, 1468 Kap Verden, Zuane Pizigano: 1424 Antillia.

Der „Katalanische Atlas“ wurde um das Jahr 1375 mit großer Wahrscheinlichkeit von Abraham Cresques auf Mallorca gezeichnet. Er besteht aus insgesamt 12 Teilen, die jeweils eine Größe von 64,0cm x 25,0cm haben. Die Karten sind auf fünf Holztafeln sowie die Innen- seiten der Einbanddecken aufgezogen und stellen die damals bekannte Welt dar. Auf vier Karten wird der gesamte Mittelmeerraum wiedergegeben. In Nord-Süd-Richtung erstreckt sich das Kartenbild von Schottland bis nach Nordafrika. Vier weitere Karten enthalten die Darstellung Asiens, wobei wahrscheinlich Kenntnis der Reisebeschreibungen von Marco Polo und Ibn Battuta vorhanden war. Von Abraham Cresques ist nur das Todesjahr 1387 bekannt. 70 Dagmar Bechtloff

Tony Campbell: Portolan Charts from the Late Thirteenth Century to 1500. In: J.B. Harley und David Woodward (Hrsg.): History of Cartography I. Chicago 1987, S. 390. die Diskussion an. 17

Adolf Lumpe: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Verlag Traugott Bautz, Band VII (1994) Spalten 1045-1049.

Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters, Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden, 11. Aufl., Stuttgart 1975, S. 269.

Mariano Delgado: Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 1. In: Missionstheologi- sche Schriften. Paderborn 1994, S. 14-15.

Schließlich sei auf den Roman des englischen Lordkanzlers Thomas Morus „Utopia“ verwiesen, der 1516 veröffentlicht, als Gegenentwurf zur zeitgenössischen Gesellschaft Euro- pas und somit als Entwurf einer „Neuen Welt“ interpretiert wurde und rasch außerordentlich weite Verbreitung fand. Bezeichnend ist, dass sogar der erste Bischof Michoacáns/ Neuspa- nien, D. Vasco de Quiroga, ein Exemplar des Buches nach Übersee mitnahm. Er gründete in Neuspanien drei „Santa Fé“ genannte Dörfer, die sich selbst in ihrer baulichen Anlage an der Utopia von Thomas Morus orientierten.

Ursprünglich wurde der Begriff der „Schwertmission“ für die Sachsenkriege Karls d. Großen geprägt, bei denen sich Eroberung und Bekehrung zur "Schwertmission" vermischten. „Schwertmission“ in der Neuen Welt wurde von den Mönchen, die mit der christlichen Mis- sion beauftragt waren, so verstanden, dass die Krone zwar den militärischen Schutz der Mis- sionare sicherstellen sollte, darüber hinaus jedoch keine Legitimation für kriegerische Hand- lungen besäße.

Bernice Hamilton: Political Thought in Sixteenth-Century Spain. A Study of the political ideas of de Vitoria, de Soto, Suárez and Molina. Oxford 1963.

Josef Soder: Francisco Suárez und das Völkerrecht. Grundgedanken zu Staat, Recht und Internationale Beziehungen. Frankfurt a.M. 1973.

Jeremy Black: Maps and history. Hong Kong 1997, S. 7- 20.

„Universalis cosmographia secundum Ptolomaei traditionem et Americi Vespucci aliorumque lustrationes“.

Amerika. Das alte Europa entdeckt die Neue Welt. Ausstellungskatalog zur Ausstellung der Museen der Stadt Gotha, Kartographisches Museum, zum Kolumbus-Jahr 1992, Gotha 1992, S. 70.

Petrus Martyr d’Angehieri (1457-1526) kam 1487 an den spanischen Hof und wurde nach der Eroberung Granadas von Königin Isabela zum offiziellen Chronisten der kastilischen Krone ernannt. In seinen „Dekaden über die Neue Welt“ (1493-1526) beschreibt er kenntnis- reich die Geschichte der spanischen Entdeckungen. Klaus Anselm Vogel: Sphaera terrae - das mittelalterliche Bild der Erde und die kosmographische Revolution. Göttingen 1995, S. 398. 29 Klaus Anselm Vogel: Sphaera terrae. S. 398-399.

Zum Beispiel wird auf Blatt II, das die Ökumene in ptolemäischer Projektion zeigt, im begleitenden Text das Gradsystem erläutert.

An der 1551 durch einen königlichen Erlass Karls I. gemeinsam mit der Universität von Lima gegründeten Universität von Mexiko , lehrte Carlos Sigüenza y Góngora (1645-1700) seit 1672. Neben seiner Professur für Mathematik, machte er sich als Philosoph, als Sammler vorspanischer Altertümer und Bilderhandschriften, Historiker, Ingenieur und königlicher Kosmograph einen Namen. Obwohl er für das Verständnis der kolonialspanischen Gesell- schaft Amerikas im 17. Jahrhundert prägend war, ist sein Name heute weitgehend in Verges- senheit geraten. In das Amt des Kosmographen war Don Carlos Sigüenza y Góngora mit ei- nem besonderen königlichen Erlass (real cédula) von Karl II im Jahr 1680 berufen worden. Teil seiner Aufgaben als königlicher Kosmograph bildeten die Tätigkeiten als „Astronom, Beobachter und Kartenmacher“. Allerdings waren diese zahlreichen Ämter zwar mit viel Ehre aber wenig Lohn verbunden. Den Lebensunterhalt sicherte dem Kleriker, der seine Ausbil- dung bei den Jesuiten erfahren hatte, die Tätigkeit als Kaplan des Hospitals del Amor de Dios, wo er ab 1682 bis zu seinem Tod am 22. August 1700 lebte.

Mapa de las lagunas, ríos y lugares que circundaban a México para mayor inteligencia de la Historia y Conquista de México, que escribió Solis por Tomás Lopez. Madrid 1783. - Mapa de las que per se (sic) el círculo de noventa leguas vienen a la laguna de Texcoco, delineado por Don Carlos de Sigüenza y Góngora, reimpreso en México con algunas adicio- nes en 1786 por Don Joseph Alzate.

Helmut Grössing: Frühling der Neuzeit: Wissenschaft, Gesellschaft und Weltbild in der frühen Neuzeit. Wien 2000, S. 123-156. Abb. 2: Karte von Tenochtitlan um 1518, Holzschnitt in Praeclara Ferdinandi Cortesii de Nova Maris Oceani Hispania Narratio, Nürnberg, 1524

New York Public Library, Quelle: latcar.rutgers.edu/lauria/perspectives/index.htm (eingesehen am 09.07.2007).

Hernan Cortés (1485 - 1547) brach 1519 mit elf Schiffen von Cuba auf, um das Reich der Azteken zu erobern. An der Küste Mexikos gründete er die erste Siedlung auf amerikani- schem Boden, Veracruz, und zog in das Landesinnere.

Dominique Gresle-Pouligny: Un plan pour Mexico-Tenochtitlan: les représentations de la cité et l’imaginaire européen (CVIe-XVIIe siècles). Paris 1999.

Orozco y Berrera: Apuntes para la historia de la geografía en México, S. 327.

Diese Karte ist wiedergegeben in W.E. Dunn: Spanish and French Rivalry in the Gulf Region. S. 160.

A New Map Of The Terraqueous Globe According To The Ancient Discoveries And Most General Divisions Of It Into Continents And Oceans, Oxford: 1700-1738.

Carlos de Sigüenza y Góngora: Alboroto y Motín de los Indios de México. In: Roberto Moreños de los Arcos (Hrsg.): Teatro de los Virtudes y Alboroto y Motín de los Indios de México. Mexiko 1986.

„En la obra de Sigüenza y Góngora … aparece concretamente el concepto de „patria” casi siempre en contexto donde sirve como elemento diferenciador con respecto a la indife- rencia arrogante de los europeos, y para identificar un proyecto cultural que no se extendía mucho más allá de los límites reivindicativos del sector criollo descartaba todavía la matriz española“, Mabel Moraña: Viaje al silencio: exploraciones del discurso bárroco. Mexiko 1998, S. 244.

Carlos de Sigüenza y Góngora: Teatro de los Virtudes políticas, S. 18. wurde. 45

Der Begriff und das Konzept der „Americanidad“ haben politische Philosophen, Revolu- tionäre und Literaten spätestens seit dem 18. Jahrhundert beschäftigt. Zu nennen sind Sarmiento, Bolívar, Miranda, Martí, Rodó, Vasconcelos, und viele mehr, siehe Danilo Pérez Zumbado, José Cecilio del Valle: americanidad y otros relaciones, S. 68-77 und Carmen L. Bohórquez, Miranda y Bolívar: dos concepciones de la unidad de la América Hispana. In: Procesos Históricos, Nr. 10, (2006) Mérida, Venezuela, S. 20.

Robert Palmer: Das Zeitalter der demokratischen Revolution: Eine vergleichende Geschichte Europas und Amerikas von 1760 bis zur Französischen Revolution. Frankfurt a.M. 1970.

Vgl. Dazu Eduard Batalov: „The history of the American utopia begins with the history of American society. Virtually since the time news of its discovery spread in Europe, people in the Old World pictured the new continent as a unique land in which ‘worldly social salva- tion’ could be achieved and the boldest utopian dreams realized. (…) More than any other country, America stimulated utopian hopes and favored the conduct of utopian experiments.” Eduard Batalov: The American Utopia . Moskau 1985, S. 32-3.

Massachusetts und das – bereits im Namen utopisch inspirierte – Penn-Sylvania entstan- den als Zufluchtsorte vor religiöser Verfolgung, mit denen sich die Aussicht verband, endlich ein besseres Leben ganz nach religiösen Prinzipien führen zu können. Aber auch im Fall von Maryland, South Carolina und Georgia standen utopische Vorstellungen am Beginn der Be- siedlung. Vgl. dazu James Jasper: „Most of the new colonies were carefully thought out in England as utopian projects. Lord Baltimore hoped to establish in Maryland the neatly hierar- chical feudal order that England had once had (or that he believed it had). In the 1660s John Locke himself tried to work out the first principles for the political structure of the Carolina colony, which belonged to a group of investors that included his patron the Earl of Shaftes- bury. Soon after, William Penn established his colony to avoid the kind of religious warfare that had devastated England and Europe. As late as the 1730s humanitarian reformers planned Georgia as a more egalitarian, slaveless utopia of small farmers.” James M. Jasper: Restless Nation. Starting Over in America. Chicago 2000.

Die Bedeutung des von More in lateinischer Sprache eingeführten Wortes ist heute in der Literatur zum Thema umstritten. Utopia kann sich entweder auf das griechische Outopia (kein Ort) oder Eutopia (der gute Ort) beziehen.

Vgl. Batalov: „The American Dream is widely regarded to be utopian in nature. More- over, some authors see it as all but the epitome of all the utopian ideals the United States has ever produced.” Batalov: American Utopia, S. 46.

Um dieser unzulässigen Verallgemeinerung entgegen zu wirken, wird in diesem Aufsatz, wo es angebracht scheint, das Attribut „US-amerikanisch“ benutzt. Es ist jedoch nicht ganz einfach, eine terminologisch saubere Trennung konsequent durchzuhalten, nicht nur weil sich die Rhetorik in vielen Fällen längst verselbständigt hat – man denke beispielsweise an den „amerikanischen Traum“ -, sondern auch, weil sich bestimmte imaginäre Konstrukte tatsäch- lich nicht nur auf die USA, sondern auf die Idee „Amerikas“ beziehen.

Obwohl es auch das Gegenargument gab, dass man auf diese Weise die Anglikanische Kirche sich selbst überlassen und damit den englischen Glaubensbrüdern in den Rücken fallen würde. Es war für die Puritaner in Amerika nicht ungewöhnlich, zeitweilig oder ganz nach England zurück zu kehren.

Zur Funktion dieser Vorstellungen in der amerikanischen Kultur siehe die klassischen Arbeiten der American Studies von Henry Nash Smith: Virgin Land. The American West as Symbol and Myth. New York 1950; R. W. B. Lewis: The American Adam. Innocence, Trag- edy and Tradition in the Nineteenth-Century. Chicago 1955, und Leo Marx: The Machine in the Garden: Technology and the Pastoral Ideal in America . New York 1964.

Thomas Jefferson: Notes on Virginia . In: Adrienne Koch & William Peden (Hrsg.): The Life and Selected Writings of Thomas Jefferson. New York 1944, S.164-5

Darren Staloff: Hamilton Adams, Jefferson. The Politics of Enlightenment and the American Founding. New York 2005, S. 237-8. Siehe auch Staloff zum tatsächlichen Ausmaß des Landbesitzes in Virginia: „No more than one-tenth of the white population owned roughly two-thirds of the colony's wealth. At least half of all white families were landless, a fact that barred them from voting.” Ebenda S. 244. Diese Ungleichheit, die der Utopie eines „freien” Landes selbstbestimmter Bürger, die ihr eigenes Land bearbeiten, widersprach, kam ironischerweise vor allem durch eine vordemokratische, quasi feudale Besitzform zustande, von der auch Jefferson profitierte: „Slavery concentrated wealth because those who owned the labor of others could operate at a scope and scale, and with minimal labor costs that family farmers could not hope to compete with. But slaves were more than labor. They were also capital, capital that increased naturally. ‘A child raised every 2 years is of more profit,’ Jeffer- son calculated, ‘than the crop of the best laboring man.’ The value of land might improve with cultivation, but slaves multiplied of their own accord, one of those rare instances, Jefferson thought, where ‘providence has made our interest and our duties coincide perfectly’.” Ebenda, S. 244-45.

Die Entdeckung der grandiosen Natur Amerikas hatte oft Züge der Selbstberauschung. Vgl. etwa das folgende Zitat aus der Zeitschrift The Knickerbocker von 1835: „God has pro- mised us a renowned existence, if we will but deserve it. He speaks this promise in the sub- liming of Nature. It resounds all along the crags of the Alleghanies. It is uttered in the thunder of Niagara. It is heard in the roar of two oceans, from the great Pacific to the rocky ramparts of the Bay of Fundy. His finger has written it in the broad expanse of our Inland Seas, and traced it out by the mighty Father of Waters! The august TEMPLE in which we dwell was built for lofty purposes, Oh! That we may consecrate it of LIBERTY and CONCORD, and be found fit worshippers within its holy wall!“ Zitat nach Perry Miller: Errand into the Wilder- ness . Cambridge 1956, S. 210.

Perry Miller: Errand, S. 211.

Angela Miller: The Empire of the Eye. Landscape Representation and American Cultural Politics, 1825-1875. Ithaca 1993, S. 5. Abb.: Kaaterskill Falls von Thomas Cole (1825)

Dabei liefert die Utopie – in Form grandioser, erhabener Landschaftspanoramen - eine sinnlich besonders eindrückliche Form sozialer Autorisierung, die dadurch zusätzliche Wirk- samkeit erhielt, dass sie oft mit einer Bildlichkeit der spirituellen Offenbarung verbunden war. Vgl. dazu Barbara Novak: „Amerikas Naturwunder wurden von vielen als Gottes Geschenk für ein auserwähltes Volk angesehen." Barbara Novak: Nature and Culture: American Land- scape and Painting 1825-1875 . New York 1980, S. 16.

Die hier behandelten Beispiele bilden insofern nur eine kleine Auswahl. Siehe beispielsweise John L. Thomas: „In New England two come-outer abolitionists, Adin Ballou und George Benson, founded cooperative societies at Hopedale and Northampton, while a third Garrisonian lieutenant, John Collins, settled his followers on a farm in Skaneateles, New York. Brook Farm, Fruitlands and the North American Phalanx at Redbank acquired notoriety in their own day; but equally significant, both in terms of origins and personnel, were the ex- periments at Raritan Bay under the guidance of Marcus Spring, the Marlboro Association in Ohio, the Prairie Home Community of former Hicksite Quakers, and the Swedenborgian Brocton Community. In these and other experimental communities could be seen the various guises of perfectionism.” John L. Thomas: Romantic Reform in America, 1815-1865. In: Lawrence Levine & Robert Middlekauff (Hrsg.): The National Temper. Readings in Ameri- can Culture and Society. New York 1972, S. 181.

John L Thomas: Romantic Reform, S.168. Das utopische Versprechen „Amerikas“ 119

Vgl. Albert Brisbane, der Fouriers Werk in den USA unermüdlich propagierte: „We have the same repugnant, degrading and ill-requited system of Industry as Europe; the same system of Free Competition, or false rivalry and envious strife and anarchy in the field of commerce and industry; the same menial and slavish system of Hired Labor or Labor for Wages; the same wasteful, intricate and grasping system of Trade; the same exclusive ownership of ma- chinery by capital, or machinery monopolized by a few, which competes with the laborer and drives him from the field of Industry; the same complicated system of Law; and at the root of all social falseness, the same system of isolated or separate Households.” („Exposition of Das utopische Versprechen „Amerikas“ 121 Views and Principles Adopted by the Peace Convention” The Phalanx 1 (Oct. 5, 1843); zit. nach David Brion Davis (Hrsg.): Antebellum American Culture . Lexington 1979, S. 451-2.

Albert Brisbane und R.W. Emerson: Fourierism and the Socialists. In: The Dial III (1842). Reprint in: George Hochfield (Hrsg.): Selected Writings of American Transcendental- ists. New York 1966, S. 340.

Joel Myerson (Hrsg.): Transcendentalism. A Reader . New York 2000, S. 308.

Elizabeth Peabody: Plan of the West Roxbury Community. In: The Dial II (1842). Re- print in: George Hochfield (Hrsg.): Selected Writings of American Transcendentalists. New York 1966, S. 388.

Ein prominentes Gründungsmitglied war dagegen der Schriftsteller Nathaniel Hawthor- ne, der allerdings vor allem von der Erwartung geleitet war, er könne nach seiner Heirat hier ein Heim für sich und seine Frau finden. Hawthornes Erfahrungen mit Brook Farm sind in- struktiv. Die ersten Briefe enthalten amüsante Beispiele eines selbstironisch pastoralen Rol- lenspiels: „After Breakfast, Mr. Ripley put a four-pronged instrument into my hands, which he gave me to understand was called a pitch-fork; and…we all three commenced a gallant attack upon a heap of manure.” Nathaniel Hawthorne: The Blithedale Romance. In: Seymour Gross & Rosalie Murphy (Hrsg.): Norton Critical Edition. New York 1978, S. 233. Am Ende des Sommers hatte Hawthorne allerdings das Gefühl, „fünf goldene Monate” vor allem mit dem Füttern von Kühen und Pferden zugebracht zu haben, während seine schriftstellerische Tätigkeit nicht vorangekommen war. Er verließ Brook Farm daher nach wenigen Monaten. Zehn Jahre später nutzte er Notizen aus jener Zeit für den Roman The Blithedale Romance (1852) , in dem sich das pastorale Idyll als bloße Fassade für geheime Machtspiele entpuppt. Man hat das Buch lange Zeit als Hawthornes Abrechnung mit Brook Farm gelesen, aber da seine Erinnerungen daran auch in späteren Jahren im wesentlichen positiv blieben, lässt sich schwerlich von einem Schlüsselroman sprechen. Vielmehr benutzte Hawthorne den Stoff in der für ihn typischen Weise, um das Versprechen eines neuen Edens in eine psychologische Studie von Manipulation, Schuld und Selbstzerstörung zu verwandeln.

Elizabeth Palmer Peabody: Plan of the West Roxbury Community. In: Joel Myerson (Hrsg.): The Brook Farm Book. A Collection of First-Hand Accounts of the Community. New York 1987, S. 214.

Clara Endicott Sears: Bronson Alcott’s Fruitlands. Philadelphia 1975, S. 37.

Charles and A. Bronson Alcott Lane: The Consociate Family Life. (8 September 1843). In: Joel Myerson (Hrsg.): Transcendentalism. A Reader. New York 2000, S. 435-442, S. 437. 27 Ebenda, S. 440.

Vgl. Peter Birle: Brasilien und die Amerikas. In: Peter Birle, Marianne Braig, Ottmar Ette, Dieter Ingenschay (Hrsg.): Hemisphärische Konstruktionen der Amerikas. Frankfurt a.M. 2006, S. 143.

Bronson Alcott Lane: Family Life, S. 437.

Endicott Sears: Fruitlands, S. 15.

May Alcott: Wild Oats, S. 36.

Eine prominente Ausnahme bilden hier die 6 ikarischen Kommunen, die insgesamt 48 Jahre (1847-1895) existierten. Die Ikarier wurden jedoch durch ihre ethnische und kulturelle Identität zusammengehalten; so war beispielsweise die französische Sprache Vorbedingung der Aufnahme. Vgl. dazu Guarneri: „Pietistic communities like the Rappites and Shakers tended to last much longer than the secular utopian socialist groups. Their members were held together by religious ideals, isolated themselves from the rest of society, and were willing to defer to charismatic leaders or other authority figures. By contrast, utopian-socialist move- ments were joined by contentious, independent-minded local artisans and entrepreneurs. In the few cases these communities managed to persist, such as the French Icarians, it was due more to their shared foreign language and ethnicity than to their social doctrines. Most uto- pian-socialist experiments were torn by doctrinal disputes and struggled to find a secular faith that could be as compelling as religious bonding.” Charles Guarneri: The Utopian Alternative. Fourierism in Nineteenth-Century America . Ithaca 1991, S. 429

Nathaniel Hawthorne: Blithedale Romance, S. 262. „R. W EMERSON TO GEORGE RIPLEY, 15 DECEMBER 1840

Alexis de Tocqueville: Über den Individualismus in den demokratischen Ländern. In: Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika. 2. Zürich 1987, S. 147.

Ann Marie Slaughter: Reviving American Ideals. In: The International Herald Tribune (May 18, 2007).

David Rieff: American Exceptionalism: Is there a Moral High Ground? (excerpts from letters) In: The International Herald Tribune (May 23, 2007). „Während Humboldt die Brille untersuchte, faltete Jefferson die Hände auf der Brust und be- gann Fragen zu stellen. Wenn Humboldt abschweifte, schüttelte er mild den Kopf, unterbrach und fragte noch einmal. Auf dem Tisch lag wie zufällig eine Karte von Mittelamerika. Er wollte alles über Neuspanien, dessen Transportwege und Bergwerke wissen. Es interessierte ihn, wie die Administration arbeitete, wie im Land und über den Ozean hinweg Befehle übermittelt wurden, wie die Stimmung unter den Adeligen war, wie groß die Armee, wie aus- gerüstet, wie gut ausgebildet. Wenn man eine Großmacht zum Nachbarn habe, könne man nie genug Information besitzen. [...] Jefferson bedankte sich seufzend. Was wisse man hier schon? Man sei eine kleine Protestantengemeinde am Rand der Welt. Unendlich weit von

Vgl. Leopoldo Zea: The Role of The Americas in History. Savage, MD 1992, S. 156. James Dunkerley zitiert einen anonymen US-amerikanischen Text aus dem Jahr 1821, in dem es heißt: „We have here no concern with South America; we have no sympathy [...]. James Dunkerley: The United States and Latin America in the Long Run (1800-1945). In: Victor Bulmer-Thomas, James Dunkerley (Hrsg.): The United States and Latin America: The New Agenda. London 1999, S. 3-31, hier: S. 8.

Vgl. History of Congress, December 1829, President’s Annual Message, S. 12-24. In: A Century of Lawmaking for a New Nation: U.S. Congressional Documents and Debates, 1774- 1875. http://memory.loc.gov/ammem/amlaw/lawhome.html [Zugriff am 10.9.2007]. Latein- amerika wurde von Monroe in seiner „Doktrin“ auch als „those Powers“, „those new Governments“ bezeichnet. Der Ausdruck „the American continents“ findet sich auf S. 14.

Vgl. Vicente Lecuna (Hrsg.): Simón Bolívar: Obras Selectas de Bolívar, Bd I. New York 1951, S. 179.

Bolívar sprach vom US-amerikanischen Volk als „pueblo norteamericano“, die USA be- zeichnete er auch als „República de los Estados Unidos“.

Vgl. Marc T. Berger: Under Northern Eyes: Latin American Studies and US Hegemony in the Americas 1898-1990. Bloomington, Indianapolis 1995, S. 15. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in Frankreich das Konzept der „race latine“. Vgl. Käthe Panick: La Race Latine – Politischer Romanismus im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Bonn 1978, S. 260f.

Vgl. Berger: Under Northern Eyes, S. 18. Er wirft auch die Problematik des Nordameri- ka-Begriffes auf, der geographisch Kanada und Mexiko einschließe, wobei Mexiko kulturell eindeutig zu Lateinamerika zu zählen sei.

Mit dieser Intervention sollte etwa die race latine gestärkt werden. Napoleon schätzte allerdings die geopolitische Lage falsch ein. Das Mexiko-Unternehmen scheiterte 1867.

„We must have Cuba [...] We shall acquire it by a coup d’etat at some propitious mo- ment“ schrieb der spätere US-Präsident James Buchanan an den Senator Henry Clay im Jahr 1849. Zit. n. Dunkerley: The United States and Latin America, S. 3. Die Bemühungen des damaligen Präsidenten Franklin Pierece, Kuba zu kaufen bzw. Vorwände für eine militärische Intervention zu schaffen, scheiterten am Widerstand Spaniens und des US-amerikanischen Nordens, der die Schaffung eines weiteren Sklavenstaates befürchtete. Vgl. Christof Mauch/ Jürgen Heideking: Geschichte der USA (5. Aufl.), Tübingen/ Basel 2007, S. 132.

Es waren Bolivien, Chile, El Salvador, Kolumbien, Ecuador, Venezuela und Peru. Vgl. Whitaker: The Western Hemisphere Idea, S. 56f.

Vgl. Samuel Guy Inman: Problems in Pan Americanism. New York 1925 (2. Aufl.), S. 116.

Vgl. Whitaker: The Western Hemisphere Idea, S. 79f. Vgl. Joseph Byrne Lockey: Panamericanism: Its Beginnings. New York 1970, S. 7.

Wolfgang Dietrich: Von der Intervention zur Integration. Lateinamerika im Schatten der nordamerikanischen Hegemonialmacht und die politisch-militärische Rolle der USA im 20. Jahrhundert. In: Martina Kaller-Dietrich, Barbara Potthast, Hans Werner Tobler (Hrsg.): La- teinamerika. Geschichte und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Wien 2004, S. 137.

Vgl. Lester D. Langley: The Americas in the Modern Age. New Haven, London 2003, S. 38.

Inman gab den 27. September 1889 an; vgl. Inman: Problems in Panamericanism, S. 219; Whitaker nannte den 27. Juni 1882; vgl. Whitaker: The Western Hemisphere Idea, S. 71f.

Vgl. Dunkerley: The United States and Latin America, S. 16.

Vgl. A América. Ontem – Hoje – Amanhã. Washington 1944, S. iii.

Otto C. Stoetzer: Panamerika – Idee und Wirklichkeit. Die Organisation der Amerikani- schen Staaten. Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Heft 2. (1964), S. 9.

Langley: The Americas in the Modern Age, S. 38.

Vgl. Martina Kaller-Dietrich: Las Américas. Vom modernismo zum Redigieren der la- teinamerikanischen Identitäten unter besonderer Berücksichtigung des mexikanischen Diskur- ses. In: Thomas Fröschl, Margarete Grandner, Birgitta Bader-Zaar (Hrsg.): Nordamerikastu- dien. Historische und literaturwissenschaftliche Forschungen aus österreichischen Universitäten zu den Vereinigten Staaten und Kanada. München 2000, S. 313-340, hier: S. 324f.

Eduardo Prado: A illusão americana. Paris 1895 (2. Aufl.), S. 10f.

So kritisiert Prado etwa die amerikanische Untätigkeit, als Großbritannien und Frank- reich in Argentinien gegen Rosas intervenierten. Er kritisiert Großbritanniens Annexion der Falklandinseln und die permanenten Grenzverletzungen der USA gegenüber Mexiko. Maxi- milian von Mexiko sei hingegen einer der besten Herrscher gewesen.

Prado: A illusão americana, S. 8.

Vgl. Birle: Brasilien und die Amerikas, S. 143.

Bernd Hausberger: Die Teile und das Ganze. Entwürfe kontinentaler Identität und trans- nationaler Integration in und für Lateinamerika von Simón Bolívar bis George W. Bush. In: Martina Kaller-Dietrich, Barbara Potthast, Hans Werner Tobler (Hrsg.): Lateinamerika. Ge- schichte und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Wien 2004, S. 125.

Vgl. Thomas Fröschl: Antiamerikanismus in Europa und Lateinamerika. Sieben histori- sche Dimensionen. In: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit Jg. 3, H. 2 (2003), S. 82-97, hier: S. 94. Der Titel des Essays von Rodó bezieht sich auf den Luftgeist Ariel aus Shakespeares Drama Der Sturm .

Vgl. Corinne A. Pernet: Die Zivilisierungsmission der Zivilgesellschaft. Die andere Art der US-Intervention in Lateinamerika von 1910 bis 1945. In: Boris Barth, Jürgen Osterham- mel (Hrsg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert. Konstanz 2005, S. 311-334, hier: S. 311.

Vgl. Langley: The Americas in the Modern Age, S. 19.

Vgl. Birle: Brasilien und die Amerikas, S. 146f.

Vgl. Whitaker: The Western Hemisphere Idea, S. 98.

Vgl. Langley: The Americas in the Modern Age, S. 75.

Vgl. Whitaker: The Western Hemisphere Idea, S. 103.

Während der Panamerikanischen Konferenz von Rio schlug Nabuco vor, dass die Teil- nehmer sich bei den USA wegen der Monroe-Doktrin bedanken sollten, was abgelehnt wurde; vgl. Inman: Problems in Panamericanism, 207f. Der vehemente USA-Kritiker Eduardo Prado (er starb 1901) sollte es nicht mehr erleben, wie sein ehemals enger Freund Nabuco sein Werk A Ilusão Americana in den USA kritisierte: „a little book which hurts us a great deal, which entertains in the public spirit a mistrust against that country, our only possible ally“. Vgl. Stephanie Dennison: Joaquim Nabuco. Monarchism, Panamericanism and Nation-Building in the Brazilian Belle Epoque. Oxford (et.al.) 2006, S. 144f.

Joaquim Nabuco: The Share of America in Civilization. In: The American Historical Review (1909), S. 54-65, hier S. 56.

Vgl. Langley: The Americas in the Modern Age, S. 75.

Vgl. César Zumeta: El Continente Enfermo. Caracas 1916. „El norteamericano, idólatra del dólar todopoderoso , representa mayor suma de energía y de bienestar que el iberoameri- cano, esclavo de la fatalidad todopoderosa“ (S. 39). Zumeta bezieht sich auch auf alldeutsche Schriften.

Vgl. Inman: Problems in Panamericanism, S. 47. Vgl. Francisco Bulnes: Europa y los Estados Unidos. Mexiko 1899, S. 264.

Vgl. Inman: Problems in Panamericanism, S. 323f. a day.” 54

Alfredo Colmo: América Latina. Madrid 1915, S. 649. Colmo begründet die Ausklam- merung der USA damit, dass diese mit Lateinamerika wenig gemein hätten, für ihn allerdings die Glorie des Kontinents seien. Colmo versucht auch mit psychologischen Theorien Mentali- täten und Diskurse in Lateinamerika kritisch zu analysieren. Beim Thema Bildungschancen favorisiert er auch dezidiert Ausbildung für Frauen, allerdings für „klassische Berufe“.

Vgl. Inman: Problems in Panamericanism, S. 61. Auch Alfredo Colmo argumentiert in Indio-Fragen wie Argüedas und macht die katholische Kirche für gesellschaftlichen Rück- schritt verantwortlich. „Nuestro catolicismo es sumamente intransigente: dogmático, sectario o medieval“; vgl. Colmo: América Latina, S. 58; vgl. S. 464.

Vgl. Michael Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive? Der Kongress für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München 1998, S.10.

Vgl. Ricardo D. Salvatore: Early American Visions of a Hemispheric Market in South America. In: Berndt Ostendorf (Hrsg): Transnational America. The Fading of Borders in the Western Hemisphere. Heidelberg 2002, S. 45-64.

Vgl. Concha Romero James: The Pan American Union in the field of Inter-American Cultural Relations. Washington D.C. 1941.

Inman: Problems in Panamericanism, S. 18.

Ebenda, S. 39. In der Aufzählung lateinamerikanischer Probleme, die im Sinne paname- rikanischer Politik zu beheben seien, zählt der protestantische Missionar auch den Sittenver- fall durch illegitime Kinder, Prostitution und Promiskuität, den er unter anderem mit der Förderung des Sports beheben will, sowie Unpünktlichkeit, Unehrlichkeit, Unverlässlichkeit und Mangel an Initiative, der er Selbstdisziplin, Opferbereitschaft und Geduld entgegensetzt (vgl. S. 61).

Vgl. Ernesto Quesada: El panamericanismo bolivariano. Buenos Aires 1927.

Vgl. Thomas F. O’Brien: The Century of U.S. Capitalism in Latin America. Albuquer- que, N.M. 1999, S. 55f.

Alejandro Alvarez: Le Panaméricanisme et la Sixième Conférence Panaméricaine. Tenue à la Havane en 1928. Paris 1928, S. 31.

Vgl. Ebenda. Indigene Völker spielten bei Alvarez keine Rolle, der zu den Gemeinsam- keiten zwischen Nord und Süd auch die kürzere historische Vergangenheit als in Europa zählt.

Vgl. Lewis Hanke: Do the Americas Have a Common History? A Critique of the Bolton Theory. New York 1964. Thomas Fröschl meint in seinen Überlegungen zu einer Hemisphä- rengeschichte, dass erst der „Europabezug“ die Einheit der Amerikas ausmache. Vgl. Thomas Fröschl: Gibt es eine Geschichte der Amerikas? Versuch einer Antwort auf Herbert E. Bol- tons Vortrag „The Epic of Greater America“. In: Leo Truchlar (Hrsg.): One America – Many Americas. Erkundungen und Verortungen aus historischer, kultureller und literarischer Sicht. Wien 2004, S. 1-14, hier: S. 12.

Der kommentierte Text von Plessy v. Ferguson findet sich in Bill Hayes: Landmarks: Historic U.S. Supreme Court Decisions. Los Angeles, CA 2007. Zur Bedeutung des Urteils Tim McNeese: Plessy v. Ferguson: Separate but Equal. New York 2007.

Einschlägig Davison M. Douglas: Jim Crow Moves North: The Battle over Northern School Segregation, 1865-1954. New York 2005. Michael J. Klarman: From Jim Crow to Civil Rights: The Supreme Court and the Struggle for Racial Equality. Oxford, New York 2004. Sehr knapp dagegen Anne Wallace Sharp: A Dream Deferred: The Jim Crow Era. Detroit, MI 2005.

Stanley Brodwin: The Veil Transcended: Form and Meaning in W. E. B. DuBois' [sic] "The Souls of Black Folk". In: Journal of Black Studies. Bd. 2, H. 3, (1972), S. 303-321, S. 306.

Max Weber schlug 1906 eine Übersetzung ins Deutsche vor und bot sich, aus Heidelberg schreibend, an, die Einleitung dafür zu schreiben. David L. Lewis: W.E.B. DuBois [sic]. New York 1993, S. 277. „The colored people of the United States have no destiny separate from that of the nation of which they form an integral part [...] If we, born in America, cannot live upon the same soil in

Die beste Einführung in den Black Nationalism sind die Anthologien von Moses und Van Deburg. Wilson Jeremiah Moses: Classical Black Nationalism from the American Revolution to Marcus Garvey. New York 1996. William L. Van Deburg: Modern Black Nationalism from Marcus Garvey to Louis Farrakhan. New York 1997.

Du Bois hatte den Grundwiderspruch zwischen einer amerikanischen und einer afroame- rikanischen Identität schon 1897 formuliert, als er schrieb: „Am I an American or am I a Negro? Can I be both?” W.E.B. Du Bois: The Conversation of the Races [Web Page]. 1897, S. 11. Benutzt am 6. Juni 2007. URL: http://www.gutenberg.org/dirs/etext04/conra10.txt. the ground.” 8

Theodor Wiesengrund Adorno: Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Le- ben. Frankfurt a.M. 1951, S. 42.

David Walker: Walker's Appeal with a Brief Sketch of His Life. New York 1848.

Walker, Walker's Appeal, S. 72, S. 83.

Dexter B. Gordon: Black Identity: Rhetoric, Ideology, and Nineteenth-Century Black Nationalism. Carbondale, IL 2003, S. 81-82.

Robert Alexander Young: The Egyptian Manifesto: Issued in Defence of the Black Man’s Rights in Scale of Universal Freedom, New York 1829, abgedruckt in Herbert Apthe- ker: A Documentary History of the Negro People in the United States. New York 1951, Bd. 1, S. 90-93. Als Webseite einsehbar unter American Egyptomania, URL: http://chnm.gmu.edu/egyptomania/sources.php?function=detail&articleid=11, gesehen am 24.9.2007.

Wilson Jeremiah Moses: Black Messiahs and Uncle Toms: Social and Literary Manipu- lations of a Religious Myth. University Park, PA 1993, S. 8.

Dennis L. Durst: The Reverend John Berry Meachum (1789-1854) of St. Louis: Prophet and Entrepreneurial Black Educator in Historiographical Perspective. In: The North Star: A Journal of African American Religious History, Bd. 7, H. 2 (2004), S. 1-24, S. 8.

John Marrant: A Narrative of the Lord's Wonderful Dealings with John Marrant, a Black, (Now Going to Preach the Gospel in Nova-Scotia) Born in New-York, in North- America. London 1785.

Robert J. Branham; Philip S. Foner: Lift Every Voice: African American Oratory, 1787- 1900. Tuscaloosa, AL 1998, S. 27-38.

Ebenda, S. 73-79.

Exodus 3:7, 8 “And the Lord said, I have surely seen the affliction of my people which are in Egypt, and have heard their cry by reason of their task-masters; for I know their sor- rows; and I am come down to deliver them out of the hand of the Egyptians.”

Branham, Foner, Lift Every Voice, S. 81. Weiterhin: “Africa, thou first fair garden of God's planting, thou once delightful field and original nursery for all those delicious fruits, tasteful herbage, and fragrant plants, that man highly prises, thou tract of earth over which the blest luminary, the sun, delights to make his daily splendid pass, thou spot of earth, where fair science first descended and the arts first began to bud and grow; how art thou chang'd and fallen.” Ebenda, S. 93.

Norbert Finzsch: Die Kolonisierungsbewegung von African Americans in Liberia bis zum amerikanischen Bürgerkrieg, 1816-1866. in: Laurence Marfaing und Brigitte Reinwald, Brigitte (Hrsg.): Afrikanische Beziehungen, Netzwerke und Räume. Münster, Hamburg, Ber- lin 2001, S. 39-59.

Daniel Coker: Journal of Daniel Coker, a Descendant of Africa, from the Time of Lea- ving New York, in the Ship Elizabeth, Capt. Sebor, on a Voyage for Sherbro, in Africa, in Company with Three Agents, and about Ninety Persons of Colour. Baltimore, MD 1820. “Open your eyes and look within:

Durst: The Reverend John Berry Meachum, S. 8-9. W. E. B. Du Bois: The Souls of Black Folk. New York 1994, S. 165-174.

“Nation language emerged in African American political discourse as a synonym for peoplehood [sic], a way of grounding solidaristic efforts in an understanding of America’s racial, hegemonic order.” Eddie S. Glaude: Exodus! Religion, Race, and Nation in Early Nineteenth-Century Black America. Chicago, IL 2000, S. 54.

Albert J. Raboteau: Fire in the Bones: Reflections on African-American Religious Histo- ry. Boston, MA 1995, S. 42-43. Wenige Zeitgenossen konnten damals ahnen, dass es eine Zeit geben würde, wo genau die whiteness der greco-römischen Kulturen in Zweifel gezogen würden. Siehe Jacques Berlinerblau: Heresy in the University: The Black Athena Controversy and the Responsibilities of American Intellectuals. New Brunswick, NJ 1999. Martin Bernal: Black Athena: The Afroasiatic Roots of Classical Civilization. New Brunswick, NJ 1987. Martin Bernal und David Chioni Moore: Black Athena Writes Back: Martin Bernal Responds to His Critics. Durham, NC 2001.

Nell Irvin Painter: Millenarian Aspects of the Exodus to Kansas of 1879. In: Journal of Social History, Bd. 9, H. 3 (1976), S. 331-338, S. 335.

Painter: Millenarian, S. 331 widerspricht hier Cohn in Sylvia L. Thrupp: Millennial Dreams in Action. The Hague 1962, S. 31. “[M]any industrious colored men tell me that the reason why they have never bought homes [in Texas] is because they have believed since their emancipation some general movement would eventually be made to take them out of the South. All freedmen seem to be imbued with the idea that God has foreordained that they shall be made a great people whereby He will manifest to all Nations His great power“.

Der Texaner S.A. Hackworth an den Gouverneur von Kansas, John Pierce St. John, am 11. August 1879, in: Painter: Millenarian Aspects, S. 333.

Painter: Millenarian Aspects, S. 333.

Ebenda, S. 332. den Hintergrund. 33

Victor Ullman: Martin R. Delany: The Beginnings of Black Nationalism. Boston, MA 1971. Sterling Stuckey: Slave Culture: Nationalist Theory and the Foundations of Black Ame- rica. New York 1987, S. 120-121. Anthony Appiah: In My Father's House: Africa in the Phi- losophy of Culture. New York 1992, S. 21. Gordon: Black Identity, S. 78.

Edmund David Cronon: Black Moses: The Story of Marcus Garvey and the Universal Negro Improvement Association. Madison, WI 1969, S. 41.

Die UNIA gab ab 1933 eine Zeitschrift „The Black Man: A Monthly Magazine of Negro Thought and Opinion” heraus, die in Kingston und in London verlegt wurde.

Die meisten der Schiffe, die die Linie erwarb, waren kaum seetüchtig zu nennen und et- liche mussten aufgegeben oder auf Auktionen versteigert werden. Moses (1996): 241.

Moses: Classical Black Nationalism, S. 243.

Zur Bespitzelung durch das FBI siehe Federal Bureau of Investigation: Marcus Garvey, FBI Investigation File. Wilmington, DE 1978 (Mikrofilm).

Marcus Garvey und Amy Jacques Garvey: Philosophy and Opinions of Marcus Garvey or, Africa for the Africans. London 1967. Marcus Garvey et al.: More Philosophy and Opini- ons of Marcus Garvey. London, Totowa, NJ 1977. Marcus Garvey und Tony Martin: Message to the People: The Course of African Philosophy. Dover, MA 1986.

United States. Congress. House. Committee on the Judiciary, and Subcommittee on Criminal Justice: Mail Fraud Charges against Marcus Garvey: Hearing before the Subcom- 164 Norbert Finzsch hen.” 42

Gilberto Freyre: Casa-grande e senzala : formação da familia Brasileira sob o regime de economía patriarcal. 6. Aufl. Rio de Janeiro 1950.

Ebenda, S. 274.

Davarian L. Baldwin: Chicago's New Negroes: Modernity, the Great Migration, and Black Urban Life. Chapel Hill, NC 2007. Monica Halpern: The Great Migration: African Americans Move to the North, 1915-1930. Washington, DC 2002. Milton C. Sernett: Bound for the Promised Land: African American Religion and the Great Migration. Durham, NC 1997.

Langston Hughes: The Big Sea: An Autobiography. New York 1940, S. 325, zitiert in Victor A. Kramer und Robert A. Russ: The Harlem Renaissance Re-Examined. Troy, NY 1997, S. 71.

Nathan Irvin Huggins: Harlem Renaissance. New York 1971, S. 82-83.

Cary D. Wintz: Black Culture and the Harlem Renaissance. Houston, TX 1988, S. 151. 49 George Samuel Schuyler: The Negro-Art Hokum. In: The Nation, 16. Juni 1926, Bd. 121, H. 3180, S. 662-663.

Heriberto Yepez: A.B.U.R.T.O., S. 209-213

J. Martin Favor: Authentic Blackness: The Folk in the New Negro Renaissance. Durham NC 1999, S. 121.

George Samuel Schuyler: Black No More: Being an Account of the Strange and Won- derful Workings of Science in the Land of the Free, A. D. 1933-1940. New York 1931. Favor: Authentic Blackness, S. 114. Jane Kuenz: American Racial Discourse, 1900-1930: Schuyler's "Black No More". In: NOVEL: A Forum on Fiction, Bd. 30, H. 2 (1997), S. 170-192.

Julia E. Liss: Diasporic Identities: The Science and Politics of Race in the Work of Franz Boas and W.E.B. Du Bois, 1894-1919. In: Cultural Anthropology, Bd. 13, H. 2 (1998), S. 127-166.

W. E. B. Du Bois: The Autobiography of W. E. B. DuBois [sic]: A Soliloquy on Vie- wing My Life from the Last Decade of Its First Century. New York 1968 , S. 62-77.

Liss : Diasporic Identities, S. 152. „[...] if for another century, we Negroes taught our children – in our own bettering schools, with our own trained teachers – we would never be Americans but rather another nation with a new culture. But if beginning now, gradually, all American children, black and white, Euro- pean, Slavic and Asiatic are increasingly taught as one – in one tradition and one ideal – there will emerge one race, one nation, one world … Am I glad? I should be, but I am not. I dreamed too long of a great American Negro race. Now I can only see a great Human Race. It may be the best, I should indeed rejoice –“

W. E. B. Du Bois: Worlds of Color. New York 1961, S. 317.

James B. Stewart: Psychic Duality of Afro-Americans in the Novels of W.E.B. DuBois [sic]. In: Phylon, Bd. 44, H. 2 (1983), S. 93-107, S. 107. ... si el tipo de gobierno ... que un pueblo decide darse en ejercicio de su soberanía afecta intereses norteamericanos ... o se desata una intervención unilateral violenta de Estados Unidos o salta algún canciller o general latinoamericano dispuesto a traicionar a su pueblo y solicita urgentemente que el panamericanismo entre en acción en defensa de lo indefendible.

„Wenn eine Regierung, die sich ein Volk in der Ausübung seiner Souveränität geben will, U.S.-amerikanische Interessen negativ beeinflusst, löst dies entweder eine gewaltsame unila- terale Intervention der Vereinigten Staaten aus, oder irgendein lateinamerikanischer Außen- minister oder General kommt hervor, bereit sein Volk zu verraten, und bittet dringend, dass der Panamerikanismus um der Verteidigung dessen in Aktion treten möge, das auf keinen Fall verteidigt werden sollte.” Alonso Aguilar Monteverde: El Panamericanismo: De la Doctrina Monroe a la Doctrina Johnson. México 1965.

Zu diesem Thema im späten 20. Jh., vgl. Greg Grandin: Your Americanism and Mine: Americanism and Anti-Americanism in the Americas. In: American Historical Review, Bd. 111, Nr. 4 (Oktober 2006), S. 1042-1066.

Arthur P. Whitaker: The Western Hemisphere Idea. Ithaca 1954, S. 27-34.

Ernest May: The Making of the Monroe Doctrine. Cambridge 1975.

Michael H. Hunt: Ideology and U.S. Foreign Policy. New Haven 1987, S. 33.

Walter LaFeber: The New Empire: An Interpretation of American Expansion. Ithaca 1963. war Gesetz. 8

Joseph Smith: The First Conference of American States (1889-1890) and the Early Pan American Policy of the United States. In: David Sheinin (Hrsg.): Beyond the Ideal: Pan- Americanism in Inter-American Affairs. Westport 2000, S. 19-33.

James D. Richardson (Hrsg.): A Compilation of the Messages and Papers of the Presi- dents. New York 1918, Bd. 15, S. 6894-6930.

Zitiert in Emily S. Rosenberg: Spreading the American Dream: American Economic and Cultural Expansion, 1890-1945. New York 1982, S. 41.

Jürgen Buchenau: In the Shadow of the Giant: The Making of Mexico’s Central America Policy, 1876-1930. Tuscaloosa 1996, S. 16-108.

Thomas L. Karnes: The Failure of Union: Central America, 1824-1960. Chapel Hill 1964.

Zitiert in Carlos Ripoll: José Martí, the United States, and the Marxist Interpretation of Cuban History. New York 1984, S. 51. Eres los Estados Unidos, eres el futuro invasor de la América ingenua que tiene sangre indígena que aún reza a Jesucristo y aún habla en español …

Fredrick B. Pike: Hispanismo, 1898-1936: Spanish Conservatives and Liberals and Their Relations with Spanish America. Notre Dame 1971, S. xvii.

Ebenda, 1.

José Enrique Rodó: Ariel. Madrid 1919.

Richard V. Salisbury: Hispanismo versus Pan-Americanism: Spanish Efforts to Counter U.S. Influence in Latin America Before 1930. In Sheinin: Beyond the Ideal, 67-77.

Die beste Analyse der ausländischen Interventionen im revolutionären Mexiko ist immer noch Friedrich Katz: The Secret War in Mexico: Europe, the United States, and the Mexican Revolution. Chicago 1981.

„Alle Staaten sind gleich … kein Land darf in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes eingreifen … Einheimische und Ausländer sind im Bezug der Souveranität des Landes, in dem sie leben, gleichgestellt…. Diplomatie … darf nicht zum Schutz von Privatinteressen verwendet werden” Luis González y González (Hrsg.): Los Presidentes de México ante la nación. Mexiko 1966, Bd. 3, S. 250.

Lester Langley: America and the Americas: The United States in the Western Hemi- sphere. Athens 1989, S. 133.

„Indoamerikanismus ist der Ausdruck des neuen revolutionären Amerikakonzepts, das sich im Gefolge der spanischen und (angel)sächsischen Eroberungen in einer genau definierten Organisation strukturieren wird … auf der nationalen Basis seiner Arbeitskräfte, repräsentiert durch die Tradition, die Rasse und die Ausbeutung seiner indigenen Massen die … die Basis unserer Produktivität darstellt.” Víctor Raúl Haya de la Torre: A dónde va Indoamerica? 3. Aufl. Santiago, Chile 1936, S. 23.

Donald C. Hodges: Intellectual Foundations of the Nicaraguan Revolution. Austin 1986, S. 24-29.

Langley: America and the Americas, S. 130-32. Südamerika. 27

Bryce Wood: The Making of the Good Neighbor Policy. New York 1961, S. 159-284.

Klaus Volland: Das Dritte Reich und Mexiko: Studien zur Entwicklung des deutsch- mexikanischen Verhältnisses 1933-1942 unter besonderer Berücksichtigung der Ölpolitik. Frankfurt a.M. 1976, S. 83-147.

Max Paul Friedman: Nazis and Good Neighbors: The United States Campaign Against the Germans of Latin America in World War II. Cambridge 2003, S. 102-55; María Emilia Paz: Strategy, Security, and Spies: Mexico and the U.S. as Allies in World War II. University Park 1997.

Whitaker: Western Hemisphere Idea, S. 132. „Hitler, aunque dispone de un poder absoluto, se halla a mil leguas del cesarismo. La fuerza no le viene a Hitler del cuartel, sino del libro que le inspiró ... El poder no se lo debe Hitler a las tropas, ni a los batallones, sino a sus propios discursos... Hitler representa, en suma, una idea, la idea alemana, tantas veces humillada antaño por el militarismo de los franceses, la perfidia de los ingleses. En contra de Hitler, es verdad, se hallan combatiendo ‘Democracias’ gobernadas por civiles. Pero son democracias de nombre.”

„Obwohl Hitler absolute Macht genießt, ist er tausend Meilen weit weg vom Caesarismus. Die Macht kommt Hitler nicht durch das Militärquartier zu, sondern durch das Buch, das ihm Inspiration gab. Die Macht verdankt Hitler weder den Truppen noch den Bataillonen, sondern seinen eigenen Reden. Hitler stellt, summa summarum, eine Idee dar, die einst so viele Male durch den Militarismus der Franzosen und die Perfidie der Engländer gedemütigte deutsche Idee. Gegen Hitler stehen tatsächlich von Zivilisten regierte Demokratien. Aber es sind nur dem Namen nach Demokratien.” El Timón, 8. Juni 1940. „No cabe duda que el Presidente Roosvelt [sic] y sus colaboradores inmediatos … son cinceros [sic] en su política de Buena Vecindad. Pero se advierte claramente que los direc- tores de la fuerza armada de E.U. tienen designios de acción lejana de hegemonía militar en los países latinoamericanos. Se nota una tendencia a subordinar nuestros mandos al de ellos … las probabilidades son que los E.U. emerja de este [sic] guerra como potencia militar mun-

Zitiert in W. Michael Weis: Pan American Shift: Oswaldo Aranha and the Demise of the Brazilian-American Alliance. In: Sheinin, Beyond the Ideal, S. 140.

David Sheinin: Argentina and the United States: An Alliance Contained. Athens 2006, Kap. 3.

John Skirius: José Vasconcelos y la cruzada de 1929. Mexiko1978; Jürgen Buchenau: Plutarco Elías Calles and the Mexican Revolution. Lanham 2007, S. 154.

Seth Fein: Myths of Cultural Imperialism and Nationalism in Golden Age Mexican Cin- ema. In: Gilbert M. Joseph, Anne Rubenstein, und Eric Zolov (Hrsg.): Fragments of a Golden Age: The Politics of Culture in Mexico Since 1940. Durham 2001, S. 172-76.

Sandra McGee Deutsch: Las Derechas: The Extreme Right in Argentina, Brazil, and Chile, 1890-1939. Stanford 1999, S. 143-308. kas positioniert. 43

Jürgen Müller: Nationalsozialismus in Lateinamerika: Die Auslandsorganisation der NSDAP in Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko. Stuttgart 1997.

Zitiert in Whitaker: Western Hemisphere Idea, S. 4.

Thomas Leonard: Central America and the United States: The Search for Stability. Ath- ens 1989, S. 139.

Piero Gleijeses: Shattered Hope: The Guatemalan Revolution and the United States. Princeton 1991, S. 274-77.

Weis: Pan-American Shift, S. 145-47.

Stephanie Schütze: La nación mexicana llega hasta donde estamos los mexicanos: los partidos políticos mexicanos y su participación política transnacional. In: Iberoamericana. América Latina, España, Portugal: Ensayos sobre letras, historia y sociedad. Notas. Reseñas iberoamericanas Vol. 7, Nr. 25 (2007), S. 143-154.

Samuel P. Huntington: The Hispanic Challenge. In: Foreign Policy, März-April (2004), S. 30-45.

Bis zum Frieden von Guadalupe Hidalgo von 1848 war es den USA gelungen, die Südgrenze massiv zu verschieben und sich die Staaten Texas, New Mexico, Arizona, California, Nevada, und Utah sowie Teile von Wyoming, Colorado un Oklahoma in das Staatsgebiet einzuverleiben.

Professor für Chicano Studies an der University von New Mexico

Johann Gottfried Herder prägte einen Kulturbegriff, welcher Kultur als homogene soziale Einheit sieht.

Néstor García Canclini: Culturas híbridas. Estrategia para entrar y salir de la modernidad. Mexiko 1989.

Guillermo Bonfil Batalla: México profundo. Una civilización negada. Mexiko 1987.

Der Begriff Amerind (American Indians) wurde 1899 geprägt, siehe: Christian Feest (Hrsg.): Kulturen der nordamerikanischen Indianer. Köln 2000; Sérgio Costa: Vom Nordatlantik zum "Black Atlantic". Postkoloniale Konfigurationen und Paradoxien transnationaler Politik. Bielefeld 2007. “Chronic wrongdoing, or an impotence which results in a general loosening of the ties of civilized society, may in America, as elsewhere, ultimately require intervention by some civilized nations, and in the Western hemisphere, the adherence of the United States to the Monroe Doctrine may force the United States, however reluctantly, in cases of wrongdoing or impotence, to the exercise of the international police power.”

Zitiert in Martin Sicker: The Geopolitics of Security in the Americas. Hemispheric Denial from Monroe to Clinton. Westport 2002, S. 61. „When I say that Russia may go her own way, and Mexicos hers, I say so with a sense that I have a right in Russia and in Mexico, and also a right to see that they do not go their own way to the extent of blocking my way to what of good they hold. …That is why we are talking of backward peoples and recognizing for them another law of self-determination, a leading-

Die Monroe-Doktrin gilt als Gründungsdokument für eine US-Außenpolitik. Präsident James Monroe formulierte mit der Doktrin 1823 ein Angebot an die europäischen Kolonialmächte, sich nicht in die dortigen Revolutionsprozesse einzumischen, um zugleich von ihnen zu fordern, von Versuchen der Rekolonialisierung der Neuen Welt Abstand zu nehmen.

Ähnlich wurde während des Krieges mit Mexiko argumentiert. “Mexico’s failure to improve California, a land of Eden, was attributed to an incompetent local bureaucracy, degenerating into a state of anarchy, and to a slothful population” zitiert in Frederick Merk: Manifest Destiny and Mission in American History. A Reinterpretation. [mit Lois Bannister Merk und neuem Vorwort von John Mack Faragher]. Cambridge 1995 [1963].

Wilson zitiert in P. Edward Haley: Revolution and intervention: the diplomacy of Taft and Wilson with Mexiko, 1910 – 1917. Cambridge, Mass. 1970, S. 138.

Zitiert in ebenda, S. 222. „Our continents are bound together by a common history, the endless exploration of new frontiers. Our nations are the product of a common struggle, the revolt from colonial rule. And our people share a common heritage, the quest for dignity and the freedom of man. The revolutions which gave us birth ignited, in the words of Thomas Paine, ‘a spark never to be extinguished’. … the revolution which began in Philadelphia in 1776 and in Caracas in 1811 – is not yet finished. Our hemisphere’s mission is not yet completed.”

Zitiert in ebenda, S. 234. “De una parte hay en América un pueblo que proclama su derecho de propia coronación a regir, por moralidad geográfica, en el continente, y anuncia, por boca de sus estadistas, en la prensa y en el púlpito, en el banquete y en el congreso, mientras pone la mano sobre una isla y trata de comprar otra, que todo el norte de América ha de ser suyo, y se le ha de reconocer derecho imperial del istmo abajo, y de otra están los pueblos de origen y fines diversos, cada día más ocupados y menos recelosos, que no tienen más enemigo real que su propia ambición, y la del vecino que los convida a ahorrarle el trabajo de quitarles mañana por la fuerza lo que le pueden dar de grado ahora.”

Martí zitiert in Josef Raab: Pan-amerikanisches Ideal und US-amerikanische Vormacht: José Martís Sicht des ‘vecino formidable’. In: Hans-Joachim König, Stefan Rinke (Hrsg.), Transatlantische Perzeptionen: Lateinamerika – USA – Europa in Geschichte und Gegenwart. Stuttgart 1998, S. 153.

Kuba, das bis zum Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 spanische Kolonie geblieben war, geriet danach unter US-amerikanische Besatzung. Als es 1902 formal unabhängig wurde, blieb seine Souveränität eingeschränkt. Aufgrund des auf Druck der USA zustande gekommenen so genannten Platt-Amendment in der kubanischen Verfassung war es den USA jederzeit erlaubt, militärisch einzugreifen, sobald sie ihre politischen und ökonomischen Interessen auf der Insel in Gefahr sahen. Neben einem ständigen Interventionsrecht im Falle innerer Unruhen wurde auch die Abtretung kubanischen Territoriums an die USA festgeschrieben. Guantánamo Bay, das bis heute von US-amerikanischem Militär besetzt gehalten und seit dem Afghanistan-Krieg zur völkerrechtswidrigen Inhaftierung von Kriegsgefangenen genutzt wird, stellt einen interessanten Fall von Extra-Territorialität dar.

Den Begriff „Manifest Destiny“ prägte der New Yorker Journalist John L. O’Sullivan 1845 in einem Artikel der Democratic Review .

Knud Krakau: Die politischen Beziehungen zwischen Nord- und Südamerika: Von der Monroe-Doktrin zum Interamerikanischen System. In: ders. (Hrsg.): Lateinamerika und Nordamerika. Gesellschaft, Politik und Wirtschaft im historischen Vergleich. Frankfurt a.M. 1992, S. 191.

englisch: Free Trade Area of the Americas (FTAA); spanisch: Área de Libre Comercio de las Américas (ALCA) „Beim gegenwärtigen Stand der Weltzivilisation ist der Reichtum Amerikas für Europa nicht gleichgültig, denn davon ernährt sich unsere Industrie und lebt unser Handel. Wir sind daran interessiert, dass die Republik der Vereinigten Staaten mächtig und wohlhabend ist, doch haben wir kein Interesse, dass sie sich des ganzen Golfs von Mexiko bemächtigt, um von dort aus die Antillen und Südamerika zu beherrschen und die einzige Ausgabestelle für Produkte aus der Neuen Welt wird. Wenn sie einmal Mexiko und damit Zentralamerika und damit den Durchgang zwischen zwei Meeren beherrscht, wird es in Amerika keine andere Macht mehr als die Vereinigten Staaten geben. Wenn es uns im Gegenteil gelingt, eine stabile Regierung

Zitiert in Frank Ibold: Die Erfindung Lateinamerikas: die Idee der latinité im Frankreich des 19. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf die Eigenwahrnehmung des südlichen Amerika. In: Hans-Joachim König, Stefan Rinke (Hrsg.), Transatlantische Perzeptionen: Lateinamerika – USA – Europa in Geschichte und Gegenwart. Stuttgart 1998, S. 80.

Mexikanischer Präsident von 1877 bis 1880 und von 1884 bis 1911

Die “Doctrina Juárez” geht zurück auf eine Rede von Präsident Benito Juárez im Juli 1867, in der er die außenpolitischen Leitlinien Mexikos formulierte: “Que el pueblo y el gobierno respeten los derechos de todos. Entre los individuos, como entre las naciones, el respeto al derecho ajeno es la paz”. Zitiert in Raúl Benítez Manaut: Soberanía política exterior y seguridad nacional en México: 1821-1990. In: Revista de Administración Pública, No.98 (1998), S. 58. Das Prinzip der “igualdad jurídica de las naciones” reformulierte Francisco Madero 1913, wiederum mit Blick auf die als Bedrohung wahrgenommene Übermacht der USA. ebenda, S. 60f.

Hector Aguilar Camin: La frontera nómada. Sonora y la Revolución Mexicana. Mexiko 1985.

Alan Knight: The Mexican Revolution (Vol.1 und Vol.2). Cambridge 1986.

Marianne Braig: Frauen als Vermittlerinnen zwischen der Nation und der ”Welt der Dörfer” - Lehrerinnen im postrevolutionären Mexiko. In: Hispanorama, Nr. 81. (August 1998), S. 12-27.

Joe Foweraker, Ann. L. Craig: Popular Movement and popular Change in Mexico. Boulder 1990. „Obwohl auch früher schon sechzig bis siebzig Prozent des mexikanischen Außenhandels mit den Vereinigten Staaten abgewickelt worden seien, hätte man bei Debatten in den Vereinten Nationen oder in Gesprächen über die Zukunft Mittelamerikas den Eindruck gewinnen müssen, beide Staaten seien ‘Erzfeinde’. Jetzt hingegen sei die übliche ‘demagogische Rhetorik der Dritten Welt’ einer ‘in internationalen Fragen verantwortungsbewußteren

TLC ist die Abkürzung des spanischen Tradado de Libre Comercio zwischen Canada, Mexiko und den USA. Zu TCLandia siehe Alan Knight: Cartografiar el cambio. Conferencia impartida el 13 de octubre de 2006 en el marco de la Cátedra Alfonso Reyes. In: CONfines 3/5 enero-mayo 2007, S. 11- 15.

Dieses war als Ersatz für das 1951 unterzeichnete und 1964 durch den us- amerikanischen Kongreß nicht mehr verlängerte Bracero-Abkommen gedacht. Dieses hatte die saisonale Arbeitsvermittlung von mexikanischen, hauptsächlich männlichen Arbeitskräften in den USA rechtlich geregelt und Tausenden von Arbeitsmigranten zeitweilig Einkommen gesichert.

Hierzu Marianne Braig, Christian Baur: ?Hemisferio occidental dividido?“ O bien: ?Hasta dónde llega México?. In: Iberoamericana, No. 20 (2005), S. 109-126.

García Canclini: Latinoamericanos buscando lugar en este siglo. Buenos Aires 2002, S.12.

Ludger Pries: Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Frankfurt a. M. 2008.

Ebenda, S. 10.

Süddeutsche Zeitung Nr. 16, 19./20. Januar 2008, S. 9.

Ein Film von Sergio Arau aus dem Jahre 2004

Alurista: hacendado. In: Timespace Huracán. Poems, 1972-1975. Albuquerque/N.M. 1976.

Ich beziehe mich hier auf den einflussreichen Band von Birgit Scharlau (Hg.): Lateiname- rika denken. Tübingen 1994.

Vgl. Ottmar Ette: Lateinamerika und Europa. Ein literarischer Dialog und seine Vorge- schichte. In: José Enrique Rodó, Ariel, übers., hg. und erläutert v. Ottmar Ette. Mainz 1994, S. 9-58. Siehe auch Roberto Gonzáles Echeverría: The voice of the masters. Writing and Authority in Modern Latin American Literature. Austin 1985, S. 16.

Ich beziehe mich hier auf den historisch gewachsenen Begriff Rasse und verstehe ihn als diskursives Produkt, der durchaus materialisierte Ergebnisse zeitigt.

Pedro Henríquez Ureña: Seis Ensayos en busca de nuestra expresión. Buenos Aires 1928; Mariano Picón Salas: De la Conquista a la Independencia. Tres siglos de historia cultural hispanoamericana. Mexiko 1944. Interessanterweise taucht bei Picón Salas der Begriff der Transkulturalität bereits 1944 auf. Octavio Paz: Sor Juana Inés de la Cruz o las trampas de la Fe. Mexiko 1982. Auf die verschiedenen Romane Anfang des 20. Jahrhunderts, die die Be- drohung durch die USA zum Thema haben, kann ich hier nicht weiter eingehen. Zu nennen sind der Guatemalteke Máximo Soto Hall mit seinen Romanen El Problema von 1899 und La 208 Anja Bandau sombra de la casa blanca (1927) oder auch der Venezolaner Manuel Díaz Rodríguez mit Idolos rotos (1901).

Michael Dash: The Other America. Charlottesville/London 1998, S. 5.

Siehe dazu seinen Aufsatz: Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik. In: Marianne Braig/Ottmar Ette/Dieter Ingenschay/Günther Maihold (Hg.): Grenzen der Macht-Macht der Grenzen. Frankfurt a.M. 2005, S.135-180 und Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin 2005.

Siehe Edouard Glissant: Le Discours antillais. Paris 1997, 17, 435ff. und Edouard Glissant: Faulkner /Mississipi. Paris 1996.

Glissant in Dash: The Other America, S. 13.

Antonio Benítez-Rojo: La isla que se repite. Hanover 1989. Die englische Version: The Repeating Island. Durham 1992 und in einer zweiten erweiterten Auflage Durham 1996.

Benítez-Rojo: Repeating Island, S. 2.

Lezama Lima: Expresión Américana. La Habana 1957. Die amerikanische Ausdrucks- welt. Frankfurt a.M. 1992.

Fernando Ortiz: Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar. La Habana 1940. Tabak und Zucker. Ein kubanischer Disput. Frankfurt a.M. 1987.

Roberto Fernández Retamar: Calibán. Apuntes sobre la cultura en nuestra América. La Habana 1971.

Der Kontext, in dem Fernández Retamars Essay entsteht ist, die Debatte um den Dichter Heberto Padilla, der 1971 einem öffentlichen Prozess unterzogen wurde.

Caliban and Other Essays. Roberto Fernandez Retamar. Übersetzung von Edward Baker. Vorwort von Fredric Jameson. Minneapolis 1989. Caliban als Figur des Intellektuellen findet gerade in den theoretischen Überlegungen aus dem Kontext ethnischer Gruppen in den USA Aufnahme, so etwa in Hortense Spillers: Comparative American Identities. New York 1991 und José David Saldivar. The Dialectics of Our America. Durham 1991.

Ivan de la Nuez. La Balsa perpetua. Soledad y Conexiones de la Cultura Cubana. Barce- lona 1998, S. 23. Das ewige Floß. Kubanische Kulturpassagen. Frankfurt a.M. 2001.

Alejo Carpentier: Vorwort. In: Ders.: Das Reich von dieser Welt. Frankfurt a.M. 2004, S. 115-121, S. 121. El reino de este mundo. La Habana 1949. „Von Mackandal, dem Amerikaner, zeugte eine ganze Mythologie und magische Hymnen, die von einem ganzen Volk aufbewahrt und bei Wodu-Zeremonien noch immer gesungen werden. [...] Und das kommt daher, daß Amerika durch die Unberührtheit der Landschaft, durch die Kultur, das Seinsverständnis, das Faustische des Indianers und des Negers, durch die Offenbarung, die deren Entdeckung vor noch nicht allzulanger Zeit darstellte, und die fruchtbaren Mestizierungen, die sie zeitigte, weit davon entfernt ist, seinen Reichtum an My- thologien erschöpft zu haben.“

Alejo Carpentier: Vorwort, S. 120.

Zu den interamerikanischen Rezeptionen des magischen Realismus siehe Karsten Düs- dieker: Transkulturation und Textresistenz. Interamerikanische Exkurse zu Ceremony und Cien años de soledad. In: Hermann Herlinghaus/Utz Riese (Hrsg.): Heterotopien der Identität. Heidelberg 1999. S. 211-260.

Vgl. Vittoria Borsò: Mexiko jenseits der Einsamkeit - Versuch einer interkulturellen Analyse. Kritischer Rückblick auf die Diskurse des Magischen Realismus. Frankfurt a.M. 1994, S.14 und Diana Palaversich: De Macondo a McOndo. Senderos de la postmodernidad latinoamericana. Mexico 2005, S. 61-71. „Unser Land McOndo ist größer, überbevölkert und voller Verschmutzung, mit Autobahnen, U-Bahn, Kabelfernsehen und Elendsvierteln. In McOndo gibt es McDonalds, Mac Computer und Eigentumswohnungen … und gigantische Malls. [...] Hier gibt es keinen magischen Rea- lismus, hier gibt es virtuellen Realismus.”

Ebenda.

Alberto Fuguet, Sergio Gómez: McOndo. Barcelona 1996, S. 10. Die deutschen Überset- zungen im Folgenden sind, wenn nicht anders vermerkt, von der Verfasserin.

Vgl. Diana Palaversich: De Macondo a McOndo. Senderos der la postmodernidad latino- americana. Mexiko 2005, S. 16.

So gibt es keinen einzigen Text einer Autorin, der Eingang in die Anthologie gefunden hat.

Vgl. dazu Dieter Ingenschay. Hemisphärische Blicke auf literarische Aids-Diskurse. In: Peter Birle/Marianne Braig/Ottmar Ette/Dieter Ingenschay (Hrsg.) Hemisphärische Konstruk- tionen der Amerikas. Frankfurt a.M. 2006, S. 77-104. Ingenschay arbeitet für Lemebel eine postkoloniale Position heraus, insofern dieser eine eigene Poetik kreiert im kritischen Bezug auf hemisphärische Diskurse.

Gloria Anzaldúa/Cherríe Moraga (Hrsg.): This Bridge Called my Back. Writings by Radical Women of Color. New York 1983.

Cherríe Moraga: Art in América con Acento. In: Dies.: The Last Generation. Boston 1993, S. 52.

Ebenda, S. 62.

Andere Grenzräume, etwa im Río de la Plata-Raum zwischen Brasilien, Argentinien und Uruguay, werden im Zuge der veränderten Wahrnehmung ebenfalls zu Studienobjekten. „Die US-amerikanisch-mexikanische Grenze ist eine offene Wunde wo sich die Dritte Welt an der ersten reibt und blutet. Und bevor sich Schorf bildet, blutet sie wieder das Blut zweier Welten, das zu einem dritten Land verschmilzt – einer Grenzkultur. [...] Ein Grenzgebiet ist ein vager, unbestimmter Ort, der durch den emotionalen Nachlass einer unnatürlichen Grenze hervorgebracht wird. Es befindet sich in einem permanenten Übergangsstadium. Das Verbo- tene und Unerlaubte sind seine Bewohner. Los atravesados leben hier: die Schielenden, die Perversen ... jene, die [...] die Grenzen des ‚Normalen’ überschreiten.“

Anzaldúa: Borderlands, S. 3.

Siehe Gabriele Pisarz-Ramirez. MexAmerica. Genealogien und Analysen postnationaler Diskurse in der kulturellen Produktion von Chicanos/as. Heidelberg 2005. Pisarz-Ramirez nennt ihr Buch treffend MexAmerica nach dem Konzept des Journalisten Joel Garreau und diskutiert die in diesem Artikel behandelten Tendenzen aus der Perspektive der Nordamerika- studien.

Vgl. Pisarz-Ramirez: MexAmerica, S.1.

José David Saldívar führt in Border Matters (1997) das Konzept der transfrontera con- tactzone ein und bezieht sich dabei auf die kulturelle Praxis der Chicana/os, die Grenzkultur sowie auf Mary Louise Pratts Begriff der Kontaktzone. Die Vorläufermonographie The Dia- lectics of Our America (Durham 1991) befasst sich bereits mit den hemisphärischen Kon- struktionen Amerikas, den geographischen, politischen und kulturellen Verbindungen und einer pan-amerikanischen Identität. Dabei rekurriert er vor allem auf die spanischsprachigen Traditionen wie die mexikanisch-amerikanische und die kubanische.

La Luna siempre es un amor difícil ist zunächst auf Spanisch (Mexiko 1994) und dann in der englischen Übersetzung The Moon is a forever distant love (El Paso 1997) erschienen.

Siehe der Beitrag von Marianne Braig in diesem Band sowie Marianne Braig/Christian U. Baur: Mexikos Süden: Grenzüberschreitungen und die Schleusen hemisphärischer Sicher- heit. In: Grenzen der Macht, S.181-206.

Vgl. Pisarz-Ramirez: MexAmerica, S.331-340. “Norteamérica has grown back to its original size from Yucatán to Greenland from Michigan to Michoacán

Guillermo Gómez-Peña: The New World Border. San Francisco 1996, S. 7.

Vgl. Pisarz-Ramirez: MexAmerica, 364f.

Die Textversion der Performance von 1995 El Shame-man and El Mexican't Meet Cy- bervato at the Ethno-Cyberpunk Trading Post & Curio Shop on the Electronic Frontier ist veröffentlicht in Guillermo Gomez-Peña: The New World Border. San Francisco 1996, hier S. 105-106.

Alejandro Morales: Rag Doll Plagues. Houston 1992.

Während das erste Buch die koloniale Begegnung Spanien–Mexiko im 18. Jahrhundert zum Gegenstand hat, das zweite im Los Angeles der 1980er spielt, ist der dritte Teil in der sogenannten LAMEX Coastal Region of the Triple Alliance um das Jahr 2090 angesiedelt.

Heriberto Yépez: A.B.U.R.T.O. Mexiko D.F. 2005. „An diesem morgen war Mario, auf dem königlichen Sitz seiner Maschine, der Präsident des gesamten Schicksals der Grenze. ... [d]as ganze Volk, ALLE, haben sich versammelt, Mario weiß es, um die Mauer niederzureißen, die Städte zu überrollen, sie zu plündern, mit dem ein- zigen Ziel, hört gut zu, verdammte Gringos, ihr verfluchten Amerikaner! Mit dem einzigen Ziel, jeden Millimeter des Territoriums zurückzubekommen, das während der Invasion von 1847 geraubt wurde. Alle Marios Golems. Alle zornig gegen die nordamerikanische Maschi- nerie. Und all das war und geschah an diesem Morgen dank Mario, dem borderline-Arbeiter, dem Aleph der Wut der Ahnen, dem Naftamanen, dem Autodidakten des Quinto Sol (fünften Zeitalters), dem Trans-Quijote vierhundert Jahre später.“

Heriberto Yepez: A.B.U.R.T.O., S. 209-213

Zur Geschichte dieses Stereotyps siehe Félix Berúmen: Tijuana, la Horríble. Tijuana 2003.

Titel des berühmten Romans Miguel Angel Asturias’ (Buenos Aires 1949), der sich auf den Maya-Mythos der Erschaffung des Menschen aus Mais bezieht und die indigene Welt- sicht ins Zentrum stellt.

„Städte wie Tijuana helfen, Genet, Becket, Rulfo oder Kafka zu verstehen. Sie helfen dabei zu verstehen, was passiert ist. Ich sage ja nicht, dass Tijuana der Grund war, für das, was er [Mario] getan hatte. Es gibt keine Ursachen, Bruder. Aber es gibt Tijuanas. Das Wer- den hat keine Ursachen, denn diese werden von der Vernunft, dem ach so Klaren bestimmt. Und das, was in dieser Welt passiert, ist im Unterschied dazu einer Verwechslung des Inter- nen mit dem Externen geschuldet, einer Verwechslung dessen, was einige das Psychologische und dessen, was andere das Soziale nennen. [...] das Reale ist das Konfuse, das Konfuse real.“ (Yepez: A.B.U.R.T.O., S. 50)

Walter Mignolo: The Idea of Latin America. Malden/Oxford 2006.

Siehe dazu die Ausführungen von Ottmar Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Ver- such über die fraktale Inselwelt der Karibik. In: Marianne Braig/Ottmar Ette/Dieter Ingen- schay/Günther Maihold (Hrsg.): Grenzen der Macht-Macht der Grenzen. Frankfurt a.M. 2005, S.135-180.

Jana Evans Braziel: ‘C’est moi l’Amérique’. Canada, Haiti and Dany Laferrière’s Port- au-Prince/Montréal/Miami textual transmigrations of the hemisphere. In: Comparative Ame- rican Studies Bd. 3, H. 1 (2005), S. 29-46. Laferrière äußert sich in verschiedenen Zusam- menhängen zu der problematischen amerikanischen Identität. Vgl. Dany Laferrière: Je suis fatigué: essai. Outremont/Quebec 2001, S. 115-116.

Ette: Inseln, Grenzen, Vektoren, S. 153. Bild 1: Der bolivianische Staatspräsident Evo Morales wird von Aymara-Priestern gesegnet, Tiwanaku, 21.1.2006.

Siehe: http://abyayala,nativeweb.org/about.html (eingesehen am 2.5.2007) und Takir Mamani 1986, In: Alison Brysk: From Tribal Village to Global Village. Indian Rights and International Relations in Latin America. Stanford 2000, S.104.

Siehe: http://abyayala,nativeweb.org/about.html (eingesehen am 2.5.2007) und Takir Mamani 1986, In: Alison Brysk: From Tribal Village to Global Village. Indian Rights and International Relations in Latin America. Stanford 2000, S.104.

Luis A. Gómez: Recibe Evo Morales en Tiwanaku el mando de pueblos indígenas, In: La Jornada,22.1.2006, http://www.jornada.unam.mx/imprimir.php?fecha=200060122&nota=031n1mun.php&... (eingesehen am 7.5.2007). Morales schlug auch in seiner Rede eine Brücke zur Vergangen- heit. Er verkündete, dass: „ein neues Jahrtausend... der vorkolonialen Völker nicht nur Latein- amerikas, sondern der ganzen Welt beginne.“ http://www.nzz.ch/2006/01/23/al/articleDIGVC.html (eingesehen am 7.5.2007)

Erst seit dem 20. Jahrhundert verwenden die Nachkommen derjenigen, die erstmals von den europäischen Invasoren indios und indígenas genannt wurden, diese Bezeichnungen als Kampfbegriffe, um Forderungen nach einer Teilautonomie innerhalb der Nationalstaaten zu erheben und so die anhaltende, kolonial verwurzelte Diskriminierung zu überwinden. Die Übersetzung von indio mit Indianer und indígena mit Indigene/r ist grundsätzlich problema- tisch, weil der Gebrauch und die Bedeutungszuschreibung dieser Begriffe seitens der so Be- zeichneten, der sie so Bezeichnenden und der Wissenschaft differiert und zudem Moden un- terliegt. Als indianistisch werden die eigenständigen ideologischen Entwürfe indigener Akteure bezeichnet, die ethnische und kulturelle Dimensionen in den Vordergrund stellen. Siehe Andrew Canessa: Making the Nation on the Margins. In: Ders.: Natives Making Na- tion: Gender, Indigeneity, and the State in the Andes. Tucson 2005, S.24.

Den Begriff „geteilte Geschichte“ entlehne ich Sebastian Conrad/Shalini Randeria: Ge- teilte Geschichten Europa in einer postkolonialen Welt. In: dies. (Hrsg.): Jenseits des Euro- zentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frank- furt a.M. 2002, S.9-49.

Siehe Edmundo O’Gorman: The Invention of America: An Inquiry into the Historical Nature of the New World and the Meaning of its History. Bloomington 1961.

Ingrid Kummels: Indianer. In: Friedrich Jäger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit Bd.5. Stuttgart 2007, S.814-823.

Die Interpretation von Bildern, Musik und Tanz als Manifestationen und Aufzeich- nungsmedien von Kulturen, die miteinander einen – oft asymmetrischen – Dialog führen, be- darf einer spezifischen Methodik. Siehe William Rowe/Vivian Schelling: Memory and Mod- ernity. Popular Culture in Latin America. London 1991.

Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nationalism. London 1983, S.32-40.

Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapo- lis 1996, S.31,52.

Siehe auch Walter D. Mignolo: The Idea of Latin America. Malden 2005, S.2.

Barbara E. Mundy: Mesoamerican Cartography. In: David Woodward/Malcolm Lewis (Hrsg.): The History of Cartography, Bd. 2(3). Chicago 1998, S.183,185.

William Gustav Gartner: Mapmaking in the Central Andes. In: David Wood- ward/Malcolm Lewis (Hrsg.): The History of Cartography Bd. 2(3). Chicago 1998, S.257.

Ebenda, S.229-232.

Hinsichtlich der europäischen Kartographie jener Zeit folge ich Mignolos Argumentati- on. Siehe Mignolo: Idea, S.22-34.

Ferdinand Columbus: The Life of Admiral Christopher Columbus. Chapel Hill 1992, S.113.

Anthony Padgen: The Fall of Natural Man. The American Indian and the Origin of Comparative Ethnology. Cambridge 1987.

Besonders gründlich ging der Franziskaner Fray Diego de Landa vor, der 1562 zahllose Maya-Handschriften verbrennen ließ, so dass heute nur vier erhalten sind.

Dies betrifft die von Murúa verfasste „Historia del origen y genealogía real de los Reyes Incas del Perú“ von 1590; siehe Rolena Adorno: Guaman Poma and His Illustrated Chronicle from Colonial Peru. Kopenhagen 2001, S.25,31.

Siehe die Internetausgabe der Königlichen Bibliothek von Kopenhagen http://www.kb.dk/permalink/2006/poma/ (eingesehen am 23.6.2007) schaft münde. 23

Für eine entsprechende Interpretation siehe Gartner: Mapmaking, S.297.

Nathan Wachtel: Los vencidos: los indios del Perú frente a la conquista española (1530- 1579). Madrid 1976, S.246-263. Guaman Poma zog auch im Text eine Analogie zwischen der um Kastilien zentrierten Welt mit vier Kontinenten und dem um Cuzco organisierten, viertei- ligen Inka-Reich. Siehe auch das Bild Pontifical Mundo http://www.kb.dk/permalink/2006/poma/42/es/text/?open=id3085015 (eingesehen am 23.6.2007)

Silvia Spitta: Between Two Waters. Narratives of Transculturation in Latin America. Texas 1995, S.92.

Douglas Cope: The Limits of Racial Domination. Plebeian Society in Colonial Mexico City, 1660-1720, Madison 1995.

Adorno: Guaman Poma, S.28,31,35.

Steve Stern: Resistance, Rebellion, and Consciousness in the Andean Peasant World, 18 th to 20 th Centuries. Madison 1987.

Neue ethnohistorische Ansätze gehen hingegen auf die kulturellen Formen indigenen Widerstands in jener Zeit ein, so Brooke Larson: Trials of Nation Making: Liberalism, Race, and Ethnicity in the Andes, 1810-1910. Cambridge 2004.

Die als indios Klassifizierten identifizierten sich vielerorts erstmals als macehuales , ein ehemals aztekischer Ausdruck für Nicht-Adlige, und solidarisierten sich im Sinne einer sozia- len Klasse; siehe Ingrid Kummels: Land, Nahrung und Peyote. Soziale Identität von Rarámuri und Mestizen nahe der Grenze USA-Mexiko. Berlin 2006, S.149.

Indios an der Küste und im Hochland Westmexikos erhoben sich um 1800 und wollten einen Parallelstaat unter der Herrschaft von „El Indio Mariano“, ein angeblicher Nachfahre des Gouverneurs von Tlaxcala, errichten. Eric Van Young: The Other Rebellion. Popular Vio- lence, Ideology, and the Mexican Struggle for Independence, 1810-1821, Stanford 2001, S.452-494.

Juan Ossio: La imagen de la unidad social en las fiestas andinas. In: Antonio Garrido Aranda (Hrsg.): Pensar América. Cosmovisión mesoamericana y andina. Córdoba 1997, S.334.

Juliana Ströbele-Gregor: Indigene Völker und Gesellschaft in Lateinamerika: Herausfor- derungen an die Demokratie, In: Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit: Indigene Völ- ker in Lateinamerika und Entwicklungszusammenarbeit, 2004, S.20, FN 14.

Zu den modernen indigenen Bewegungen siehe Juliana Ströbele-Gregor (Hrsg.): Nuevas tendencias de los movimientos indígenas en los países andinos y Guatemala del nuevo milenio. In: Indiana 17/18 (2000/2001); Kay Warren/Jean Jackson (Hrsg.): Indigenous Movements, Self-Representation and the State in Latin America. Austin 2002; Erick D. Langer/Elena Muñoz: Contemporary Indigenous Movements in Latin America, Wilmington 2003; Brysk: Tribal Village.

Shane Greene: Getting over the Andes: The Geo-Eco-Politics of Indigenous Movements in Peru’s Twenty-First Century Inca Empire, In: Journal of Latin American Studies 38 (2005), S.327-354.

Ebenda, S.339f. ruhen sollte. 39

Béatrice Colligon: Inuit Place Names and Sense of Place. In: Pamela Stern/Lisa Steven- son (Hrsg.): Critical Inuit Studies. An Anthology of Contemporary Arctic Ethnography. Lin- coln 2006, S.187-205.

Ludger Müller-Wille: Geographische Namen und Souveränität. Kulturelle Behauptung der Inuit in Nunavik, Kanada. In: Peter Gerber (Hrsg.): 500 Jahre danach: zur heutigen Lage der indigenen Völker beider Amerika. Zürich 1993, S.37.

Ein solches Landkonzept erläuterte ein Vertreter des International Indian Treaty Council 1981 vor den Vereinten Nationen wie folgt: “The oneness of the earth has been shattered by artificial entities called ‘nations’ that separate people from each other – even people sharing a common history, culture and tradition. The oneness of the earth has been shattered within these nations by other artificial boundaries dividing the open land into segments of ‘private property’.” (Burger 1987, In: Brysk: Tribal Village, S.99).

Zur vergleichbaren Synthese verschiedener ideologischer Strömungen in der Rede von Häuptling Seattle siehe Peter Gerber: Der Indianer – ein homo oekologicus? In: Fritz Stolz (Hrsg.): Religiöse Wahrnehmung der Welt. Zürich 1993, S.221-244.

Siehe die Website der Indigenenvertretungen, die an den kontinentalen Gipfeltreffen teilnehmen: http://www.cumbrecontinentalindigena.org/nahaucalli06_en.php (eingesehen am 4.5.2007). Abya Yala ist der Namensgeber von einer Reihe von Organisationen, die sich mit indigenen Belangen befassen, so von einem Verlag, einer Zeitung, einer gemeinnützigen Stif- tung und einer Website.

Mamani soll den Begriff im Sommer 1977 von Autoritäten der Kuna Panamas – die er- folgreich um territoriale Autonomie gekämpft hatten – übernommen haben. Letztere erklär- ten: „Der wahre Name unseres Kontinents ist Abya Yala. Das ist in der Kuna-Sprache, aber jedes Volk hatte in seiner Sprache dafür einen eigenen Begriff.“ (Übersetzung I.K.) Siehe: http://www.panamaprofundo.org/boletin/pueblosindigenas/porque_abya_yala.htm (einge- sehen am 4.7.2007). Zum Katarismus siehe Juliana Ströbele-Gregor: Vom indio zum mesti- zo... zum indio, In: Dirmoser, Dietmar et al. (Hrsg.): Lateinamerika. Analysen und Berichte Bd. 16. Münster 1993, S.95-112; Andrew Canessa: Contesting Hybridity: Evangelistas and Kataristas in Highland Bolivia. In: Latin American Studies 32, (2000), S.115-144.

Canessa dekonstruiert die Interpretation, Tiwanaku sei eine „präkoloniale Hauptstadt der Aymara“, und weist auf deren frühere multikulturelle Zusammensetzung hin, siehe Canessa: Evangelistas and Kataristas, S.120, Fußnote 28. gung. 47

Zur Komplexität des Aymara-Begriffes Pachamama , der oft verkürzt als „Erdgöttin“ übersetzt wird, der aber auch auf die Raum- und Zeitverknüpfung des Kosmos Bezug nimmt, siehe Xavier Albó: La Gente de las Alturas. 16.9.2006 In: http://www.mail- archive.com/aymaralist@yahoogrups.com/msg03587.html (eingesehen am 16.7.2007)

Appadurai: Modernity, S.35.

Der Gedenktag wurde 1984 als „Begegnung zweier Welten“ neu definiert, siehe Walther Bernecker: Rauchender Spiegel. Das Jubiläum der „Entdeckung“ Amerikas im Widerstreit der Meinungen. In: Wolfgang Reinhard et al. (Hrsg.): Nord und Süd in Amerika. Gemein- samkeiten, Gegensätze, europäischer Hintergrund. Freiburg 1992, S.1303.

Bernecker: Spiegel, S.1310.

Ebenda, S.1309; Philip Wearne: Return of the Indian. Conquest and Revival in the Americas, Pittsburgh 1996, S.187, Bild.

Erwin Frank: Geschichte und Utopie: Die indianistische Bewegung in Ekuador. In: Dietmar Dirmoser et al. (Hrsg.): Lateinamerika. Analysen und Berichte Bd. 16. Münster 1993, S.48-65; Leon Zamosc: Agrarian Protest and the Indian Movement in the Ecuadorian Highlands, In: Erick D. Langer/Elena Muñoz: Indigenous Movements, S.37-63.

In Brysk: Tribal Village, S.73.

Wearne: Return, S.187.

Frank: Utopie, S.48.

Zum innovativen Charakter des Aymara-Neujahrsfestes, siehe Xavier Albó: La Gente. weitergegeben. 59

Marc Becker: Continental Summit of Indigenous Peoples Meets in Guatemala. 4.5.2007. In: http://upsidedownworld.org/main/index2.php?option=com_content&task=view&id=6... (eingesehen am 4.5.2007)

Bustos: Comunicación, S.2,14.

Siehe Brysk: Tribal Village, S.35.

Sirena Pellarolo: La Otra Campaña Transfronteriza: De-nationalizing Trans-border Grassroots Organizing. 25.2.2007 http://www.inmotionmagazine.com/auto/sp_trans.html>(eingesehen am 4.5.2007)

Siehe http://www.narconews.com/Issue45/articulo2637.html (eingesehen am 4.5.2007) 64 Carol Nagengast/Michael Kearney: Mixtec Ethnicity: Social Identity, Political Con- sciousness, and Political Activism. In: Latin American Research Review 25(2), (1990), S.61- 91.

Anáhuac González: Los concheros. La reconquista de México. In: Jesús Jauregui/Carlo Bonfiglioli: Las danzas de la conquista I. Mexiko-Stadt 1996, S.207-227.

Zu verschiedenen Aztlán-Konzepten in der Chicana/o-Literatur siehe Dieter Ingenschay: Pepsicoatl, Nation of Aztlán and New World Border. Problematisierung, Hybridisierung und Überwindung der mexicanidad im Lichte der Kultur der chican@s. In: Marianne Braig et al.: Grenzen der Macht – Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext. Berlin 2005, S.77-101.

http://www.cuauhtemoc.org/ (eingesehen am 25.6.2007)

Spitta: Two Waters, S.102.