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: PHILOSOPHINNEN DES 20. JAHRHUNDERTS

PHILOSOPHINNEN DES 20. JAHRHUNDERTS

Inhalt

EINLEITUNG Von nicht-notwendigen Wirklichkeiten: Denkerinnen der Kontingenz

Von Regine Munz

1. Denkende Frauen und andere Wirklichkeiten

Angesichts der „Männerlastigkeit“ vieler philosophiegeschichtlich an-gelegten Darstellungen, einschließlich derjenigen des 20.Jahrhunderts, er-scheint es vorderhand notwendig, der Unzulänglichkeit jener dergestaltunvollständigen Philosophiegeschichten und Lexika dadurch entgegen-zuwirken, dass die Philosophinnen des 20. Jahrhunderts in einer ent-sprechenden Publikation eigens gewürdigt werden. Die im Sinne diesesverdienstvollen Projektes bislang erschienenen Sammelbände zu Philoso-phinnen leiden dabei unter der Beliebigkeit der Auswahl der zusam-mengeführten Denkerinnen. Denn die Tatsache, dass einige Philosophin-nen zufällig weiblichen Geschlechts waren und zu einem bestimmten Zeit-punkt gelebt haben, ist heute kein hinreichender Grund mehr dafür, sie ineinem entsprechenden Sammelband zusammenzuführen. Diese Arbeitwurde bereits erfolgreich geleistet.2Fraglich bleibt aber, wie in einer losenZusammenstellung des Denkens von mehr oder weniger berühmten

Frauen deren gegenseitigen Beeinflussungen, Absetzungen und gedank-lichen Anschlüsse zur Darstellung gebracht werden können, um im An-schluss daran den spezifischen Beitrag der Frauen zur Philosophiege-schichte eigens würdigen zu können. Deswegen lag es für mich nahe, die-sem Sammelband einen spezifischen Leitgedanken zugrunde zu legen.

Der Ausgangs- und Bezugspunkt des hier dokumentierten Nachdenkensvon Frauen ist einfach und grundlegend: So ist nachgerade das Faktum der

Kontingenz des Geschlechtes der jeweiligen Philosophin, welches sie alsmöglichen Gegenstand eines Textbandes wie „Denkerinnen des 20.Jahr-hunderts“ prädisponiert, ein Hinweis auf den gemeinsamen Zielpunkt des

Denkens von Frauen und des philosophischen Denkens der Moderne ins-gesamt. Bekanntlich machte sich die Moderne auf, Kontingenzen vonscheinbar festgefügten, vorgegebenen, allumfassenden, theoretischen,kirchlichen und sozialen Ordnungssystemen zu entlarven und sie als einevon vielen möglichen Ordnungen zu begreifen. Selbst das postcartesiani-sche Projekt, welches das erkennende Subjekt als einzig sicheren Punktzum Ausgangspunkt der Wissensorganisation bestimmt, gerät unter den

Verdacht, historisch zufällige Fakten fälschlicherweise zu notwendigen

Wirklichkeiten hochstilisiert zu haben. Die Denker und Denkerinnen des

20.Jahrhunderts haben diesen Ansatz radikal weitergedacht und im Hin-blick auf die Ordnung der Sprache, auf das erkennende Subjekt und aufscheinbar abgesicherte Erkenntnisse kritisch weitergeführt. So kann einebestimmte Form des Nachdenkens über Kontingenz als Signum der Mo-derne gelten, weil sie nicht allein die Zufälligkeit von Mensch, Welt undderen Ordnung, sondern gerade die Zufälligkeit der sprachlichen undsymbolischen Ordnung, die Zufälligkeit des historischen (Erkenntnis-)

Subjektes und des Gemeinwesens sowie die Zufälligkeit jeglicher spezi-fischer Form von Wissensorganisation und Kontingenzbewältigungsstrate-gie in den Blick nimmt. „Kontingent“ ist demnach das, was anders möglichist, und weist auf die Möglichkeit und Vielfalt anderer Möglichkeiten hin.Über die Pluralität der denkerischen, existentiellen und politischen Wirk-lichkeiten und der sie erfassenden Erkenntniswege und Symbolsystemehaben in besonderer Weise sowohl „traditionelle Philosophinnen“ wieSusanne Langer, Edith Stein und Hannah Arendt als auch feministischeTheoretikerinnen wie Simone de Beauvoir, Luce Irigaray und Judith But-ler auf prominente und eigenständige Weise nachgedacht. Zentrale Mo-mente des hier vorgestellten Kontingenzdenkens sind daher, wie ichmeine, Denken von Pluralität, Denken als Rationalitätskritik und Denkenaus der Situation der Kontingenz.

Über die Pluralität der möglichen Denk- und Sprachordnungen, dieVielschichtigkeit menschlicher Symbolsysteme hinaus beleuchten Philoso-phinnen wie Susanne K. Langer, Edith Stein, Hannah Arendt und feminis-tische Theoretikerinnen die existential verhaftete und politische Bedingt-heit von Freiheit und kritisieren all jene Ordnungen, die sich als notwen-dig, ahistorisch und allumfassend verstehen: Die amerikanische Logikerinund Symboltheoretikerin Susanne K. Langer hat in ihren logischen undanthropologischen Studien eine nonsubstantielle Ontologie entwickeltund damit auf die Konstruiertheit der Wirklichkeit hingewiesen. DieserKontingenzgedanke Langers greift über auf die Auffassung von der natur-haften Kontingenz des Menschen, auf die Darstellung des kontingenten,d. i. konstruktiven Elementes der menschlichen Erkenntniswege und aufdie Behauptung der Pluralität und Kontingenz menschlicher Symbolsyste-me. Es gibt für Langer eine Fülle von Zeichenprozessen, wie alltagssprach-liche und metaphorische Formulierungen, Rituale, magische Praktiken,Zeremonien, Mythen und Künste. Zudem kann aus Langers theoretischerPerspektive der Konnex zwischen Zeichen und Bezeichnetem nur als einkontingenter, d. i. konventioneller begriffen werden. Mehr noch: Für Lan-ger ist der Symbolisierungsvorgang nicht nur anders vorstellbar, sonderner ist auch umkehrbar zu denken, da Symbol und symbolisierter Gegen-stand ontologisch indifferent sind. Auf den Spuren der phänomenologi-schen Forschung hat die Theoretikerin Edith Stein am Grenzbereich vonPhänomenologie und Ontologie versucht, eine phänomenologische Be-schreibung des Kontingenten zu entwickeln. Sie bricht den aristotelisch-thomistischen Ansatz existentiell und versucht, mit dem Existenzdenkenund der Personenlehre die Kontingenz des Ich und der Wirklichkeit derWelt zu beschreiben. Hannah Arendt hat in ihren politischen Studien kon-sequent die Verbindung zwischen Kontingenz und Freiheit behauptet undauch deren Kehrseite, die Willkür, untersucht, um so die prägenden Kon-tingenzerfahrungen der Moderne – die Revolutionen, die beiden Weltkrie-ge und die Shoa – theoretisch nachvollziehen zu können.

Zusammenstellung des Denkens von mehr oder weniger berühmten

Frauen deren gegenseitigen Beeinflussungen, Absetzungen und gedank-lichen Anschlüsse zur Darstellung gebracht werden können, um im An-schluss daran den spezifischen Beitrag der Frauen zur Philosophiege-schichte eigens würdigen zu können. Deswegen lag es für mich nahe, die-sem Sammelband einen spezifischen Leitgedanken zugrunde zu legen.

Der Ausgangs- und Bezugspunkt des hier dokumentierten Nachdenkensvon Frauen ist einfach und grundlegend: So ist nachgerade das Faktum der

Kontingenz des Geschlechtes der jeweiligen Philosophin, welches sie alsmöglichen Gegenstand eines Textbandes wie „Denkerinnen des 20.Jahr-hunderts“ prädisponiert, ein Hinweis auf den gemeinsamen Zielpunkt des

Denkens von Frauen und des philosophischen Denkens der Moderne ins-gesamt. Bekanntlich machte sich die Moderne auf, Kontingenzen vonscheinbar festgefügten, vorgegebenen, allumfassenden, theoretischen,kirchlichen und sozialen Ordnungssystemen zu entlarven und sie als einevon vielen möglichen Ordnungen zu begreifen. Selbst das postcartesiani-sche Projekt, welches das erkennende Subjekt als einzig sicheren Punktzum Ausgangspunkt der Wissensorganisation bestimmt, gerät unter den

Verdacht, historisch zufällige Fakten fälschlicherweise zu notwendigen

Wirklichkeiten hochstilisiert zu haben. Die Denker und Denkerinnen des

20.Jahrhunderts haben diesen Ansatz radikal weitergedacht und im Hin-blick auf die Ordnung der Sprache, auf das erkennende Subjekt und aufscheinbar abgesicherte Erkenntnisse kritisch weitergeführt. So kann einebestimmte Form des Nachdenkens über Kontingenz als Signum der Mo-derne gelten, weil sie nicht allein die Zufälligkeit von Mensch, Welt undderen Ordnung, sondern gerade die Zufälligkeit der sprachlichen undsymbolischen Ordnung, die Zufälligkeit des historischen (Erkenntnis-)

Subjektes und des Gemeinwesens sowie die Zufälligkeit jeglicher spezi-fischer Form von Wissensorganisation und Kontingenzbewältigungsstrate-gie in den Blick nimmt. „Kontingent“ ist demnach das, was anders möglichist, und weist auf die Möglichkeit und Vielfalt anderer Möglichkeiten hin.Über die Pluralität der denkerischen, existentiellen und politischen Wirk-lichkeiten und der sie erfassenden Erkenntniswege und Symbolsystemehaben in besonderer Weise sowohl „traditionelle Philosophinnen“ wieSusanne Langer, Edith Stein und Hannah Arendt als auch feministischeTheoretikerinnen wie Simone de Beauvoir, Luce Irigaray und Judith But-ler auf prominente und eigenständige Weise nachgedacht. Zentrale Mo-mente des hier vorgestellten Kontingenzdenkens sind daher, wie ichmeine, Denken von Pluralität, Denken als Rationalitätskritik und Denkenaus der Situation der Kontingenz.

Über die Pluralität der möglichen Denk- und Sprachordnungen, dieVielschichtigkeit menschlicher Symbolsysteme hinaus beleuchten Philoso-phinnen wie Susanne K. Langer, Edith Stein, Hannah Arendt und feminis-tische Theoretikerinnen die existential verhaftete und politische Bedingt-heit von Freiheit und kritisieren all jene Ordnungen, die sich als notwen-dig, ahistorisch und allumfassend verstehen: Die amerikanische Logikerinund Symboltheoretikerin Susanne K. Langer hat in ihren logischen undanthropologischen Studien eine nonsubstantielle Ontologie entwickeltund damit auf die Konstruiertheit der Wirklichkeit hingewiesen. DieserKontingenzgedanke Langers greift über auf die Auffassung von der natur-haften Kontingenz des Menschen, auf die Darstellung des kontingenten,d. i. konstruktiven Elementes der menschlichen Erkenntniswege und aufdie Behauptung der Pluralität und Kontingenz menschlicher Symbolsyste-me. Es gibt für Langer eine Fülle von Zeichenprozessen, wie alltagssprach-liche und metaphorische Formulierungen, Rituale, magische Praktiken,Zeremonien, Mythen und Künste. Zudem kann aus Langers theoretischerPerspektive der Konnex zwischen Zeichen und Bezeichnetem nur als einkontingenter, d. i. konventioneller begriffen werden. Mehr noch: Für Lan-ger ist der Symbolisierungsvorgang nicht nur anders vorstellbar, sonderner ist auch umkehrbar zu denken, da Symbol und symbolisierter Gegen-stand ontologisch indifferent sind. Auf den Spuren der phänomenologi-schen Forschung hat die Theoretikerin Edith Stein am Grenzbereich vonPhänomenologie und Ontologie versucht, eine phänomenologische Be-schreibung des Kontingenten zu entwickeln. Sie bricht den aristotelisch-thomistischen Ansatz existentiell und versucht, mit dem Existenzdenkenund der Personenlehre die Kontingenz des Ich und der Wirklichkeit derWelt zu beschreiben. Hannah Arendt hat in ihren politischen Studien kon-sequent die Verbindung zwischen Kontingenz und Freiheit behauptet undauch deren Kehrseite, die Willkür, untersucht, um so die prägenden Kon-tingenzerfahrungen der Moderne – die Revolutionen, die beiden Weltkrie-ge und die Shoa – theoretisch nachvollziehen zu können.

Mit dem Stichwort „Kontingenz“ ist darüber hinaus ein wichtiger An-satz feministischer Kritik an traditionellen Formen von Wissensorganisa-tion, an der soziopolitischen Situation von Frauen sowie an einer sprach-lichen und symbolischen Ordnung, welche sich historisch kontingent aneiner bestimmten Form von zumeist männlicher Perspektive orientiert,bezeichnet. Simone de Beauvoir hat den Zweifel an der Generalisierungperspektivisch begrenzter Wirklichkeitskonstrukte Ende der vierzigerJahre des vergangenen Jahrhunderts als Angriff auf die Mythen über dieWeiblichkeit formuliert. Die „trügerischen Erzählungen“ über das, wasdas Weibliche sei, verkünden das Vorhandensein ewiger, unwandelbarer,nicht-zufälliger Ideen. Im Widerspruch zu den verstreuten, kontingenten,vielfältigen Existenzweisen von Frauen beharre das mythische Denkenauf das einmalige und starre Ewigweibliche. Gerade die konkrete, kontin-gente Situation der Frauen werde vom Mythos beharrlich ausgeblendet.Wenn der Mythos „durch das Verhalten der Frauen aus Fleisch und Blutwiderlegt wird, sind sie es, die unrecht haben: man erklärt nicht, dass dasWeibliche eine Entität ist, sondern dass die Frauen nicht weiblich sind“3.Die konkrete Situation der Frau ist demnach radikal kontingent, sie wirdvon der Gesellschaft formiert und gestaltet oder aber – und besser noch –sie ist Effekt der freien Wahl einer Frau, die sich und ihre Möglichkeitenselbst wählt. Anders als Beauvoir nimmt Judith Butler den Einbruch desKontingenten nicht als Ausgangpunkt freier Wahl und transzendierendenSelbstentwurfs von Frauen, sondern als privilegierten Ort der Kritik. Siesetzt sich mit den Bedingungen der Subjektivierung von Individuen ausei-nander und initiiert das Projekt einer innerfeministischen, permanentenKritik, welches nach den Grenzen der Prämissen des feministischen Dis-kurses fragt. Feministische Wissenschaftstheoretikerinnen beziehen ihr kri-tisches Potenzial aus dem Verdacht, dass die Behauptung der Nicht-Kon-tingenz von Forschungsergebnissen – d.h. die Auffassung, dass wissen-schaftliche Theorien inhaltlich nicht kontingent sind – mit dem historischkontingenten Ausschluss von Frauen aus der Position des Forschungssub-jektes unvereinbar sind. So geht Lynn Hankinson Nelsons interner wissen-schaftstheoretischer Ansatz davon aus, dass „Geschlecht“ eine relevanteVariable des Theoriebildungsprozesses ist. Darüber hinaus weist Hankin-son Nelson die Kontingenz von Theorien nach, die sie als unabgeschlossen,instabil und anders, d. i. alternativ denkbar versteht. Sandra Hardings wis-senssoziologischer Ansatz wiederum beschäftigt sich weniger mit den ver-schiedenen Theoriegebäuden selbst, sondern mehr mit dem Umfeld, in demsich diese Theorien entwickeln. Harding begreift Wissenschaften als kon-tingente soziale Phänomene. Die bewusste und kritische Berücksichtigungdes gesellschaftlichen Standpunktes der Forschungssubjekte in Wechselwir-kung mit den Forschungsobjekten sowie den Forschungsresultaten kommtzum Ergebnis, dass wissenschaftliche Theorien kontingent sind. Hardingskritischer Blick macht jedoch nicht Halt vor dem eigenen feministischenStandpunkt, der selbst als historisch kontingent reflektiert wird.

Endlich benennt die Vokabel „Kontingenz“ nicht allein einen implizitenoder expliziten Zielpunkt des Denkens von Frauen des 20.Jahrhunderts,sondern kennzeichnet als existentielle Kategorie die von Abbrüchen, Ab-hängigkeiten, Zufällen und lebenspraktischen Hindernissen geprägte Le-benssituation, in der Frauen lange Zeit schreibend nachgedacht, philoso-phisch gearbeitet und gelehrt haben; sie weist hin auf die Brüchigkeit ihresjeweiligen Lebensentwurfes: Die Inkommensurabilität der denkerischenExistenz der vorgestellten Philosophinnen war vielmals geprägt von exis-tentiellen Augenblicken, in denen ihnen überraschend, einbrechend, be-stürzend das Kontingente begegnete und ihr weiteres Denken bestimmte.Denn Kontingenz ist, wie Hans-Christoph Askani im Anschluss an dasDenken Franz Rosenzweigs formuliert, nicht nur in Bezug auf das Den-ken, sondern auch in Bezug auf die Lebensgeschichte „[d]as Ganze ausden Angeln gehoben […], das Einzelne, das sich sperrt, das sich sträubt,das hereinplatzt“4. Die Denkerinnen mussten sich zu vielfältigen und le-bensbestimmenden, beglückenden, verstörenden, überraschenden, kurz:kontingenten Gegebenheiten in ein Verhältnis setzen. Aus der freudigenAkzeptanz, den radikalen Verwerfungen oder der konsequenten Ignorie-rung der vielfältigen Verstrickungen und den unkontrollierbaren Zufällenin der Lebenszeit heraus artikuliert sich das Denken der Philosophinnendes 20.Jahrhunderts. Oder anders, im Hinblick auf die kontingente Exis-tenz formuliert: Kontingent ist die (Nicht-)Übereinstimmung zwischenemotionalen und intellektuellen Teilen in der Identität, den existentiellenGegebenheiten und den intellektuellen Setzungen und Ausstoßbewegun-gen, wie es Maja Wicki-Vogts Beitrag zu Simone Weil auf eindrücklicheWeise vorführt.5

Die Philosophinnen des 20. Jahrhunderts haben sich oftmals selbst alsGrenzgängerinnen erlebt. Wenige der denkenden Frauen, die zu Beginndes letzten Jahrhunderts lebten und forschten, haben sich als Philosophin-

Mit dem Stichwort „Kontingenz“ ist darüber hinaus ein wichtiger An-satz feministischer Kritik an traditionellen Formen von Wissensorganisa-tion, an der soziopolitischen Situation von Frauen sowie an einer sprach-lichen und symbolischen Ordnung, welche sich historisch kontingent aneiner bestimmten Form von zumeist männlicher Perspektive orientiert,bezeichnet. Simone de Beauvoir hat den Zweifel an der Generalisierungperspektivisch begrenzter Wirklichkeitskonstrukte Ende der vierzigerJahre des vergangenen Jahrhunderts als Angriff auf die Mythen über dieWeiblichkeit formuliert. Die „trügerischen Erzählungen“ über das, wasdas Weibliche sei, verkünden das Vorhandensein ewiger, unwandelbarer,nicht-zufälliger Ideen. Im Widerspruch zu den verstreuten, kontingenten,vielfältigen Existenzweisen von Frauen beharre das mythische Denkenauf das einmalige und starre Ewigweibliche. Gerade die konkrete, kontin-gente Situation der Frauen werde vom Mythos beharrlich ausgeblendet.Wenn der Mythos „durch das Verhalten der Frauen aus Fleisch und Blutwiderlegt wird, sind sie es, die unrecht haben: man erklärt nicht, dass dasWeibliche eine Entität ist, sondern dass die Frauen nicht weiblich sind“3.Die konkrete Situation der Frau ist demnach radikal kontingent, sie wirdvon der Gesellschaft formiert und gestaltet oder aber – und besser noch –sie ist Effekt der freien Wahl einer Frau, die sich und ihre Möglichkeitenselbst wählt. Anders als Beauvoir nimmt Judith Butler den Einbruch desKontingenten nicht als Ausgangpunkt freier Wahl und transzendierendenSelbstentwurfs von Frauen, sondern als privilegierten Ort der Kritik. Siesetzt sich mit den Bedingungen der Subjektivierung von Individuen ausei-nander und initiiert das Projekt einer innerfeministischen, permanentenKritik, welches nach den Grenzen der Prämissen des feministischen Dis-kurses fragt. Feministische Wissenschaftstheoretikerinnen beziehen ihr kri-tisches Potenzial aus dem Verdacht, dass die Behauptung der Nicht-Kon-tingenz von Forschungsergebnissen – d.h. die Auffassung, dass wissen-schaftliche Theorien inhaltlich nicht kontingent sind – mit dem historischkontingenten Ausschluss von Frauen aus der Position des Forschungssub-jektes unvereinbar sind. So geht Lynn Hankinson Nelsons interner wissen-schaftstheoretischer Ansatz davon aus, dass „Geschlecht“ eine relevanteVariable des Theoriebildungsprozesses ist. Darüber hinaus weist Hankin-son Nelson die Kontingenz von Theorien nach, die sie als unabgeschlossen,instabil und anders, d. i. alternativ denkbar versteht. Sandra Hardings wis-senssoziologischer Ansatz wiederum beschäftigt sich weniger mit den ver-schiedenen Theoriegebäuden selbst, sondern mehr mit dem Umfeld, in demsich diese Theorien entwickeln. Harding begreift Wissenschaften als kon-tingente soziale Phänomene. Die bewusste und kritische Berücksichtigungdes gesellschaftlichen Standpunktes der Forschungssubjekte in Wechselwir-kung mit den Forschungsobjekten sowie den Forschungsresultaten kommtzum Ergebnis, dass wissenschaftliche Theorien kontingent sind. Hardingskritischer Blick macht jedoch nicht Halt vor dem eigenen feministischenStandpunkt, der selbst als historisch kontingent reflektiert wird.

Endlich benennt die Vokabel „Kontingenz“ nicht allein einen implizitenoder expliziten Zielpunkt des Denkens von Frauen des 20.Jahrhunderts,sondern kennzeichnet als existentielle Kategorie die von Abbrüchen, Ab-hängigkeiten, Zufällen und lebenspraktischen Hindernissen geprägte Le-benssituation, in der Frauen lange Zeit schreibend nachgedacht, philoso-phisch gearbeitet und gelehrt haben; sie weist hin auf die Brüchigkeit ihresjeweiligen Lebensentwurfes: Die Inkommensurabilität der denkerischenExistenz der vorgestellten Philosophinnen war vielmals geprägt von exis-tentiellen Augenblicken, in denen ihnen überraschend, einbrechend, be-stürzend das Kontingente begegnete und ihr weiteres Denken bestimmte.Denn Kontingenz ist, wie Hans-Christoph Askani im Anschluss an dasDenken Franz Rosenzweigs formuliert, nicht nur in Bezug auf das Den-ken, sondern auch in Bezug auf die Lebensgeschichte „[d]as Ganze ausden Angeln gehoben […], das Einzelne, das sich sperrt, das sich sträubt,das hereinplatzt“4. Die Denkerinnen mussten sich zu vielfältigen und le-bensbestimmenden, beglückenden, verstörenden, überraschenden, kurz:kontingenten Gegebenheiten in ein Verhältnis setzen. Aus der freudigenAkzeptanz, den radikalen Verwerfungen oder der konsequenten Ignorie-rung der vielfältigen Verstrickungen und den unkontrollierbaren Zufällenin der Lebenszeit heraus artikuliert sich das Denken der Philosophinnendes 20.Jahrhunderts. Oder anders, im Hinblick auf die kontingente Exis-tenz formuliert: Kontingent ist die (Nicht-)Übereinstimmung zwischenemotionalen und intellektuellen Teilen in der Identität, den existentiellenGegebenheiten und den intellektuellen Setzungen und Ausstoßbewegun-gen, wie es Maja Wicki-Vogts Beitrag zu Simone Weil auf eindrücklicheWeise vorführt.5

Die Philosophinnen des 20. Jahrhunderts haben sich oftmals selbst alsGrenzgängerinnen erlebt. Wenige der denkenden Frauen, die zu Beginndes letzten Jahrhunderts lebten und forschten, haben sich als Philosophin-nen verstanden und selbst so bezeichnet. Iris Murdoch und Simone deBeauvoir bewegten sich auf der Schnittstelle zwischen Schriftstellerin undPhilosophin, Künstlerin und Intellektuelle. Hannah Arendt und SimoneWeil arbeiteten auf der Grenze zwischen politischem Engagement undphilosophischer Existenz. Die fehlende Gradlinigkeit im Absolvieren desakademischen Werdegangs der Philosophinnen geschah meines Erachtensnicht ganz freiwillig und auch nicht ganz zufällig: Bis in die Mitte des20.Jahrhunderts hinein reichten die institutionellen Schranken, welche dietraditionelle wissenschaftliche Laufbahn für Frauen erschwerten, wennnicht gar unmöglich machten. Auf die hartnäckigen Versuche der Philoso-phin Edith Stein sich zu habilitieren und ihre Beschwerde beim Preußi-schen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung ist es zurückzu-führen, dass 1920 die Habilitation für Frauen in Deutschland zugelassenwurde.6Danach war es die sehr kurze Zeitspanne von dreizehn Jahren, inder Wissenschaftlerinnen in Deutschland unabhängig von ihrer Herkunftdie Möglichkeit hatten, akademische Positionen zu erlangen. Edith Steinselbst konnte keine Laufbahn als Wissenschaftlerin ergreifen. Philosophin-nen wie Susanne Langer wurde trotz ausreichender wissenschaftlicherQualifikation der Zugang zu Lehrstühlen erschwert. Nach vielen Jahrenakademischer Lehr- und Forschungstätigkeit und zahlreichen wissen-schaftlichen Publikationen erhielt sie erst im Alter von 59 Jahren eine Pro-fessur. Im Zuge der neuen Frauenbewegung sind aber besonders in derangelsächsischen Welt Lehrstühle für Frauen keine Seltenheit mehr: SeylaBenhabib, Agnes Heller, Judith Butler und Luce Irigaray lehren in Har-vard, New York, Berkeley und Rotterdam. Andere wichtige Vordenkerin-nen feministischer Theoriebildung wie etwa Sandra Harding sind lediglichals Gastprofessorinnen angestellt. Doch nicht nur die Situation an denUniversitäten erwies sich als bestimmend für die denkerische Existenz derPhilosophinnen des 20. Jahrhunderts. Es waren die beiden Weltkriege,deren katastrophale Wucht sich in Europa entlud, sowie die Shoa, der Ein-bruch der absoluten Kontingenz und des organisierten Verbrechens, derdas Leben der älteren Generation der hier vorgestellten Philosophinnendirekt und das der jüngeren indirekt beeinflusste: Edith Stein wurde auf-grund ihrer jüdischen Herkunft eine Lehrtätigkeit untersagt, aus einemholländischen Karmelitinnenkloster wurde sie von der Gestapo ver-schleppt und im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet. Ob-schon sie in einem gespaltenen Verhältnis zu ihren jüdischen Wurzelnstand, kehrte Simone Weil trotz erfolgreicher Emigration in die USA nachEuropa zurück und hungerte sich aus Solidarität mit den Opfern des na-tionalsozialistischen Regimes und des Krieges zu Tode. Hannah ArendtsLeben war von der Emigration und der theoretischen Auseinandersetzungmit dem Totalitarismus geprägt. Simone de Beauvoirs Selbstverständnisals politische Intellektuelle, die sich für gesellschaftliche Belange einsetzte,war eine Konsequenz ihres Widerstandes gegen die Vichy-Regierung undgegen Nazi-Deutschland. Agnes Hellers Vater fiel 1944 in Auschwitz demNazi-Terror zum Opfer. Iris Murdoch wurde mit dem Krieg bei ihrer Ar-beit mit Flüchtlingen und durch ihre Freundschaft mit Überlebenden desTerrors konfrontiert.

Die Denkerinnen integrierten und reflektierten die Widersprüche undAntagonismen, die produktiven und zerstörerischen Momente, und dieextreme Vielfältigkeit der politischen und kulturellen Ausgangspunkte, diesie und ihre Epoche geprägt haben. Denn die Erkenntnis, dass nicht alleFrauen die gleiche Geschichte und denkerischen Voraussetzungen haben,spitzt sich für das „Zeitalter der Extreme“7noch einmal radikal zu. „Das20. Jahrhundert erweist sich […] als ein Zeitalter, für das die Frage nachKontinuität, Wandel und Brüchen, nach Innovation und Tradition nichtauf einfache Weise beantwortet werden kann. Vielmehr ist es ein Jahrhun-dert dramatischer Widersprüche: zwischen Tradition und Innovation, zwi-schen zukunftsträchtigen Innovationen […] und der Novität bisher unge-kannter Katastrophen, zwischen Krieg und Frieden, Diktatur und Demo-kratie, zwischen Selbstbestimmung, Morden und Ermordet-Werden.“8nen verstanden und selbst so bezeichnet. Iris Murdoch und Simone deBeauvoir bewegten sich auf der Schnittstelle zwischen Schriftstellerin undPhilosophin, Künstlerin und Intellektuelle. Hannah Arendt und SimoneWeil arbeiteten auf der Grenze zwischen politischem Engagement undphilosophischer Existenz. Die fehlende Gradlinigkeit im Absolvieren desakademischen Werdegangs der Philosophinnen geschah meines Erachtensnicht ganz freiwillig und auch nicht ganz zufällig: Bis in die Mitte des20.Jahrhunderts hinein reichten die institutionellen Schranken, welche dietraditionelle wissenschaftliche Laufbahn für Frauen erschwerten, wennnicht gar unmöglich machten. Auf die hartnäckigen Versuche der Philoso-phin Edith Stein sich zu habilitieren und ihre Beschwerde beim Preußi-schen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung ist es zurückzu-führen, dass 1920 die Habilitation für Frauen in Deutschland zugelassenwurde.6Danach war es die sehr kurze Zeitspanne von dreizehn Jahren, inder Wissenschaftlerinnen in Deutschland unabhängig von ihrer Herkunftdie Möglichkeit hatten, akademische Positionen zu erlangen. Edith Steinselbst konnte keine Laufbahn als Wissenschaftlerin ergreifen. Philosophin-nen wie Susanne Langer wurde trotz ausreichender wissenschaftlicherQualifikation der Zugang zu Lehrstühlen erschwert. Nach vielen Jahrenakademischer Lehr- und Forschungstätigkeit und zahlreichen wissen-schaftlichen Publikationen erhielt sie erst im Alter von 59 Jahren eine Pro-fessur. Im Zuge der neuen Frauenbewegung sind aber besonders in derangelsächsischen Welt Lehrstühle für Frauen keine Seltenheit mehr: SeylaBenhabib, Agnes Heller, Judith Butler und Luce Irigaray lehren in Har-vard, New York, Berkeley und Rotterdam. Andere wichtige Vordenkerin-nen feministischer Theoriebildung wie etwa Sandra Harding sind lediglichals Gastprofessorinnen angestellt. Doch nicht nur die Situation an denUniversitäten erwies sich als bestimmend für die denkerische Existenz derPhilosophinnen des 20. Jahrhunderts. Es waren die beiden Weltkriege,deren katastrophale Wucht sich in Europa entlud, sowie die Shoa, der Ein-bruch der absoluten Kontingenz und des organisierten Verbrechens, derdas Leben der älteren Generation der hier vorgestellten Philosophinnendirekt und das der jüngeren indirekt beeinflusste: Edith Stein wurde auf-grund ihrer jüdischen Herkunft eine Lehrtätigkeit untersagt, aus einemholländischen Karmelitinnenkloster wurde sie von der Gestapo ver-schleppt und im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet. Ob-schon sie in einem gespaltenen Verhältnis zu ihren jüdischen Wurzelnstand, kehrte Simone Weil trotz erfolgreicher Emigration in die USA nachEuropa zurück und hungerte sich aus Solidarität mit den Opfern des na-tionalsozialistischen Regimes und des Krieges zu Tode. Hannah ArendtsLeben war von der Emigration und der theoretischen Auseinandersetzungmit dem Totalitarismus geprägt. Simone de Beauvoirs Selbstverständnisals politische Intellektuelle, die sich für gesellschaftliche Belange einsetzte,war eine Konsequenz ihres Widerstandes gegen die Vichy-Regierung undgegen Nazi-Deutschland. Agnes Hellers Vater fiel 1944 in Auschwitz demNazi-Terror zum Opfer. Iris Murdoch wurde mit dem Krieg bei ihrer Ar-beit mit Flüchtlingen und durch ihre Freundschaft mit Überlebenden desTerrors konfrontiert.

Die Denkerinnen integrierten und reflektierten die Widersprüche undAntagonismen, die produktiven und zerstörerischen Momente, und dieextreme Vielfältigkeit der politischen und kulturellen Ausgangspunkte, diesie und ihre Epoche geprägt haben. Denn die Erkenntnis, dass nicht alleFrauen die gleiche Geschichte und denkerischen Voraussetzungen haben,spitzt sich für das „Zeitalter der Extreme“7noch einmal radikal zu. „Das20. Jahrhundert erweist sich […] als ein Zeitalter, für das die Frage nachKontinuität, Wandel und Brüchen, nach Innovation und Tradition nichtauf einfache Weise beantwortet werden kann. Vielmehr ist es ein Jahrhun-dert dramatischer Widersprüche: zwischen Tradition und Innovation, zwi-schen zukunftsträchtigen Innovationen […] und der Novität bisher unge-kannter Katastrophen, zwischen Krieg und Frieden, Diktatur und Demo-kratie, zwischen Selbstbestimmung, Morden und Ermordet-Werden.“8

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2. Kontingenz: Von der Lesart eines Begriffs zu anderen Möglichkeiten

Heute ist „Kontingenz“ ein in Mode gekommener Begriff. Er dient als

Signalwort für ein sich postmodern, nachaufklärerisch und religionskri-tisch oder einfach nur melancholisch modern verstehendes Denken9. Auf-grund seiner Bedeutungsfassung zwischen Notwendigkeit und Unmöglich-keit entzieht sich der Begriff einer präzisen Fassung. Als Ermöglichungs-horizont wie auch als Unsicherheitshorizont in der Moderne verstanden,dient „Kontingenz“ zur Markierung von Veränderungspotenzial – waskontingent ist, könnte auch anders sein, anders verstanden, anders ge-macht werden –, wie auch zur Angabe eines Verlustes bzw. einer Bedro-hung – was kontingent ist, versteht sich nicht mehr von selbst, es ist nichtmehr unangreifbar, es kann auch nicht sein bzw. überhaupt nicht gewe-sen sein. Darüber hinaus kann mit „Kontingenz“ die Wandelbarkeit und

Bedingtheit von Wahrnehmungs-, Handlungs-, Ordnungs- und Vernunft-konzepten festgestellt werden. Schließlich wird mit Kontingenz die Be-dingtheit der menschlichen Existenz, ihrer Lebenswelten und ihrer Ent-wicklungsmöglichkeiten beschrieben. Und endlich dient die ambivalente

Begriffsfassung von „Kontingenz“ bestens zur Markierung von Ausschlüs-sen, welche an den Grenzen der theoretischen Vernunft selbst angesiedeltsind. Mit dem Kontingenzbegriff wird also eine diffuse und spannungs-geladene Grenze markiert, auf der Begriffliches und Unbegriffliches sichberühren, darüber hinaus wird ein Problem berührt, welches „systemstö-rend systemimmanent“10das Denken in Frage stellt und die Grenzen der

Vernunft bedeutet.

Kontingenz ist neben Notwendigkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeiteine der vier Möglichkeiten des logischen Urteils und bedeutet die Di-mension des Nicht-Bestimmbaren, des Schwer-Bestimmbaren oder zumin-dest des Nicht-Präzise-Bestimmbaren und wird üblicherweise mit Be-griffen wie „Ordnung“, „Wirklichkeit“, „Ursächlichkeit“ und „Freiheit“konturiert. Als spätantike Latinisierung – „contingere“, dt.: „zusammen-fallen, sich berühren und anrühren“ (transitiv) wie auch „zuteil werden,sich ereignen und glücken“ (intransitiv) – des griechischen „endechome-non“ bzw. „endechestai“ geht der Begriff auf Aristoteles zurück. Aristo-teles verwendet einen weiten und einen engen Möglichkeitsbegriff: Derweite, einseitige Möglichkeitsbegriff der „Hermeneutik“ bestimmt „en-dechestai“ als das, was nicht unmöglich ist. Damit umfasst „endechestai“das Mögliche und das Notwendige. Der enge, zweiseitige Möglichkeitsbe-griff der Ersten Analytik bestimmt das als möglich, was nicht unmöglichund nicht notwendig ist. Im ersten Fall ist in „endechestai“ die Notwendig-keit als Möglichkeit des Möglichen enthalten, im zweiten ausgeschlossen.Allerdings sagt Aristoteles in beiden Fällen nichts über die Wirklichkeitdes Möglichen aus: „endechestai“ ist nicht notwendig wirklich und kannder Fall sein oder nicht. Viele Jahrhunderte später wird „endechestai“ vonBoethius ins Lateinische übersetzt. Hier findet „contingens“ Eingang indie mittelalterliche Theologie und Philosophie und wird im christlichenKontext sowohl hinsichtlich seiner Wirklichkeit als auch als spezifischerBegriff näher bestimmt. Als „einer der wenigen Begriffe spezifisch christ-licher Herkunft in der Geschichte der Metaphysik“ bringt der Kontin-genzbegriff „die ontische Verfassung einer aus dem Nichts geschaffenenund zum Vergehen bestimmten, nur durch den göttlichen Willen im Seingehaltenen Welt zum Ausdruck“.11Im weiteren Verlauf der Philosophie-geschichte wird „contingens“ in sehr unterschiedlichen Bedeutungen ge-braucht. Das weit reichende Bedeutungs- und Verwendungsfeld des Kon-tingenzbegriffes kann so an eine vielschichtige Entstehungsgeschichteanknüpfen.12

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2. Kontingenz: Von der Lesart eines Begriffs zu anderen Möglichkeiten

Heute ist „Kontingenz“ ein in Mode gekommener Begriff. Er dient als

Signalwort für ein sich postmodern, nachaufklärerisch und religionskri-tisch oder einfach nur melancholisch modern verstehendes Denken9. Auf-grund seiner Bedeutungsfassung zwischen Notwendigkeit und Unmöglich-keit entzieht sich der Begriff einer präzisen Fassung. Als Ermöglichungs-horizont wie auch als Unsicherheitshorizont in der Moderne verstanden,dient „Kontingenz“ zur Markierung von Veränderungspotenzial – waskontingent ist, könnte auch anders sein, anders verstanden, anders ge-macht werden –, wie auch zur Angabe eines Verlustes bzw. einer Bedro-hung – was kontingent ist, versteht sich nicht mehr von selbst, es ist nichtmehr unangreifbar, es kann auch nicht sein bzw. überhaupt nicht gewe-sen sein. Darüber hinaus kann mit „Kontingenz“ die Wandelbarkeit und

Bedingtheit von Wahrnehmungs-, Handlungs-, Ordnungs- und Vernunft-konzepten festgestellt werden. Schließlich wird mit Kontingenz die Be-dingtheit der menschlichen Existenz, ihrer Lebenswelten und ihrer Ent-wicklungsmöglichkeiten beschrieben. Und endlich dient die ambivalente

Begriffsfassung von „Kontingenz“ bestens zur Markierung von Ausschlüs-sen, welche an den Grenzen der theoretischen Vernunft selbst angesiedeltsind. Mit dem Kontingenzbegriff wird also eine diffuse und spannungs-geladene Grenze markiert, auf der Begriffliches und Unbegriffliches sichberühren, darüber hinaus wird ein Problem berührt, welches „systemstö-rend systemimmanent“10das Denken in Frage stellt und die Grenzen der

Vernunft bedeutet.

Kontingenz ist neben Notwendigkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeiteine der vier Möglichkeiten des logischen Urteils und bedeutet die Di-mension des Nicht-Bestimmbaren, des Schwer-Bestimmbaren oder zumin-dest des Nicht-Präzise-Bestimmbaren und wird üblicherweise mit Be-griffen wie „Ordnung“, „Wirklichkeit“, „Ursächlichkeit“ und „Freiheit“konturiert. Als spätantike Latinisierung – „contingere“, dt.: „zusammen-fallen, sich berühren und anrühren“ (transitiv) wie auch „zuteil werden,sich ereignen und glücken“ (intransitiv) – des griechischen „endechome-non“ bzw. „endechestai“ geht der Begriff auf Aristoteles zurück. Aristo-teles verwendet einen weiten und einen engen Möglichkeitsbegriff: Derweite, einseitige Möglichkeitsbegriff der „Hermeneutik“ bestimmt „en-dechestai“ als das, was nicht unmöglich ist. Damit umfasst „endechestai“das Mögliche und das Notwendige. Der enge, zweiseitige Möglichkeitsbe-griff der Ersten Analytik bestimmt das als möglich, was nicht unmöglichund nicht notwendig ist. Im ersten Fall ist in „endechestai“ die Notwendig-keit als Möglichkeit des Möglichen enthalten, im zweiten ausgeschlossen.Allerdings sagt Aristoteles in beiden Fällen nichts über die Wirklichkeitdes Möglichen aus: „endechestai“ ist nicht notwendig wirklich und kannder Fall sein oder nicht. Viele Jahrhunderte später wird „endechestai“ vonBoethius ins Lateinische übersetzt. Hier findet „contingens“ Eingang indie mittelalterliche Theologie und Philosophie und wird im christlichenKontext sowohl hinsichtlich seiner Wirklichkeit als auch als spezifischerBegriff näher bestimmt. Als „einer der wenigen Begriffe spezifisch christ-licher Herkunft in der Geschichte der Metaphysik“ bringt der Kontin-genzbegriff „die ontische Verfassung einer aus dem Nichts geschaffenenund zum Vergehen bestimmten, nur durch den göttlichen Willen im Seingehaltenen Welt zum Ausdruck“.11Im weiteren Verlauf der Philosophie-geschichte wird „contingens“ in sehr unterschiedlichen Bedeutungen ge-braucht. Das weit reichende Bedeutungs- und Verwendungsfeld des Kon-tingenzbegriffes kann so an eine vielschichtige Entstehungsgeschichteanknüpfen.12

In der neueren Geschichte der Begriffsgeschichte von Kontingenz hin-gegen setzt sich die scheinbar eindeutige Erzählung der Herausgeber von Poetik und Hermeneutik durch: Ihrem Ansatz zufolge hat sich im Laufeder Geschichte ein zunehmendes Kontingenzbewusstsein gebildet, bei pa-rallel dazu verlaufender Schwächung Gottes und des transzendentalenSubjektes: „erst – in der Antike – war alles notwendig und (fast) nichtskontingent; dann – in der christlichen Welt – war Gott notwendig undalles, was nicht Gott ist (die geschaffene Welt), kontingent; schließlich – inder modernen Welt: nach der Schwächung Gottes und der Schwächungdes transzendentalen Subjekts – ist nichts mehr notwendig und alles kon-tingent.“13Am Ende dieser Entwicklung steht, wie die Theologen PhilippStoellger und Ingolf U. Dalferth eindrücklich vorgeführt haben, eineÜberlastung des Begriffs: Denn wenn alles kontingent und nichts mehrnotwendig ist, dann sind die Steigerungsmöglichkeiten des Begriffs ausge-schöpft und der Sinn der Kontingenz ist zugleich mitverspielt.14Dochnicht nur theologische Gründe, die einen „geschichtsphilosophischen Aus-fall der Theologie“ monieren, sprechen gegen diese eminente Horizont-verengung. Es gibt immer wieder Gegenbeispiele zu dieser Begriffs-geschichte, die daran erinnern, dass „Kontingenz“ mit sich als gleichsamtheologische Restbestände Bestimmtheiten im Gepäck führt, die das Un-bestimmte immer wieder neu bestimmen und formieren. Es zeigt sich, dassschon am Anfang seiner Verwendung das Kontingente das Notwendigeentweder als das Andere, Ausgeschlossene oder aber als Teil seiner Be-stimmung bei sich trägt. So bezieht das unzureichend bestimmte Vielfäl-tige (das rein denkbare Unwirkliche, oder das wirklich Mögliche) seineunbestimmten Möglichkeiten und Wirklichkeiten vom notwendig bestim-menden Einzelnen und umgekehrt. Jede weitere Anknüpfung an die ver-schiedenen Kontingenzerzählungen der Moderne tut gut daran, das Be-stimmende des lediglich unzureichend Bestimmten nicht unbesehen alsvermeintlichen Ballast von sich zu werfen. Philosophinnen des 20. Jahr-hunderts haben zu einem nicht unwesentlichen Teil an diesen Gegen-erzählungen geschrieben. Sie haben sich dabei dem angenähert, was dasAndere bzw. der bestimmende Teil der Kontingenz sein könnte.

3. Vom Denken der Kontingenz

Vom Bestimmenden des Unbestimmten

Wie aus der kurzen Skizze zur Begriffsgeschichte der Kontingenz deut-lich wurde, sind Bestimmtheit und Unbestimmtheit die beiden komple-mentären Pole, um die das Denken der Kontingenz kreist, die es aus-schließt oder die es aufzunehmen vermag. Ein kurzer Rückblick auf dietheologischen Beiträge zum Kontingenzdenken erinnert an das Bestim-mende des unzureichend Bestimmten. Von einer theologischen Warte auskann die Frage, ob das Kontingente in den Gottesgedanken integriert wer-den kann oder nicht, auf zwei Arten beantwortet werden. Gilt das Kontin-gente einzig als ontologischer Mangel, so wird dem theologisch dadurchRechnung getragen, dass Gott als davon frei gedacht wird. Da sein Wesendie Existenz von Notwendigkeit einschließt und Gott nicht als abgeleitetund bedingt betrachtet wird, ist die Schöpfung, die Welt, die Gott im kon-tingenten Akt erschafft, aus dieser Sicht bedingt und abgeleitet. Das Not-wendig-Göttliche wird zum Bestimmenden, das Nicht-Notwendige, Welt-liche zum Bestimmten. Anders sieht dies allerdings aus, wenn das Kontin-gente nicht als Mangel, sondern als Teil von Gott gedacht wird. Dies ist derFall, wenn die Freiheit der kontingenten Welt ins Spiel kommt. Wird ihrSpiel mit den Möglichkeiten von Gott gewusst? Nimmt Gott teil an dieserWelt und ihren Kontingenzen? Je nachdem ob Kontingenz als Teil vonNotwendigkeit gedacht ist, bleibt sie in das göttliche Wesen integriert odererscheint als das ihm fremde, andere Element.15

Die Philosophie Edith Steins und ihr Denken, das sich im Spannungs-feld von Ontologie und Phänomenologie bewegt, kommt der theologi-schen Fassung des Bestimmenden am nächsten, dadurch dass das wahre,ewige Sein in die Nähe zum biblischen Gottesgedanken rückt. Das Kon-tingente wird bei ihr nicht in den Gottesgedanken integriert. Im Gegen-teil: Das ewige Sein, das Wahre, Gute, Eine steht bei Stein in Differenz zurwirklichen Welt, zu jenem Bereich, der durch Endlichkeit und Geschöpf-lichkeit gekennzeichnet ist. Doch Steins Denkweg geht nicht aus vom Not-wendigen, Ewigen, sondern es setzt ein beim kontingenten, endlichen undvergänglichen Ich und führt zum bestimmenden, schöpferischen Grund.Steins eingehende phänomenologische Analyse des kontingenten Ich er-

In der neueren Geschichte der Begriffsgeschichte von Kontingenz hin-gegen setzt sich die scheinbar eindeutige Erzählung der Herausgeber von Poetik und Hermeneutik durch: Ihrem Ansatz zufolge hat sich im Laufeder Geschichte ein zunehmendes Kontingenzbewusstsein gebildet, bei pa-rallel dazu verlaufender Schwächung Gottes und des transzendentalenSubjektes: „erst – in der Antike – war alles notwendig und (fast) nichtskontingent; dann – in der christlichen Welt – war Gott notwendig undalles, was nicht Gott ist (die geschaffene Welt), kontingent; schließlich – inder modernen Welt: nach der Schwächung Gottes und der Schwächungdes transzendentalen Subjekts – ist nichts mehr notwendig und alles kon-tingent.“13Am Ende dieser Entwicklung steht, wie die Theologen PhilippStoellger und Ingolf U. Dalferth eindrücklich vorgeführt haben, eineÜberlastung des Begriffs: Denn wenn alles kontingent und nichts mehrnotwendig ist, dann sind die Steigerungsmöglichkeiten des Begriffs ausge-schöpft und der Sinn der Kontingenz ist zugleich mitverspielt.14Dochnicht nur theologische Gründe, die einen „geschichtsphilosophischen Aus-fall der Theologie“ monieren, sprechen gegen diese eminente Horizont-verengung. Es gibt immer wieder Gegenbeispiele zu dieser Begriffs-geschichte, die daran erinnern, dass „Kontingenz“ mit sich als gleichsamtheologische Restbestände Bestimmtheiten im Gepäck führt, die das Un-bestimmte immer wieder neu bestimmen und formieren. Es zeigt sich, dassschon am Anfang seiner Verwendung das Kontingente das Notwendigeentweder als das Andere, Ausgeschlossene oder aber als Teil seiner Be-stimmung bei sich trägt. So bezieht das unzureichend bestimmte Vielfäl-tige (das rein denkbare Unwirkliche, oder das wirklich Mögliche) seineunbestimmten Möglichkeiten und Wirklichkeiten vom notwendig bestim-menden Einzelnen und umgekehrt. Jede weitere Anknüpfung an die ver-schiedenen Kontingenzerzählungen der Moderne tut gut daran, das Be-stimmende des lediglich unzureichend Bestimmten nicht unbesehen alsvermeintlichen Ballast von sich zu werfen. Philosophinnen des 20. Jahr-hunderts haben zu einem nicht unwesentlichen Teil an diesen Gegen-erzählungen geschrieben. Sie haben sich dabei dem angenähert, was dasAndere bzw. der bestimmende Teil der Kontingenz sein könnte.

3. Vom Denken der Kontingenz

Vom Bestimmenden des Unbestimmten

Wie aus der kurzen Skizze zur Begriffsgeschichte der Kontingenz deut-lich wurde, sind Bestimmtheit und Unbestimmtheit die beiden komple-mentären Pole, um die das Denken der Kontingenz kreist, die es aus-schließt oder die es aufzunehmen vermag. Ein kurzer Rückblick auf dietheologischen Beiträge zum Kontingenzdenken erinnert an das Bestim-mende des unzureichend Bestimmten. Von einer theologischen Warte auskann die Frage, ob das Kontingente in den Gottesgedanken integriert wer-den kann oder nicht, auf zwei Arten beantwortet werden. Gilt das Kontin-gente einzig als ontologischer Mangel, so wird dem theologisch dadurchRechnung getragen, dass Gott als davon frei gedacht wird. Da sein Wesendie Existenz von Notwendigkeit einschließt und Gott nicht als abgeleitetund bedingt betrachtet wird, ist die Schöpfung, die Welt, die Gott im kon-tingenten Akt erschafft, aus dieser Sicht bedingt und abgeleitet. Das Not-wendig-Göttliche wird zum Bestimmenden, das Nicht-Notwendige, Welt-liche zum Bestimmten. Anders sieht dies allerdings aus, wenn das Kontin-gente nicht als Mangel, sondern als Teil von Gott gedacht wird. Dies ist derFall, wenn die Freiheit der kontingenten Welt ins Spiel kommt. Wird ihrSpiel mit den Möglichkeiten von Gott gewusst? Nimmt Gott teil an dieserWelt und ihren Kontingenzen? Je nachdem ob Kontingenz als Teil vonNotwendigkeit gedacht ist, bleibt sie in das göttliche Wesen integriert odererscheint als das ihm fremde, andere Element.15

Die Philosophie Edith Steins und ihr Denken, das sich im Spannungs-feld von Ontologie und Phänomenologie bewegt, kommt der theologi-schen Fassung des Bestimmenden am nächsten, dadurch dass das wahre,ewige Sein in die Nähe zum biblischen Gottesgedanken rückt. Das Kon-tingente wird bei ihr nicht in den Gottesgedanken integriert. Im Gegen-teil: Das ewige Sein, das Wahre, Gute, Eine steht bei Stein in Differenz zurwirklichen Welt, zu jenem Bereich, der durch Endlichkeit und Geschöpf-lichkeit gekennzeichnet ist. Doch Steins Denkweg geht nicht aus vom Not-wendigen, Ewigen, sondern es setzt ein beim kontingenten, endlichen undvergänglichen Ich und führt zum bestimmenden, schöpferischen Grund.Steins eingehende phänomenologische Analyse des kontingenten Ich er-gibt, dass für seinen Stand der Reflexion ein nicht-kontingenter, transzen-denter Ichgrund anzunehmen ist. Das Notwendig-Göttliche erscheint alsdas Andere des kontingenten Menschen, der sich gerade in der Gerichtet-heit auf sein komplementäres Anderes hin profiliert. Kontingenz dient soals Verweisungsbegriff: Nicht aus sich selbst zu sein und sich selbst zugenügen verweist auf etwas anderes seiner selbst.

Simone Weils religionsphilosophisches Denken kreist um zwei komple-mentäre Pole, den der Kontingenz und den der Notwendigkeit. Geradespiegelbildlich verkehrt zum traditionellen Gottesgedanken denkt Weilnicht das Notwendige, sondern das Kontingente als das Religiöse schlecht-hin, während das Weltliche sich als das Notwendige zeigt. Diese Konstella-tion macht Weil mit der Metapher der Schwerkraft und dem Begriff der

Gnade deutlich: Während die Welt durch Notwendigkeit und durch das

Prinzip Schwerkraft ausgezeichnet ist, ist die religiöse Dimension im kon-tingenten Phänomen der Gnade enthalten. Im Schwerkraftbegriff Weilslässt sich die unwillkürliche, notwendige Mechanik allen Denkens und

Handelns heraushören, deren Wirkung darin besteht, dass Menschen die

Individualität der anderen nicht anerkennen können: „Schwerkraft. Ganzallgemein wird das, was man von den anderen erwartet, durch die Wirkungder Schwerkraft in uns bestimmt; was man von ihnen empfängt, wirddurch die Wirkung der Schwerkraft in ihnen bestimmt.“16Die Notwendig-keit der Schwerkraft ist dadurch gekennzeichnet, dass sie willentlich nichtaufzuheben ist. Die Wirkung des Schwerkraftmechanismus, so lautet diemystische Formulierung Weils, kann als Leere erfahren werden.17Das

Phänomen Gnade demgegenüber widerspricht dem Gesetz der Schwer-kraft. Gnade macht gerade das geltend, was die Schwerkraft zwar bewir-ken, aber nicht halten kann: die Leere, indem sie sie erzeugt und dort auf-tritt, wo sich Leere befindet. In ihr schneiden sich Schwerkraft und

Gnade.18

Wie kaum eine andere Philosophin betont Iris Murdoch die kontingente

Verfasstheit menschlicher Existenz. Das Leben der Menschen ist bestimmtvon Zufällen, jedoch vermeiden es die meisten Menschen, dies zu erken-nen. In einer Umformulierung der christlichen Doktrin von der Erbsündebegründet Murdoch dies damit, dass Menschen ichbezogen und egoistischsind. Deswegen können sie die Erkenntnis, dass ihr eigenes Leben nichtplan- und kontrollierbar ist, nicht ertragen. Dennoch hält Murdoch im An-schluss an die Philosophie Simone Weils und die Lektüre Platons am Be-stimmenden fest. Sie erkennt die Idee des Guten in Rückgriff auf dasmetaphysische Konzept Platons und auf die Gottesbeweise als das bestim-mende Andere zum Kontingenten. Während das Kontingente all das be-zeichnet, was Menschen nicht kontrollieren und verstehen können undwas sich dem menschlichen Wunsch entzieht, die Geschichte in einer be-stimmten Form aufgelöst zu sehen, ist das Gute genau die Kraft, welchedie Tugend, sich für das Kontingente zu öffnen, ermöglicht. In dieser Zwei-heit von „gut“ und „kontingent“ zeigt sich eine eigentümliche Passivitätbzw. Aufmerksamkeit, welche das Kontingente nicht bewältigen oder zugestalten sucht, sondern eine Haltung, welche dem Kontingenten in deraufmerksamen Begegnung gerecht wird.

Hannah Arendts Denken der Kontingenz, ihre Bejahung der Welt alsvielfältiger Kosmos und ihre Zustimmung zur Pluralität der Individuali-tätsformen, findet seinen bestimmenden Gegenpart in der Figur derRechtfertigung der Welt und des Menschen aus dem Anfang – theologischgesprochen aus der Schöpfung des Menschen – anthropologisch bzw. onto-genetisch gewendet aus der Natalität. „Weil jeder Mensch aufgrund desGeborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist,können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Be-wegung setzen. […] Mit der Erschaffung des Menschen erschien das Prin-zip des Anfangs, das bei der Schöpfung der Welt noch gleichsam in derHand Gottes und damit außerhalb der Welt verblieb, in der Welt selbstund wird ihr immanent bleiben, solange es Menschen gibt.“19Im Rückgriffauf die Denkfiguren Augustins gründet Arendt das unzureichend be-stimmte Vielfältige im notwendig bestimmenden einzelnen Anfang. Zu-gleich ist dieser notwendige Anfang das Kontingente, d. i. das Unerwarteteund Unberechenbare schlechthin.

Anders als bei Stein, Weil, Arendt und Murdoch wird das Bestimmendebei den übrigen Denkerinnen nicht mehr unter Rückbezug auf den Got-tesgedanken bzw. unter Rückgriff auf theologisches Denken überhauptformuliert. So bleibt die praktische Dimension der Notwendigkeit einerindividuell verantworteten Wahl die Konstante, vor der sich Agnes Hellerspolitisches Denken profiliert. Auch in der Zeit, als sie den realexistieren-den Sozialismus in Ungarn von innen heraus theoretisch begleitet, begreiftHeller die Kontingenz des Politischen in ihrer kritischen Dimension, diegibt, dass für seinen Stand der Reflexion ein nicht-kontingenter, transzen-denter Ichgrund anzunehmen ist. Das Notwendig-Göttliche erscheint alsdas Andere des kontingenten Menschen, der sich gerade in der Gerichtet-heit auf sein komplementäres Anderes hin profiliert. Kontingenz dient soals Verweisungsbegriff: Nicht aus sich selbst zu sein und sich selbst zugenügen verweist auf etwas anderes seiner selbst.

Simone Weils religionsphilosophisches Denken kreist um zwei komple-mentäre Pole, den der Kontingenz und den der Notwendigkeit. Geradespiegelbildlich verkehrt zum traditionellen Gottesgedanken denkt Weilnicht das Notwendige, sondern das Kontingente als das Religiöse schlecht-hin, während das Weltliche sich als das Notwendige zeigt. Diese Konstella-tion macht Weil mit der Metapher der Schwerkraft und dem Begriff der

Gnade deutlich: Während die Welt durch Notwendigkeit und durch das

Prinzip Schwerkraft ausgezeichnet ist, ist die religiöse Dimension im kon-tingenten Phänomen der Gnade enthalten. Im Schwerkraftbegriff Weilslässt sich die unwillkürliche, notwendige Mechanik allen Denkens und

Handelns heraushören, deren Wirkung darin besteht, dass Menschen die

Individualität der anderen nicht anerkennen können: „Schwerkraft. Ganzallgemein wird das, was man von den anderen erwartet, durch die Wirkungder Schwerkraft in uns bestimmt; was man von ihnen empfängt, wirddurch die Wirkung der Schwerkraft in ihnen bestimmt.“16Die Notwendig-keit der Schwerkraft ist dadurch gekennzeichnet, dass sie willentlich nichtaufzuheben ist. Die Wirkung des Schwerkraftmechanismus, so lautet diemystische Formulierung Weils, kann als Leere erfahren werden.17Das

Phänomen Gnade demgegenüber widerspricht dem Gesetz der Schwer-kraft. Gnade macht gerade das geltend, was die Schwerkraft zwar bewir-ken, aber nicht halten kann: die Leere, indem sie sie erzeugt und dort auf-tritt, wo sich Leere befindet. In ihr schneiden sich Schwerkraft und

Gnade.18

Wie kaum eine andere Philosophin betont Iris Murdoch die kontingente

Verfasstheit menschlicher Existenz. Das Leben der Menschen ist bestimmtvon Zufällen, jedoch vermeiden es die meisten Menschen, dies zu erken-nen. In einer Umformulierung der christlichen Doktrin von der Erbsündebegründet Murdoch dies damit, dass Menschen ichbezogen und egoistischsind. Deswegen können sie die Erkenntnis, dass ihr eigenes Leben nichtplan- und kontrollierbar ist, nicht ertragen. Dennoch hält Murdoch im An-schluss an die Philosophie Simone Weils und die Lektüre Platons am Be-stimmenden fest. Sie erkennt die Idee des Guten in Rückgriff auf dasmetaphysische Konzept Platons und auf die Gottesbeweise als das bestim-mende Andere zum Kontingenten. Während das Kontingente all das be-zeichnet, was Menschen nicht kontrollieren und verstehen können undwas sich dem menschlichen Wunsch entzieht, die Geschichte in einer be-stimmten Form aufgelöst zu sehen, ist das Gute genau die Kraft, welchedie Tugend, sich für das Kontingente zu öffnen, ermöglicht. In dieser Zwei-heit von „gut“ und „kontingent“ zeigt sich eine eigentümliche Passivitätbzw. Aufmerksamkeit, welche das Kontingente nicht bewältigen oder zugestalten sucht, sondern eine Haltung, welche dem Kontingenten in deraufmerksamen Begegnung gerecht wird.

Hannah Arendts Denken der Kontingenz, ihre Bejahung der Welt alsvielfältiger Kosmos und ihre Zustimmung zur Pluralität der Individuali-tätsformen, findet seinen bestimmenden Gegenpart in der Figur derRechtfertigung der Welt und des Menschen aus dem Anfang – theologischgesprochen aus der Schöpfung des Menschen – anthropologisch bzw. onto-genetisch gewendet aus der Natalität. „Weil jeder Mensch aufgrund desGeborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist,können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Be-wegung setzen. […] Mit der Erschaffung des Menschen erschien das Prin-zip des Anfangs, das bei der Schöpfung der Welt noch gleichsam in derHand Gottes und damit außerhalb der Welt verblieb, in der Welt selbstund wird ihr immanent bleiben, solange es Menschen gibt.“19Im Rückgriffauf die Denkfiguren Augustins gründet Arendt das unzureichend be-stimmte Vielfältige im notwendig bestimmenden einzelnen Anfang. Zu-gleich ist dieser notwendige Anfang das Kontingente, d. i. das Unerwarteteund Unberechenbare schlechthin.

Anders als bei Stein, Weil, Arendt und Murdoch wird das Bestimmendebei den übrigen Denkerinnen nicht mehr unter Rückbezug auf den Got-tesgedanken bzw. unter Rückgriff auf theologisches Denken überhauptformuliert. So bleibt die praktische Dimension der Notwendigkeit einerindividuell verantworteten Wahl die Konstante, vor der sich Agnes Hellerspolitisches Denken profiliert. Auch in der Zeit, als sie den realexistieren-den Sozialismus in Ungarn von innen heraus theoretisch begleitet, begreiftHeller die Kontingenz des Politischen in ihrer kritischen Dimension, diesich sowohl gegen eine total verwaltete, total bestimmte Gesellschaft rich-tet als auch gegen eine reduktive empirische Theorie, die nur dazu da ist,die totalitäre Gesellschaft zu stützen. Demgegenüber betont sie die Kon-tingenz des Alltäglichen. Ebenso kontingent zeichnet Heller später denStatus der Moderne. Mit der Metapher des Neugeborenen fasst Heller dieKontingenz und Neuartigkeit des Experimentes Moderne. Dem Individu-um ist die Paradoxie der Freiheit auferlegt, die darin besteht, dass es imBewusstsein seiner Kontingenz Verantwortung für sein Leben überneh-men muss, ohne dabei Rekurs auf absolutistische Notwendigkeiten neh-men zu können. Simone de Beauvoir hat weniger die Möglichkeiten einerparadoxen Freiheit als das Verdammtsein zur Freiheit, im Sinne Sartres, imBlick. Die Freiheit des einzelnen Menschen angesichts der Erwartung derAnderen ist das bestimmende Moment in Simone de Beauvoirs Kontin-genzdenken. Für Beauvoir besteht die Notwendigkeit, die Freiheit zu wäh-len, und dies gerade auch dann, wenn die Anderen die Freiheit, die eigeneExistenz zu wählen, einschränken, verzerren und unmöglich machen.Damit ist die Freiheit das notwendig Bestimmende, die individuelleExistenz und die Existenz der Anderen das kontingente, teilweise bedroh-liche andere Moment. Zugleich erkennt Beauvoir in der Kontingenz einebefreiende Kategorie. Dadurch, dass in Le deuxième sexe die Situation derFrauen als radikal kontingent beschrieben ist, entwickelt sich die Situationzur emanzipatorischen Größe. Denn die Überwindung und Bemächtigungder bedingten und nicht notwendigen Situation der Frauen ist ein Akt derFrauen in Richtung Freiheit. Während Beauvoir das Verhältnis zwischenNotwendigkeit und Kontingenz als situativ bestimmt, lokalisiert JudithButler dieses Verhältnis als genealogisch strategisch im politischen Be-reich. Denn dort, wo die Prämissen des Denkens als das Unhinterfragteeiner Theorie auftreten, sind sie doch für Butler immer schon historische,kontextuelle und damit kontingente Setzungen. Das Gegengewicht zurstrategisch verschleierten Kontingenz alles Politischen ist die Notwendig-keit einer permanenten Kritik. Obwohl Kritik selbst schon ihrem kriti-schen Verfahren unterzogen ist, bleibt sie das Bestimmende, das allerdingsschon in der Kontingenz eingezogen ist. Butlers Anerkennung einer un-aufhebbaren Kontingenz im Bereich des Politischen entlarvt diese zu-gleich als die Grenze der Theorie des Politischen. Bei Seyla Benhabib ste-hen sich Vernunft und die Reflexion über die kontingenten Bedingungeneines konkreten, vernünftigen Subjektes gegenüber. In der Tradition derkritischen Sozialtheorie betont Benhabib die Notwendigkeit der ständigenSelbstreflexion der Vernunft über ihre Bedingungen und meint, dies sei imgemeinsamen Diskurs möglich. Sie erinnert zugleich an die Kontingenzdes jeweiligen Diskurses, eingebettet in die kontingenten Lebenszu-sammenhänge, und warnt davor, das ethisch-kommunikative Ideal einesDiskurses in Form eines verallgemeinerten Anderen, unabhängig vondiesen Kontingenzen, d. i. den konkreten Anderen, zu entwerfen.

Auf der Ebene der Kategorie Geschlecht geht Luce Irigaray von einernotwendigen Zwei-Geschlechter-Theorie aus. Die Notwendigkeit, die Dif-ferenz der Geschlechter zu denken und dem Weiblichen den verlorengegangenen Ort im Symbolischen wiederzufinden, führt dazu, dass LuceIrigaray den Platz des Weiblichen in einer doppelten Weise ausmisst: Zumeinen ist das Weibliche in der Ordnung des Gleichen der Spiegel, der alsAnderes des Gleichen eine zentrale Rolle in der Kontingenzbewältigungübernimmt, zum anderen gibt es ein nicht subsumierbares Anderswo, dasfür das Kontingente schlechthin steht.

Das Bestimmende in Susanne Langers Denken ist die menschlicheSymbolisierungsfähigkeit. Sie geht davon aus, dass diese ein angeborenesBedürfnis der Menschen ist. Darin sieht sie die notwendige und funda-mentale Tätigkeit des menschlichen Geistes. Ständig werden Sinneswahr-nehmungen zu Symbolen verarbeitet. Demgegenüber erscheinen die Sym-bolsysteme selbst als radikal kontingent. Langers Theorie fußt auf einerOntologie ohne Substanzen und Eigenschaften, die Wirklichkeit als inter-pretierte und formalisierte, d. i. konstruierte Wirklichkeit begreift und„Tatsachen“ als logisch konstruierte Ereignisperspektiven, relationale Ge-füge, die durch „permanente Veränderlichkeit und einen multiplen Cha-rakter als kontingent und reichhaltig gekennzeichnet sind“, erkennt.

Gefühle und Körperlichkeit

Wie kein anderer Ausdruck des Selbst- und Weltverhältnisses des Men-schen sind Gefühle Kennzeichen einer spezifischen Individualität unddamit bei verschiedenen Individuen kontingent gleich oder kontingent an-ders. Die Denkerinnen der Kontingenz weisen den Gefühlen eine Rollezu, die ihnen nicht bloß das Außervernünftige, Andere zuspielt, sondernihre jeweils spezifische Rationalität zu fassen versucht. Die eigentümlicheForm von Vernünftigkeit kann im kontingenten Moment der Gefühledingfest gemacht werden. Susanne Langer hat eine eingehende und um-fassende Analyse der Gefühle geliefert, indem sie unter „feelings“ den ge-samtheitlichen Weltbezug des Menschen versteht. Der Bereich subjektiverErfahrung umfasst so die biologisch vitalen Bezüge, den Bereich der sinn-lichen Wahrnehmung, die sensitiven Qualitätsempfindungen, hochdiffe-renzierte Gefühle und begrifflich-rationales Denken. Mit dieser Ausdeh-nung der Reichweite von Gefühlen auf emotive, kognitive und willens-bestimmte Momente ganzheitlichen Selbst- und Weltverhältnisses desMenschen macht Langer auf die Gefühlskomponente der Kognition auf-sich sowohl gegen eine total verwaltete, total bestimmte Gesellschaft rich-tet als auch gegen eine reduktive empirische Theorie, die nur dazu da ist,die totalitäre Gesellschaft zu stützen. Demgegenüber betont sie die Kon-tingenz des Alltäglichen. Ebenso kontingent zeichnet Heller später denStatus der Moderne. Mit der Metapher des Neugeborenen fasst Heller dieKontingenz und Neuartigkeit des Experimentes Moderne. Dem Individu-um ist die Paradoxie der Freiheit auferlegt, die darin besteht, dass es imBewusstsein seiner Kontingenz Verantwortung für sein Leben überneh-men muss, ohne dabei Rekurs auf absolutistische Notwendigkeiten neh-men zu können. Simone de Beauvoir hat weniger die Möglichkeiten einerparadoxen Freiheit als das Verdammtsein zur Freiheit, im Sinne Sartres, imBlick. Die Freiheit des einzelnen Menschen angesichts der Erwartung derAnderen ist das bestimmende Moment in Simone de Beauvoirs Kontin-genzdenken. Für Beauvoir besteht die Notwendigkeit, die Freiheit zu wäh-len, und dies gerade auch dann, wenn die Anderen die Freiheit, die eigeneExistenz zu wählen, einschränken, verzerren und unmöglich machen.Damit ist die Freiheit das notwendig Bestimmende, die individuelleExistenz und die Existenz der Anderen das kontingente, teilweise bedroh-liche andere Moment. Zugleich erkennt Beauvoir in der Kontingenz einebefreiende Kategorie. Dadurch, dass in Le deuxième sexe die Situation derFrauen als radikal kontingent beschrieben ist, entwickelt sich die Situationzur emanzipatorischen Größe. Denn die Überwindung und Bemächtigungder bedingten und nicht notwendigen Situation der Frauen ist ein Akt derFrauen in Richtung Freiheit. Während Beauvoir das Verhältnis zwischenNotwendigkeit und Kontingenz als situativ bestimmt, lokalisiert JudithButler dieses Verhältnis als genealogisch strategisch im politischen Be-reich. Denn dort, wo die Prämissen des Denkens als das Unhinterfragteeiner Theorie auftreten, sind sie doch für Butler immer schon historische,kontextuelle und damit kontingente Setzungen. Das Gegengewicht zurstrategisch verschleierten Kontingenz alles Politischen ist die Notwendig-keit einer permanenten Kritik. Obwohl Kritik selbst schon ihrem kriti-schen Verfahren unterzogen ist, bleibt sie das Bestimmende, das allerdingsschon in der Kontingenz eingezogen ist. Butlers Anerkennung einer un-aufhebbaren Kontingenz im Bereich des Politischen entlarvt diese zu-gleich als die Grenze der Theorie des Politischen. Bei Seyla Benhabib ste-hen sich Vernunft und die Reflexion über die kontingenten Bedingungeneines konkreten, vernünftigen Subjektes gegenüber. In der Tradition derkritischen Sozialtheorie betont Benhabib die Notwendigkeit der ständigenSelbstreflexion der Vernunft über ihre Bedingungen und meint, dies sei imgemeinsamen Diskurs möglich. Sie erinnert zugleich an die Kontingenzdes jeweiligen Diskurses, eingebettet in die kontingenten Lebenszu-sammenhänge, und warnt davor, das ethisch-kommunikative Ideal einesDiskurses in Form eines verallgemeinerten Anderen, unabhängig vondiesen Kontingenzen, d. i. den konkreten Anderen, zu entwerfen.

Auf der Ebene der Kategorie Geschlecht geht Luce Irigaray von einernotwendigen Zwei-Geschlechter-Theorie aus. Die Notwendigkeit, die Dif-ferenz der Geschlechter zu denken und dem Weiblichen den verlorengegangenen Ort im Symbolischen wiederzufinden, führt dazu, dass LuceIrigaray den Platz des Weiblichen in einer doppelten Weise ausmisst: Zumeinen ist das Weibliche in der Ordnung des Gleichen der Spiegel, der alsAnderes des Gleichen eine zentrale Rolle in der Kontingenzbewältigungübernimmt, zum anderen gibt es ein nicht subsumierbares Anderswo, dasfür das Kontingente schlechthin steht.

Das Bestimmende in Susanne Langers Denken ist die menschlicheSymbolisierungsfähigkeit. Sie geht davon aus, dass diese ein angeborenesBedürfnis der Menschen ist. Darin sieht sie die notwendige und funda-mentale Tätigkeit des menschlichen Geistes. Ständig werden Sinneswahr-nehmungen zu Symbolen verarbeitet. Demgegenüber erscheinen die Sym-bolsysteme selbst als radikal kontingent. Langers Theorie fußt auf einerOntologie ohne Substanzen und Eigenschaften, die Wirklichkeit als inter-pretierte und formalisierte, d. i. konstruierte Wirklichkeit begreift und„Tatsachen“ als logisch konstruierte Ereignisperspektiven, relationale Ge-füge, die durch „permanente Veränderlichkeit und einen multiplen Cha-rakter als kontingent und reichhaltig gekennzeichnet sind“, erkennt.

Gefühle und Körperlichkeit

Wie kein anderer Ausdruck des Selbst- und Weltverhältnisses des Men-schen sind Gefühle Kennzeichen einer spezifischen Individualität unddamit bei verschiedenen Individuen kontingent gleich oder kontingent an-ders. Die Denkerinnen der Kontingenz weisen den Gefühlen eine Rollezu, die ihnen nicht bloß das Außervernünftige, Andere zuspielt, sondernihre jeweils spezifische Rationalität zu fassen versucht. Die eigentümlicheForm von Vernünftigkeit kann im kontingenten Moment der Gefühledingfest gemacht werden. Susanne Langer hat eine eingehende und um-fassende Analyse der Gefühle geliefert, indem sie unter „feelings“ den ge-samtheitlichen Weltbezug des Menschen versteht. Der Bereich subjektiverErfahrung umfasst so die biologisch vitalen Bezüge, den Bereich der sinn-lichen Wahrnehmung, die sensitiven Qualitätsempfindungen, hochdiffe-renzierte Gefühle und begrifflich-rationales Denken. Mit dieser Ausdeh-nung der Reichweite von Gefühlen auf emotive, kognitive und willens-bestimmte Momente ganzheitlichen Selbst- und Weltverhältnisses desMenschen macht Langer auf die Gefühlskomponente der Kognition auf-merksam. Langer fragt weiter danach, wie sich Gefühle im Unterschied zu

Gedanken und Wahrnehmungen charakterisieren lassen. Diese Frage be-rührt die Symbolisierungsweisen der Gefühle. Den Ausdruck der Gefühleerkennt Langer etwa in der Musik als symbolischer Form, die es durchihre logische Verwandtschaft mit den menschlichen Formen des Gefühls-lebens vermag, den Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Musik ist allerdingskeine Sprache im engen Sinn, sondern sie ist eine nichtdiskursive symboli-sche Form, weil es keine willkürlich zu bestimmende Referenz ihrer Ele-mente gibt. Musik wie auch bildende Kunst als symbolische Form vermit-teln Wissen um die Komplexität von Gefühlen. Kunstwerke gestatten,dem menschlichen Gefühlsleben Ausdruck zu geben, das sonst namenlosbleibt.20Ebenso wie Langer geht Iris Murdoch von der Vielschichtigkeitder Gefühle aus. Gefühle sind nicht allein oberflächlicher, bewusster

Natur, sondern umfassend und subtil.21Murdochs Interesse an der Zu-fälligkeit, welche im menschlichen Leben, vom Bereich der Emotionen bishin zum Bewusstsein spielt, erkennt in den Gefühlen eine positive krea-tive Kraft, die bei moralischen Urteilen deutlich weniger bewusst gesteu-ert ist, als es im Sinne eines objektiven Urteils von Vorteil wäre. Bei Iris

Murdoch gerät vorzugsweise die Bedeutung der Gefühle für die morali-sche Urteilskraft in den Blick. Sie sind ihrer Ansicht nach verwoben mitmoralischem Urteilen, Handeln und Verhalten. Damit sind Gefühle nichtlänger eine immer gleiche Urkraft, die zu beherrschen wäre; sie sind viel-mehr abhängig davon, wie Menschen die Welt wahrnehmen, beurteilen,bewerten; so wird ihre je andere Ausprägung in verschiedenen Kulturenund zu unterschiedlichen Zeiten sichtbar.

Doch der Aufweis der Gefühlskomponente von Rationalität und das

Festhalten an der Rationalität von Gefühlen ist Denkerinnen wie Luce Iri-garay noch zu wenig radikal: Sie verbindet die Entdeckung, dass Gefühleeine eigene Form von Vernünftigkeit haben, mit der Betonung der Mate-rialität des sexuellen Körpers. Die Körperlichkeit des Denkens und der

Sprache auf weibliches Sprechen angewandt hat zur Folge, dass das Redenals Berühren der weiblichen Lippen vorgestellt wird. Mit dieser Theorie-metapher ist weibliches Sprechen im wahrsten, buchstäblichsten Sinne des

Wortes als kontingent ausgezeichnet, insofern „contingere“ mit „sich be-rühren“ übersetzt werden kann. Lässt sich ein größerer Gegensatz zu die-ser Position als das Denken Simone Weils denken? Im Gegensatz zu Iriga-ray lehnt Simone Weil die Kontingenz, d. i. die Zeitlichkeit – zumindest deseigenen Körpers –, ab. Sie wehrt sich gegen die eigene Körperlichkeit, d. i.Weiblichkeit und Bedürftigkeit. So hat es auf den ersten Blick den An-schein, als würde Weil Körperlichkeit radikal ignorieren bzw. negieren. Beigenauerem Hinschauen und der Lektüre der „Fabriktagebücher“22Weilszeigt sich, dass sie den Körper, der mannigfaltigen Zufällen ausgesetzt ist,aus einer anderen Perspektive betrachtet. Im Unterschied zu der positivenBesetzung des (weiblichen) Körpers als Einfallstor für neue sprachlicheMöglichkeiten ist Weil Meisterin darin, den Körper unter dem Aspekt derkörperlichen Empfindung des Schmerzes zu thematisieren, die für sie kör-perliche Schmerzen, psychisches Leiden und soziale Erniedrigung umfasst.Schmerz ist aus dieser Perspektive ausgezeichneter Zugangsort zur Passi-vität des Körpers im Leiden und im Unglück. Und gerade hier liegt die„spirituelle“ Bedeutung des Leidens in der Philosophie Weils, da es Aus-gangspunkt der Gottesliebe ist und zur Begegnung mit Gott im Schweigenführen kann. Statt einer Sprache sich berührender Lippen spricht Weil ein-drücklich die Sprache des Schmerzes. Mit Irigarays Schreiben verbindetsich der Ort dieser Sprache: Beide bewegen sich am Rande des Darstell-baren.

Kontingenz und die Grenze des Denkens, der Sprache

An den Grenzen von Erklärbarkeit und Verfügbarkeit entwickeln dieDenkerinnen ein neues Verständnis für kontingente Phänomene, für Zu-fälliges, Unberechenbares, Grundloses, aber auch für das, was sich den tra-ditionellen Erklärungsmustern zu entziehen scheint. Oder anders aus-gedrückt: Das Denken des Kontingenten macht auch vor den Kontingen-zen des eigenen Denkens nicht Halt und wird als Struktur und Form deseigenen Denkens begriffen. Nicht zufällig weicht die Form für das Nach-denken des Kontingenten, welche sich die Philosophinnen gewählt haben,oftmals von der traditionellen Form des argumentativen, begründendenphilosophischen Systemdenkens ab. Die Texte der Philosophinnen sindvielmals essayistisch, aphoristisch, machen vor der Form des Gedichtesoder des Romans nicht Halt, teilen sich im Brief, im Fragment, in der Formder denkerischen Existenz mit – sie wollen weniger begründen, als viel-mehr mitteilen, plausibilisieren, einführen, in Kontakt bringen und erzäh-len. Denn treten die Grenzen der eigenen bzw. der anderen Erklärungs-muster hervor, kommt auch die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einersprachlichen Beschreibung dieser vorderhand nichtrationalen (bzw. trans-merksam. Langer fragt weiter danach, wie sich Gefühle im Unterschied zu

Gedanken und Wahrnehmungen charakterisieren lassen. Diese Frage be-rührt die Symbolisierungsweisen der Gefühle. Den Ausdruck der Gefühleerkennt Langer etwa in der Musik als symbolischer Form, die es durchihre logische Verwandtschaft mit den menschlichen Formen des Gefühls-lebens vermag, den Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Musik ist allerdingskeine Sprache im engen Sinn, sondern sie ist eine nichtdiskursive symboli-sche Form, weil es keine willkürlich zu bestimmende Referenz ihrer Ele-mente gibt. Musik wie auch bildende Kunst als symbolische Form vermit-teln Wissen um die Komplexität von Gefühlen. Kunstwerke gestatten,dem menschlichen Gefühlsleben Ausdruck zu geben, das sonst namenlosbleibt.20Ebenso wie Langer geht Iris Murdoch von der Vielschichtigkeitder Gefühle aus. Gefühle sind nicht allein oberflächlicher, bewusster

Natur, sondern umfassend und subtil.21Murdochs Interesse an der Zu-fälligkeit, welche im menschlichen Leben, vom Bereich der Emotionen bishin zum Bewusstsein spielt, erkennt in den Gefühlen eine positive krea-tive Kraft, die bei moralischen Urteilen deutlich weniger bewusst gesteu-ert ist, als es im Sinne eines objektiven Urteils von Vorteil wäre. Bei Iris

Murdoch gerät vorzugsweise die Bedeutung der Gefühle für die morali-sche Urteilskraft in den Blick. Sie sind ihrer Ansicht nach verwoben mitmoralischem Urteilen, Handeln und Verhalten. Damit sind Gefühle nichtlänger eine immer gleiche Urkraft, die zu beherrschen wäre; sie sind viel-mehr abhängig davon, wie Menschen die Welt wahrnehmen, beurteilen,bewerten; so wird ihre je andere Ausprägung in verschiedenen Kulturenund zu unterschiedlichen Zeiten sichtbar.

Doch der Aufweis der Gefühlskomponente von Rationalität und das

Festhalten an der Rationalität von Gefühlen ist Denkerinnen wie Luce Iri-garay noch zu wenig radikal: Sie verbindet die Entdeckung, dass Gefühleeine eigene Form von Vernünftigkeit haben, mit der Betonung der Mate-rialität des sexuellen Körpers. Die Körperlichkeit des Denkens und der

Sprache auf weibliches Sprechen angewandt hat zur Folge, dass das Redenals Berühren der weiblichen Lippen vorgestellt wird. Mit dieser Theorie-metapher ist weibliches Sprechen im wahrsten, buchstäblichsten Sinne des

Wortes als kontingent ausgezeichnet, insofern „contingere“ mit „sich be-rühren“ übersetzt werden kann. Lässt sich ein größerer Gegensatz zu die-ser Position als das Denken Simone Weils denken? Im Gegensatz zu Iriga-ray lehnt Simone Weil die Kontingenz, d. i. die Zeitlichkeit – zumindest deseigenen Körpers –, ab. Sie wehrt sich gegen die eigene Körperlichkeit, d. i.Weiblichkeit und Bedürftigkeit. So hat es auf den ersten Blick den An-schein, als würde Weil Körperlichkeit radikal ignorieren bzw. negieren. Beigenauerem Hinschauen und der Lektüre der „Fabriktagebücher“22Weilszeigt sich, dass sie den Körper, der mannigfaltigen Zufällen ausgesetzt ist,aus einer anderen Perspektive betrachtet. Im Unterschied zu der positivenBesetzung des (weiblichen) Körpers als Einfallstor für neue sprachlicheMöglichkeiten ist Weil Meisterin darin, den Körper unter dem Aspekt derkörperlichen Empfindung des Schmerzes zu thematisieren, die für sie kör-perliche Schmerzen, psychisches Leiden und soziale Erniedrigung umfasst.Schmerz ist aus dieser Perspektive ausgezeichneter Zugangsort zur Passi-vität des Körpers im Leiden und im Unglück. Und gerade hier liegt die„spirituelle“ Bedeutung des Leidens in der Philosophie Weils, da es Aus-gangspunkt der Gottesliebe ist und zur Begegnung mit Gott im Schweigenführen kann. Statt einer Sprache sich berührender Lippen spricht Weil ein-drücklich die Sprache des Schmerzes. Mit Irigarays Schreiben verbindetsich der Ort dieser Sprache: Beide bewegen sich am Rande des Darstell-baren.

Kontingenz und die Grenze des Denkens, der Sprache

An den Grenzen von Erklärbarkeit und Verfügbarkeit entwickeln dieDenkerinnen ein neues Verständnis für kontingente Phänomene, für Zu-fälliges, Unberechenbares, Grundloses, aber auch für das, was sich den tra-ditionellen Erklärungsmustern zu entziehen scheint. Oder anders aus-gedrückt: Das Denken des Kontingenten macht auch vor den Kontingen-zen des eigenen Denkens nicht Halt und wird als Struktur und Form deseigenen Denkens begriffen. Nicht zufällig weicht die Form für das Nach-denken des Kontingenten, welche sich die Philosophinnen gewählt haben,oftmals von der traditionellen Form des argumentativen, begründendenphilosophischen Systemdenkens ab. Die Texte der Philosophinnen sindvielmals essayistisch, aphoristisch, machen vor der Form des Gedichtesoder des Romans nicht Halt, teilen sich im Brief, im Fragment, in der Formder denkerischen Existenz mit – sie wollen weniger begründen, als viel-mehr mitteilen, plausibilisieren, einführen, in Kontakt bringen und erzäh-len. Denn treten die Grenzen der eigenen bzw. der anderen Erklärungs-muster hervor, kommt auch die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einersprachlichen Beschreibung dieser vorderhand nichtrationalen (bzw. trans-rationalen) Randphänomene in den Blick. Sie hinterlassen Spuren im ge-schriebenen Text. In den Briefen Simone de Beauvoirs an ihren Geliebten

Nelson Algren ist Kontingenz auf eine außerordentliche Art als Figur der

Mitteilung eingeholt. Die Briefe sind flüchtig, unvollständig, folgen kei-nem Plan und keinem Gesetz der Ganzheit, sie sind offen für das Kontin-gente. Hier wird eine andere Sprache entwickelt, gesprochen, eine Spra-che, welche die körperliche Dimension des Schreibens einholt.23Mit der

Form des Denkens der Kontingenz, in der sich Spuren der Kontingenz deseigenen Denkens eingezeichnet haben, ist die gedankliche Reflexion aufdie Kontingenz des eigenen Standpunktes bzw. der Position des kontin-genten Subjektes verbunden. Für Edith Stein bleibt die Grenze der ge-danklichen Bewegung, die vom endlichen bedingten Ich ausgehend dasnotwendige Sein zu erreichen sucht, der Denkfähigkeit selbst eingeschrie-ben und bleibt als sinnvolle Herausforderung bestehen: Die Andersheit

Gottes kann Stein zufolge nur berührt, nicht gesehen werden. Schließlichzeigt Stein, dass die Begrenztheit des Kontingenzdenkens in ihrer Er-kenntnisbewegung auf eine Begegnung mit Welt, Gott, Person zielt und sodie Grundlage des menschlichen Welt- und Wirklichkeitsverhältnisses bil-det. Iris Murdoch versucht denkerisch die Balance zu halten zwischen der

Vereinheitlichungstendenz des denkerischen Zugriffs, der einen artifiziel-len Schein auf das an sich unvollständige, fragmentarische Leben wirft unddem partikularisierenden Denken, das dem Impuls der Ordnung und

Klassifikation widersteht und stattdessen die einzelnen kontingenten Phä-nomene mit einer Art Laserstrahlform von Aufmerksamkeit herausgreiftund individuiert. Murdoch beschreibt die dazu parallele Spannung von

Form und Kontingenz im Roman. Der ideale Roman hält die Spannungvon Form und Kontingenz, die Spannung zwischen der Notwendigkeit, eineinheitliches Ganzes zu schaffen, und der Notwendigkeit, individuelle

Charaktere dazustellen, welche die kontingente Wirklichkeit mensch-lichen Lebens widerspiegeln.

Plädiert Murdoch für Kontingenz als ästhetische Kategorie, welche als

Gegengewicht zur notwendigen Form im Roman eingeholt werden muss,so reflektiert Hannah Arendt auf die eigene theoretische Tätigkeit als

„Geschichtenerzählerin“24sowie auf die narrative Verfasstheit mensch-lichen Handelns und menschlicher Existenz überhaupt. Da Handlungennur in der Erzählung leben (derer, die sie ausüben, und derer, die sie mit-erleben und sich an sie erinnern), ist das Geschichten-Erzählen eine ele-mentare menschliche Tätigkeit. Dem entspricht auf der theoretischen

Ebene eine perspektivische Darstellung, welche die Pluralität der ver-schiedenen Handlungsperspektiven in narrativer Form zur Darstellungbringt. Voraussetzung hierfür ist für Arendt eine Urteilskraft, die es ver-mag, die Welt in der erzählten Geschichte so neu zu erschaffen, wie sie inden Augen anderer erscheint. Agnes Heller führt dieses Projekt weiter,indem sie eine erzählende Moralphilosophie entwirft, in der eine kontin-gente Person zu einer anderen kontingenten Person spricht. Demgegen-über setzt Judith Butler die souveräne Position des Subjektes, das Ge-schichten erzählt und sich in anderen Geschichten vorfindet, einer perma-nenten Kritik aus, die auch vor den Grundlagen des historischen Daseinsnicht Halt macht. So setzt Butler alle Versuche des theoretischen Zugriffsauf die Geschichten der Kritik aus, eine Machtstrategie zu sein, die fälsch-licherweise unabschließbar Kontingentes in theoretisch auf Dauer Ge-stelltes, Notwendiges überführt.

4. Die Denkerinnern

Die Zusammenstellung der hier vorgestellten Philosophinnen ist des-wegen kontingent, weil die räumliche Begrenzung zu einer Auswahl nötig-te. Es konnten nur zwölf mögliche Vertreterinnen der denkerischen Zunftvorgestellt werden. Es wurden in diesem Sammelband lediglich nordame-rikanische und europäische Intellektuelle berücksichtigt. Den Schwer-punkt der Auswahl habe ich auf existentialistische, phänomenologischeDenkerinnen (Simone Weil, Edith Stein, Simone de Beauvoir), politischeund moralphilosophische Denkerinnen (Hannah Arendt, Agnes Heller,Iris Murdoch), Denkerinnen, die sich im Grenzbereich Literatur-Theoriebewegen, sowie feministische Denkerinnen (Judith Butler, Lynn Hankin-son Nelson, Sandra Harding) gelegt. Diese Eingrenzung ist u.a. dem kon-tingenten Denkhorizont der Herausgeberin geschuldet. Zugleich aber istjede Auswahl auch immer eine notwendige Wahl zwischen verschiedenenMöglichkeiten. Es fehlen etwa wichtige Vertreterinnen der analytischenPhilosophie wie Elizabeth Anscombe und Philippa Foot, es fehlen radikaleFeministinnen wie die Theologin und Philosophin Mary Daly, es fehlen dieitalienische Philosophinnengruppe Diotima und Luisa Muraro, es fehlenwichtige französische Theoretikerinnen wie Sarah Kofman, Julia Kristeva,Hélène Cixous; es fehlen zudem Autorinnen aus dem asiatischen, indi-schen, südamerikanischen und afrikanischen Raum.

Die theoretische Ausgangslage der einzelnen Artikel ist sehr verschie-denartig. Wo noch wenig überblickshafte Darstellungen der Philosophinvorhanden sind, handelt es sich in erster Linie um Einführungen in unbe-kannte Denkwelten. Bei anderen Artikeln kann auf eine breite Diskus-rationalen) Randphänomene in den Blick. Sie hinterlassen Spuren im ge-schriebenen Text. In den Briefen Simone de Beauvoirs an ihren Geliebten

Nelson Algren ist Kontingenz auf eine außerordentliche Art als Figur der

Mitteilung eingeholt. Die Briefe sind flüchtig, unvollständig, folgen kei-nem Plan und keinem Gesetz der Ganzheit, sie sind offen für das Kontin-gente. Hier wird eine andere Sprache entwickelt, gesprochen, eine Spra-che, welche die körperliche Dimension des Schreibens einholt.23Mit der

Form des Denkens der Kontingenz, in der sich Spuren der Kontingenz deseigenen Denkens eingezeichnet haben, ist die gedankliche Reflexion aufdie Kontingenz des eigenen Standpunktes bzw. der Position des kontin-genten Subjektes verbunden. Für Edith Stein bleibt die Grenze der ge-danklichen Bewegung, die vom endlichen bedingten Ich ausgehend dasnotwendige Sein zu erreichen sucht, der Denkfähigkeit selbst eingeschrie-ben und bleibt als sinnvolle Herausforderung bestehen: Die Andersheit

Gottes kann Stein zufolge nur berührt, nicht gesehen werden. Schließlichzeigt Stein, dass die Begrenztheit des Kontingenzdenkens in ihrer Er-kenntnisbewegung auf eine Begegnung mit Welt, Gott, Person zielt und sodie Grundlage des menschlichen Welt- und Wirklichkeitsverhältnisses bil-det. Iris Murdoch versucht denkerisch die Balance zu halten zwischen der

Vereinheitlichungstendenz des denkerischen Zugriffs, der einen artifiziel-len Schein auf das an sich unvollständige, fragmentarische Leben wirft unddem partikularisierenden Denken, das dem Impuls der Ordnung und

Klassifikation widersteht und stattdessen die einzelnen kontingenten Phä-nomene mit einer Art Laserstrahlform von Aufmerksamkeit herausgreiftund individuiert. Murdoch beschreibt die dazu parallele Spannung von

Form und Kontingenz im Roman. Der ideale Roman hält die Spannungvon Form und Kontingenz, die Spannung zwischen der Notwendigkeit, eineinheitliches Ganzes zu schaffen, und der Notwendigkeit, individuelle

Charaktere dazustellen, welche die kontingente Wirklichkeit mensch-lichen Lebens widerspiegeln.

Plädiert Murdoch für Kontingenz als ästhetische Kategorie, welche als

Gegengewicht zur notwendigen Form im Roman eingeholt werden muss,so reflektiert Hannah Arendt auf die eigene theoretische Tätigkeit als

„Geschichtenerzählerin“24sowie auf die narrative Verfasstheit mensch-lichen Handelns und menschlicher Existenz überhaupt. Da Handlungennur in der Erzählung leben (derer, die sie ausüben, und derer, die sie mit-erleben und sich an sie erinnern), ist das Geschichten-Erzählen eine ele-mentare menschliche Tätigkeit. Dem entspricht auf der theoretischen

Ebene eine perspektivische Darstellung, welche die Pluralität der ver-schiedenen Handlungsperspektiven in narrativer Form zur Darstellungbringt. Voraussetzung hierfür ist für Arendt eine Urteilskraft, die es ver-mag, die Welt in der erzählten Geschichte so neu zu erschaffen, wie sie inden Augen anderer erscheint. Agnes Heller führt dieses Projekt weiter,indem sie eine erzählende Moralphilosophie entwirft, in der eine kontin-gente Person zu einer anderen kontingenten Person spricht. Demgegen-über setzt Judith Butler die souveräne Position des Subjektes, das Ge-schichten erzählt und sich in anderen Geschichten vorfindet, einer perma-nenten Kritik aus, die auch vor den Grundlagen des historischen Daseinsnicht Halt macht. So setzt Butler alle Versuche des theoretischen Zugriffsauf die Geschichten der Kritik aus, eine Machtstrategie zu sein, die fälsch-licherweise unabschließbar Kontingentes in theoretisch auf Dauer Ge-stelltes, Notwendiges überführt.

4. Die Denkerinnern

Die Zusammenstellung der hier vorgestellten Philosophinnen ist des-wegen kontingent, weil die räumliche Begrenzung zu einer Auswahl nötig-te. Es konnten nur zwölf mögliche Vertreterinnen der denkerischen Zunftvorgestellt werden. Es wurden in diesem Sammelband lediglich nordame-rikanische und europäische Intellektuelle berücksichtigt. Den Schwer-punkt der Auswahl habe ich auf existentialistische, phänomenologischeDenkerinnen (Simone Weil, Edith Stein, Simone de Beauvoir), politischeund moralphilosophische Denkerinnen (Hannah Arendt, Agnes Heller,Iris Murdoch), Denkerinnen, die sich im Grenzbereich Literatur-Theoriebewegen, sowie feministische Denkerinnen (Judith Butler, Lynn Hankin-son Nelson, Sandra Harding) gelegt. Diese Eingrenzung ist u.a. dem kon-tingenten Denkhorizont der Herausgeberin geschuldet. Zugleich aber istjede Auswahl auch immer eine notwendige Wahl zwischen verschiedenenMöglichkeiten. Es fehlen etwa wichtige Vertreterinnen der analytischenPhilosophie wie Elizabeth Anscombe und Philippa Foot, es fehlen radikaleFeministinnen wie die Theologin und Philosophin Mary Daly, es fehlen dieitalienische Philosophinnengruppe Diotima und Luisa Muraro, es fehlenwichtige französische Theoretikerinnen wie Sarah Kofman, Julia Kristeva,Hélène Cixous; es fehlen zudem Autorinnen aus dem asiatischen, indi-schen, südamerikanischen und afrikanischen Raum.

Die theoretische Ausgangslage der einzelnen Artikel ist sehr verschie-denartig. Wo noch wenig überblickshafte Darstellungen der Philosophinvorhanden sind, handelt es sich in erster Linie um Einführungen in unbe-kannte Denkwelten. Bei anderen Artikeln kann auf eine breite Diskus-sionsbasis und einen umfangreichen Forschungsstand zurückgegriffenwerden, wie etwa bei Hannah Arendt und Judith Butler. Hier handelt essich bei den Texten um Diskussionsbeiträge. Schließlich gibt es Beiträge,die in erster Linie biographisch angelegt sind (Simone Weil), und Beiträge,die eine genaue Re-Lektüre eines bestimmten philosophischen Textesunter dem Aspekt der Kontingenzthematik vornehmen (Edith Stein). DieUnterschiedlichkeit der einzelnen Zugänge ist Stärke und Merkmal desDenkens von Kontingenz, welches sich selbst auch im Denken über dasDenken der Kontingenz als ein plurales, vielschichtiges präsentiert.

Die Leistung des Kontingenzdenkens von Frauen, wie es in diesemSammelband dargestellt wird, dürfte in einem Zweifachen liegen. Einmaldarin, dass in besonderer Weise sichtbar wird, auf welche Weise und anwelchen inhaltlichen Punkten das Denken von Frauen durch ihre philoso-phischen Vorgängerinnen geprägt ist, gerade dann, wenn dieses Denkenvon Unterbrüchen und Abbrüchen gekennzeichnet ist. Diese Überlegungknüpft an Hannah Arendts Projekt einer „alternative[n] Archäologie derModerne“25an. Wer, wie Arendt, davon ausgeht, dass der Faden der Tradi-tion gerissen ist, „die Kontinuität der Vergangenheit, wie sie von einer Ge-neration auf die andere überzugehen und dabei eine Eigenständigkeit zuentwickeln schien“26, unwiederbringlich gebrochen und verloren ist, deroder die kann Geschichte nur in einer demontierten Gestalt aufgehobendenken: als eine spezifischen Form von historischer Erinnerung, welchedie Spuren ihrer Destruktion in sich trägt.27Diesen bewertungsfreien Um-gang mit Vergangenheit charakterisiert Arendt als eine besondere Weiseder Tätigkeit des Geschichtenerzählens. Philosophische Denkübungen be-stehen unter anderem darin, in den Trümmern der Geschichte zu graben,um die Perlen vergangener Erfahrung mit ihren sedimentierten und ver-borgenen Bedeutungen wiederzufinden, aus denen sich eine Geschichteherauslesen lässt, die dem Geist hilft, sich auf die Zukunft zu orientieren.So enthält auch die von Abbrüchen gekennzeichnete Geschichte des Den-kens von Frauen Perlen, welche die Spuren einer Genealogie weiblichenDenkens legen können, eine Form von Erinnerung als kreatives Neu-durchdenken, das Potenziale der Vergangenheit aufdeckt und weiterführt.Zum anderen erkenne ich die Leistung des Kontingenzdenkens von Frau-en darin, dass sie kleinere und größere Bausteine zu einer Gegenerzäh-lung zur bestimmenden Kontingenzerzählung bereitstellen: Die Beiträgeder denkenden Frauen zur Kontingenzproblematik machen deutlich, dassAporien und Grenzen des Kontingenzdenkens im Rückgriff auf die An-fänge zwar nicht zu lösen sind, doch sie weisen darauf hin, dass Denkwege,die einmal eingeschlagen wurden, neu reflektiert, noch einmal und nocheinmal anders gegangen werden können. Es ist das Verdienst der vor-gestellten Denkerinnen, die Frage nach dem Anderen der Kontingenz,nach der Bedingtheit des nicht unbedingt Notwendigen offen gehaltenund philosophische Antworten darauf gesucht zu haben. So möchte diesesBuch ein Beitrag zu Denkerinnen der Kontingenz sein und zugleich mit aneiner Geschichte des Kontingenzdenkens schreiben.

Dass die Idee zum Buch wurde, ist nicht allein und nicht notwendiger-weise einzig den Autorinnen anzurechnen. Doch gerade ihnen und ihrerBereitschaft, mein Konzept weiterzudenken, anders zu denken, schreibendzu Papier bzw. auf den Computerbildschirm zu bringen, und sich dabei aufdas „formale Korsett“ eines derartigen Projektes einzulassen, bin ich zugroßem Dank verpflichtet. Für wertvolle Hinweise und Anregungen imVorfeld des Buches danke ich besonders Brigitte Hilmer, Rahel Jaeggi,Ruth Ewertowski und Louise Röska-Hardy. Die Basler Wissenschaftlerin-nengruppe HBK (Natalie Amstutz, Ariane Bürgin, Elsbeth Dangel-Pello-quin, Franziska Frei Gerlach, Silvia Henke, Brigitte Hilmer, KathrinHönig, Anne Krauter, Katrin Meyer, Fabienne Peter, Barbara Schmitz undBarbara von Reibnitz) hat dieses Projekt in vertraut kontrovers-konstruk-tiver Manier begleitet, diskutiert und entscheidend geprägt. Den Studie-renden der Theologischen Fakultät der Universität Basel, mit denen ich ineinem ersten Durchgang drei Philosophinnen auf ihr Kontingenzdenkenhin befragt habe, verdanke ich klarere Konturen dieses Projektes. Die Öf-fentliche Bibliothek der Universität Basel bot mir klimatisierte, kühle Ar-beitsräume, die ich besonders bei den heißen Temperaturen des Sommers2003 geschätzt habe. Zu danken habe ich dem Schweizerischen National-fonds, der meine Arbeit an diesem Buch überhaupt erst ermöglicht undfinanziell unterstützt hat. Zu danken ist auch der Theologischen Fakultätder Universität Basel, die mir den Arbeitsplatz und das elektronischeKnow-how zur Verfügung gestellt hat. Zu danken ist überdies BrunoKern, dem Lektor der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, der die Arbeitzu diesem Buch angeregt und mit Christian Geinitz freundlich betreut hat.sionsbasis und einen umfangreichen Forschungsstand zurückgegriffenwerden, wie etwa bei Hannah Arendt und Judith Butler. Hier handelt essich bei den Texten um Diskussionsbeiträge. Schließlich gibt es Beiträge,die in erster Linie biographisch angelegt sind (Simone Weil), und Beiträge,die eine genaue Re-Lektüre eines bestimmten philosophischen Textesunter dem Aspekt der Kontingenzthematik vornehmen (Edith Stein). DieUnterschiedlichkeit der einzelnen Zugänge ist Stärke und Merkmal desDenkens von Kontingenz, welches sich selbst auch im Denken über dasDenken der Kontingenz als ein plurales, vielschichtiges präsentiert.

Die Leistung des Kontingenzdenkens von Frauen, wie es in diesemSammelband dargestellt wird, dürfte in einem Zweifachen liegen. Einmaldarin, dass in besonderer Weise sichtbar wird, auf welche Weise und anwelchen inhaltlichen Punkten das Denken von Frauen durch ihre philoso-phischen Vorgängerinnen geprägt ist, gerade dann, wenn dieses Denkenvon Unterbrüchen und Abbrüchen gekennzeichnet ist. Diese Überlegungknüpft an Hannah Arendts Projekt einer „alternative[n] Archäologie derModerne“25an. Wer, wie Arendt, davon ausgeht, dass der Faden der Tradi-tion gerissen ist, „die Kontinuität der Vergangenheit, wie sie von einer Ge-neration auf die andere überzugehen und dabei eine Eigenständigkeit zuentwickeln schien“26, unwiederbringlich gebrochen und verloren ist, deroder die kann Geschichte nur in einer demontierten Gestalt aufgehobendenken: als eine spezifischen Form von historischer Erinnerung, welchedie Spuren ihrer Destruktion in sich trägt.27Diesen bewertungsfreien Um-gang mit Vergangenheit charakterisiert Arendt als eine besondere Weiseder Tätigkeit des Geschichtenerzählens. Philosophische Denkübungen be-stehen unter anderem darin, in den Trümmern der Geschichte zu graben,um die Perlen vergangener Erfahrung mit ihren sedimentierten und ver-borgenen Bedeutungen wiederzufinden, aus denen sich eine Geschichteherauslesen lässt, die dem Geist hilft, sich auf die Zukunft zu orientieren.So enthält auch die von Abbrüchen gekennzeichnete Geschichte des Den-kens von Frauen Perlen, welche die Spuren einer Genealogie weiblichenDenkens legen können, eine Form von Erinnerung als kreatives Neu-durchdenken, das Potenziale der Vergangenheit aufdeckt und weiterführt.Zum anderen erkenne ich die Leistung des Kontingenzdenkens von Frau-en darin, dass sie kleinere und größere Bausteine zu einer Gegenerzäh-lung zur bestimmenden Kontingenzerzählung bereitstellen: Die Beiträgeder denkenden Frauen zur Kontingenzproblematik machen deutlich, dassAporien und Grenzen des Kontingenzdenkens im Rückgriff auf die An-fänge zwar nicht zu lösen sind, doch sie weisen darauf hin, dass Denkwege,die einmal eingeschlagen wurden, neu reflektiert, noch einmal und nocheinmal anders gegangen werden können. Es ist das Verdienst der vor-gestellten Denkerinnen, die Frage nach dem Anderen der Kontingenz,nach der Bedingtheit des nicht unbedingt Notwendigen offen gehaltenund philosophische Antworten darauf gesucht zu haben. So möchte diesesBuch ein Beitrag zu Denkerinnen der Kontingenz sein und zugleich mit aneiner Geschichte des Kontingenzdenkens schreiben.

Dass die Idee zum Buch wurde, ist nicht allein und nicht notwendiger-weise einzig den Autorinnen anzurechnen. Doch gerade ihnen und ihrerBereitschaft, mein Konzept weiterzudenken, anders zu denken, schreibendzu Papier bzw. auf den Computerbildschirm zu bringen, und sich dabei aufdas „formale Korsett“ eines derartigen Projektes einzulassen, bin ich zugroßem Dank verpflichtet. Für wertvolle Hinweise und Anregungen imVorfeld des Buches danke ich besonders Brigitte Hilmer, Rahel Jaeggi,Ruth Ewertowski und Louise Röska-Hardy. Die Basler Wissenschaftlerin-nengruppe HBK (Natalie Amstutz, Ariane Bürgin, Elsbeth Dangel-Pello-quin, Franziska Frei Gerlach, Silvia Henke, Brigitte Hilmer, KathrinHönig, Anne Krauter, Katrin Meyer, Fabienne Peter, Barbara Schmitz undBarbara von Reibnitz) hat dieses Projekt in vertraut kontrovers-konstruk-tiver Manier begleitet, diskutiert und entscheidend geprägt. Den Studie-renden der Theologischen Fakultät der Universität Basel, mit denen ich ineinem ersten Durchgang drei Philosophinnen auf ihr Kontingenzdenkenhin befragt habe, verdanke ich klarere Konturen dieses Projektes. Die Öf-fentliche Bibliothek der Universität Basel bot mir klimatisierte, kühle Ar-beitsräume, die ich besonders bei den heißen Temperaturen des Sommers2003 geschätzt habe. Zu danken habe ich dem Schweizerischen National-fonds, der meine Arbeit an diesem Buch überhaupt erst ermöglicht undfinanziell unterstützt hat. Zu danken ist auch der Theologischen Fakultätder Universität Basel, die mir den Arbeitsplatz und das elektronischeKnow-how zur Verfügung gestellt hat. Zu danken ist überdies BrunoKern, dem Lektor der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, der die Arbeitzu diesem Buch angeregt und mit Christian Geinitz freundlich betreut hat.

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EDITH STEIN Kontingenz im Spannungsfeld von Ontologie und Phänomenologie

Von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

1. Vita

Herkunft und frühe Jahre

Die Spur des Besonderen hebt früh an.1Schon der Mutter war die Ge-burt des elften Kindes am jüdischen Versöhnungsfest (Yom Kippur), da-mals 12. Oktober 1891, auszeichnend. Breslau, Geburtsort Edith Steins,besaß eine starke jüdische Gemeinde.2Beide Eltern entstammten kinder-reichen Familien aus dem schlesischen Kleinbürgertum, die allerdings umdie Jahrhundertwende durch Studium und wachsenden Wohlstand mittel-ständisch wurden.

Das Mädchen wächst vaterlos auf; es ist eindreiviertel Jahre alt, als Sieg-fried Stein (1843–1893), Holz- und Kohlenhändler in Breslau, plötzlichstirbt. So übernimmt die Mutter Auguste (1849–1936), geb. Courant, das

Geschäft. Das Bild dieser starken Frau, die ungelernt mit erstaunlichem

Erfolg in die Arbeit einsprang, hat Stein später bei der Konzeption derweiblichen Arbeitswelt und vor allem bei der Frage der Vereinbarkeit von

Familie und Beruf geleitet, ebenso bei den Thesen zur leiblichen und geis-tigen Mutterschaft. Auguste Stein besaß als tragenden Grund eine verhal-tene, selbstverständliche Frömmigkeit; dennoch wuchsen die GeschwisterStein bereits, wie ihre gesamte Generation, in ein liberal-preußisches Kul-turbürgertum hinein. Steins Autobiographie Aus dem Leben einer jüdi- schen Familie (1933) zeichnet nur noch wenige religiöse Gebräuche nach,die vorwiegend auf Festtage beschränkt blieben.3Sichtbar wird stattdes-sen die unaufhaltsame Assimilation an die liberale deutsche Kultur, dasunbefangene Abwerfen der religiösen Resttradition.

Ethische Entschiedenheit, Bedürfnislosigkeit und Selbstdisziplin sindals grundlegendes familiäres Erbe anzusehen. Von der „klugen Edith“, dieden Kindergarten verweigert, über ihre erstklassigen schulischen Leistun-gen und das Abitur 1911 als Prima der Klasse, schließlich bis zur glänzen-den Studienzeit und Promotion 1916 geht ein geradliniger, kaum gehemm-ter Weg. Hervorstechend ist eine rasch und gründlich aufnehmende Intel-ligenz, allerdings neben zeitweiliger Verschlossenheit. Stein wird in derAutobiographie die Gefährdung dieser jugendlichen Phase, die sogar einegewisse Lebensmüdigkeit einschließt, mit Freimut ansprechen. Schon dieGymnasiastin wendet sich andererseits aktiv den Idealen der Frauenbewe-gung zu, während sie sich der Religion vollständig entfremdet. Das leichteAbstreifen des Betens im Alter von 14 Jahren ist bezeichnend, weil sichdaran das Gesetz ihrer ganzen Generation ausdrückt: statt einer unver-standenen Tradition anzuhängen lieber aufrichtig in einem keineswegsunangenehmen Vakuum zu stehen.

Der erste Eros: Philosophie

Das – erstmals dieser Frauengeneration mögliche – Studium führt Steinzu inneren Durchbrüchen. Sie belegt in Breslau im Sommer 1911 Germa-nistik, Psychologie und Philosophie – Letztere der kritischen Studentinetwas zu flach. Als sie auf Edmund Husserls Logische Untersuchungen (1900/1901) stößt, bieten sie ihr den lang gesuchten intellektuellen Anreiz:eine „Klärungsarbeit“ und einen voraussetzungslosen, streng kontrollier-ten Beginn der Reflexion. Beim Wechsel nach Göttingen im April 1913 zuHusserl kommen ihre Intellektualität, ihr Streben nach Selbststand, ihreDurchsetzungskraft rasch zu Wort. Stein hat schon in diesen Anfangsjah-ren etwas erstaunlich Zielgerichtetes und Willensbetontes bei großer re-zeptiver Kraft. So führt sie sofort das Sitzungsprotokoll der GöttingerPhilosophischen Gesellschaft4.

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EDITH STEIN Kontingenz im Spannungsfeld von Ontologie und Phänomenologie

Von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

1. Vita

Herkunft und frühe Jahre

Die Spur des Besonderen hebt früh an.1Schon der Mutter war die Ge-burt des elften Kindes am jüdischen Versöhnungsfest (Yom Kippur), da-mals 12. Oktober 1891, auszeichnend. Breslau, Geburtsort Edith Steins,besaß eine starke jüdische Gemeinde.2Beide Eltern entstammten kinder-reichen Familien aus dem schlesischen Kleinbürgertum, die allerdings umdie Jahrhundertwende durch Studium und wachsenden Wohlstand mittel-ständisch wurden.

Das Mädchen wächst vaterlos auf; es ist eindreiviertel Jahre alt, als Sieg-fried Stein (1843–1893), Holz- und Kohlenhändler in Breslau, plötzlichstirbt. So übernimmt die Mutter Auguste (1849–1936), geb. Courant, das

Geschäft. Das Bild dieser starken Frau, die ungelernt mit erstaunlichem

Erfolg in die Arbeit einsprang, hat Stein später bei der Konzeption derweiblichen Arbeitswelt und vor allem bei der Frage der Vereinbarkeit von

Familie und Beruf geleitet, ebenso bei den Thesen zur leiblichen und geis-tigen Mutterschaft. Auguste Stein besaß als tragenden Grund eine verhal-tene, selbstverständliche Frömmigkeit; dennoch wuchsen die GeschwisterStein bereits, wie ihre gesamte Generation, in ein liberal-preußisches Kul-turbürgertum hinein. Steins Autobiographie Aus dem Leben einer jüdi- schen Familie (1933) zeichnet nur noch wenige religiöse Gebräuche nach,die vorwiegend auf Festtage beschränkt blieben.3Sichtbar wird stattdes-sen die unaufhaltsame Assimilation an die liberale deutsche Kultur, dasunbefangene Abwerfen der religiösen Resttradition.

Ethische Entschiedenheit, Bedürfnislosigkeit und Selbstdisziplin sindals grundlegendes familiäres Erbe anzusehen. Von der „klugen Edith“, dieden Kindergarten verweigert, über ihre erstklassigen schulischen Leistun-gen und das Abitur 1911 als Prima der Klasse, schließlich bis zur glänzen-den Studienzeit und Promotion 1916 geht ein geradliniger, kaum gehemm-ter Weg. Hervorstechend ist eine rasch und gründlich aufnehmende Intel-ligenz, allerdings neben zeitweiliger Verschlossenheit. Stein wird in derAutobiographie die Gefährdung dieser jugendlichen Phase, die sogar einegewisse Lebensmüdigkeit einschließt, mit Freimut ansprechen. Schon dieGymnasiastin wendet sich andererseits aktiv den Idealen der Frauenbewe-gung zu, während sie sich der Religion vollständig entfremdet. Das leichteAbstreifen des Betens im Alter von 14 Jahren ist bezeichnend, weil sichdaran das Gesetz ihrer ganzen Generation ausdrückt: statt einer unver-standenen Tradition anzuhängen lieber aufrichtig in einem keineswegsunangenehmen Vakuum zu stehen.

Der erste Eros: Philosophie

Das – erstmals dieser Frauengeneration mögliche – Studium führt Steinzu inneren Durchbrüchen. Sie belegt in Breslau im Sommer 1911 Germa-nistik, Psychologie und Philosophie – Letztere der kritischen Studentinetwas zu flach. Als sie auf Edmund Husserls Logische Untersuchungen (1900/1901) stößt, bieten sie ihr den lang gesuchten intellektuellen Anreiz:eine „Klärungsarbeit“ und einen voraussetzungslosen, streng kontrollier-ten Beginn der Reflexion. Beim Wechsel nach Göttingen im April 1913 zuHusserl kommen ihre Intellektualität, ihr Streben nach Selbststand, ihreDurchsetzungskraft rasch zu Wort. Stein hat schon in diesen Anfangsjah-ren etwas erstaunlich Zielgerichtetes und Willensbetontes bei großer re-zeptiver Kraft. So führt sie sofort das Sitzungsprotokoll der GöttingerPhilosophischen Gesellschaft4.

In Göttingen 1913/1914 tauchen lebenslange Freunde am Horizont ihrerphänomenologischen Studien auf: Adolf und Anne Reinach, Roman In-garden, Alexandre Koyré, Hans Lipps, Winthrop Bell, Jean Hering, FritzKaufmann, Hedwig Conrad-Martius. Max Schelers philosophische Schät-zung des Religiösen klingt für die Agnostikerin neu, aber nicht unlogisch:„Sie führte mich noch nicht zum Glauben. Aber sie erschloß mir einen Be-reich von ‘Phänomenen’, an denen ich nun nicht mehr blind vorbeigehenkonnte. […] Die Schranken der rationalistischen Vorurteile, in denen ichaufgewachsen war, ohne es zu wissen, fielen, und die Welt des Glaubensstand plötzlich vor mir.“5

Zu tiefer Erschütterung führt die Konfrontation mit dem Ersten Welt-krieg. Die überzeugte Patriotin unterbricht 1915 Studium und Dissertationzugunsten eines Lazarett-Einsatzes in Mährisch-Weiskirchen. Das erfahre-ne Leiden drängt die Frage nach Sinn im Vergeblichen auf. Nicht ohneKrisen nervlicher und intellektueller Erschöpfung wird die Doktorarbeitzum Thema Einfühlung6beendet; Husserl, mittlerweile von Göttingennach Freiburg berufen, benotet sie im August 1916 „summa cum laude“.Stein befindet sich jedoch bei allem steil aufstrebenden Weg in einer un-klaren Lage: Husserl erwägt grundsätzlich keine Habilitation von Frauen;ein nicht-philosophischer „Brotberuf“ ist ihr undenkbar. Immerhin: Hus-serl stellt die ebenso fähige wie zäh-fleißige Doktorin in Freiburg als Pri-vatassistentin an, um Vorlesungen und unfertige stenographierte Entwürfezu transkribieren, Lücken anzumerken und zur Weiterverarbeitung vorzu-legen. Husserls Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenolo-gischen Philosophie II III und wären unzweifelhaft ohne Stein nicht er-schienen. Ferner bereitete sie seine Phänomenologie des inneren Zeitbe- wußtseins für den Druck vor; noch ungedruckt liegt im Husserl-ArchivLöwen die Systematische Raumkonstitution nach von ihr ausgewähltenManuskripten Husserls vor 1916. Zeitgleich verfasst Stein einige Aufsätzeim Auftrag des „Meisters“.7

In diesen angespannten Jahren entstehen aber auch eigene Konzeptio-nen: eine Einführung in die Philosophie von 1917–1918 (Erstdruck 1991), Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geistes- wissenschaften (Erstdruck 1922) und Eine Untersuchung über den Staat (Erstdruck 1925), beide im renommierten Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung.

Allerdings wird Stein diese zehrende Aktivität wegen der mangelnden

Zuarbeit Husserls schon im April 1918 entmutigt aufkündigen.

Krise und Wahrheit

In ihr Leben bricht etwas nicht Vorhergesehenes ein – doch geht diesemNeuen eine Zeit besonderen Leidens von 1917 bis 1921 voraus. Insgesamtvier (!) Habilitationsversuche zwischen 1918 und 1932 scheiterten. Hinzukommen zwei zerbrochene Beziehungen. Die erste galt in scheuer Formdem polnischen Kommilitonen Ingarden; der Höhepunkt der Neigung fälltins Jahr 1917. 1920/1921 wiederholt sich das Grundmuster, Liebe ohneGegenliebe, in Bezug auf Lipps. Stein reflektiert dies indirekt als ein „Er-lebnis, das meine Kräfte überstieg, meine geistige Lebenskraft völlig auf-gezehrt und mich aller Aktivität beraubt hat“8.

Die quälende Suche nach Sinn führt zu einer Annäherung an das Chris-tentum: „Das hat mich von dem Leben befreit, das mich niedergeworfenhatte und hat mir zugleich die Kraft gegeben, das Leben aufs neue unddankbar wieder aufzunehmen. Von einer ‘Wiedergeburt’ kann ich also ineinem tiefsten Sinne sprechen.“9

Nach mehreren Jahren des gewissenhaften Einlesens in die christlicheLiteratur mündet die Suche im Juni 1921 in dem Willen zur Konversion.Stein entschließt sich in Bergzabern bei Conrad-Martius anhand der Vida von Teresa von Ávila dazu, Christin, Katholikin, Karmelitin zu werden.Der „Blitz“ dieser einen Nacht muss jedoch vor dem Hintergrund einermehrjährigen „Wüste“ und eines großen Leides gesehen werden. DieWucht der neuen Anziehung ist erheblich: Stein lässt sich am 1. Januar1922 in Bergzabern taufen und am 2. Februar 1922 in Speyer firmen – anzwei Festtagen, an denen die katholische Liturgie jüdische Rituale mit-feiert: die „Beschneidung des Herrn“ und die „Reinigung Mariens imTempel“. Doch trennt sich Stein damit von ihrer Kindheits-Kultur, wie ihrauf bedrückende Weise klar wird am tiefen Schmerz und bleibenden Un-verständnis ihrer Mutter und der Familie.

In Göttingen 1913/1914 tauchen lebenslange Freunde am Horizont ihrerphänomenologischen Studien auf: Adolf und Anne Reinach, Roman In-garden, Alexandre Koyré, Hans Lipps, Winthrop Bell, Jean Hering, FritzKaufmann, Hedwig Conrad-Martius. Max Schelers philosophische Schät-zung des Religiösen klingt für die Agnostikerin neu, aber nicht unlogisch:„Sie führte mich noch nicht zum Glauben. Aber sie erschloß mir einen Be-reich von ‘Phänomenen’, an denen ich nun nicht mehr blind vorbeigehenkonnte. […] Die Schranken der rationalistischen Vorurteile, in denen ichaufgewachsen war, ohne es zu wissen, fielen, und die Welt des Glaubensstand plötzlich vor mir.“5

Zu tiefer Erschütterung führt die Konfrontation mit dem Ersten Welt-krieg. Die überzeugte Patriotin unterbricht 1915 Studium und Dissertationzugunsten eines Lazarett-Einsatzes in Mährisch-Weiskirchen. Das erfahre-ne Leiden drängt die Frage nach Sinn im Vergeblichen auf. Nicht ohneKrisen nervlicher und intellektueller Erschöpfung wird die Doktorarbeitzum Thema Einfühlung6beendet; Husserl, mittlerweile von Göttingennach Freiburg berufen, benotet sie im August 1916 „summa cum laude“.Stein befindet sich jedoch bei allem steil aufstrebenden Weg in einer un-klaren Lage: Husserl erwägt grundsätzlich keine Habilitation von Frauen;ein nicht-philosophischer „Brotberuf“ ist ihr undenkbar. Immerhin: Hus-serl stellt die ebenso fähige wie zäh-fleißige Doktorin in Freiburg als Pri-vatassistentin an, um Vorlesungen und unfertige stenographierte Entwürfezu transkribieren, Lücken anzumerken und zur Weiterverarbeitung vorzu-legen. Husserls Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenolo-gischen Philosophie II III und wären unzweifelhaft ohne Stein nicht er-schienen. Ferner bereitete sie seine Phänomenologie des inneren Zeitbe- wußtseins für den Druck vor; noch ungedruckt liegt im Husserl-ArchivLöwen die Systematische Raumkonstitution nach von ihr ausgewähltenManuskripten Husserls vor 1916. Zeitgleich verfasst Stein einige Aufsätzeim Auftrag des „Meisters“.7

In diesen angespannten Jahren entstehen aber auch eigene Konzeptio-nen: eine Einführung in die Philosophie von 1917–1918 (Erstdruck 1991), Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geistes- wissenschaften (Erstdruck 1922) und Eine Untersuchung über den Staat (Erstdruck 1925), beide im renommierten Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung.

Allerdings wird Stein diese zehrende Aktivität wegen der mangelnden

Zuarbeit Husserls schon im April 1918 entmutigt aufkündigen.

Krise und Wahrheit

In ihr Leben bricht etwas nicht Vorhergesehenes ein – doch geht diesemNeuen eine Zeit besonderen Leidens von 1917 bis 1921 voraus. Insgesamtvier (!) Habilitationsversuche zwischen 1918 und 1932 scheiterten. Hinzukommen zwei zerbrochene Beziehungen. Die erste galt in scheuer Formdem polnischen Kommilitonen Ingarden; der Höhepunkt der Neigung fälltins Jahr 1917. 1920/1921 wiederholt sich das Grundmuster, Liebe ohneGegenliebe, in Bezug auf Lipps. Stein reflektiert dies indirekt als ein „Er-lebnis, das meine Kräfte überstieg, meine geistige Lebenskraft völlig auf-gezehrt und mich aller Aktivität beraubt hat“8.

Die quälende Suche nach Sinn führt zu einer Annäherung an das Chris-tentum: „Das hat mich von dem Leben befreit, das mich niedergeworfenhatte und hat mir zugleich die Kraft gegeben, das Leben aufs neue unddankbar wieder aufzunehmen. Von einer ‘Wiedergeburt’ kann ich also ineinem tiefsten Sinne sprechen.“9

Nach mehreren Jahren des gewissenhaften Einlesens in die christlicheLiteratur mündet die Suche im Juni 1921 in dem Willen zur Konversion.Stein entschließt sich in Bergzabern bei Conrad-Martius anhand der Vida von Teresa von Ávila dazu, Christin, Katholikin, Karmelitin zu werden.Der „Blitz“ dieser einen Nacht muss jedoch vor dem Hintergrund einermehrjährigen „Wüste“ und eines großen Leides gesehen werden. DieWucht der neuen Anziehung ist erheblich: Stein lässt sich am 1. Januar1922 in Bergzabern taufen und am 2. Februar 1922 in Speyer firmen – anzwei Festtagen, an denen die katholische Liturgie jüdische Rituale mit-feiert: die „Beschneidung des Herrn“ und die „Reinigung Mariens imTempel“. Doch trennt sich Stein damit von ihrer Kindheits-Kultur, wie ihrauf bedrückende Weise klar wird am tiefen Schmerz und bleibenden Un-verständnis ihrer Mutter und der Familie.Wendung zum Endgültigen

Steins Leben unter dem „neuen Gesetz“ verläuft in zunächst unauffälli-gen Bahnen: Von 1923–1931 arbeitet sie als Lehrerin für Deutsch und Ge-schichte am Pädagogischen Seminar und Lyzeum St. Magdalena der Do-minikanerinnen in Speyer.10Der Jesuit Erich Przywara rät ihr zu Überset-zungen von (1923–1925) John Henry Newman und (1925–1929) Thomasvon Aquin, um gedanklich in den Horizont christlicher Philosophie einzu-dringen.11

Neben der (Über-)Last der Schularbeit häufen sich die Einladungen zuVorträgen, vornehmlich zur Frauenfrage.12Geistliche Heimat wird ihr ab1928 die Erzabtei Beuron unter Abt Raphael Walzer. 1932 beruft sie dasDeutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik als Dozentin nachMünster. Durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamten-tums“ im April 1933 dort untragbar geworden, verwirklicht Stein im Ok-tober 1933 den Wunsch, in Köln in den Karmel einzutreten, und erbittetden Namen Teresia Benedicta a Cruce.

Ein umfangreiches Werk, 1931 ursprünglich als Habilitationsschrift Potenz und Akt betitelt, wird mit der Zunahme der Problematik Endliches und ewiges Sein genannt (1935–1937) und erhält den auf Heidegger bezo-genen Untertitel Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins. „Die wieder-geborene Philosophie des Mittelalters und die neugeborene Philosophiedes 20.Jahrhunderts – können sie sich in einem Strombett der philosophiaperennis zusammenfinden?“131941/1942 verfasst Stein Wege der Gottes- erkenntnis 14und die Kreuzeswissenschaft 15. Inspiriert von dem spanischenMystiker Johannes vom Kreuz (1542–1591) zeichnet Stein die paradoxeBeziehung von Tod und Leben, Kreuz und Auferstehung nach, was imNachhinein durchsichtig wird auf ihre eigene Lebensentscheidung.

Steins Lebensende entzieht sich fast ganz ins Dunkel. An Silvester 1938wechselt sie nach der „Kristallnacht“ in das niederländische Kölner Filial-kloster Echt. 1942 versucht sie, für ihre als Laienhelferin tätige SchwesterRosa und sich selbst im Schweizer Karmel von Le Pâquier Aufnahme zufinden. Am 26. Juli 1942 lassen die niederländischen Bischöfe ein Hirten-wort gegen die Judenverfolgung verlesen. Unmittelbar darauf werden diekatholischen Juden, vor allem Ordensangehörige, verhaftet; auch Edithund Rosa Stein werden am 2. August 1942 abgeholt und über die Sammel-lager Amersfort und Westerbork mit etwa 15 anderen Ordensleuten undeiner Gruppe von Gefährtinnen16„nach Osten“ transportiert – dann ver-lieren sich die Spuren vermutlich in den Gaskammern von Auschwitz-Bir-kenau am 9. August 1942.

Die Tochter Israels

Der Seligsprechung Steins als Martyrerin am 1. Mai 1987 ging die Kon-troverse voraus: Starb sie als Christin oder nicht vielmehr als Jüdin? Es ge-hört zur historischen Redlichkeit zu sagen, dass Stein als Jüdin umge-bracht wurde, aber es gehört ebenso zur historischen Redlichkeit anzuer-kennen, dass sie dieses Schicksal bewusst als Christin trug. Gerade in denKölner Jahren ab 1933 betonte sie mehrfach die besondere Auszeichnungihrer jüdischen Abstammung im Sinne einer Berufung zum Kreuz. DenRassenterror der Nationalsozialisten kommentierte sie hellsichtig, er rich-te sich gegen die menschliche Natur Christi. Kraft dieser menschlichenNatur wusste sie sich „blutsverwandt“: „Sie glauben nicht, was es für michbedeutet, Tochter des auserwählten Volkes zu sein, nicht nur geistig, son-dern auch blutsmäßig zu Christus zu gehören.“17Bekanntlich ersuchte siebereits im April 1933 den Papst um eine Enzyklika gegen den National-sozialismus und empfand deren Ausbleiben mit Schmerz. Steins zerstörtesLeben geht letztlich, gemäß ihrem Testament18, in eine kaum auszuleuch-tende Stellvertretung für das alte und neue Israel über.

Am 11. Oktober 1998 wurde sie in Rom heilig gesprochen und ein Jahrspäter zur Mitpatronin Europas neben Birgida von Schweden und Cateri-na von Siena ernannt. Eine Gesamtausgabe ihrer autobiographischen,pädagogischen, philosophischen und geistlichen Werke in 25 Bänden(Freiburg: Herder) von 2000–2006 ist im Erscheinen begriffen.Wendung zum Endgültigen

Steins Leben unter dem „neuen Gesetz“ verläuft in zunächst unauffälli-gen Bahnen: Von 1923–1931 arbeitet sie als Lehrerin für Deutsch und Ge-schichte am Pädagogischen Seminar und Lyzeum St. Magdalena der Do-minikanerinnen in Speyer.10Der Jesuit Erich Przywara rät ihr zu Überset-zungen von (1923–1925) John Henry Newman und (1925–1929) Thomasvon Aquin, um gedanklich in den Horizont christlicher Philosophie einzu-dringen.11

Neben der (Über-)Last der Schularbeit häufen sich die Einladungen zuVorträgen, vornehmlich zur Frauenfrage.12Geistliche Heimat wird ihr ab1928 die Erzabtei Beuron unter Abt Raphael Walzer. 1932 beruft sie dasDeutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik als Dozentin nachMünster. Durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamten-tums“ im April 1933 dort untragbar geworden, verwirklicht Stein im Ok-tober 1933 den Wunsch, in Köln in den Karmel einzutreten, und erbittetden Namen Teresia Benedicta a Cruce.

Ein umfangreiches Werk, 1931 ursprünglich als Habilitationsschrift Potenz und Akt betitelt, wird mit der Zunahme der Problematik Endliches und ewiges Sein genannt (1935–1937) und erhält den auf Heidegger bezo-genen Untertitel Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins. „Die wieder-geborene Philosophie des Mittelalters und die neugeborene Philosophiedes 20.Jahrhunderts – können sie sich in einem Strombett der philosophiaperennis zusammenfinden?“131941/1942 verfasst Stein Wege der Gottes- erkenntnis 14und die Kreuzeswissenschaft 15. Inspiriert von dem spanischenMystiker Johannes vom Kreuz (1542–1591) zeichnet Stein die paradoxeBeziehung von Tod und Leben, Kreuz und Auferstehung nach, was imNachhinein durchsichtig wird auf ihre eigene Lebensentscheidung.

Steins Lebensende entzieht sich fast ganz ins Dunkel. An Silvester 1938wechselt sie nach der „Kristallnacht“ in das niederländische Kölner Filial-kloster Echt. 1942 versucht sie, für ihre als Laienhelferin tätige SchwesterRosa und sich selbst im Schweizer Karmel von Le Pâquier Aufnahme zufinden. Am 26. Juli 1942 lassen die niederländischen Bischöfe ein Hirten-wort gegen die Judenverfolgung verlesen. Unmittelbar darauf werden diekatholischen Juden, vor allem Ordensangehörige, verhaftet; auch Edithund Rosa Stein werden am 2. August 1942 abgeholt und über die Sammel-lager Amersfort und Westerbork mit etwa 15 anderen Ordensleuten undeiner Gruppe von Gefährtinnen16„nach Osten“ transportiert – dann ver-lieren sich die Spuren vermutlich in den Gaskammern von Auschwitz-Bir-kenau am 9. August 1942.

Die Tochter Israels

Der Seligsprechung Steins als Martyrerin am 1. Mai 1987 ging die Kon-troverse voraus: Starb sie als Christin oder nicht vielmehr als Jüdin? Es ge-hört zur historischen Redlichkeit zu sagen, dass Stein als Jüdin umge-bracht wurde, aber es gehört ebenso zur historischen Redlichkeit anzuer-kennen, dass sie dieses Schicksal bewusst als Christin trug. Gerade in denKölner Jahren ab 1933 betonte sie mehrfach die besondere Auszeichnungihrer jüdischen Abstammung im Sinne einer Berufung zum Kreuz. DenRassenterror der Nationalsozialisten kommentierte sie hellsichtig, er rich-te sich gegen die menschliche Natur Christi. Kraft dieser menschlichenNatur wusste sie sich „blutsverwandt“: „Sie glauben nicht, was es für michbedeutet, Tochter des auserwählten Volkes zu sein, nicht nur geistig, son-dern auch blutsmäßig zu Christus zu gehören.“17Bekanntlich ersuchte siebereits im April 1933 den Papst um eine Enzyklika gegen den National-sozialismus und empfand deren Ausbleiben mit Schmerz. Steins zerstörtesLeben geht letztlich, gemäß ihrem Testament18, in eine kaum auszuleuch-tende Stellvertretung für das alte und neue Israel über.

Am 11. Oktober 1998 wurde sie in Rom heilig gesprochen und ein Jahrspäter zur Mitpatronin Europas neben Birgida von Schweden und Cateri-na von Siena ernannt. Eine Gesamtausgabe ihrer autobiographischen,pädagogischen, philosophischen und geistlichen Werke in 25 Bänden(Freiburg: Herder) von 2000–2006 ist im Erscheinen begriffen.

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2. Denkerin der Kontingenz?

Es mag Kenner des Werkes von Edith Stein verblüffen, der Phänome-nologin und Husserl-Schülerin unter dem Gesichtspunkt der Kontingenzzu begegnen. Zutreffend wird ihr philosophisches Hauptwerk Endliches und ewiges Sein (EES)19vornehmlich unter ontologischen Kategorien ge-lesen20, verdankt es doch seinen Theorieansatz ausdrücklich Aristoteles,dem die ersten Kapitel im Blick auf Potenz und Akt gewidmet sind.21Ver-stärkt wird die aristotelische Ontologie durch Steins Hinzuziehung des

Thomas von Aquin, dessen erkenntnistheoretisch bedeutendstes Werk

Quaestiones disputatae de veritate sie ab 1925 übersetzt hatte22. Ausdrück-lich wird als Ziel von EES formuliert die Mitarbeit an der „philosophiaperennis“, also am zeitübergreifenden philosophischen Erkennen, daskontingente Daten zunächst auszuschließen oder in eine nur zweitrangige

Fragestellung abzudrängen scheint. Dem entspricht der Reduktionscha-rakter des phänomenologischen Vorgehens, das gerade kontingente Mo-mente in die „epoché“, die methodische Einklammerung, setzt. Auch istdie Methode Steins, ihrer phänomenologischen Herkunft gemäß, ent-schieden unhistorisch. Ihre Reflexion von Thomas und Husserl meint

Rückgang auf die Wahrheitsfrage oder die „Urgeschichte“ des Denkens.

Die Suche nach übergeschichtlicher Wahrheit bringt den Versuch dahervon Anfang an in Gegensatz zum damaligen historischen, aber auch zumheutigen sprachtheoretischen Ansatz: Stein verzichtet fast durchgängigauf geschichtliche Reflexionen (hierin eine erkennbare Schülerin Hus-serls).

Andererseits ist der ontologische, aristotelisch-thomistische Ansatzdurch Steins phänomenologisches Denken auch „gebrochen“. Husserlselbst hatte in seiner erkenntnistheoretischen, das Subjekt akzentuieren-den Fragestellung überrascht konstatiert, „daß meine Phänomenologiedie einzige Philosophie ist, die auch zur Scholastik Beziehungen hat“23. Sokann nachdenklich stimmen, dass Stein in ihrem Hauptwerk argumentativvon Aristoteles und Thomas zu Husserl, letztlich aber zu Augustinus wech-selt, so dass nicht einfach von einem Weiterschreiben scholastischer odertranszendental-phänomenologischer Ansätze auszugehen ist. Gerade dieNähe zu Augustinus lässt ein „Existenzdenken“ dienlicher werden alsursprünglich vorgesehen. So wird sie die thomasische Seinslehre an deraugustinischen Personlehre orientieren und den Sinn des Seins aus derAnthropologie unter den Vorzeichen des 20.Jahrhunderts, der Frage nachdem menschlichen Dasein, entwickeln – was ihr zu Beginn der Arbeit auchzielhaft vorschwebte. Damit gerät Stein absichtlich in die herausforderndeNähe zu Heideggers Vordenken. Heidegger hatte in Sein und Zeit (1927)die unvereinbar scheinenden Gegensätze von nicht-ichlichem Seinsbegriffund ich-bezogener Phänomenologie durch die Analyse des Daseins zuüberbrücken versucht. Stein dagegen akzentuiert die Überbrückung durcheine Theorie des Personalen, indem sie die Bedeutung von Zeitlichkeit fürdas menschliche Dasein erweitert und über die Todesgrenze sowie überdie Existentialien Angst, Sorge etc. hinaus den Sinn des Daseins extra-poliert (ohne bereits theologisch zu werden). Dabei entwickelt sie neueExistentialien wie Intentionalität auf Leben in Fülle, Vertrauen, Liebe,Einfühlung in den anderen. Der Sinn des Daseins liegt demzufolge nichteinfachhin im Dasein selbst, sondern in zeit- und ich-transzendierenderErfüllung des Daseins.

Vorrangig arbeitet Stein ab 1928 bis 1932 an einer Theorie des Frau-seins, die neben der phänomenologischen Wesensfrage Überlegungen zugeschichtlichen, mithin kontingenten Faktoren des Frauenbildes ein-schließt.24Noch vor diesen Theorien liegt eine „terra incognita“ der Stein-Forschung: Die Studien Anfang der 20er-Jahre zu einer Phänomenologiedes Psychologischen und des Sozialen, die den intersubjektiven Charaktervon Welt zeigen, sind erstaunlicherweise kaum untersucht.25Der Platz-

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2. Denkerin der Kontingenz?

Es mag Kenner des Werkes von Edith Stein verblüffen, der Phänome-nologin und Husserl-Schülerin unter dem Gesichtspunkt der Kontingenzzu begegnen. Zutreffend wird ihr philosophisches Hauptwerk Endliches und ewiges Sein (EES)19vornehmlich unter ontologischen Kategorien ge-lesen20, verdankt es doch seinen Theorieansatz ausdrücklich Aristoteles,dem die ersten Kapitel im Blick auf Potenz und Akt gewidmet sind.21Ver-stärkt wird die aristotelische Ontologie durch Steins Hinzuziehung des

Thomas von Aquin, dessen erkenntnistheoretisch bedeutendstes Werk

Quaestiones disputatae de veritate sie ab 1925 übersetzt hatte22. Ausdrück-lich wird als Ziel von EES formuliert die Mitarbeit an der „philosophiaperennis“, also am zeitübergreifenden philosophischen Erkennen, daskontingente Daten zunächst auszuschließen oder in eine nur zweitrangige

Fragestellung abzudrängen scheint. Dem entspricht der Reduktionscha-rakter des phänomenologischen Vorgehens, das gerade kontingente Mo-mente in die „epoché“, die methodische Einklammerung, setzt. Auch istdie Methode Steins, ihrer phänomenologischen Herkunft gemäß, ent-schieden unhistorisch. Ihre Reflexion von Thomas und Husserl meint

Rückgang auf die Wahrheitsfrage oder die „Urgeschichte“ des Denkens.

Die Suche nach übergeschichtlicher Wahrheit bringt den Versuch dahervon Anfang an in Gegensatz zum damaligen historischen, aber auch zumheutigen sprachtheoretischen Ansatz: Stein verzichtet fast durchgängigauf geschichtliche Reflexionen (hierin eine erkennbare Schülerin Hus-serls).

Andererseits ist der ontologische, aristotelisch-thomistische Ansatzdurch Steins phänomenologisches Denken auch „gebrochen“. Husserlselbst hatte in seiner erkenntnistheoretischen, das Subjekt akzentuieren-den Fragestellung überrascht konstatiert, „daß meine Phänomenologiedie einzige Philosophie ist, die auch zur Scholastik Beziehungen hat“23. Sokann nachdenklich stimmen, dass Stein in ihrem Hauptwerk argumentativvon Aristoteles und Thomas zu Husserl, letztlich aber zu Augustinus wech-selt, so dass nicht einfach von einem Weiterschreiben scholastischer odertranszendental-phänomenologischer Ansätze auszugehen ist. Gerade dieNähe zu Augustinus lässt ein „Existenzdenken“ dienlicher werden alsursprünglich vorgesehen. So wird sie die thomasische Seinslehre an deraugustinischen Personlehre orientieren und den Sinn des Seins aus derAnthropologie unter den Vorzeichen des 20.Jahrhunderts, der Frage nachdem menschlichen Dasein, entwickeln – was ihr zu Beginn der Arbeit auchzielhaft vorschwebte. Damit gerät Stein absichtlich in die herausforderndeNähe zu Heideggers Vordenken. Heidegger hatte in Sein und Zeit (1927)die unvereinbar scheinenden Gegensätze von nicht-ichlichem Seinsbegriffund ich-bezogener Phänomenologie durch die Analyse des Daseins zuüberbrücken versucht. Stein dagegen akzentuiert die Überbrückung durcheine Theorie des Personalen, indem sie die Bedeutung von Zeitlichkeit fürdas menschliche Dasein erweitert und über die Todesgrenze sowie überdie Existentialien Angst, Sorge etc. hinaus den Sinn des Daseins extra-poliert (ohne bereits theologisch zu werden). Dabei entwickelt sie neueExistentialien wie Intentionalität auf Leben in Fülle, Vertrauen, Liebe,Einfühlung in den anderen. Der Sinn des Daseins liegt demzufolge nichteinfachhin im Dasein selbst, sondern in zeit- und ich-transzendierenderErfüllung des Daseins.

Vorrangig arbeitet Stein ab 1928 bis 1932 an einer Theorie des Frau-seins, die neben der phänomenologischen Wesensfrage Überlegungen zugeschichtlichen, mithin kontingenten Faktoren des Frauenbildes ein-schließt.24Noch vor diesen Theorien liegt eine „terra incognita“ der Stein-Forschung: Die Studien Anfang der 20er-Jahre zu einer Phänomenologiedes Psychologischen und des Sozialen, die den intersubjektiven Charaktervon Welt zeigen, sind erstaunlicherweise kaum untersucht.25Der Platz-beschränkung wegen sollen diese Studien hier jedoch nicht einbezogenwerden. Jedenfalls ist der Materialbestand offenbar vielschichtiger, als aufden ersten Blick zu vermuten, und lädt zu einem Überprüfen der latentenKontingenz in dieser angezielten philosophia perennis ein.

3. Dominanz der Seinsfrage

In EES führt Stein bedeutsamerweise nicht nur eine Auseinanderset-zung mit den Zeitgenossen Husserl, Conrad-Martius, Przywara und MartinHeidegger, sondern gelangt außerdem zu einer gewissen Abhebung vonAristoteles und Thomas von Aquin – was letztlich zu einer immanentenErarbeitung von Kontingenz führte.

Einleitend skizziert Edith Stein die griechische Ausgangsfrage nach demSein als dem „Herrschenden“. Diese Frage werde vom mittelalterlichenDenken übernommen und erweitert: Unter Sein werde Natürliches wieÜbernatürliches zur philosophischen und theologischen Darstellung ge-bracht. Stein fasst dabei christliches, jüdisches und moslemisches Denkenunter derselben Gattung ontologischer Theologie zusammen. Der Bruchmit der Seinsfrage geschehe in Schärfe erst durch die Neuzeit, welche an-stelle des Seins das Erkennen thematisiere und ihm die Gottesfragelogisch unterordne: Die cartesische Selbstvergewisserung des Denkensbedarf der Offenbarung nicht (mehr).

Stein begreift die zeitgenössische Phänomenologie in Ablösung des Car-tesianismus und Kantianismus als epochalen Neubeginn. Er schließe diebeiden unabhängigen, ja gegenläufigen Fragestellungen nach dem Seinwie nach dem Erkennen erstmals wieder zusammen, und zwar nicht aufden ausgeschrittenen Wegen, sondern in originärer methodischer Re-flexion. Die Skizze ihrer Zeitgenossen stellt zugleich Steins eigene Quel-len und Denkhilfen vor: „Sie brachten den verachteten alten Namen On-tologie (Seinslehre) wieder zu Ehren. Sie kam zuerst als Wesensphiloso-phie (die Phänomenologie Husserls und Schelers); dann stellte sich ihr dieExistenzphilosophie Heideggers zur Seite und Hedwig Conrad-Martius’Seinslehre als deren Gegenpol“ (6 f.). Stein selbst versucht, die „neugebo-rene Philosophie des 20.Jahrhunderts“ und die Philosophie des Mittelal-ters so weit wie möglich aufeinander zu „übersetzen“, was freilich nichtmit Harmoniestreben verwechselt werden darf. Steins Denken müht sichum „Sachgehorsam“, was ihr ein wanderndes Vergleichen zwischen ver-schiedenen Denkern nahe legt und keine „geschlossene“, auf einen ein-zigen Entwurf eingeschworene philosophische Systematik.

Wie weit ist aber der reflexive Blick auf Kontingenz in der Befragungdes Seins eingeschlossen? Stein selbst neigt dazu, Philosophie nach demVorbild Husserls als „strenge Wissenschaft“26zu bestimmen, als „Nieder-schlag alles dessen, was der Menschengeist zur Erforschung der Wahrheitgetan hat, in Gebilden, die sich von dem forschenden Geist abgelöst habenund die nun ein eigenes Dasein führen“ (16). Diese Verselbstständigungmuss sich ihrerseits wiederum systematisch auf das Sein zurückführen unddaran prüfen lassen. „Das wahre Sein ist es, worauf alle Wissenschaft ab-zielt. Es liegt aller Wissenschaft voraus, nicht nur der menschlichen Wis-senschaft als einer Veranstaltung zur Gewinnung von richtigem Wissenund damit zugleich von wahren Sätzen und als des greifbaren Niederschla-ges aller dahin zielenden Bemühungen, sondern selbst noch der Wissen-schaft als Idee“ (17). „Unter der Wissenschaft als Idee, die aller mensch-lichen Wissenschaft zu Grunde liegt, ist also der reine (gleichsam nochkörperlose) Ausdruck aller Sachverhalte zu verstehen, in denen sich dasSeiende gemäß seiner eigenen Ordnung auseinanderlegt“ (18). Keines-wegs glaubt Stein damit an eine je abzuschließende Systematik dieserOrdnung. Vielmehr betont sie umgekehrt das Endlose der Wissenschaft,sofern „die wirkliche Welt in ihrer Fülle für eine zergliedernde Erkenntnisunausschöpfbar ist“ (18).

Diese „wirkliche Welt“ ist der Bereich der Kontingenz, die bei Steinzwar nicht begrifflich, aber der Sache nach aufscheint. Denn umfassendlässt sich das Ich nur analysieren im Spannungsfeld der Momente Seinund Nichtsein, Zeitlichkeit und Endlichkeit.

4. Das kontingente Ich

Steins Unterscheidung der Seinsweisen setzt ein bei den aristotelischenBegriffen Potenz und Akt, transformiert durch Thomas von Aquin in sei-ner philosophisch argumentierenden Jugendschrift De ente et essentia 27.Stein verlässt jedoch nach kurzer Darstellung jene Stufenfolge des Seien-den und wählt denselben anthropologischen Einsatz wie Heidegger: dasIch als den ausgezeichneten Zugang zum Sein. Denn der unbezweifelbargewisse Ansatz des Philosophierens, das Welt erschließen will, kann ebennicht mit Welt beginnen, sondern nur mit dem „Träger“ dieser Reflexionselbst, dem eigenen Ich, dem „unentrinnbar Nahe[n]“ (35) – wie beiAugustinus, Descartes und Husserl zentral entfaltet. Bei dieser Rückwen-dung des Geistes auf sich selbst taucht die dreifache Frage auf: „Was istdas Sein, dessen ich inne bin? Was ist das Ich, das seines Seins inne ist?Was ist die geistige Regung, in der ich bin und mir meiner und ihrer be-beschränkung wegen sollen diese Studien hier jedoch nicht einbezogenwerden. Jedenfalls ist der Materialbestand offenbar vielschichtiger, als aufden ersten Blick zu vermuten, und lädt zu einem Überprüfen der latenten

Kontingenz in dieser angezielten philosophia perennis ein.

3. Dominanz der Seinsfrage

In EES führt Stein bedeutsamerweise nicht nur eine Auseinanderset-zung mit den Zeitgenossen Husserl, Conrad-Martius, Przywara und Martin

Heidegger, sondern gelangt außerdem zu einer gewissen Abhebung von

Aristoteles und Thomas von Aquin – was letztlich zu einer immanenten

Erarbeitung von Kontingenz führte.

Einleitend skizziert Edith Stein die griechische Ausgangsfrage nach dem

Sein als dem „Herrschenden“. Diese Frage werde vom mittelalterlichen

Denken übernommen und erweitert: Unter Sein werde Natürliches wie

Übernatürliches zur philosophischen und theologischen Darstellung ge-bracht. Stein fasst dabei christliches, jüdisches und moslemisches Denkenunter derselben Gattung ontologischer Theologie zusammen. Der Bruchmit der Seinsfrage geschehe in Schärfe erst durch die Neuzeit, welche an-stelle des Seins das Erkennen thematisiere und ihm die Gottesfragelogisch unterordne: Die cartesische Selbstvergewisserung des Denkensbedarf der Offenbarung nicht (mehr).

Stein begreift die zeitgenössische Phänomenologie in Ablösung des Car-tesianismus und Kantianismus als epochalen Neubeginn. Er schließe diebeiden unabhängigen, ja gegenläufigen Fragestellungen nach dem Seinwie nach dem Erkennen erstmals wieder zusammen, und zwar nicht aufden ausgeschrittenen Wegen, sondern in originärer methodischer Re-flexion. Die Skizze ihrer Zeitgenossen stellt zugleich Steins eigene Quel-len und Denkhilfen vor: „Sie brachten den verachteten alten Namen On-tologie (Seinslehre) wieder zu Ehren. Sie kam zuerst als Wesensphiloso-phie (die Phänomenologie Husserls und Schelers); dann stellte sich ihr die

Existenzphilosophie Heideggers zur Seite und Hedwig Conrad-Martius’

Seinslehre als deren Gegenpol“ (6 f.). Stein selbst versucht, die „neugebo-rene Philosophie des 20.Jahrhunderts“ und die Philosophie des Mittelal-ters so weit wie möglich aufeinander zu „übersetzen“, was freilich nichtmit Harmoniestreben verwechselt werden darf. Steins Denken müht sichum „Sachgehorsam“, was ihr ein wanderndes Vergleichen zwischen ver-schiedenen Denkern nahe legt und keine „geschlossene“, auf einen ein-zigen Entwurf eingeschworene philosophische Systematik.

Wie weit ist aber der reflexive Blick auf Kontingenz in der Befragungdes Seins eingeschlossen? Stein selbst neigt dazu, Philosophie nach dem

Vorbild Husserls als „strenge Wissenschaft“26zu bestimmen, als „Nieder-schlag alles dessen, was der Menschengeist zur Erforschung der Wahrheitgetan hat, in Gebilden, die sich von dem forschenden Geist abgelöst habenund die nun ein eigenes Dasein führen“ (16). Diese Verselbstständigungmuss sich ihrerseits wiederum systematisch auf das Sein zurückführen unddaran prüfen lassen. „Das wahre Sein ist es, worauf alle Wissenschaft ab-zielt. Es liegt aller Wissenschaft voraus, nicht nur der menschlichen Wis-senschaft als einer Veranstaltung zur Gewinnung von richtigem Wissenund damit zugleich von wahren Sätzen und als des greifbaren Niederschla-ges aller dahin zielenden Bemühungen, sondern selbst noch der Wissen-schaft als Idee“ (17). „Unter der Wissenschaft als Idee, die aller mensch-lichen Wissenschaft zu Grunde liegt, ist also der reine (gleichsam nochkörperlose) Ausdruck aller Sachverhalte zu verstehen, in denen sich dasSeiende gemäß seiner eigenen Ordnung auseinanderlegt“ (18). Keines-wegs glaubt Stein damit an eine je abzuschließende Systematik dieserOrdnung. Vielmehr betont sie umgekehrt das Endlose der Wissenschaft,sofern „die wirkliche Welt in ihrer Fülle für eine zergliedernde Erkenntnisunausschöpfbar ist“ (18).

Diese „wirkliche Welt“ ist der Bereich der Kontingenz, die bei Steinzwar nicht begrifflich, aber der Sache nach aufscheint. Denn umfassendlässt sich das Ich nur analysieren im Spannungsfeld der Momente Seinund Nichtsein, Zeitlichkeit und Endlichkeit.

4. Das kontingente Ich

Steins Unterscheidung der Seinsweisen setzt ein bei den aristotelischenBegriffen Potenz und Akt, transformiert durch Thomas von Aquin in sei-ner philosophisch argumentierenden Jugendschrift De ente et essentia 27.Stein verlässt jedoch nach kurzer Darstellung jene Stufenfolge des Seien-den und wählt denselben anthropologischen Einsatz wie Heidegger: dasIch als den ausgezeichneten Zugang zum Sein. Denn der unbezweifelbargewisse Ansatz des Philosophierens, das Welt erschließen will, kann ebennicht mit Welt beginnen, sondern nur mit dem „Träger“ dieser Reflexionselbst, dem eigenen Ich, dem „unentrinnbar Nahe[n]“ (35) – wie beiAugustinus, Descartes und Husserl zentral entfaltet. Bei dieser Rückwen-dung des Geistes auf sich selbst taucht die dreifache Frage auf: „Was istdas Sein, dessen ich inne bin? Was ist das Ich, das seines Seins inne ist?Was ist die geistige Regung, in der ich bin und mir meiner und ihrer be-wußt bin?“ (36). Erst vom selbst-bewussten Ich her erschließt sich Neues:das Nicht-Ichliche.

Was die erste Frage betrifft, so zeigt das eigene Innesein unmittelbar einDoppelgesicht: Das Ich steht nicht in sich, sondern scheint zwischen Seinund Nichtsein zu strömen – es erfährt sich nur im Gegenwartspunkt zwi-schen Vergehen und Kommen als wirklich. An diesem „Jetzt“ stößt derGeist in sich selbst auf die Scheidung von Nichtsein und Sein. Dieser pre-käre Zwischen-Stand des Ich ist ein erstes Kennzeichen seines kontingen-ten Seins: Es ist nicht ein aus sich begründetes, sondern von unbekanntenFaktoren bzw. vom Rückfall ins Nichts bedrohtes Vorhandensein.

Mit dem Doppelgesicht menschlichen Daseins zwischen Sein und Nichtskommt das Rätselhafte der Zeit ins denkerische Spiel: zeitliches Strömenals zweites Moment der Kontingenz. Stein hat analog zu Heidegger dieZeit als dasjenige gefasst, was das Dasein durchgängig bestimmt. Dabeigeht es – Conrad-Martius folgend – nicht um die übliche unphilosophischeVorstellung von Zeit als räumlichen „Behälter“ für Vergangenheit undZukunft (39). Zeit ist Träger oder Medium einer Urbewegung ins Seinhinein, gegen das Nichts; oder: in das Selbst hinein, aus dem Nichts heraus.Zeitliches Sein ist Werden, das freilich nie zu einem voll in sich ruhendenSein wird. „Dieses Sein bedarf der Zeit“ (39) – mit der Besonderheit, dassnur seine „kontinuierlich immer neu aufleuchtende punktuelle Aktua-lität“ erscheint (40). Doch enthüllt sich gerade der kontingente Gegen-wartspunkt als Mangel – ist das Ich darin doch nicht alles, was es war undsein wird. Das kontingente Ich existiert in prozessualem Strömen.

Eben deshalb aber entlässt es aus sich zwingend die „Idee des reinenSeins, das nichts von Nichtsein in sich hat“ (36 f.). Das Ich kann von sei-nem an den Augenblick gebundenen „schwachen“ Sein, hängend überdem Abgrund des Nichts, auf ein volles, glückhaftes Sein weiterschließen.Offenbar kann eine Steigerung gedacht werden, worin alles Können in derTat verwirklicht, wo jedes Jetzt alles zugleich ist, wo die „Gebrochenheitund Gespaltenheit des geschöpflichen Seins“ (40 f.) vollkommene Gegen-wart eines Seins, jeder Augenblick mit seinem Wesen eins und ganz aktua-lisierte Potenz ist. Dies hat umso mehr reflexive Bedeutung, als im Seinkeineswegs nur eine unversöhnliche Alternative erscheint: hier Fülle, dortMangel an Sein. Vielmehr kann das doppelgesichtige Ich, gemischt ausSein und Nichtsein, sich selbst erst vom ursprünglich vollen Sein her deu-ten und seine eigentümliche Leere erfassen. Ebenso meint „Potenz desIch“ im strengen Sinne „Möglichkeit zu sein“ (41): offen für anderes, dasihm Wirklichkeit verleiht. Dieses Andere muss geklärt werden in einer ge-nauen Abgrenzung vom Werden.

Denn damit das kontingente Ich auf eine erfüllte, zeitfreie Gegenwartweiterschließen kann, ist der Modus des zeitlichen Werdens zu reflektie-ren. Dabei trifft Stein auf ein verflochtenes Verhältnis: Werden kann nurdas Sein, anders gesagt: Werden ist seinem Sinne nach Übergang zum Sein(44). Im Werden und entsprechenden Vergehen erscheint ein Übersteigendes „Jetzt“, ein Verweis über den Augenblick hinaus. Wenigstens an-nähernd wird dieser Gedanke auch durch Erfahrung bestätigt: DerMensch weiß von einer ihm nicht zugänglichen Seinsfülle in den Augen-blicken, wo Höhe und Übermaß das Leben durchpulsen. Diese Höhe isteingeschränkt eben durch den kontingenten Augenblick, in dem sie auf-blüht und schwindet. Ein wandellos-gegenwärtiges Sein kann jedoch,e contrario, gedanklich erschlossen werden. Mehr noch: In der Erfahrungleuchtet es zwar bruchstückhaft, aber in subjektiver Gewissheit auf.

Doch lässt sich das kontingente Ich noch weiter erhellen im Blick aufjenes zeitfrei wirkende, zeitlich nicht festzuhaltende Erlebnis. Ein solchesWiderfahrnis ist ja unterschiedlich stark; seine wechselnde Intensität be-ruht also auf einem im Innersten offenen oder verschlossenen Ich. Es gibtoffenbar ein Recipiens im Ich, das dem kontingenten Ich selbst unbe-kannt, sogar unzugänglich ist – entweder aufnahmebereit oder abweisend.Stein bezeichnet diesen Ich-Grund in der Nachfolge Husserls als transzen-dent, nämlich das kontingente Ich übersteigend. Ebenso geht das, was re-zipiert wird, über das Ich hinaus; es transzendiert die bloße Ichlichkeit,jedenfalls das Bewusstsein vom Ich.

Im Unterschied zum transzendenten Ich-Grund und zum kontingentenIch kennt Stein auch ein reines Ich, dem in den wechselnden, wiederumkontingenten Vorkommnissen des Lebens zwar immer Neues zugespieltwird, das aber als konstanter Träger dieses Spiels fungiert (47). Die kontin-genten Erlebnisgehalte füllen dieses Ich nicht mechanisch-quantitativ auf;es erweist sich vielmehr als lebendig-qualitativ Tragendes, welches seineInhalte auswählt: Es geht selbsttätig von einem Gehalt zum anderen, „auseinem Erlebnis ins andere, und so ist sein Leben ein fließendes Leben“(48). Trotz aller kontingenten Augenblicke bleibt es unzerstückelt, denndas Ich behält das, was es erlebt, „noch eine Weile im Griff“ und „ebensostreckt es sich schon dem Kommenden entgegen und greift danach“ (48).Doch gerade hier kommt das reine Ich an der Frage nicht vorbei, worausdie Gegenwart, in der ihm sein kontingentes Leben bewusst wird, bestän-dig hochquillt. Anders gefragt: Hat auch dieses reine Ich einen Anfang sei-nes Seins? „Kam es aus dem Nichts? Geht es in das Nichts? Kann sich injedem Augenblick unter ihm der Abgrund des Nichts öffnen?“ (51). So er-scheint das reine Ich, obwohl seiend im ausgezeichneten Sinn, trotz allembedingt, weil es nicht aus sich selbst lebendig erhalten kann, was es zumLeben nötig hat: „sein Leben bedarf der Gehalte, ohne Gehalte ist es leerund nichts“ (51). Das Ich hängt vielmehr ab von einer „jenseitigen Tiefe“(52), wobei „jenseitig“ hier nicht religiös, sondern phänomenologisch alswußt bin?“ (36). Erst vom selbst-bewussten Ich her erschließt sich Neues:das Nicht-Ichliche.

Was die erste Frage betrifft, so zeigt das eigene Innesein unmittelbar ein

Doppelgesicht: Das Ich steht nicht in sich, sondern scheint zwischen Seinund Nichtsein zu strömen – es erfährt sich nur im Gegenwartspunkt zwi-schen Vergehen und Kommen als wirklich. An diesem „Jetzt“ stößt der

Geist in sich selbst auf die Scheidung von Nichtsein und Sein. Dieser pre-käre Zwischen-Stand des Ich ist ein erstes Kennzeichen seines kontingen-ten Seins: Es ist nicht ein aus sich begründetes, sondern von unbekannten

Faktoren bzw. vom Rückfall ins Nichts bedrohtes Vorhandensein.

Mit dem Doppelgesicht menschlichen Daseins zwischen Sein und Nichtskommt das Rätselhafte der Zeit ins denkerische Spiel: zeitliches Strömenals zweites Moment der Kontingenz. Stein hat analog zu Heidegger die

Zeit als dasjenige gefasst, was das Dasein durchgängig bestimmt. Dabeigeht es – Conrad-Martius folgend – nicht um die übliche unphilosophische

Vorstellung von Zeit als räumlichen „Behälter“ für Vergangenheit und

Zukunft (39). Zeit ist Träger oder Medium einer Urbewegung ins Seinhinein, gegen das Nichts; oder: in das Selbst hinein, aus dem Nichts heraus.

Zeitliches Sein ist Werden, das freilich nie zu einem voll in sich ruhenden

Sein wird. „Dieses Sein bedarf der Zeit“ (39) – mit der Besonderheit, dassnur seine „kontinuierlich immer neu aufleuchtende punktuelle Aktua-lität“ erscheint (40). Doch enthüllt sich gerade der kontingente Gegen-wartspunkt als Mangel – ist das Ich darin doch nicht alles, was es war undsein wird. Das kontingente Ich existiert in prozessualem Strömen.

Eben deshalb aber entlässt es aus sich zwingend die „Idee des reinen

Seins, das nichts von Nichtsein in sich hat“ (36 f.). Das Ich kann von sei-nem an den Augenblick gebundenen „schwachen“ Sein, hängend überdem Abgrund des Nichts, auf ein volles, glückhaftes Sein weiterschließen.

Offenbar kann eine Steigerung gedacht werden, worin alles Können in der

Tat verwirklicht, wo jedes Jetzt alles zugleich ist, wo die „Gebrochenheitund Gespaltenheit des geschöpflichen Seins“ (40 f.) vollkommene Gegen-wart eines Seins, jeder Augenblick mit seinem Wesen eins und ganz aktua-lisierte Potenz ist. Dies hat umso mehr reflexive Bedeutung, als im Seinkeineswegs nur eine unversöhnliche Alternative erscheint: hier Fülle, dort

Mangel an Sein. Vielmehr kann das doppelgesichtige Ich, gemischt aus

Sein und Nichtsein, sich selbst erst vom ursprünglich vollen Sein her deu-ten und seine eigentümliche Leere erfassen. Ebenso meint „Potenz des

Ich“ im strengen Sinne „Möglichkeit zu sein“ (41): offen für anderes, dasihm Wirklichkeit verleiht. Dieses Andere muss geklärt werden in einer ge-nauen Abgrenzung vom Werden.

Denn damit das kontingente Ich auf eine erfüllte, zeitfreie Gegenwartweiterschließen kann, ist der Modus des zeitlichen Werdens zu reflektie-ren. Dabei trifft Stein auf ein verflochtenes Verhältnis: Werden kann nurdas Sein, anders gesagt: Werden ist seinem Sinne nach Übergang zum Sein(44). Im Werden und entsprechenden Vergehen erscheint ein Übersteigendes „Jetzt“, ein Verweis über den Augenblick hinaus. Wenigstens an-nähernd wird dieser Gedanke auch durch Erfahrung bestätigt: DerMensch weiß von einer ihm nicht zugänglichen Seinsfülle in den Augen-blicken, wo Höhe und Übermaß das Leben durchpulsen. Diese Höhe isteingeschränkt eben durch den kontingenten Augenblick, in dem sie auf-blüht und schwindet. Ein wandellos-gegenwärtiges Sein kann jedoch,e contrario, gedanklich erschlossen werden. Mehr noch: In der Erfahrungleuchtet es zwar bruchstückhaft, aber in subjektiver Gewissheit auf.

Doch lässt sich das kontingente Ich noch weiter erhellen im Blick aufjenes zeitfrei wirkende, zeitlich nicht festzuhaltende Erlebnis. Ein solchesWiderfahrnis ist ja unterschiedlich stark; seine wechselnde Intensität be-ruht also auf einem im Innersten offenen oder verschlossenen Ich. Es gibtoffenbar ein Recipiens im Ich, das dem kontingenten Ich selbst unbe-kannt, sogar unzugänglich ist – entweder aufnahmebereit oder abweisend.Stein bezeichnet diesen Ich-Grund in der Nachfolge Husserls als transzen-dent, nämlich das kontingente Ich übersteigend. Ebenso geht das, was re-zipiert wird, über das Ich hinaus; es transzendiert die bloße Ichlichkeit,jedenfalls das Bewusstsein vom Ich.

Im Unterschied zum transzendenten Ich-Grund und zum kontingentenIch kennt Stein auch ein reines Ich, dem in den wechselnden, wiederumkontingenten Vorkommnissen des Lebens zwar immer Neues zugespieltwird, das aber als konstanter Träger dieses Spiels fungiert (47). Die kontin-genten Erlebnisgehalte füllen dieses Ich nicht mechanisch-quantitativ auf;es erweist sich vielmehr als lebendig-qualitativ Tragendes, welches seineInhalte auswählt: Es geht selbsttätig von einem Gehalt zum anderen, „auseinem Erlebnis ins andere, und so ist sein Leben ein fließendes Leben“(48). Trotz aller kontingenten Augenblicke bleibt es unzerstückelt, denndas Ich behält das, was es erlebt, „noch eine Weile im Griff“ und „ebensostreckt es sich schon dem Kommenden entgegen und greift danach“ (48).Doch gerade hier kommt das reine Ich an der Frage nicht vorbei, worausdie Gegenwart, in der ihm sein kontingentes Leben bewusst wird, bestän-dig hochquillt. Anders gefragt: Hat auch dieses reine Ich einen Anfang sei-nes Seins? „Kam es aus dem Nichts? Geht es in das Nichts? Kann sich injedem Augenblick unter ihm der Abgrund des Nichts öffnen?“ (51). So er-scheint das reine Ich, obwohl seiend im ausgezeichneten Sinn, trotz allembedingt, weil es nicht aus sich selbst lebendig erhalten kann, was es zumLeben nötig hat: „sein Leben bedarf der Gehalte, ohne Gehalte ist es leerund nichts“ (51). Das Ich hängt vielmehr ab von einer „jenseitigen Tiefe“(52), wobei „jenseitig“ hier nicht religiös, sondern phänomenologisch als„bewußtseinstranszendent“ oder erlebnisbezogen zu verstehen ist: Weltselbst ist transzendent zum Ich.

Als philosophische Folgerung bleibt festzuhalten: Menschliches Daseinist nicht aus sich selbst, ist weder selbstherrlich noch selbstverständlich. Esbesitzt sich niemals, ist immer empfangenes Sein. Der eigene transzenden-te Ich-Grund bleibt entzogen; das reine Ich als sich durchhaltende Größebleibt leer ohne Erlebnisgehalte; das kontingente Ich des Jetzt ist derMöglichkeit des Nichtseins und der Zeit ausgeliefert. In dieser Kennzeich-nung liegt die konstitutionelle Tragik des Menschen, der sich aus der Kon-tingenz, die den Abgrund des Nichts bzw. des Nicht-Selbstständigen nurschwach verdeckt, lösen möchte. „Das stimmt aber offenbar nicht zu denfestgestellten merkwürdigen Eigentümlichkeiten dieses Seins: zu der Rät-selhaftigkeit seines Woher und Wohin, den unausfüllbaren Lücken in derihm zugehörigen Vergangenheit, der Unmöglichkeit, das, was zu diesemSein gehört (die Gehalte), aus eigener Macht ins Sein zu rufen und darinzu erhalten“ (52). Stein zitiert wörtlich Heidegger, das Dasein sei gewor-fen, ohne die Möglichkeit, seiner Geworfenheit zu entrinnen (52).

Die Grundfrage muss daher lauten: „Woher aber kommt dieses empfan-gene Sein?“ (53). Philosophisch ist eine doppelte Antwort möglich. Ent-weder: Das Ich empfängt sein Leben aus den erwähnten „jenseitigen Wel-ten“, die im Erlebnis aus einem das Ich transzendierenden Bereich derWirklichkeit andrängen. Oder: Menschliches Sein empfängt sich voneinem reinen, selbstherrlichen und selbstverständlichen Sein. Beide Ant-worten schließen sich nicht aus. Allerdings setzt jedes Empfangen einGeben voraus, so dass letztlich nur das reine Sein fähig wäre, Leben zugeben, auch wenn es Leben über die das Ich transzendierenden und imÜbrigen kontingenten Erlebnisse vermittelt.

An das Thema des Woher wendet Stein die Mühe einer tieferen Ausfüh-rung, um darin Zustimmung und Widerspruch zu Heidegger zu begrün-den. Der gedankliche Ausgang ist identisch: Das Sein „schrickt zurück vordem Nichts und verlangt nicht nur nach endloser Fortsetzung seines Seins,sondern nach dem Vollbesitz des Seins“ (54). Mithin verlangt der Mensch– anders als bei Heidegger – von selbst nach Fülle, bleibt weder gedank-lich noch lebenspraktisch in der Nähe des Nichts, die der leibliche Tod ma-nifest macht. Mühelos umspannt das Denken vielmehr die Idee eines sol-chen höchsten Seins, dem gegenüber das menschliche Sein als Minderungerscheint. Dabei ist die Idee höchster Fülle keineswegs nur eine abstrakt-philosophische Spekulation, sondern wird für jedes Ich zum individuellenMaß seines eigenen Seins (55). Wenn es daher nach Heidegger die Angstist, die den Menschen „vor das Nichts bringt“, so ist es nach Stein ebensodie Gewissheit dieses höchst entfalteten Seins, die den Menschen in seinergefährdeten Kontingenz schirmend „vor das Sein bringt“. Wenn auf dereinen Seite das Nichts unleugbar das menschliche Dasein bedroht, so ant-wortet dem auf der anderen Seite ebenso unleugbar die Seinssicherheit,die jeder Mensch inmitten allen Wechsels erfährt.

„Ich stoße also in meinem Sein auf ein anderes, das nicht meines ist,sondern Halt und Grund meines in sich haltlosen und grundlosen Seins“(57). Wichtig bleibt die Unterscheidung: Der Weg des Glaubens kanndiese Grundlage im ewigen Sein Gottes erkennen. Der Weg der philoso-phischen Erkenntnis formuliert spröder, wenn auch nicht minder konse-quent: Kontingentes Sein bedarf als Gegenüber und Ursprung eines Seinsaus sich selbst, das zugleich Eines und notwendig es selbst ist. Ebenso be-darf die Zeitlichkeit – schon der Erkennbarkeit wegen – einer Ewigkeit,eines Haltes (58); anders: Kontingenz bedarf der nicht-kontingenten Vor-gabe. Und dieses Bedürfen ist keineswegs nur Wunsch, Projektion, son-dern wird aufgrund realer Erfahrung dem Denken zugänglich. Dies giltfür Stein auch dann, wenn die Seinssicherheit, gedanklich bis ins Letzteverfolgt, nur noch ein subjektives „Spüren“ erzeugt, das sich dunkel undkaum noch reflektiert vollzieht. Stein verweist auf Augustinus, der den un-verhofften Halt und Grund eigener Kontingenz in seinem innersten Kernals etwas Unbegreifliches, als den Unbegreiflichen kennzeichnet. Dasdunkle Spüren umkreist dabei sowohl den „unentrinnbar Nahen“ als auchden „Unfaßlichen“ (58). Philosophie rückt jenen Grund durch ihre Be-grifflichkeit notwendig in theoretische und apersonale Ferne. Der Weg desGlaubens, der sich hier für Stein zweifellos in der Problemstellung mitdem Weg des philosophischen Erkennens trifft, weiß dagegen in dem ent-zogenen Grund den Gott der persönlichen Nähe (58).

Was mit der Unterscheidung von Potenz und Akt begann, wurde zueinem großen Spannungsfeld geweitet: zur Unterscheidung von kontin-gentem und notwendigem Sein und von Zeitlichkeit und Zeitfreiheit desIch.

5. Kontingenz und Endlichkeit

Stein führt weiter eine wichtige Unterscheidung zwischen Zeitlichkeitund Endlichkeit ein, wodurch sich auch Kontingenz weiter profiliert. End-liches wird bestimmt als das, „was sein Sein nicht besitzt, sondern der Zeitbedarf, um zum Sein zu gelangen“; ferner ist es ein „sachlich Begrenztes“,dessen Sinn ist: „etwas und nicht alles sein“. Ewiges als Gegenbegriffbesagt umgekehrt: „Herr des Seins“, „Herr der Zeit“, „alles sein“ (60).Endliches und Zeitliches decken sich aber nicht einfachhin. Um ihr eigen-tümliches Verhältnis zu klären, trennt Stein zwischen Wesenheit und zeitli-chem Sein, illustriert an der schlichten Erfahrung des Unterschieds von„meiner Freude“ zur „Freude als solcher“: Die erste entsteht und vergeht,„bewußtseinstranszendent“ oder erlebnisbezogen zu verstehen ist: Weltselbst ist transzendent zum Ich.

Als philosophische Folgerung bleibt festzuhalten: Menschliches Daseinist nicht aus sich selbst, ist weder selbstherrlich noch selbstverständlich. Esbesitzt sich niemals, ist immer empfangenes Sein. Der eigene transzenden-te Ich-Grund bleibt entzogen; das reine Ich als sich durchhaltende Größebleibt leer ohne Erlebnisgehalte; das kontingente Ich des Jetzt ist derMöglichkeit des Nichtseins und der Zeit ausgeliefert. In dieser Kennzeich-nung liegt die konstitutionelle Tragik des Menschen, der sich aus der Kon-tingenz, die den Abgrund des Nichts bzw. des Nicht-Selbstständigen nurschwach verdeckt, lösen möchte. „Das stimmt aber offenbar nicht zu denfestgestellten merkwürdigen Eigentümlichkeiten dieses Seins: zu der Rät-selhaftigkeit seines Woher und Wohin, den unausfüllbaren Lücken in derihm zugehörigen Vergangenheit, der Unmöglichkeit, das, was zu diesemSein gehört (die Gehalte), aus eigener Macht ins Sein zu rufen und darinzu erhalten“ (52). Stein zitiert wörtlich Heidegger, das Dasein sei gewor-fen, ohne die Möglichkeit, seiner Geworfenheit zu entrinnen (52).

Die Grundfrage muss daher lauten: „Woher aber kommt dieses empfan-gene Sein?“ (53). Philosophisch ist eine doppelte Antwort möglich. Ent-weder: Das Ich empfängt sein Leben aus den erwähnten „jenseitigen Wel-ten“, die im Erlebnis aus einem das Ich transzendierenden Bereich derWirklichkeit andrängen. Oder: Menschliches Sein empfängt sich voneinem reinen, selbstherrlichen und selbstverständlichen Sein. Beide Ant-worten schließen sich nicht aus. Allerdings setzt jedes Empfangen einGeben voraus, so dass letztlich nur das reine Sein fähig wäre, Leben zugeben, auch wenn es Leben über die das Ich transzendierenden und imÜbrigen kontingenten Erlebnisse vermittelt.

An das Thema des Woher wendet Stein die Mühe einer tieferen Ausfüh-rung, um darin Zustimmung und Widerspruch zu Heidegger zu begrün-den. Der gedankliche Ausgang ist identisch: Das Sein „schrickt zurück vordem Nichts und verlangt nicht nur nach endloser Fortsetzung seines Seins,sondern nach dem Vollbesitz des Seins“ (54). Mithin verlangt der Mensch– anders als bei Heidegger – von selbst nach Fülle, bleibt weder gedank-lich noch lebenspraktisch in der Nähe des Nichts, die der leibliche Tod ma-nifest macht. Mühelos umspannt das Denken vielmehr die Idee eines sol-chen höchsten Seins, dem gegenüber das menschliche Sein als Minderungerscheint. Dabei ist die Idee höchster Fülle keineswegs nur eine abstrakt-philosophische Spekulation, sondern wird für jedes Ich zum individuellenMaß seines eigenen Seins (55). Wenn es daher nach Heidegger die Angstist, die den Menschen „vor das Nichts bringt“, so ist es nach Stein ebensodie Gewissheit dieses höchst entfalteten Seins, die den Menschen in seinergefährdeten Kontingenz schirmend „vor das Sein bringt“. Wenn auf dereinen Seite das Nichts unleugbar das menschliche Dasein bedroht, so ant-wortet dem auf der anderen Seite ebenso unleugbar die Seinssicherheit,die jeder Mensch inmitten allen Wechsels erfährt.

„Ich stoße also in meinem Sein auf ein anderes, das nicht meines ist,sondern Halt und Grund meines in sich haltlosen und grundlosen Seins“(57). Wichtig bleibt die Unterscheidung: Der Weg des Glaubens kanndiese Grundlage im ewigen Sein Gottes erkennen. Der Weg der philoso-phischen Erkenntnis formuliert spröder, wenn auch nicht minder konse-quent: Kontingentes Sein bedarf als Gegenüber und Ursprung eines Seinsaus sich selbst, das zugleich Eines und notwendig es selbst ist. Ebenso be-darf die Zeitlichkeit – schon der Erkennbarkeit wegen – einer Ewigkeit,eines Haltes (58); anders: Kontingenz bedarf der nicht-kontingenten Vor-gabe. Und dieses Bedürfen ist keineswegs nur Wunsch, Projektion, son-dern wird aufgrund realer Erfahrung dem Denken zugänglich. Dies giltfür Stein auch dann, wenn die Seinssicherheit, gedanklich bis ins Letzteverfolgt, nur noch ein subjektives „Spüren“ erzeugt, das sich dunkel undkaum noch reflektiert vollzieht. Stein verweist auf Augustinus, der den un-verhofften Halt und Grund eigener Kontingenz in seinem innersten Kernals etwas Unbegreifliches, als den Unbegreiflichen kennzeichnet. Dasdunkle Spüren umkreist dabei sowohl den „unentrinnbar Nahen“ als auchden „Unfaßlichen“ (58). Philosophie rückt jenen Grund durch ihre Be-grifflichkeit notwendig in theoretische und apersonale Ferne. Der Weg desGlaubens, der sich hier für Stein zweifellos in der Problemstellung mitdem Weg des philosophischen Erkennens trifft, weiß dagegen in dem ent-zogenen Grund den Gott der persönlichen Nähe (58).

Was mit der Unterscheidung von Potenz und Akt begann, wurde zueinem großen Spannungsfeld geweitet: zur Unterscheidung von kontin-gentem und notwendigem Sein und von Zeitlichkeit und Zeitfreiheit desIch.

5. Kontingenz und Endlichkeit

Stein führt weiter eine wichtige Unterscheidung zwischen Zeitlichkeitund Endlichkeit ein, wodurch sich auch Kontingenz weiter profiliert. End-liches wird bestimmt als das, „was sein Sein nicht besitzt, sondern der Zeitbedarf, um zum Sein zu gelangen“; ferner ist es ein „sachlich Begrenztes“,dessen Sinn ist: „etwas und nicht alles sein“. Ewiges als Gegenbegriffbesagt umgekehrt: „Herr des Seins“, „Herr der Zeit“, „alles sein“ (60).Endliches und Zeitliches decken sich aber nicht einfachhin. Um ihr eigen-tümliches Verhältnis zu klären, trennt Stein zwischen Wesenheit und zeitli-chem Sein, illustriert an der schlichten Erfahrung des Unterschieds von„meiner Freude“ zur „Freude als solcher“: Die erste entsteht und vergeht,die zweite besteht überhaupt. Unmittelbar leuchtet ein: „wo und wannimmer Freude erlebt wird, da ist die Wesenheit Freude verwirklicht“ (62).Andererseits: Erlebte Freude gibt es, aber Freude überhaupt „gibt es“ sonicht. Daher gerät Stein in die seit Platon bestehende Notwendigkeit, We-senheiten (Ideen) als gedankliche Struktur fordern zu müssen, ohne sieletztlich als wirklich vorzustellen. Wesenheit ist vielmehr Bedingung derMöglichkeit des Freuens, also transzendental im kantischen Sinne; wirk-liche Welt ist ohne Wesenheiten gedanklich nicht zu strukturieren.

Solche Feinarbeit ist wichtig, weil sich dadurch das Maß an Sein im kon-tingenten Ich genauer bestimmen lässt. Das kontingente Ich weist als drit-tes Merkmal Endlichkeit auf (meine Freude vergeht, Freude überhauptbleibt). Endliches hat aber durchaus einen Zug zur Voll-Endung, ist nichteinfachhin eingeschränkt und unvollkommen. Es kennt eine Art „Höhe“,wo seine Wirklichkeit in die volle Wirksamkeit „ausbricht“, so etwa wenndie stumme Saite beginnt zu tönen: Das Sein „geht aus sich heraus, unddas ist zugleich seine ‘Offenbarung’“ (89). So verbindet sich Endlichesüber die ihm gemäße Welt des Werdens und Vergehens mit seinem vollenWesen und bildet in ihr eine ursprüngliche Wesenheit nach. Sosehr manalso zwischen dem bloß wesenhaften (in sich kraftlosen und unwirklichen)Sein und dem wirklichen Sein unterscheiden muss, so sehr stellt doch daslebendige, endliche Sosein eines Dinges die Brücke zwischen beiden dar.Auf das kontingente, endliche Ich hin gesprochen bedeutet dies: Auch dasIch zielt im zeitlichen Strömen auf eine Vollendung ab, die sein eigenesWesen zur vollen Darstellung bringt. (Welche Wesenheit damit verwirk-licht wird, kann hier offen bleiben.) Weniger spröde formuliert: Das kon-tingente Ich konstituiert sich nicht in einer Folge gleichgültig sich ablösen-der Augenblicke oder Jetztpunkte der Zeit, sondern seine Endlichkeit rea-lisiert ein Wachstum (oder eine Verminderung) des wesentlichen bzw.verwirklichten Ich, zuzeiten auch beglückend als „Vollendung“ erfahren.

Als Frucht dieser beharrlichen Zergliederungen reift die Folgerung: Vonrein philosophischem Boden aus lässt sich über Zwischenstufen auf einletztgültiges Sein schließen. Die Verbindung von zeitlichem, endlich-wirk-lichem und wesenhaftem Sein rührt an ein zeitloses, in sich gegründetes,schöpferisches Sein selbst. Für das Ich gilt analog: Phänomenologisch lässtsich vom kontingenten Ich, das jetzt-gebunden, unselbstständig lebt, überein reines Ich, das eine gewisse Konstanz im Zeitfluss aufweist, auf einvollendet realisiertes Ich mit tragendem Ich-Grund weiterschließen.

Dieser Ich-Grund könnte theologisch Gott genannt werden. Philosophi-sche Rede kreist ihn nur distanziert-begrifflich ein, keineswegs gelangt siezu einer „erfüllenden Anschauung“. Ontologisch formuliert: „Es ist dasewige Sein selbst, das in sich selbst die ewigen Formen gestaltet – nicht ineinem zeitlichen Geschehen –, nach denen es in der Zeit und mit der Zeitdie Welt schafft“ (103). Freilich wird die gewonnene Einsicht nicht eigent-lich lebendig: „Ein Wesen, das nichts anderes ist als Sein, können wir nichtfassen. Wir rühren gerade noch daran, weil unser Geist über alles Endlichehinauszielt – und durch das Endliche selbst dahingeführt wird, darüberhinauszuzielen – auf etwas, was alles Endliche in sich begreift, ohne sichdarin zu erschöpfen. […] Es entzieht sich seiner Anschauung“ (106). Somündet der Aufstieg des bloßen Denkens in jene Paradoxie, die dem Icheigentümlich ist, in das „Ausgespanntsein zwischen Endlichkeit und Un-endlichkeit“ (106).

Erkenntnis und Sprache sind im Übrigen als vorläufig enthüllt. Zwargründen beide selbst im Sein, können ihre Ableitung aber nicht bis in die-sen Ursprung zurückverfolgen: Das gesuchte Sein lässt sich philosophischnicht herbeizwingen. So bleibt als Ergebnis: Das erkennende Ich muss sichmit „Übereinstimmung – Nichtübereinstimmung“ von Menschenwort undewigem Wort bescheiden (108). Im kontingenten Ich wirkt das Strebennach vollendetem Sinn seiner selbst, zugleich bleibt die tatsächliche Un-möglichkeit, solchen Sinn vor der Zeit zu entschleiern. Leben vollziehtsich in nicht zu lösender Spannung: „Was wir vom ‘Sinn der Dinge’ erfas-sen, was ‘in unseren Verstand eingeht’, das verhält sich zu jenem Sinn-ganzen wie einzelne, verlorene Töne, die mir der Wind von einer in weiterFerne erklingenden Symphonie zuträgt“ (110).

Offen bleibt, ob nicht zur Überwindung dieser formalen Schlussfolge-rung ein ganz anderer Akt als die Reflexion vonnöten ist. Muss das Gebietder Philosophie nicht – von ihr selbst her – verlassen werden? Aber darfsie sich diesem Ansinnen nicht auch – von ihr selbst her – verweigern? Je-denfalls wäre die Stelle, wo sich Philosophie selbst verlässt, genau undnicht ungefähr zu beschreiben. Stein formuliert nochmals, was sie anfäng-lich zur Grenzziehung zwischen Philosophie und Theologie ausgesprochenhatte: „Rein philosophisch zum Verständnis […] des ersten Seienden zugelangen, ist nicht möglich, weil uns keine erfüllende Anschauung des er-sten Seienden zu Gebote steht. Die theologischen Überlegungen könnenzu keiner rein philosophischen Lösung der philosophischen Schwierigkeitführen, d.h. zu keiner unausweichlich zwingenden ‘Einsicht’, aber sie er-öffnen den Ausblick auf die Möglichkeit einer Lösung jenseits der philoso-phischen Grenzpfähle, die dem entspricht, was noch philosophisch zu er-fassen ist, wie andererseits die philosophische Seinserforschung den Sinnder Glaubenswahrheiten aufschließt“ (116).die zweite besteht überhaupt. Unmittelbar leuchtet ein: „wo und wannimmer Freude erlebt wird, da ist die Wesenheit Freude verwirklicht“ (62).Andererseits: Erlebte Freude gibt es, aber Freude überhaupt „gibt es“ sonicht. Daher gerät Stein in die seit Platon bestehende Notwendigkeit, We-senheiten (Ideen) als gedankliche Struktur fordern zu müssen, ohne sieletztlich als wirklich vorzustellen. Wesenheit ist vielmehr Bedingung derMöglichkeit des Freuens, also transzendental im kantischen Sinne; wirk-liche Welt ist ohne Wesenheiten gedanklich nicht zu strukturieren.

Solche Feinarbeit ist wichtig, weil sich dadurch das Maß an Sein im kon-tingenten Ich genauer bestimmen lässt. Das kontingente Ich weist als drit-tes Merkmal Endlichkeit auf (meine Freude vergeht, Freude überhauptbleibt). Endliches hat aber durchaus einen Zug zur Voll-Endung, ist nichteinfachhin eingeschränkt und unvollkommen. Es kennt eine Art „Höhe“,wo seine Wirklichkeit in die volle Wirksamkeit „ausbricht“, so etwa wenndie stumme Saite beginnt zu tönen: Das Sein „geht aus sich heraus, unddas ist zugleich seine ‘Offenbarung’“ (89). So verbindet sich Endlichesüber die ihm gemäße Welt des Werdens und Vergehens mit seinem vollenWesen und bildet in ihr eine ursprüngliche Wesenheit nach. Sosehr manalso zwischen dem bloß wesenhaften (in sich kraftlosen und unwirklichen)Sein und dem wirklichen Sein unterscheiden muss, so sehr stellt doch daslebendige, endliche Sosein eines Dinges die Brücke zwischen beiden dar.Auf das kontingente, endliche Ich hin gesprochen bedeutet dies: Auch dasIch zielt im zeitlichen Strömen auf eine Vollendung ab, die sein eigenesWesen zur vollen Darstellung bringt. (Welche Wesenheit damit verwirk-licht wird, kann hier offen bleiben.) Weniger spröde formuliert: Das kon-tingente Ich konstituiert sich nicht in einer Folge gleichgültig sich ablösen-der Augenblicke oder Jetztpunkte der Zeit, sondern seine Endlichkeit rea-lisiert ein Wachstum (oder eine Verminderung) des wesentlichen bzw.verwirklichten Ich, zuzeiten auch beglückend als „Vollendung“ erfahren.

Als Frucht dieser beharrlichen Zergliederungen reift die Folgerung: Vonrein philosophischem Boden aus lässt sich über Zwischenstufen auf einletztgültiges Sein schließen. Die Verbindung von zeitlichem, endlich-wirk-lichem und wesenhaftem Sein rührt an ein zeitloses, in sich gegründetes,schöpferisches Sein selbst. Für das Ich gilt analog: Phänomenologisch lässtsich vom kontingenten Ich, das jetzt-gebunden, unselbstständig lebt, überein reines Ich, das eine gewisse Konstanz im Zeitfluss aufweist, auf einvollendet realisiertes Ich mit tragendem Ich-Grund weiterschließen.

Dieser Ich-Grund könnte theologisch Gott genannt werden. Philosophi-sche Rede kreist ihn nur distanziert-begrifflich ein, keineswegs gelangt siezu einer „erfüllenden Anschauung“. Ontologisch formuliert: „Es ist dasewige Sein selbst, das in sich selbst die ewigen Formen gestaltet – nicht ineinem zeitlichen Geschehen –, nach denen es in der Zeit und mit der Zeitdie Welt schafft“ (103). Freilich wird die gewonnene Einsicht nicht eigent-lich lebendig: „Ein Wesen, das nichts anderes ist als Sein, können wir nichtfassen. Wir rühren gerade noch daran, weil unser Geist über alles Endlichehinauszielt – und durch das Endliche selbst dahingeführt wird, darüberhinauszuzielen – auf etwas, was alles Endliche in sich begreift, ohne sichdarin zu erschöpfen. […] Es entzieht sich seiner Anschauung“ (106). Somündet der Aufstieg des bloßen Denkens in jene Paradoxie, die dem Icheigentümlich ist, in das „Ausgespanntsein zwischen Endlichkeit und Un-endlichkeit“ (106).

Erkenntnis und Sprache sind im Übrigen als vorläufig enthüllt. Zwargründen beide selbst im Sein, können ihre Ableitung aber nicht bis in die-sen Ursprung zurückverfolgen: Das gesuchte Sein lässt sich philosophischnicht herbeizwingen. So bleibt als Ergebnis: Das erkennende Ich muss sichmit „Übereinstimmung – Nichtübereinstimmung“ von Menschenwort undewigem Wort bescheiden (108). Im kontingenten Ich wirkt das Strebennach vollendetem Sinn seiner selbst, zugleich bleibt die tatsächliche Un-möglichkeit, solchen Sinn vor der Zeit zu entschleiern. Leben vollziehtsich in nicht zu lösender Spannung: „Was wir vom ‘Sinn der Dinge’ erfas-sen, was ‘in unseren Verstand eingeht’, das verhält sich zu jenem Sinn-ganzen wie einzelne, verlorene Töne, die mir der Wind von einer in weiterFerne erklingenden Symphonie zuträgt“ (110).

Offen bleibt, ob nicht zur Überwindung dieser formalen Schlussfolge-rung ein ganz anderer Akt als die Reflexion vonnöten ist. Muss das Gebietder Philosophie nicht – von ihr selbst her – verlassen werden? Aber darfsie sich diesem Ansinnen nicht auch – von ihr selbst her – verweigern? Je-denfalls wäre die Stelle, wo sich Philosophie selbst verlässt, genau undnicht ungefähr zu beschreiben. Stein formuliert nochmals, was sie anfäng-lich zur Grenzziehung zwischen Philosophie und Theologie ausgesprochenhatte: „Rein philosophisch zum Verständnis […] des ersten Seienden zugelangen, ist nicht möglich, weil uns keine erfüllende Anschauung des er-sten Seienden zu Gebote steht. Die theologischen Überlegungen könnenzu keiner rein philosophischen Lösung der philosophischen Schwierigkeitführen, d.h. zu keiner unausweichlich zwingenden ‘Einsicht’, aber sie er-öffnen den Ausblick auf die Möglichkeit einer Lösung jenseits der philoso-phischen Grenzpfähle, die dem entspricht, was noch philosophisch zu er-fassen ist, wie andererseits die philosophische Seinserforschung den Sinnder Glaubenswahrheiten aufschließt“ (116).

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6. Kontingenz der Dinge im Spannungsfeld von Form und Stoff, Zeit und Raum

Um Gemeinsamkeit und Unterschied zwischen klassischer Ontologieund phänomenologischer Ich-Analyse zu vertiefen, folgt Stein im vierten

Kapitel von EES kritisch der aristotelischen Kategorienlehre. Auch dabeientwickelt sie latent ein Denken der Kontingenz, diesmal zunächst desdinglichen Gegenstandes, und zwar vor dem Hintergrund durchgängigen

Werdens.

Entscheidend scheint ihr die Fassung der ersten Kategorie: „ousía“

(„Wesen“) ist bei Aristoteles „das Seiende, dem das Sein in einem aus-gezeichneten Sinne zukommt“ (128). Ohne die ins Einzelne gehenden

Überlegungen mitzuvollziehen, sei die Schlussfolgerung zu der berühmtenaristotelischen Wesensdefinition („das, was war, ist“ – griech.: „to ti eneinai“) hervorgehoben: Wesen ist „das, was dem Ding von innen her

– nicht unter äußeren Einflüssen eigen ist – und unter wechselnden Ein-flüssen bleibt. […] Das Ding ‘ist’, was es ‘war’, weil sein Wesen dem Zeit-fluß enthoben ist“ (134). Zugleich hebt Stein ausführlich ihre Aristoteles-

Deutung von derjenigen Heideggers ab, die er in Kant und das Problem der Metaphysik 1929 vorgelegt hatte. Während Heidegger an derselben

Stelle „ein spontanes und selbstverständliches Verstehen des Seins aus der

Zeit“ sieht, nimmt Stein umgekehrt „das Verständnis des Seins als Grund-lage für das Verstehen der Zeit“ an (134). Entscheidend ist, dass sie bereitsim aristotelischen „das ist, was war“ ein Durchhalten des Seins durch die

Zeit sieht und wie Thomas damit das Wesen grundsätzlich als nicht der

Zeit unterworfen fasst.

Jedoch besitze der wirkliche, leibhaftige Gegenstand einen „viel ver-wickelteren und tiefgründigeren Aufbau“ (153) als bei Aristoteles undverlange eine anders gedachte Beziehung von Stoff und Form. Man mussnach Stein im Gegenstand mehrere Schichten und einen „Grund“ anneh-men, der sich durch verschiedene „Äußerungen“ mitteile. „Und so istauch das lebendige Verhalten keine ‘bloße Oberfläche’, sondern in der

Tiefe des Wesens verwurzelt“ (154). Form als Entfaltung offenbart das In-nere nach außen. So gehört zur Wirklichkeit, die sich auswirken will, Zeit.

„Das Wirkliche besitzt sein Wesen und entfaltet es in einem zeitlichen Ge-schehen“ (158).

Mit diesen Darlegungen ist ein Widerspruch zu Aristoteles’ Fassung von

Form und Wesen eingetragen: Aristoteles kennt kein Werden, mithin keine

Zeit zur Verwirklichung des Wesens. Bei ihm wird das Zusammengesetzte,das Ding, nur aus Stoff und Form; beide Komponenten sind zeitlos ge-dacht, treffen sozusagen von Ewigkeit her aufeinander und sind gleicher-maßen ursprünglich getrennt: als reiner Stoff oder reine Form (162). Steinsieht im Fehlen des Zeitproblems auch den mangelnden Schöpfungs-gedanken, da Aristoteles die Welt als ewig voraussetzt. „Der Sinn des Ur-stoffes ist danach Empfangsbereitschaft für alle Formen der Dinge, dieMöglichkeit, alles zu werden. Er erschöpft sich darin, Vorstufe des Wirk-lichen (dynamis, Potenz) zu sein“ (177). Darin liege aber eine logische Un-stimmigkeit: Es gebe kein mögliches Sein ohne tragendes „Etwas“. DennWirkliches sei in jedem Fall Grundlage, Ziel und Träger des Möglichen.Bei Aristoteles ist aber der Urstoff vor dem Wirklichen schon möglich undsozusagen selbsttragend.

Stein schlägt ihrerseits vor, den aristotelischen Gedanken der Ewigkeitvon reinem Stoff und reiner Form aufzugeben und umgekehrt Stoff undForm zusammen mit dem Werden zu fassen, also die Frage der Zeit undder Verwirklichung im Raum miteinzubeziehen. Damit wird der Schöp-fungsgedanke philosophisch in die Argumentation eingebracht (219); Stoffund Form sind immer schon einem geschichtlichen Prozess zugeordnet; esgibt sie nicht abstrakt.

Daraus ergibt sich ein reizvoller Ansatz, der anders als die AntikeSchöpfung grundsätzlich als zeitliches Werden begreift; so „wirkt sich dieForm in der stofflichen Fülle als ihrem miterschaffenen und restlos gefügi-gen Gestaltungsmittel aus“ (220). Anders gewendet: Stoff wird nicht unge-stalt-ewig vorgefunden, sondern ist immer schon in raumgreifender Formzeitlich manifest. Umgekehrt ist Wesensform „nicht denkbar ohne durchsie gestaltete stoffliche Fülle“. Knapp: „Alles Seiende ist Fülle in einerForm“ (261).

Stein sucht eine weitere Herausforderung durchzuführen, die die zufäl-lige, also kontingente Form vieler Gegenstände betrifft: das Denken desFormlosen. Nicht überall, ja selten ist Form zu ihrer höchsten Möglichkeitentbunden. Gibt es einen „gefallenen Zustand“ der Dinge, der die Bezie-hung von Form und Stoff verstörend berührt hat? Dabei geht es nichtdarum, einen solchen Fall zu „beweisen“. Die Beobachtung drängt sichaber auf, dass statt der komplementären Beziehung von Fülle und Formund statt einer sich wahrhaft ausformenden Kraft eher Zufall bis zum Zer-fall herrscht. „Der aus lebendigen Formen heraus geborene und gestalteteStoff wird zur puren Masse, wenn er aus der Wesenseinheit mit den ihn ge-staltenden Formen heraus- und dem Raum anheimfällt“ (221). Letztlichist diese Auflösung nicht zu Ende gebracht, ließe sich aber weiterdenkenbis zur „nicht mehr gestaltbaren Masse“, die keine Natur, keine raum-dingliche Welt mehr erlaubt. Jedenfalls ist mit Händen zu greifen, dass derStoff der Form entgleiten, ihr nicht mehr wesensmäßig geeint sein kann(221). Dies hat mit der Raumverhaftung der Schöpfung zu tun: Im Raumdrückt sich eine Art Abgrund aus, in den die Dinge stoffmäßig auswuchernkönnen. (Diese Konzeption räumlicher Abgründigkeit verdankt sich Con-

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6. Kontingenz der Dinge im Spannungsfeld von Form und Stoff, Zeit und Raum

Um Gemeinsamkeit und Unterschied zwischen klassischer Ontologieund phänomenologischer Ich-Analyse zu vertiefen, folgt Stein im vierten

Kapitel von EES kritisch der aristotelischen Kategorienlehre. Auch dabeientwickelt sie latent ein Denken der Kontingenz, diesmal zunächst desdinglichen Gegenstandes, und zwar vor dem Hintergrund durchgängigen

Werdens.

Entscheidend scheint ihr die Fassung der ersten Kategorie: „ousía“

(„Wesen“) ist bei Aristoteles „das Seiende, dem das Sein in einem aus-gezeichneten Sinne zukommt“ (128). Ohne die ins Einzelne gehenden

Überlegungen mitzuvollziehen, sei die Schlussfolgerung zu der berühmtenaristotelischen Wesensdefinition („das, was war, ist“ – griech.: „to ti eneinai“) hervorgehoben: Wesen ist „das, was dem Ding von innen her

– nicht unter äußeren Einflüssen eigen ist – und unter wechselnden Ein-flüssen bleibt. […] Das Ding ‘ist’, was es ‘war’, weil sein Wesen dem Zeit-fluß enthoben ist“ (134). Zugleich hebt Stein ausführlich ihre Aristoteles-

Deutung von derjenigen Heideggers ab, die er in Kant und das Problem der Metaphysik 1929 vorgelegt hatte. Während Heidegger an derselben

Stelle „ein spontanes und selbstverständliches Verstehen des Seins aus der

Zeit“ sieht, nimmt Stein umgekehrt „das Verständnis des Seins als Grund-lage für das Verstehen der Zeit“ an (134). Entscheidend ist, dass sie bereitsim aristotelischen „das ist, was war“ ein Durchhalten des Seins durch die

Zeit sieht und wie Thomas damit das Wesen grundsätzlich als nicht der

Zeit unterworfen fasst.

Jedoch besitze der wirkliche, leibhaftige Gegenstand einen „viel ver-wickelteren und tiefgründigeren Aufbau“ (153) als bei Aristoteles undverlange eine anders gedachte Beziehung von Stoff und Form. Man mussnach Stein im Gegenstand mehrere Schichten und einen „Grund“ anneh-men, der sich durch verschiedene „Äußerungen“ mitteile. „Und so istauch das lebendige Verhalten keine ‘bloße Oberfläche’, sondern in der

Tiefe des Wesens verwurzelt“ (154). Form als Entfaltung offenbart das In-nere nach außen. So gehört zur Wirklichkeit, die sich auswirken will, Zeit.

„Das Wirkliche besitzt sein Wesen und entfaltet es in einem zeitlichen Ge-schehen“ (158).

Mit diesen Darlegungen ist ein Widerspruch zu Aristoteles’ Fassung von

Form und Wesen eingetragen: Aristoteles kennt kein Werden, mithin keine

Zeit zur Verwirklichung des Wesens. Bei ihm wird das Zusammengesetzte,das Ding, nur aus Stoff und Form; beide Komponenten sind zeitlos ge-dacht, treffen sozusagen von Ewigkeit her aufeinander und sind gleicher-maßen ursprünglich getrennt: als reiner Stoff oder reine Form (162). Steinsieht im Fehlen des Zeitproblems auch den mangelnden Schöpfungs-gedanken, da Aristoteles die Welt als ewig voraussetzt. „Der Sinn des Ur-stoffes ist danach Empfangsbereitschaft für alle Formen der Dinge, dieMöglichkeit, alles zu werden. Er erschöpft sich darin, Vorstufe des Wirk-lichen (dynamis, Potenz) zu sein“ (177). Darin liege aber eine logische Un-stimmigkeit: Es gebe kein mögliches Sein ohne tragendes „Etwas“. DennWirkliches sei in jedem Fall Grundlage, Ziel und Träger des Möglichen.Bei Aristoteles ist aber der Urstoff vor dem Wirklichen schon möglich undsozusagen selbsttragend.

Stein schlägt ihrerseits vor, den aristotelischen Gedanken der Ewigkeitvon reinem Stoff und reiner Form aufzugeben und umgekehrt Stoff undForm zusammen mit dem Werden zu fassen, also die Frage der Zeit undder Verwirklichung im Raum miteinzubeziehen. Damit wird der Schöp-fungsgedanke philosophisch in die Argumentation eingebracht (219); Stoffund Form sind immer schon einem geschichtlichen Prozess zugeordnet; esgibt sie nicht abstrakt.

Daraus ergibt sich ein reizvoller Ansatz, der anders als die AntikeSchöpfung grundsätzlich als zeitliches Werden begreift; so „wirkt sich dieForm in der stofflichen Fülle als ihrem miterschaffenen und restlos gefügi-gen Gestaltungsmittel aus“ (220). Anders gewendet: Stoff wird nicht unge-stalt-ewig vorgefunden, sondern ist immer schon in raumgreifender Formzeitlich manifest. Umgekehrt ist Wesensform „nicht denkbar ohne durchsie gestaltete stoffliche Fülle“. Knapp: „Alles Seiende ist Fülle in einerForm“ (261).

Stein sucht eine weitere Herausforderung durchzuführen, die die zufäl-lige, also kontingente Form vieler Gegenstände betrifft: das Denken desFormlosen. Nicht überall, ja selten ist Form zu ihrer höchsten Möglichkeitentbunden. Gibt es einen „gefallenen Zustand“ der Dinge, der die Bezie-hung von Form und Stoff verstörend berührt hat? Dabei geht es nichtdarum, einen solchen Fall zu „beweisen“. Die Beobachtung drängt sichaber auf, dass statt der komplementären Beziehung von Fülle und Formund statt einer sich wahrhaft ausformenden Kraft eher Zufall bis zum Zer-fall herrscht. „Der aus lebendigen Formen heraus geborene und gestalteteStoff wird zur puren Masse, wenn er aus der Wesenseinheit mit den ihn ge-staltenden Formen heraus- und dem Raum anheimfällt“ (221). Letztlichist diese Auflösung nicht zu Ende gebracht, ließe sich aber weiterdenkenbis zur „nicht mehr gestaltbaren Masse“, die keine Natur, keine raum-dingliche Welt mehr erlaubt. Jedenfalls ist mit Händen zu greifen, dass derStoff der Form entgleiten, ihr nicht mehr wesensmäßig geeint sein kann(221). Dies hat mit der Raumverhaftung der Schöpfung zu tun: Im Raumdrückt sich eine Art Abgrund aus, in den die Dinge stoffmäßig auswuchernkönnen. (Diese Konzeption räumlicher Abgründigkeit verdankt sich Con-rad-Martius’ Überlegungen.) Denn die Dinge bleiben hinter der ursprüng-lich denkbaren Welt zurück, zeigen sich im Zustand eines „Falls“, da siejede ganz reine Gestaltung hemmen. Stein thematisiert damit die Kontin-genz des Vorfindlichen, dessen Ausformung zufälligen Faktoren unterwor-fen bleibt.

Dennoch lässt sich nach ihr alles Endliche nach wie vor auf seine Voll-Endung und die zielgerichtete Beziehung zur (Wesens-)Form hin lesen.Stein verwendet zur Erläuterung solcher Teleologie – auch des Kontingen-ten – eine theologische Überlegung: Der göttliche Logos wirft als Urbildsein Licht in das Geschaffene. Daran gemessen bleibt das Endliche aller-dings zweifach hinter seinem Urbild zurück: Einmal durch den Charakterdes Abbildes – wo unendliche Fülle in Gott sich zeigt, beharrt das Ding inder Endlichkeit; wo der vollkommene Wesensbesitz in Gott aufscheint,gibt es beim Ding nur gestaffelten Anteil am Sein. Dinge sind also Spiegel.Das Höchstmaß des Abbildes wird zweitens dadurch gemindert, dass dieDinge entarten können. Dinge sind also „zerbrochene[] Spiegel“ (226). IhrZwiespalt verunklart sie für das Erkennen. Stein spricht vom Widerstandallen Stoffs auch in der Arbeit (226), welcher Widerstand sich der grund-sätzlich gehemmten Erkenntnis mitteilt.

Trotz aller kontingenten Unschärfe im Dinglichen bleibt darin aber ein„sehnsüchtiger“ Zug bewegend sichtbar: „Die tatsächliche Wasbestimmt-heit der Dinge weist über sich selbst hinaus auf das, was sie sein solltenund könnten, auf ihr Urbild, das Maß und Richtschnur für sie bedeutet.[…] Der göttliche Logos, durch den und nach dem alles geschaffen ist, bie-tet sich uns als das urbildliche Seiende, das alle endlichen Urbilder in sichbefaßt. Sie werden dadurch für uns nicht begreiflicher, aber der Grundihrer Unbegreiflichkeit leuchtet auf: sie sind von dem Schleier des Ge-heimnisses umhüllt, der alles Göttliche vor uns verbirgt und doch in gewis-sen Umrißlinien andeutet. Und dieser Schleier fällt nun auch auf die inne-re Wesensbestimmtheit der Dinge, die zunächst als etwas so Klares undNüchternes erscheint und ja tatsächlich das eigentlich ‘Begreifliche’ füruns ist“ (227f.).

So wird Entscheidendes als Frucht der mühsamen Analyse sichtbar: DasWesen stofflich-kontingenter Dinge geht keineswegs in sich selbst auf,weder räumlich noch zeitlich; es öffnet vielmehr tief berührende Verbin-dungen zu einer anderen Welt: „Es gehört zum Wesen alles Endlichen,Sinnbild zu sein, und zum Wesen alles Stofflichen und Räumlichen,Gleichnis von Geistigem zu sein. Und das ist sein geheimer Sinn und seinverborgenes Inneres. Eben das, was es zum Gleichnis des Geistigen macht,macht es zum Sinnbild des Ewigen. […] So trägt jedes Ding mit seinemWesen sein Geheimnis in sich und weist gerade dadurch über sich selbsthinaus“ (228 f.).

7. Ewiges Sein als Horizont von kontingentem Sein

In ausführlichen Untersuchungen des fünften Kapitels, die hier nichtnachzuzeichnen sind, werden sechs klassische Aussagen über das Seiendeals solches, die so genannten Transzendentalien, geprüft: Es ist Seiendes,Sache, Eines, Etwas, Gutes, Wahres. Dabei öffnet sich ein „Restproblem“:Das Seiende ist nicht selbst wahr, gut und eines; um ihm dies zuzuspre-chen, muss das Wahre, das Gute, das Eine am Horizont der Bestimmungauftauchen. Freilich ergibt sich daraus die bekannte Schwierigkeit: DasUrbild der Transzendentalien ist dem Erkennen nicht zugänglich, und den-noch muss das Erkennen auch der endlichen Dinge implizit davon wissen,wenn es erkennen will.

Geheimnisvoll scheint das ewige Sein durch diese kontingente Welt auf,vom Verstand mühsam nachgezeichnet, aber von der Seele ebenso sicherwie unbenennbar ergriffen: „Die ‘Klarheit’ aber ist wie ein Lichtglanz, derüber das Seiende ausgegossen ist und seinen göttlichen Ursprung verrät.Es scheint, dass mit diesem Wort der eigentliche Zauber des Schönen aus-gesprochen ist: das, was in so eigentümlicher Weise die Seele ergreift undwas der natürliche Mensch meint, wenn er etwas ‘schön’ nennt. Wie wir‘ursprünglich verstehen’, was Wahrheit ist, wenn wir erkennen, und wasGutheit ist, wenn unser Streben Erfüllung findet, so verstehen wir, wasSchönheit ist, wenn jener ‘Glanz’ uns an die Seele rührt“ (300). Eine sol-che Erfahrung, die sich für den Verstand nicht dingfest machen lässt, be-gegnet sowohl in der sinnlichen Welt als auch, noch bezwingender, in dergeistigen „Schönheit der Menschenseele, deren ‘Wandel oder Tun nach dergeistigen Klarheit der Vernunft im rechten Maß geordnet ist’“ (300).

Vor der Sicherheit dieser analogen Übertragung versagt tatsächlich dersich Schritt für Schritt weitertastende Verstand, das rechenhafte Vorwärts-gehen. Statt zu schließen, muss der Verstand enden und – soweit vom den-kenden Subjekt übernommen – die Direktive an die Theologie weiter-geben: „Schon der Versuch, die Einfachheit des göttlichen Seins mit derVielheit der Ideen in Einklang zu bringen, trägt den Stempel der vomGlauben beschwingten Vernunft, die – von Offenbarungsworten angetrie-ben – Geheimnisse zu fassen sucht, an denen die menschlichen Begriffezerbrechen“ (287).

Zugrunde liegt nicht Unklarheit, sondern Überklarheit in Gott. „Wenner für uns unbestimmbar und unmessbar ist, weil seine Unendlichkeit alleunsere Maße und Bestimmungen übersteigt, so ist es doch sein eigenesMaß, in und für sich selbst ‘ausgemessen’ und bestimmt, in und mit sichselbst in vollem Einklang, in und für sich selbst ganz durchleuchtet: dasLicht selbst, ‘in dem kein Schatten von Finsternis ist’“ (301).

So bibel-theologisch hier auch argumentiert wird, so bleibt doch zu be-rad-Martius’ Überlegungen.) Denn die Dinge bleiben hinter der ursprüng-lich denkbaren Welt zurück, zeigen sich im Zustand eines „Falls“, da siejede ganz reine Gestaltung hemmen. Stein thematisiert damit die Kontin-genz des Vorfindlichen, dessen Ausformung zufälligen Faktoren unterwor-fen bleibt.

Dennoch lässt sich nach ihr alles Endliche nach wie vor auf seine Voll-Endung und die zielgerichtete Beziehung zur (Wesens-)Form hin lesen.Stein verwendet zur Erläuterung solcher Teleologie – auch des Kontingen-ten – eine theologische Überlegung: Der göttliche Logos wirft als Urbildsein Licht in das Geschaffene. Daran gemessen bleibt das Endliche aller-dings zweifach hinter seinem Urbild zurück: Einmal durch den Charakterdes Abbildes – wo unendliche Fülle in Gott sich zeigt, beharrt das Ding inder Endlichkeit; wo der vollkommene Wesensbesitz in Gott aufscheint,gibt es beim Ding nur gestaffelten Anteil am Sein. Dinge sind also Spiegel.Das Höchstmaß des Abbildes wird zweitens dadurch gemindert, dass dieDinge entarten können. Dinge sind also „zerbrochene[] Spiegel“ (226). IhrZwiespalt verunklart sie für das Erkennen. Stein spricht vom Widerstandallen Stoffs auch in der Arbeit (226), welcher Widerstand sich der grund-sätzlich gehemmten Erkenntnis mitteilt.

Trotz aller kontingenten Unschärfe im Dinglichen bleibt darin aber ein„sehnsüchtiger“ Zug bewegend sichtbar: „Die tatsächliche Wasbestimmt-heit der Dinge weist über sich selbst hinaus auf das, was sie sein solltenund könnten, auf ihr Urbild, das Maß und Richtschnur für sie bedeutet.[…] Der göttliche Logos, durch den und nach dem alles geschaffen ist, bie-tet sich uns als das urbildliche Seiende, das alle endlichen Urbilder in sichbefaßt. Sie werden dadurch für uns nicht begreiflicher, aber der Grundihrer Unbegreiflichkeit leuchtet auf: sie sind von dem Schleier des Ge-heimnisses umhüllt, der alles Göttliche vor uns verbirgt und doch in gewis-sen Umrißlinien andeutet. Und dieser Schleier fällt nun auch auf die inne-re Wesensbestimmtheit der Dinge, die zunächst als etwas so Klares undNüchternes erscheint und ja tatsächlich das eigentlich ‘Begreifliche’ füruns ist“ (227f.).

So wird Entscheidendes als Frucht der mühsamen Analyse sichtbar: DasWesen stofflich-kontingenter Dinge geht keineswegs in sich selbst auf,weder räumlich noch zeitlich; es öffnet vielmehr tief berührende Verbin-dungen zu einer anderen Welt: „Es gehört zum Wesen alles Endlichen,Sinnbild zu sein, und zum Wesen alles Stofflichen und Räumlichen,Gleichnis von Geistigem zu sein. Und das ist sein geheimer Sinn und seinverborgenes Inneres. Eben das, was es zum Gleichnis des Geistigen macht,macht es zum Sinnbild des Ewigen. […] So trägt jedes Ding mit seinemWesen sein Geheimnis in sich und weist gerade dadurch über sich selbsthinaus“ (228 f.).

7. Ewiges Sein als Horizont von kontingentem Sein

In ausführlichen Untersuchungen des fünften Kapitels, die hier nichtnachzuzeichnen sind, werden sechs klassische Aussagen über das Seiendeals solches, die so genannten Transzendentalien, geprüft: Es ist Seiendes,Sache, Eines, Etwas, Gutes, Wahres. Dabei öffnet sich ein „Restproblem“:Das Seiende ist nicht selbst wahr, gut und eines; um ihm dies zuzuspre-chen, muss das Wahre, das Gute, das Eine am Horizont der Bestimmungauftauchen. Freilich ergibt sich daraus die bekannte Schwierigkeit: DasUrbild der Transzendentalien ist dem Erkennen nicht zugänglich, und den-noch muss das Erkennen auch der endlichen Dinge implizit davon wissen,wenn es erkennen will.

Geheimnisvoll scheint das ewige Sein durch diese kontingente Welt auf,vom Verstand mühsam nachgezeichnet, aber von der Seele ebenso sicherwie unbenennbar ergriffen: „Die ‘Klarheit’ aber ist wie ein Lichtglanz, derüber das Seiende ausgegossen ist und seinen göttlichen Ursprung verrät.Es scheint, dass mit diesem Wort der eigentliche Zauber des Schönen aus-gesprochen ist: das, was in so eigentümlicher Weise die Seele ergreift undwas der natürliche Mensch meint, wenn er etwas ‘schön’ nennt. Wie wir‘ursprünglich verstehen’, was Wahrheit ist, wenn wir erkennen, und wasGutheit ist, wenn unser Streben Erfüllung findet, so verstehen wir, wasSchönheit ist, wenn jener ‘Glanz’ uns an die Seele rührt“ (300). Eine sol-che Erfahrung, die sich für den Verstand nicht dingfest machen lässt, be-gegnet sowohl in der sinnlichen Welt als auch, noch bezwingender, in dergeistigen „Schönheit der Menschenseele, deren ‘Wandel oder Tun nach dergeistigen Klarheit der Vernunft im rechten Maß geordnet ist’“ (300).

Vor der Sicherheit dieser analogen Übertragung versagt tatsächlich dersich Schritt für Schritt weitertastende Verstand, das rechenhafte Vorwärts-gehen. Statt zu schließen, muss der Verstand enden und – soweit vom den-kenden Subjekt übernommen – die Direktive an die Theologie weiter-geben: „Schon der Versuch, die Einfachheit des göttlichen Seins mit derVielheit der Ideen in Einklang zu bringen, trägt den Stempel der vomGlauben beschwingten Vernunft, die – von Offenbarungsworten angetrie-ben – Geheimnisse zu fassen sucht, an denen die menschlichen Begriffezerbrechen“ (287).

Zugrunde liegt nicht Unklarheit, sondern Überklarheit in Gott. „Wenner für uns unbestimmbar und unmessbar ist, weil seine Unendlichkeit alleunsere Maße und Bestimmungen übersteigt, so ist es doch sein eigenesMaß, in und für sich selbst ‘ausgemessen’ und bestimmt, in und mit sichselbst in vollem Einklang, in und für sich selbst ganz durchleuchtet: dasLicht selbst, ‘in dem kein Schatten von Finsternis ist’“ (301).

So bibel-theologisch hier auch argumentiert wird, so bleibt doch zu be-tonen, dass Stein die Konzeption eines notwendigen Seins als Extrapola-tion aus dem kontingenten Sein für zwingend hält – woran ließe sich sonst

Kontingenz erkenntnistheoretisch festmachen, wenn nicht an ihrem

Gegensatz? Die phänomenologische Analyse der verschiedenen Schichtendes Ich hat anthropologisch gleichfalls aufgezeigt, dass das ausschließlichkontingent gedachte Ich nur unter Ausblendung anderer Schichten derichlichen Kontinuität zustande käme, mithin gar keinen „Stand“ für die

Reflexion gewinnen könnte. So ist die theologische Fassung desselben Ge-dankens zwar philosophisch nicht notwendig, erhellt aber nach Steins In-tention nochmals die Grundproblematik: Kontingenz ist nur als komple-mentärer Begriff zu Notwendigkeit, Zeitfreiheit, Vollendung sinnvoll.

8. Die Wende von Thomas zu Augustinus: von der Ontologie zur Personlehre

Wie fruchtbar die theologische Wendung jedenfalls für die – nicht glau-bensgebundene – phänomenologische Ich-Analyse werden kann, sei aneiner letzten Reflexion deutlich gemacht. Damit rückt auch der Charakterder mehrfach geübten Extrapolation vom kontingenten auf ein notwendi-ges Sein in ein deutlicheres argumentatives Licht.

Im sechsten Kapitel von EES greift Stein unmittelbar auf den Sinn des

Seins, also auf die Anfangsfrage zurück, die sie mit Heidegger gemeinsamhat. „Das Sein ist eines, und alles, was ist, hat daran teil. Sein voller Sinnentspricht der Fülle alles Seienden. Wir meinen diese ganze Fülle, wennwir vom Sein sprechen“ (308 f.).

Wieso aber viele Seiende und zugleich ein einheitliches Sein?

Stein betont, dass das griechische Denken die Einheit des Seins und dieoffenbare Vielheit des Seienden zur Deckung zu bringen suchte, etwa beiden Eleaten, welche nur die Einheit des wahren Seins als wirklich erachte-ten und das Seiende in seiner Vielfalt darüber verloren (309). So ist das

Problem neu aufzufächern. Wie können Teile an einem Ganzen teilhaben?

„Ganzes“ sind z.B. die Natur, die Geisteswelt, die Urbilder (Wesenheiten)alles Geschaffenen und letztlich das eine Urbild, welches das göttliche Seinist (310f.). Eine solche Aufzählung ist jedoch falsch angesetzt, da sie neben-einander ordnet, was tiefer betrachtet kausal vernetzt und selbst nur ein

Ganzes ist. „In diesem letzten und letztbegründeten Einen ist alle Fülle des

Seins beschlossen. […] Jedes endliche Mittelglied muß schließlich auf die-sen anfangs- und endlosen Urgrund führen: das erste Sein“ (311).

So erweist sich, dass das Ganze nicht in gleichgültige „Teile“ ausei-nander zu legen ist. Und es stellt sich nicht so sehr eine Stufenfolge, dieaddiert werden könnte, sondern eine rätselvolle Asymmetrie her: Das

Ganze bedingt seine Teile, ist aber nicht aus seinen Teilen zusammenge-setzt. Wie hat dann das endliche am ewigen Sein Anteil? Stein referiert zurLösung die Auffassung des Thomas von einer doppelten Möglichkeit derAnalogie. Die erste Analogie meint eine einfache Beziehung zwischenzwei Gliedern: 2 als das Doppelte von 1. Die zweite Analogie meint eineübertragene Beziehung: 2 : 1 = 6 : 3 = 100 : 50. In der Rede von Gott ist nurdiese zweite Analogie erlaubt. Sie schließt endlichen Abstand undunmittelbaren Vergleich zwischen Gott und dem Geschöpf aus und er-laubt mittelbar ein übertragbares Verhältnis: Das Verhältnis endlichenTeil-Seins ist analog zum Selbstverhältnis des ewigen Seins (als eines diffe-renzierten Ganzen).

Mit dieser Unterscheidung ist zweierlei gewonnen: Gott ist nicht auf dasGeschöpf eingeebnet; philosophisch gesprochen: Endliches Sein erlaubtkeine einfache Extrapolation auf ewiges Sein. Zweitens ist es dennoch er-laubt, ja anders nicht möglich, den gemeinsamen Begriff Sein auf unter-schiedliche Größen anzuwenden. Abgewehrt sind Pantheismus auf dereinen Seite, völlige Sprachlosigkeit und Erkenntnisskepsis auf der anderenSeite.

Eben hier ist die Stelle einer bedeutsamen Wende: Stein wechselt vonThomas zu Augustinus. Das heißt, dass nicht mehr nach Urteilen überGott gesucht wird, sondern nach seinen eigenen Selbstaussagen in derSchrift, die das zergliedernde Begreifen sprengen. So wirkt der Absatzüber den „Namen Gottes“ als Ausbruch aus dem bisher Entwickelten. MitAugustinus sieht Stein in der Deutung von Exodus 3,14: „Ich bin, der ichbin“, das Sein nunmehr vollkommen personal ausgesprochen. Person istgrundsätzlich definiert durch Vernunft und Freiheit (317) – beides sichtbaran Gott in der auf ihn verweisenden Vernünftigkeit der Welt und der ihminnewohnenden Freiheit der ersten Ursache, die ihrerseits nicht von einernoch weiter vorgelagerten Ursache abhängen kann.

Auffächernd scheidet Stein das menschliche vom göttlichen Ich. Die ge-meinsame Definition lautet: Ich meint das eigene Innesein und zugleichdas Unterschiedensein von jedem anderen. Kürzer benannt ist es die Ein-heit von Selbstsein und Andersheit (gegenüber anderem Selbst); bildhaftzeigt es sich als in sich geschlossenes Ich, das für sich da ist, und aufquel-lendes, das sich nach außen abgrenzend zeigt (318). Gemäß dieser Defini-tion ist das endliche Ich bis auf seinen Grund ebenso bedürftig wie nichtig,denn es ist leer an sich selbst, weil es äußerer und innerer Welten als Ge-halt bedarf; auch kommt sein Leben aus dem Dunkel und geht ins Dunkel,ist für die Erinnerung lückenhaft und wird nur von Augenblick zu Augen-blick erhalten (319). So ist sein Abstand zum göttlichen Ich unendlich. DerGottesname „Ich bin“ meint ja „ewig-lebendige Gegenwart, ohne Anfangund Ende, ohne Lücken und ohne Dunkelheit. Dieses Ichleben hat alletonen, dass Stein die Konzeption eines notwendigen Seins als Extrapola-tion aus dem kontingenten Sein für zwingend hält – woran ließe sich sonst

Kontingenz erkenntnistheoretisch festmachen, wenn nicht an ihrem

Gegensatz? Die phänomenologische Analyse der verschiedenen Schichtendes Ich hat anthropologisch gleichfalls aufgezeigt, dass das ausschließlichkontingent gedachte Ich nur unter Ausblendung anderer Schichten derichlichen Kontinuität zustande käme, mithin gar keinen „Stand“ für die

Reflexion gewinnen könnte. So ist die theologische Fassung desselben Ge-dankens zwar philosophisch nicht notwendig, erhellt aber nach Steins In-tention nochmals die Grundproblematik: Kontingenz ist nur als komple-mentärer Begriff zu Notwendigkeit, Zeitfreiheit, Vollendung sinnvoll.

8. Die Wende von Thomas zu Augustinus: von der Ontologie zur Personlehre

Wie fruchtbar die theologische Wendung jedenfalls für die – nicht glau-bensgebundene – phänomenologische Ich-Analyse werden kann, sei aneiner letzten Reflexion deutlich gemacht. Damit rückt auch der Charakterder mehrfach geübten Extrapolation vom kontingenten auf ein notwendi-ges Sein in ein deutlicheres argumentatives Licht.

Im sechsten Kapitel von EES greift Stein unmittelbar auf den Sinn des

Seins, also auf die Anfangsfrage zurück, die sie mit Heidegger gemeinsamhat. „Das Sein ist eines, und alles, was ist, hat daran teil. Sein voller Sinnentspricht der Fülle alles Seienden. Wir meinen diese ganze Fülle, wennwir vom Sein sprechen“ (308 f.).

Wieso aber viele Seiende und zugleich ein einheitliches Sein?

Stein betont, dass das griechische Denken die Einheit des Seins und dieoffenbare Vielheit des Seienden zur Deckung zu bringen suchte, etwa beiden Eleaten, welche nur die Einheit des wahren Seins als wirklich erachte-ten und das Seiende in seiner Vielfalt darüber verloren (309). So ist das

Problem neu aufzufächern. Wie können Teile an einem Ganzen teilhaben?

„Ganzes“ sind z.B. die Natur, die Geisteswelt, die Urbilder (Wesenheiten)alles Geschaffenen und letztlich das eine Urbild, welches das göttliche Seinist (310f.). Eine solche Aufzählung ist jedoch falsch angesetzt, da sie neben-einander ordnet, was tiefer betrachtet kausal vernetzt und selbst nur ein

Ganzes ist. „In diesem letzten und letztbegründeten Einen ist alle Fülle des

Seins beschlossen. […] Jedes endliche Mittelglied muß schließlich auf die-sen anfangs- und endlosen Urgrund führen: das erste Sein“ (311).

So erweist sich, dass das Ganze nicht in gleichgültige „Teile“ ausei-nander zu legen ist. Und es stellt sich nicht so sehr eine Stufenfolge, dieaddiert werden könnte, sondern eine rätselvolle Asymmetrie her: Das

Ganze bedingt seine Teile, ist aber nicht aus seinen Teilen zusammenge-setzt. Wie hat dann das endliche am ewigen Sein Anteil? Stein referiert zurLösung die Auffassung des Thomas von einer doppelten Möglichkeit derAnalogie. Die erste Analogie meint eine einfache Beziehung zwischenzwei Gliedern: 2 als das Doppelte von 1. Die zweite Analogie meint eineübertragene Beziehung: 2 : 1 = 6 : 3 = 100 : 50. In der Rede von Gott ist nurdiese zweite Analogie erlaubt. Sie schließt endlichen Abstand undunmittelbaren Vergleich zwischen Gott und dem Geschöpf aus und er-laubt mittelbar ein übertragbares Verhältnis: Das Verhältnis endlichenTeil-Seins ist analog zum Selbstverhältnis des ewigen Seins (als eines diffe-renzierten Ganzen).

Mit dieser Unterscheidung ist zweierlei gewonnen: Gott ist nicht auf dasGeschöpf eingeebnet; philosophisch gesprochen: Endliches Sein erlaubtkeine einfache Extrapolation auf ewiges Sein. Zweitens ist es dennoch er-laubt, ja anders nicht möglich, den gemeinsamen Begriff Sein auf unter-schiedliche Größen anzuwenden. Abgewehrt sind Pantheismus auf dereinen Seite, völlige Sprachlosigkeit und Erkenntnisskepsis auf der anderenSeite.

Eben hier ist die Stelle einer bedeutsamen Wende: Stein wechselt vonThomas zu Augustinus. Das heißt, dass nicht mehr nach Urteilen überGott gesucht wird, sondern nach seinen eigenen Selbstaussagen in derSchrift, die das zergliedernde Begreifen sprengen. So wirkt der Absatzüber den „Namen Gottes“ als Ausbruch aus dem bisher Entwickelten. MitAugustinus sieht Stein in der Deutung von Exodus 3,14: „Ich bin, der ichbin“, das Sein nunmehr vollkommen personal ausgesprochen. Person istgrundsätzlich definiert durch Vernunft und Freiheit (317) – beides sichtbaran Gott in der auf ihn verweisenden Vernünftigkeit der Welt und der ihminnewohnenden Freiheit der ersten Ursache, die ihrerseits nicht von einernoch weiter vorgelagerten Ursache abhängen kann.

Auffächernd scheidet Stein das menschliche vom göttlichen Ich. Die ge-meinsame Definition lautet: Ich meint das eigene Innesein und zugleichdas Unterschiedensein von jedem anderen. Kürzer benannt ist es die Ein-heit von Selbstsein und Andersheit (gegenüber anderem Selbst); bildhaftzeigt es sich als in sich geschlossenes Ich, das für sich da ist, und aufquel-lendes, das sich nach außen abgrenzend zeigt (318). Gemäß dieser Defini-tion ist das endliche Ich bis auf seinen Grund ebenso bedürftig wie nichtig,denn es ist leer an sich selbst, weil es äußerer und innerer Welten als Ge-halt bedarf; auch kommt sein Leben aus dem Dunkel und geht ins Dunkel,ist für die Erinnerung lückenhaft und wird nur von Augenblick zu Augen-blick erhalten (319). So ist sein Abstand zum göttlichen Ich unendlich. DerGottesname „Ich bin“ meint ja „ewig-lebendige Gegenwart, ohne Anfangund Ende, ohne Lücken und ohne Dunkelheit. Dieses Ichleben hat alleFülle in sich und aus sich selbst […]. Das ‘Ich bin’ heißt: Ich lebe, Ich weiß,Ich will, Ich liebe […] Das göttliche Ich ist kein leeres, sondern das in sichselbst alle Fülle bergende, umschließende und beherrschende“ (319). Seinist hier persönlich geformt, ist Person, also nicht Neutrum und Gegen-stand, sondern Ich und Selbstbewusstsein. Stein kommentiert, dass „es sichselbst geistig umfaßt oder für sich selbst durchsichtig ist“ (320). Neben undüber anderen Bestimmungen, die alle außerordentlich für dieses Ich gel-ten, stehen Personalität und Selbstbesitz, die Gegensatzlosigkeit, Formund Fülle zugleich umfassen, als die dem Denken gerade noch berührbareKontur des Personalen in seinem Urbild. Davon ist zugleich das Kontin-gente gegenbildlich ausgeschlossen.

Sachgemäß taucht hier das große Geheimnis der Schöpfung auf: die alteFrage, wie Gott überhaupt ein anderes, als er selbst ist, habe hervorrufenkönnen, zumal in der Weise des Kontingenten, dem die obigen Bestim-mungen durchaus fehlen. Stein versucht, nun wieder in den Bahnen desThomas, die Teilung des Seins als Anteil am einen Sein zu erläutern. Wenndies schon nicht restlos aufzuhellen ist, so darf doch „Teilung“ nicht quan-titativ verstanden werden, sondern meint qualitatives Scheiden. Alles dazuSagbare darf jedoch den Gegensatz von Ewigem und Endlichem, von Not-wendigem und Kontingentem nicht zudecken. Nicht wenige Bilder dieserTeilung leiten irre, auch das Verhältnis des Künstlers zu seinem Kunst-werk; am ehesten trifft noch zu das Urbild im Verhältnis zum Spiegelbildoder das ungebrochene Licht im Verhältnis zum gebrochenen Farbstrahl.Jedenfalls steht neben dem Ewigen kein zweites Ewiges, sosehr der Ver-stand dabei auch weiterhin mit Rätselfragen zu tun hat (321).

Ein letzter schwieriger Gedanke: Verhält sich der Schöpfer zur Schöp-fung wie Gott zu sich selbst? Auch hier gerät die Reflexion an eine Gren-ze, die sich nur mit Bildern, uneigentlich, erhellen lässt. Denn wie ist dasgöttliche Leben in sich lebendig? Der Sohn ist durchaus ein „vollkomme-nes Bild“ des väterlichen Ursprungs, was genauer heißt: Dasselbe Wesenund Sein ist nicht später geschaffen, sondern gleich ursprünglich gezeugt.Zugang zu dieser Formulierung bietet ein Verhalten des Geistes, das derSelbstbeobachtung entnommen ist: Auch die Selbsterkenntnis weiß vonsich selbst im unmittelbaren Innesein des eigenen Ich (322). Doch fehlt er-fahrungsgemäß die völlig umfassende Erkenntnis, das Selbst-Bewusstseinträgt einen unbekannten Rest mit sich – eben jenen entzogenen Ich-Grund, von dem die Rede war. Dennoch lässt sich von der Selbstbeobach-tung geistigen Lebens schließen auf Gottes Wissen um sich selbst. SeinWissen und Sich-Betrachten meint nicht leibliche Zeugung eines quantita-tiv zweiten, sondern unmittelbare Zeugung seiner selbst als Gegenüber.„So ist die Erzeugung eines vollkommenen ‘Ebenbildes’ Gottes nicht dieHervorbringung eines neuen Seins außer dem göttlichen und eines zwei-ten göttlichen Wesens, sondern die innere, geistige Umfassung des einenSeins“ (322).

Die Frage ist damit aber nicht behoben, weshalb überhaupt eine zweitePerson erscheint – ist doch damit die Einheit des göttlichen Seins fraglich.Zu diesem Problem gibt es einen doppelten Zugang wiederum über dieSelbsterfahrung. Der erste Zugang greift auf die Erfahrung von Ich undDu zurück, die sich als Eigenes und Fremdes gegenüberstehen und dochein Gemeinsames haben: das beiderseitige Ich. Ihre Trennung ist unterfan-gen von der Einheit des „Wir“. Dieses Wir umschließt das Einssein einerMehrheit von Personen: Einheit und Vielheit stören sich hier nicht, zwin-gen das Ich weder zum Aufbrechen noch zum Festhalten seiner Geschlos-senheit. Bei aller Unterschiedenheit gibt es auch in Gott „eine vollkom-mene Einheit des Wir, wie sie von keiner Gemeinschaft endlicher Perso-nen erreicht werden kann. Und doch in dieser Einheit die Geschiedenheitdes Ich und Du, ohne die kein Wir möglich ist“ (323). Genesis 1, 28: „Las-set uns den Menschen machen nach unserem Bilde“, erscheint als solcherHinweis auf das geheimnisvolle Wir Gottes.

Tiefer noch formt sich die genannte Einheit als Einheit der Liebe – inihr sind wechselseitige Spannung und Bedürftigkeit der beiden Gegenüberin äußerster Weise ausgeprägt. Liebe ist sowohl Selbstliebe als auchSelbsthingabe. Da dies ebenso für den anderen gilt, bewirkt die wechsel-seitige Liebe ein hoch differenziertes Einssein. Sie kann im Endlichen ge-ahnt, nicht in ihrer höchstmöglichen Spannung vollendet werden. Steinvermutet, dass die Liebe zwischen dem Geschöpf und Gott deswegen un-vollkommen bleibt, weil das Geschöpf die restlose Selbsthingabe Gottesnicht beantworten kann. Doch erschließt sich denkend die makellose Ur-form: „Gottes inneres Leben ist die völlig freie, von allem Geschaffenenunabhängige, wandellose ewige Wechselliebe der göttlichen Personen. Wassie einander schenken, ist das eine, ewige, unendliche Wesen und Sein, daseine jede vollkommen umfasst und alle zusammen. […] das Geben undEmpfangen gehört zum göttlichen Sein selbst“ (324).

Als zweiten knappen Zugang zu diesem unerhörten Spannungsfeld ver-sucht Stein Gottes Leben als „Hervorgang“ aus dem eigenen Inneren dar-zustellen. Gottes Leben verdankt sich nicht einem anderen, sondern ist„ewige Bewegung in sich selbst, ein ewiges Sich-selbst-schöpfen aus derTiefe des eigenen unendlichen Seins als schenkende Hingabe des ewigenIch an ein ewiges Du und ein entsprechendes ewiges Sichempfangen undSichwiederschenken“ (325).

Immer noch muss aber das Verhältnis von Gott und Welt als zweier ge-trennter Größen dem Denken nachvollziehbar werden. Stein schlägt vor:„Die innergöttlichen Hervorgänge lassen das Sein noch ungeteilt, aber dieTeilung ist in ihnen schon vorgebildet“ (53). Der Logos, der Sohn also,Fülle in sich und aus sich selbst […]. Das ‘Ich bin’ heißt: Ich lebe, Ich weiß,

Ich will, Ich liebe […] Das göttliche Ich ist kein leeres, sondern das in sichselbst alle Fülle bergende, umschließende und beherrschende“ (319). Seinist hier persönlich geformt, ist Person, also nicht Neutrum und Gegen-stand, sondern Ich und Selbstbewusstsein. Stein kommentiert, dass „es sichselbst geistig umfaßt oder für sich selbst durchsichtig ist“ (320). Neben und

über anderen Bestimmungen, die alle außerordentlich für dieses Ich gel-ten, stehen Personalität und Selbstbesitz, die Gegensatzlosigkeit, Formund Fülle zugleich umfassen, als die dem Denken gerade noch berührbare

Kontur des Personalen in seinem Urbild. Davon ist zugleich das Kontin-gente gegenbildlich ausgeschlossen.

Sachgemäß taucht hier das große Geheimnis der Schöpfung auf: die alte

Frage, wie Gott überhaupt ein anderes, als er selbst ist, habe hervorrufenkönnen, zumal in der Weise des Kontingenten, dem die obigen Bestim-mungen durchaus fehlen. Stein versucht, nun wieder in den Bahnen des

Thomas, die Teilung des Seins als Anteil am einen Sein zu erläutern. Wenndies schon nicht restlos aufzuhellen ist, so darf doch „Teilung“ nicht quan-titativ verstanden werden, sondern meint qualitatives Scheiden. Alles dazu

Sagbare darf jedoch den Gegensatz von Ewigem und Endlichem, von Not-wendigem und Kontingentem nicht zudecken. Nicht wenige Bilder dieser

Teilung leiten irre, auch das Verhältnis des Künstlers zu seinem Kunst-werk; am ehesten trifft noch zu das Urbild im Verhältnis zum Spiegelbildoder das ungebrochene Licht im Verhältnis zum gebrochenen Farbstrahl.

Jedenfalls steht neben dem Ewigen kein zweites Ewiges, sosehr der Ver-stand dabei auch weiterhin mit Rätselfragen zu tun hat (321).

Ein letzter schwieriger Gedanke: Verhält sich der Schöpfer zur Schöp-fung wie Gott zu sich selbst? Auch hier gerät die Reflexion an eine Gren-ze, die sich nur mit Bildern, uneigentlich, erhellen lässt. Denn wie ist dasgöttliche Leben in sich lebendig? Der Sohn ist durchaus ein „vollkomme-nes Bild“ des väterlichen Ursprungs, was genauer heißt: Dasselbe Wesenund Sein ist nicht später geschaffen, sondern gleich ursprünglich gezeugt.

Zugang zu dieser Formulierung bietet ein Verhalten des Geistes, das der

Selbstbeobachtung entnommen ist: Auch die Selbsterkenntnis weiß vonsich selbst im unmittelbaren Innesein des eigenen Ich (322). Doch fehlt er-fahrungsgemäß die völlig umfassende Erkenntnis, das Selbst-Bewusstseinträgt einen unbekannten Rest mit sich – eben jenen entzogenen Ich-

Grund, von dem die Rede war. Dennoch lässt sich von der Selbstbeobach-tung geistigen Lebens schließen auf Gottes Wissen um sich selbst. Sein

Wissen und Sich-Betrachten meint nicht leibliche Zeugung eines quantita-tiv zweiten, sondern unmittelbare Zeugung seiner selbst als Gegenüber.

„So ist die Erzeugung eines vollkommenen ‘Ebenbildes’ Gottes nicht die

Hervorbringung eines neuen Seins außer dem göttlichen und eines zwei-ten göttlichen Wesens, sondern die innere, geistige Umfassung des einenSeins“ (322).

Die Frage ist damit aber nicht behoben, weshalb überhaupt eine zweitePerson erscheint – ist doch damit die Einheit des göttlichen Seins fraglich.Zu diesem Problem gibt es einen doppelten Zugang wiederum über dieSelbsterfahrung. Der erste Zugang greift auf die Erfahrung von Ich undDu zurück, die sich als Eigenes und Fremdes gegenüberstehen und dochein Gemeinsames haben: das beiderseitige Ich. Ihre Trennung ist unterfan-gen von der Einheit des „Wir“. Dieses Wir umschließt das Einssein einerMehrheit von Personen: Einheit und Vielheit stören sich hier nicht, zwin-gen das Ich weder zum Aufbrechen noch zum Festhalten seiner Geschlos-senheit. Bei aller Unterschiedenheit gibt es auch in Gott „eine vollkom-mene Einheit des Wir, wie sie von keiner Gemeinschaft endlicher Perso-nen erreicht werden kann. Und doch in dieser Einheit die Geschiedenheitdes Ich und Du, ohne die kein Wir möglich ist“ (323). Genesis 1, 28: „Las-set uns den Menschen machen nach unserem Bilde“, erscheint als solcherHinweis auf das geheimnisvolle Wir Gottes.

Tiefer noch formt sich die genannte Einheit als Einheit der Liebe – inihr sind wechselseitige Spannung und Bedürftigkeit der beiden Gegenüberin äußerster Weise ausgeprägt. Liebe ist sowohl Selbstliebe als auchSelbsthingabe. Da dies ebenso für den anderen gilt, bewirkt die wechsel-seitige Liebe ein hoch differenziertes Einssein. Sie kann im Endlichen ge-ahnt, nicht in ihrer höchstmöglichen Spannung vollendet werden. Steinvermutet, dass die Liebe zwischen dem Geschöpf und Gott deswegen un-vollkommen bleibt, weil das Geschöpf die restlose Selbsthingabe Gottesnicht beantworten kann. Doch erschließt sich denkend die makellose Ur-form: „Gottes inneres Leben ist die völlig freie, von allem Geschaffenenunabhängige, wandellose ewige Wechselliebe der göttlichen Personen. Wassie einander schenken, ist das eine, ewige, unendliche Wesen und Sein, daseine jede vollkommen umfasst und alle zusammen. […] das Geben undEmpfangen gehört zum göttlichen Sein selbst“ (324).

Als zweiten knappen Zugang zu diesem unerhörten Spannungsfeld ver-sucht Stein Gottes Leben als „Hervorgang“ aus dem eigenen Inneren dar-zustellen. Gottes Leben verdankt sich nicht einem anderen, sondern ist„ewige Bewegung in sich selbst, ein ewiges Sich-selbst-schöpfen aus derTiefe des eigenen unendlichen Seins als schenkende Hingabe des ewigenIch an ein ewiges Du und ein entsprechendes ewiges Sichempfangen undSichwiederschenken“ (325).

Immer noch muss aber das Verhältnis von Gott und Welt als zweier ge-trennter Größen dem Denken nachvollziehbar werden. Stein schlägt vor:„Die innergöttlichen Hervorgänge lassen das Sein noch ungeteilt, aber dieTeilung ist in ihnen schon vorgebildet“ (53). Der Logos, der Sohn also,nimmt die Mitte zwischen Schöpfer und Schöpfung ein: Erstens schafft erden Zusammenhang von Sinn in der Welt (den Schöpfungsplan); zweitensist er Grund des Geschaffenen in seinen schöpferischen Ur-Bildern. So giltein doppeltes Verhältnis Gottes zur Welt: Seine Einheit umfasst Vielheit;seine Einheit begründet Vielheit. Das doppelte Antlitz des Logos zeigt diegegenwärtige, haltende Einheit (Bild des Vaters) und die Ursächlichkeitfür alles vielfältig Geschaffene. Insofern bildet der Logos das Bindegliedzwischen Ewigkeit und Zeit. Schöpfung ist daher tatsächlich unpantheis-tisch von ihrem Ursprung geschieden. Zu ihrer Ordnung gehören Zeit undGrenze: Zeit als innere Endlichkeit, Grenze als äußere Bestimmung imRaum. Zur sachlichen Grenze gehört ferner wesentlich die Scheidung vonForm und Inhalt. Denn Form ist äußere Umgrenzungslinie und inneresGefüge, das die aufbauenden Teile ordnet (327). Sein in der Zeit bedarfder Ausfaltung seiner Möglichkeiten zur Wirklichkeit – es folgt einemWerdegang. Schon kraft dieser Kennzeichen ist seine Sonderung vom gött-lichen Ursprung noch einmal evident. Schöpfung ist durchaus zeitlich, inihrem Anfang wie in ihrem Werden, und doch ist sie „von Ewigkeit hervorhergesehen“ (326). Alle Momente der Kontingenz, wie sie immer wie-der kontrastierend zum Ewigen aufscheinen, sind daher vom Ewigen herdenkbar, und zwar als positive Andersheit.

So lässt sich wiederum die Person nicht allein vom Sein, aber auch nichtallein vom Erkennen aufbauen, sondern wesentlich vom Werden aus Be-gegnung. Diese denkerische Erfahrung stellt das Dritte vor, das über Tho-mas’ Seinsdenken, über Husserls Ichdenken zu Augustinus’ Denken ausder Relation führt: zu Hingabe und Hinnahme. Stein nimmt nicht wie Hei-degger die Verzweiflung des Menschen als grundlegenden anthropologi-schen Befund an, sondern der gesamte Befund umfasst sowohl Angst alsGeborgenheit, sowohl Ausgeliefertsein als Selbststand, sowohl Irrtum alsWahrheitsvermögen, sowohl Nichtverstehen als Rationalität. Erst von die-sem Gesamtbestand aus, der keineswegs nur glaubensmäßig, sonderndurch Erfahrung und Reflexion gestützt ist, sucht sie denkend auf Gottweiterzuschließen. So betont Stein kraftvoll überzeugt, Gott sei der Ver-nunft zugänglich, allerdings innerhalb einer methodischen Grenze. Ver-stärkte Aufmerksamkeit sei sogar darauf zu richten, dass selbst das Per-sonale, das sich im Aufstieg vom Seienden zu Gott immer klarer kon-turiert, der ratio offenstehe; dass die Freiheit des Personalen unter derverstandesmäßigen Behandlung nicht schwinde, sondern erst recht sicht-bar werde. Vernunft werde von der Gnade nicht entmächtigt. Wahrheitmüsse sich vor dem Verstand ausweisen können – auch religiöse Wahrheit.

Doch bleibt die Frage, ob nicht zwischen Schöpfung und Gott, genauer-hin zwischen Mensch und Gott, bereits anfänglich ein Abgrund erscheinenmüsse, der dem Verstand in seinem Vorgehen unüberwindlich sei. Wo blie-be in dem durchrationalisierten theologischen Entwurf die Erfahrung vonder „Inkommensurabilität“, ja „Absurdität“ Gottes, wie Kierkegaard for-muliert?

Jedoch: Stein führt gerade kraft ihrer philosophischen Schulung das Ex-periment der Vernunft so sorgfältig durch, dass auch die Grenze der ge-danklichen Bewegung mit Genauigkeit aufscheint. Die Grenze ist sozu-sagen der Denkfähigkeit selbst eingeschrieben und sinnvolle Herausfor-derung. „Über die Grenze hinaus“ wird kein Beweis vorgelegt: Steinvollzieht vielmehr jenen „Aufstieg“, der den Absoluten in seinem ge-sonderten, mit nichts vergleichbaren Sein, den durch alle Ähnlichkeit hin-durch Unähnlichen denkbar werden lässt. Die Bewegung wird sogar zei-gen, dass die Andersheit Gottes tatsächlich nur „berührt“, nicht gesehenund nicht gewusst werden kann. Doch wird solche Andersheit, sobald sieins Spiel kommt, die Gegenstände der normalen Erfahrung umgekehrt ineine Bewegung setzen, die der Verstand zu strukturieren sucht. Auf derGrundlage göttlicher Andersheit wird gerade auch die Andersheit desMenschen denkbar: als eine Andersheit des Kontingenten, das sich in derGerichtetheit (Intentionalität) auf sein komplementäres Anderes profi-liert. Solche Erkenntnis zielt auf Begegnung, nicht nur mit Gott, sondernebenso mit der Welt der Dinge wie mit der Welt, die das Ich selbst ist.

So wird Stein in der Logik der Ontologie aufsteigen bis zur Logik desPersonalen, worin der Mensch wie die höchste Person, Gott selbst, einbe-griffen sind. Von der Logik der Person aus wird aber die Ontologie nocheinmal in ihrem methodisch beschränkten Charakter erkenntlich. Denn esliegt in der Logik des Erkennens von Welt, auf das Selbsterkennen zu ver-weisen und von dort auf den personalen, transzendenten Ich-Grundweiterzudenken, und es liegt in der Logik des Ich-Grundes, das Erkennenzu einem Anerkennen herauszufordern. Reflexe, distanzierte Logik wirdexistentielle Logik. Dass das anfänglich ontologische System dadurch insich selbst aufbricht, dass der Begriff „Person“ letztlich mehr Erklärungs-gehalt aufweist als der Begriff „Sein“, weil kontingente Person und abso-lute Person sich dem Erkennen erstrangig eröffnen, macht die Qualitätder Darstellung aus.

Auswahlbibliographie nimmt die Mitte zwischen Schöpfer und Schöpfung ein: Erstens schafft erden Zusammenhang von Sinn in der Welt (den Schöpfungsplan); zweitensist er Grund des Geschaffenen in seinen schöpferischen Ur-Bildern. So giltein doppeltes Verhältnis Gottes zur Welt: Seine Einheit umfasst Vielheit;seine Einheit begründet Vielheit. Das doppelte Antlitz des Logos zeigt diegegenwärtige, haltende Einheit (Bild des Vaters) und die Ursächlichkeitfür alles vielfältig Geschaffene. Insofern bildet der Logos das Bindegliedzwischen Ewigkeit und Zeit. Schöpfung ist daher tatsächlich unpantheis-tisch von ihrem Ursprung geschieden. Zu ihrer Ordnung gehören Zeit undGrenze: Zeit als innere Endlichkeit, Grenze als äußere Bestimmung imRaum. Zur sachlichen Grenze gehört ferner wesentlich die Scheidung vonForm und Inhalt. Denn Form ist äußere Umgrenzungslinie und inneresGefüge, das die aufbauenden Teile ordnet (327). Sein in der Zeit bedarfder Ausfaltung seiner Möglichkeiten zur Wirklichkeit – es folgt einemWerdegang. Schon kraft dieser Kennzeichen ist seine Sonderung vom gött-lichen Ursprung noch einmal evident. Schöpfung ist durchaus zeitlich, inihrem Anfang wie in ihrem Werden, und doch ist sie „von Ewigkeit hervorhergesehen“ (326). Alle Momente der Kontingenz, wie sie immer wie-der kontrastierend zum Ewigen aufscheinen, sind daher vom Ewigen herdenkbar, und zwar als positive Andersheit.

So lässt sich wiederum die Person nicht allein vom Sein, aber auch nichtallein vom Erkennen aufbauen, sondern wesentlich vom Werden aus Be-gegnung. Diese denkerische Erfahrung stellt das Dritte vor, das über Tho-mas’ Seinsdenken, über Husserls Ichdenken zu Augustinus’ Denken ausder Relation führt: zu Hingabe und Hinnahme. Stein nimmt nicht wie Hei-degger die Verzweiflung des Menschen als grundlegenden anthropologi-schen Befund an, sondern der gesamte Befund umfasst sowohl Angst alsGeborgenheit, sowohl Ausgeliefertsein als Selbststand, sowohl Irrtum alsWahrheitsvermögen, sowohl Nichtverstehen als Rationalität. Erst von die-sem Gesamtbestand aus, der keineswegs nur glaubensmäßig, sonderndurch Erfahrung und Reflexion gestützt ist, sucht sie denkend auf Gottweiterzuschließen. So betont Stein kraftvoll überzeugt, Gott sei der Ver-nunft zugänglich, allerdings innerhalb einer methodischen Grenze. Ver-stärkte Aufmerksamkeit sei sogar darauf zu richten, dass selbst das Per-sonale, das sich im Aufstieg vom Seienden zu Gott immer klarer kon-turiert, der ratio offenstehe; dass die Freiheit des Personalen unter derverstandesmäßigen Behandlung nicht schwinde, sondern erst recht sicht-bar werde. Vernunft werde von der Gnade nicht entmächtigt. Wahrheitmüsse sich vor dem Verstand ausweisen können – auch religiöse Wahrheit.

Doch bleibt die Frage, ob nicht zwischen Schöpfung und Gott, genauer-hin zwischen Mensch und Gott, bereits anfänglich ein Abgrund erscheinenmüsse, der dem Verstand in seinem Vorgehen unüberwindlich sei. Wo blie-be in dem durchrationalisierten theologischen Entwurf die Erfahrung vonder „Inkommensurabilität“, ja „Absurdität“ Gottes, wie Kierkegaard for-muliert?

Jedoch: Stein führt gerade kraft ihrer philosophischen Schulung das Ex-periment der Vernunft so sorgfältig durch, dass auch die Grenze der ge-danklichen Bewegung mit Genauigkeit aufscheint. Die Grenze ist sozu-sagen der Denkfähigkeit selbst eingeschrieben und sinnvolle Herausfor-derung. „Über die Grenze hinaus“ wird kein Beweis vorgelegt: Steinvollzieht vielmehr jenen „Aufstieg“, der den Absoluten in seinem ge-sonderten, mit nichts vergleichbaren Sein, den durch alle Ähnlichkeit hin-durch Unähnlichen denkbar werden lässt. Die Bewegung wird sogar zei-gen, dass die Andersheit Gottes tatsächlich nur „berührt“, nicht gesehenund nicht gewusst werden kann. Doch wird solche Andersheit, sobald sieins Spiel kommt, die Gegenstände der normalen Erfahrung umgekehrt ineine Bewegung setzen, die der Verstand zu strukturieren sucht. Auf derGrundlage göttlicher Andersheit wird gerade auch die Andersheit desMenschen denkbar: als eine Andersheit des Kontingenten, das sich in derGerichtetheit (Intentionalität) auf sein komplementäres Anderes profi-liert. Solche Erkenntnis zielt auf Begegnung, nicht nur mit Gott, sondernebenso mit der Welt der Dinge wie mit der Welt, die das Ich selbst ist.

So wird Stein in der Logik der Ontologie aufsteigen bis zur Logik desPersonalen, worin der Mensch wie die höchste Person, Gott selbst, einbe-griffen sind. Von der Logik der Person aus wird aber die Ontologie nocheinmal in ihrem methodisch beschränkten Charakter erkenntlich. Denn esliegt in der Logik des Erkennens von Welt, auf das Selbsterkennen zu ver-weisen und von dort auf den personalen, transzendenten Ich-Grundweiterzudenken, und es liegt in der Logik des Ich-Grundes, das Erkennenzu einem Anerkennen herauszufordern. Reflexe, distanzierte Logik wirdexistentielle Logik. Dass das anfänglich ontologische System dadurch insich selbst aufbricht, dass der Begriff „Person“ letztlich mehr Erklärungs-gehalt aufweist als der Begriff „Sein“, weil kontingente Person und abso-lute Person sich dem Erkennen erstrangig eröffnen, macht die Qualitätder Darstellung aus. Auswahlbibliographie

55

SIMONE WEIL Kontingenz im Widerspruch der Identität

Von Maja Wicki-Vogt

„Jedes Wesen schreit im stillen, um anders gelesen zu werden“, hielt

Simone Weil im Frühling 1941, zwei Jahre vor ihrem Tod, in ihrem schma-len Notizheft (Cahiers I, 211) fest. Sie schrieb weiter, in jedem Men-schen sei „etwas anderes, vielleicht etwas ganz anderes, als was man in ihmliest“.

Der Notiz vorangestellt ist der Begriff „Gerechtigkeit“. Ob Simone Weilmit „Gerechtigkeit“ das moralische Gebot im zwischenmenschlichen Ver-halten meinte, das sie sich in all ihren Lebenszusammenhängen auferlegthatte, oder ob sie damit der in ihr nagenden Sehnsucht Ausdruck gab, sel-ber „Gerechtigkeit“ zu erleben und „anders gelesen zu werden“, ließ sieoffen. „Gerechtigkeit“ war eine klare Linie, die als Maßstab moralischer

Pflicht ihr politisches und soziales Handeln immer beeinflusst hatte. Eskann angenommen werden, dass ihr zu diesem Zeitpunkt – sie war damals

32 Jahre alt – die Beziehung zu ihr selbst und damit der tiefe Wunsch, so

„gelesen“ respektive gedeutet zu werden, wie sie tatsächlich war, als „dieandere, die ganz andere“ und nicht als diejenige, als die sie „gelesenwurde“ als „Schrei im stillen“, bewusst wurde. Was sie zusätzlich notierte,war allerdings eine Art Bedingungserklärung für die Erfüllung dieser

Sehnsucht: Es sei „ein Fehler“, schrieb sie, „verstanden werden zu wollen,bevor man sich selbst mit seinen eigenen Augen klar gesehen hat“. War esihr möglich, sich selber „mit eigenen Augen“ zu sehen?

1. Einleitende Überlegungen

Subjekthaftigkeit und Objekthaftigkeit

Mit dieser Frage verbinden sich weitere Fragen. Worin besteht dieunterschiedliche Bedeutung zwischen „sich selber sehen“ und „in jedem

Wesen das andere, ganz andere lesen“? Geht es bei den beiden Aussagen

Simone Weils aus ihrer späten Lebensphase um die als Mangel erlebten

Werte der Identität? – Einerseits um den Ich- und Selbstwert in der Bezie-hung zu ihr selbst in ihrer Subjekthaftigkeit, andererseits um die Tatsacheder Ausgesetztheit und Ohnmacht in der Objekthaftigkeit?

Ich nehme an, dass für Simone Weil die Verbindung zwischen der Forde-rung nach „Gerechtigkeit“ und der Sehnsucht nach Klarheit im Wissen umdas eigene „Andere“ in der Gleichzeitigkeit von Subjektsein und Objekt-sein besteht. In intellektueller Hinsicht wusste sie um diese Tatsache, siewusste, dass hierin die Bedingung für die Erfüllung der beiden geheimenmenschlichen Bedürfnisse liegt, die eigene Besonderheit selber zu verste-hen sowie in dieser Besonderheit verstanden zu werden. Wie aber erklärtsich die Tragik von Simone Weils Lebensentwicklung, der in intellektuellerHinsicht die Klarheit der Erkenntnis nicht verschlossen blieb? Warum wardiese nicht umsetzbar?

Es stellen sich zahlreiche Fragen der Forschung; sie können nicht vonSimone Weil selber beantwortet werden. Als sie die Überlegungen, vondenen ich ausgehe, notierte, war sie in einer Situation von größter Be-drängnis. Sie befand sich mit ihren Eltern als Flüchtling in der unbesetztenZone Frankreichs, in Marseille, gehörte als Jüdin zu einem Kollektiv vonHunderttausenden von Menschen, deren Überleben davon abhing, obeine weitere Flucht gelingen würde. Jüdischen Menschen – und sie wareine unter ihnen – war auch von der Vichy-Regierung jeder persönlicheLebenswert als Subjekt in einer kollektiven Objektentwertung abgespro-chen worden. Es war eine Erfahrung nagenden Wartens in der Ausgesetzt-heit von Deportation und Tod oder von Emigration und Überleben, dieseit dem Exodus aus Paris – nach dem Einmarsch von Hitlers Armee am15. Juni 1940 – schon Monate dauerte, ohne Kenntnis, wie lange sie weiterdauern würde.

Als am 14. Mai 1942 für Simone Weil sowie für Bernard und Selma Weil,ihre Eltern, endlich die Ausreise aus Frankreich möglich wurde, zusammenmit neunhundert anderen Überlebenden, befand sie sich in körperlicherHinsicht in größter Erschöpfung. Auf einem überfüllten Schiff erreichtensie Casablanca und wurden dort fast drei Wochen lang in einem derFlüchtlingslager einquartiert, wo Simone Weil mit Denken und Schreibennicht absetzte. Am 6. Juli 1942 erreichten sie die USA, wo die Eltern Weilwährend der Kriegszeit blieben.

Simone Weil aber schiffte sich im November des gleichen Jahres für dieRückreise nach Europa ein und gelangte am 14. Dezember 1942 nachLondon. Verzweifelt hoffte sie, im Rahmen der französischen Exilregie-rung, eine Aufgabe zugeteilt zu bekommen – als Französin, als französi-sche Denkerin, als Syndikalistin und Kämpferin. Es war für sie in ihrerSubjekthaftigkeit nicht vereinbar mit sich selbst, nur als Jüdin „gelesen“zu werden; es war für sie eine Un-„Gerechtigkeit“, als Teil des europäi-schen Judentums für überflüssig und rechtlos erklärt worden zu sein.

56

SIMONE WEIL Kontingenz im Widerspruch der Identität

Von Maja Wicki-Vogt

„Jedes Wesen schreit im stillen, um anders gelesen zu werden“, hielt

Simone Weil im Frühling 1941, zwei Jahre vor ihrem Tod, in ihrem schma-len Notizheft (Cahiers I, 211) fest. Sie schrieb weiter, in jedem Men-schen sei „etwas anderes, vielleicht etwas ganz anderes, als was man in ihmliest“.

Der Notiz vorangestellt ist der Begriff „Gerechtigkeit“. Ob Simone Weilmit „Gerechtigkeit“ das moralische Gebot im zwischenmenschlichen Ver-halten meinte, das sie sich in all ihren Lebenszusammenhängen auferlegthatte, oder ob sie damit der in ihr nagenden Sehnsucht Ausdruck gab, sel-ber „Gerechtigkeit“ zu erleben und „anders gelesen zu werden“, ließ sieoffen. „Gerechtigkeit“ war eine klare Linie, die als Maßstab moralischer

Pflicht ihr politisches und soziales Handeln immer beeinflusst hatte. Eskann angenommen werden, dass ihr zu diesem Zeitpunkt – sie war damals

32 Jahre alt – die Beziehung zu ihr selbst und damit der tiefe Wunsch, so

„gelesen“ respektive gedeutet zu werden, wie sie tatsächlich war, als „dieandere, die ganz andere“ und nicht als diejenige, als die sie „gelesenwurde“ als „Schrei im stillen“, bewusst wurde. Was sie zusätzlich notierte,war allerdings eine Art Bedingungserklärung für die Erfüllung dieser

Sehnsucht: Es sei „ein Fehler“, schrieb sie, „verstanden werden zu wollen,bevor man sich selbst mit seinen eigenen Augen klar gesehen hat“. War esihr möglich, sich selber „mit eigenen Augen“ zu sehen?

1. Einleitende Überlegungen

Subjekthaftigkeit und Objekthaftigkeit

Mit dieser Frage verbinden sich weitere Fragen. Worin besteht dieunterschiedliche Bedeutung zwischen „sich selber sehen“ und „in jedem

Wesen das andere, ganz andere lesen“? Geht es bei den beiden Aussagen

Simone Weils aus ihrer späten Lebensphase um die als Mangel erlebten

Werte der Identität? – Einerseits um den Ich- und Selbstwert in der Bezie-hung zu ihr selbst in ihrer Subjekthaftigkeit, andererseits um die Tatsacheder Ausgesetztheit und Ohnmacht in der Objekthaftigkeit?

Ich nehme an, dass für Simone Weil die Verbindung zwischen der Forde-rung nach „Gerechtigkeit“ und der Sehnsucht nach Klarheit im Wissen umdas eigene „Andere“ in der Gleichzeitigkeit von Subjektsein und Objekt-sein besteht. In intellektueller Hinsicht wusste sie um diese Tatsache, siewusste, dass hierin die Bedingung für die Erfüllung der beiden geheimenmenschlichen Bedürfnisse liegt, die eigene Besonderheit selber zu verste-hen sowie in dieser Besonderheit verstanden zu werden. Wie aber erklärtsich die Tragik von Simone Weils Lebensentwicklung, der in intellektuellerHinsicht die Klarheit der Erkenntnis nicht verschlossen blieb? Warum wardiese nicht umsetzbar?

Es stellen sich zahlreiche Fragen der Forschung; sie können nicht vonSimone Weil selber beantwortet werden. Als sie die Überlegungen, vondenen ich ausgehe, notierte, war sie in einer Situation von größter Be-drängnis. Sie befand sich mit ihren Eltern als Flüchtling in der unbesetztenZone Frankreichs, in Marseille, gehörte als Jüdin zu einem Kollektiv vonHunderttausenden von Menschen, deren Überleben davon abhing, obeine weitere Flucht gelingen würde. Jüdischen Menschen – und sie wareine unter ihnen – war auch von der Vichy-Regierung jeder persönlicheLebenswert als Subjekt in einer kollektiven Objektentwertung abgespro-chen worden. Es war eine Erfahrung nagenden Wartens in der Ausgesetzt-heit von Deportation und Tod oder von Emigration und Überleben, dieseit dem Exodus aus Paris – nach dem Einmarsch von Hitlers Armee am15. Juni 1940 – schon Monate dauerte, ohne Kenntnis, wie lange sie weiterdauern würde.

Als am 14. Mai 1942 für Simone Weil sowie für Bernard und Selma Weil,ihre Eltern, endlich die Ausreise aus Frankreich möglich wurde, zusammenmit neunhundert anderen Überlebenden, befand sie sich in körperlicherHinsicht in größter Erschöpfung. Auf einem überfüllten Schiff erreichtensie Casablanca und wurden dort fast drei Wochen lang in einem derFlüchtlingslager einquartiert, wo Simone Weil mit Denken und Schreibennicht absetzte. Am 6. Juli 1942 erreichten sie die USA, wo die Eltern Weilwährend der Kriegszeit blieben.

Simone Weil aber schiffte sich im November des gleichen Jahres für dieRückreise nach Europa ein und gelangte am 14. Dezember 1942 nachLondon. Verzweifelt hoffte sie, im Rahmen der französischen Exilregie-rung, eine Aufgabe zugeteilt zu bekommen – als Französin, als französi-sche Denkerin, als Syndikalistin und Kämpferin. Es war für sie in ihrerSubjekthaftigkeit nicht vereinbar mit sich selbst, nur als Jüdin „gelesen“zu werden; es war für sie eine Un-„Gerechtigkeit“, als Teil des europäi-schen Judentums für überflüssig und rechtlos erklärt worden zu sein.Gleichzeitig spürte sie, dass es sinnlos war zu fordern, „anders gelesen zuwerden“, ohne zur wirklichen Klarheit mit sich zu gelangen. Doch wie?War es Simone Weil überhaupt möglich, die Widersprüche in ihren Identi-tätsempfindungen zu klären?

Abhängigkeit und Freiheit im „Lesen“ und „Gelesen-Werden“

Auf die Fragen eingehen heißt, sich mit der Kontingenz der Nicht-Über-einstimmung zwischen emotionalen und intellektuellen Teilen in SimoneWeils Identität zu befassen; die Nicht-Übereinstimmung hat ihre ganzeEntwicklung und ihr ganzes Werk beeinflusst. In diesem Zusammenhangausschließlich den kleinen Band La pesanteur et la grâce Schwerkraftund Gnade zu beachten, wäre ungenügend. Dieser wurde kurz nach demKrieg durch den Laientheologen Gustave Thibon herausgegeben, dem Si-mone Weil ihre Cahiers vor der Ausreise aus Frankreich anvertraut hatte.Die aphorismenähnlichen Überlegungen, die sich darin finden, sind tat-sächlich aufwühlend: über das Unglück, über die Leere, über Notwendig-keit, Entwurzelung und Einwurzelung, über Ent-Schöpfung, über die Got-tesliebe, vor allem ablehnende und zum Teil hassbesetzte Aussagen überdas jüdische Volk und das Judentum.

Als ich mit einundzwanzig Jahren diese Aufzeichnungen das erste Mallas, selber am Anfang des Philosophiestudiums sowie in eigenen religiösenund gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, erschienen sie mir blasphe-misch. Zugleich ließ mir das Geheimnis dieser Frau und Denkerin keineRuhe mehr. Doch erst als mir ihre vollständigen Cahiers und ihre zahlrei-chen Essays, ihre Gedichte, Briefe, die Fabriktagebücher und Übersetzun-gen vorlagen, auch das von Albert Camus herausgegebene letzte Werk L’enracinement und ihre letzten Aufzeichnungen aus Casablanca, aus NewYork und aus London, erst als ich ihr Werk in der Komplexität ihres Den-kens und Leidens „lesen“ konnte, wurde mir klar, mit welch einseitigemBlick die Aufzeichnungen in La pesanteur et la grâce ausgewählt und ge-ordnet worden waren. Eine der Folgen dieser Veröffentlichung war, dassSimone Weil während langer Zeit von christlichen Kreisen vereinnahmtund beinah ausschließlich zur – quasi heiligen – Märtyrerin und Mystike-rin erklärt wurde. Es verwundert nicht, dass jüdische Denker – so MartinBuber oder Emmanuel Lévinas – von ihr zutiefst befremdet waren und sieablehnten.

Es mag in der Tragik der aufwühlenden Widersprüchlichkeit liegen, dasswährend mehr als vierzig Jahren Simone Weil mich nicht losließ, in phi-losophischer wie in psychoanalytischer Hinsicht. Mein erstes Unter-suchungsresultat – Eine Logik des Absurden (Bern/Stuttgart 1983) – ver-öffentlichte ich als meine Dissertation, als ich dreiundvierzig Jahre alt war;die zahlreichen späteren Untersuchungsbeiträge, die zum Teil publiziertwurden, zum Teil Gegenstand von Vorlesungen und Seminaren waren undunpubliziert blieben, erachtete ich immer als Beiträge des Verstehensrespektive des „anders Lesens“ – eine Arbeit, die letztlich nie abschließ-bar ist.

In die Frage nach der Kontingenz bei Simone Weil einzusteigen, istdaher Fortsetzung der klärenden Arbeit. Ihre eigene innere Suche, die sieals Bedingung für das richtige „gelesen werden“ verstand, prägte ihrephilosophische, politische und religiöse Entwicklung. Gerechtigkeit be-deutete dabei moralisches Gebot in individueller Hinsicht wie Zielsetzungim sozial-politischen Zusammenhang.

Dichte der Widersprüchlichkeit

Quälend und letztlich erschöpfend war für Simone Weil die Wider-sprüchlichkeit in dreifacher Hinsicht:– im Denken respektive in intellektueller Hinsicht durch den Einfluss derin Frankreich maßgeblichen kartesianischen, spinozanischen und kanti-schen Philosophie im Streben nach rationaler Erkenntnis von Wahrheit.Gleichzeitig durch jenen der sokratischen und existenzphilosophischenSkepsis jeder theoretischen Wahrheitserklärung gegenüber, vor allemim Bereich der politischen und sozialethischen Theorien und deren tat-sächlichen Umsetzung;

im Empfinden respektive in psychischer Hinsicht durch die Nicht-Akzeptanz ihrer selbst als Frau sowohl im Zusammenhang aller Fra-gen von Körperlichkeit und Liebe wie im Streben nach Übereinstim-mung mit der für sie nicht erreichbaren Männlichkeit, als Vorausset-zung für die höchste Klarheit des Denkens und Erkennens. Sodanndurch die Nicht-Akzeptanz ihrer selbst als Jüdin und damit ihrer religi-ösen Zugehörigkeit, verstärkt durch die Zeitgeschichte und gleichzeitigdurch den nicht stillbaren Hunger nach zeitloser, transzendenter Got-tesnähe;

im gelebten Leben respektive in existentieller Hinsicht durch die mora-lische Verpflichtung des persönlichen Umsetzens von Gerechtigkeit,einerseits als Philosophin, andererseits als kritische und parteiunabhän-gige Sozialistin sowie als kämpferische Anarchistin und Französin. – Alldies mit der zunehmenden körperlichen und psychischen Erschöpfungdurch die Nicht-Erfüllbarkeit ihrer Zielsetzungen, letztlich durch dielähmende Verzweiflung im Verhältnis von Denken und Empfinden zuihrem eigenen Lebenswert.Gleichzeitig spürte sie, dass es sinnlos war zu fordern, „anders gelesen zuwerden“, ohne zur wirklichen Klarheit mit sich zu gelangen. Doch wie?War es Simone Weil überhaupt möglich, die Widersprüche in ihren Identi-tätsempfindungen zu klären?

Abhängigkeit und Freiheit im „Lesen“ und „Gelesen-Werden“

Auf die Fragen eingehen heißt, sich mit der Kontingenz der Nicht-Über-einstimmung zwischen emotionalen und intellektuellen Teilen in SimoneWeils Identität zu befassen; die Nicht-Übereinstimmung hat ihre ganzeEntwicklung und ihr ganzes Werk beeinflusst. In diesem Zusammenhangausschließlich den kleinen Band La pesanteur et la grâce Schwerkraftund Gnade zu beachten, wäre ungenügend. Dieser wurde kurz nach demKrieg durch den Laientheologen Gustave Thibon herausgegeben, dem Si-mone Weil ihre Cahiers vor der Ausreise aus Frankreich anvertraut hatte.Die aphorismenähnlichen Überlegungen, die sich darin finden, sind tat-sächlich aufwühlend: über das Unglück, über die Leere, über Notwendig-keit, Entwurzelung und Einwurzelung, über Ent-Schöpfung, über die Got-tesliebe, vor allem ablehnende und zum Teil hassbesetzte Aussagen überdas jüdische Volk und das Judentum.

Als ich mit einundzwanzig Jahren diese Aufzeichnungen das erste Mallas, selber am Anfang des Philosophiestudiums sowie in eigenen religiösenund gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, erschienen sie mir blasphe-misch. Zugleich ließ mir das Geheimnis dieser Frau und Denkerin keineRuhe mehr. Doch erst als mir ihre vollständigen Cahiers und ihre zahlrei-chen Essays, ihre Gedichte, Briefe, die Fabriktagebücher und Übersetzun-gen vorlagen, auch das von Albert Camus herausgegebene letzte Werk L’enracinement und ihre letzten Aufzeichnungen aus Casablanca, aus NewYork und aus London, erst als ich ihr Werk in der Komplexität ihres Den-kens und Leidens „lesen“ konnte, wurde mir klar, mit welch einseitigemBlick die Aufzeichnungen in La pesanteur et la grâce ausgewählt und ge-ordnet worden waren. Eine der Folgen dieser Veröffentlichung war, dassSimone Weil während langer Zeit von christlichen Kreisen vereinnahmtund beinah ausschließlich zur – quasi heiligen – Märtyrerin und Mystike-rin erklärt wurde. Es verwundert nicht, dass jüdische Denker – so MartinBuber oder Emmanuel Lévinas – von ihr zutiefst befremdet waren und sieablehnten.

Es mag in der Tragik der aufwühlenden Widersprüchlichkeit liegen, dasswährend mehr als vierzig Jahren Simone Weil mich nicht losließ, in phi-losophischer wie in psychoanalytischer Hinsicht. Mein erstes Unter-suchungsresultat – Eine Logik des Absurden (Bern/Stuttgart 1983) – ver-öffentlichte ich als meine Dissertation, als ich dreiundvierzig Jahre alt war;die zahlreichen späteren Untersuchungsbeiträge, die zum Teil publiziertwurden, zum Teil Gegenstand von Vorlesungen und Seminaren waren undunpubliziert blieben, erachtete ich immer als Beiträge des Verstehensrespektive des „anders Lesens“ – eine Arbeit, die letztlich nie abschließ-bar ist.

In die Frage nach der Kontingenz bei Simone Weil einzusteigen, istdaher Fortsetzung der klärenden Arbeit. Ihre eigene innere Suche, die sieals Bedingung für das richtige „gelesen werden“ verstand, prägte ihrephilosophische, politische und religiöse Entwicklung. Gerechtigkeit be-deutete dabei moralisches Gebot in individueller Hinsicht wie Zielsetzungim sozial-politischen Zusammenhang.

Dichte der Widersprüchlichkeit

Quälend und letztlich erschöpfend war für Simone Weil die Wider-sprüchlichkeit in dreifacher Hinsicht:– im Denken respektive in intellektueller Hinsicht durch den Einfluss derin Frankreich maßgeblichen kartesianischen, spinozanischen und kanti-schen Philosophie im Streben nach rationaler Erkenntnis von Wahrheit.Gleichzeitig durch jenen der sokratischen und existenzphilosophischenSkepsis jeder theoretischen Wahrheitserklärung gegenüber, vor allemim Bereich der politischen und sozialethischen Theorien und deren tat-sächlichen Umsetzung;

im Empfinden respektive in psychischer Hinsicht durch die Nicht-Akzeptanz ihrer selbst als Frau sowohl im Zusammenhang aller Fra-gen von Körperlichkeit und Liebe wie im Streben nach Übereinstim-mung mit der für sie nicht erreichbaren Männlichkeit, als Vorausset-zung für die höchste Klarheit des Denkens und Erkennens. Sodanndurch die Nicht-Akzeptanz ihrer selbst als Jüdin und damit ihrer religi-ösen Zugehörigkeit, verstärkt durch die Zeitgeschichte und gleichzeitigdurch den nicht stillbaren Hunger nach zeitloser, transzendenter Got-tesnähe;

im gelebten Leben respektive in existentieller Hinsicht durch die mora-lische Verpflichtung des persönlichen Umsetzens von Gerechtigkeit,einerseits als Philosophin, andererseits als kritische und parteiunabhän-gige Sozialistin sowie als kämpferische Anarchistin und Französin. – Alldies mit der zunehmenden körperlichen und psychischen Erschöpfungdurch die Nicht-Erfüllbarkeit ihrer Zielsetzungen, letztlich durch dielähmende Verzweiflung im Verhältnis von Denken und Empfinden zuihrem eigenen Lebenswert.Von maßgeblichem Einfluss auf den verschlüsselten Fächer der Kontin-genz waren Herkunft und Zeitgeschehnisse, deren Klärung sich mit der

Lebensgeschichte wie mit der Entstehungsgeschichte des Werks von Simo-ne Weil verknüpft. Diese voneinander zu trennen, wäre in analytischer wiein philosophischer Hinsicht problematisch. Die Kontingenz besteht in derwechselseitigen Verstrickung der in der Lebenszeit nicht lösbaren Wider-sprüchlichkeit, aus welcher das Werk entstanden ist. Daraus wird sich eineabschließende Betrachtung über die Anorexie, die Simone Weil als Weg inden Tod wählte, und über die Bedeutung ihres letzten Werks ergeben.

2. Herkunftsgeschichte und Lebensgeschichte – Existenz und Werk

Von klärender Bedeutung ist es, auf einen Teil der Kindheits- und Ju-gendgeschichte Simone Weils näher einzugehen, nachdem Teile der späte-ren Lebensphase knapp erwähnt wurden.

Besonderheit und Geborgenheit

Als zweites Kind ihrer Eltern kam Simone Adolphine Weil am 3. Fe-bruar 1909 gegen Ende des achten Schwangerschaftsmonates in Paris zur

Welt. Ihr Vater, Bernard Weil, war Arzt, zur Zeit der Geburt von Simonesiebenunddreißig Jahre alt. Er war in Strasbourg geboren, stammte auseiner Familie, die seit langer Zeit im Elsass ansässig war. Bernard Weils

Vater, Abraham Weil, hatte nach dem Tod seiner ersten Frau ein zweites

Mal geheiratet, die Schwester der ersten Gattin. Aus den zwei Ehen hatteer eine Schar Kinder. Bernard Weils Mutter, Eugénie Weil, wurde dreiund-neunzig Jahre alt, eine gläubige Frau, die jede Woche bis ins hohe Alter im

Haus ihres Sohnes zu Besuch weilte und dabei regelmäßig die Küche in-spizierte. Bernard Weil selber soll sich als Agnostiker und Anarchist be-zeichnet haben, dies wenigstens in jungen Jahren; gleichzeitig war er einhilfsbereiter Mensch, vor allem Armen gegenüber in seiner Tätigkeit als

Arzt. Er soll unter starker Migräne gelitten haben. Ob sich die Kopf-schmerzen, die Simone Weil von der Zeit des Studienabschlusses an biszum Tod gequält haben, durch Vererbung erklären lassen, bleibt offen;ihrem Vater glich sie auf erstaunliche Weise in den Gesichtszügen.

Simone Weils Mutter, Selma Reinherz, war in Rostov am Don zur Weltgekommen. Ihr Vater, Adolphe Reinherz (zu dessen Erinnerung Simone

Weils zweiter Name gewählt wurde, da er bei ihrer Geburt nicht mehrlebte), stammte aus Galizien, und ihre Mutter, Hermine Sternberg, aus

Wien. Infolge der in Russland einsetzenden Pogrome gelangte Adolphe

Reinherz 1882 mit seiner Familie nach Antwerpen, wo er bald wiederWohlstand und Ansehen erwerben konnte und mit der belgischen Staats-bürgerschaft geehrt wurde. Adolphe Reinherz war ein Sammler hebräi-scher Bücher und verfasste selber hebräische Gedichte. Hermine Rein-herz-Sternberg, also Simone Weils Großmutter, kam aus einer Musiker-familie und spielte hervorragend Klavier; sie lebte nach dem Tode ihresEhemannes bei den Weils. Auch Simone Weils Mutter hatte eine Gesangs-ausbildung gemacht. Sie hatte gewünscht, Medizin zu studieren, was da-mals aber für Töchter des höheren Mittelstandes als unschicklich galt. DieFamilie Reinherz fühlte sich jüdisch, jedoch in weltoffener, liberaler Weise.

Simone Weils familiärer Hintergrund war somit das jüdisch emanzipier-te, großbürgerliche Milieu, in welchem eine humanistische Bildung – eineintellektuelle mit Vorbehalt – selbstverständlich war, wo auch existentiellePrivilegien zum Alltag gehörten, etwa Ferienaufenthalte am Meer oderin den Bergen. Vor dem Ersten Weltkrieg und teilweise noch in derZwischenkriegszeit war dieser Lebensstil in jüdischen Kreisen in Europanicht selten. Während des Ersten Weltkriegs wurde Bernard Weil als Trup-penarzt eingezogen. Selma Weil folgte ihm mit den Kindern quer durchFrankreich, wo immer er stationiert war.

Den stärksten Einfluss übte in jener Zeit auf Simone Weil ihr zweiein-halb Jahre älterer Bruder André aus. Er war der enge Spielgefährte ihrerKindheit, ihr Vorbild und Ansporn, ihr Maßstab in intellektueller Hinsichtauch während ihrer ganzen Jugendzeit. In der frühen Kindheit war siehäufig krank gewesen. Das zu früh geborene Kind, anfällig für jeden In-fekt, bedurfte der intensiven Pflege und Nähe seiner Mutter. Als dieseselber erkrankte und die knapp einjährige Simone nicht länger stillenkonnte, reagierte das Kind darauf mit Ernährungsverweigerung und mitständiger Traurigkeit. Erst als schon ein besorgniserregender Gewichtsver-lust eingetreten war, ließ sich eine andere Ernährungsmethode finden, aufwelche das Kind mit Zustimmung reagierte.

War es Angst, die symbiotische Nähe und Liebe der Mutter zu verlieren,welche durch die plötzliche Entwöhnung geweckt wurde? Auf jeden Fallkonnte Simone wieder genesen, blieb aber in gesundheitlicher Hinsichtgefährdet. Zugleich war sie unternehmungsfreudig und hochbegabt (außerin manuellen Belangen, wo sie linkisch war). Im Vergleich mit ihrem Bru-der kam sie sich jedoch immer ungenügend vor. Später hielt sie fest, siesei, als sie vierzehn Jahre zählte, wegen der Mittelmäßigkeit ihrer Fähig-keiten in eine bodenlose Verzweiflung gefallen. Sie habe gespürt, dass sienicht in jenes transzendente Reich vordringen konnte, zu welchem der Zu-gang nur wirklich großen Männern ermöglicht werde und wo die Wahrheitihren Sitz habe, auch dass sie lieber sterben wollte als ohne Wahrheit zuleben.

Von maßgeblichem Einfluss auf den verschlüsselten Fächer der Kontin-genz waren Herkunft und Zeitgeschehnisse, deren Klärung sich mit der

Lebensgeschichte wie mit der Entstehungsgeschichte des Werks von Simo-ne Weil verknüpft. Diese voneinander zu trennen, wäre in analytischer wiein philosophischer Hinsicht problematisch. Die Kontingenz besteht in derwechselseitigen Verstrickung der in der Lebenszeit nicht lösbaren Wider-sprüchlichkeit, aus welcher das Werk entstanden ist. Daraus wird sich eineabschließende Betrachtung über die Anorexie, die Simone Weil als Weg inden Tod wählte, und über die Bedeutung ihres letzten Werks ergeben.

2. Herkunftsgeschichte und Lebensgeschichte – Existenz und Werk

Von klärender Bedeutung ist es, auf einen Teil der Kindheits- und Ju-gendgeschichte Simone Weils näher einzugehen, nachdem Teile der späte-ren Lebensphase knapp erwähnt wurden.

Besonderheit und Geborgenheit

Als zweites Kind ihrer Eltern kam Simone Adolphine Weil am 3. Fe-bruar 1909 gegen Ende des achten Schwangerschaftsmonates in Paris zur

Welt. Ihr Vater, Bernard Weil, war Arzt, zur Zeit der Geburt von Simonesiebenunddreißig Jahre alt. Er war in Strasbourg geboren, stammte auseiner Familie, die seit langer Zeit im Elsass ansässig war. Bernard Weils

Vater, Abraham Weil, hatte nach dem Tod seiner ersten Frau ein zweites

Mal geheiratet, die Schwester der ersten Gattin. Aus den zwei Ehen hatteer eine Schar Kinder. Bernard Weils Mutter, Eugénie Weil, wurde dreiund-neunzig Jahre alt, eine gläubige Frau, die jede Woche bis ins hohe Alter im

Haus ihres Sohnes zu Besuch weilte und dabei regelmäßig die Küche in-spizierte. Bernard Weil selber soll sich als Agnostiker und Anarchist be-zeichnet haben, dies wenigstens in jungen Jahren; gleichzeitig war er einhilfsbereiter Mensch, vor allem Armen gegenüber in seiner Tätigkeit als

Arzt. Er soll unter starker Migräne gelitten haben. Ob sich die Kopf-schmerzen, die Simone Weil von der Zeit des Studienabschlusses an biszum Tod gequält haben, durch Vererbung erklären lassen, bleibt offen;ihrem Vater glich sie auf erstaunliche Weise in den Gesichtszügen.

Simone Weils Mutter, Selma Reinherz, war in Rostov am Don zur Weltgekommen. Ihr Vater, Adolphe Reinherz (zu dessen Erinnerung Simone

Weils zweiter Name gewählt wurde, da er bei ihrer Geburt nicht mehrlebte), stammte aus Galizien, und ihre Mutter, Hermine Sternberg, aus

Wien. Infolge der in Russland einsetzenden Pogrome gelangte Adolphe

Reinherz 1882 mit seiner Familie nach Antwerpen, wo er bald wiederWohlstand und Ansehen erwerben konnte und mit der belgischen Staats-bürgerschaft geehrt wurde. Adolphe Reinherz war ein Sammler hebräi-scher Bücher und verfasste selber hebräische Gedichte. Hermine Rein-herz-Sternberg, also Simone Weils Großmutter, kam aus einer Musiker-familie und spielte hervorragend Klavier; sie lebte nach dem Tode ihresEhemannes bei den Weils. Auch Simone Weils Mutter hatte eine Gesangs-ausbildung gemacht. Sie hatte gewünscht, Medizin zu studieren, was da-mals aber für Töchter des höheren Mittelstandes als unschicklich galt. DieFamilie Reinherz fühlte sich jüdisch, jedoch in weltoffener, liberaler Weise.

Simone Weils familiärer Hintergrund war somit das jüdisch emanzipier-te, großbürgerliche Milieu, in welchem eine humanistische Bildung – eineintellektuelle mit Vorbehalt – selbstverständlich war, wo auch existentiellePrivilegien zum Alltag gehörten, etwa Ferienaufenthalte am Meer oderin den Bergen. Vor dem Ersten Weltkrieg und teilweise noch in derZwischenkriegszeit war dieser Lebensstil in jüdischen Kreisen in Europanicht selten. Während des Ersten Weltkriegs wurde Bernard Weil als Trup-penarzt eingezogen. Selma Weil folgte ihm mit den Kindern quer durchFrankreich, wo immer er stationiert war.

Den stärksten Einfluss übte in jener Zeit auf Simone Weil ihr zweiein-halb Jahre älterer Bruder André aus. Er war der enge Spielgefährte ihrerKindheit, ihr Vorbild und Ansporn, ihr Maßstab in intellektueller Hinsichtauch während ihrer ganzen Jugendzeit. In der frühen Kindheit war siehäufig krank gewesen. Das zu früh geborene Kind, anfällig für jeden In-fekt, bedurfte der intensiven Pflege und Nähe seiner Mutter. Als dieseselber erkrankte und die knapp einjährige Simone nicht länger stillenkonnte, reagierte das Kind darauf mit Ernährungsverweigerung und mitständiger Traurigkeit. Erst als schon ein besorgniserregender Gewichtsver-lust eingetreten war, ließ sich eine andere Ernährungsmethode finden, aufwelche das Kind mit Zustimmung reagierte.

War es Angst, die symbiotische Nähe und Liebe der Mutter zu verlieren,welche durch die plötzliche Entwöhnung geweckt wurde? Auf jeden Fallkonnte Simone wieder genesen, blieb aber in gesundheitlicher Hinsichtgefährdet. Zugleich war sie unternehmungsfreudig und hochbegabt (außerin manuellen Belangen, wo sie linkisch war). Im Vergleich mit ihrem Bru-der kam sie sich jedoch immer ungenügend vor. Später hielt sie fest, siesei, als sie vierzehn Jahre zählte, wegen der Mittelmäßigkeit ihrer Fähig-keiten in eine bodenlose Verzweiflung gefallen. Sie habe gespürt, dass sienicht in jenes transzendente Reich vordringen konnte, zu welchem der Zu-gang nur wirklich großen Männern ermöglicht werde und wo die Wahrheitihren Sitz habe, auch dass sie lieber sterben wollte als ohne Wahrheit zuleben.

Bedeutung der Kindheitsprägungen

Drei Kindheitsprägungen sind hervorzuheben, die Simone Weils spätere

Entwicklung zutiefst beeinflussten:

Die erste betrifft die starke Identifikation mit dem bewunderten Bru-der. Diese schuf in ihr schon früh das Bedürfnis, wenn auch nicht mit dergleichen Leichtigkeit, so doch mit dem gleichen Ernst, alle wichtigen Fra-gen der Erkenntnis ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und somitnicht ein „weibliches“ Leben, nach damaligen Kriterien, sondern ein

„männliches“ Leben anzustreben. In der Kindheit wurde dieses Strebenvermutlich durch ihre Mutter unterstützt, die selber mit der Tatsache ha-derte, dass ihr als Mädchen das Recht zu studieren abgesprochen wordenwar.

Dazu kam der zu jener Zeit gerade im gehobenen Bürgertum – auch inder Familie Weil – übliche Reinlichkeitswahn, der vermutlich Simone

Weils übersteigerte Selbstkontrolle beeinflusst hat. Es war die Zeit der

Bakterienphobie. Die Kinder Weil wurden angehalten, sich ständig zu wa-schen, vor allem, wenn sie fremden Menschen die Hand gegeben oder

öffentlich benutzte Türklinken oder andere „schmutzige“ Gegenständebenutzt hatten. Das führte dazu, dass Simone Weil einen Widerwillen

– „dégout“ (als Kind sagte sie „dégoutation“) – vor jeder Berührung ent-wickelte. Mag sein, dass dies in ihrem Verhalten den Eindruck einer gewis-sen burschikosen Härte bewirkte, die in keiner Weise mit ihrer mitempfin-denden Psyche übereinstimmte.

Dass Simone Weil das „Reich der Transzendenz“ allein „großen Män-nern“ vorbehalten erschien, hat in der Pubertät die Abwehr gegen ihre

Weiblichkeit verstärkt. Allein dadurch aber lässt sich ihre zunehmende

Askese und Ablehnung aller körperlichen Bedürfnisse nicht erklären, diewährend des Londoner Exils 1943 in die tödliche Anorexie mündeten.

Diese wurde durch weitere psychische Belastungen bewirkt, die zur gra-vierenden Nichtübereinstimmung zwischen ihrem Existenzwert und den

Forderungen führte, denen sie zu genügen suchte. Alles Erkennen mussteder Idealisierung der rationalen Kontrolle gehorchen. Noch im Band der

Cahiers I , in welchem Aufzeichnungen aus den Jahren 1933 bis 1940 vorlie-gen, hielt sie fest: „Wie man sie auch betrachtet, erdrückt die Zivilisation,in der wir leben, den menschlichen Körper. Der Geist und der Körper sindeinander fremd geworden. Die Verbindung ist weg“ (99).

Zweitens trugen in Simone Weils Kindheit die Ereignisse des Ersten

Weltkriegs dazu bei, dass sie früh ein soziales Gewissen zu entwickeln be-gann, das immer bestimmender wurde. Schon als Kind und als Jugendlicheerkannte sie, dass Menschen zu Opfern gemacht werden und dass sie sichmit diesen solidarisieren wollte, nicht mit jenen anderen, die Macht ausüb-ten. Später erkannte sie, dass diejenigen Menschen, die Opfer von Macht-missbrauch und Gewalt werden, ein Ausmaß an Demütigung erleiden, dasihnen die Kraft raubt, Widerstand zu leisten, ob dies Soldaten sind, die alsKanonenfutter eingesetzt werden, oder Arbeiter und Arbeiterinnen, dieals Produktionsmittel wie Maschinen benutzt werden. Sie ging auf die Fol-gen von Diktatur, Totalitarismus und Faschismus ein wie auf jene von Ka-pitalismus, von Maßlosigkeit industrieller Produktion und Entfremdungdurch Fließbandarbeit. Die Entrechtung und Lebensbedrohung von Men-schen durch Rassismus, insbesondere durch Antisemitismus, thematisiertesie nicht, obwohl sie selber dieser Tatsache ausgesetzt war.

Schon früh erschien ihr wichtig, dass Menschen in erster Linie befähigtwerden müssen, sich selbst als handlungsfähige und denkende Individuenwahrzunehmen. Später wird Simone Weil – aufgrund der schon in derKindheit intuitiv erfassten Zusammenhänge – eine Veränderung der ge-sellschaftlichen Verhältnisse in erster Linie als Erziehungs- und Bildungs-problem der Arbeiterschaft erkennen. Doch damit habe ich vorgegriffen.

Drittens war die jüdische Herkunft von Bedeutung. Diese war nicht an-zuzweifeln, aber Simone Weil wurde kaum davon geprägt. Sie erlebte siedurch die Besuche oder die Präsenz der Großmütter als Teil familiärerSelbstverständlichkeit im Rhythmus der Wochentage und der Jahresfeste,jedoch nicht als tragende Struktur religiöser Zugehörigkeit, da im persön-lichen Verhalten der Familienmitglieder immer eine Differenz akzeptiertwurde. Mit der Zeit geriet Simone Weil in eine Art Abwehrhaltung.

Während ihrer Gymnasial- und Studienzeit traten viele jüdische Intel-lektuelle, darunter einige ihrer Lehrerinnen, zum Katholizismus über.Zum Teil versuchten diese auch, jüdische Schülerinnen in dieser Hinsichtzu beeinflussen. Simone Weil nahm aufgrund ihres Wissenshungers wäh-rend der Schulzeit an Diskussionszirkeln teil, die teilweise missionarischeZielsetzungen hatten. Doch sie beachsichtigte schon damals in keinerWeise, wie sie eines Tages ihren Eltern versicherte, die Religion zu „wech-seln“. Gemäß ihren Aufzeichnungen war die Gottesfrage für sie wichtigerals die Religionsfrage. Allerdings zeigte sie während des Studiums eineArt Befangenheit, wenn die Rede auf ihre jüdische Herkunft kam. SimonePétrement, ihre Studienkollegin und Biographin, welche viele Details vonSimone Weils Entwicklung in der von ihr publizierten Biographie (La vie de Simone Weil , Paris 1973) festgehalten hat, erzählt, dass eines Tages, alssie zusammen durchs Quartier Latin spazierten, eine Gruppe von Studen-ten eine Zeitung als „anti-métèque et anti-youpin“ anpriesen. Sie habe Si-mone Weil gefragt, was das bedeute. Diese sei rot geworden und habe ab-weisend bemerkt, das sei so ein Schimpfwort für die Juden. Damit einherging vermutlich, dass sie begann, die Zugehörigkeit zum Judentum zu ver-drängen, ja zu negieren.

Bedeutung der Kindheitsprägungen

Drei Kindheitsprägungen sind hervorzuheben, die Simone Weils spätere

Entwicklung zutiefst beeinflussten:

Die erste betrifft die starke Identifikation mit dem bewunderten Bru-der. Diese schuf in ihr schon früh das Bedürfnis, wenn auch nicht mit dergleichen Leichtigkeit, so doch mit dem gleichen Ernst, alle wichtigen Fra-gen der Erkenntnis ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und somitnicht ein „weibliches“ Leben, nach damaligen Kriterien, sondern ein

„männliches“ Leben anzustreben. In der Kindheit wurde dieses Strebenvermutlich durch ihre Mutter unterstützt, die selber mit der Tatsache ha-derte, dass ihr als Mädchen das Recht zu studieren abgesprochen wordenwar.

Dazu kam der zu jener Zeit gerade im gehobenen Bürgertum – auch inder Familie Weil – übliche Reinlichkeitswahn, der vermutlich Simone

Weils übersteigerte Selbstkontrolle beeinflusst hat. Es war die Zeit der

Bakterienphobie. Die Kinder Weil wurden angehalten, sich ständig zu wa-schen, vor allem, wenn sie fremden Menschen die Hand gegeben oder

öffentlich benutzte Türklinken oder andere „schmutzige“ Gegenständebenutzt hatten. Das führte dazu, dass Simone Weil einen Widerwillen

– „dégout“ (als Kind sagte sie „dégoutation“) – vor jeder Berührung ent-wickelte. Mag sein, dass dies in ihrem Verhalten den Eindruck einer gewis-sen burschikosen Härte bewirkte, die in keiner Weise mit ihrer mitempfin-denden Psyche übereinstimmte.

Dass Simone Weil das „Reich der Transzendenz“ allein „großen Män-nern“ vorbehalten erschien, hat in der Pubertät die Abwehr gegen ihre

Weiblichkeit verstärkt. Allein dadurch aber lässt sich ihre zunehmende

Askese und Ablehnung aller körperlichen Bedürfnisse nicht erklären, diewährend des Londoner Exils 1943 in die tödliche Anorexie mündeten.

Diese wurde durch weitere psychische Belastungen bewirkt, die zur gra-vierenden Nichtübereinstimmung zwischen ihrem Existenzwert und den

Forderungen führte, denen sie zu genügen suchte. Alles Erkennen mussteder Idealisierung der rationalen Kontrolle gehorchen. Noch im Band der

Cahiers I , in welchem Aufzeichnungen aus den Jahren 1933 bis 1940 vorlie-gen, hielt sie fest: „Wie man sie auch betrachtet, erdrückt die Zivilisation,in der wir leben, den menschlichen Körper. Der Geist und der Körper sindeinander fremd geworden. Die Verbindung ist weg“ (99).

Zweitens trugen in Simone Weils Kindheit die Ereignisse des Ersten

Weltkriegs dazu bei, dass sie früh ein soziales Gewissen zu entwickeln be-gann, das immer bestimmender wurde. Schon als Kind und als Jugendlicheerkannte sie, dass Menschen zu Opfern gemacht werden und dass sie sichmit diesen solidarisieren wollte, nicht mit jenen anderen, die Macht ausüb-ten. Später erkannte sie, dass diejenigen Menschen, die Opfer von Macht-missbrauch und Gewalt werden, ein Ausmaß an Demütigung erleiden, dasihnen die Kraft raubt, Widerstand zu leisten, ob dies Soldaten sind, die alsKanonenfutter eingesetzt werden, oder Arbeiter und Arbeiterinnen, dieals Produktionsmittel wie Maschinen benutzt werden. Sie ging auf die Fol-gen von Diktatur, Totalitarismus und Faschismus ein wie auf jene von Ka-pitalismus, von Maßlosigkeit industrieller Produktion und Entfremdungdurch Fließbandarbeit. Die Entrechtung und Lebensbedrohung von Men-schen durch Rassismus, insbesondere durch Antisemitismus, thematisiertesie nicht, obwohl sie selber dieser Tatsache ausgesetzt war.

Schon früh erschien ihr wichtig, dass Menschen in erster Linie befähigtwerden müssen, sich selbst als handlungsfähige und denkende Individuenwahrzunehmen. Später wird Simone Weil – aufgrund der schon in derKindheit intuitiv erfassten Zusammenhänge – eine Veränderung der ge-sellschaftlichen Verhältnisse in erster Linie als Erziehungs- und Bildungs-problem der Arbeiterschaft erkennen. Doch damit habe ich vorgegriffen.

Drittens war die jüdische Herkunft von Bedeutung. Diese war nicht an-zuzweifeln, aber Simone Weil wurde kaum davon geprägt. Sie erlebte siedurch die Besuche oder die Präsenz der Großmütter als Teil familiärerSelbstverständlichkeit im Rhythmus der Wochentage und der Jahresfeste,jedoch nicht als tragende Struktur religiöser Zugehörigkeit, da im persön-lichen Verhalten der Familienmitglieder immer eine Differenz akzeptiertwurde. Mit der Zeit geriet Simone Weil in eine Art Abwehrhaltung.

Während ihrer Gymnasial- und Studienzeit traten viele jüdische Intel-lektuelle, darunter einige ihrer Lehrerinnen, zum Katholizismus über.Zum Teil versuchten diese auch, jüdische Schülerinnen in dieser Hinsichtzu beeinflussen. Simone Weil nahm aufgrund ihres Wissenshungers wäh-rend der Schulzeit an Diskussionszirkeln teil, die teilweise missionarischeZielsetzungen hatten. Doch sie beachsichtigte schon damals in keinerWeise, wie sie eines Tages ihren Eltern versicherte, die Religion zu „wech-seln“. Gemäß ihren Aufzeichnungen war die Gottesfrage für sie wichtigerals die Religionsfrage. Allerdings zeigte sie während des Studiums eineArt Befangenheit, wenn die Rede auf ihre jüdische Herkunft kam. SimonePétrement, ihre Studienkollegin und Biographin, welche viele Details vonSimone Weils Entwicklung in der von ihr publizierten Biographie (La vie de Simone Weil , Paris 1973) festgehalten hat, erzählt, dass eines Tages, alssie zusammen durchs Quartier Latin spazierten, eine Gruppe von Studen-ten eine Zeitung als „anti-métèque et anti-youpin“ anpriesen. Sie habe Si-mone Weil gefragt, was das bedeute. Diese sei rot geworden und habe ab-weisend bemerkt, das sei so ein Schimpfwort für die Juden. Damit einherging vermutlich, dass sie begann, die Zugehörigkeit zum Judentum zu ver-drängen, ja zu negieren.

In Simone Weils Jugendzeit nahm der ständig latente und – wie geradedie „Dreyfus-Affaire“ beweist – auch schon im 19.Jahrhundert schnell ak-tivierbare Antisemitismus und Rassismus immer unverschämtere Formenan (die Zeitung der Studenten war ja zugleich antijüdisch und antimesti-zisch, das heißt gegen alle „Mischlinge“), bis er ab 1933 im Zuge der Ent-wicklung im benachbarten Deutschland und in Österreich auch in Frank-reich in offene Hetze ausartete. Doch nicht diese Tatsache, scheint mir, hat

Simone Weils Verhältnis zum Judentum am maßgeblichsten beeinflusst.

Ihrem moralischen Bedürfnis entsprechend, sich mit den Unterdrücktenzusammenzuschließen, hätte sie eine aktive Solidarisierung wecken müs-sen. Es war eine viel geheimere und kompliziertere Abwehr, die parallelzur Abwehr ihrer Weiblichkeit ging. Die Abwehr der jüdischen Spiritua-lität war – eventuell als Schutzmechanismus – Ausdruck des Widerstandsgegen das Judentum überhaupt, das sie auf der Ebene des Denkens aus-schließlich mit der Darstellung Jahwes in der Tora in Verbindung brachte.

Die zwei völlig verinnerlichten Negationen zentraler Teile ihrer persön-lichen Besonderheit – Frau sein und jüdisch sein – müssen einen erschöp-fenden Leidensdruck bewirkt haben. Sie setzte diesem die Unerbittlich-keit ihres moralischen Strebens nach Gerechtigkeit und ihre intellektuelle

Wahrheitssuche entgegen, nach der sich ihr Studium, ihr politisches undsoziales Engagement wie ihr Weg der mystischen Erfahrung, die sie selberals Denken verstand, ausrichteten. Gerade angesichts dieser unbedingten

Wahrheitssuche erscheint die Zurückweisung ihrer Geschlechtlichkeitund ihres Judentums als schwer verständlich. Sich selber nachzuspürenund die Ursachen ihrer Abwehr zu finden, um sie lösen zu können, er-laubte sie sich nicht; die Psychoanalyse lehnte sie als trügerischen Er-kenntnisweg ab (s. S. 74).

Unerbittlichkeit im Streben nach Gerechtigkeit

Als Simone Weil das Baccalauréat machte, war sie sechzehn Jahre alt.

Wie ihr Bruder André schrieb auch sie sich an der École Normale Supéri-eure ein, jedoch nicht für das Mathematikstudium, sondern für Philoso-phie. Ihr Lehrer war Alain (mit bürgerlichem Namen Emile Chartier), derdamals hochgeschätzte Autor der Propos. Simone Weil gehörte zu einerkleinen Gruppe von Studierenden, in welcher die Forderung nach konse-quenter Übereinstimmung von Denken und Lebenspraxis galt. In jener

Zeit fühlte sie sich vermutlich beinah glücklich. Niemanden störte ihr ei-genwilliges Aussehen, das männliche Kostüm mit den großen Taschen, dassie täglich trug, die Lebhaftigkeit ihrer Gesten, die monotone, leise Stim-me, wenn sie diskutierte. Simone de Beauvoir, die gleichzeitig mit ihr ander Sorbonne studierte, hält in ihren Memoiren einer Tochter aus gutem Haus fest, dass ihr Simone Weil wegen ihrer Gescheitheit und wegen derbizarren Aufmachung auffiel. Vor allem habe sie bei ihr Achtung geweckt;sie habe sie um ihr Herz beneidet, das imstande gewesen sei, für den gan-zen Erdkreis zu schlagen.

Die beiden Studentinnen hatten grundlegend verschiedene Interessen.Die soziale Frage, die für Simone Weil im Zentrum stand, interessierte Si-mone de Beauvoir kaum, während die Geschlechterfrage, mit der diesesich schon früh beschäftigte, von Simone Weil verdrängt wurde. Als dieGruppe der Studierenden um Alain sich zu einer Art Arbeiterbildungs-organisation zusammenschloss, um regelmäßig Eisenbahnarbeitern Unter-richt zu erteilen, hätte Simone Weil auch über die Frauenfrage sprechensollen, nachdem sie Gesellschaftskunde, Philosophie und griechische Poe-sie unterrichtet hatte. Über die Frauenfrage zu sprechen weigerte sie sich.Sie sei keine Feministin, erklärte sie kurz, und bat eine Mitstudentin, sie zuvertreten. Ähnlich wie Rosa Luxemburg wollte sie sich mit der Ausbeu-tung der Arbeiterschaft befassen und dabei die doppelte Ausbeutung derFrauen, auch deren Rechtlosigkeit, gar nicht wahrnehmen.

Nach Abschluss des Studiums wurde Simone Weil eine erste Anstellungals Philosophielehrerin in Le Puy zugeteilt, in der Industrieregion vonSaint-Étienne. Sie sammelte dabei wichtige Erfahrungen. In Le Puy weck-te sie harsche Kritik, nicht nur wegen der Methode ihres Unterrichts, son-dern auch wegen ihres politischen Engagements für die arbeitslosen underwerbslosen Industrie- und Landarbeiter der Region, an deren Spitze siesich bei Demonstrationen stellte. Sie wurde in der regionalen Presse als„la juive Weil“ und als „vierge rouge“ abgestempelt. Die Hetze, die gegensie losbrach, mit Polizeiverhören und anonymen Drohbriefen, und dieschließlich zur Beendigung ihrer Anstellung führte, hatte deutlich einenantisemitischen Hintergrund.

Trotzdem – oder gerade deshalb – entschloss sie sich, den Sommer undHerbst 1932, unmittelbar vor Hitlers Machtergreifung, in Berlin zu ver-bringen. Sie wollte sich mit dem Kräfteverhältnis der Parteien befassen,mit den sozialen Bedingungen der Arbeiterschaft, die einen großen Teilder acht Millionen hungernden Erwerbslosen in Deutschalnd ausmachte,mit den Chancen und Schwächen der Gewerkschaften, sodann mit demzunehmenden Bedrohungspotenzial von Hitlers Nationalsozialismus undden Gründen seines Erfolgs – kurz mit der wachsenden Lähmung der de-mokratischen Strukturen und mit der fortschreitenden Verelendung derBevölkerung. Sie spürte, dass die Lage revolutionär war, dass aber trotz-dem keine Revolution ausbrach.

Ihre Analysen und Kommentare, die sie im gleichen und im darauf fol-genden Jahr in L’École émancipée veröffentlichte, dem Organ der Lehrer-In Simone Weils Jugendzeit nahm der ständig latente und – wie geradedie „Dreyfus-Affaire“ beweist – auch schon im 19.Jahrhundert schnell ak-tivierbare Antisemitismus und Rassismus immer unverschämtere Formenan (die Zeitung der Studenten war ja zugleich antijüdisch und antimesti-zisch, das heißt gegen alle „Mischlinge“), bis er ab 1933 im Zuge der Ent-wicklung im benachbarten Deutschland und in Österreich auch in Frank-reich in offene Hetze ausartete. Doch nicht diese Tatsache, scheint mir, hat

Simone Weils Verhältnis zum Judentum am maßgeblichsten beeinflusst.

Ihrem moralischen Bedürfnis entsprechend, sich mit den Unterdrücktenzusammenzuschließen, hätte sie eine aktive Solidarisierung wecken müs-sen. Es war eine viel geheimere und kompliziertere Abwehr, die parallelzur Abwehr ihrer Weiblichkeit ging. Die Abwehr der jüdischen Spiritua-lität war – eventuell als Schutzmechanismus – Ausdruck des Widerstandsgegen das Judentum überhaupt, das sie auf der Ebene des Denkens aus-schließlich mit der Darstellung Jahwes in der Tora in Verbindung brachte.

Die zwei völlig verinnerlichten Negationen zentraler Teile ihrer persön-lichen Besonderheit – Frau sein und jüdisch sein – müssen einen erschöp-fenden Leidensdruck bewirkt haben. Sie setzte diesem die Unerbittlich-keit ihres moralischen Strebens nach Gerechtigkeit und ihre intellektuelle

Wahrheitssuche entgegen, nach der sich ihr Studium, ihr politisches undsoziales Engagement wie ihr Weg der mystischen Erfahrung, die sie selberals Denken verstand, ausrichteten. Gerade angesichts dieser unbedingten

Wahrheitssuche erscheint die Zurückweisung ihrer Geschlechtlichkeitund ihres Judentums als schwer verständlich. Sich selber nachzuspürenund die Ursachen ihrer Abwehr zu finden, um sie lösen zu können, er-laubte sie sich nicht; die Psychoanalyse lehnte sie als trügerischen Er-kenntnisweg ab (s. S. 74).

Unerbittlichkeit im Streben nach Gerechtigkeit

Als Simone Weil das Baccalauréat machte, war sie sechzehn Jahre alt.

Wie ihr Bruder André schrieb auch sie sich an der École Normale Supéri-eure ein, jedoch nicht für das Mathematikstudium, sondern für Philoso-phie. Ihr Lehrer war Alain (mit bürgerlichem Namen Emile Chartier), derdamals hochgeschätzte Autor der Propos. Simone Weil gehörte zu einerkleinen Gruppe von Studierenden, in welcher die Forderung nach konse-quenter Übereinstimmung von Denken und Lebenspraxis galt. In jener

Zeit fühlte sie sich vermutlich beinah glücklich. Niemanden störte ihr ei-genwilliges Aussehen, das männliche Kostüm mit den großen Taschen, dassie täglich trug, die Lebhaftigkeit ihrer Gesten, die monotone, leise Stim-me, wenn sie diskutierte. Simone de Beauvoir, die gleichzeitig mit ihr ander Sorbonne studierte, hält in ihren Memoiren einer Tochter aus gutem Haus fest, dass ihr Simone Weil wegen ihrer Gescheitheit und wegen derbizarren Aufmachung auffiel. Vor allem habe sie bei ihr Achtung geweckt;sie habe sie um ihr Herz beneidet, das imstande gewesen sei, für den gan-zen Erdkreis zu schlagen.

Die beiden Studentinnen hatten grundlegend verschiedene Interessen.Die soziale Frage, die für Simone Weil im Zentrum stand, interessierte Si-mone de Beauvoir kaum, während die Geschlechterfrage, mit der diesesich schon früh beschäftigte, von Simone Weil verdrängt wurde. Als dieGruppe der Studierenden um Alain sich zu einer Art Arbeiterbildungs-organisation zusammenschloss, um regelmäßig Eisenbahnarbeitern Unter-richt zu erteilen, hätte Simone Weil auch über die Frauenfrage sprechensollen, nachdem sie Gesellschaftskunde, Philosophie und griechische Poe-sie unterrichtet hatte. Über die Frauenfrage zu sprechen weigerte sie sich.Sie sei keine Feministin, erklärte sie kurz, und bat eine Mitstudentin, sie zuvertreten. Ähnlich wie Rosa Luxemburg wollte sie sich mit der Ausbeu-tung der Arbeiterschaft befassen und dabei die doppelte Ausbeutung derFrauen, auch deren Rechtlosigkeit, gar nicht wahrnehmen.

Nach Abschluss des Studiums wurde Simone Weil eine erste Anstellungals Philosophielehrerin in Le Puy zugeteilt, in der Industrieregion vonSaint-Étienne. Sie sammelte dabei wichtige Erfahrungen. In Le Puy weck-te sie harsche Kritik, nicht nur wegen der Methode ihres Unterrichts, son-dern auch wegen ihres politischen Engagements für die arbeitslosen underwerbslosen Industrie- und Landarbeiter der Region, an deren Spitze siesich bei Demonstrationen stellte. Sie wurde in der regionalen Presse als„la juive Weil“ und als „vierge rouge“ abgestempelt. Die Hetze, die gegensie losbrach, mit Polizeiverhören und anonymen Drohbriefen, und dieschließlich zur Beendigung ihrer Anstellung führte, hatte deutlich einenantisemitischen Hintergrund.

Trotzdem – oder gerade deshalb – entschloss sie sich, den Sommer undHerbst 1932, unmittelbar vor Hitlers Machtergreifung, in Berlin zu ver-bringen. Sie wollte sich mit dem Kräfteverhältnis der Parteien befassen,mit den sozialen Bedingungen der Arbeiterschaft, die einen großen Teilder acht Millionen hungernden Erwerbslosen in Deutschalnd ausmachte,mit den Chancen und Schwächen der Gewerkschaften, sodann mit demzunehmenden Bedrohungspotenzial von Hitlers Nationalsozialismus undden Gründen seines Erfolgs – kurz mit der wachsenden Lähmung der de-mokratischen Strukturen und mit der fortschreitenden Verelendung derBevölkerung. Sie spürte, dass die Lage revolutionär war, dass aber trotz-dem keine Revolution ausbrach.

Ihre Analysen und Kommentare, die sie im gleichen und im darauf fol-genden Jahr in L’École émancipée veröffentlichte, dem Organ der Lehrer-gewerkschaft, der sie seit ihrer Arbeit in Le Puy angehörte, erachte ich mitals das Scharfsinnigste, was kurz vor Hitlers Machtübernahme über dieheillose Handlungsunfähigkeit der deutschen Sozialdemokratie und derdeutschen Kommunisten, aber auch über das verhängnisvolle Verfüh-rungspotenzial des Nationalsozialismus geschrieben wurde. Sie schlossdarin auch Untersuchungen über den zur Staatsbürokratie verkommenenMarxismus in der damaligen UdSSR ein. Abgesehen von wenigen Ausnah-men, zu denen etwas mehr als zehn Jahre zuvor Rosa Luxemburg gehörthatte, war Simone Weil ihrer Zeit weit voraus. Sie unterließ es jedoch völ-lig, die bedrohliche Lage der jüdischen Bevölkerung in ihre Studie einzu-beziehen.

Wichtig erscheint mir Simone Weils Überlegung zur Tatache, dass 1932/1933 in Deutschland keine Revolution ausbrach. Sie kam zum Schluss,dass von einem bestimmten Grad der Entwürdigung an eine Revolutionnicht mehr möglich ist, sondern nur noch die vollständige Unterwerfungder Menschen unter die Bedingungen der Machthabenden. Diese bestan-den, nach ihrer Beurteilung, in erster Linie in der Instrumentalisierung derArbeiter. Menschen, die wie Maschinen allein zum Zweck der Produk-tionssteigerung benutzt würden, seien nicht mehr in der Lage, sich für ihremenschlichen Werte zu wehren. Lähmend sei – gemäß der ErkenntnisSimone Weils – die Herrschaftsstrategie, deren Opfer nicht allein von denEigentumsverhältnissen bezüglich der Produktionsmittel abhängig seien,sondern ebenso eindeutig von den Produktionsverhältnissen, von der völ-ligen Entpersönlichung der Arbeit durch Fließbandarbeit und Massenpro-duktion.

Ihre Überzeugung war, dass die Anonymität der Arbeiter deren Ohn-machtsgefühl bewirkte. Sie erachtete es als dringlich, die Struktur der in-dustriellen Produktion zu verändern, egal ob diese durch privaten Kapita-lismus oder durch Staatskapitalismus getragen werde. Es ging darum, dieneue Versklavung der Menschen, den Taylorismus, aufzuheben. Dies war,gemäß Simone Weil, wie ich schon erwähnt habe, in erster Linie ein Bil-dungsproblem. „Die einzige subversive Kraft ist das Denken“, hielt siemehrmals fest. Nur durch ein neues Konzept der Arbeit, durch welchesder Arbeit wieder Würde zukomme, könne die demütigende Entwertungder Arbeitenden und deren Rückzug auf die bloße Subsistenz, damitderen Verzicht zu denken, aufgehoben werden, nicht allein durch Verkür-zung der Arbeitszeit.

Nach der Rückkehr aus Deutschland und nach kurzer Lehrtätigkeit inAuxerre, später in Roanne (s. S. 73f.), entschloss sich Simone Weil, selberFabrikarbeit zu leisten, um die Bedingungen der entfremdeten Arbeitnicht nur aus der Theorie oder aus der Beobachtung, sondern im gelebtenLeben zu kennen. Im Dezember 1934 begann sie als ungelernte Arbeiterinzu arbeiten, an großen Werkzeugmaschinen, an Öfen und am Fließband,unter Akkordbedingungen, im ohrenbetäubenden Lärm. Es war eine er-schöpfende, erniedrigende, peinigende Erfahrung, zumal sie ständig unterschweren Kopfschmerzen litt. Ihr Fabriktagebuch sowie Briefe und kürze-re Aufzeichnungen aus jener Zeit geben davon Zeugnis (Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem , hrsg. v. Heinz Abosch, Frankfurta.M. 1978).

Simone Weil erkannte nicht nur, sondern erlebte, wie schwer es ist, ineinem oppressiven System ein Bewusstsein der Freiheit und der Würde zuerhalten. Neun Jahre später, in ihrem letzten Lebensjahr, wird sie diese Er-kenntnisse in einem programmatischen Werk, das sie im Auftrag der fran-zösischen Exilregierung in London schrieb, festhalten. Was unter dem Titel L’enracinement erschien, muss als ihr eigentliches Testament betrachtetwerden (hrsg. von Albert Camus, Paris 1949). Von maßgeblicher Bedeu-tung ist darin der Gedanke, dass die gleiche Bedürftigkeit der Menschendie Grundlage ist für die gleiche verbindliche Verpflichtung, deren Bedürf-nisse zu erfüllen. Von Rechten könne erst gesprochen werden, wenn dieVerbindlichkeit ernst genommen werde: „La notion d’obligation primecelle de droit.“ Es war Albert Camus, der festhielt, Europa könne nachdem Krieg nur wieder erstarken, wenn die von Simone Weil aufgestelltenForderungen ernst genommen würden.

Auflehnung gegen Unterdrückung

Ich nehme an, dass von Simone Weil „obligation“ im Verhältnis vonMensch zu Mensch auf analoge Weise verstanden wurde wie „religion“ imVerhältnis von Mensch zu Gott. Doch während Religion nach ihrem Ver-ständnis allein der Kraft der Aufmerksamkeit bedarf, hängt die Erfüllungvon „obligation“ – im Sinn menschlicher Grundverpflichtung – vom Den-ken wie vom Handeln ab. So wie die gegenseitige Bedürftigkeit im Ver-hältnis der Menschen zueinander die Erfüllung der „obligation“ respekti-ve der Verpflichtungen erfordert, so liegt ihr gleichermaßen das Verhältniseines jeden Menschen zu Gott zugrunde. Für Simone Weil ist die zeitlicheBesonderheit jedes Menschen der Anteil an Ewigkeit: „la destinée éter-nelle de chacun“. Anzunehmen ist, dass für sie der Respekt vor der glei-chen „destinée éternelle“ einherging mit gerechten Lebens- und Arbeits-verhältnissen.

Den Zweck jeder Gemeinschaft, auch jenen des Staates, erkannte Simo-ne Weil in der Verhinderung der Unterdrückung des einzelnen Menschen,insbesondere in der Verhinderung von Krieg. Krieg verstand sie als ge-walttätigste Zuspitzung jedes Systems der Unterdrückung und der Men-gewerkschaft, der sie seit ihrer Arbeit in Le Puy angehörte, erachte ich mitals das Scharfsinnigste, was kurz vor Hitlers Machtübernahme über dieheillose Handlungsunfähigkeit der deutschen Sozialdemokratie und derdeutschen Kommunisten, aber auch über das verhängnisvolle Verfüh-rungspotenzial des Nationalsozialismus geschrieben wurde. Sie schlossdarin auch Untersuchungen über den zur Staatsbürokratie verkommenenMarxismus in der damaligen UdSSR ein. Abgesehen von wenigen Ausnah-men, zu denen etwas mehr als zehn Jahre zuvor Rosa Luxemburg gehörthatte, war Simone Weil ihrer Zeit weit voraus. Sie unterließ es jedoch völ-lig, die bedrohliche Lage der jüdischen Bevölkerung in ihre Studie einzu-beziehen.

Wichtig erscheint mir Simone Weils Überlegung zur Tatache, dass 1932/1933 in Deutschland keine Revolution ausbrach. Sie kam zum Schluss,dass von einem bestimmten Grad der Entwürdigung an eine Revolutionnicht mehr möglich ist, sondern nur noch die vollständige Unterwerfungder Menschen unter die Bedingungen der Machthabenden. Diese bestan-den, nach ihrer Beurteilung, in erster Linie in der Instrumentalisierung derArbeiter. Menschen, die wie Maschinen allein zum Zweck der Produk-tionssteigerung benutzt würden, seien nicht mehr in der Lage, sich für ihremenschlichen Werte zu wehren. Lähmend sei – gemäß der ErkenntnisSimone Weils – die Herrschaftsstrategie, deren Opfer nicht allein von denEigentumsverhältnissen bezüglich der Produktionsmittel abhängig seien,sondern ebenso eindeutig von den Produktionsverhältnissen, von der völ-ligen Entpersönlichung der Arbeit durch Fließbandarbeit und Massenpro-duktion.

Ihre Überzeugung war, dass die Anonymität der Arbeiter deren Ohn-machtsgefühl bewirkte. Sie erachtete es als dringlich, die Struktur der in-dustriellen Produktion zu verändern, egal ob diese durch privaten Kapita-lismus oder durch Staatskapitalismus getragen werde. Es ging darum, dieneue Versklavung der Menschen, den Taylorismus, aufzuheben. Dies war,gemäß Simone Weil, wie ich schon erwähnt habe, in erster Linie ein Bil-dungsproblem. „Die einzige subversive Kraft ist das Denken“, hielt siemehrmals fest. Nur durch ein neues Konzept der Arbeit, durch welchesder Arbeit wieder Würde zukomme, könne die demütigende Entwertungder Arbeitenden und deren Rückzug auf die bloße Subsistenz, damitderen Verzicht zu denken, aufgehoben werden, nicht allein durch Verkür-zung der Arbeitszeit.

Nach der Rückkehr aus Deutschland und nach kurzer Lehrtätigkeit inAuxerre, später in Roanne (s. S. 73f.), entschloss sich Simone Weil, selberFabrikarbeit zu leisten, um die Bedingungen der entfremdeten Arbeitnicht nur aus der Theorie oder aus der Beobachtung, sondern im gelebtenLeben zu kennen. Im Dezember 1934 begann sie als ungelernte Arbeiterinzu arbeiten, an großen Werkzeugmaschinen, an Öfen und am Fließband,unter Akkordbedingungen, im ohrenbetäubenden Lärm. Es war eine er-schöpfende, erniedrigende, peinigende Erfahrung, zumal sie ständig unterschweren Kopfschmerzen litt. Ihr Fabriktagebuch sowie Briefe und kürze-re Aufzeichnungen aus jener Zeit geben davon Zeugnis (Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem , hrsg. v. Heinz Abosch, Frankfurta.M. 1978).

Simone Weil erkannte nicht nur, sondern erlebte, wie schwer es ist, ineinem oppressiven System ein Bewusstsein der Freiheit und der Würde zuerhalten. Neun Jahre später, in ihrem letzten Lebensjahr, wird sie diese Er-kenntnisse in einem programmatischen Werk, das sie im Auftrag der fran-zösischen Exilregierung in London schrieb, festhalten. Was unter dem Titel L’enracinement erschien, muss als ihr eigentliches Testament betrachtetwerden (hrsg. von Albert Camus, Paris 1949). Von maßgeblicher Bedeu-tung ist darin der Gedanke, dass die gleiche Bedürftigkeit der Menschendie Grundlage ist für die gleiche verbindliche Verpflichtung, deren Bedürf-nisse zu erfüllen. Von Rechten könne erst gesprochen werden, wenn dieVerbindlichkeit ernst genommen werde: „La notion d’obligation primecelle de droit.“ Es war Albert Camus, der festhielt, Europa könne nachdem Krieg nur wieder erstarken, wenn die von Simone Weil aufgestelltenForderungen ernst genommen würden.

Auflehnung gegen Unterdrückung

Ich nehme an, dass von Simone Weil „obligation“ im Verhältnis vonMensch zu Mensch auf analoge Weise verstanden wurde wie „religion“ imVerhältnis von Mensch zu Gott. Doch während Religion nach ihrem Ver-ständnis allein der Kraft der Aufmerksamkeit bedarf, hängt die Erfüllungvon „obligation“ – im Sinn menschlicher Grundverpflichtung – vom Den-ken wie vom Handeln ab. So wie die gegenseitige Bedürftigkeit im Ver-hältnis der Menschen zueinander die Erfüllung der „obligation“ respekti-ve der Verpflichtungen erfordert, so liegt ihr gleichermaßen das Verhältniseines jeden Menschen zu Gott zugrunde. Für Simone Weil ist die zeitlicheBesonderheit jedes Menschen der Anteil an Ewigkeit: „la destinée éter-nelle de chacun“. Anzunehmen ist, dass für sie der Respekt vor der glei-chen „destinée éternelle“ einherging mit gerechten Lebens- und Arbeits-verhältnissen.

Den Zweck jeder Gemeinschaft, auch jenen des Staates, erkannte Simo-ne Weil in der Verhinderung der Unterdrückung des einzelnen Menschen,insbesondere in der Verhinderung von Krieg. Krieg verstand sie als ge-walttätigste Zuspitzung jedes Systems der Unterdrückung und der Men-schenverachtung, weniger als ein Ereignis zwischen den Staaten als ein Er-eignis im Inneren der menschlichen Gesellschaft: als Krieg der Mächtigengegen diejenigen, die ihn führen müssen. Nicht die Nation werde gepei-nigt, hielt sie fest, sondern Mensch um Mensch um Mensch.

Die Bedeutung des Kriegs und der unkontrollierbaren Gewalt, diedurch ihn freigesetzt und quasi legitimiert wird, war ihr schon im ErstenWeltkrieg nahe gerückt, als sie mit Mutter und Bruder in der Nähe derFront lebte. Das Ausmaß an Gewalt wurde ihr 1936 erneut deutlich, als siesich der Internationalen Anarchistengruppe, der Kolonne Durruti, an-schloss, um auf Seiten der Republikaner am Bürgerkrieg in Spanien teilzu-nehmen. Sie war damals siebenundzwanzig Jahre alt. Zwar musste sie nachwenigen Wochen infolge schwerer Verbrennungen durch siedendes Ölevakuiert werden; trotzdem hatte sie genug erlebt, um die Lüge jedes sogenannten „gerechten Krieges“ zu durchschauen.

Noch bevor sich 1940 der Zweite Weltkrieg auch in Frankreich mit derdeutschen Besetzung, mit dem Arbeitsverbot für Juden, mit der Notwen-digkeit der Flucht oder mit deren Abtransport in die Lager, schließlich inder Vernichtung zuspitzte, wurde für Simone Weil die Frage nach ihrer Zu-gehörigkeit durch den sich verschärfenden Antisemitismus immer quälen-der. Ihre Nähe zum Judentum zeigt sich trotz ihrer Abwehr, wie mirscheint, in der Ethik, die ihrem Entwurf einer gerechten Gesellschaft zu-grunde liegt. Hier ist ihr Platz in einer langen Tradition, auch wenn sie diesnicht anerkennen konnte, so wie auch Rosa Luxemburg ihren Platz in die-ser Tradition nicht anerkannte. Doch gerade dadurch spitzte sich derWiderspruch, den sie sich durchzustehen zwang, aufs Schmerzlichste zu.

Dieser Widerspruch schmerzte sie in allen Fragen zutiefst. In politischerHinsicht verlangte er von ihr eine fortgesetzte Korrektur von Positionen:vom Marxismus zum Anarcho-Syndikalismus, dann zu einer nach Gerech-tigkeitskriterien ausgerichteten demokratischen staatlichen Ordnungsowie zu einer nach Kriterien der Verantwortlichkeit abgestuften gesell-schaftlichen Hierachie. Geprägt und während langer Zeit beherrscht voneinem – zwar skeptischen – kartesianischen Rationalismus, gelangte sie inihrem letzten Werk zu einem völlig anderen Konzept der Bedeutung desSubjekts.

Einerseits ging Simone Weil dabei auf die zentrale Bedeutung der „Ein-wurzelung“ des Menschen ein. Sie bezeichnete sie als das wichtigste undam meisten verleugnete menschliche Bedürfnis: „L’enracinement est peut-être le besoin le plus important et le plus méconnu de l’âme humaine“(L’enracinement, 61), kannte sie doch selber das Leiden der „Entwurze-lung“, letztlich der völligen Heimatlosigkeit. Gleichzeitig entwarf sie einenexistenzphilosophisch umgekehrten Ansatz der Existenzerfüllung „par ladécréation“, durch das „Entwerden“, der eine überraschende Nähe zuAspekten der Kabbala aufzeigt, zur Schöpfungsaufgabe jedes Menschen,verbunden mit Erklärungen der Bedeutung der Zeit und des Bösen. Dasist erstaunlich. Von aufwühlendem Einfluss auf sie war ja die christlicheMystik gewesen, insbesondere über den gregorianischen Choral und dasBild des leidenden Jesu. Zum römischen Katholizismus hatte sie sich je-doch noch während ihres Aufenthalts in Marseille in klare Distanz gesetzt,nicht nur wegen der durch das Papsttum geschaffenen hierarchischenMacht, sondern auch weil sie es nicht fertig brachte, ihre Verbindung mitden nicht-christlichen Religionen, letztlich ihre Zugehörigkeit zum Juden-tum, aufzugeben. „Je sentais que je ne pouvais pas honnêtement abandon-ner mes sentiments concernant les religions non chrétiennes et concernantIsraël – et en effet le temps et la méditation n’ont fait que les renforcer“,schrieb sie dem Dominikanerpater Jean-Marie Perrin im Mai 1942 (Attente de Dieu , Paris 1966, 46).

Simone Weils Beziehungsnetz wurde in London zunehmend schmaler,ihre Einsamkeit zunehmend größer. Die französische Exilregierung lehnteihr Gesuch, mit einer Mission im besetzten Frankreich beauftragt zu wer-den, mit der Begründung ab, sie sähe dafür zu jüdisch aus; es wurden ihrSchreibtischarbeiten zugewiesen. In diesem Zusammenhang entstand L’enracinement . Gleichzeitig vertiefte sich ihr spirituelles Suchen; überJuan de la Cruz näherte sie sich Erklärungen und Bildern, die an IsaacLuria, Cordovero oder Haim Vital erinnern. Doch Entbehrungen und Ent-täuschungen, in allem eine nicht mehr tragbare Nichtübereinstimmungihrer intellektuellen und psychischen Forderungen mit der Realitätschwächten ihren Lebenswillen dermaßen, dass sie im April 1943 in Spital-pflege kam. Sie verweigerte jede Ernährung. Als sich zusätzlich eine Lun-gentuberkulose einstellte, wurde sie nach Ashford (Kent) gebracht, wo sieam 24. August 1943 starb.

Franz Kafkas Parabel vom „Hungerkünstler“ mag auch für Simone Weilgelten. „Warum kannst du denn nicht anders?“, fragt der Aufseher densterbenden Hungerkünstler, und dieser flüstert, „weil ich nicht die Speisefinden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ichhätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.“

3. Wie lässt sich die Kontingenz des Widerspruchs entschlüsseln?

Schwester des Bruders

Sommerphotos aus der Kinderzeit, Simone und André Weil, die kleineSchwester und der große Bruder: Sie stehen voreinander und halten sichan der Hand, stehen nahe beieinander und neigen sich die Köpfchen zu,schenverachtung, weniger als ein Ereignis zwischen den Staaten als ein Er-eignis im Inneren der menschlichen Gesellschaft: als Krieg der Mächtigengegen diejenigen, die ihn führen müssen. Nicht die Nation werde gepei-nigt, hielt sie fest, sondern Mensch um Mensch um Mensch.

Die Bedeutung des Kriegs und der unkontrollierbaren Gewalt, diedurch ihn freigesetzt und quasi legitimiert wird, war ihr schon im ErstenWeltkrieg nahe gerückt, als sie mit Mutter und Bruder in der Nähe derFront lebte. Das Ausmaß an Gewalt wurde ihr 1936 erneut deutlich, als siesich der Internationalen Anarchistengruppe, der Kolonne Durruti, an-schloss, um auf Seiten der Republikaner am Bürgerkrieg in Spanien teilzu-nehmen. Sie war damals siebenundzwanzig Jahre alt. Zwar musste sie nachwenigen Wochen infolge schwerer Verbrennungen durch siedendes Ölevakuiert werden; trotzdem hatte sie genug erlebt, um die Lüge jedes sogenannten „gerechten Krieges“ zu durchschauen.

Noch bevor sich 1940 der Zweite Weltkrieg auch in Frankreich mit derdeutschen Besetzung, mit dem Arbeitsverbot für Juden, mit der Notwen-digkeit der Flucht oder mit deren Abtransport in die Lager, schließlich inder Vernichtung zuspitzte, wurde für Simone Weil die Frage nach ihrer Zu-gehörigkeit durch den sich verschärfenden Antisemitismus immer quälen-der. Ihre Nähe zum Judentum zeigt sich trotz ihrer Abwehr, wie mirscheint, in der Ethik, die ihrem Entwurf einer gerechten Gesellschaft zu-grunde liegt. Hier ist ihr Platz in einer langen Tradition, auch wenn sie diesnicht anerkennen konnte, so wie auch Rosa Luxemburg ihren Platz in die-ser Tradition nicht anerkannte. Doch gerade dadurch spitzte sich derWiderspruch, den sie sich durchzustehen zwang, aufs Schmerzlichste zu.

Dieser Widerspruch schmerzte sie in allen Fragen zutiefst. In politischerHinsicht verlangte er von ihr eine fortgesetzte Korrektur von Positionen:vom Marxismus zum Anarcho-Syndikalismus, dann zu einer nach Gerech-tigkeitskriterien ausgerichteten demokratischen staatlichen Ordnungsowie zu einer nach Kriterien der Verantwortlichkeit abgestuften gesell-schaftlichen Hierachie. Geprägt und während langer Zeit beherrscht voneinem – zwar skeptischen – kartesianischen Rationalismus, gelangte sie inihrem letzten Werk zu einem völlig anderen Konzept der Bedeutung desSubjekts.

Einerseits ging Simone Weil dabei auf die zentrale Bedeutung der „Ein-wurzelung“ des Menschen ein. Sie bezeichnete sie als das wichtigste undam meisten verleugnete menschliche Bedürfnis: „L’enracinement est peut-être le besoin le plus important et le plus méconnu de l’âme humaine“(L’enracinement, 61), kannte sie doch selber das Leiden der „Entwurze-lung“, letztlich der völligen Heimatlosigkeit. Gleichzeitig entwarf sie einenexistenzphilosophisch umgekehrten Ansatz der Existenzerfüllung „par ladécréation“, durch das „Entwerden“, der eine überraschende Nähe zuAspekten der Kabbala aufzeigt, zur Schöpfungsaufgabe jedes Menschen,verbunden mit Erklärungen der Bedeutung der Zeit und des Bösen. Dasist erstaunlich. Von aufwühlendem Einfluss auf sie war ja die christlicheMystik gewesen, insbesondere über den gregorianischen Choral und dasBild des leidenden Jesu. Zum römischen Katholizismus hatte sie sich je-doch noch während ihres Aufenthalts in Marseille in klare Distanz gesetzt,nicht nur wegen der durch das Papsttum geschaffenen hierarchischenMacht, sondern auch weil sie es nicht fertig brachte, ihre Verbindung mitden nicht-christlichen Religionen, letztlich ihre Zugehörigkeit zum Juden-tum, aufzugeben. „Je sentais que je ne pouvais pas honnêtement abandon-ner mes sentiments concernant les religions non chrétiennes et concernantIsraël – et en effet le temps et la méditation n’ont fait que les renforcer“,schrieb sie dem Dominikanerpater Jean-Marie Perrin im Mai 1942 (Attente de Dieu , Paris 1966, 46).

Simone Weils Beziehungsnetz wurde in London zunehmend schmaler,ihre Einsamkeit zunehmend größer. Die französische Exilregierung lehnteihr Gesuch, mit einer Mission im besetzten Frankreich beauftragt zu wer-den, mit der Begründung ab, sie sähe dafür zu jüdisch aus; es wurden ihrSchreibtischarbeiten zugewiesen. In diesem Zusammenhang entstand L’enracinement . Gleichzeitig vertiefte sich ihr spirituelles Suchen; überJuan de la Cruz näherte sie sich Erklärungen und Bildern, die an IsaacLuria, Cordovero oder Haim Vital erinnern. Doch Entbehrungen und Ent-täuschungen, in allem eine nicht mehr tragbare Nichtübereinstimmungihrer intellektuellen und psychischen Forderungen mit der Realitätschwächten ihren Lebenswillen dermaßen, dass sie im April 1943 in Spital-pflege kam. Sie verweigerte jede Ernährung. Als sich zusätzlich eine Lun-gentuberkulose einstellte, wurde sie nach Ashford (Kent) gebracht, wo sieam 24. August 1943 starb.

Franz Kafkas Parabel vom „Hungerkünstler“ mag auch für Simone Weilgelten. „Warum kannst du denn nicht anders?“, fragt der Aufseher densterbenden Hungerkünstler, und dieser flüstert, „weil ich nicht die Speisefinden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ichhätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.“

3. Wie lässt sich die Kontingenz des Widerspruchs entschlüsseln?

Schwester des Bruders

Sommerphotos aus der Kinderzeit, Simone und André Weil, die kleineSchwester und der große Bruder: Sie stehen voreinander und halten sichan der Hand, stehen nahe beieinander und neigen sich die Köpfchen zu,stehen vor einer Gartenhecke, nun beinah gleich groß, mager und ge-bräunt, barfuß und mit kurzen Hosen bekleidet. Einige Jahre später: Siesitzen an einem Gartentisch nebeneinander, ungezwungen und gleichzeitigsehr konzentriert, in der rechten Hand von André ein geöffnetes Buch, Si-mone scheint zuzuhören, stützt mit der linken Hand den Kopf ab undwirkt glücklich. Es sind zwei schmal gewachsene, schöne und sichtlichhochbegabte Kinder, später einander nah vertraute, junge Menschen, diezunehmend wie verschieden aussehende Zwillinge wirken, auch wie einFreundespaar: Bilder einer nahen Beziehung in einer – damals – von fami-liärer Sicherheit, von Wärme und Zärtlichkeit geprägten Zeit, trotz derTatsache des Ersten Weltkriegs und der damit verbundenen Wohnwechsel.

Dass Selma Weil-Reinherz mit den Kindern nicht in Paris zurückblieb,sondern ihrem Ehemann, der als Militärarzt eingezogen worden war,nachfolgte, entspricht nach meiner Kenntnis dem über Jahrhunderte ange-wachsenen jüdischen Familienverhalten, das durch die Tatsache ständigerBedrohung entstanden war: Sicherheit stellt nie ein Ort dar – zum Beispieldas Wohnhaus in Paris –, sondern nur die nächste Nähe untereinander.Die Kinder nahmen von Ort zu Ort mit, was ihnen wichtig erschien.

Während André Weil von der frühen Kindheit an als mathematischesGenie galt, fiel Simone Weil durch sprachliche Begabungen auf, auchdurch Eigenwilligkeit und Starrsinn, gleichzeitig durch seelische und kör-perliche Überempfindlichkeit, die sich in Ernährungs- und Einschlafpro-blemen, aber auch in häufigen, zum Teil schweren Erkrankungen äußerte,wie ihre Mutter in Briefen festhielt (in dieser Hinsicht vergleichbar Han-nah Arendt). Ohne ihre ständige, geduldige Fürsorge hätte das Kind nichtüberlebt. Selma Weil ernährte die kleine Simone bis in die Mitte der Kin-derzeit mit einer Flasche, da sie sich weigerte zu essen. Nie aber weigertesie sich zu lernen, was ihr Bruder sie lehrte: Mit vier Jahren konnte sieschon lesen und bald lange Gedichte zitieren, sie war verbissen und drauf-gängerisch. Der Bruder und sie versteckten sich stundenlang in Ge-büschen, spielten Bettelkinder und baten unbekannte Erwachsene um Al-mosen oder weigerten sich, im Winter Socken anzuziehen, um eisige Kälteertragen zu lernen. Sie schienen unzertrennlich zu sein.

Auch als nach der Kriegszeit der feste Aufenthalt der Familie wiederParis war und der reguläre Schulbesuch einsetzte, war Simone Weil häufigkrank und musste zu Hause unterrichtet werden. Ihre nagende Verzweif-lung, als sie zu Beginn der Pubertät erstmals die Geschlechterdifferenzzwischen sich und dem Bruder realisierte, als sie sich vorstellte, dass sie inihrer Weiblichkeit mit ihm und seiner Klarheit der Erkenntnis nichtSchritt halten konnte, da muss ein entscheidender Bruch in ihrem Selbst-wertgefühl geschehen sein. Damals, an der Grenze zwischen Kindheit undJugend, wurde nicht nur die Beziehung zum Bruder, sondern auch die Be-ziehung zu ihr selbst mit Unerreichbarem verknüpft. Der Bruder wurdezum geheimen Vergleichsmaßstab, nach welchem Simone Weil ihre Er-kenntnisfähigkeit und ihre Besonderheit beurteilte. Gleichzeitig verbandsie mit seiner Männlichkeit ein Ideal von Freundschaft, das durch Unan-tastbarkeit der Gefühle, letztlich durch das Verbot von Liebe geprägt war.

Die Nichtübereinstimmung, die Simone Weil bei ihrem Selbstbild alsTochter und Schwester, als Mädchen und als junge Frau mit dem Wunsch-bild hohen menschlichen Wertes empfand, das sie mit Erkenntnisfähigkeitbis ins Transzendente verknüpfte und das sie aufgrund der als Mangelempfundenen Weiblichkeit für unerreichbar hielt, beeinflusste die Frageihrer Identität zutiefst. Sie meinte, ihre Weiblichkeit übergehen zu müssen,um die Beziehung zum Bruder – dem idealen Freund – fortsetzen zu kön-nen. Dass sie sich Liebe als körperliche Schwäche zu verbieten trachtete,dass Freundschaft für sie die Bedeutung des Dialogs im platonischen Sinnhatte und „weder gesucht noch erträumt oder gewünscht werden durfte,sondern ausgeübt werden sollte wie eine Tugend“ (Cahiers I, 107), war beiihr verbunden mit einer steten, strengen Willensaufgabe, auch immer mitdem Selbsturteil des Ungenügens in jeder Hinsicht.

Deutlich wird dies im Zwiespalt einer Erfahrung, die Simone Weil ver-mutlich um 1933 herum machte. Ziemlich zu Beginn von Cahiers I (67–68) hielt sie fest: „Gib endgültig die Hoffnung auf, dass X. mehr für dich istals der Schatten eines Freundes; er gehört zum Reich der Schatten, er ver-urteilt sich selbst dazu. Du hast nicht die Macht, ihn aus der Höhle zuholen. […] Du darfst wenn möglich auch keine so tiefen Gefühle mehrhaben wie für G. und ohne wirkliche und gegenseitige Freundschaft. DieseDinge gehören in die Jugend. Lerne, allein zu sein, und sei es auch nur, umdie wahre Freundschaft zu verdienen.“ Sie fügte hinzu: „Der Wille. Es istnicht schwer, etwas zu tun, was es auch sei, wenn man von dem klarenBlick auf eine Pflicht geleitet wird. Aber es ist hart, daß im Augenblick desLeidens dieser klare Blick verschwindet und nichts bleibt als das Bewußt-sein eines unmöglich zu tragenden Leidens. […] Die einzige Waffe desWillens ist, daß er, insofern er Denken ist, die verschiedenen Dimensionender Zeit erfassen kann, während der Körper auf die Gegenwart be-schränkt ist. Letztendlich handelt es sich darum, den Leidenschaften dieUnterstützung durch das Denken zu verweigern, nicht ‘Entschlüsse fas-sen’, sondern sich im voraus die Hände binden.“

Unerbittlich war Simone Weil in den Forderungen, die sie sich selberstellte. Die Bedürfnisse des Körpers verband sie mit der Flüchtigkeit desMoments; sie sollten daher keine Beachtung finden. Die seelische Enttäu-schung verlagerte sie in den Bereich des Denkens, die Gestalt des Freun-des, welcher der Freundschaft nicht gerecht werden konnte, versetzte siezu den Eingeschlossenen im platonischen Höhlengleichnis, sich selbst ver-stehen vor einer Gartenhecke, nun beinah gleich groß, mager und ge-bräunt, barfuß und mit kurzen Hosen bekleidet. Einige Jahre später: Siesitzen an einem Gartentisch nebeneinander, ungezwungen und gleichzeitigsehr konzentriert, in der rechten Hand von André ein geöffnetes Buch, Si-mone scheint zuzuhören, stützt mit der linken Hand den Kopf ab undwirkt glücklich. Es sind zwei schmal gewachsene, schöne und sichtlichhochbegabte Kinder, später einander nah vertraute, junge Menschen, diezunehmend wie verschieden aussehende Zwillinge wirken, auch wie ein

Freundespaar: Bilder einer nahen Beziehung in einer – damals – von fami-liärer Sicherheit, von Wärme und Zärtlichkeit geprägten Zeit, trotz der

Tatsache des Ersten Weltkriegs und der damit verbundenen Wohnwechsel.

Dass Selma Weil-Reinherz mit den Kindern nicht in Paris zurückblieb,sondern ihrem Ehemann, der als Militärarzt eingezogen worden war,nachfolgte, entspricht nach meiner Kenntnis dem über Jahrhunderte ange-wachsenen jüdischen Familienverhalten, das durch die Tatsache ständiger

Bedrohung entstanden war: Sicherheit stellt nie ein Ort dar – zum Beispieldas Wohnhaus in Paris –, sondern nur die nächste Nähe untereinander.

Die Kinder nahmen von Ort zu Ort mit, was ihnen wichtig erschien.

Während André Weil von der frühen Kindheit an als mathematisches

Genie galt, fiel Simone Weil durch sprachliche Begabungen auf, auchdurch Eigenwilligkeit und Starrsinn, gleichzeitig durch seelische und kör-perliche Überempfindlichkeit, die sich in Ernährungs- und Einschlafpro-blemen, aber auch in häufigen, zum Teil schweren Erkrankungen äußerte,wie ihre Mutter in Briefen festhielt (in dieser Hinsicht vergleichbar Han-nah Arendt). Ohne ihre ständige, geduldige Fürsorge hätte das Kind nicht

überlebt. Selma Weil ernährte die kleine Simone bis in die Mitte der Kin-derzeit mit einer Flasche, da sie sich weigerte zu essen. Nie aber weigertesie sich zu lernen, was ihr Bruder sie lehrte: Mit vier Jahren konnte sieschon lesen und bald lange Gedichte zitieren, sie war verbissen und drauf-gängerisch. Der Bruder und sie versteckten sich stundenlang in Ge-büschen, spielten Bettelkinder und baten unbekannte Erwachsene um Al-mosen oder weigerten sich, im Winter Socken anzuziehen, um eisige Kälteertragen zu lernen. Sie schienen unzertrennlich zu sein.

Auch als nach der Kriegszeit der feste Aufenthalt der Familie wieder

Paris war und der reguläre Schulbesuch einsetzte, war Simone Weil häufigkrank und musste zu Hause unterrichtet werden. Ihre nagende Verzweif-lung, als sie zu Beginn der Pubertät erstmals die Geschlechterdifferenzzwischen sich und dem Bruder realisierte, als sie sich vorstellte, dass sie inihrer Weiblichkeit mit ihm und seiner Klarheit der Erkenntnis nicht

Schritt halten konnte, da muss ein entscheidender Bruch in ihrem Selbst-wertgefühl geschehen sein. Damals, an der Grenze zwischen Kindheit und

Jugend, wurde nicht nur die Beziehung zum Bruder, sondern auch die Be-ziehung zu ihr selbst mit Unerreichbarem verknüpft. Der Bruder wurdezum geheimen Vergleichsmaßstab, nach welchem Simone Weil ihre Er-kenntnisfähigkeit und ihre Besonderheit beurteilte. Gleichzeitig verbandsie mit seiner Männlichkeit ein Ideal von Freundschaft, das durch Unan-tastbarkeit der Gefühle, letztlich durch das Verbot von Liebe geprägt war.

Die Nichtübereinstimmung, die Simone Weil bei ihrem Selbstbild alsTochter und Schwester, als Mädchen und als junge Frau mit dem Wunsch-bild hohen menschlichen Wertes empfand, das sie mit Erkenntnisfähigkeitbis ins Transzendente verknüpfte und das sie aufgrund der als Mangelempfundenen Weiblichkeit für unerreichbar hielt, beeinflusste die Frageihrer Identität zutiefst. Sie meinte, ihre Weiblichkeit übergehen zu müssen,um die Beziehung zum Bruder – dem idealen Freund – fortsetzen zu kön-nen. Dass sie sich Liebe als körperliche Schwäche zu verbieten trachtete,dass Freundschaft für sie die Bedeutung des Dialogs im platonischen Sinnhatte und „weder gesucht noch erträumt oder gewünscht werden durfte,sondern ausgeübt werden sollte wie eine Tugend“ (Cahiers I, 107), war beiihr verbunden mit einer steten, strengen Willensaufgabe, auch immer mitdem Selbsturteil des Ungenügens in jeder Hinsicht.

Deutlich wird dies im Zwiespalt einer Erfahrung, die Simone Weil ver-mutlich um 1933 herum machte. Ziemlich zu Beginn von Cahiers I (67–68) hielt sie fest: „Gib endgültig die Hoffnung auf, dass X. mehr für dich istals der Schatten eines Freundes; er gehört zum Reich der Schatten, er ver-urteilt sich selbst dazu. Du hast nicht die Macht, ihn aus der Höhle zuholen. […] Du darfst wenn möglich auch keine so tiefen Gefühle mehrhaben wie für G. und ohne wirkliche und gegenseitige Freundschaft. DieseDinge gehören in die Jugend. Lerne, allein zu sein, und sei es auch nur, umdie wahre Freundschaft zu verdienen.“ Sie fügte hinzu: „Der Wille. Es istnicht schwer, etwas zu tun, was es auch sei, wenn man von dem klarenBlick auf eine Pflicht geleitet wird. Aber es ist hart, daß im Augenblick desLeidens dieser klare Blick verschwindet und nichts bleibt als das Bewußt-sein eines unmöglich zu tragenden Leidens. […] Die einzige Waffe desWillens ist, daß er, insofern er Denken ist, die verschiedenen Dimensionender Zeit erfassen kann, während der Körper auf die Gegenwart be-schränkt ist. Letztendlich handelt es sich darum, den Leidenschaften dieUnterstützung durch das Denken zu verweigern, nicht ‘Entschlüsse fas-sen’, sondern sich im voraus die Hände binden.“

Unerbittlich war Simone Weil in den Forderungen, die sie sich selberstellte. Die Bedürfnisse des Körpers verband sie mit der Flüchtigkeit desMoments; sie sollten daher keine Beachtung finden. Die seelische Enttäu-schung verlagerte sie in den Bereich des Denkens, die Gestalt des Freun-des, welcher der Freundschaft nicht gerecht werden konnte, versetzte siezu den Eingeschlossenen im platonischen Höhlengleichnis, sich selbst ver-bot sie die tiefen Gefühle. Der Willenskraft gebot sie strengste Kontrolle

über ihre Empfindungen. Warum? – Weil sie der Ohnmacht, die sie durchschmerzliches Leiden erlebte, nicht preisgegeben sein wollte, weil sie jede

Art von Ohnmacht ablehnte.

Den Körper machte Simone Weil nicht nur zum Objekt ihrer Willens-

übungen, sondern auch der eigenen, quasi strafenden Herabsetzung, biszur Negation von Beachtung und Sorgfalt. Dass sie dadurch das psychi-sche Leiden zu verdrängen suchte oder dessen Ertragen sich zur Pflichterklärte, mag Ursache der zahlreichen körperlichen Leidenssymptome ge-wesen sein. Schon in der frühen Kindheit haben vermutlich psychische Be-lastungen die lebensgefährdenden Ernährungs- und Schlafprobleme mit-verursacht, auch die zahlreichen schweren Kinderkrankheiten und diespäteren Essprobleme, eventuell auch die Blutzirkulationsprobleme undgeschwollenen Hände in der Gymnasialzeit, die ständige Magerkeit, ab

1930 die starken Kopfschmerzen, die kaum mehr von ihr wichen.

Erholung gönnte sich Simone Weil allein kaum; pausenlos forderte sievon sich intellektuelle Anstrengung sowie auf vielfache Weise körper-lichen Einsatz, als verfüge ihr Körper über männliche Kraft: in Ferien-zeiten in der Landwirtschaft, nach dem Studium durch härteste Arbeit in

Fabriken und durch Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg, nach demantisemitischen Verbot von Unterrichtstätigkeit und nach der Flucht aus

Paris nach Südfrankreich erneut durch wochenweise landwirtschaftliche

Arbeit. Als auch die letzten Anstrengungen eines für sie sinnvollen Einsat-zes als „Französin“ durch die Exilregierung in London abgelehnt wurde,verweigerte sie sich jegliches Überlebensrecht. Wieder war es der Körper,der von ihrem Willen als Instrument und als Objekt der Verweigerung le-benswichtiger Bedürfnisstillung – und sei es nur einer genügenden Ernäh-rung – benutzt wurde, während ihr Geist der letzten Aufgabe gerecht wer-den sollte, die sie sich nicht als Frau und nicht als Jüdin auferlegte, sondern

– männlichen Vorbildern entsprechend – „en tant que philosophe“: der

Pflicht, alle Kräfte aufs Denken und aufs Schreiben ihres sozialpolitischen

Testaments zu konzentrieren, in welchem sie die Bedingungen der „Ein-wurzelung“ der Menschen in einer kollektiven Struktur der Gerechtigkeitentwarf. War es „der Schrei, anders gelesen zu werden“, der in den Todmündete, weil er nicht gehört wurde? Oder ermöglichte ihr erst der Tod,

„sich selber klar zu sehen“?

Die Bedeutung der Beziehung zum Bruder hatte sich gerade in der le-bensbedrohlichen Zeit nach Beginn des Krieges in ihrer – symbiotischnicht erfüllbaren – Intensität gezeigt. André Weil, der 1937 geheiratethatte, begab sich im Frühling 1939 zu Studienzwecken mit seiner Fraunach Finnland. Doch nach dem Einmarsch der Deutschen in Prag am

15. März 1939, dann am 1. September 1939 in Polen ließ die Tatsache des

Kriegs jede Hoffnung auf eine demokratisch-pazifistische Korrektur dervon Hitler propagierten deutschen Großmachtexpansion zusammenbre-chen. Für jüdische Menschen gab es von jenem Zeitpunkt an kaum mehreinen Ort der Sicherheit, da auch die so genannten „neutralen“ StaatenHitler entgegenkamen und die Grenzen schlossen. Der nationalsozialisti-sche Antisemitismus und die militärische Gewalt hatten ganz Europa im-prägniert. André Weil, dessen Ehefrau bald nach dem 1. September nachFrankreich zurückgekehrt war, wurde aus nicht bekannten Gründen ver-dächtigt, in Finnland als Spion für Russland tätig zu sein. Er wurde aus-gewiesen und nach Frankreich zurückgeschafft, wo er sofort wegen Mili-tärdienstverweigerung angeklagt und gefangen genommen wurde. Dassdie enge politische Überwachung insbesondere jüdischer Menschen injener Zeit eine Tatsache war, auch dass Anhänger marxistischer und trotz-kistischer Gruppierungen mit feindlichen Absichten gestempelt wurden,ist vielfach nachgewiesen. Ob meine Vermutung eventuell zutrifft, dass diefalsche Verdächtigung von André Weil mit der Tatsache zusammenhing,dass Simone Weil Anfang der Dreißigerjahre dem Umkreis der trotzkisti-schen KP-Dissidenten nahe stand, auch dass sie anlässlich ihres Aufent-halts in Berlin Trotzkis Sohn getroffen und geheime Dokumente nachFrankreich transportiert hatte, sodann Ende Dezember 1933 Trotzkiselber in Paris einen Unterschlupf gewährt hatte, bleibt offen.

Simone Weil besuchte und unterstützte ihren Bruder während dessenGefangenschaft in Le Havre und in Rouen Woche für Woche. Bei ihrenBesuchen war sie mit ihm in einem intensiven Austausch über Mathema-tik und griechische Philosophie, insbesondere über Fragen der Erkennt-nismöglichkeit von Zeitlosigkeit. Sie setzte sich auch bei den Behördenein, damit ihrem Bruder gestattet wurde, im Gefängnis als Mathematikerarbeiten zu können. Um nicht fünf Jahre Gefangenschaft absitzen zu müs-sen, wie das Urteil lautete, ließ André Weil sich 1940 an die Front verset-zen. Dass es ihm im Januar 1941 gelang, mit seiner Frau in die USA zu flie-hen, muss bei Simone Weil Erleichterung bewirkt haben. Gleichzeitigmacht ihr Rückzug in eine von Opferbereitschaft und von metaphysisch-mystischer Ich-Abstraktion getragene Überlebenspflicht deutlich, wie sehrdie – endgültige – Trennung vom Bruder in ihr einen zusätzlichen Bruchder Lebenskräfte bewirkt hatte. Empfand sie diese eventuell als Versagenseiner „Freundschaft“ zu ihr? – Ihre Verzweiflung als eigenes Versagen?Es war, als ginge „die Rechnung“ nicht mehr auf.

Simone Weil konnte nicht akzeptieren, im eigenen Land völlig entrech-tet zu sein. Aus Marseille hatte sie in einem Brief die Vichy-Regierung an-gefragt, in einer der französischen Kolonien eine Unterrichtstätigkeit aus-üben zu dürfen. Das wurde ihr nicht zugestanden, respektive die Anfragewurde nicht einmal beantwortet. Ebenso wenig gelang es ihr, sich der Ré-bot sie die tiefen Gefühle. Der Willenskraft gebot sie strengste Kontrolle

über ihre Empfindungen. Warum? – Weil sie der Ohnmacht, die sie durchschmerzliches Leiden erlebte, nicht preisgegeben sein wollte, weil sie jede

Art von Ohnmacht ablehnte.

Den Körper machte Simone Weil nicht nur zum Objekt ihrer Willens-

übungen, sondern auch der eigenen, quasi strafenden Herabsetzung, biszur Negation von Beachtung und Sorgfalt. Dass sie dadurch das psychi-sche Leiden zu verdrängen suchte oder dessen Ertragen sich zur Pflichterklärte, mag Ursache der zahlreichen körperlichen Leidenssymptome ge-wesen sein. Schon in der frühen Kindheit haben vermutlich psychische Be-lastungen die lebensgefährdenden Ernährungs- und Schlafprobleme mit-verursacht, auch die zahlreichen schweren Kinderkrankheiten und diespäteren Essprobleme, eventuell auch die Blutzirkulationsprobleme undgeschwollenen Hände in der Gymnasialzeit, die ständige Magerkeit, ab

1930 die starken Kopfschmerzen, die kaum mehr von ihr wichen.

Erholung gönnte sich Simone Weil allein kaum; pausenlos forderte sievon sich intellektuelle Anstrengung sowie auf vielfache Weise körper-lichen Einsatz, als verfüge ihr Körper über männliche Kraft: in Ferien-zeiten in der Landwirtschaft, nach dem Studium durch härteste Arbeit in

Fabriken und durch Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg, nach demantisemitischen Verbot von Unterrichtstätigkeit und nach der Flucht aus

Paris nach Südfrankreich erneut durch wochenweise landwirtschaftliche

Arbeit. Als auch die letzten Anstrengungen eines für sie sinnvollen Einsat-zes als „Französin“ durch die Exilregierung in London abgelehnt wurde,verweigerte sie sich jegliches Überlebensrecht. Wieder war es der Körper,der von ihrem Willen als Instrument und als Objekt der Verweigerung le-benswichtiger Bedürfnisstillung – und sei es nur einer genügenden Ernäh-rung – benutzt wurde, während ihr Geist der letzten Aufgabe gerecht wer-den sollte, die sie sich nicht als Frau und nicht als Jüdin auferlegte, sondern

– männlichen Vorbildern entsprechend – „en tant que philosophe“: der

Pflicht, alle Kräfte aufs Denken und aufs Schreiben ihres sozialpolitischen

Testaments zu konzentrieren, in welchem sie die Bedingungen der „Ein-wurzelung“ der Menschen in einer kollektiven Struktur der Gerechtigkeitentwarf. War es „der Schrei, anders gelesen zu werden“, der in den Todmündete, weil er nicht gehört wurde? Oder ermöglichte ihr erst der Tod,

„sich selber klar zu sehen“?

Die Bedeutung der Beziehung zum Bruder hatte sich gerade in der le-bensbedrohlichen Zeit nach Beginn des Krieges in ihrer – symbiotischnicht erfüllbaren – Intensität gezeigt. André Weil, der 1937 geheiratethatte, begab sich im Frühling 1939 zu Studienzwecken mit seiner Fraunach Finnland. Doch nach dem Einmarsch der Deutschen in Prag am

15. März 1939, dann am 1. September 1939 in Polen ließ die Tatsache des

Kriegs jede Hoffnung auf eine demokratisch-pazifistische Korrektur dervon Hitler propagierten deutschen Großmachtexpansion zusammenbre-chen. Für jüdische Menschen gab es von jenem Zeitpunkt an kaum mehreinen Ort der Sicherheit, da auch die so genannten „neutralen“ StaatenHitler entgegenkamen und die Grenzen schlossen. Der nationalsozialisti-sche Antisemitismus und die militärische Gewalt hatten ganz Europa im-prägniert. André Weil, dessen Ehefrau bald nach dem 1. September nachFrankreich zurückgekehrt war, wurde aus nicht bekannten Gründen ver-dächtigt, in Finnland als Spion für Russland tätig zu sein. Er wurde aus-gewiesen und nach Frankreich zurückgeschafft, wo er sofort wegen Mili-tärdienstverweigerung angeklagt und gefangen genommen wurde. Dassdie enge politische Überwachung insbesondere jüdischer Menschen injener Zeit eine Tatsache war, auch dass Anhänger marxistischer und trotz-kistischer Gruppierungen mit feindlichen Absichten gestempelt wurden,ist vielfach nachgewiesen. Ob meine Vermutung eventuell zutrifft, dass diefalsche Verdächtigung von André Weil mit der Tatsache zusammenhing,dass Simone Weil Anfang der Dreißigerjahre dem Umkreis der trotzkisti-schen KP-Dissidenten nahe stand, auch dass sie anlässlich ihres Aufent-halts in Berlin Trotzkis Sohn getroffen und geheime Dokumente nachFrankreich transportiert hatte, sodann Ende Dezember 1933 Trotzkiselber in Paris einen Unterschlupf gewährt hatte, bleibt offen.

Simone Weil besuchte und unterstützte ihren Bruder während dessenGefangenschaft in Le Havre und in Rouen Woche für Woche. Bei ihrenBesuchen war sie mit ihm in einem intensiven Austausch über Mathema-tik und griechische Philosophie, insbesondere über Fragen der Erkennt-nismöglichkeit von Zeitlosigkeit. Sie setzte sich auch bei den Behördenein, damit ihrem Bruder gestattet wurde, im Gefängnis als Mathematikerarbeiten zu können. Um nicht fünf Jahre Gefangenschaft absitzen zu müs-sen, wie das Urteil lautete, ließ André Weil sich 1940 an die Front verset-zen. Dass es ihm im Januar 1941 gelang, mit seiner Frau in die USA zu flie-hen, muss bei Simone Weil Erleichterung bewirkt haben. Gleichzeitigmacht ihr Rückzug in eine von Opferbereitschaft und von metaphysisch-mystischer Ich-Abstraktion getragene Überlebenspflicht deutlich, wie sehrdie – endgültige – Trennung vom Bruder in ihr einen zusätzlichen Bruchder Lebenskräfte bewirkt hatte. Empfand sie diese eventuell als Versagenseiner „Freundschaft“ zu ihr? – Ihre Verzweiflung als eigenes Versagen?Es war, als ginge „die Rechnung“ nicht mehr auf.

Simone Weil konnte nicht akzeptieren, im eigenen Land völlig entrech-tet zu sein. Aus Marseille hatte sie in einem Brief die Vichy-Regierung an-gefragt, in einer der französischen Kolonien eine Unterrichtstätigkeit aus-üben zu dürfen. Das wurde ihr nicht zugestanden, respektive die Anfragewurde nicht einmal beantwortet. Ebenso wenig gelang es ihr, sich der Ré-sistance zur Verfügung zu stellen oder direkt nach England zu emigrieren,in den Kreis der Exilregierung. So leistete sie in der Ardèche landwirt-schaftliche Arbeit, verharrte in der Wartezeit in immer strengerer Askeseund begann – zusätzlich zu den Gesprächen mit Dominikanermönchenüber die frühchristlichen Schriften – sich mit Sanskrit, mit indischer undchinesischer Philosophie, auch mit spanischer Mystik zu befassen, die siein große Nähe zu sephardischer und chassidischer Weisheit brachte. Rück-zug in die Verinnerlichung, in älteste Deutungsversuche des menschlichenSchreis, „anders gelesen zu werden“? Bestand für Simone Weil hierin dieinnerste Bedeutung von „philo-sophia“ – der Suche nach der Liebe zurWeisheit?

Philosophin und/oder Arbeiterin

Simone Weil war sechzehn Jahre alt gewesen, als sie nach dem Ab-schluss des Gymnasiums zum Lycée Henri IV wechselte und unter demEinfluss von Alain begann, sich mit den großen Denkern – insbesonderemit Platon und Spinoza, Descartes, Kant und Marx – auseinander zu set-zen, erste Abhandlungen zu schreiben, auch erste Unterrichtserfahrung inPhilosophie zu machen. Damals setzte die Auseinandersetzung mit demBegriff der Arbeit und mit der Zeit ein, auch mit der moralischen Grund-linie der Gerechtigkeit, die bis in ihre letzte Lebensphase hinein galt.Immer stärker vernetzten sich für sie Philosophie und politische Theoriemit der Realität sozialer Probleme.

Auch während des Studiums an der École Normale Supérieure (ENS)an der Sorbonne, in welcher sie sich auf den Abschluss in Philosophie vor-bereitete, besuchte sie weiterhin die Seminarien von Alain. Das Studiumschloss sie 1931 – mit zweiundzwanzig Jahren – bei Léon Brunschvicg ab,mit einer sehr eigenwilligen Abhandlung zu „Science et perception dansDescartes“ („Wissenschaft und Wahrnehmung bei Descartes“), die diesergerade noch als genügend bewertete. Vermutlich hat sich diese Beurtei-lung mehr gegen Alain gerichtet als gegen die junge Denkerin. Es ist tat-sächlich ein Werk, das nicht dem „Schulsystem“ der Sorbonne entsprach.Simone Weil bewies darin wohl ihre sorgfältige Kenntnis der kartesiani-schen Erkenntistheorien und ging auf die unumstößliche Bedeutung desZweifels ein. Sie befasste sich mit den Möglichkeiten des klaren Erken-nens überhaupt, ging auf die Intuition ein, auf die Erkenntniskraft überWahrnehmung und Erfahrung. Sie stützte sich dabei auf den Beginn unddie Bedeutung der Mathematik, auf Thales, den Staatsmann von Milet, dercirca 600 Jahre v. Chr. die Weisheit über die Naturzusammenhänge, überdie Bedeutung des Wassers und des Sonnenlichts für das Wohlbefindender Menschen, die in seiner Zeit lebten, umgesetzt hatte. Der ihm (nichtdem Orakel von Delphi) zugeschriebene Maßstab für das Richtige oderFalsche, das „Erkenne dich selbst“, hielt Simone Weil fest, beziehe sich aufdie Tragbarkeit der Umsetzung von Erkenntnis ins praktische Leben,damit auf das gleiche Menschsein in der Vielfalt der Besonderheit desDenkens. Hierin bestand für Simone Weil die erste Revolution, der sieeine zentrale Bedeutung zumaß. Sich Wissen aneignen heiße daher, deneigenen Willen als Instrument der Freiheit und der Handlungsentscheideso einzusetzen, dass die Umsetzung des Wissens nicht Unterdrückungschaffe, sondern diese aufhebe. Die Unterdrückung sei das Siegel, das aufder Welt laste: „l’empreinte du monde“.

Mir scheint, dass Simone Weil mit dieser Abhandlung eine Art offiziel-ler Bestätigung der ebenbürtigen Verbindung mit ihrem Bruder anstrebte,der im gleichen Jahr durch die Universität von Aligarh als Mathematik-professor ernannt worden war und nach Indien abreiste. Ihr Universitäts-diplom als Philosophielehrerin in Frankreich und seine Abreise als Profes-sor für Mathematik muss sie mit Stolz, doch zugleich mit Schmerz und er-neut mit dem Gefühl des Minderwertes berührt haben. Die Verbindungvon Philosophie, Sozialethik und Mathematik bestand für sie in der Kraftdes klaren Denkens, der intuitiven Erkenntnis und der damit verbundenenmoralischen Verpflichtung in den Handlungsentscheiden. Es war auf dieseWeise, dass sie selber fortan ihr Denken und Leben zu verbinden suchte.

Die Arbeit als Philosophielehrerin und zugleich als Gewerkschafterin inLe Puy, der Aufenthalt in Berlin, die Anstellung am Gymnasium vonAuxerre, die Publikation ihrer Untersuchungen über den Zustand der Ar-beiterschaft in Berlin und über das Versagen des Marxismus, insbesondereder Kommunistischen Partei Deutschlands, welche keine Abhilfe gegendie – durch den Vertrag von Versailles und die Wirtschaftskrise bewirkte –Arbeitslosigkeit zustande brachte, weder Aufstand noch Reform, all diesbedeutete für sie moralische Verpflichtung und zugleich Leidenschaft desDenkens. Mit warnender Deutlichkeit hielt sie in ihren Artikeln fest,wie Hitler seine Stellung verstärkte und wie der NS-Terror anwuchs, wieLinksparteien angegriffen wurden, Mordtaten geschahen und zugedecktwurden, wie es keinen genügenden Widerstand gab. Im Kreis der französi-schen Gewerkschaften bewirkten die Publikationen einiges Aufsehen; dasssie nicht auf die erniedrigenden antijüdischen Maßnahmen einging, wurdeübergangen. Ein reger Austausch kam für Simone Weil mit Boris Sou-varine (ursprünglich Boris Lifschitz) zustande, einem trotzkistischen KP-Dissidenten, der fortan mit ihr in Verbindung blieb.

Im darauf folgenden Jahr, nach Hitlers Machtergreifung, unterrichteteSimone Weil in Roanne. Photos, welche sich in Band I der von Simone Pé-trement verfassten Biographie finden, zeigen Simone Weil mit ihren Schü-lerinnen im Park der kleinen Stadt. Sie sitzen im Schatten eines Baumessistance zur Verfügung zu stellen oder direkt nach England zu emigrieren,in den Kreis der Exilregierung. So leistete sie in der Ardèche landwirt-schaftliche Arbeit, verharrte in der Wartezeit in immer strengerer Askeseund begann – zusätzlich zu den Gesprächen mit Dominikanermönchen

über die frühchristlichen Schriften – sich mit Sanskrit, mit indischer undchinesischer Philosophie, auch mit spanischer Mystik zu befassen, die siein große Nähe zu sephardischer und chassidischer Weisheit brachte. Rück-zug in die Verinnerlichung, in älteste Deutungsversuche des menschlichen

Schreis, „anders gelesen zu werden“? Bestand für Simone Weil hierin dieinnerste Bedeutung von „philo-sophia“ – der Suche nach der Liebe zur

Weisheit?

Philosophin und/oder Arbeiterin

Simone Weil war sechzehn Jahre alt gewesen, als sie nach dem Ab-schluss des Gymnasiums zum Lycée Henri IV wechselte und unter dem

Einfluss von Alain begann, sich mit den großen Denkern – insbesonderemit Platon und Spinoza, Descartes, Kant und Marx – auseinander zu set-zen, erste Abhandlungen zu schreiben, auch erste Unterrichtserfahrung in

Philosophie zu machen. Damals setzte die Auseinandersetzung mit dem

Begriff der Arbeit und mit der Zeit ein, auch mit der moralischen Grund-linie der Gerechtigkeit, die bis in ihre letzte Lebensphase hinein galt.

Immer stärker vernetzten sich für sie Philosophie und politische Theoriemit der Realität sozialer Probleme.

Auch während des Studiums an der École Normale Supérieure (ENS)an der Sorbonne, in welcher sie sich auf den Abschluss in Philosophie vor-bereitete, besuchte sie weiterhin die Seminarien von Alain. Das Studiumschloss sie 1931 – mit zweiundzwanzig Jahren – bei Léon Brunschvicg ab,mit einer sehr eigenwilligen Abhandlung zu „Science et perception dans

Descartes“ („Wissenschaft und Wahrnehmung bei Descartes“), die diesergerade noch als genügend bewertete. Vermutlich hat sich diese Beurtei-lung mehr gegen Alain gerichtet als gegen die junge Denkerin. Es ist tat-sächlich ein Werk, das nicht dem „Schulsystem“ der Sorbonne entsprach.

Simone Weil bewies darin wohl ihre sorgfältige Kenntnis der kartesiani-schen Erkenntistheorien und ging auf die unumstößliche Bedeutung des

Zweifels ein. Sie befasste sich mit den Möglichkeiten des klaren Erken-nens überhaupt, ging auf die Intuition ein, auf die Erkenntniskraft über

Wahrnehmung und Erfahrung. Sie stützte sich dabei auf den Beginn unddie Bedeutung der Mathematik, auf Thales, den Staatsmann von Milet, dercirca 600 Jahre v. Chr. die Weisheit über die Naturzusammenhänge, überdie Bedeutung des Wassers und des Sonnenlichts für das Wohlbefindender Menschen, die in seiner Zeit lebten, umgesetzt hatte. Der ihm (nichtdem Orakel von Delphi) zugeschriebene Maßstab für das Richtige oderFalsche, das „Erkenne dich selbst“, hielt Simone Weil fest, beziehe sich aufdie Tragbarkeit der Umsetzung von Erkenntnis ins praktische Leben,damit auf das gleiche Menschsein in der Vielfalt der Besonderheit desDenkens. Hierin bestand für Simone Weil die erste Revolution, der sieeine zentrale Bedeutung zumaß. Sich Wissen aneignen heiße daher, deneigenen Willen als Instrument der Freiheit und der Handlungsentscheideso einzusetzen, dass die Umsetzung des Wissens nicht Unterdrückungschaffe, sondern diese aufhebe. Die Unterdrückung sei das Siegel, das aufder Welt laste: „l’empreinte du monde“.

Mir scheint, dass Simone Weil mit dieser Abhandlung eine Art offiziel-ler Bestätigung der ebenbürtigen Verbindung mit ihrem Bruder anstrebte,der im gleichen Jahr durch die Universität von Aligarh als Mathematik-professor ernannt worden war und nach Indien abreiste. Ihr Universitäts-diplom als Philosophielehrerin in Frankreich und seine Abreise als Profes-sor für Mathematik muss sie mit Stolz, doch zugleich mit Schmerz und er-neut mit dem Gefühl des Minderwertes berührt haben. Die Verbindungvon Philosophie, Sozialethik und Mathematik bestand für sie in der Kraftdes klaren Denkens, der intuitiven Erkenntnis und der damit verbundenenmoralischen Verpflichtung in den Handlungsentscheiden. Es war auf dieseWeise, dass sie selber fortan ihr Denken und Leben zu verbinden suchte.

Die Arbeit als Philosophielehrerin und zugleich als Gewerkschafterin inLe Puy, der Aufenthalt in Berlin, die Anstellung am Gymnasium vonAuxerre, die Publikation ihrer Untersuchungen über den Zustand der Ar-beiterschaft in Berlin und über das Versagen des Marxismus, insbesondereder Kommunistischen Partei Deutschlands, welche keine Abhilfe gegendie – durch den Vertrag von Versailles und die Wirtschaftskrise bewirkte –Arbeitslosigkeit zustande brachte, weder Aufstand noch Reform, all diesbedeutete für sie moralische Verpflichtung und zugleich Leidenschaft desDenkens. Mit warnender Deutlichkeit hielt sie in ihren Artikeln fest,wie Hitler seine Stellung verstärkte und wie der NS-Terror anwuchs, wieLinksparteien angegriffen wurden, Mordtaten geschahen und zugedecktwurden, wie es keinen genügenden Widerstand gab. Im Kreis der französi-schen Gewerkschaften bewirkten die Publikationen einiges Aufsehen; dasssie nicht auf die erniedrigenden antijüdischen Maßnahmen einging, wurdeübergangen. Ein reger Austausch kam für Simone Weil mit Boris Sou-varine (ursprünglich Boris Lifschitz) zustande, einem trotzkistischen KP-Dissidenten, der fortan mit ihr in Verbindung blieb.

Im darauf folgenden Jahr, nach Hitlers Machtergreifung, unterrichteteSimone Weil in Roanne. Photos, welche sich in Band I der von Simone Pé-trement verfassten Biographie finden, zeigen Simone Weil mit ihren Schü-lerinnen im Park der kleinen Stadt. Sie sitzen im Schatten eines Baumesoder stehen dicht nebeneinander im Schnee: Bilder von großer Intensitätund gleichzeitig von Freiheit.

Erstaunlich ist die sokratische Struktur und die persönliche Dichte von

Simone Weils Philosophieunterricht, wie die Aufzeichnungen wieder-geben, die eine der Studierenden, Anne Reynaud-Guérithault, machte

(Leçons de philosophie, Paris 1959). Simone Weil ging von der Psychologieaus, von der Rolle des Körpers im Handeln und in den Gefühlen, ging aufdie Wahrnehmung des anderen Menschen und auf die Frage der Selbst-erkenntnis ein, auf die Erfahrungen von Zeit, auf die Funktion der Vor-stellungskraft und jene der Erinnerung. Erst anschließend thematisiertesie „die dem Anschein nach intellektuelle Verfahrensweise“: die allgemei-nen Begriffe, Abstraktion und Vergleich, setzte sich mit den vielen Aspek-ten der Sprache auseinander, schließlich mit Betrachtungen über die Ur-teilskraft, worin sie Fragen zu Mathematik und zu Naturwissenschaftensowie die Unterscheidung von Beobachtung, Erfahrung und Hypothesemiteinbezog.

Ebenso erstaunlich ist, wie Simone Weil sich im zweiten Teil des Unter-richts mit der Unterscheidung von Bewusstsein, „Unterbewusstsein“ („lesubconscient“) und Verdrängung auseinander setzte, dabei von Leibnizund Descartes über Rousseau und Bergson zu Freud gelangte. Die Auf-zeichnungen lassen vermuten, dass sie sich während längerer Zeit mitihren Schülerinnen auf Freud und sein Werk einließ, das damals zum Teilnoch neu war. Ihrer Beurteilung nach hatte die Psychoanalyse nicht die

Bedeutung von Wissenschaft, sondern jene von Moral. Verdrängung setztesie dem Selbstbetrug gleich, respektive der Lüge („mensonge“) des Men-schen sich selbst gegenüber. Die klare Erarbeitung der Hintergründe des

Verhaltens, der Gewohnheiten und der Handlungsentscheide erachtete sieals Pflicht, entsprechend dem zentralen Gebot: „Erkenne dich selbst.“

Gemäß Simone Weil hat Freud nicht eine neue Erkenntnis vermittelt, son-dern jene aus ältester Zeit, dass der Mensch ein doppeltes Wesen sei, fort-gesetzt.

Anschließend thematisierte sie die Funktion des Willens und des Den-kens in der Liebe, die Bedeutung des Mutes, auch Fragen im Zusammen-hang von Suizid. Als Beweggrund nannte sie die Verzweiflung. Nach den

Ursachen – „causes“ – der Verzweiflung befragt, diktierte sie, was zehn

Jahre später ihr eigenes Verhungern und ihren Tod bewirkte: „injustice,malheur“ (273).

Auf eindrückliche Weise wird deutlich, dass Simone Weil auf der ab-strakten Ebene, auf jener des Denkens, in der Lage war, sich allen Fragenauf klärende Weise zu nähern, auch jenen, bei denen es um Psyche und

Körper ging. Doch immer auf der abstrakten Ebene. Sie verwehrte sichden inneren Blick auf sich selbst. Was ihr moralischer Blick mit der Pflichtdes Mitempfindens verband, betraf die Opfer der politischen oder wirt-schaftlichen „oppression“, wie sie dies auch in Roanne ausgesprochenhatte: „Tant qu’on ne s’est pas mis du côté des opprimés pour sentir aveceux, on ne peut pas se rendre compte“ (a.a.O., 191).

Als das Semester am 20. Juni 1934 zu Ende ging, beantragte SimoneWeil ein unterrichtsfreies Jahr. Sie fühlte sich als Philosophin in einerKrise. Wissen aufgrund des Mitempfindens genügte ihr nicht. Sie wollteselber die Erfahrung schwerster Arbeit machen. Trotz starker Kopf-schmerzen begann sie – dank der Vermittlung durch Boris Souvarine –Anfang Dezember jenes Jahres in der Elektrofabrik Alsthom in Paris zuarbeiten, zuerst an der Presse, am Schwinghebel, dann am Ofen, erlebteaufgrund der Forderung, im Produktionsrhythmus den Akkord einzu-halten, was es heißt, den Zeitdruck, die Hitze oder Kälte, den Einsatzstrengster Konzentration und körperlicher Kräfte bis zur kaum tragbarenErschöpfung zu vereinen. „Für jeden einzelnen (Menschen) sei seine eige-ne Arbeit ein Objekt der Kontemplation“, hatte sie u.a. als Leitsatz ihrenAufzeichnungen vorangestellt (Fabriktagebuch, 43). Simone Weil wolltedieser Erkenntnismöglichkeit gerecht werden.

Mit größter Genauigkeit schilderte sie den Ablauf der Produktionsfor-derungen, die Erfahrungen von Kollegialität und von Hierarchie ebensowie die körperlichen und technischen Verfahren, die bürokratischen Ab-läufe, die körperlichen Schmerzen, die Gefühle der Ermattung, der Er-niedrigung und Ohnmacht. „Die Erschöpfung läßt mich schließlich diewahren Gründe meines Aufenthalts in der Fabrik vergessen, macht diestärkste Versuchung dieses Lebens fast unüberwindlich: nicht mehr den-ken, einziges Mittel, um nicht zu leiden. Nur am Samstagnachmittag undam Sonntag kehren Erinnerungen zurück, Ideenstücke, erinnere ich mich,auch ein denkendes Wesen zu sein. […] Ich sehe nicht, wie körperlichSchwache vermeiden können, der Verzweiflung anheimzufallen“, hielt siein der zwölften Woche fest (61).

Zusätzlich zu den Kopfschmerzen kam eine Mittelohrentzündung. An-fang 1935 erlaubte sie sich einen kurzen Aufenthalt in Montana in derSchweiz, doch nach einem Monat setzte sie den Einsatz in der gleichen Fa-brik fort. Anfang April zog sie sich eine Handverletzung zu, wurde arbeits-los und machte sich auf Arbeitssuche, als Teil einer Menge arbeitsloserFrauen und Männer. Zehn Tage später wurde sie von der MetallfabrikCarnaud im Stadtteil Boulogne-Billancourt angestellt. Nach weniger alseinem Monat Arbeit wurde ihr fristlos gekündigt.

Simone Weils Erfahrung ging weiter, betraf erneut Arbeitslosigkeit,Geldmangel und Hunger, dann eine Anstellung bei Renault. Das ersteMal kannte sie, wie sie schrieb, „Furcht bis zur physischen Malaise. […] Ichstelle mir eine Werkhalle mit Pressen vor, tägliche 10-Stunden-Arbeit, bru-oder stehen dicht nebeneinander im Schnee: Bilder von großer Intensitätund gleichzeitig von Freiheit.

Erstaunlich ist die sokratische Struktur und die persönliche Dichte von

Simone Weils Philosophieunterricht, wie die Aufzeichnungen wieder-geben, die eine der Studierenden, Anne Reynaud-Guérithault, machte

(Leçons de philosophie, Paris 1959). Simone Weil ging von der Psychologieaus, von der Rolle des Körpers im Handeln und in den Gefühlen, ging aufdie Wahrnehmung des anderen Menschen und auf die Frage der Selbst-erkenntnis ein, auf die Erfahrungen von Zeit, auf die Funktion der Vor-stellungskraft und jene der Erinnerung. Erst anschließend thematisiertesie „die dem Anschein nach intellektuelle Verfahrensweise“: die allgemei-nen Begriffe, Abstraktion und Vergleich, setzte sich mit den vielen Aspek-ten der Sprache auseinander, schließlich mit Betrachtungen über die Ur-teilskraft, worin sie Fragen zu Mathematik und zu Naturwissenschaftensowie die Unterscheidung von Beobachtung, Erfahrung und Hypothesemiteinbezog.

Ebenso erstaunlich ist, wie Simone Weil sich im zweiten Teil des Unter-richts mit der Unterscheidung von Bewusstsein, „Unterbewusstsein“ („lesubconscient“) und Verdrängung auseinander setzte, dabei von Leibnizund Descartes über Rousseau und Bergson zu Freud gelangte. Die Auf-zeichnungen lassen vermuten, dass sie sich während längerer Zeit mitihren Schülerinnen auf Freud und sein Werk einließ, das damals zum Teilnoch neu war. Ihrer Beurteilung nach hatte die Psychoanalyse nicht die

Bedeutung von Wissenschaft, sondern jene von Moral. Verdrängung setztesie dem Selbstbetrug gleich, respektive der Lüge („mensonge“) des Men-schen sich selbst gegenüber. Die klare Erarbeitung der Hintergründe des

Verhaltens, der Gewohnheiten und der Handlungsentscheide erachtete sieals Pflicht, entsprechend dem zentralen Gebot: „Erkenne dich selbst.“

Gemäß Simone Weil hat Freud nicht eine neue Erkenntnis vermittelt, son-dern jene aus ältester Zeit, dass der Mensch ein doppeltes Wesen sei, fort-gesetzt.

Anschließend thematisierte sie die Funktion des Willens und des Den-kens in der Liebe, die Bedeutung des Mutes, auch Fragen im Zusammen-hang von Suizid. Als Beweggrund nannte sie die Verzweiflung. Nach den

Ursachen – „causes“ – der Verzweiflung befragt, diktierte sie, was zehn

Jahre später ihr eigenes Verhungern und ihren Tod bewirkte: „injustice,malheur“ (273).

Auf eindrückliche Weise wird deutlich, dass Simone Weil auf der ab-strakten Ebene, auf jener des Denkens, in der Lage war, sich allen Fragenauf klärende Weise zu nähern, auch jenen, bei denen es um Psyche und

Körper ging. Doch immer auf der abstrakten Ebene. Sie verwehrte sichden inneren Blick auf sich selbst. Was ihr moralischer Blick mit der Pflichtdes Mitempfindens verband, betraf die Opfer der politischen oder wirt-schaftlichen „oppression“, wie sie dies auch in Roanne ausgesprochenhatte: „Tant qu’on ne s’est pas mis du côté des opprimés pour sentir aveceux, on ne peut pas se rendre compte“ (a.a.O., 191).

Als das Semester am 20. Juni 1934 zu Ende ging, beantragte SimoneWeil ein unterrichtsfreies Jahr. Sie fühlte sich als Philosophin in einerKrise. Wissen aufgrund des Mitempfindens genügte ihr nicht. Sie wollteselber die Erfahrung schwerster Arbeit machen. Trotz starker Kopf-schmerzen begann sie – dank der Vermittlung durch Boris Souvarine –Anfang Dezember jenes Jahres in der Elektrofabrik Alsthom in Paris zuarbeiten, zuerst an der Presse, am Schwinghebel, dann am Ofen, erlebteaufgrund der Forderung, im Produktionsrhythmus den Akkord einzu-halten, was es heißt, den Zeitdruck, die Hitze oder Kälte, den Einsatzstrengster Konzentration und körperlicher Kräfte bis zur kaum tragbarenErschöpfung zu vereinen. „Für jeden einzelnen (Menschen) sei seine eige-ne Arbeit ein Objekt der Kontemplation“, hatte sie u.a. als Leitsatz ihrenAufzeichnungen vorangestellt (Fabriktagebuch, 43). Simone Weil wolltedieser Erkenntnismöglichkeit gerecht werden.

Mit größter Genauigkeit schilderte sie den Ablauf der Produktionsfor-derungen, die Erfahrungen von Kollegialität und von Hierarchie ebensowie die körperlichen und technischen Verfahren, die bürokratischen Ab-läufe, die körperlichen Schmerzen, die Gefühle der Ermattung, der Er-niedrigung und Ohnmacht. „Die Erschöpfung läßt mich schließlich diewahren Gründe meines Aufenthalts in der Fabrik vergessen, macht diestärkste Versuchung dieses Lebens fast unüberwindlich: nicht mehr den-ken, einziges Mittel, um nicht zu leiden. Nur am Samstagnachmittag undam Sonntag kehren Erinnerungen zurück, Ideenstücke, erinnere ich mich,auch ein denkendes Wesen zu sein. […] Ich sehe nicht, wie körperlichSchwache vermeiden können, der Verzweiflung anheimzufallen“, hielt siein der zwölften Woche fest (61).

Zusätzlich zu den Kopfschmerzen kam eine Mittelohrentzündung. An-fang 1935 erlaubte sie sich einen kurzen Aufenthalt in Montana in derSchweiz, doch nach einem Monat setzte sie den Einsatz in der gleichen Fa-brik fort. Anfang April zog sie sich eine Handverletzung zu, wurde arbeits-los und machte sich auf Arbeitssuche, als Teil einer Menge arbeitsloserFrauen und Männer. Zehn Tage später wurde sie von der MetallfabrikCarnaud im Stadtteil Boulogne-Billancourt angestellt. Nach weniger alseinem Monat Arbeit wurde ihr fristlos gekündigt.

Simone Weils Erfahrung ging weiter, betraf erneut Arbeitslosigkeit,Geldmangel und Hunger, dann eine Anstellung bei Renault. Das ersteMal kannte sie, wie sie schrieb, „Furcht bis zur physischen Malaise. […] Ichstelle mir eine Werkhalle mit Pressen vor, tägliche 10-Stunden-Arbeit, bru-tale Chefs, abgeschnittene Finger, Hitze und Kopfschmerzen und …“(101). Mitte August 1935, nach zweieinhalb Monaten, musste sie aufgrundstarker körperlicher Schmerzen auch diese Anstellung aufgeben. Die Auf-gabe, die sie sich gestellt hatte, die „eigene Arbeit zum Objekt der Kon-templation zu machen“, hatte sie unter jeder Bedingung zu erfüllen ver-sucht. „Was in einem Menschenleben zählt, sind nicht die Ereignisse, dieim Lauf der Jahre oder sogar der Monate oder Tage eintreten. Es ist dieArt, wie sich eine Minute mit der folgenden verknüpft. Wieviel es denKörper und vor allem die Aufmerksamkeit kostet, Minute um Minutediese Verknüpfung zu vollbringen“ (138).

Aufmerksamkeit – „l’attention“ – war für Simone Weil der Maßstab,den sie sich als Philosophin setzte. Als Arbeiterin galt für sie der gleicheMaßstab und sie hatte sich bemüht, diesem im gleichen Ausmaß zu ge-nügen. War sie sich der Grenzüberschreitung bewusst, die sie sich damitantat?

Sie hatte tatsächlich die Grenze zwischen zumutbarem Maß und Maß-losigkeit überschritten. Dies bewirkte einen weiteren Bruch in ihr, der fol-genschwer war. Mit der Methode der intuitiven Erkenntnis, der Aufmerk-samkeit, hatte sie die bei der Fabrikarbeit verlangte Beachtung maschinel-ler Zeitbedingungen zu erfüllen versucht. Sie gehörte fortan einer anderenKlasse an: jener der Sklaven. „Was gewann ich bei diesem Experiment?“,fragte sie sich, als auch die Arbeit bei Renault zu Ende ging. „Das Gefühl,kein Recht zu besitzen, welches es auch immer sei und worauf es sich auchimmer beziehen mag. […] Die entscheidende Tatsache ist nicht das Lei-den, sondern die Erniedrigung. Darauf gründet vielleicht Hitler seine Stär-ke, während der stupide Materialismus […]“ (a.a.O., 121).

Hier unterbrach Simone Weil die Aufzeichnung ihrer Gedanken. Siewusste von Hitlers systematischem Antisemitismus, wollte diese Tatsachejedoch verdrängen und ihr Denken ausschließlich auf die Arbeiterschaftkonzentrieren. Sie war Jüdin und wollte Nicht-Jüdin sein – was jedochnicht möglich war. So wollte sie als Philosophin gleichzeitig Arbeiterinsein. Ihre Identifikation mit den „Sklaven“ des kapitalistischen Produk-tionsbetriebs entsprach, nehme ich an, zutiefst ihrem Bestreben, demGebot der Gerechtigkeit zu genügen. Als Jüdin zu den Erniedrigten zu ge-hören, lehnte sie ab, da sie den Stempel nicht akzeptieren konnte, mit demsie eingeordnet wurde; als Arbeiterin hatte sie den Stempel selbst gewählt.

Die Frage stellt sich, warum sie selber die Gründe und Hintergründeihres Konflikts mit dem Judentum nicht entschlüsseln mochte respektivekonnte. Sie hatte sich doch, wie die Notizen von Roanne belegen, mit demUnbewussten, dem enigmatischen Teil der Psyche, und mit dessen Machttheoretisch befasst. Diesem Teil der Spaltung nachzugehen erscheint mirwichtig, um eventuell den Schlüssel zur geschlossenen Tür zu finden.

Jüdin und „Nicht-Jüdin“

Simone Weils Suche nach der „wahren“ Religion, die sie von der Gym-nasialzeit bis in die letzten Lebenswochen fortsetzte, hatte den frühestenUrsprung in der Widersprüchlichkeit zweier Tatsachen: zwischen jener derjüdischen Familiengeschichte und jener der Folgen von Agnostizismus undAssimilation, welche ihre Kindheit geprägt hatten. Die widersprüchlicheDoppeltheit, die insbesondere mit der Assimilation einherging, war vonmaßgeblichem Einfluss auf die Kontingenz schwer tragbarer Nichtüber-einstimmung in Simone Weils Ich- und Selbstbeziehung, noch bevor derAntisemitismus mit der Vichy-Regierung und mit der deutschen Beset-zung Frankreichs ihr Lebensrecht in Frage stellte.

Es darf nicht vergessen werden, dass Assimilation im 19. und zu Beginndes 20.Jahrhunderts vor allem eine Forderung der nicht-jüdischen Gesell-schaft an die Juden war. Wer aus der Ghettoisierung entkommen wollteund politische Gleichberechtigung forderte, wurde angehalten, Eigenhei-ten und Bräuche, insbesondere die Ausübung der Religion, aufzugeben.Doch selbst wenn die Freiheit besteht, sich von den Glaubensgeboteneiner Religion zu lösen, eventuell einer anderen Religion beizutreten oderkeiner, können weder Herkunft und Geschichte noch Name und Aussehenaufgegeben werden. Sie bleiben in den Menschen und auf den Menschenhaften, ob im Sinn eines besonderen Wertes oder als Last. Assimila-tion war gewiss zum Teil auch ein Wunsch jüdischer Kreise, welche dieSchmach der seit Jahrhunderten fortgesetzten Ausgrenzung zurückzulas-sen und zu verändern hofften. Doch mit dem in ganz Europa gegen Endedes 19. und zu Beginn des 20.Jahrhunderts anwachsenden Antisemitismus,der in starkem Maß mit der nicht tragbaren Verarmung großer Bevöl-kerungsteile einherging, mit damit verbundenen Feindkonstrukten undRachebedürfnissen, die wehrloser Objekte bedurften und die zu politi-schen Zwecken durch Parteien, Presse etc. angetrieben wurden, entpupptesich die Assimilation immer klarer als trügerisches Angebot, auch Wunschund Hoffnung auf Gleichberechtigung als Utopie. Die Tötung Rosa Lu-xemburgs im Zusammenhang mit dem Berliner Aufstand am 15. Januar1919 war wie ein Fanal: das Fanal einer Steigerung, die durch den Macht-aufstieg des Nationalsozialismus bis in die Maßlosigkeit des Herrschafts-anspruchs über ganz Europa in dem Krieg und der systematischen Ver-nichtung des europäischen Judentums kulminierte.

In die weiter zurückliegende jüdische Geschichte der christlichen Be-kehrungs- und europäischen Säkularisierungshintergründe einzugehen,auch in die immer wieder erfolgten Rückfälle in jüdische Ausgrenzungund Verfolgung, würde zu weit führen. In Deutschland mag Moses Men-delssohn ein Beispiel sein, der u.a. im Austausch mit Leibniz die Unantast-tale Chefs, abgeschnittene Finger, Hitze und Kopfschmerzen und …“(101). Mitte August 1935, nach zweieinhalb Monaten, musste sie aufgrundstarker körperlicher Schmerzen auch diese Anstellung aufgeben. Die Auf-gabe, die sie sich gestellt hatte, die „eigene Arbeit zum Objekt der Kon-templation zu machen“, hatte sie unter jeder Bedingung zu erfüllen ver-sucht. „Was in einem Menschenleben zählt, sind nicht die Ereignisse, dieim Lauf der Jahre oder sogar der Monate oder Tage eintreten. Es ist dieArt, wie sich eine Minute mit der folgenden verknüpft. Wieviel es denKörper und vor allem die Aufmerksamkeit kostet, Minute um Minutediese Verknüpfung zu vollbringen“ (138).

Aufmerksamkeit – „l’attention“ – war für Simone Weil der Maßstab,den sie sich als Philosophin setzte. Als Arbeiterin galt für sie der gleicheMaßstab und sie hatte sich bemüht, diesem im gleichen Ausmaß zu ge-nügen. War sie sich der Grenzüberschreitung bewusst, die sie sich damitantat?

Sie hatte tatsächlich die Grenze zwischen zumutbarem Maß und Maß-losigkeit überschritten. Dies bewirkte einen weiteren Bruch in ihr, der fol-genschwer war. Mit der Methode der intuitiven Erkenntnis, der Aufmerk-samkeit, hatte sie die bei der Fabrikarbeit verlangte Beachtung maschinel-ler Zeitbedingungen zu erfüllen versucht. Sie gehörte fortan einer anderenKlasse an: jener der Sklaven. „Was gewann ich bei diesem Experiment?“,fragte sie sich, als auch die Arbeit bei Renault zu Ende ging. „Das Gefühl,kein Recht zu besitzen, welches es auch immer sei und worauf es sich auchimmer beziehen mag. […] Die entscheidende Tatsache ist nicht das Lei-den, sondern die Erniedrigung. Darauf gründet vielleicht Hitler seine Stär-ke, während der stupide Materialismus […]“ (a.a.O., 121).

Hier unterbrach Simone Weil die Aufzeichnung ihrer Gedanken. Siewusste von Hitlers systematischem Antisemitismus, wollte diese Tatsachejedoch verdrängen und ihr Denken ausschließlich auf die Arbeiterschaftkonzentrieren. Sie war Jüdin und wollte Nicht-Jüdin sein – was jedochnicht möglich war. So wollte sie als Philosophin gleichzeitig Arbeiterinsein. Ihre Identifikation mit den „Sklaven“ des kapitalistischen Produk-tionsbetriebs entsprach, nehme ich an, zutiefst ihrem Bestreben, demGebot der Gerechtigkeit zu genügen. Als Jüdin zu den Erniedrigten zu ge-hören, lehnte sie ab, da sie den Stempel nicht akzeptieren konnte, mit demsie eingeordnet wurde; als Arbeiterin hatte sie den Stempel selbst gewählt.

Die Frage stellt sich, warum sie selber die Gründe und Hintergründeihres Konflikts mit dem Judentum nicht entschlüsseln mochte respektivekonnte. Sie hatte sich doch, wie die Notizen von Roanne belegen, mit demUnbewussten, dem enigmatischen Teil der Psyche, und mit dessen Machttheoretisch befasst. Diesem Teil der Spaltung nachzugehen erscheint mirwichtig, um eventuell den Schlüssel zur geschlossenen Tür zu finden.

Jüdin und „Nicht-Jüdin“

Simone Weils Suche nach der „wahren“ Religion, die sie von der Gym-nasialzeit bis in die letzten Lebenswochen fortsetzte, hatte den frühestenUrsprung in der Widersprüchlichkeit zweier Tatsachen: zwischen jener derjüdischen Familiengeschichte und jener der Folgen von Agnostizismus undAssimilation, welche ihre Kindheit geprägt hatten. Die widersprüchlicheDoppeltheit, die insbesondere mit der Assimilation einherging, war vonmaßgeblichem Einfluss auf die Kontingenz schwer tragbarer Nichtüber-einstimmung in Simone Weils Ich- und Selbstbeziehung, noch bevor derAntisemitismus mit der Vichy-Regierung und mit der deutschen Beset-zung Frankreichs ihr Lebensrecht in Frage stellte.

Es darf nicht vergessen werden, dass Assimilation im 19. und zu Beginndes 20.Jahrhunderts vor allem eine Forderung der nicht-jüdischen Gesell-schaft an die Juden war. Wer aus der Ghettoisierung entkommen wollteund politische Gleichberechtigung forderte, wurde angehalten, Eigenhei-ten und Bräuche, insbesondere die Ausübung der Religion, aufzugeben.Doch selbst wenn die Freiheit besteht, sich von den Glaubensgeboteneiner Religion zu lösen, eventuell einer anderen Religion beizutreten oderkeiner, können weder Herkunft und Geschichte noch Name und Aussehenaufgegeben werden. Sie bleiben in den Menschen und auf den Menschenhaften, ob im Sinn eines besonderen Wertes oder als Last. Assimila-tion war gewiss zum Teil auch ein Wunsch jüdischer Kreise, welche dieSchmach der seit Jahrhunderten fortgesetzten Ausgrenzung zurückzulas-sen und zu verändern hofften. Doch mit dem in ganz Europa gegen Endedes 19. und zu Beginn des 20.Jahrhunderts anwachsenden Antisemitismus,der in starkem Maß mit der nicht tragbaren Verarmung großer Bevöl-kerungsteile einherging, mit damit verbundenen Feindkonstrukten undRachebedürfnissen, die wehrloser Objekte bedurften und die zu politi-schen Zwecken durch Parteien, Presse etc. angetrieben wurden, entpupptesich die Assimilation immer klarer als trügerisches Angebot, auch Wunschund Hoffnung auf Gleichberechtigung als Utopie. Die Tötung Rosa Lu-xemburgs im Zusammenhang mit dem Berliner Aufstand am 15. Januar1919 war wie ein Fanal: das Fanal einer Steigerung, die durch den Macht-aufstieg des Nationalsozialismus bis in die Maßlosigkeit des Herrschafts-anspruchs über ganz Europa in dem Krieg und der systematischen Ver-nichtung des europäischen Judentums kulminierte.

In die weiter zurückliegende jüdische Geschichte der christlichen Be-kehrungs- und europäischen Säkularisierungshintergründe einzugehen,auch in die immer wieder erfolgten Rückfälle in jüdische Ausgrenzungund Verfolgung, würde zu weit führen. In Deutschland mag Moses Men-delssohn ein Beispiel sein, der u.a. im Austausch mit Leibniz die Unantast-barkeit des Judentums verteidigte, aber auch eine durch die Vernunft ge-botene Korrektur der Diskriminierung forderte, später die Geschichte sei-ner Töchter, Söhne und Enkelkinder bis in die Zeit des zunehmenden Ju-denhasses vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Simone Weil war in Frank-reich in einem vergleichbaren Klima aufgewachsen. Die „AffaireDreyfus“ lag bei ihrer Geburt erst zehn Jahre zurück, diese vom französi-schen Generalstab geplante Verurteilung des aus dem Elsass stammendenjüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus wegen Hochverrats. Die Gegen-bewegung mit Bernard Lazare, mit Émile Zola u. a. m. brachte die Tat-sache des Fehlurteils sowie die Hintergründe der falschen Anklage unddes richterlichen Bestehens auf der Schuld des Schuldlosen in die Öffent-lichkeit und bewirkte eine Korrektur des Urteils, konnte aber den anwach-senden Antisemitismus im Volk nicht beeinflussen.

Dass diese Tatsache in Simone Weils Kindheit und Jugend schon spür-bar war, auch ihr selber gegenüber, als sie in Paris das Gymnasium und dieSorbonne besuchte, gehörte zu den Alltagszusammenhängen, die sie zuverdrängen suchte. Die Frage stellt sich, warum die junge Studentin, die injener Zeit erstmals die Bibel las, nicht die Geschichte des jüdischen Volkesauf der Suche nach Heimat sowie im Konflikt mit den Geboten lesenkonnte, warum sie verweigerte, auf die Bedeutung der prophetischenMahnungen oder der Psalmen einzugehen, auf die berührenden LiederDavids, auf die Klage Kohelets über die Nichtigkeit der Zeit oder auf dasBuch der Weisheit mit den Forderungen von Sorgfalt im Urteilen undHandeln, um der Gerechtigkeit zu genügen. Allein die Klage Hiobs gegenJahwe nahm sie auf, letztlich auch seine Demut in der Unterwerfung unterdie göttliche Züchtigung. Ob in ihr auch die tröstende göttliche BelohnungHiobs eine Hoffnung weckte, dass selbst das größte Leiden sinnvoll sei,lässt sich nicht beantworten. Vielleicht war dem so. Merkwürdig ist, dassSimone Weil in ihrem kaum zu sättigenden Wissenshunger die aramäi-schen und hebräischen Quellen nicht in Betracht zog, dass sie ausschließ-lich den ägyyptischen und griechischen, später über das Studium von Sans-krit auch den altindischen Schriften den größten Wert zumaß und diesemit den christlichen Evangelien zu verbinden suchte.

Die kreative Kraft des skeptischen Denkens, welche Simone Weil präg-te, kennzeichnete sie schon in der Studienzeit. Sie brachte sie unmissver-ständlich in Diskussionsgruppen zum Ausdruck und eckte dabei oft an,wie Simone Pétrement in der Biographie festhält. Der Hunger nach Er-kenntnis der religiösen Wahrheit, letztlich nach tiefer, emotionaler Erfül-lung, die sie suchte und zugleich sich verbot, war in ihr – nach psychoana-lytischer Deutung – zutiefst mit der widersprüchlichen Doppeltheit dernicht lösbaren Zugehörigkeit zum Judentum sowie mit der Verweigerung,„Jüdin“ zu sein, verknüpft. Ihr Hadern mit dem strafenden Gott der Toramachte sie einerseits zur Schwester Hiobs, beherrschte andererseits ihreVorstellungskraft mit einer Einseitigkeit und Absolutheit, die bewirkte,dass sie das Judentum ausschließlich mit einer herrscherähnlichen Struk-tur verband und ablehnte. Dass Simone Weil immer wieder auf die Machtder von „Bildern“ geprägten und gelenkten Vorstellungskraft – „l’imagi-nation“ – in theoretischer Weise einging, dass sie in persönlicher Hinsichtdie Klärung jedoch nicht zuließ, widerspiegelt erneut einen wichtigen Teilin der Kontingenz der Spaltung, die sie vermutlich seit der frühesten Kind-heit durch die Gleichzeitigkeit von familiärer Assimilation und öffent-lichem Antisemitismus prägte.

Anzunehmen ist, dass Simone Weils Annäherung an marxistische undanarchistische Bewegungen, gleichzeitig die skeptische Ablehnung jeg-licher Parteimitgliedschaft ihrem Bedürfnis nach einer sie tragendenÜberzeugung entsprach, als sie in der Zeit des Erwachsenwerdens jederreligiösen Wahrheitserklärung Vorbehalte entgegenbrachte. Den Beitrittzur Volksschullehrergewerkschaft gestand sie sich zu, überhaupt zu denGewerkschaftsbewegungen, mit großer Leidenschaftlichkeit, letztlich imSinn der Liga der Menschenrechte, der sie 1929 ebenfalls beigetreten war,im gleichen Jahr, als sie das Studium abschloss. Als sich zu Beginn der Stu-dienzeit verschiedene nahe Bekannte hatten taufen lassen, verhielt sie sichdazu mit Interesse und Reserviertheit. Sie hatte als Bereich der Zugehö-rigkeit – neben sozialpolitischen Überzeugungen – die Philosophie ge-wählt. Was für sie unter dem Einfluss ihres Lehrers Alain prioritäre Be-deutung hatte, war die Klarheit des Denkens und Urteilens in Zusammen-hang mit aktueller Sozialethik. Dass sie damit ihre geistigen Kräfte, dieintellektuellen wie die emotionalen, in eine weitere Nichtübereinstim-mung verstrickte, wurde erst später deutlich. Waren die Kopfschmerzeneine somatische Übertragung des quälenden Disputs ihrer psychischenLeidenszusammenhänge? Auch eine Warnung vor den intellektuellensowie moralischen Zielsetzungen der Perfektion? Eine Warnung vor derNichtbeachtung dessen, was die Bedeutung von Erkennen und Gerechtig-keit im Verhältnis zu ihr selbst gefordert hätte?

Dem emotionalen Wert des Religiösen räumte sie erst eine Art Zuge-ständnis ein, als einerseits das Zerwürfnis der politischen und gesellschaft-lichen Realität mit den anarchistischen und marxistischen Theorien, ande-rerseits der anwachsende Faschismus und Antisemitismus für sie einen an-deren inneren Halt nötig machten. Als die Eltern sie Anfang März 1937während der Fabrikarbeit bei Renault bewegen konnten, sich wegen derständigen Kopfschmerzen einen Aufenthalt in der Schweiz, in Montana,einzuräumen, lernte sie nicht nur das Skifahren, sondern in Ruhe Musikhören, Bach und Monteverdi, Mozart und Beethoven. Nach etwa einemMonat ermöglichte sie sich auch eine längere Reise nach Italien. Zutiefstbarkeit des Judentums verteidigte, aber auch eine durch die Vernunft ge-botene Korrektur der Diskriminierung forderte, später die Geschichte sei-ner Töchter, Söhne und Enkelkinder bis in die Zeit des zunehmenden Ju-denhasses vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Simone Weil war in Frank-reich in einem vergleichbaren Klima aufgewachsen. Die „Affaire

Dreyfus“ lag bei ihrer Geburt erst zehn Jahre zurück, diese vom französi-schen Generalstab geplante Verurteilung des aus dem Elsass stammendenjüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus wegen Hochverrats. Die Gegen-bewegung mit Bernard Lazare, mit Émile Zola u. a. m. brachte die Tat-sache des Fehlurteils sowie die Hintergründe der falschen Anklage unddes richterlichen Bestehens auf der Schuld des Schuldlosen in die Öffent-lichkeit und bewirkte eine Korrektur des Urteils, konnte aber den anwach-senden Antisemitismus im Volk nicht beeinflussen.

Dass diese Tatsache in Simone Weils Kindheit und Jugend schon spür-bar war, auch ihr selber gegenüber, als sie in Paris das Gymnasium und die

Sorbonne besuchte, gehörte zu den Alltagszusammenhängen, die sie zuverdrängen suchte. Die Frage stellt sich, warum die junge Studentin, die injener Zeit erstmals die Bibel las, nicht die Geschichte des jüdischen Volkesauf der Suche nach Heimat sowie im Konflikt mit den Geboten lesenkonnte, warum sie verweigerte, auf die Bedeutung der prophetischen

Mahnungen oder der Psalmen einzugehen, auf die berührenden Lieder

Davids, auf die Klage Kohelets über die Nichtigkeit der Zeit oder auf das

Buch der Weisheit mit den Forderungen von Sorgfalt im Urteilen und

Handeln, um der Gerechtigkeit zu genügen. Allein die Klage Hiobs gegen

Jahwe nahm sie auf, letztlich auch seine Demut in der Unterwerfung unterdie göttliche Züchtigung. Ob in ihr auch die tröstende göttliche Belohnung

Hiobs eine Hoffnung weckte, dass selbst das größte Leiden sinnvoll sei,lässt sich nicht beantworten. Vielleicht war dem so. Merkwürdig ist, dass

Simone Weil in ihrem kaum zu sättigenden Wissenshunger die aramäi-schen und hebräischen Quellen nicht in Betracht zog, dass sie ausschließ-lich den ägyyptischen und griechischen, später über das Studium von Sans-krit auch den altindischen Schriften den größten Wert zumaß und diesemit den christlichen Evangelien zu verbinden suchte.

Die kreative Kraft des skeptischen Denkens, welche Simone Weil präg-te, kennzeichnete sie schon in der Studienzeit. Sie brachte sie unmissver-ständlich in Diskussionsgruppen zum Ausdruck und eckte dabei oft an,wie Simone Pétrement in der Biographie festhält. Der Hunger nach Er-kenntnis der religiösen Wahrheit, letztlich nach tiefer, emotionaler Erfül-lung, die sie suchte und zugleich sich verbot, war in ihr – nach psychoana-lytischer Deutung – zutiefst mit der widersprüchlichen Doppeltheit dernicht lösbaren Zugehörigkeit zum Judentum sowie mit der Verweigerung,

„Jüdin“ zu sein, verknüpft. Ihr Hadern mit dem strafenden Gott der Toramachte sie einerseits zur Schwester Hiobs, beherrschte andererseits ihreVorstellungskraft mit einer Einseitigkeit und Absolutheit, die bewirkte,dass sie das Judentum ausschließlich mit einer herrscherähnlichen Struk-tur verband und ablehnte. Dass Simone Weil immer wieder auf die Machtder von „Bildern“ geprägten und gelenkten Vorstellungskraft – „l’imagi-nation“ – in theoretischer Weise einging, dass sie in persönlicher Hinsichtdie Klärung jedoch nicht zuließ, widerspiegelt erneut einen wichtigen Teilin der Kontingenz der Spaltung, die sie vermutlich seit der frühesten Kind-heit durch die Gleichzeitigkeit von familiärer Assimilation und öffent-lichem Antisemitismus prägte.

Anzunehmen ist, dass Simone Weils Annäherung an marxistische undanarchistische Bewegungen, gleichzeitig die skeptische Ablehnung jeg-licher Parteimitgliedschaft ihrem Bedürfnis nach einer sie tragendenÜberzeugung entsprach, als sie in der Zeit des Erwachsenwerdens jederreligiösen Wahrheitserklärung Vorbehalte entgegenbrachte. Den Beitrittzur Volksschullehrergewerkschaft gestand sie sich zu, überhaupt zu denGewerkschaftsbewegungen, mit großer Leidenschaftlichkeit, letztlich imSinn der Liga der Menschenrechte, der sie 1929 ebenfalls beigetreten war,im gleichen Jahr, als sie das Studium abschloss. Als sich zu Beginn der Stu-dienzeit verschiedene nahe Bekannte hatten taufen lassen, verhielt sie sichdazu mit Interesse und Reserviertheit. Sie hatte als Bereich der Zugehö-rigkeit – neben sozialpolitischen Überzeugungen – die Philosophie ge-wählt. Was für sie unter dem Einfluss ihres Lehrers Alain prioritäre Be-deutung hatte, war die Klarheit des Denkens und Urteilens in Zusammen-hang mit aktueller Sozialethik. Dass sie damit ihre geistigen Kräfte, dieintellektuellen wie die emotionalen, in eine weitere Nichtübereinstim-mung verstrickte, wurde erst später deutlich. Waren die Kopfschmerzeneine somatische Übertragung des quälenden Disputs ihrer psychischenLeidenszusammenhänge? Auch eine Warnung vor den intellektuellensowie moralischen Zielsetzungen der Perfektion? Eine Warnung vor derNichtbeachtung dessen, was die Bedeutung von Erkennen und Gerechtig-keit im Verhältnis zu ihr selbst gefordert hätte?

Dem emotionalen Wert des Religiösen räumte sie erst eine Art Zuge-ständnis ein, als einerseits das Zerwürfnis der politischen und gesellschaft-lichen Realität mit den anarchistischen und marxistischen Theorien, ande-rerseits der anwachsende Faschismus und Antisemitismus für sie einen an-deren inneren Halt nötig machten. Als die Eltern sie Anfang März 1937während der Fabrikarbeit bei Renault bewegen konnten, sich wegen derständigen Kopfschmerzen einen Aufenthalt in der Schweiz, in Montana,einzuräumen, lernte sie nicht nur das Skifahren, sondern in Ruhe Musikhören, Bach und Monteverdi, Mozart und Beethoven. Nach etwa einemMonat ermöglichte sie sich auch eine längere Reise nach Italien. Zutiefstergriffen fühlte sie sich in der kleinen Kirche von Assisi, wo sie eine gött-liche Nähe spürte, die sie auf vergleichbare Weise kaum erlebt hatte, wiesie in ihren Notizen festhielt; höchstens 1935, als sie mit ihren Eltern nachSpanien und Portugal gefahren war und in einem portugiesischen Fischer-dorf von der Religiosität der armen Bevölkerung berührt wurde.

Diese Erfahrung wühlte sie auf und schien ihr zu offenbaren, dass es dieZugehörigkeit zur Religion der Armen war, deren sie bedurfte. Wiederumverband sie damit nicht das Judentum, doch ebenso wenig den von Romund vom Papsttum beherrschten Katholizismus. Es war das ursprüngliche,allein auf die Gestalt Jesu bezogene Christentum, das sie bewegte. DassJesus ein essenischer Jude respektive ein jüdischer Revolutionär gewesenwar, schien sie nicht zu beachten.

Ein Weggleiten in mystische Erfahrungen prägte ab 1938 Simone Weilzunehmend. Nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland und dersich verengenden Spirale von antijüdischer Hetze, von faschistischer Pro-paganda und Kriegsvorbereitung wurde die Lebenssituation in Frankreichimmer bedrückender und damit die Frage nach ihrer Identität. Sie warFranzösin, als Französin aber allmählich eine rechtlose Fremde; sie wareine anarchistische Marxistin, die jede Parteimacht ablehnte, die sich mitder Ohnmacht der erniedrigten „Sklaven“ verband und sich gleichzeitigverpflichtet fühlte, auf aktive Weise die Kraft des Denkens für Gerechtig-keit und für friedenserhaltende Möglichkeiten einzusetzen. Sie war auchvernunftgläubige Kartesianerin und zugleich sokratische Skeptikerin. Siewar ein beziehungshungriger Mensch, der sich als Frau nicht genügte undmännlicher Liebe nicht traute, der das ganze Streben nach tiefster Verbin-dung auf den geheimnisvollen Gott ausrichtete. Ihr Weg ging über dieSuche nach einer Übereinstimmung von antiken Mythologien und religiö-ser Erfahrung, durch welche endlich ihr schwer akzeptierbares Ich mit dergöttlichen Transzendenz in nächste, ja symbiotische Übereinstimmungkäme. Doch wie konnte sie dies erreichen?

Wie sehr Simone Weil Intellekt und Willen auch anstrengte, um sich ausdem Zwiespalt der Identität zu lösen, umso mehr musste sie als unge-nügend empfinden, was auf der Ebene der abstrakten Erkenntnis Klarheitbedeutete. Dass sie sich zunehmend der Vorstellungskraft überließ, umder mystischen Verbindung mit den Leidenden, insbesondere mit dem lei-denden Jesu nahe zu kommen, ermöglichte ihr die Rechtfertigung deseigenen Leidens. Immer wieder stellt sich die Frage, warum sie gerade denmystischen Teil des Judentums, die warmen, galizischen Sabbatabende undJahresfeste, auch die von messianischer Sehnsucht getragene Literaturnicht an sich heranließ, warum sie das Judentum nicht als Religion dermessianischen Hoffnung in ihr Verstehen der antiken Religionen mitein-beziehen wollte respektive konnte. War es, um mehr zu leiden? Denn invielen Teilen ihrer Aufzeichnungen findet sich eine Nähe nicht nur zuHiob und zu Kohelet, sondern auch zu neueren jüdischen Aspekten, etwain ihrer Darstellung der vom schuldhaften Menschsein gekennzeichneten,schöpferischen Aufgabe jedes Menschen, welche bis zur „décréation“, zur„Entwerdung“ geht, vergleichbar dem kabbalistischen Tikkun. Es gab nurwenige unter den jüdischen Interpreten von Simone Weils Schriften, etwaWladimir Rabi, die der Überzeugung sind, dass die Komplexität ihresWerkes nur verstanden werden kann, wenn ihre offenkundige und zu-gleich schmerzlich geleugnete jüdische Prägung miteinbezogen wird(s. mein Beitrag in: H. R. Schlette, 1985).

Da Simone Weil selber ihre Zugehörigkeit zum Judentum nicht leug-nen, aber auch nicht akzeptieren konnte, wurde diese zur immer er-drückenderen Last der persönlichen Spaltung. Ein Teil davon zeigte sichsowohl in der beinah symbiotischen Beziehung zu ihrem Bruder wie auchin der kindhaften, nicht lösbaren Abhängigkeit von Mutter und Vater, vonderen Präsenz und Fürsorge nicht nur das Überleben in der Kindheit, son-dern auch jede Erholungsmöglichkeit in den Jahren zwischen Studienab-schluss und Kriegsbeginn abhing. In innerfamiliärer Hinsicht war das Jü-dischsein bedeutungslos. Doch als Simone Weil nach der endlich zustandegekommenen gemeinsamen Ankunft in New York wie unter verzweifel-tem Zwang die Eltern verließ, um im Kreis der französischen Exilregie-rung wenigsten ihre Identität als Französin bestätigt zu finden, war es ihrnicht mehr möglich, eine unabhängige und stärkende Lebenszustimmungaufzubauen. Letztlich musste sie zusätzlich zur Trennung ihr „jüdischesAussehen“ als Grund des ihr von offizieller Seite nicht zugestandenenEinsatzes in Frankreich hinnehmen, als nicht mehr tragbares Signum.

Der Mangel an elterlicher Nähe verstärkte das Verhängnis der selbst-verneinenden Leidenspflicht, die mit dem Zwang zu hungern überhand-nahm und tödlich endete. Ihr geheimer, „stiller Schrei, anders gelesen zuwerden“ (Cahiers I, 211), wurde nicht gehört. Gerechtigkeit gab es für siekeine – außer, dass auch sie hungerte, da Abertausende von Menschenhungern mussten und an Hunger starben. War daher „sym-pathein“ re-spektive „mit-leiden“ bis zum Tod die einzige Gerechtigkeit? Gab es fürSimone Weil nur diesen Weg „hin zu mehr Wirklichkeit“?

4. Abschließende Überlegungen

Hebel und Blindenstab

Simone Weil hatte seit der Fabrikarbeit und der zusätzlichen Erfahrungmenschlicher Entwertung in ihren Aufzeichnungen häufig das Bild desHebels verwendet. In der Wartezeit in Marseille hielt sie fest: „Begriff desergriffen fühlte sie sich in der kleinen Kirche von Assisi, wo sie eine gött-liche Nähe spürte, die sie auf vergleichbare Weise kaum erlebt hatte, wiesie in ihren Notizen festhielt; höchstens 1935, als sie mit ihren Eltern nachSpanien und Portugal gefahren war und in einem portugiesischen Fischer-dorf von der Religiosität der armen Bevölkerung berührt wurde.

Diese Erfahrung wühlte sie auf und schien ihr zu offenbaren, dass es dieZugehörigkeit zur Religion der Armen war, deren sie bedurfte. Wiederumverband sie damit nicht das Judentum, doch ebenso wenig den von Romund vom Papsttum beherrschten Katholizismus. Es war das ursprüngliche,allein auf die Gestalt Jesu bezogene Christentum, das sie bewegte. DassJesus ein essenischer Jude respektive ein jüdischer Revolutionär gewesenwar, schien sie nicht zu beachten.

Ein Weggleiten in mystische Erfahrungen prägte ab 1938 Simone Weilzunehmend. Nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland und dersich verengenden Spirale von antijüdischer Hetze, von faschistischer Pro-paganda und Kriegsvorbereitung wurde die Lebenssituation in Frankreichimmer bedrückender und damit die Frage nach ihrer Identität. Sie warFranzösin, als Französin aber allmählich eine rechtlose Fremde; sie wareine anarchistische Marxistin, die jede Parteimacht ablehnte, die sich mitder Ohnmacht der erniedrigten „Sklaven“ verband und sich gleichzeitigverpflichtet fühlte, auf aktive Weise die Kraft des Denkens für Gerechtig-keit und für friedenserhaltende Möglichkeiten einzusetzen. Sie war auchvernunftgläubige Kartesianerin und zugleich sokratische Skeptikerin. Siewar ein beziehungshungriger Mensch, der sich als Frau nicht genügte undmännlicher Liebe nicht traute, der das ganze Streben nach tiefster Verbin-dung auf den geheimnisvollen Gott ausrichtete. Ihr Weg ging über dieSuche nach einer Übereinstimmung von antiken Mythologien und religiö-ser Erfahrung, durch welche endlich ihr schwer akzeptierbares Ich mit dergöttlichen Transzendenz in nächste, ja symbiotische Übereinstimmungkäme. Doch wie konnte sie dies erreichen?

Wie sehr Simone Weil Intellekt und Willen auch anstrengte, um sich ausdem Zwiespalt der Identität zu lösen, umso mehr musste sie als unge-nügend empfinden, was auf der Ebene der abstrakten Erkenntnis Klarheitbedeutete. Dass sie sich zunehmend der Vorstellungskraft überließ, umder mystischen Verbindung mit den Leidenden, insbesondere mit dem lei-denden Jesu nahe zu kommen, ermöglichte ihr die Rechtfertigung deseigenen Leidens. Immer wieder stellt sich die Frage, warum sie gerade denmystischen Teil des Judentums, die warmen, galizischen Sabbatabende undJahresfeste, auch die von messianischer Sehnsucht getragene Literaturnicht an sich heranließ, warum sie das Judentum nicht als Religion dermessianischen Hoffnung in ihr Verstehen der antiken Religionen mitein-beziehen wollte respektive konnte. War es, um mehr zu leiden? Denn invielen Teilen ihrer Aufzeichnungen findet sich eine Nähe nicht nur zuHiob und zu Kohelet, sondern auch zu neueren jüdischen Aspekten, etwain ihrer Darstellung der vom schuldhaften Menschsein gekennzeichneten,schöpferischen Aufgabe jedes Menschen, welche bis zur „décréation“, zur„Entwerdung“ geht, vergleichbar dem kabbalistischen Tikkun. Es gab nurwenige unter den jüdischen Interpreten von Simone Weils Schriften, etwaWladimir Rabi, die der Überzeugung sind, dass die Komplexität ihresWerkes nur verstanden werden kann, wenn ihre offenkundige und zu-gleich schmerzlich geleugnete jüdische Prägung miteinbezogen wird(s. mein Beitrag in: H. R. Schlette, 1985).

Da Simone Weil selber ihre Zugehörigkeit zum Judentum nicht leug-nen, aber auch nicht akzeptieren konnte, wurde diese zur immer er-drückenderen Last der persönlichen Spaltung. Ein Teil davon zeigte sichsowohl in der beinah symbiotischen Beziehung zu ihrem Bruder wie auchin der kindhaften, nicht lösbaren Abhängigkeit von Mutter und Vater, vonderen Präsenz und Fürsorge nicht nur das Überleben in der Kindheit, son-dern auch jede Erholungsmöglichkeit in den Jahren zwischen Studienab-schluss und Kriegsbeginn abhing. In innerfamiliärer Hinsicht war das Jü-dischsein bedeutungslos. Doch als Simone Weil nach der endlich zustandegekommenen gemeinsamen Ankunft in New York wie unter verzweifel-tem Zwang die Eltern verließ, um im Kreis der französischen Exilregie-rung wenigsten ihre Identität als Französin bestätigt zu finden, war es ihrnicht mehr möglich, eine unabhängige und stärkende Lebenszustimmungaufzubauen. Letztlich musste sie zusätzlich zur Trennung ihr „jüdischesAussehen“ als Grund des ihr von offizieller Seite nicht zugestandenenEinsatzes in Frankreich hinnehmen, als nicht mehr tragbares Signum.

Der Mangel an elterlicher Nähe verstärkte das Verhängnis der selbst-verneinenden Leidenspflicht, die mit dem Zwang zu hungern überhand-nahm und tödlich endete. Ihr geheimer, „stiller Schrei, anders gelesen zuwerden“ (Cahiers I, 211), wurde nicht gehört. Gerechtigkeit gab es für siekeine – außer, dass auch sie hungerte, da Abertausende von Menschenhungern mussten und an Hunger starben. War daher „sym-pathein“ re-spektive „mit-leiden“ bis zum Tod die einzige Gerechtigkeit? Gab es fürSimone Weil nur diesen Weg „hin zu mehr Wirklichkeit“?

4. Abschließende Überlegungen

Hebel und Blindenstab

Simone Weil hatte seit der Fabrikarbeit und der zusätzlichen Erfahrungmenschlicher Entwertung in ihren Aufzeichnungen häufig das Bild desHebels verwendet. In der Wartezeit in Marseille hielt sie fest: „Begriff desHebels auf das innere Leben angewendet (dem Begriff der Energie ent-sprechend). Wenn kein Hebel da ist, verändert man auf der gleichenEbene, anstatt in Richtung auf einen größeren Wert umzugestalten. Hebelund Blindenstock“ (Cahiers I, 212). Ein wenig später folgte: „Handlungen,die wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind. Wie funktioniert das?“ (Ca- hiers I , 215). Hatte für sie das „Sym-pathein“ – das „Mit-leiden“ als Maß-stab der Empfindung die Bedeutung des Hebels?

Mit dem Bild des Hebels hatte Simone Weil einen physikalischen Ver-gleich gewählt, um dem Geheimnis der Handlungsentscheide und derenUmsetzung auf die Spur zu kommen. Wieder verband sie Philosophie mitMathematik respektive Physik. Da, wo es sich um den Einsatz von physi-kalischer Energie – von Kraft handelt –, kommt dank des Hebels eine viel-fache Steigerung der Wirkung zustande, ohne dass der Aufwand vergrö-ßert werden müsste. Es heißt bei ihr ja unmissverständlich, sie versteheden „Begriff des Hebels auf das innere Leben angewandt (dem Begriff derEnergie entsprechend)“. Sie hatte genügend erfahren, dass, solange Wis-sen an Wissen addiert wird, d.h. solange kein Hebel da ist“, Veränderun-gen höchstens „auf der gleichen Ebene“ erfolgen, im Sinn einer Summie-rung von Wissen, dass auf diese Weise jedoch keine Veränderung derWirklichkeit entstehen kann. Sie überlegte sich, welche Form der Energiedie Hebelwirkung auslösen könnte. „Wie funktioniert das?“ Sie hielt fest,es gehe dabei um „das innere Leben“. Heißt das, dass für sie die Verinner-lichung des Wissens vom intellektuellen Bereich in jenen der geheimenKräfte der Psyche – der Empfindungen – akzeptiert wurde? Dass sie dieklärende Selbstbefragung zuließ, um die verschlossene innere Tür vomUnbewussten ins Bewusstsein, von den Empfindungen ins Wissen, zu öff-nen? Bedeutete dies für sie „hin zu mehr Wirklichkeit“?

In der gleichen Zeit hielt Simone Weil die Erkenntnis fest, der sie denBegriff „Gerechtigkeit“ voranstellte, dass „jedes Wesen im stillen schreit,um anders gelesen zu werden“. Konnte der „Hebel (auf das innere Lebenangewendet)“ das „anders lesen“ ermöglichen? Doch wie? Bedurfte es inder Summierung von Erfahrungen, durch welche sie immer wieder „einenSchirm (einen weiteren Schirm) zwischen sich und der Wirklichkeit schaf-fen“ wollte (Cahiers I, 215), der äußersten Verzweiflung?

Die Kraft des Verdrängens hatte für Simone Weil tatsächlich eineSchirmfunktion gehabt. Sie hatte sich mehrere Schichten eines „Schirms“geschaffen, und diese hatten zu Handlungsentscheiden stimuliert, diekompensatorischen, verhüllenden, hemmenden oder abwehrenden Cha-rakter hatten. Es waren Abwehrmechanismen gegen die vielfachen Teileder inneren Wirklichkeit, die „anders zu lesen“ sie sich selbst nicht gestat-tete. Der Schirm war so dicht und undurchdringlich geworden, dass er zurKapsel wurde und zur Abkapselung führte, bis zur letzten Flucht nachLondon mit dem Wunsch, sich als Französin für Frankreich zu opfern.„Das Sich-selbst-Belügen geht aus einer lebenswichtigen Notwendigkeithervor, wenn man nicht entschlossen ist zu sterben“, hatte sie notiert (Cahiers I, 212).

Wiederum war es ein Entweder-Oder, das in ihr zu einer Entscheidungdrängte. Warum ermöglichte sie sich nicht einen dritten Weg, auf welchemweder ein Verdrängen des vielschichtigen inneren Lebens noch ein Sich-selbst-Belügen nötig war, um zu leben? Warum verband sie die innereKlarheit, durch welche sie das eigene „Andere“ in sich lesen konnte, mitdem Entschluss zu sterben? War es tatsächlich der letzte, verzweifelte Ver-such, das moralische Gebot der Gerechtigkeit durch das „Sym-pathein“ zuerfüllen? An Hunger zu sterben, weil ihr als „Jüdin“ das Recht zu lebennicht zustand?

Simone Weil selber hatte in jener Zeit Fragen notiert, die auf ihre eige-ne Auseinandersetzung hinweisen: „Wie ist der Widerspruch zu ertragenzwischen: im voraus jede mögliche Sache, ohne Ausnahme, für den Fall,daß sie eintritt, annehmen – und zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einerbestimmten Situation fast über die Grenze dessen, was man vermag,hinausgehen, um zu verhindern, daß eine gewisse Sache eintritt?“ (Cahiers I , 217). Heißt dies, dass sie, die schon 1941 von der Lebensbedrohung derJuden durch die Nazis auch in Frankreich wusste, die 1943 vermutlich vonder systematischen Tötung der Menschen in den Konzentrationslagern er-fahren hatte, sich entschlossen hatte, eher selber zu sterben als getötet zuwerden? Und da ihr die Möglichkeit, als Französin an der Front zu ster-ben, nicht zugestanden wurde, selber „über die Grenze dessen, was manvermag, hinauszugehen“?

Immer wieder frage ich mich, warum Simone Weil die Grenze ihrerKräfte überschritt, auch als sie keiner Selbsttäuschung mehr bedurfte. Sienotierte, als würde sie sich einer Weisheit aus dem Buch Kohelet erinnern:„Spüren, daß die eigene Dauer auch die Zeit der Welt ist“ (Cahiers I, 216).War es erst die letzte, äußerste Verzweiflung, die ihr die Erkenntnis der„Einwurzelung“ zugestand? Mit größter Konzentration schrieb sie ihrenEntwurf einer gerechteren Struktur des menschlichen Zusammenlebensnach dem Krieg zu Ende, tatsächlich im Sinn eines Testaments.

Konnte Simone Weil die vielfache „Entwurzelung“, die durch die Kon-tingenz der Widersprüchlichkeit in ihr die Intensität des Suchens nach„Einwurzelung“ bewirkt hatte, tatsächlich als „das Andere“ in ihr selber„lesen“? Ich nehme an, dass ihr dies möglich wurde, dass aber zugleich dieErkenntnis, dass alles, was sie vorher als Denken auf eine Ebene der Ab-straktion versetzt hatte, zutiefst mit ihren Empfindungen vernetzt war, dieletztlich auch ihre Handlungsentscheide beeinflussten. „Uns sind (in ge-wissem Sinne) nur Empfindungen gegeben, und was wir auch tun, wir kön-Hebels auf das innere Leben angewendet (dem Begriff der Energie ent-sprechend). Wenn kein Hebel da ist, verändert man auf der gleichen

Ebene, anstatt in Richtung auf einen größeren Wert umzugestalten. Hebelund Blindenstock“ (Cahiers I, 212). Ein wenig später folgte: „Handlungen,die wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind. Wie funktioniert das?“ (Ca- hiers I , 215). Hatte für sie das „Sym-pathein“ – das „Mit-leiden“ als Maß-stab der Empfindung die Bedeutung des Hebels?

Mit dem Bild des Hebels hatte Simone Weil einen physikalischen Ver-gleich gewählt, um dem Geheimnis der Handlungsentscheide und deren

Umsetzung auf die Spur zu kommen. Wieder verband sie Philosophie mit

Mathematik respektive Physik. Da, wo es sich um den Einsatz von physi-kalischer Energie – von Kraft handelt –, kommt dank des Hebels eine viel-fache Steigerung der Wirkung zustande, ohne dass der Aufwand vergrö-

ßert werden müsste. Es heißt bei ihr ja unmissverständlich, sie versteheden „Begriff des Hebels auf das innere Leben angewandt (dem Begriff der

Energie entsprechend)“. Sie hatte genügend erfahren, dass, solange Wis-sen an Wissen addiert wird, d.h. solange kein Hebel da ist“, Veränderun-gen höchstens „auf der gleichen Ebene“ erfolgen, im Sinn einer Summie-rung von Wissen, dass auf diese Weise jedoch keine Veränderung der

Wirklichkeit entstehen kann. Sie überlegte sich, welche Form der Energiedie Hebelwirkung auslösen könnte. „Wie funktioniert das?“ Sie hielt fest,es gehe dabei um „das innere Leben“. Heißt das, dass für sie die Verinner-lichung des Wissens vom intellektuellen Bereich in jenen der geheimen

Kräfte der Psyche – der Empfindungen – akzeptiert wurde? Dass sie dieklärende Selbstbefragung zuließ, um die verschlossene innere Tür vom

Unbewussten ins Bewusstsein, von den Empfindungen ins Wissen, zu öff-nen? Bedeutete dies für sie „hin zu mehr Wirklichkeit“?

In der gleichen Zeit hielt Simone Weil die Erkenntnis fest, der sie den

Begriff „Gerechtigkeit“ voranstellte, dass „jedes Wesen im stillen schreit,um anders gelesen zu werden“. Konnte der „Hebel (auf das innere Lebenangewendet)“ das „anders lesen“ ermöglichen? Doch wie? Bedurfte es inder Summierung von Erfahrungen, durch welche sie immer wieder „einen

Schirm (einen weiteren Schirm) zwischen sich und der Wirklichkeit schaf-fen“ wollte (Cahiers I, 215), der äußersten Verzweiflung?

Die Kraft des Verdrängens hatte für Simone Weil tatsächlich eine

Schirmfunktion gehabt. Sie hatte sich mehrere Schichten eines „Schirms“geschaffen, und diese hatten zu Handlungsentscheiden stimuliert, diekompensatorischen, verhüllenden, hemmenden oder abwehrenden Cha-rakter hatten. Es waren Abwehrmechanismen gegen die vielfachen Teileder inneren Wirklichkeit, die „anders zu lesen“ sie sich selbst nicht gestat-tete. Der Schirm war so dicht und undurchdringlich geworden, dass er zur

Kapsel wurde und zur Abkapselung führte, bis zur letzten Flucht nach

London mit dem Wunsch, sich als Französin für Frankreich zu opfern.„Das Sich-selbst-Belügen geht aus einer lebenswichtigen Notwendigkeithervor, wenn man nicht entschlossen ist zu sterben“, hatte sie notiert (Cahiers I, 212).

Wiederum war es ein Entweder-Oder, das in ihr zu einer Entscheidungdrängte. Warum ermöglichte sie sich nicht einen dritten Weg, auf welchemweder ein Verdrängen des vielschichtigen inneren Lebens noch ein Sich-selbst-Belügen nötig war, um zu leben? Warum verband sie die innereKlarheit, durch welche sie das eigene „Andere“ in sich lesen konnte, mitdem Entschluss zu sterben? War es tatsächlich der letzte, verzweifelte Ver-such, das moralische Gebot der Gerechtigkeit durch das „Sym-pathein“ zuerfüllen? An Hunger zu sterben, weil ihr als „Jüdin“ das Recht zu lebennicht zustand?

Simone Weil selber hatte in jener Zeit Fragen notiert, die auf ihre eige-ne Auseinandersetzung hinweisen: „Wie ist der Widerspruch zu ertragenzwischen: im voraus jede mögliche Sache, ohne Ausnahme, für den Fall,daß sie eintritt, annehmen – und zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einerbestimmten Situation fast über die Grenze dessen, was man vermag,hinausgehen, um zu verhindern, daß eine gewisse Sache eintritt?“ (Cahiers I , 217). Heißt dies, dass sie, die schon 1941 von der Lebensbedrohung derJuden durch die Nazis auch in Frankreich wusste, die 1943 vermutlich vonder systematischen Tötung der Menschen in den Konzentrationslagern er-fahren hatte, sich entschlossen hatte, eher selber zu sterben als getötet zuwerden? Und da ihr die Möglichkeit, als Französin an der Front zu ster-ben, nicht zugestanden wurde, selber „über die Grenze dessen, was manvermag, hinauszugehen“?

Immer wieder frage ich mich, warum Simone Weil die Grenze ihrerKräfte überschritt, auch als sie keiner Selbsttäuschung mehr bedurfte. Sienotierte, als würde sie sich einer Weisheit aus dem Buch Kohelet erinnern:„Spüren, daß die eigene Dauer auch die Zeit der Welt ist“ (Cahiers I, 216).War es erst die letzte, äußerste Verzweiflung, die ihr die Erkenntnis der„Einwurzelung“ zugestand? Mit größter Konzentration schrieb sie ihrenEntwurf einer gerechteren Struktur des menschlichen Zusammenlebensnach dem Krieg zu Ende, tatsächlich im Sinn eines Testaments.

Konnte Simone Weil die vielfache „Entwurzelung“, die durch die Kon-tingenz der Widersprüchlichkeit in ihr die Intensität des Suchens nach„Einwurzelung“ bewirkt hatte, tatsächlich als „das Andere“ in ihr selber„lesen“? Ich nehme an, dass ihr dies möglich wurde, dass aber zugleich dieErkenntnis, dass alles, was sie vorher als Denken auf eine Ebene der Ab-straktion versetzt hatte, zutiefst mit ihren Empfindungen vernetzt war, dieletztlich auch ihre Handlungsentscheide beeinflussten. „Uns sind (in ge-wissem Sinne) nur Empfindungen gegeben, und was wir auch tun, wir kön-nen niemals, niemals etwas anderes denken (in gewissem Sinne) als Emp-findungen. Aber wir können niemals die Empfindungen denken; wir lesendurch sie hindurch. Was lesen wir? Nicht irgend etwas, wie es uns beliebt.Und auch nicht etwas, das in keiner Weise von uns abhinge“ (Cahiers I,182). Was Simone Weil zuletzt in sich „lesen“ konnte, auch wenn sie dasmoralische Gebot der Gerechtigkeit voransetzte, war die „dunkle Nacht“ihrer Erschöpfung, „la noche oscura“, wie sie das Bild von Juan de la Cruzübernahm, die Erschöpfung ihres Körpers und ihrer Seele, ein Ausmaß anErschöpfung, das die Möglichkeit des Tragbaren überschritten hatte undnur noch als Verzweiflung spürbar war. „Dunkle Nacht. Vielleicht muß derMensch (jedes Mal bis zum höchsten Zustand?) die Prüfung der fortwäh-renden Dauer durchlaufen (Hölle), bevor er Zutritt zur Ewigkeit erhält?“,hatte sie als Frage notiert (Cahiers I, 265). Konnte oder wollte sie die Zeit-losigkeit der „Prüfung“ nicht abwehren?

„Dunkle Nacht“: Als für Simone Weil die Komplexität ihrer Identitäts-probleme in das völlige Alleinsein mündete – allein als „Kind“, da erst-mals von der Nähe der Mutter und der „Gesundheitskontrolle“ der Elterngetrennt, allein als Frau, allein als Denkerin und allein als Jüdin –, alsweder Selbsttäuschung noch Negation mehr Sinn machten, als auch keinmoralisches Engagement mehr als „absolute“ Pflicht erklärt werden konn-te, blieb ihr, die vierunddreißig Jahre und etwas mehr als sechs Monatezählte, keine Kraft mehr, ihrem Lebenswert zuzustimmen. Hierin bestanddie Ätiopathogenese ihrer Anorexie: Sie ernährte sich nicht mehr, sie hun-gerte, bis sie verhungerte.

Kann ein Mensch – konnte Simone Weil – erst „anders gelesen wer-den“, wonach er „im stillen schreit“, wenn er/sie nicht mehr lebt?

Ich nehme an, dass für Simone Weil die Dauer des gelebten Lebens mitvielen Prüfungen durchgestanden war, wie die „Zeit der Welt“, so dass sienur noch auf den „Zutritt zur Ewigkeit“ wartete, auf die „Pforte, die sichöffnete, als alle Hoffnung aufgegeben war“, wie sie in einem Gedicht ge-schrieben hatte. In den letzten Zeilen fügte sie bei, was vermutlich vielweiter ging als das „Erkennen der Transzendenz“, wozu sie an der Grenzezwischen Kindheit und Jugend meinte, nicht fähig zu sein, da sie nie denhohen Rang, der nur Männern zustehe, erreichen werde:

Auswahlbibliographie

nen niemals, niemals etwas anderes denken (in gewissem Sinne) als Emp-findungen. Aber wir können niemals die Empfindungen denken; wir lesendurch sie hindurch. Was lesen wir? Nicht irgend etwas, wie es uns beliebt.Und auch nicht etwas, das in keiner Weise von uns abhinge“ (Cahiers I,182). Was Simone Weil zuletzt in sich „lesen“ konnte, auch wenn sie dasmoralische Gebot der Gerechtigkeit voransetzte, war die „dunkle Nacht“ihrer Erschöpfung, „la noche oscura“, wie sie das Bild von Juan de la Cruzübernahm, die Erschöpfung ihres Körpers und ihrer Seele, ein Ausmaß anErschöpfung, das die Möglichkeit des Tragbaren überschritten hatte undnur noch als Verzweiflung spürbar war. „Dunkle Nacht. Vielleicht muß derMensch (jedes Mal bis zum höchsten Zustand?) die Prüfung der fortwäh-renden Dauer durchlaufen (Hölle), bevor er Zutritt zur Ewigkeit erhält?“,hatte sie als Frage notiert (Cahiers I, 265). Konnte oder wollte sie die Zeit-losigkeit der „Prüfung“ nicht abwehren?

„Dunkle Nacht“: Als für Simone Weil die Komplexität ihrer Identitäts-probleme in das völlige Alleinsein mündete – allein als „Kind“, da erst-mals von der Nähe der Mutter und der „Gesundheitskontrolle“ der Elterngetrennt, allein als Frau, allein als Denkerin und allein als Jüdin –, alsweder Selbsttäuschung noch Negation mehr Sinn machten, als auch keinmoralisches Engagement mehr als „absolute“ Pflicht erklärt werden konn-te, blieb ihr, die vierunddreißig Jahre und etwas mehr als sechs Monatezählte, keine Kraft mehr, ihrem Lebenswert zuzustimmen. Hierin bestanddie Ätiopathogenese ihrer Anorexie: Sie ernährte sich nicht mehr, sie hun-gerte, bis sie verhungerte.

Kann ein Mensch – konnte Simone Weil – erst „anders gelesen wer-den“, wonach er „im stillen schreit“, wenn er/sie nicht mehr lebt?

Ich nehme an, dass für Simone Weil die Dauer des gelebten Lebens mitvielen Prüfungen durchgestanden war, wie die „Zeit der Welt“, so dass sienur noch auf den „Zutritt zur Ewigkeit“ wartete, auf die „Pforte, die sichöffnete, als alle Hoffnung aufgegeben war“, wie sie in einem Gedicht ge-schrieben hatte. In den letzten Zeilen fügte sie bei, was vermutlich vielweiter ging als das „Erkennen der Transzendenz“, wozu sie an der Grenzezwischen Kindheit und Jugend meinte, nicht fähig zu sein, da sie nie denhohen Rang, der nur Männern zustehe, erreichen werde:

Auswahlbibliographie

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SIMONE DE BEAUVOIR Kontingenz als Bedrohung, als Chance und als Gegenwart

Von Silvia Henke

1. Simone de Beauvoir: Kurzbiographie

Simone de Beauvoir wurde am 9. Januar 1908 in gutbürgerlichen Pariser

Verhältnissen geboren, das heißt, sie wurde in den 20er-Jahren des 20.Jahr-hunderts volljährig. Als Kind hatte sie den finanziellen Niedergang ihrer

Familie sowie die Wirren des Ersten Weltkriegs miterlebt. Als sie 1926 ihr

Studium an der Sorbonne begann, gehörte sie zur ersten Generation euro-päischer Frauen, die freien Zugang zu akademischen Institutionenhatte:1929 war Simone de Beauvoir die neunte Frau in Frankreich, die dasprestigeträchtige Examen der „agrégation“ in Philosophie bestand. Imgleichen Jahr hatte sie den drei Jahre älteren Jean-Paul Sartre kennen ge-lernt und eine Liebesbeziehung mit ihm begonnen, die beide fürs ganze

Leben verband. Kurz nach ihrem Examen starb ihre beste Freundin Zazaan einer Hirnhautentzündung – ein Tod, der Simone de Beauvoir lange be-schäftigte und der ihre ersten Schreibversuche prägte. 1931 trat Beauvoirihre erste Stelle als Philosophielehrerin in Marseille an und lernte an

Sartres Seite, was es heißt, eine intellektuelle Gefährtin zu sein, ohne die

Perspektive auf Ehe und Mutterschaft. Gemeinsam prägten sie den My-thos der Pariser Bohème im Zeichen der Existenzphilosophie Sartres. In

Simone de Beauvoirs erstem Roman L’invitée, den sie 1939 begann undder 1943 erschien, finden dieses Milieu, die Beziehung zu Sartre sowie die

Prämissen des Existentialismus eine ausführliche literarische Darstellung.

Mit dem Roman begründete Beauvoir ihre eigene schriftstellerische

Existenz. 1945 erschien ihr Theaterstück Les bouches inutiles, 1946 begannsie ihre große Untersuchung Le deuxième sexe, die, als sie 1949 erschien,

Simone de Beauvoirs Weltruhm begründete. 1947 war sie zum ersten Malnach Amerika gereist und hatte sich dort in den Schriftsteller Nelson

Algren verliebt – die einzige große Liebe neben Sartre, die im Paarkon-zept der beiden Platz hatte, von Algren aber in den 50er-Jahren gekündigtwurde. 1953 begann Simone de Beauvoir eine Beziehung zu Claude Lanz-mann und 1954 erhielt sie für ihren Schlüsseltext Les mandarins de Paris den Prix Goncourt, die höchste literarische Auszeichnung in Frankreich.

Es folgten verschiedene Essays und Romane, 1958 dann der erste der dreiMemoirenbände: Mémoires d’une jeune fille rangée. 1959 engagierte siesich mit Sartre und anderen französischen Intellektuellen gegen den Al-gerienkrieg, 1960 erschien der zweite Memoirenband, La force de l’âge. Inden 60er-Jahren bereiste sie mit Sartre den Fernen und Nahen Osten unddie UdSSR und veröffentlichte ihren dritten Memoirenband, La force des choses . Mit Sartre wurde sie zu einer wichtigen politischen Stimme undbeteiligte sich 1968 aktiv an den Studentenunruhen in Paris, die vor allemvon Sartre als Revolte begrüßt wurden. 1970 erschien La vieillesse, Beau-voirs große Studie über das Alter, gleichzeitig eine Auseinandersetzungmit dem eigenen Älterwerden. Erst 1974 wird Simone de Beauvoir er-nüchtert und enttäuscht von den Resultaten der linken Revolte; als beken-nende Feministin machte sie sich für den Schwangerschaftsabbruch stark,befreundete sich mit Alice Schwarzer und übernahm den Vorsitz der fran-zösischen Frauenrechtsliga. 1975 erhielt sie den Jerusalempreis. 1980 starbJean-Paul Sartre, 1981 veröffentlichte Simone de Beauvoir ihre Aufzeich-nungen zu und nach diesem Tod, La cérémonie des adieux; 1983 folgt einegekürzte Fassung ihres Briefwechsels mit Sartre. Ihre letzten Jahre lebtesie in einer engen Beziehung mit der dreiunddreißig Jahre jüngeren Sylviele Bon de Beauvoir, die sie zur Adoptivtochter machte. Am 14. April 1986starb Simone de Beauvoir achtundsiebzigjährig in Paris.

Simone de Beauvoirs Status als Philosophin ist ungesichert. In der aka-demischen feministischen Theorie in Frankreich und Deutschland ist ihrWerk weder als philosophisches noch als geschlechtertheoretisches zu gro-ßer Bedeutung gelangt. Ihr Name figuriert kaum in einer allgemeinenDarstellung der Existenzphilosophie, im Petit Larousse von 1974 steht beiSimone de Beauvoir: „Schriftstellerin, Schülerin Sartres“. In Frankreichwurde sie kurz nach ihrem Tod 1986 durch die Chefdenkerinnen der Ge-schlechterdifferenz – Luce Irigaray, Hélène Cixous und Antoinette Fou-que – als Vertreterin eines „gleichmacherischen, sterilisierenden Univer-salismus“ hart kritisiert1und ins Abseits gestellt. In Deutschland ist ihrName fest mit jenem von Alice Schwarzer verbunden, die sie als ihre Weg-gefährtin und Freundin in den 70er-Jahren in die publizistische Öffentlich-keit der Frauenbewegung gebracht, damit aber auch vom akademischenFeminismus entfernt hat.2Es war der pragmatisch ausgerichtete amerika-nische Feminismus, der bereits in den späten 60er-Jahren, vor allem aberin den 80er-Jahren Simone de Beauvoir in die akademische Diskussion ge-

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SIMONE DE BEAUVOIR Kontingenz als Bedrohung, als Chance und als Gegenwart

Von Silvia Henke

1. Simone de Beauvoir: Kurzbiographie

Simone de Beauvoir wurde am 9. Januar 1908 in gutbürgerlichen Pariser

Verhältnissen geboren, das heißt, sie wurde in den 20er-Jahren des 20.Jahr-hunderts volljährig. Als Kind hatte sie den finanziellen Niedergang ihrer

Familie sowie die Wirren des Ersten Weltkriegs miterlebt. Als sie 1926 ihr

Studium an der Sorbonne begann, gehörte sie zur ersten Generation euro-päischer Frauen, die freien Zugang zu akademischen Institutionenhatte:1929 war Simone de Beauvoir die neunte Frau in Frankreich, die dasprestigeträchtige Examen der „agrégation“ in Philosophie bestand. Imgleichen Jahr hatte sie den drei Jahre älteren Jean-Paul Sartre kennen ge-lernt und eine Liebesbeziehung mit ihm begonnen, die beide fürs ganze

Leben verband. Kurz nach ihrem Examen starb ihre beste Freundin Zazaan einer Hirnhautentzündung – ein Tod, der Simone de Beauvoir lange be-schäftigte und der ihre ersten Schreibversuche prägte. 1931 trat Beauvoirihre erste Stelle als Philosophielehrerin in Marseille an und lernte an

Sartres Seite, was es heißt, eine intellektuelle Gefährtin zu sein, ohne die

Perspektive auf Ehe und Mutterschaft. Gemeinsam prägten sie den My-thos der Pariser Bohème im Zeichen der Existenzphilosophie Sartres. In

Simone de Beauvoirs erstem Roman L’invitée, den sie 1939 begann undder 1943 erschien, finden dieses Milieu, die Beziehung zu Sartre sowie die

Prämissen des Existentialismus eine ausführliche literarische Darstellung.

Mit dem Roman begründete Beauvoir ihre eigene schriftstellerische

Existenz. 1945 erschien ihr Theaterstück Les bouches inutiles, 1946 begannsie ihre große Untersuchung Le deuxième sexe, die, als sie 1949 erschien,

Simone de Beauvoirs Weltruhm begründete. 1947 war sie zum ersten Malnach Amerika gereist und hatte sich dort in den Schriftsteller Nelson

Algren verliebt – die einzige große Liebe neben Sartre, die im Paarkon-zept der beiden Platz hatte, von Algren aber in den 50er-Jahren gekündigtwurde. 1953 begann Simone de Beauvoir eine Beziehung zu Claude Lanz-mann und 1954 erhielt sie für ihren Schlüsseltext Les mandarins de Paris den Prix Goncourt, die höchste literarische Auszeichnung in Frankreich.

Es folgten verschiedene Essays und Romane, 1958 dann der erste der dreiMemoirenbände: Mémoires d’une jeune fille rangée. 1959 engagierte siesich mit Sartre und anderen französischen Intellektuellen gegen den Al-gerienkrieg, 1960 erschien der zweite Memoirenband, La force de l’âge. Inden 60er-Jahren bereiste sie mit Sartre den Fernen und Nahen Osten unddie UdSSR und veröffentlichte ihren dritten Memoirenband, La force des choses . Mit Sartre wurde sie zu einer wichtigen politischen Stimme undbeteiligte sich 1968 aktiv an den Studentenunruhen in Paris, die vor allemvon Sartre als Revolte begrüßt wurden. 1970 erschien La vieillesse, Beau-voirs große Studie über das Alter, gleichzeitig eine Auseinandersetzungmit dem eigenen Älterwerden. Erst 1974 wird Simone de Beauvoir er-nüchtert und enttäuscht von den Resultaten der linken Revolte; als beken-nende Feministin machte sie sich für den Schwangerschaftsabbruch stark,befreundete sich mit Alice Schwarzer und übernahm den Vorsitz der fran-zösischen Frauenrechtsliga. 1975 erhielt sie den Jerusalempreis. 1980 starbJean-Paul Sartre, 1981 veröffentlichte Simone de Beauvoir ihre Aufzeich-nungen zu und nach diesem Tod, La cérémonie des adieux; 1983 folgt einegekürzte Fassung ihres Briefwechsels mit Sartre. Ihre letzten Jahre lebtesie in einer engen Beziehung mit der dreiunddreißig Jahre jüngeren Sylviele Bon de Beauvoir, die sie zur Adoptivtochter machte. Am 14. April 1986starb Simone de Beauvoir achtundsiebzigjährig in Paris.

Simone de Beauvoirs Status als Philosophin ist ungesichert. In der aka-demischen feministischen Theorie in Frankreich und Deutschland ist ihrWerk weder als philosophisches noch als geschlechtertheoretisches zu gro-ßer Bedeutung gelangt. Ihr Name figuriert kaum in einer allgemeinenDarstellung der Existenzphilosophie, im Petit Larousse von 1974 steht beiSimone de Beauvoir: „Schriftstellerin, Schülerin Sartres“. In Frankreichwurde sie kurz nach ihrem Tod 1986 durch die Chefdenkerinnen der Ge-schlechterdifferenz – Luce Irigaray, Hélène Cixous und Antoinette Fou-que – als Vertreterin eines „gleichmacherischen, sterilisierenden Univer-salismus“ hart kritisiert1und ins Abseits gestellt. In Deutschland ist ihrName fest mit jenem von Alice Schwarzer verbunden, die sie als ihre Weg-gefährtin und Freundin in den 70er-Jahren in die publizistische Öffentlich-keit der Frauenbewegung gebracht, damit aber auch vom akademischenFeminismus entfernt hat.2Es war der pragmatisch ausgerichtete amerika-nische Feminismus, der bereits in den späten 60er-Jahren, vor allem aberin den 80er-Jahren Simone de Beauvoir in die akademische Diskussion ge-bracht hat: Monique Wittig, Betty Friedan, Michèle le Doeuff und Nancy

Miller haben wesentlich beigetragen zu dieser amerikanischen ‘Beauvoir-

Schule’, aus der auch eine Revue hervorging, die Simone de Beauvoir

Studies , gegründet 1983 durch die Simone de Beauvoir Society in New

York. Zusätzliches Gewicht wurde dieser amerikanischen Rezeption von

Beauvoir durch einen – leider unübersetzten – Aufsatz und eine kritische

Würdigung in gender trouble von Judith Butler verliehen: Für die Unter-scheidung von ‘sex’ und ‘gender’ zeigte sich Beauvoir in Butlers Theorieals Vordenkerin3. Ebenfalls aus den amerikanischen gender studies ist inden letzten Jahren eine sehr differenzierte Studie der norwegischen Lite-raturwissenschaftlerin Toril Moi hervorgegangen – entstanden zwischen

Paris, Yale und Duke –, die das Werk Simone de Beauvoirs in den Kontexteiner aktuellen literaturtheoretischen und psychoanalytischen Geschlech-terforschung stellt.4In den Jahren 1998/1999, zum Anlass des fünfzigjähri-gen Erscheinens von Das andere Geschlecht, sind im französischen und vorallem im amerikanischen Raum einige kritische Auseinandersetzungenmit Beauvoirs Geschlechtertheorie erschienen.5

Die marginale Bedeutung Beauvoirs innerhalb der Gender Studies der

90er-Jahre steht im Kontrast zur anhaltenden Berühmtheit Simone de

Beauvoirs als Frau, als Intellektueller, als Lebensgefährtin Sartres, als

Symbol und Mythos eines feministischen Aufbruchs in den 60er- und 70er-

Jahren. Hunderttausende von Frauen haben weltweit Das andere Ge- schlecht als Vademecum für einen Ausbruch aus bürgerlichen Eheverhält-nissen und als Aufforderung zur Selbstbestimmung euphorisch begrüßtund – einige Zeugnisse können dies wohl belegen – ihr Leben nach der

Lektüre des Buches geändert.6Als Ikone hat Beauvoir in den letzten Jah-ren kaum an Glanz eingebüßt: Zwar haben die Publikationen von Tage-büchern und vor allem die Publikation ihres Briefwechsels mit Sartre dengroßen Mythos des lebenslänglichen Paarglücks auch in Frankreich brü-chig werden lassen, doch hat gerade diese Brüchigkeit das Interesse anBeauvoirs Lebensplan nochmals neu geweckt. Wie schmeckten die Früch-te der selbst verordneten Freiheit? Wie reibungslos realisiert sich ein fe-ministischer Lebensentwurf aus dem Geist des Existentialismus? DieseFragen haben auch Toril Moi zu ihrer Untersuchung motiviert, die aus-drücklich nicht einer Sachfrage gewidmet ist, sondern der „Psychographieeiner Intellektuellen“.

Die Vernachlässigung Beauvoirs als Philosophin kann und soll hiernicht ausgeglichen werden. Simone de Beauvoir war keine Philosophin imakademischen oder klassischen Sinn. Trotz ihrer erfolgreichen Philoso-phie-agrégation 1929 sah sie Philosophie als absolute Disziplin, als „plan-volles Delirium“, in dem ein Mann wie Sartre wohl brillieren konnte, fürdas ihr aber die Originalität fehle.

„Ich hielt mich jedoch nicht für eine Philosophin. Ich wußte sehr wohl,daß die Mühelosigkeit, mit der ich in einen Text eindrang, auf meinenMangel an produktiver Fantasie zurückging. Auf diesem Gebiet sind diewirklich schöpferischen Geister so selten, daß die Frage müßig ist, warumich nicht versuchte, mich unter sie zu reihen. […] Ich habe bereits gesagt,daß diese Art konsequenten Starrsinns der weiblichen Veranlagung fremdist.“7

Toril Moi hat in ihrer Untersuchung sehr schlüssig nachgewiesen, wiesich Beauvoir aufgrund dieser fehlenden „weiblichen Veranlagung“ (diesie natürlich erst ex post, das heißt dreißig Jahre später, als solche deklarie-ren konnte) für die Literatur entschieden und Sartre den Platz des Philo-sophen überlassen hat.8Und dies, obschon sie der Philosophie den Statuseiner Meisterdisziplin verlieh, der gegenüber ihr die Literatur nur wie eine„arme Verwandte“ vorkam – und obschon allein die Philosophie ihr pri-märes Verlangen zu verstehen befriedigen könne9. Man kann diesen Wech-bracht hat: Monique Wittig, Betty Friedan, Michèle le Doeuff und Nancy

Miller haben wesentlich beigetragen zu dieser amerikanischen ‘Beauvoir-

Schule’, aus der auch eine Revue hervorging, die Simone de Beauvoir

Studies , gegründet 1983 durch die Simone de Beauvoir Society in New

York. Zusätzliches Gewicht wurde dieser amerikanischen Rezeption von

Beauvoir durch einen – leider unübersetzten – Aufsatz und eine kritische

Würdigung in gender trouble von Judith Butler verliehen: Für die Unter-scheidung von ‘sex’ und ‘gender’ zeigte sich Beauvoir in Butlers Theorieals Vordenkerin3. Ebenfalls aus den amerikanischen gender studies ist inden letzten Jahren eine sehr differenzierte Studie der norwegischen Lite-raturwissenschaftlerin Toril Moi hervorgegangen – entstanden zwischen

Paris, Yale und Duke –, die das Werk Simone de Beauvoirs in den Kontexteiner aktuellen literaturtheoretischen und psychoanalytischen Geschlech-terforschung stellt.4In den Jahren 1998/1999, zum Anlass des fünfzigjähri-gen Erscheinens von Das andere Geschlecht, sind im französischen und vorallem im amerikanischen Raum einige kritische Auseinandersetzungenmit Beauvoirs Geschlechtertheorie erschienen.5

Die marginale Bedeutung Beauvoirs innerhalb der Gender Studies der

90er-Jahre steht im Kontrast zur anhaltenden Berühmtheit Simone de

Beauvoirs als Frau, als Intellektueller, als Lebensgefährtin Sartres, als

Symbol und Mythos eines feministischen Aufbruchs in den 60er- und 70er-

Jahren. Hunderttausende von Frauen haben weltweit Das andere Ge- schlecht als Vademecum für einen Ausbruch aus bürgerlichen Eheverhält-nissen und als Aufforderung zur Selbstbestimmung euphorisch begrüßtund – einige Zeugnisse können dies wohl belegen – ihr Leben nach der

Lektüre des Buches geändert.6Als Ikone hat Beauvoir in den letzten Jah-ren kaum an Glanz eingebüßt: Zwar haben die Publikationen von Tage-büchern und vor allem die Publikation ihres Briefwechsels mit Sartre dengroßen Mythos des lebenslänglichen Paarglücks auch in Frankreich brü-chig werden lassen, doch hat gerade diese Brüchigkeit das Interesse anBeauvoirs Lebensplan nochmals neu geweckt. Wie schmeckten die Früch-te der selbst verordneten Freiheit? Wie reibungslos realisiert sich ein fe-ministischer Lebensentwurf aus dem Geist des Existentialismus? DieseFragen haben auch Toril Moi zu ihrer Untersuchung motiviert, die aus-drücklich nicht einer Sachfrage gewidmet ist, sondern der „Psychographieeiner Intellektuellen“.

Die Vernachlässigung Beauvoirs als Philosophin kann und soll hiernicht ausgeglichen werden. Simone de Beauvoir war keine Philosophin imakademischen oder klassischen Sinn. Trotz ihrer erfolgreichen Philoso-phie-agrégation 1929 sah sie Philosophie als absolute Disziplin, als „plan-volles Delirium“, in dem ein Mann wie Sartre wohl brillieren konnte, fürdas ihr aber die Originalität fehle.

„Ich hielt mich jedoch nicht für eine Philosophin. Ich wußte sehr wohl,daß die Mühelosigkeit, mit der ich in einen Text eindrang, auf meinenMangel an produktiver Fantasie zurückging. Auf diesem Gebiet sind diewirklich schöpferischen Geister so selten, daß die Frage müßig ist, warumich nicht versuchte, mich unter sie zu reihen. […] Ich habe bereits gesagt,daß diese Art konsequenten Starrsinns der weiblichen Veranlagung fremdist.“7

Toril Moi hat in ihrer Untersuchung sehr schlüssig nachgewiesen, wiesich Beauvoir aufgrund dieser fehlenden „weiblichen Veranlagung“ (diesie natürlich erst ex post, das heißt dreißig Jahre später, als solche deklarie-ren konnte) für die Literatur entschieden und Sartre den Platz des Philo-sophen überlassen hat.8Und dies, obschon sie der Philosophie den Statuseiner Meisterdisziplin verlieh, der gegenüber ihr die Literatur nur wie eine„arme Verwandte“ vorkam – und obschon allein die Philosophie ihr pri-märes Verlangen zu verstehen befriedigen könne9. Man kann diesen Wech-sel von philosophischem Denken zu literarischem Schreiben mit Beau-voirs familiärem Hintergrund oder mit der Ausbildungssituation von Frau-en in den 20er-Jahren begründen oder ihn aus der Konstellation Lehrer

(Sartre) – Schülerin (Beauvoir) ableiten: Tatsache ist, dass sich Beauvoirals Schriftstellerin, Essayistin und Chronistin ihres eigenen Lebens ver-standen und profiliert hat. Neben ihren Romanen, Selbstzeugnissen und

Essays stehen ihre beiden großen Untersuchungen zum ‘anderen Ge-schlecht’ und zum ‘Alter’ die beide keine systematischen oder klassischphilosophischen Werke sind, sondern kulturgeschichtliche Abhandlungenaus dem Geiste des sartreschen Existentialismus und transdisziplinäre

Entwürfe eines (weiblichen) Diskurses der Befreiung. Die zwei wich-tigsten philosophischen oder geistesgeschichtlichen Maximen Beauvoirs

– der Existentialismus und die Befreiung der Unterdrückten – stellen Be-auvoirs ganzes Werk aber in ein interessantes und einmaliges Spannungs-feld: das Spannungsfeld zwischen einer bestimmten Freiheit, einem be-stimmten Telos und einer bestimmten Kontingenz des Geschlechts. Frei-heit, weil diese die oberste Maxime der sartreschen Existenzphilosophieist, Telos, weil Beauvoir als Materialistin wie als Feministin an die Emanzi-pation der unterdrückten Klasse, der unterdrückten Rasse und des unter-drückten Geschlechts geglaubt hat und Kontingenz, weil diese für Sartreund Beauvoir im Bereich der Partnerwahl im Unterschied zur ‘notwendi-gen Liebe’ eine entscheidende Rolle spielte. Dieses Spannungsfeld soll im

Folgenden nicht systematisch, sondern exemplarisch analysiert werden,anhand von zentralen Passagen aus Simone de Beauvoirs Werk.

2. Kontingenz als Bedrohung oder: Die Freiheit ist keine Frau

Bis 1943, also bis zum Erscheinen ihres ersten Romans L’Invitée (dt.:

Sie kam und blieb ),10war Simone de Beauvoir nichts weiter als eine

Gymnasiallehrerin und die Frau an Sartres Seite, die im Paris der Dreißi-ger und in den ersten Kriegsjahren den Mythos der Bohème und des

Existentialismus begründete. Mit L’Invitée hat Beauvoir sich auf Anhiebeinen Platz als Schriftstellerin erschrieben und ihren literarischen Ruhmbegründet. Im Zentrum des Romans steht die Freiheit, wie sie Sartre in

Das Sein und das Nichts entworfen hat: als absolute, als gegebene, als

Last, die jeder trägt – „condamné à la liberté“: „Der Mensch, der verur-teilt ist, frei zu sein, [trägt] das ganze Gewicht der Welt auf seinen Schul-tern: er ist, was seine Seinsweise betrifft, verantwortlich für die Welt undfür sich selbst.“11Diesen Begriff von Freiheit hat Simone de Beauvoirweitgehend übernommen und ihn ihrem ersten Roman, der gleichzeitig zuSartres Das Sein und das Nichts entstand, zu Grunde gelegt.12Insofern istes ein theoretischer, ein philosophischer Roman. Die Freiheit, um die esgeht, ist die Freiheit des Einzelnen angesichts der Ansprüche und Erwar-tungen des andern. Es ist die Romanfigur Françoise, aus deren Perspekti-ve die Geschichte hauptsächlich erzählt wird, die gleich zu Beginn diesesSpannungsfeld ausspricht: Es geht um das Bewusstsein der eigenenExistenz, das jederzeit bedroht wird durch die Tatsache, dass der andereauch ein Bewusstsein von uns haben kann:

„Man kann sich gar nicht vorstellen, daß die andern auch ein Bewußt-sein haben und sich selbst von innen heraus begreifen, genau so wie manselber es tut, sagte Françoise. Ich bin immer erschrocken, wenn mir daseinmal aufgeht. Man hat dann ein Gefühl als sei man ein Bild im Gehirneines andern“ (SK, 12).

Um dieses Bild, das ein fremdes, ein anderes Bewusstsein aus einemmacht, geht es im ganzen Roman: L’Invitée ist auch die präzise literarischeBeschreibung von Sartres berühmtem Diktum L’enfer c’est les autres – siesind die Hölle, weil sie unsere Freiheit und das Bewusstsein, allein und füruns zu existieren, und damit alle Möglichkeiten, unsere Existenz selber zuwählen, einschränken, verzerren, zurückweisen, verunmöglichen. Sie stel-len damit auch den Einbruch der Kontingenz in unseren Lebensentwurfdar und sind deshalb – wie die Kontingenz selber – bedrohlich. Interessantist nun, dass Beauvoir dieses Freiheitsproblem, das sich in Sartres Existen-tialismus auf den Menschen im Allgemeinen bezieht, zwischen Männernund Frauen ansiedelt und damit geschlechtsspezifisch interpretiert. Ober-flächlich gesehen ist L’Invitée eine Beziehungsgeschichte in der PariserBohème Ende der 30er-Jahre, in der es um Paare, Dreieckskonstruktio-nen, Eifersucht und Klatschsucht geht. Es ist die Geschichte eines intellek-tuellen Paars, Françoise und Pierre, die so sehr übereinstimmen, dass sieeinen Pakt schließen, der Pierre die Möglichkeit einräumt, sich in andereFrauen zu verlieben. Diese Frau wird die junge Xavière sein, die vom Paarnach Paris eingeladen wurde und die bei ihnen bleibt. Françoise bean-sprucht die Freiheit für andere Beziehungen zu Beginn des Romans nicht.Erst zu einem späten Zeitpunkt wird sie sich mit dem jungen Gerbert ein-lassen, der gleichzeitig eine Liebschaft mit Xavière hat. Obschon es sichsel von philosophischem Denken zu literarischem Schreiben mit Beau-voirs familiärem Hintergrund oder mit der Ausbildungssituation von Frau-en in den 20er-Jahren begründen oder ihn aus der Konstellation Lehrer(Sartre) – Schülerin (Beauvoir) ableiten: Tatsache ist, dass sich Beauvoirals Schriftstellerin, Essayistin und Chronistin ihres eigenen Lebens ver-standen und profiliert hat. Neben ihren Romanen, Selbstzeugnissen undEssays stehen ihre beiden großen Untersuchungen zum ‘anderen Ge-schlecht’ und zum ‘Alter’ die beide keine systematischen oder klassischphilosophischen Werke sind, sondern kulturgeschichtliche Abhandlungenaus dem Geiste des sartreschen Existentialismus und transdisziplinäreEntwürfe eines (weiblichen) Diskurses der Befreiung. Die zwei wich-tigsten philosophischen oder geistesgeschichtlichen Maximen Beauvoirs– der Existentialismus und die Befreiung der Unterdrückten – stellen Be-auvoirs ganzes Werk aber in ein interessantes und einmaliges Spannungs-feld: das Spannungsfeld zwischen einer bestimmten Freiheit, einem be-stimmten Telos und einer bestimmten Kontingenz des Geschlechts. Frei-heit, weil diese die oberste Maxime der sartreschen Existenzphilosophieist, Telos, weil Beauvoir als Materialistin wie als Feministin an die Emanzi-pation der unterdrückten Klasse, der unterdrückten Rasse und des unter-drückten Geschlechts geglaubt hat und Kontingenz, weil diese für Sartreund Beauvoir im Bereich der Partnerwahl im Unterschied zur ‘notwendi-gen Liebe’ eine entscheidende Rolle spielte. Dieses Spannungsfeld soll imFolgenden nicht systematisch, sondern exemplarisch analysiert werden,anhand von zentralen Passagen aus Simone de Beauvoirs Werk.

2. Kontingenz als Bedrohung oder: Die Freiheit ist keine Frau

Bis 1943, also bis zum Erscheinen ihres ersten Romans L’Invitée (dt.: Sie kam und blieb ),10war Simone de Beauvoir nichts weiter als eineGymnasiallehrerin und die Frau an Sartres Seite, die im Paris der Dreißi-ger und in den ersten Kriegsjahren den Mythos der Bohème und desExistentialismus begründete. Mit L’Invitée hat Beauvoir sich auf Anhiebeinen Platz als Schriftstellerin erschrieben und ihren literarischen Ruhmbegründet. Im Zentrum des Romans steht die Freiheit, wie sie Sartre in Das Sein und das Nichts entworfen hat: als absolute, als gegebene, alsLast, die jeder trägt – „condamné à la liberté“: „Der Mensch, der verur-teilt ist, frei zu sein, [trägt] das ganze Gewicht der Welt auf seinen Schul-tern: er ist, was seine Seinsweise betrifft, verantwortlich für die Welt undfür sich selbst.“11Diesen Begriff von Freiheit hat Simone de Beauvoirweitgehend übernommen und ihn ihrem ersten Roman, der gleichzeitig zuSartres Das Sein und das Nichts entstand, zu Grunde gelegt.12Insofern istes ein theoretischer, ein philosophischer Roman. Die Freiheit, um die esgeht, ist die Freiheit des Einzelnen angesichts der Ansprüche und Erwar-tungen des andern. Es ist die Romanfigur Françoise, aus deren Perspekti-ve die Geschichte hauptsächlich erzählt wird, die gleich zu Beginn diesesSpannungsfeld ausspricht: Es geht um das Bewusstsein der eigenenExistenz, das jederzeit bedroht wird durch die Tatsache, dass der andereauch ein Bewusstsein von uns haben kann:

„Man kann sich gar nicht vorstellen, daß die andern auch ein Bewußt-sein haben und sich selbst von innen heraus begreifen, genau so wie manselber es tut, sagte Françoise. Ich bin immer erschrocken, wenn mir daseinmal aufgeht. Man hat dann ein Gefühl als sei man ein Bild im Gehirneines andern“ (SK, 12).

Um dieses Bild, das ein fremdes, ein anderes Bewusstsein aus einemmacht, geht es im ganzen Roman: L’Invitée ist auch die präzise literarischeBeschreibung von Sartres berühmtem Diktum L’enfer c’est les autres – siesind die Hölle, weil sie unsere Freiheit und das Bewusstsein, allein und füruns zu existieren, und damit alle Möglichkeiten, unsere Existenz selber zuwählen, einschränken, verzerren, zurückweisen, verunmöglichen. Sie stel-len damit auch den Einbruch der Kontingenz in unseren Lebensentwurfdar und sind deshalb – wie die Kontingenz selber – bedrohlich. Interessantist nun, dass Beauvoir dieses Freiheitsproblem, das sich in Sartres Existen-tialismus auf den Menschen im Allgemeinen bezieht, zwischen Männernund Frauen ansiedelt und damit geschlechtsspezifisch interpretiert. Ober-flächlich gesehen ist L’Invitée eine Beziehungsgeschichte in der PariserBohème Ende der 30er-Jahre, in der es um Paare, Dreieckskonstruktio-nen, Eifersucht und Klatschsucht geht. Es ist die Geschichte eines intellek-tuellen Paars, Françoise und Pierre, die so sehr übereinstimmen, dass sieeinen Pakt schließen, der Pierre die Möglichkeit einräumt, sich in andereFrauen zu verlieben. Diese Frau wird die junge Xavière sein, die vom Paarnach Paris eingeladen wurde und die bei ihnen bleibt. Françoise bean-sprucht die Freiheit für andere Beziehungen zu Beginn des Romans nicht.Erst zu einem späten Zeitpunkt wird sie sich mit dem jungen Gerbert ein-lassen, der gleichzeitig eine Liebschaft mit Xavière hat. Obschon es sichalso um ein erotisches Quartett handelt, spielen die Männer für den Ver-lauf der Handlung kaum eine Rolle. Was nämlich im Einzelnen seziert undbeschrieben wird, sind die Bedingung weiblichen Handelns, die Möglich-keiten weiblicher Existenz und Selbstbestimmung. Ohne dass Beauvoirdies zu diesem Zeitpunkt anstrebte, hat sie in L’Invitée das Drama weib-licher Abhängigkeit beschrieben. Ein Drama, in dem es nicht um denMann als Schuldigen geht, denn die Hölle – und das ist es, was den Romanüber seine Zeit hinaus interessant macht – die Hölle sind nicht die Männerin diesem Roman, sondern die Frauen. Es sind die Frauen, die einanderbe- und verurteilen, es ist der weibliche Blick auf die Frau, der ihr Selbst-bild zerstört, es sind der Anblick und das Bewusstsein der andern, derfremden Frau – Xavière, der invitée, – die für Françoise zur äußersten Be-drohung werden: Konsequenterweise wird sie Xavière am Schluss des Ro-mans denn auch ermorden. Diesem letzten, ebenso absoluten wie unver-mittelten Akt geht ein Kreuzfeuer der Bilder und Blicke zwischen denbeiden voraus, eine Serie von obsessiven Bildern und tödlichen Blicken,mit welchen die zwei Frauen einander in einen Kokon von Neugier, Kon-spiration, Bewunderung, Eifersucht und schließlich Hass einweben. Undda das Geschehen vor allem durch Françoise geschildert wird, ist es immermehr der Anblick und die Existenz der fremden Frau, der für Françoisezur Hölle wird. Eine der vielen Nachtclub-Szenen, in welchen das Paar mitXavière die Dreiecksbeziehung in der Pariser demi-monde zelebriert, zeigtdie tödliche, die ‘wahnhafte’ Bedrohung des allseitig beglaubigten Frei-heitsplans radikal an:

„Françoise strich sich mit der Hand über die Stirn; sie war feucht, dieLuft war drückend heiß und in ihrem Inneren brannten Gedanken wieFlammen. Die feindselige Gegenwart, die sich soeben in einem Wahn-sinnslachen geoffenbart hatte, rückte immer näher heran; sie konnte siesich mit der unverhüllten Drohung, die darin beschlossen war, nicht mehrlänger verhehlen; Tag für Tag, Minute für Minute war Françoise geflüchtetvor der Gefahr; aber jetzt war es soweit, jetzt war das Unüberwindliche da,das sie in vielerlei unbestimmten Formen seit ihrer frühesten Kindheitschon hatte herannahen fühlen: in der wahnhaften Verzückung Xavières,ihrem Haß, ihrer Eifersucht brach das Ärgernis aus, Auge in Auge mit Fra-nçoise und dennoch außerhalb von ihr existierte etwas wie ein endgültigesVerdikt, das unabänderlich war: frei, absolut, unerschütterlich erhob einfremdes Bewußtsein sein Haupt“ (SK, 272).

Während sich Françoise zunächst nur als „Gefangene“ des Paktes mitPierre sieht, wird sie hier zur Beute einer irrsinnigen und zerstörerischenKraft, die von Xavière ausgeht. Dabei ist es niemals einfach Eifersucht, dieFrançoise zu schaffen macht, denn Eifersucht ist für sie wie für Pierre einverächtliches Etikett, das sie beide zurückweisen, indem sie es andern an-hängen. Françoise hat niemals Angst, Pierre an Xavière zu verlieren. DieBedrohung, die von der jungen Frau ausgeht, ist deshalb ganz anders ge-zeichnet in den Schilderungen: Es ist das Wahnhafte, Unberechenbare, Ir-rationale und Verschlingende Xavières, dem sich Françosie ausgeliefertfühlt, gleichzeitig der Wunsch, mit der jungen Frau zu verschmelzen, „sichselber vollends zu vernichten“ (SK, 273). Interessant an dieser Konstella-tion ist, wie Toril Moi auch gezeigt hat, dass die Bedrohung, die Xavièrefür Françoise darstellt, der Bedrohung einer übermächtigen, verschlingen-den Mutter ähnelt13; auffällig dafür ist auch die exzessive Oralität, die mitXavière ins Bild gesetzt wird, sobald Françoise sie anblickt: Immer ist esihr Mund, sind es ihre Lippen, ihre Getränke und Zigaretten, die metony-misch für die Person im forschend-ängstlichen Blick von Françoise auf-tauchen, einmal ist es auch der Mund als „klaffende Wunde“ mit „ver-borgenem, giftigem Fruchtfleisch“, der zum Spiegel der Haßbeziehungzwischen den beiden Frauen wird (SK, 272). In dieser tödlichen Ver-schmelzung erhält Xavière eine Definitionsmacht über Françoise, dasheißt, das fremde Bewusstsein ist stärker geworden als das Selbstbewusst-sein – eine existentielle wie existentialistische Katastrophe. Françoise tötetXavière nicht aus Eifersucht, sondern um das Bewusstsein zu töten, das sievon ihr (Françoise) hat, und das für sie ebenso unerträglich wie unzugäng-lich ist:

„Ein Bewußtsein vernichten. Wie kann ich das? Dachte Françoise. Aberwie war es möglich, daß ein Bewußtsein existierte, das nicht ihr eigeneswar? Dann existierte sie selbst eben nicht“ (SK, 377).

Obschon der Anlass äußerlich gesehen banal ist (Françoise erträgt esnicht, dass Xavière ihrer Liebesaffäre mit Gerbert Eifersucht und Rach-sucht unterstellt) und obschon die Flucht in den Mord übertrieben undmelodramatisch ist14, ist Françoises Tat philosophisch wie psychoanalytischpräzise motiviert: Erst mit diesem Mord an der mütterlich-verschlingen-den Tochtermutter hat sie sich „gewählt“, hat ihr Ich sich im existentialisti-schen Sinn vollzogen, hat sie sich dem zerstörerischen fremden Bewusst-sein entzogen. Mit dem Mord an Xavière wird aber nicht nur eine müt-terliche Figur beseitigt, sondern auch das Prinzip der Kontingenz, dasXavière in diesem Roman darstellt: Launisch, unberechenbar, undurch-schaubar und irrational stellt sie den Rationalismus von Pierre und Fran-çoise auf die Probe und markiert damit den Ort des Kontingenten inBeauvoirs literarisch-philosophischer Konzeption als katastrophalen. DieSelbstbegründung von Françoise am Ende des Romans basiert auf demalso um ein erotisches Quartett handelt, spielen die Männer für den Ver-lauf der Handlung kaum eine Rolle. Was nämlich im Einzelnen seziert undbeschrieben wird, sind die Bedingung weiblichen Handelns, die Möglich-keiten weiblicher Existenz und Selbstbestimmung. Ohne dass Beauvoirdies zu diesem Zeitpunkt anstrebte, hat sie in L’Invitée das Drama weib-licher Abhängigkeit beschrieben. Ein Drama, in dem es nicht um denMann als Schuldigen geht, denn die Hölle – und das ist es, was den Romanüber seine Zeit hinaus interessant macht – die Hölle sind nicht die Männerin diesem Roman, sondern die Frauen. Es sind die Frauen, die einanderbe- und verurteilen, es ist der weibliche Blick auf die Frau, der ihr Selbst-bild zerstört, es sind der Anblick und das Bewusstsein der andern, derfremden Frau – Xavière, der invitée, – die für Françoise zur äußersten Be-drohung werden: Konsequenterweise wird sie Xavière am Schluss des Ro-mans denn auch ermorden. Diesem letzten, ebenso absoluten wie unver-mittelten Akt geht ein Kreuzfeuer der Bilder und Blicke zwischen denbeiden voraus, eine Serie von obsessiven Bildern und tödlichen Blicken,mit welchen die zwei Frauen einander in einen Kokon von Neugier, Kon-spiration, Bewunderung, Eifersucht und schließlich Hass einweben. Undda das Geschehen vor allem durch Françoise geschildert wird, ist es immermehr der Anblick und die Existenz der fremden Frau, der für Françoisezur Hölle wird. Eine der vielen Nachtclub-Szenen, in welchen das Paar mitXavière die Dreiecksbeziehung in der Pariser demi-monde zelebriert, zeigtdie tödliche, die ‘wahnhafte’ Bedrohung des allseitig beglaubigten Frei-heitsplans radikal an:

„Françoise strich sich mit der Hand über die Stirn; sie war feucht, dieLuft war drückend heiß und in ihrem Inneren brannten Gedanken wieFlammen. Die feindselige Gegenwart, die sich soeben in einem Wahn-sinnslachen geoffenbart hatte, rückte immer näher heran; sie konnte siesich mit der unverhüllten Drohung, die darin beschlossen war, nicht mehrlänger verhehlen; Tag für Tag, Minute für Minute war Françoise geflüchtetvor der Gefahr; aber jetzt war es soweit, jetzt war das Unüberwindliche da,das sie in vielerlei unbestimmten Formen seit ihrer frühesten Kindheitschon hatte herannahen fühlen: in der wahnhaften Verzückung Xavières,ihrem Haß, ihrer Eifersucht brach das Ärgernis aus, Auge in Auge mit Fra-nçoise und dennoch außerhalb von ihr existierte etwas wie ein endgültigesVerdikt, das unabänderlich war: frei, absolut, unerschütterlich erhob einfremdes Bewußtsein sein Haupt“ (SK, 272).

Während sich Françoise zunächst nur als „Gefangene“ des Paktes mitPierre sieht, wird sie hier zur Beute einer irrsinnigen und zerstörerischenKraft, die von Xavière ausgeht. Dabei ist es niemals einfach Eifersucht, dieFrançoise zu schaffen macht, denn Eifersucht ist für sie wie für Pierre einverächtliches Etikett, das sie beide zurückweisen, indem sie es andern an-hängen. Françoise hat niemals Angst, Pierre an Xavière zu verlieren. DieBedrohung, die von der jungen Frau ausgeht, ist deshalb ganz anders ge-zeichnet in den Schilderungen: Es ist das Wahnhafte, Unberechenbare, Ir-rationale und Verschlingende Xavières, dem sich Françosie ausgeliefertfühlt, gleichzeitig der Wunsch, mit der jungen Frau zu verschmelzen, „sichselber vollends zu vernichten“ (SK, 273). Interessant an dieser Konstella-tion ist, wie Toril Moi auch gezeigt hat, dass die Bedrohung, die Xavièrefür Françoise darstellt, der Bedrohung einer übermächtigen, verschlingen-den Mutter ähnelt13; auffällig dafür ist auch die exzessive Oralität, die mitXavière ins Bild gesetzt wird, sobald Françoise sie anblickt: Immer ist esihr Mund, sind es ihre Lippen, ihre Getränke und Zigaretten, die metony-misch für die Person im forschend-ängstlichen Blick von Françoise auf-tauchen, einmal ist es auch der Mund als „klaffende Wunde“ mit „ver-borgenem, giftigem Fruchtfleisch“, der zum Spiegel der Haßbeziehungzwischen den beiden Frauen wird (SK, 272). In dieser tödlichen Ver-schmelzung erhält Xavière eine Definitionsmacht über Françoise, dasheißt, das fremde Bewusstsein ist stärker geworden als das Selbstbewusst-sein – eine existentielle wie existentialistische Katastrophe. Françoise tötetXavière nicht aus Eifersucht, sondern um das Bewusstsein zu töten, das sievon ihr (Françoise) hat, und das für sie ebenso unerträglich wie unzugäng-lich ist:

„Ein Bewußtsein vernichten. Wie kann ich das? Dachte Françoise. Aberwie war es möglich, daß ein Bewußtsein existierte, das nicht ihr eigeneswar? Dann existierte sie selbst eben nicht“ (SK, 377).

Obschon der Anlass äußerlich gesehen banal ist (Françoise erträgt esnicht, dass Xavière ihrer Liebesaffäre mit Gerbert Eifersucht und Rach-sucht unterstellt) und obschon die Flucht in den Mord übertrieben undmelodramatisch ist14, ist Françoises Tat philosophisch wie psychoanalytischpräzise motiviert: Erst mit diesem Mord an der mütterlich-verschlingen-den Tochtermutter hat sie sich „gewählt“, hat ihr Ich sich im existentialisti-schen Sinn vollzogen, hat sie sich dem zerstörerischen fremden Bewusst-sein entzogen. Mit dem Mord an Xavière wird aber nicht nur eine müt-terliche Figur beseitigt, sondern auch das Prinzip der Kontingenz, dasXavière in diesem Roman darstellt: Launisch, unberechenbar, undurch-schaubar und irrational stellt sie den Rationalismus von Pierre und Fran-çoise auf die Probe und markiert damit den Ort des Kontingenten inBeauvoirs literarisch-philosophischer Konzeption als katastrophalen. DieSelbstbegründung von Françoise am Ende des Romans basiert auf demfreien Willen zu einer Tat von existentialistischem Solipsismus und derkonsequenten Vernichtung einer mütterlich codierten Sphäre von Gefühlund Undifferenziertheit:

„Ihre Tat gehörte nur ihr. Ich will es. Ihr Wille vollzog sich in diesem Au-genblick, nichts trennte sie mehr von sich selbst. Sie hatte endlich gewählt.

Sie hatte sich gewählt“ (SK, 378).

So lautet der Schluss des Romans, dessen gewalttätiger Wendung Beau-voir zwar immer ambivalent gegenüberstehen wird15, der aber die Basislegt für ihr Selbstverständnis als Schriftstellerin. Es ist das Fertigwerdenmit der Kontingenz als äußerer Bedrohung, die zur Festigung des Ichsführt. „Das planlos zuckende Stück Leben“ (SK, 351), das Kontingenzoder Xavière heißt, wird dem Freiheitsplan von Françoise unterstellt. Im

Sinne Sartres hat Françoise gehandelt, bezogen auf Hannah Arendts

Unterscheidung von herstellen und handeln hat sie die Freiheit mit Ge-walt hergestellt: willkürlich und solipsistisch.16Dass sich Beauvoir auchspäter mit diesem Akt nie identifizieren mochte, zeigt den doch prekären

Zustand der so erworbenen Freiheit an. Es musste eine andere Theoriedes Handelns folgen.

3. Durch Kontingenz zur Befreiung: Das andere Geschlecht

Wenn Beauvoir in L’Invitée implizit eine Theorie weiblichen Handelnsentwirft, dann macht sie ebenso implizit deutlich, dass die existentialisti-sche Philosophie mit ihrem Paradigma der freien Tat und der freien Wahleine männliche ist. Verkörpert wird sie im Roman durch Pierre, dessen

Freiheit unbefragt im Mittelpunkt des Quartetts steht: Von Beruf Re-gisseur, zieht er die Fäden, aber mit der Unverfrorenheit eines Kindes,das seine Wünsche und Gefühle niemals durch ein fremdes Bewusstseinin Frage stellen ließe. Obschon die Unterhaltungen zwischen ihm und

Françoise zum Teil von bestürzender Peinlichkeit sind17, er seinem kind-lichen Besitzwunsch in Bezug auf Xavière freien Lauf lässt und Françoisein das letzte Detail seiner Gefühle für die andere Frau einweiht, ist seine„Offenheit“, die Transparenz und Freiheit, alles zu sagen, das höchsteIdeal innerhalb des emotionalen Sumpfes, in dem die beiden Frauenwaten. Niemals kann Pierre kritisiert werden, niemals darf ihm etwas vor-geworfen werden, Pierre ist „einwandfrei“ (SK, 178), das heißt unanfecht-bar. Weil er frei mit und in sich ist, weil er sich nicht mit den Gefühlen an-derer identifiziert, weil er sein Leben und sich gewählt hat, verkörpert erdas universelle existentialistische Subjekt, das weder durch sein Ge-schlecht noch durch seinen Körper markiert oder beeinträchtigt wird.Françoise entdeckt also im Verlauf der Geschichte, dass die gemeinsamePaarformel „wir sind eins“ („on ne fait qu’un“) auf ihrer Abhängigkeitvon Pierre beruht: „Wir sind eins, schön, aber Pierre nahm für sich Selb-ständigkeit in Anspruch“ (SK, 58). Diese männliche Freiheit und Selbstän-digkeit kann und darf nicht kritisiert werden, weil sie das Ideal darstellt,genau so wie das Prinzip der absoluten Transparenz und der Transzen-denz, das Pierre verkörpert: Transparenz, weil er der Maxime folgt, allessagen zu dürfen, weil es nichts gebe, dessen er sich zu schämen brauche,weil es kein Unbewusstes gibt und jedes Gefühl vernünftig aufgeklärt wer-den kann18; Transzendenz, weil er sich und seine Erlebnisse außerhalb desHier und Jetzt in einem Werk ansiedelt und somit über die unmittelbarenoder immanenten Geschehnisse „erhaben ist“ (SK, 187). Diese Erhaben-heit wird von Françoise nicht angetastet, sie ist der einzige Weg in eine ge-lungene Existenz im Sinne des Sartre’schen Existentialismus. Bezeichnendist nun, dass Beauvoir diese Haltung der Transparenz und der Transzen-denz einer harten Kritik durch Xavière aussetzt. Sie ist es, die in der ent-scheidenden Unterhaltung zu dritt, in der sie von Pierre gezwungen wird,vor Françoise über ihre Gefühle und Liebeserlebnisse mit Pierre zu be-richten, ihm entgegenschleudert. „Das ist doch Wahnsinn […], so von sichselber zu sprechen als sei man ein Stück Holz“ (SK, 191).

Sich selbst zum Objekt machen, sich gefühllos zu geben für die vernünf-tige Darstellung einer Beziehung – das sind die rationalen Maximen vonSartre19. Dies als Wahnsinn zu bezeichnen, ist einzigartig und hätte niemalsfreien Willen zu einer Tat von existentialistischem Solipsismus und derkonsequenten Vernichtung einer mütterlich codierten Sphäre von Gefühlund Undifferenziertheit:

„Ihre Tat gehörte nur ihr. Ich will es. Ihr Wille vollzog sich in diesem Au-genblick, nichts trennte sie mehr von sich selbst. Sie hatte endlich gewählt.

Sie hatte sich gewählt“ (SK, 378).

So lautet der Schluss des Romans, dessen gewalttätiger Wendung Beau-voir zwar immer ambivalent gegenüberstehen wird15, der aber die Basislegt für ihr Selbstverständnis als Schriftstellerin. Es ist das Fertigwerdenmit der Kontingenz als äußerer Bedrohung, die zur Festigung des Ichsführt. „Das planlos zuckende Stück Leben“ (SK, 351), das Kontingenzoder Xavière heißt, wird dem Freiheitsplan von Françoise unterstellt. Im

Sinne Sartres hat Françoise gehandelt, bezogen auf Hannah Arendts

Unterscheidung von herstellen und handeln hat sie die Freiheit mit Ge-walt hergestellt: willkürlich und solipsistisch.16Dass sich Beauvoir auchspäter mit diesem Akt nie identifizieren mochte, zeigt den doch prekären

Zustand der so erworbenen Freiheit an. Es musste eine andere Theoriedes Handelns folgen.

3. Durch Kontingenz zur Befreiung: Das andere Geschlecht

Wenn Beauvoir in L’Invitée implizit eine Theorie weiblichen Handelnsentwirft, dann macht sie ebenso implizit deutlich, dass die existentialisti-sche Philosophie mit ihrem Paradigma der freien Tat und der freien Wahleine männliche ist. Verkörpert wird sie im Roman durch Pierre, dessen

Freiheit unbefragt im Mittelpunkt des Quartetts steht: Von Beruf Re-gisseur, zieht er die Fäden, aber mit der Unverfrorenheit eines Kindes,das seine Wünsche und Gefühle niemals durch ein fremdes Bewusstseinin Frage stellen ließe. Obschon die Unterhaltungen zwischen ihm und

Françoise zum Teil von bestürzender Peinlichkeit sind17, er seinem kind-lichen Besitzwunsch in Bezug auf Xavière freien Lauf lässt und Françoisein das letzte Detail seiner Gefühle für die andere Frau einweiht, ist seine„Offenheit“, die Transparenz und Freiheit, alles zu sagen, das höchsteIdeal innerhalb des emotionalen Sumpfes, in dem die beiden Frauenwaten. Niemals kann Pierre kritisiert werden, niemals darf ihm etwas vor-geworfen werden, Pierre ist „einwandfrei“ (SK, 178), das heißt unanfecht-bar. Weil er frei mit und in sich ist, weil er sich nicht mit den Gefühlen an-derer identifiziert, weil er sein Leben und sich gewählt hat, verkörpert erdas universelle existentialistische Subjekt, das weder durch sein Ge-schlecht noch durch seinen Körper markiert oder beeinträchtigt wird.Françoise entdeckt also im Verlauf der Geschichte, dass die gemeinsamePaarformel „wir sind eins“ („on ne fait qu’un“) auf ihrer Abhängigkeitvon Pierre beruht: „Wir sind eins, schön, aber Pierre nahm für sich Selb-ständigkeit in Anspruch“ (SK, 58). Diese männliche Freiheit und Selbstän-digkeit kann und darf nicht kritisiert werden, weil sie das Ideal darstellt,genau so wie das Prinzip der absoluten Transparenz und der Transzen-denz, das Pierre verkörpert: Transparenz, weil er der Maxime folgt, allessagen zu dürfen, weil es nichts gebe, dessen er sich zu schämen brauche,weil es kein Unbewusstes gibt und jedes Gefühl vernünftig aufgeklärt wer-den kann18; Transzendenz, weil er sich und seine Erlebnisse außerhalb desHier und Jetzt in einem Werk ansiedelt und somit über die unmittelbarenoder immanenten Geschehnisse „erhaben ist“ (SK, 187). Diese Erhaben-heit wird von Françoise nicht angetastet, sie ist der einzige Weg in eine ge-lungene Existenz im Sinne des Sartre’schen Existentialismus. Bezeichnendist nun, dass Beauvoir diese Haltung der Transparenz und der Transzen-denz einer harten Kritik durch Xavière aussetzt. Sie ist es, die in der ent-scheidenden Unterhaltung zu dritt, in der sie von Pierre gezwungen wird,vor Françoise über ihre Gefühle und Liebeserlebnisse mit Pierre zu be-richten, ihm entgegenschleudert. „Das ist doch Wahnsinn […], so von sichselber zu sprechen als sei man ein Stück Holz“ (SK, 191).

Sich selbst zum Objekt machen, sich gefühllos zu geben für die vernünf-tige Darstellung einer Beziehung – das sind die rationalen Maximen vonSartre19. Dies als Wahnsinn zu bezeichnen, ist einzigartig und hätte niemalsvon Françoise, dem alter ego von Simone de Beauvoir kommen können.Auch für sie war Sartre unantastbar. Und die weibliche Kritik an der auf-geklärten männlichen Überlegenheit steht denn auch auf sehr schwachenBeinen in einem Roman, in dem sich die Frauen durch ihre obsessiveSelbstbespiegelung, ihre fehlende Selbstbestimmung, ihr schwaches Egound die mangelnde Identifikation mit einem Beruf in Krankheit, Hysterie,Selbstzerstörung flüchten. Die Frauen in L’Invitée – auch die KünstlerinElisabeth, die dritte Hauptfigur, die in jeder Szene vor den Spiegel trittund dort in Krise und Panik gerät – sind somit die Negativfolie im existen-tialistischen Menschenbild. Und genau damit hat Beauvoir das feministi-sche Bewusstsein, ihr ganz spezifisches feministisches Bewusstsein ausdem Geist des Existentialismus geweckt. Was folgen musste, war ein Buchder Befreiung und das war Das andere Geschlecht, an dem sie von 1946 bis1948 gearbeitet hat. Die theoretische Voraussetzung dafür war, den onto-logischen Status der Freiheit aufzubrechen: Bei Sartre sind alle Menschenzur Freiheit verdammt, und es ist einzig eine Frage des Bewusstseins, objemand sich mit einer Handlung identisch und frei fühlt oder ob eineHandlung ohne Bewusstsein, das heißt ohne Transzendenz zur Unfreiheitund zur Unaufrichtigkeit („mauvaise foi“) führt. Die entscheidende Ver-schiebung, die Beauvoir diesem voluntaristischen Konzept gegenüber vor-nimmt, ist, dass sie die Verantwortung für ein Leben in der Immanenz undUnfreiheit relativiert durch die gesellschaftlichen, politischen und histori-schen Lebensbedingungen. Demnach ist nicht mehr jeder selbstverant-wortlich für sein Tun oder Nichttun, seine Freiheit oder seine Unfreiheit:Es gibt ein „absolutes Übel“, einen „moralischen Fehler“ – nämlich denAbsturz in Immanenz und Faktizität, der nicht selbst gewählt, sondern„auferlegt“ ist (DAG, 24f.)20.

Mit der Erkenntnis, dass die weibliche Existenz durch kulturelle Ein-schränkungen begrenzt ist, bewegt sich Beauvoir weg von der sartreschenOntologie hin zur soziologischen, politischen, historischen und geschlech-terkritischen Analyse. Methodisch beinhaltet dieser Schritt auch die Ab-wendung von der notwendig seienden Freiheit hin zur Kontingenz. Dergrundlegende Satz, mit dem Beauvoir in die Geschichte der Geschlechter-forschung eingegangen ist, fasst diesen Schritt auf die kürzestmöglicheArt: „On ne naît pas femme, on le devient“ – „Man kommt nicht als Frauzur Welt, man wird zur Frau“. Viele Übersetzungen haben dieses offene„werden“ ergänzt durch „man wird zur Frau gemacht“21, bei Beauvoiraber beinhaltet das Werden beides: gesellschaftlicher und kultureller Rol-lenzwang einer auferlegten Geschlechtsidentität sowie die eigene Kon-struktion von Frausein als Erfüllung dieser auferlegten Geschlechtsiden-tität.22Das Frau-Werden ist mithin passiv und aktiv, was nicht unwichtig istfür die Frage der kontingenten Bestimmung des Geschlechts.

Der revolutionäre Gestus in Beauvoirs Das andere Geschlecht, der bisheute von erfrischender Aktualität ist, bleibt der Versuch, Frausein konse-quent von jeder natürlichen Begründung zu entfernen: Es gibt keine Bio-logie, keine Anatomie, keine Hormone oder natürlichen weiblichen In-stinkte, die über das Schicksal der Frau bestimmen – das ist der existentia-listische Ansatz, der jedes äußere Hindernis für die Wahl der eigenenExistenz und jeden Determinismus zurückweist. Daraus folgt konsequen-terweise, dass die Unterdrückung der Frauen nicht einfach vom Mannausgehen kann. Es ist einer der radikalsten Grundzüge von BeauvoirsAnalysen, dass sie an jedem Punkt die Dialektik von Herrschaft undKnechtschaft aufzeigt und damit den selbstverantworteten, aber gerne ta-buisierten Anteil der Frauen an ihrer Unmündigkeit zum Thema macht:

„Passivität, Verzicht, Verlorenheit, Unterordnung unter einen fremdenWillen, Mangel an Selbsterfüllung und Drangabe der Würde“ sind „derbequeme Weg, um der Angst und der Spannung der bejahten Existenz ausdem Wege zu gehen“ (DAG, 16).

Demgegenüber steht die grundlegende Feststellung Beauvoirs zu Be-ginn ihrer Untersuchung, die zigfach wiederholt wird im Laufe derselben,dass die Frauen in keinem Bereich jemals eine Chance gehabt haben, ins-besondere nicht im Bereich intellektueller und künstlerischer Leistungen:

„Wie hätten die Frauen jemals Genie aufweisen können, wo doch jedeMöglichkeit, ein geniales Werk – oder überhaupt ein Werk schlechthin –hervorzubringen, ihnen verweigert war?“ (DAG, 892).

Selbstverhinderung und gesellschaftliche Verhinderung: Diese zwei Per-spektiven kennzeichnen bei Beauvoir keinen Widerspruch, sondern eröff-nen die dialektische Perspektive, die sie wählt für ihre Bestimmungen.Ihre weit ausgespannte, in alle Bereiche führende Phänomenologie derUnterdrückung zeigt nämlich einerseits die Frau als die Andere und Un-von Françoise, dem alter ego von Simone de Beauvoir kommen können.Auch für sie war Sartre unantastbar. Und die weibliche Kritik an der auf-geklärten männlichen Überlegenheit steht denn auch auf sehr schwachenBeinen in einem Roman, in dem sich die Frauen durch ihre obsessiveSelbstbespiegelung, ihre fehlende Selbstbestimmung, ihr schwaches Egound die mangelnde Identifikation mit einem Beruf in Krankheit, Hysterie,Selbstzerstörung flüchten. Die Frauen in L’Invitée – auch die KünstlerinElisabeth, die dritte Hauptfigur, die in jeder Szene vor den Spiegel trittund dort in Krise und Panik gerät – sind somit die Negativfolie im existen-tialistischen Menschenbild. Und genau damit hat Beauvoir das feministi-sche Bewusstsein, ihr ganz spezifisches feministisches Bewusstsein ausdem Geist des Existentialismus geweckt. Was folgen musste, war ein Buchder Befreiung und das war Das andere Geschlecht, an dem sie von 1946 bis1948 gearbeitet hat. Die theoretische Voraussetzung dafür war, den onto-logischen Status der Freiheit aufzubrechen: Bei Sartre sind alle Menschenzur Freiheit verdammt, und es ist einzig eine Frage des Bewusstseins, objemand sich mit einer Handlung identisch und frei fühlt oder ob eineHandlung ohne Bewusstsein, das heißt ohne Transzendenz zur Unfreiheitund zur Unaufrichtigkeit („mauvaise foi“) führt. Die entscheidende Ver-schiebung, die Beauvoir diesem voluntaristischen Konzept gegenüber vor-nimmt, ist, dass sie die Verantwortung für ein Leben in der Immanenz undUnfreiheit relativiert durch die gesellschaftlichen, politischen und histori-schen Lebensbedingungen. Demnach ist nicht mehr jeder selbstverant-wortlich für sein Tun oder Nichttun, seine Freiheit oder seine Unfreiheit:Es gibt ein „absolutes Übel“, einen „moralischen Fehler“ – nämlich denAbsturz in Immanenz und Faktizität, der nicht selbst gewählt, sondern„auferlegt“ ist (DAG, 24f.)20.

Mit der Erkenntnis, dass die weibliche Existenz durch kulturelle Ein-schränkungen begrenzt ist, bewegt sich Beauvoir weg von der sartreschenOntologie hin zur soziologischen, politischen, historischen und geschlech-terkritischen Analyse. Methodisch beinhaltet dieser Schritt auch die Ab-wendung von der notwendig seienden Freiheit hin zur Kontingenz. Dergrundlegende Satz, mit dem Beauvoir in die Geschichte der Geschlechter-forschung eingegangen ist, fasst diesen Schritt auf die kürzestmöglicheArt: „On ne naît pas femme, on le devient“ – „Man kommt nicht als Frauzur Welt, man wird zur Frau“. Viele Übersetzungen haben dieses offene„werden“ ergänzt durch „man wird zur Frau gemacht“21, bei Beauvoiraber beinhaltet das Werden beides: gesellschaftlicher und kultureller Rol-lenzwang einer auferlegten Geschlechtsidentität sowie die eigene Kon-struktion von Frausein als Erfüllung dieser auferlegten Geschlechtsiden-tität.22Das Frau-Werden ist mithin passiv und aktiv, was nicht unwichtig istfür die Frage der kontingenten Bestimmung des Geschlechts.

Der revolutionäre Gestus in Beauvoirs Das andere Geschlecht, der bisheute von erfrischender Aktualität ist, bleibt der Versuch, Frausein konse-quent von jeder natürlichen Begründung zu entfernen: Es gibt keine Bio-logie, keine Anatomie, keine Hormone oder natürlichen weiblichen In-stinkte, die über das Schicksal der Frau bestimmen – das ist der existentia-listische Ansatz, der jedes äußere Hindernis für die Wahl der eigenenExistenz und jeden Determinismus zurückweist. Daraus folgt konsequen-terweise, dass die Unterdrückung der Frauen nicht einfach vom Mannausgehen kann. Es ist einer der radikalsten Grundzüge von BeauvoirsAnalysen, dass sie an jedem Punkt die Dialektik von Herrschaft undKnechtschaft aufzeigt und damit den selbstverantworteten, aber gerne ta-buisierten Anteil der Frauen an ihrer Unmündigkeit zum Thema macht:

„Passivität, Verzicht, Verlorenheit, Unterordnung unter einen fremdenWillen, Mangel an Selbsterfüllung und Drangabe der Würde“ sind „derbequeme Weg, um der Angst und der Spannung der bejahten Existenz ausdem Wege zu gehen“ (DAG, 16).

Demgegenüber steht die grundlegende Feststellung Beauvoirs zu Be-ginn ihrer Untersuchung, die zigfach wiederholt wird im Laufe derselben,dass die Frauen in keinem Bereich jemals eine Chance gehabt haben, ins-besondere nicht im Bereich intellektueller und künstlerischer Leistungen:

„Wie hätten die Frauen jemals Genie aufweisen können, wo doch jedeMöglichkeit, ein geniales Werk – oder überhaupt ein Werk schlechthin –hervorzubringen, ihnen verweigert war?“ (DAG, 892).

Selbstverhinderung und gesellschaftliche Verhinderung: Diese zwei Per-spektiven kennzeichnen bei Beauvoir keinen Widerspruch, sondern eröff-nen die dialektische Perspektive, die sie wählt für ihre Bestimmungen.Ihre weit ausgespannte, in alle Bereiche führende Phänomenologie derUnterdrückung zeigt nämlich einerseits die Frau als die Andere und Un-wesentliche in allen kulturellen Errungenschaften, andererseits betont sieunermüdlich, dass dieser Status der Anderen kontingent und die Unter-drückung grundlos ist: Es gibt keine tatsächliche Unterlegenheit des weib-lichen Geschlechts, die Unterdrückung basiert auf nichts. Und hier schlägtdie Argumentation dialektisch um: Weil die Unterdrückung auf nichts be-ruht und somit leer ist, muss sie durch ein fein verzweigtes und konsisten-tes Regelwerk an privaten und institutionellen Diskursen in Gang gehal-ten werden. Aufgrund dieser Leere im Herzen der Unterdrückung wirdBeauvoirs Beschreibung der konkreten Situation weiblicher Abhängigkeitvom Mann fast wohltuend absurd; sie kann sich in Details verlieren unddie banalsten Alltagssituationen analysieren oder große politische, natur-wissenschaftliche und mythologische Geschlechterdiskurse referieren:Über alles legt sich eine Patina des Absurden. Anders gesagt: Das kultu-rell Kontingente der Geschlechtsidentität wird absurd. Dies soll nun ex-emplarisch an einer Passage aus dem Kapitel „Situation und Charakterder Frau“ verdeutlicht werden. Unmittelbar nach ihrer Feststellung, dassFrauen weit häufiger Selbstmordversuche begehen – während mehr Män-ner sich tatsächlich umbringen – und dass diese Versuche als Protest aus-gelegt werden müssen, kommt Beauvoir auf das Zuspätkommen der Frau-en zu sprechen:

„Es gibt eine Vielzahl weiblicher Verhaltensweisen, die als Protest aus-gelegt werden müssen. Wie wir gesehen haben, hintergeht die Frau denMann oft, um ihn herauszufordern und nicht aus reinem Vergnügen. Sie istunüberlegt und verschwenderisch, weil er methodisch und wirtschaftlichist. […] Wenn sie später zur Verabredung kommt, tut sie es absichtlich.Manche Koketten glauben, sie steigerten dadurch die Begierde des Man-nes und machten sich dadurch um so wichtiger. Wenn die Frau den Manneinige Augenblicke warten läßt, protestiert sie jedoch vor allem gegen daslange Warten ihres eigenen Lebens. In gewissem Sinn ist ihre ganzeExistenz ein einziges Warten, da sie in den Vorzimmern der Immanenz,der Zufälligkeit eingeschlossen bleibt und ihre Rechtfertigung immer inden Händen eines anderen liegt …“ (DAG, 776).

Die anschließende Aufzählung, worauf die Frau in ihrem Leben alleswartet, lässt jede positive Bestimmung des großen Geschlechterparadig-mas der weiblichen Passivität absurd werden: Ihre konkrete Alltagsphäno-menologie und ihr ebenso mitleidloses wie apodiktisches Sezieren weib-licher Verhaltensmuster treibt ihren Beobachtungen ein emanzipato-risches Potenzial ein. Es fordert jenes empörte „Das darf ja nicht wahrsein!“ heraus, das zum Diskurs der Befreiung gehört. Die Einsicht in dieGrundlosigkeit und Absurdität der weiblichen Unterdrückung bezie-hungsweise ihrer eigenen Unterordnung macht aus der Kontingenz einevorübergehend positive und befreiende Kategorie: Nichts muss so, alleskönnte anders sein. Revolutionär und emanzipatorisch ist aber nicht dieErfahrung der Kontingenz, sondern deren Überwindung und Bemächti-gung in Richtung Freiheit. Für Beauvoir, die zur Zeit von Das andere Ge- schlecht noch ganz Materialistin ist, gibt es letztlich zwei Faktoren, mitwelchen sich die Kontingenz der weiblichen Unterlegenheit überwindenlässt. Es ist zum einen das Telos der marxistischen Theorie, nämlich dieZwangsläufigkeit in der ökonomischen Evolution, die der Frau einmaleine andere Stellung einräumen wird, und zum anderen das neue Bewusst-sein, das die Frau als ökonomisch Eigenständige erlangen wird (DAG,908). Nie war Beauvoir so naiv, dass sie an eine Befreiung der Frau durchden Mann geglaubt hätte. Sie hat das Schicksal der Frauen in die Entwick-lung der ökonomischen Verhältnisse – das heißt der marxistischen Um-wälzung der Gesellschaft – und in die Hände der Frauen selber gelegt. Inihrer Utopie wird das weibliche Subjekt autonom, rational, aufgeklärt, einsmit seinem Bewusstsein sein, es wird sich nicht über einen Mann definie-ren, das heißt: Es wird sich nach dem Vorbild des männlichen Subjektsemanzipiert haben.23Ausgeschlossen bleiben bei diesem Konzept zumeinen die Immanenz des mütterlich-weiblichen Körpers sowie das weib-liche Begehren in seiner Faktizität. Toril Moi weist präzise nach, wie sehrBeauvoir das männliche Begehren und die männliche Sexualität (weitüber Sartres Darstellung männlicher Begierde hinaus) im Bild des erigier-ten Penis als transzendent, selbstbestimmt und klar idealisiert und dabeiden weiblichen Körper und die weibliche Sexualität in perhorrifizierenderWeise entwertet hat24:

„Sie erleidet die Erregung wie eine schändliche Krankheit. Sie ist nichtaktiv. Sie ist ein Zustand, und selbst in der Vorstellung kann sie sich durchkeinen autonomen Entschluss von ihr befreien. Sie träumt nicht vomErgreifen, Durchdringen, Vergewaltigen. Sie ist Warten und Anruf. Sieempfindet sich als abhängig. Sie fühlt sich in ihrem entfremdeten Fleischwesentliche in allen kulturellen Errungenschaften, andererseits betont sieunermüdlich, dass dieser Status der Anderen kontingent und die Unter-drückung grundlos ist: Es gibt keine tatsächliche Unterlegenheit des weib-lichen Geschlechts, die Unterdrückung basiert auf nichts. Und hier schlägtdie Argumentation dialektisch um: Weil die Unterdrückung auf nichts be-ruht und somit leer ist, muss sie durch ein fein verzweigtes und konsisten-tes Regelwerk an privaten und institutionellen Diskursen in Gang gehal-ten werden. Aufgrund dieser Leere im Herzen der Unterdrückung wirdBeauvoirs Beschreibung der konkreten Situation weiblicher Abhängigkeitvom Mann fast wohltuend absurd; sie kann sich in Details verlieren unddie banalsten Alltagssituationen analysieren oder große politische, natur-wissenschaftliche und mythologische Geschlechterdiskurse referieren:Über alles legt sich eine Patina des Absurden. Anders gesagt: Das kultu-rell Kontingente der Geschlechtsidentität wird absurd. Dies soll nun ex-emplarisch an einer Passage aus dem Kapitel „Situation und Charakterder Frau“ verdeutlicht werden. Unmittelbar nach ihrer Feststellung, dassFrauen weit häufiger Selbstmordversuche begehen – während mehr Män-ner sich tatsächlich umbringen – und dass diese Versuche als Protest aus-gelegt werden müssen, kommt Beauvoir auf das Zuspätkommen der Frau-en zu sprechen:

„Es gibt eine Vielzahl weiblicher Verhaltensweisen, die als Protest aus-gelegt werden müssen. Wie wir gesehen haben, hintergeht die Frau denMann oft, um ihn herauszufordern und nicht aus reinem Vergnügen. Sie istunüberlegt und verschwenderisch, weil er methodisch und wirtschaftlichist. […] Wenn sie später zur Verabredung kommt, tut sie es absichtlich.Manche Koketten glauben, sie steigerten dadurch die Begierde des Man-nes und machten sich dadurch um so wichtiger. Wenn die Frau den Manneinige Augenblicke warten läßt, protestiert sie jedoch vor allem gegen daslange Warten ihres eigenen Lebens. In gewissem Sinn ist ihre ganzeExistenz ein einziges Warten, da sie in den Vorzimmern der Immanenz,der Zufälligkeit eingeschlossen bleibt und ihre Rechtfertigung immer inden Händen eines anderen liegt …“ (DAG, 776).

Die anschließende Aufzählung, worauf die Frau in ihrem Leben alleswartet, lässt jede positive Bestimmung des großen Geschlechterparadig-mas der weiblichen Passivität absurd werden: Ihre konkrete Alltagsphäno-menologie und ihr ebenso mitleidloses wie apodiktisches Sezieren weib-licher Verhaltensmuster treibt ihren Beobachtungen ein emanzipato-risches Potenzial ein. Es fordert jenes empörte „Das darf ja nicht wahrsein!“ heraus, das zum Diskurs der Befreiung gehört. Die Einsicht in dieGrundlosigkeit und Absurdität der weiblichen Unterdrückung bezie-hungsweise ihrer eigenen Unterordnung macht aus der Kontingenz einevorübergehend positive und befreiende Kategorie: Nichts muss so, alleskönnte anders sein. Revolutionär und emanzipatorisch ist aber nicht dieErfahrung der Kontingenz, sondern deren Überwindung und Bemächti-gung in Richtung Freiheit. Für Beauvoir, die zur Zeit von Das andere Ge- schlecht noch ganz Materialistin ist, gibt es letztlich zwei Faktoren, mitwelchen sich die Kontingenz der weiblichen Unterlegenheit überwindenlässt. Es ist zum einen das Telos der marxistischen Theorie, nämlich dieZwangsläufigkeit in der ökonomischen Evolution, die der Frau einmaleine andere Stellung einräumen wird, und zum anderen das neue Bewusst-sein, das die Frau als ökonomisch Eigenständige erlangen wird (DAG,908). Nie war Beauvoir so naiv, dass sie an eine Befreiung der Frau durchden Mann geglaubt hätte. Sie hat das Schicksal der Frauen in die Entwick-lung der ökonomischen Verhältnisse – das heißt der marxistischen Um-wälzung der Gesellschaft – und in die Hände der Frauen selber gelegt. Inihrer Utopie wird das weibliche Subjekt autonom, rational, aufgeklärt, einsmit seinem Bewusstsein sein, es wird sich nicht über einen Mann definie-ren, das heißt: Es wird sich nach dem Vorbild des männlichen Subjektsemanzipiert haben.23Ausgeschlossen bleiben bei diesem Konzept zumeinen die Immanenz des mütterlich-weiblichen Körpers sowie das weib-liche Begehren in seiner Faktizität. Toril Moi weist präzise nach, wie sehrBeauvoir das männliche Begehren und die männliche Sexualität (weitüber Sartres Darstellung männlicher Begierde hinaus) im Bild des erigier-ten Penis als transzendent, selbstbestimmt und klar idealisiert und dabeiden weiblichen Körper und die weibliche Sexualität in perhorrifizierenderWeise entwertet hat24:

„Sie erleidet die Erregung wie eine schändliche Krankheit. Sie ist nichtaktiv. Sie ist ein Zustand, und selbst in der Vorstellung kann sie sich durchkeinen autonomen Entschluss von ihr befreien. Sie träumt nicht vomErgreifen, Durchdringen, Vergewaltigen. Sie ist Warten und Anruf. Sieempfindet sich als abhängig. Sie fühlt sich in ihrem entfremdeten Fleischbedroht. […] Sie will das sexuelle Erlebnis nur in ihrer Immanenz kennen-lernen“ (DAG, 404f.).

Die Bewertung des weiblichen Geschlechts in seiner anatomischen Be-schaffenheit fällt entsprechend zu Beauvoirs Bild der klaren und sauberenmännlichen Erektion, Penetration und Ejakulation vernichtend aus:„fleischfressend“, „verschlingend“, ein „Sumpf“, „ein Sog, ein feuchterSchröpfkopf, sie ist wie Pech und Vogelleim, eine unbewegliche, schmeich-lerische, klebrige Lockung“ (DAG, 480)25. Toril Moi vermutet hier wohl zuRecht, dass die Feindseligkeit dieser Darstellung, die eine Entsprechungfindet in der Beschreibung des weiblichen Unbewussten als einem be-drohlichen Gewirr, mit Beauvoirs Verachtung für ihre Mutter zu tun hat.26Und in unserem Zusammenhang ist interessant, dass diese Metaphorikexakt auf die Beschreibung der Xavière in L’Invitée passt, dem der un-bewussten, in sich ruhenden und rätselhaften Weiblichkeit, dem „planloszuckenden Stück Leben“ (SK,351), in dem Mütterlichkeit und Weiblich-keit lebensbedrohlich ineinander gehen. Konsequenterweise beruht jaauch der ganze emanzipatorische Entwurf für eine autonome weiblicheExistenz in Das andere Geschlecht auf der Ausklammerung von Mutter-schaft, die für Beauvoir ganz in den unbedeutenden Bereich der Imma-nenz gehört. Somit muss das männliche Prinzip als aktives, lineares undtranszendentes ihren existentialistischen Entwurf von Frausein prägen.Diese Prägung ist stärker als alle Aussichten auf eine gleichberechtigteVerbindung von Aktivität und Passivität, von Körper und Geist, von Im-manenz und Transzendenz – obschon sie eine solche in ihren Schlussfolge-rungen brillant formuliert hat: „In Wirklichkeit ist der Mann wie die Frauein Körper, somit eine Passivität, ein Spielzeug seiner Hormone und derGattung, eine unruhige Beute seines Begehrens. Und sie ist wie er inmit-ten des leiblichen Fiebers Einwilligung, freiwilliges Geschenk, Aktivität“(DAG, 907). Dennoch sind Aktivität und Passivität bei Beauvoir hierarchi-sche Begriffe, weil die Passivität an die bedrängende und bewusstlose Im-manenz geknüpft ist. Damit bleibt ein weiteres entscheidendes Prinzip ausBeauvoirs Entwurf sorgsam oder sogar panisch ausgeklammert: das Prin-zip jener Kontingenz, die einem zustößt, die sich als das ‘bestimmte Unbe-stimmte’ einstellt jenseits einer eigenen Wahl und somit eine gewisse Pas-sivität voraussetzt27. Dies kann der Anspruch des Andern sein, es kann dieZweideutigkeit des Begehrens sein, das ohne Bewusstseinsakt auskommt,es kann eine Liebesgeschichte sein, die nicht in den eigenen Lebensplanpasst. Und eine solche musste Simone de Beauvoir ausgerechnet währendder Niederschrift ihres umfassenden emanzipatorischen Buches erleben.

4. Briefe, Gegenwart und der Einfall der Kontingenz

Nachdem Beauvoir ihre große Untersuchung über die Situation derFrau begonnen hat, reist sie 1947 nach Amerika, lernt den SchriftstellerNelson Algren kennen und verliebt sich jäh. Es war ihre einzige großeLiebe neben Sartre und sollte im Konzept des Paares, das seine Liebeals „notwendige“, alle anderen als „kontingente“28begriff, ihren Platzhaben. Hört man auf den Wortlaut der Briefe, wird es für beide Beteiligtenzur Liebe des Lebens. Ein Ereignis, das nicht zur Struktur werden konnte– so könnte man diese Liebe als Einfall der Kontingenz beschreiben. Al-gren war Amerikaner aus Chicago, eine Mischung aus hartgesottenemKerl, sympathischem Provinzjungen und intellektuellem Pokerspieler, an-gezogen von Huren, Dealern, Dieben; linksliberal, aber verliebt in seinLand, wenn auch nicht in dessen Politik. Simone de Beauvoir steigt alsVierzigjährige auf die Dynamik dieser Liebe ein, eine Dynamik, die überMonate allein durch Briefe „wächst und wächst wie Unkraut“29. Das Flug-zeug ist ihr zur Metapher für die Liebe geworden –„es ist das einzige Fort-bewegungsmittel, das mit dem Herzen in Einklang ist. Das Flugzeug, dieLiebe, der Himmel, die Traurigkeit und die Hoffnung waren ein und die-selbe Sache“ (TL, 22). Beauvoir hat schon früh gewusst, dass auch Pertur-bationen und Absturzgefahren zu dieser ‘kontingenten’ Liebe gehörten,bedroht. […] Sie will das sexuelle Erlebnis nur in ihrer Immanenz kennen-lernen“ (DAG, 404f.).

Die Bewertung des weiblichen Geschlechts in seiner anatomischen Be-schaffenheit fällt entsprechend zu Beauvoirs Bild der klaren und sauberenmännlichen Erektion, Penetration und Ejakulation vernichtend aus:„fleischfressend“, „verschlingend“, ein „Sumpf“, „ein Sog, ein feuchterSchröpfkopf, sie ist wie Pech und Vogelleim, eine unbewegliche, schmeich-lerische, klebrige Lockung“ (DAG, 480)25. Toril Moi vermutet hier wohl zuRecht, dass die Feindseligkeit dieser Darstellung, die eine Entsprechungfindet in der Beschreibung des weiblichen Unbewussten als einem be-drohlichen Gewirr, mit Beauvoirs Verachtung für ihre Mutter zu tun hat.26Und in unserem Zusammenhang ist interessant, dass diese Metaphorikexakt auf die Beschreibung der Xavière in L’Invitée passt, dem der un-bewussten, in sich ruhenden und rätselhaften Weiblichkeit, dem „planloszuckenden Stück Leben“ (SK,351), in dem Mütterlichkeit und Weiblich-keit lebensbedrohlich ineinander gehen. Konsequenterweise beruht jaauch der ganze emanzipatorische Entwurf für eine autonome weiblicheExistenz in Das andere Geschlecht auf der Ausklammerung von Mutter-schaft, die für Beauvoir ganz in den unbedeutenden Bereich der Imma-nenz gehört. Somit muss das männliche Prinzip als aktives, lineares undtranszendentes ihren existentialistischen Entwurf von Frausein prägen.Diese Prägung ist stärker als alle Aussichten auf eine gleichberechtigteVerbindung von Aktivität und Passivität, von Körper und Geist, von Im-manenz und Transzendenz – obschon sie eine solche in ihren Schlussfolge-rungen brillant formuliert hat: „In Wirklichkeit ist der Mann wie die Frauein Körper, somit eine Passivität, ein Spielzeug seiner Hormone und derGattung, eine unruhige Beute seines Begehrens. Und sie ist wie er inmit-ten des leiblichen Fiebers Einwilligung, freiwilliges Geschenk, Aktivität“(DAG, 907). Dennoch sind Aktivität und Passivität bei Beauvoir hierarchi-sche Begriffe, weil die Passivität an die bedrängende und bewusstlose Im-manenz geknüpft ist. Damit bleibt ein weiteres entscheidendes Prinzip ausBeauvoirs Entwurf sorgsam oder sogar panisch ausgeklammert: das Prin-zip jener Kontingenz, die einem zustößt, die sich als das ‘bestimmte Unbe-stimmte’ einstellt jenseits einer eigenen Wahl und somit eine gewisse Pas-sivität voraussetzt27. Dies kann der Anspruch des Andern sein, es kann dieZweideutigkeit des Begehrens sein, das ohne Bewusstseinsakt auskommt,es kann eine Liebesgeschichte sein, die nicht in den eigenen Lebensplanpasst. Und eine solche musste Simone de Beauvoir ausgerechnet währendder Niederschrift ihres umfassenden emanzipatorischen Buches erleben.

4. Briefe, Gegenwart und der Einfall der Kontingenz

Nachdem Beauvoir ihre große Untersuchung über die Situation derFrau begonnen hat, reist sie 1947 nach Amerika, lernt den SchriftstellerNelson Algren kennen und verliebt sich jäh. Es war ihre einzige großeLiebe neben Sartre und sollte im Konzept des Paares, das seine Liebeals „notwendige“, alle anderen als „kontingente“28begriff, ihren Platzhaben. Hört man auf den Wortlaut der Briefe, wird es für beide Beteiligtenzur Liebe des Lebens. Ein Ereignis, das nicht zur Struktur werden konnte– so könnte man diese Liebe als Einfall der Kontingenz beschreiben. Al-gren war Amerikaner aus Chicago, eine Mischung aus hartgesottenemKerl, sympathischem Provinzjungen und intellektuellem Pokerspieler, an-gezogen von Huren, Dealern, Dieben; linksliberal, aber verliebt in seinLand, wenn auch nicht in dessen Politik. Simone de Beauvoir steigt alsVierzigjährige auf die Dynamik dieser Liebe ein, eine Dynamik, die überMonate allein durch Briefe „wächst und wächst wie Unkraut“29. Das Flug-zeug ist ihr zur Metapher für die Liebe geworden –„es ist das einzige Fort-bewegungsmittel, das mit dem Herzen in Einklang ist. Das Flugzeug, dieLiebe, der Himmel, die Traurigkeit und die Hoffnung waren ein und die-selbe Sache“ (TL, 22). Beauvoir hat schon früh gewusst, dass auch Pertur-bationen und Absturzgefahren zu dieser ‘kontingenten’ Liebe gehörten,und unternimmt neben dem Briefeschreiben einiges, um die Hoffnung auf

Zukunft zu stärken. Sie magert ab, lässt sich ihre Zähne operieren und be-sucht ihn wieder in Chicago. Sie reisen gemeinsam nach Südamerika und

Mexiko. Dann wohnt er längere Zeit bei ihr in Paris und sie bereisen ge-meinsam Europa und Nordafrika. Sie wäre bereit, alle Liebe mit ihm zuteilen, aber ihr Leben will sie nicht aufgeben. Und ihr Leben, das ist: Paris,ihre Arbeit, Sartre und die Existentialisten-Familie, ihre politische Mis-sion. Algren hätte mithin nach Paris kommen müssen, um ihr Leben zuteilen. Er aber will Amerikaner bleiben, sie heiraten und eine eigene Fami-lie gründen. Das Scheitern der Beziehung ist mithin vorgezeichnet, von

Beauvoirs Seite sogar bis zu einem gewissen Grad eingeplant. Denn liestman parallel zu ihren Briefen an Algren jene, die sie 1950 aus den USA an

Sartre schrieb, wird deutlich, dass sie ihre intime Komplizenschaft mit

Sartre niemals für eine andere Liebe ganz aufgeben würde. Dies allerdingshat sie Algren nicht verheimlicht, wenn sie ihn auch erst ein Jahr nach Be-ginn ihrer großen Liebe über ihr wirkliches Verhältnis zu Sartre und ihregegenseitige Abhängigkeit aufklärt. Wenn man den Verlauf der Liebesge-schichte also nachträglich beurteilt, hat Beauvoir auch hier den Einfall der

Kontingenz, den ihre Liebe zu Algren darstellt, durch flankierende Maß-nahmen in Schach gehalten: Sie hat sich dieser Liebesgeschichte niemalsausgeliefert. Im Nachhinein könnte man die Briefe sogar als Doppelspiel

Beauvoirs interpretieren, in dem sie dem fernen Amerikaner Liebeschwört, gleichzeitig Sartre ihre Verbundenheit und ewige Treue beteuertund ihr Liebesleben nach seiner Agenda ausrichtet30. Man könnte Algrenals Liebesopfer beklagen, dessen berufliches und privates Leben nach der

Begegnung mit Beauvoir zusehends ins Schleudern gerät, während sie in

Paris einen schriftstellerischen Erfolg nach dem andern feiert. Man könnteauch auf dem heiklen Punkt insistieren, dass Beauvoir ihre transatlanti-sche Liebe gleich dreimal literarisch verwertet hat, 1948 in L’Amérique au jour le jour , 1950 in Les Mandarins La force des chosesund 1963 in . Undman müsste, wenn man sein Augenmerk auf diesen literarischen Vampi-rismus richtet, den Vorwurf erheben, dass die literarische Version dieser

Affäre nicht ganz der verbrieften Version entspricht. Immerhin hat Algren

1965, nach dem Erscheinen der amerikanischen Übersetzung von La force des choses , den Kontakt zu Beauvoir für immer abgebrochen31. Die Ver-

öffentlichung ihrer Intimsphäre war für ihn unannehmbar und wohl auchder Grund, weshalb er bzw. seine Nachlassverwalter seine eigenen Briefean Beauvoir niemals zur Publikation freigegeben haben.

Wie gesagt: Man könnte die Briefe so lesen, wenn man davon ausgeht,dass Briefe keinen anderen Wert haben, als biographische Wahrheiten zuTage zu fördern und dass wir als Briefleser keine andere Möglichkeithaben, als zu Agenten dieser Wahrheit zu werden, die das Schriftsteller-leben im Hinblick auf seine Selbstidentität und Redlichkeit kritisch durch-forschen. Doch Briefe sind besondere Schriftstücke. Weil sie – anders alsAutobiographie, Essay oder Roman – keinem Plan folgen und keinem Ge-setz der Ganzheit unterstehen, weil sie essentiell flüchtig und unvollstän-dig sind und vor allem: weil sie Medien der „Mit-teilung“ sind, sich alsozwischen Sender und Empfänger teilen, sind sie offen für das Kontingente.Insofern hat der Einfall der Kontingenz bei Simone de Beauvoir einensprachlichen Niederschlag gefunden, der hier zum Schluss Thema sein soll.Denn: Die Briefe gehören zum Schönsten, was Beauvoir geschrieben hat.Nelson Algren hat dies schon früh konstatiert. Nachdem er im Herbst1947 erstmals längere Artikel von Beauvoir gelesen hatte, meinte er, dieFrau, die ihm Briefe schreibe, und die Verfasserin dieser Artikel seien zweiFrauen. Beauvoir widerspricht und macht die englische Sprache für denUnterschied verantwortlich:

„… der größte Unterschied zwischen meinen Briefen und meinen Arti-keln besteht darin, daß ich die einen auf englisch, die andern auf franzö-sisch schreibe. […] Aber dieser kleine Unterschied sollte Sie nicht täu-schen: nur eine Frau.“ (TL, 167f.)

Algren aber hat sich nicht getäuscht. Die Briefe Beauvoirs lesen sich an-ders als die meisten ihrer Essays und Romane. So kann es auch nicht er-staunen, dass Simone de Beauvoir Briefe schreibend konstatiert, dass siean ihrem „Buch über die Frauen“ nach ihrer Amerikareise nicht weiter-schreiben mag: „es ist für mich im Moment tot“ (TL, 38). Und auch einJahr später, als sie die Untersuchung schon fast abgeschlossen hat, befälltsie immer in den Briefen an Algren Befremden: „Hatte ich das geschrie-ben? Es ist mir ziemlich fremd; ein Teil ist bereits in den T[emps] M[oder-nes] abgedruckt und so gedruckt schien es überhaupt nicht zu mir zu ge-hören. Ich habe dasselbe Gefühl von Irrealität wie Sie, ich kann mein altesIch nicht wieder finden“ (TL, 290). Solche Einsicht in die Inkohärenz dereigenen Person ist selten bei Beauvoir und muss aus dem Spannungsfeldihres zwanghaft emanzipativen Freiheitsbegriffs verstanden werden. Stilis-und unternimmt neben dem Briefeschreiben einiges, um die Hoffnung aufZukunft zu stärken. Sie magert ab, lässt sich ihre Zähne operieren und be-sucht ihn wieder in Chicago. Sie reisen gemeinsam nach Südamerika undMexiko. Dann wohnt er längere Zeit bei ihr in Paris und sie bereisen ge-meinsam Europa und Nordafrika. Sie wäre bereit, alle Liebe mit ihm zuteilen, aber ihr Leben will sie nicht aufgeben. Und ihr Leben, das ist: Paris,ihre Arbeit, Sartre und die Existentialisten-Familie, ihre politische Mis-sion. Algren hätte mithin nach Paris kommen müssen, um ihr Leben zuteilen. Er aber will Amerikaner bleiben, sie heiraten und eine eigene Fami-lie gründen. Das Scheitern der Beziehung ist mithin vorgezeichnet, vonBeauvoirs Seite sogar bis zu einem gewissen Grad eingeplant. Denn liestman parallel zu ihren Briefen an Algren jene, die sie 1950 aus den USA anSartre schrieb, wird deutlich, dass sie ihre intime Komplizenschaft mitSartre niemals für eine andere Liebe ganz aufgeben würde. Dies allerdingshat sie Algren nicht verheimlicht, wenn sie ihn auch erst ein Jahr nach Be-ginn ihrer großen Liebe über ihr wirkliches Verhältnis zu Sartre und ihregegenseitige Abhängigkeit aufklärt. Wenn man den Verlauf der Liebesge-schichte also nachträglich beurteilt, hat Beauvoir auch hier den Einfall derKontingenz, den ihre Liebe zu Algren darstellt, durch flankierende Maß-nahmen in Schach gehalten: Sie hat sich dieser Liebesgeschichte niemalsausgeliefert. Im Nachhinein könnte man die Briefe sogar als DoppelspielBeauvoirs interpretieren, in dem sie dem fernen Amerikaner Liebeschwört, gleichzeitig Sartre ihre Verbundenheit und ewige Treue beteuertund ihr Liebesleben nach seiner Agenda ausrichtet30. Man könnte Algrenals Liebesopfer beklagen, dessen berufliches und privates Leben nach derBegegnung mit Beauvoir zusehends ins Schleudern gerät, während sie inParis einen schriftstellerischen Erfolg nach dem andern feiert. Man könnteauch auf dem heiklen Punkt insistieren, dass Beauvoir ihre transatlanti-sche Liebe gleich dreimal literarisch verwertet hat, 1948 in L’Amérique au jour le jour , 1950 in Les Mandarins La force des chosesund 1963 in . Undman müsste, wenn man sein Augenmerk auf diesen literarischen Vampi-rismus richtet, den Vorwurf erheben, dass die literarische Version dieserAffäre nicht ganz der verbrieften Version entspricht. Immerhin hat Algren1965, nach dem Erscheinen der amerikanischen Übersetzung von La force des choses , den Kontakt zu Beauvoir für immer abgebrochen31. Die Ver-öffentlichung ihrer Intimsphäre war für ihn unannehmbar und wohl auchder Grund, weshalb er bzw. seine Nachlassverwalter seine eigenen Briefean Beauvoir niemals zur Publikation freigegeben haben.

Wie gesagt: Man könnte die Briefe so lesen, wenn man davon ausgeht,dass Briefe keinen anderen Wert haben, als biographische Wahrheiten zuTage zu fördern und dass wir als Briefleser keine andere Möglichkeithaben, als zu Agenten dieser Wahrheit zu werden, die das Schriftsteller-leben im Hinblick auf seine Selbstidentität und Redlichkeit kritisch durch-forschen. Doch Briefe sind besondere Schriftstücke. Weil sie – anders alsAutobiographie, Essay oder Roman – keinem Plan folgen und keinem Ge-setz der Ganzheit unterstehen, weil sie essentiell flüchtig und unvollstän-dig sind und vor allem: weil sie Medien der „Mit-teilung“ sind, sich alsozwischen Sender und Empfänger teilen, sind sie offen für das Kontingente.Insofern hat der Einfall der Kontingenz bei Simone de Beauvoir einensprachlichen Niederschlag gefunden, der hier zum Schluss Thema sein soll.Denn: Die Briefe gehören zum Schönsten, was Beauvoir geschrieben hat.Nelson Algren hat dies schon früh konstatiert. Nachdem er im Herbst1947 erstmals längere Artikel von Beauvoir gelesen hatte, meinte er, dieFrau, die ihm Briefe schreibe, und die Verfasserin dieser Artikel seien zweiFrauen. Beauvoir widerspricht und macht die englische Sprache für denUnterschied verantwortlich:

„… der größte Unterschied zwischen meinen Briefen und meinen Arti-keln besteht darin, daß ich die einen auf englisch, die andern auf franzö-sisch schreibe. […] Aber dieser kleine Unterschied sollte Sie nicht täu-schen: nur eine Frau.“ (TL, 167f.)

Algren aber hat sich nicht getäuscht. Die Briefe Beauvoirs lesen sich an-ders als die meisten ihrer Essays und Romane. So kann es auch nicht er-staunen, dass Simone de Beauvoir Briefe schreibend konstatiert, dass siean ihrem „Buch über die Frauen“ nach ihrer Amerikareise nicht weiter-schreiben mag: „es ist für mich im Moment tot“ (TL, 38). Und auch einJahr später, als sie die Untersuchung schon fast abgeschlossen hat, befälltsie immer in den Briefen an Algren Befremden: „Hatte ich das geschrie-ben? Es ist mir ziemlich fremd; ein Teil ist bereits in den T[emps] M[oder-nes] abgedruckt und so gedruckt schien es überhaupt nicht zu mir zu ge-hören. Ich habe dasselbe Gefühl von Irrealität wie Sie, ich kann mein altesIch nicht wieder finden“ (TL, 290). Solche Einsicht in die Inkohärenz dereigenen Person ist selten bei Beauvoir und muss aus dem Spannungsfeldihres zwanghaft emanzipativen Freiheitsbegriffs verstanden werden. Stilis-tisch äußert sich diese Zwanghaftigkeit auf dem Gebiet des Essays injenem apodiktischen und trockenen Ton des Überzeugens und Dokumen-tierens, den sie insbesondere in Das andere Geschlecht entwickelt hat, undauf literarischem Gebiet im qualvollen Planspiel der Transparenz, das sieihre literarischen Figuren ausführen lässt, bei welchem diese – wie auch in

L’Invitée – durchsichtig und letztlich geheimnislos werden. Beide Stile,jener der Essayistin wie jener der Literatin, verdecken eine andere Spra-che Beauvoirs, die in den Briefen an Algren von Anfang an da ist – auch inihren Briefen an Sartre hat sie niemals dieselbe Rhetorik der Verführungund Kunst der Mitteilung entwickelt, wie sie sie in diesen Briefen über alle

Jahre hinweg beibehalten hat. Die Schicht, aus der diese Sprache stammt,so sei hier einmal vermutet, hat mit der Immanenz des Körpers und der

Faktizität des Begehrens zu tun. Wenn man den Dualismus von Körperund Geist in Betracht zieht, der in Das andere Geschlecht so zu Ungunstender Frauen ausschlägt, dann wird deutlich, dass Simone de Beauvoir im

Brief als Medium des Kontingenten die Hierarchisierung von freiem Geistund bedrängtem Körper, wie auch überhaupt die Hierarchie der Ge-schlechter aufgibt. Weil Briefe eine Antwort verlangen, weil sie den an-dern berühren müssen und auf ihn angewiesen sind, weil man sich miteinem Brief immer dem andern in die Hände gibt und weil Wirkung und

Ankommen nie kalkulierbar sind, lässt sich bei einem Briefwechsel der ra-tionale Plan der Freiheit, Emanzipation und Transzendenz, der als Telosjedes von Beauvoirs Büchern grundiert, nicht einlösen. Dass das Schrei-ben dabei körperlich wird, ist die eine Bedeutung, die das Kontingente im

Brief erhält:

„Es ist mir egal, was ich schreibe, ich mag einfach den Akt des Schrei-bens, es ist, als würde ich Sie küssen, es ist physisch; wenn ich schreibe,fühle ich meine Liebe zu Ihnen in meinen Fingern, es ist gut, seine Liebein jedem beliebigen lebendigen Teil des Körpers zu spüren, nicht nur im

Kopf“ (TL, 52)32.

Diese körperliche Dimension des Schreibens gehört zum Liebesbrief,der im Wesentlichen zwei Funktionen hat, wie Roland Barthes treffendsagt: einerseits leer zu sein – das heißt codiert, denn der Brief meint Liebe

– und andererseits expressiv, weil das Verlangen mitgeteilt werden will.33

In der Figur der „Mit-teilung“ liegt die andere Bedeutung des Kontingen-ten: Es ist der Zwischenraum, mit dem es jeder Brief aufnimmt, und derniemals einfach durch Sprache geschlossen wird. Die Dichte und Inten-sität von Beauvoirs Briefen macht nämlich deutlich, dass die Zukunft die-ser Liebesgeschichte von Brief zu Brief erschrieben wurde: Es gab keiner-lei Sicherheit von Beauvoirs Seite, dass ihre Briefe es wirklich schaffen,die Distanz zwischen Paris und Chicago zu überbrücken, die beiden Men-schen, die beiden Städte, die beiden Leben aneinander zu binden. Umsoheftiger ihr Bemühen, ihre Stadt, ihr Leben, ihre Tage, ihre Freunde undihre Arbeit dem fernen Geliebten lebendig zu machen. Die ungewöhnlichfeinsinnigen und humorvollen Schilderungen ihres Pariser Alltags, dieglänzend erzählten Anekdoten über die ebenso schwierige wie schillerndePariser Bohème, ihre sensiblen Reiseberichte, das alles ist deshalb so le-senswert, weil es nicht dem Klatsch und der Selbstmythisierung dient, son-dern in erster Linie der „Mit-teilung“. Das Mitteilen ist also der kunstvolleVersuch, das Unbestimmbare dieser Liebesbeziehung auszusprechen,dort, wo es sich nicht mit den rationalen Plänen von Simone de Beauvoirvereinbaren ließ.

Genau weil Ziel und Zukunft dieser Beziehung unbestimmt waren, hatdas Kontingente als Figur der „Mit-teilung“ sich entfalten können wie nir-gends sonst bei Beauvoir. Und dies wäre nun die dritte Bedeutung vonKontingenz, die der Brief allgemein und diese Briefe insbesondere ent-falten: Gegenwart. Es gibt, folgt man der Bestimmung von Jean-LucNancy, keine „Mit-teilung“, die nicht der Gegenwart ausgesetzt wäre34.Und gerade weil man die Liebe selber im Liebesbrief nicht erzählen kann– „Liebe ist etwas“, schreibt Beauvoir, „was man nicht erzählen kann“(TL, 132), ist die „Mit-teilung“ im Dazwischen, das die Sprache des Briefsbeansprucht, offen für das Kontingente der Gegenwart. Zwar ist im Briefdas Wort „jetzt“ ein seltsames und immer schon verschobenes Wort, wieBeauvoir konstatiert, und doch bedeute es ihr immer so viel, jetzt zu sagen(TL, 132), das heißt, Gegenwart einzufangen.35Sie tut dies denn auch vonBrief zu Brief, indem sie der Kontingenz der Gegenwart überall Einlasstisch äußert sich diese Zwanghaftigkeit auf dem Gebiet des Essays injenem apodiktischen und trockenen Ton des Überzeugens und Dokumen-tierens, den sie insbesondere in Das andere Geschlecht entwickelt hat, undauf literarischem Gebiet im qualvollen Planspiel der Transparenz, das sieihre literarischen Figuren ausführen lässt, bei welchem diese – wie auch in

L’Invitée – durchsichtig und letztlich geheimnislos werden. Beide Stile,jener der Essayistin wie jener der Literatin, verdecken eine andere Spra-che Beauvoirs, die in den Briefen an Algren von Anfang an da ist – auch inihren Briefen an Sartre hat sie niemals dieselbe Rhetorik der Verführungund Kunst der Mitteilung entwickelt, wie sie sie in diesen Briefen über alle

Jahre hinweg beibehalten hat. Die Schicht, aus der diese Sprache stammt,so sei hier einmal vermutet, hat mit der Immanenz des Körpers und der

Faktizität des Begehrens zu tun. Wenn man den Dualismus von Körperund Geist in Betracht zieht, der in Das andere Geschlecht so zu Ungunstender Frauen ausschlägt, dann wird deutlich, dass Simone de Beauvoir im

Brief als Medium des Kontingenten die Hierarchisierung von freiem Geistund bedrängtem Körper, wie auch überhaupt die Hierarchie der Ge-schlechter aufgibt. Weil Briefe eine Antwort verlangen, weil sie den an-dern berühren müssen und auf ihn angewiesen sind, weil man sich miteinem Brief immer dem andern in die Hände gibt und weil Wirkung und

Ankommen nie kalkulierbar sind, lässt sich bei einem Briefwechsel der ra-tionale Plan der Freiheit, Emanzipation und Transzendenz, der als Telosjedes von Beauvoirs Büchern grundiert, nicht einlösen. Dass das Schrei-ben dabei körperlich wird, ist die eine Bedeutung, die das Kontingente im

Brief erhält:

„Es ist mir egal, was ich schreibe, ich mag einfach den Akt des Schrei-bens, es ist, als würde ich Sie küssen, es ist physisch; wenn ich schreibe,fühle ich meine Liebe zu Ihnen in meinen Fingern, es ist gut, seine Liebein jedem beliebigen lebendigen Teil des Körpers zu spüren, nicht nur im

Kopf“ (TL, 52)32.

Diese körperliche Dimension des Schreibens gehört zum Liebesbrief,der im Wesentlichen zwei Funktionen hat, wie Roland Barthes treffendsagt: einerseits leer zu sein – das heißt codiert, denn der Brief meint Liebe

– und andererseits expressiv, weil das Verlangen mitgeteilt werden will.33

In der Figur der „Mit-teilung“ liegt die andere Bedeutung des Kontingen-ten: Es ist der Zwischenraum, mit dem es jeder Brief aufnimmt, und derniemals einfach durch Sprache geschlossen wird. Die Dichte und Inten-sität von Beauvoirs Briefen macht nämlich deutlich, dass die Zukunft die-ser Liebesgeschichte von Brief zu Brief erschrieben wurde: Es gab keiner-lei Sicherheit von Beauvoirs Seite, dass ihre Briefe es wirklich schaffen,die Distanz zwischen Paris und Chicago zu überbrücken, die beiden Men-schen, die beiden Städte, die beiden Leben aneinander zu binden. Umsoheftiger ihr Bemühen, ihre Stadt, ihr Leben, ihre Tage, ihre Freunde undihre Arbeit dem fernen Geliebten lebendig zu machen. Die ungewöhnlichfeinsinnigen und humorvollen Schilderungen ihres Pariser Alltags, dieglänzend erzählten Anekdoten über die ebenso schwierige wie schillerndePariser Bohème, ihre sensiblen Reiseberichte, das alles ist deshalb so le-senswert, weil es nicht dem Klatsch und der Selbstmythisierung dient, son-dern in erster Linie der „Mit-teilung“. Das Mitteilen ist also der kunstvolleVersuch, das Unbestimmbare dieser Liebesbeziehung auszusprechen,dort, wo es sich nicht mit den rationalen Plänen von Simone de Beauvoirvereinbaren ließ.

Genau weil Ziel und Zukunft dieser Beziehung unbestimmt waren, hatdas Kontingente als Figur der „Mit-teilung“ sich entfalten können wie nir-gends sonst bei Beauvoir. Und dies wäre nun die dritte Bedeutung vonKontingenz, die der Brief allgemein und diese Briefe insbesondere ent-falten: Gegenwart. Es gibt, folgt man der Bestimmung von Jean-LucNancy, keine „Mit-teilung“, die nicht der Gegenwart ausgesetzt wäre34.Und gerade weil man die Liebe selber im Liebesbrief nicht erzählen kann– „Liebe ist etwas“, schreibt Beauvoir, „was man nicht erzählen kann“(TL, 132), ist die „Mit-teilung“ im Dazwischen, das die Sprache des Briefsbeansprucht, offen für das Kontingente der Gegenwart. Zwar ist im Briefdas Wort „jetzt“ ein seltsames und immer schon verschobenes Wort, wieBeauvoir konstatiert, und doch bedeute es ihr immer so viel, jetzt zu sagen(TL, 132), das heißt, Gegenwart einzufangen.35Sie tut dies denn auch vonBrief zu Brief, indem sie der Kontingenz der Gegenwart überall Einlassgewährt im Fluss ihres Schreibens, vor allem zu Beginn des Briefwechsels,als ihre Briefe noch von Tag zu Tag geschrieben wurden:

„Ich war so müde, ich habe vierzehn Stunden geschlafen, nur einmal binich in der Nacht aufgewacht, um an Sie zu denken und weiterzuweinen.Heute früh sah ich vom vielen Weinen so scheußlich aus, daß Camus, denich auf der Straße traf, mich fragte, ob ich schwanger sei: er meinte, ich hättedas typische Gesicht einer Schwangeren! Ich traf den jungen Engländer, dergerade mein Stück les bouches inutiles übersetzt hat und es in England auf-führen lassen möchte. Ich schicke Ihnen diese Übersetzung“ (TL, 97).

Wenn „Mit-teilung“ ein Hin und Her ist, die Partitur und das Teilen vonKommunikation36, dann hat Beauvoir in diesem wie in vielen Briefen ge-zeigt, wie Gegenwart im Hin und Her von Ich und Du entsteht, währenddie Welt (Camus, Paris, ein junger Engländer, eine Übersetzung) nur Hilfs-boten der Gegenwärtigkeit ihrer Kommunikation sind. Der Sinn aber– dieser und vieler anderer Botschaften – bleibt unverfügbar: Der seman-tische Knoten um Schlaf, Tränen, Einsamkeit und Schwangerschaft ist sovirtuos geschürzt, dass es nicht möglich ist (zumindest für heutige Lesernicht), herauszufinden, was Beauvoir Algren mitteilen will: Camus’ Dumm-heit, ihre Traurigkeit, ein verdrehter Wunsch nach Schwangerschaft, dasVerwerfen von Schwangerschaft, ihre Souveränität gegenüber den Tränender Nacht. An solchen und anderen Stellen der Briefe zeigt sich, wie sehrdie Briefe Beauvoirs für Sinneinfälle offen bleiben und sie „mit Papier,Tinte und Liebe“ (TL, 56) dem Schreiben der Kontingenz hinter dem Rü-cken des Telos von Aufklärung und Emanzipation zu ihrem Recht verhilft.Weil dieser Briefwechsel nichts mit der Notwendigkeit ihrer freien Liebezu Sartre zu tun hatte, weil sie damit keinen philosophischen Beweiszwangim Sinn hatte und letztlich auch weil diese Liebesgeschichte ihren Körpermehr in Mitleidenschaft gezogen hat als jede andere, kann man sagen, istsie in diesen Briefen vom Denken weg ins Schreiben gekommen und hatin diesem Schreiben mehr als in allen ihren ‘planvollen’ Schriften die Kon-tingenz der konkreten Existenz – ihrer Existenz – hinterlassen, die letzt-lich ebenso interessant ist wie der Mythos über die Frau an Sartres Seite.

Auswahlbibliographie

gewährt im Fluss ihres Schreibens, vor allem zu Beginn des Briefwechsels,als ihre Briefe noch von Tag zu Tag geschrieben wurden:

„Ich war so müde, ich habe vierzehn Stunden geschlafen, nur einmal binich in der Nacht aufgewacht, um an Sie zu denken und weiterzuweinen.Heute früh sah ich vom vielen Weinen so scheußlich aus, daß Camus, denich auf der Straße traf, mich fragte, ob ich schwanger sei: er meinte, ich hättedas typische Gesicht einer Schwangeren! Ich traf den jungen Engländer, dergerade mein Stück les bouches inutiles übersetzt hat und es in England auf-führen lassen möchte. Ich schicke Ihnen diese Übersetzung“ (TL, 97).

Wenn „Mit-teilung“ ein Hin und Her ist, die Partitur und das Teilen vonKommunikation36, dann hat Beauvoir in diesem wie in vielen Briefen ge-zeigt, wie Gegenwart im Hin und Her von Ich und Du entsteht, währenddie Welt (Camus, Paris, ein junger Engländer, eine Übersetzung) nur Hilfs-boten der Gegenwärtigkeit ihrer Kommunikation sind. Der Sinn aber– dieser und vieler anderer Botschaften – bleibt unverfügbar: Der seman-tische Knoten um Schlaf, Tränen, Einsamkeit und Schwangerschaft ist sovirtuos geschürzt, dass es nicht möglich ist (zumindest für heutige Lesernicht), herauszufinden, was Beauvoir Algren mitteilen will: Camus’ Dumm-heit, ihre Traurigkeit, ein verdrehter Wunsch nach Schwangerschaft, dasVerwerfen von Schwangerschaft, ihre Souveränität gegenüber den Tränender Nacht. An solchen und anderen Stellen der Briefe zeigt sich, wie sehrdie Briefe Beauvoirs für Sinneinfälle offen bleiben und sie „mit Papier,Tinte und Liebe“ (TL, 56) dem Schreiben der Kontingenz hinter dem Rü-cken des Telos von Aufklärung und Emanzipation zu ihrem Recht verhilft.Weil dieser Briefwechsel nichts mit der Notwendigkeit ihrer freien Liebezu Sartre zu tun hatte, weil sie damit keinen philosophischen Beweiszwangim Sinn hatte und letztlich auch weil diese Liebesgeschichte ihren Körpermehr in Mitleidenschaft gezogen hat als jede andere, kann man sagen, istsie in diesen Briefen vom Denken weg ins Schreiben gekommen und hatin diesem Schreiben mehr als in allen ihren ‘planvollen’ Schriften die Kon-tingenz der konkreten Existenz – ihrer Existenz – hinterlassen, die letzt-lich ebenso interessant ist wie der Mythos über die Frau an Sartres Seite.

Auswahlbibliographie

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SUSANNE K. LANGER Pluralität menschlicher Symbolisierungen. Zur Semantik und Ontologie der Gegenwart

Von Constanze Peres

1. Bedeutung und Rezeption Susanne K. Langers

Susanne K. Langer gehört zu den bedeutenden philosophischen Persön-lichkeiten des 20.Jahrhunderts. Umso erstaunlicher ist es, dass man sie ver-geblich in einem Philosophen Lexikon aus dem Jahr 1995 sucht, als dessen

Auswahlkriterium angegeben wird: „diejenigen Namen der europäischen

Philosophiegeschichte […], die im Verlauf einer nun mehr als zweieinhalb

Jahrtausende währenden Verständigung über das Verhältnis von Gott,

Mensch und Welt immer wieder zitiert worden sind“1. An der Einschrän-kung „europäische Philosophiegeschichte“ kann Langers Fehlen nicht lie-gen, denn das Lexikon stellt ihre berühmten amerikanischen Kollegen

Willard V. O. Quine (720–723), Hilary Putnam (714–718), Donald David-son (194–200) und Nelson Goodman (321–323), um nur einige zu nennen,selbstverständlich in ausführlichen Porträts dar. Auch ist angesichts derumfangreichen, vor allem angloamerikanischen, Auseinandersetzung mit

Langers philosophischen Grundpositionen schwer nachvollziehbar, dasssie weniger „zitiert worden“ sein soll als z. B. ein in dem Lexikon aufge-führter Philosoph namens Karl Korsch (471–473).2Vielleicht ist es vorran-gig ein europäisches oder sogar deutsches Problem, dass Susanne K. Lan-ger vergleichsweise wenig in philosophischen Übersichtswerken auftaucht,denn während mehrere ihrer Bücher in den USA zwei oder drei Auflagenerfuhren (vgl. SL, PhK, FFPhiloso-), erschien lediglich ihre Untersuchung phy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite and Art (PhK)in deutscher Übersetzung. Obwohl ein Klassiker der semantischen Kunst-philosophie, ist das 1965 (und 1979) unter dem Titel Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst (PhK dt.)publizierte Buch schon lange nicht mehr im Handel erhältlich.

Probleme mit dem biologisch-kulturanthropologischen Spätwerk

Schaut man sich die Literatur über Langer genauer an, so zeigt sich,dass auch im angloamerikanischen Sprachraum keine kontinuierliche Aus-einandersetzung stattfindet. Zwar wurden ihre Werke nach ihrem Erschei-nen z.T. von bedeutenden Philosophen positiv rezensiert3, aber die sach-liche Rezeption ihrer Konzeption endet mit wenigen Ausnahmen in den70er-Jahren und beschränkt sich im Wesentlichen auf ihre symboltheoreti-sche Kunstphilosophie. Dies ist vermutlich darin begründet, dass Langersspätere biologisch-kulturanthropologische Konzeption des Menschen me-thodologische Probleme aufgibt, denn sie macht zahlreiche disziplinäreGrenzüberschreitungen in kultur- und entwicklungsgeschichtliche, biolo-gische und psychologische Wissensgebiete nötig. Der Leser sieht sich mitder kaum nachprüfbaren Frage konfrontiert, ob die materialreichen Aus-führungen, die den philosophischen Argumentationen zugrunde liegen,tatsächlich dem neuesten Forschungsstand der betreffenden Disziplin ent-sprechen. Hinzu kommt die prinzipielle Crux, dass der philosophischeRückgriff auf naturwissenschaftliche Ergebnisse wegen der Geschwindig-keit der Forschungsentwicklung notwendig schnell überholt ist. Aus Lan-gers Umorientierung von der Semantik zur Naturwissenschaft erklärt sichauch, dass sie, was ihr vielfach vorgeworfen wird, ihre neuartige Konzep-tion, die Unterscheidung diskursiver und nondiskursiv-präsentativer Sym-bolisierung nicht detaillierter semantisch ausgearbeitet hat.4Dennoch istes auch verwunderlich, dass Langers Spätphilosophie viele Jahre so wenigBeachtung fand, denn gerade ihre kulturtheoretisch-anthropologischeInterpretation von Kunst als Grundlage ihrer Geistphilosophie wie auchihre prinzipiell naturalistische Ausgangsposition kommen mindestens zweiTrends der Gegenwartsphilosophie entgegen: der „philosophy of mind“und der Verbindung von Kunst(-Philosophie) und „Cultural Studies“.

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SUSANNE K. LANGER Pluralität menschlicher Symbolisierungen. Zur Semantik und Ontologie der Gegenwart

Von Constanze Peres

1. Bedeutung und Rezeption Susanne K. Langers

Susanne K. Langer gehört zu den bedeutenden philosophischen Persön-lichkeiten des 20.Jahrhunderts. Umso erstaunlicher ist es, dass man sie ver-geblich in einem Philosophen Lexikon aus dem Jahr 1995 sucht, als dessen

Auswahlkriterium angegeben wird: „diejenigen Namen der europäischen

Philosophiegeschichte […], die im Verlauf einer nun mehr als zweieinhalb

Jahrtausende währenden Verständigung über das Verhältnis von Gott,

Mensch und Welt immer wieder zitiert worden sind“1. An der Einschrän-kung „europäische Philosophiegeschichte“ kann Langers Fehlen nicht lie-gen, denn das Lexikon stellt ihre berühmten amerikanischen Kollegen

Willard V. O. Quine (720–723), Hilary Putnam (714–718), Donald David-son (194–200) und Nelson Goodman (321–323), um nur einige zu nennen,selbstverständlich in ausführlichen Porträts dar. Auch ist angesichts derumfangreichen, vor allem angloamerikanischen, Auseinandersetzung mit

Langers philosophischen Grundpositionen schwer nachvollziehbar, dasssie weniger „zitiert worden“ sein soll als z. B. ein in dem Lexikon aufge-führter Philosoph namens Karl Korsch (471–473).2Vielleicht ist es vorran-gig ein europäisches oder sogar deutsches Problem, dass Susanne K. Lan-ger vergleichsweise wenig in philosophischen Übersichtswerken auftaucht,denn während mehrere ihrer Bücher in den USA zwei oder drei Auflagenerfuhren (vgl. SL, PhK, FFPhiloso-), erschien lediglich ihre Untersuchung phy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite and Art (PhK)in deutscher Übersetzung. Obwohl ein Klassiker der semantischen Kunst-philosophie, ist das 1965 (und 1979) unter dem Titel Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst (PhK dt.)publizierte Buch schon lange nicht mehr im Handel erhältlich.

Probleme mit dem biologisch-kulturanthropologischen Spätwerk

Schaut man sich die Literatur über Langer genauer an, so zeigt sich,dass auch im angloamerikanischen Sprachraum keine kontinuierliche Aus-einandersetzung stattfindet. Zwar wurden ihre Werke nach ihrem Erschei-nen z.T. von bedeutenden Philosophen positiv rezensiert3, aber die sach-liche Rezeption ihrer Konzeption endet mit wenigen Ausnahmen in den70er-Jahren und beschränkt sich im Wesentlichen auf ihre symboltheoreti-sche Kunstphilosophie. Dies ist vermutlich darin begründet, dass Langersspätere biologisch-kulturanthropologische Konzeption des Menschen me-thodologische Probleme aufgibt, denn sie macht zahlreiche disziplinäreGrenzüberschreitungen in kultur- und entwicklungsgeschichtliche, biolo-gische und psychologische Wissensgebiete nötig. Der Leser sieht sich mitder kaum nachprüfbaren Frage konfrontiert, ob die materialreichen Aus-führungen, die den philosophischen Argumentationen zugrunde liegen,tatsächlich dem neuesten Forschungsstand der betreffenden Disziplin ent-sprechen. Hinzu kommt die prinzipielle Crux, dass der philosophischeRückgriff auf naturwissenschaftliche Ergebnisse wegen der Geschwindig-keit der Forschungsentwicklung notwendig schnell überholt ist. Aus Lan-gers Umorientierung von der Semantik zur Naturwissenschaft erklärt sichauch, dass sie, was ihr vielfach vorgeworfen wird, ihre neuartige Konzep-tion, die Unterscheidung diskursiver und nondiskursiv-präsentativer Sym-bolisierung nicht detaillierter semantisch ausgearbeitet hat.4Dennoch istes auch verwunderlich, dass Langers Spätphilosophie viele Jahre so wenigBeachtung fand, denn gerade ihre kulturtheoretisch-anthropologischeInterpretation von Kunst als Grundlage ihrer Geistphilosophie wie auchihre prinzipiell naturalistische Ausgangsposition kommen mindestens zweiTrends der Gegenwartsphilosophie entgegen: der „philosophy of mind“und der Verbindung von Kunst(-Philosophie) und „Cultural Studies“.

Neue Beachtung des philosophischen Gesamtwerks

Die Rezeption der Philosophie Susanne K. Langers änderte sich in den

90er-Jahren, und zwar vor allem im deutschsprachigen Raum. 1993 er-schien Barbara Kösters ausführliche Auseinandersetzung mit dem be-grifflichen Zusammenhang von „feeling“, „abstraction“ und „symbolictransformation“. Ebenfalls 1993 und in den Folgejahren publizierte Rolf

Lachmann eine Reihe von Aufsätzen über Langers philosophisches Werk,die in der ersten Gesamtdarstellung ihres philosophischen Denkwegesvon Lachmann im Jahr 2000 und in seinem ins Internet gestellten Por-trät der Philosophin eine vorläufige Abrundung fanden.5Gegenüber derbis dato vorherrschenden Sichtweise legt er seinen Schwerpunkt auf Lan-gers Philosophie des Geistes. In seiner umfangreichen Monographie ent-faltet er ihr Werk als Denkweg auf diese letzte Schaffensperiode hin, dieihren Niederschlag in Langers dreibändigem Werk Mind. An Essay on

Human Feeling (M I, II, III) fand.6

Aktueller Naturalismus

Auch Donald Dryden macht es sich in einem 1997 erschienenen Aufsatzzur Aufgabe, die Aktualität der Philosophie Langers für die gegenwärtige

Philosophie aufzuzeigen. Er kommt zu dem Ergebnis: „At the time Langerwas writing, […] the moves that she made in carrying out her project wereprophetic. They anticipate developments whose implications are onlygradually coming clear, and the totality of her work only makes sense inthe light of these developments.“7In der Tradition des amerikanischen

Naturalismus nimmt Langers Philosophie nach Dryden eine Sonderstel-lung ein, sofern sie schon 1942 eine Position formuliert, die dem reduktivenPhysikalismus widerspricht. Zwar teilt sie die naturalistische Ablehnungder dualistischen Unterscheidung in körperliche und geistige Substanzenund spricht sich mithin gegen die Annahme einer übernatürlichen Essenz,Seele oder geistigen Instanz im Menschen aus.8Aber ebenso wenig akzep-tiert sie die Reduktion der Bewusstseinsthematik auf ein physiologischesoder sogar physikalisches Vokabular. „The subject requires its own vo-cabulary“, heißt es in Mind Mind I, (267). Der Kernbegriff dieses neuenVokabulars ist der Begriff des „Aktes“. Er bezeichnet alle natürlichen Ab-läufe von den biochemischen Prozessen bis hin zu den differenziertestenBewusstseinsakten und bindet damit Geist in das gesamte lebendige Na-turgeschehen ein. Zugleich ist Langers Akt-Terminologie aber auch dieGrundlage der differenzierten Unterscheidung geistiger Prozesse vonallen anderen Prozessen. Mit ihrer Konzeption antizipiert Langer nachDryden eine der führenden Richtungen der heutigen naturalistischen„philosophy of mind“, den so genannten nonreduktiven Physikalismus.9

Symboltheorie

Weitere philosophisch vorausweisende Aspekte finden sich vor allem inLangers Symboltheorie, die den größten bisher nachweisbaren Einflusshatte. Ihre Anwendung des formallogischen Handwerkszeugs auf in der(neopositivistischen) Tradition bis dahin nicht „satisfaktionsfähige“ Ar-tikulationen (wie Gedichte, Musik, Alltagswahrnehmung etc.), ihre sichdaraus ergebende Erweiterung des symboltheoretischen Vokabulars wieauch ihre Skizze präsentativer Symbolisierungen haben zur Grundlegungeiner philosophischen Position beitragen, wonach der Mensch in allen sei-nen Vollzügen primär kognitiv-zeichenhaft ist. Der Mensch konstituiert inallen seinen Symbolisierungen seine Welt.

Damit vertritt Langer in Grundzügen einen symboltheoretisch-kon-struktivistischen Ansatz, wie er erst über fünfundzwanzig Jahre später voneiner der wichtigsten Symboltheorien des 20. Jahrhunderts entfaltetwurde, Nelson Goodmans Languages of Art. Obwohl Goodman kaum ex-plizit auf Langer verweist, stimmt ein Großteil seiner Ausgangs- und Rah-Neue Beachtung des philosophischen Gesamtwerks

Die Rezeption der Philosophie Susanne K. Langers änderte sich in den

90er-Jahren, und zwar vor allem im deutschsprachigen Raum. 1993 er-schien Barbara Kösters ausführliche Auseinandersetzung mit dem be-grifflichen Zusammenhang von „feeling“, „abstraction“ und „symbolictransformation“. Ebenfalls 1993 und in den Folgejahren publizierte Rolf

Lachmann eine Reihe von Aufsätzen über Langers philosophisches Werk,die in der ersten Gesamtdarstellung ihres philosophischen Denkwegesvon Lachmann im Jahr 2000 und in seinem ins Internet gestellten Por-trät der Philosophin eine vorläufige Abrundung fanden.5Gegenüber derbis dato vorherrschenden Sichtweise legt er seinen Schwerpunkt auf Lan-gers Philosophie des Geistes. In seiner umfangreichen Monographie ent-faltet er ihr Werk als Denkweg auf diese letzte Schaffensperiode hin, dieihren Niederschlag in Langers dreibändigem Werk Mind. An Essay on

Human Feeling (M I, II, III) fand.6

Aktueller Naturalismus

Auch Donald Dryden macht es sich in einem 1997 erschienenen Aufsatzzur Aufgabe, die Aktualität der Philosophie Langers für die gegenwärtige

Philosophie aufzuzeigen. Er kommt zu dem Ergebnis: „At the time Langerwas writing, […] the moves that she made in carrying out her project wereprophetic. They anticipate developments whose implications are onlygradually coming clear, and the totality of her work only makes sense inthe light of these developments.“7In der Tradition des amerikanischen

Naturalismus nimmt Langers Philosophie nach Dryden eine Sonderstel-lung ein, sofern sie schon 1942 eine Position formuliert, die dem reduktivenPhysikalismus widerspricht. Zwar teilt sie die naturalistische Ablehnungder dualistischen Unterscheidung in körperliche und geistige Substanzenund spricht sich mithin gegen die Annahme einer übernatürlichen Essenz,Seele oder geistigen Instanz im Menschen aus.8Aber ebenso wenig akzep-tiert sie die Reduktion der Bewusstseinsthematik auf ein physiologischesoder sogar physikalisches Vokabular. „The subject requires its own vo-cabulary“, heißt es in Mind Mind I, (267). Der Kernbegriff dieses neuenVokabulars ist der Begriff des „Aktes“. Er bezeichnet alle natürlichen Ab-läufe von den biochemischen Prozessen bis hin zu den differenziertestenBewusstseinsakten und bindet damit Geist in das gesamte lebendige Na-turgeschehen ein. Zugleich ist Langers Akt-Terminologie aber auch dieGrundlage der differenzierten Unterscheidung geistiger Prozesse vonallen anderen Prozessen. Mit ihrer Konzeption antizipiert Langer nachDryden eine der führenden Richtungen der heutigen naturalistischen„philosophy of mind“, den so genannten nonreduktiven Physikalismus.9

Symboltheorie

Weitere philosophisch vorausweisende Aspekte finden sich vor allem inLangers Symboltheorie, die den größten bisher nachweisbaren Einflusshatte. Ihre Anwendung des formallogischen Handwerkszeugs auf in der(neopositivistischen) Tradition bis dahin nicht „satisfaktionsfähige“ Ar-tikulationen (wie Gedichte, Musik, Alltagswahrnehmung etc.), ihre sichdaraus ergebende Erweiterung des symboltheoretischen Vokabulars wieauch ihre Skizze präsentativer Symbolisierungen haben zur Grundlegungeiner philosophischen Position beitragen, wonach der Mensch in allen sei-nen Vollzügen primär kognitiv-zeichenhaft ist. Der Mensch konstituiert inallen seinen Symbolisierungen seine Welt.

Damit vertritt Langer in Grundzügen einen symboltheoretisch-kon-struktivistischen Ansatz, wie er erst über fünfundzwanzig Jahre später voneiner der wichtigsten Symboltheorien des 20. Jahrhunderts entfaltetwurde, Nelson Goodmans Languages of Art. Obwohl Goodman kaum ex-plizit auf Langer verweist, stimmt ein Großteil seiner Ausgangs- und Rah-menthesen mit Langers symboltheoretischen Grundlagen überein.10Mitihm teilt Langer aber auch das Schicksal, mit ihrer Philosophie vorschnellauf die philosophische Disziplin der Kunstphilosophie eingeengt zu wer-den.11In beiden Fällen aber geht es um eine umfassende Symboltheorie,innerhalb deren den komplexen Symbolisierungen der Kunst lediglicheine Schlüsselrolle der Welterfassung zukommt.12

Es steht außer Frage, dass Susanne K. Langer eine bedeutende phi-losophische Position des 20. Jahrhunderts repräsentiert und deshalb indem vorliegenden Sammelband vertreten sein muss. Es bleibt zu fragen,ob und inwiefern sie philosophisch zu den Themen „(Post-)Moderne“und „Kontingenz“ beiträgt.

2. Kontingenz und (Post-)Moderne

Die Begriffe „Kontingenz“ und „(Post-)Moderne“ liegen auf unter-schiedlichen Ebenen. Bei „Kontingenz“ handelt es sich um einen intrin-sisch philosophischen Begriff, der eine zentrale modal-logische und -onto-logische Konstellation bezeichnet. „Moderne“ oder „Postmoderne“ hin-gegen sind primär historische und, spezieller, geistesgeschichtliche oderphilosophiehistorische Etiketten. Susanne K. Langer hat weder ihr Lebenoder die Sozialität ihrer Zeit auf Modernitätsaspekte hin reflektiert, nochden Begriff der Moderne als philosophischen Gegenstand thematisiert. Sieist deshalb im strengen Sinne keine Denkerin der PostModerne(-).

Aber man kann Langer als Denkerin der Kontingenz bezeichnen. Kon-tingent ist, was nicht notwendig oder nicht notwendig ableitbar ist. Kontin-genz impliziert also „nicht-notwendig“ bzw. „nicht-notwendig wahr“. Als

Subbegriffe – zumindest im semantischen Umfeld – gehören dazu Begriffewie: „nicht bloß möglich“, „zufällig“, „indeterminiert“, „empirisch wahr“,

„existent“, „endlich“, „relativ“. Entscheidend ist Langers Auffassung, dassnicht nur eine formallogisch ideale Sprache als wahrheitsrelevant anzu-sehen ist und – demzufolge absoluten – Wahrheits- und Erkenntnis-anspruch für sich geltend machen kann, wie es die maßgeblichen Begrün-der der sie prägenden analytischen Tradition suggerieren.13Vielmehr gibtes eine Pluralität von alternativen Symbolsystemen, die dem strengen Prä-zisionsideal der „Ideal Language Philosophy“ nicht genügen und dennochzur kognitiven Weltkonstitution beitragen (PhK, 82ff.). Im argumentati-ven Umfeld dieser zentralen Idee finden sich die weiteren Bausteine zudem, was man schlagwortartig Langers Philosophie der Kontingenz be-titeln könnte. Sie betreffen die ontologisch-metaphysischen, die seman-tischen, logischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen ihrer Symbol-theorie. Darauf soll deshalb, nach einem philosophisch-biographischenAbriss (3.), das Hauptaugenmerk der nachfolgenden Ausführungen (4., 5.,6.) gerichtet sein.

3. Ein philosophisches Leben

Am 20. 12. 1895 wurde Susanne Katharina Knauth, spätere Langer, alsKind deutscher Eltern in New York geboren. Susanne K. Langers akade-mische Zeit liest sich wie ein Beleg für gelebte Kontingenz. Ihr Vater, vonden gutbürgerlichen sozialen Maximen seiner Zeit geprägt, hielt ein Stu-dium für Frauen für unpassend. Erst nach seinem Tod begann Langer des-halb 1916 Philosophie in Harvard zu studieren, wo sie 1920 mit dem „Ba-chelor of Art“ abschloss. Sehr wahrscheinlich ist auch, dass die historischbedingte Wissenschaftspolitik und -organisation Langer als Frau auf ihrerberuflichen Laufbahn Steine in den Weg legte. Angesichts ihrer kontinu-ierlichen Lehr- und Forschungstätigkeit, in deren Rahmen sie in kürzerenAbständen ein erfolgreiches Buch nach dem anderen vorlegte, ist es er-staunlich, dass sie so lange „am untersten Ende der akademischen Leiter,wenn überhaupt auf der Leiter“ arbeitete.14Erst nach dreißig Jahren aka-demischer Arbeit, in denen sie neben zahlreichen Aufsätzen vier Bücher inzum Teil mehreren Auflagen publizierte, erhielt sie in einem Alter, in demandere schon an ihren beruflichen Rückzug denken, mit neunundfünfzigJahren, eine Professur.

1921 heiratete sie den Historiker William L. Langer. 1922 wurde ihrSohn Leonard und 1925 der Sohn Bertrand geboren. Nach der Veröffent-lichung ihres Märchenbuches The Cruise of the Little Dipper and other Fairy Tales im Jahr 1923 erwarb sie 1924 ihren „Master of Arts“. Beein-flusst von Alfred North Whitehead, wurde sie 1926 mit der Untersuchung A Logical Analysis of Meaning promoviert.menthesen mit Langers symboltheoretischen Grundlagen überein.10Mitihm teilt Langer aber auch das Schicksal, mit ihrer Philosophie vorschnellauf die philosophische Disziplin der Kunstphilosophie eingeengt zu wer-den.11In beiden Fällen aber geht es um eine umfassende Symboltheorie,innerhalb deren den komplexen Symbolisierungen der Kunst lediglicheine Schlüsselrolle der Welterfassung zukommt.12

Es steht außer Frage, dass Susanne K. Langer eine bedeutende phi-losophische Position des 20. Jahrhunderts repräsentiert und deshalb indem vorliegenden Sammelband vertreten sein muss. Es bleibt zu fragen,ob und inwiefern sie philosophisch zu den Themen „(Post-)Moderne“und „Kontingenz“ beiträgt.

2. Kontingenz und (Post-)Moderne

Die Begriffe „Kontingenz“ und „(Post-)Moderne“ liegen auf unter-schiedlichen Ebenen. Bei „Kontingenz“ handelt es sich um einen intrin-sisch philosophischen Begriff, der eine zentrale modal-logische und -onto-logische Konstellation bezeichnet. „Moderne“ oder „Postmoderne“ hin-gegen sind primär historische und, spezieller, geistesgeschichtliche oderphilosophiehistorische Etiketten. Susanne K. Langer hat weder ihr Lebenoder die Sozialität ihrer Zeit auf Modernitätsaspekte hin reflektiert, nochden Begriff der Moderne als philosophischen Gegenstand thematisiert. Sieist deshalb im strengen Sinne keine Denkerin der PostModerne(-).

Aber man kann Langer als Denkerin der Kontingenz bezeichnen. Kon-tingent ist, was nicht notwendig oder nicht notwendig ableitbar ist. Kontin-genz impliziert also „nicht-notwendig“ bzw. „nicht-notwendig wahr“. Als

Subbegriffe – zumindest im semantischen Umfeld – gehören dazu Begriffewie: „nicht bloß möglich“, „zufällig“, „indeterminiert“, „empirisch wahr“,

„existent“, „endlich“, „relativ“. Entscheidend ist Langers Auffassung, dassnicht nur eine formallogisch ideale Sprache als wahrheitsrelevant anzu-sehen ist und – demzufolge absoluten – Wahrheits- und Erkenntnis-anspruch für sich geltend machen kann, wie es die maßgeblichen Begrün-der der sie prägenden analytischen Tradition suggerieren.13Vielmehr gibtes eine Pluralität von alternativen Symbolsystemen, die dem strengen Prä-zisionsideal der „Ideal Language Philosophy“ nicht genügen und dennochzur kognitiven Weltkonstitution beitragen (PhK, 82ff.). Im argumentati-ven Umfeld dieser zentralen Idee finden sich die weiteren Bausteine zudem, was man schlagwortartig Langers Philosophie der Kontingenz be-titeln könnte. Sie betreffen die ontologisch-metaphysischen, die seman-tischen, logischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen ihrer Symbol-theorie. Darauf soll deshalb, nach einem philosophisch-biographischenAbriss (3.), das Hauptaugenmerk der nachfolgenden Ausführungen (4., 5.,6.) gerichtet sein.

3. Ein philosophisches Leben

Am 20. 12. 1895 wurde Susanne Katharina Knauth, spätere Langer, alsKind deutscher Eltern in New York geboren. Susanne K. Langers akade-mische Zeit liest sich wie ein Beleg für gelebte Kontingenz. Ihr Vater, vonden gutbürgerlichen sozialen Maximen seiner Zeit geprägt, hielt ein Stu-dium für Frauen für unpassend. Erst nach seinem Tod begann Langer des-halb 1916 Philosophie in Harvard zu studieren, wo sie 1920 mit dem „Ba-chelor of Art“ abschloss. Sehr wahrscheinlich ist auch, dass die historischbedingte Wissenschaftspolitik und -organisation Langer als Frau auf ihrerberuflichen Laufbahn Steine in den Weg legte. Angesichts ihrer kontinu-ierlichen Lehr- und Forschungstätigkeit, in deren Rahmen sie in kürzerenAbständen ein erfolgreiches Buch nach dem anderen vorlegte, ist es er-staunlich, dass sie so lange „am untersten Ende der akademischen Leiter,wenn überhaupt auf der Leiter“ arbeitete.14Erst nach dreißig Jahren aka-demischer Arbeit, in denen sie neben zahlreichen Aufsätzen vier Bücher inzum Teil mehreren Auflagen publizierte, erhielt sie in einem Alter, in demandere schon an ihren beruflichen Rückzug denken, mit neunundfünfzigJahren, eine Professur.

1921 heiratete sie den Historiker William L. Langer. 1922 wurde ihrSohn Leonard und 1925 der Sohn Bertrand geboren. Nach der Veröffent-lichung ihres Märchenbuches The Cruise of the Little Dipper and other Fairy Tales im Jahr 1923 erwarb sie 1924 ihren „Master of Arts“. Beein-flusst von Alfred North Whitehead, wurde sie 1926 mit der Untersuchung A Logical Analysis of Meaning promoviert.

Bis 1939 arbeitete Susanne K. Langer als Tutorin am Radcliffe College.In diese Zeit fällt auch ihre Auseinandersetzung mit den Schriften vonCharles Sanders Peirce sowie ihre Beteiligung an der 1933 gegründeten„Association for Symbolic Logic“, in deren Zeitschrift sie Autorin undzeitweilige Mitherausgeberin war. 1930 erschien The Practice of Philoso- phy (PPhAn) und 1937 ihre mehrfach aufgelegte Einführung in die Logik Introduction to Symbolic Logic (SL).

In die Folgejahre fielen mehrere zukunftsweisende Ereignisse für Lan-gers weiteres Leben. 1941 lernte sie Ernst Cassirer kennen, mit dessenphilosophischen Schriften sie sich bereits seit ca. zwanzig Jahren beschäf-tigte. Ihre Übersetzung von Cassirers Untersuchung Sprache und Mythos aus dem Deutschen bereitete den Boden für Cassirers Rezeption in Ame-rika.15Nach seinem Tod führte sie von 1945 bis 1950 seine Vorlesungen ander Columbia University fort.

1942 wurde Susanne K. Langers Ehe geschieden, sie gab ihre Tutoren-stelle auf und ihr Buch Philosophy in a New Key PhK() erschien. Obwohldas Buch breite Aufnahme fand und ebenso international rezipiert wurdewie ihr 1953 veröffentlichtes viertes Buch Feeling and Form FF(), erhieltsie erst 1954 eine feste Professur am Connecticut College in New London.In den beiden folgenden Büchern Problems of Art PA() von 1957 und Philosophical Sketches (PhSk) von 1962 schob sich bereits die These inden Vordergrund, deren Ausarbeitung ihre Spätphilosophie galt.

Gestützt durch ein langfristiges Forschungsstipendium widmete sich Su-sanne K. Langer nach ihrer Emeritierung im Jahr 1962 ganz dem großenProjekt einer kulturtheoretisch-anthropologischen Philosophie des Geis-tes. Ungefähr fünfundzwanzig Jahre arbeitete Langer an ihrem Werk Mind: An Essay on Human Feeling (M I, II, III), dessen drei Bände 1967,1972 und 1982 erschienen. Den dritten Band musste sie infolge ihrer Dia-beteserkrankung und zunehmenden Erblindung um wesentliche Kapitelkürzen; in ihnen hatte sie ihrem Konzept gemäß die Schlussfolgerungenaus den breit angelegten materialen Partien für eine „epistemological andpossibly even metaphysical theory“ (M III, 201) vorgesehen. Am 17. Juli1985 starb Susanne K. Langer neunundachtzigjährig in ihrem Haus in OldLyme.16

Der Perspektivenwechsel Langers von der logisch-semantischen Sym-boltheorie zur biologisch-kulturanthropologisch ausgerichteten Geistphi-losophie fällt etwa in das Erscheinungsjahr von Feeling and Form. Zu die-ser Zeit schrieb sie an einen Freund: „Until I realized one day, not so longago, that I had written so much about this living quality which art has –and I didn’t even know, what life is! I realized that it was time to become astudent again, this time in biology.“17Langer vollzog damit in ihrer philo-sophischen Entwicklung selbstreferenziell das, was sie in ihrem theoreti-schen Ansatz semantisch begründet: die Kontingenz der Erkenntniswege.

Sachlich betrachtet, handelt es sich aber nicht um streng getrenntephilosophische Phasen, sondern mehr um eine Verschiebung der Schwer-punkte. In den Schriften zur Symboltheorie finden sich zunehmend mate-rialreiche Argumentationsfolgen, die auf dem Studium der Humanwissen-schaften fußen. Die spätere biologisch-kulturanthropologische Geistphilo-sophie wiederum arbeitet mit dem begrifflichen Instrumentarium der inden früheren Werken erarbeiteten symboltheoretischen Semantik. Diesersachliche Zusammenhang rechtfertigt einen systematischen Umgang mitden Texten Langers unabhängig von ihrer Entstehungsgeschichte.

4. Der Mensch und seine Symbolisierungen

Was den Menschen zum Menschen macht: (An-)Zeichen und Symbole

Im Licht der späteren Geistphilosophie kann man Langers Buch Phi- losophy in a New Key als groß angelegte anthropologische Studie der na-turhaften Kontingenz des Menschen lesen. Es geht Langer darum, zuzeigen, dass der Mensch kategorial und nicht nur graduell von „jedem an-deren Tier“ zu unterscheiden ist. Innerhalb der Kontinuität des Naturge-schehens sind es die geistigen Prozesse, welche die „Natur“ des Menschenund nur des Menschen ausmachen. Sie können weder entwicklungsge-schichtlich noch systematisch als bloß höherstufige Perzeption des tieri-schen Bereichs angesehen werden. Menschliche Geistigkeit äußert sichnach Langer als natürliches Grundbedürfnis zum Symbolisieren.

Der Unterscheidung von Mensch und Tier liegt eine Unterscheidungder Zeichen zugrunde. Tiere „wissen“ durch Anzeichen PhK(„signs“, ,57ff., vgl. PhK, 62) von dem Dasein einzelner Dinge; sie deuten Zeichenals Anzeichen von of SLihrer Um-Welt („knowledge things“, , 22). Auchdas „höhere Tier“ Mensch bedarf der Interpretation von Anzeichen zurReaktion auf seine Umwelt und zu ihrer bestmöglichen Organisation.Aber er kann auch Zeichen verstehen und kreieren, die etwas über dieWelt aussagen („knowledge about SLPhKthings“, , 22, vgl. , 62). Diese Zei-

Bis 1939 arbeitete Susanne K. Langer als Tutorin am Radcliffe College.In diese Zeit fällt auch ihre Auseinandersetzung mit den Schriften vonCharles Sanders Peirce sowie ihre Beteiligung an der 1933 gegründeten„Association for Symbolic Logic“, in deren Zeitschrift sie Autorin undzeitweilige Mitherausgeberin war. 1930 erschien The Practice of Philoso- phy (PPhAn) und 1937 ihre mehrfach aufgelegte Einführung in die Logik Introduction to Symbolic Logic (SL).

In die Folgejahre fielen mehrere zukunftsweisende Ereignisse für Lan-gers weiteres Leben. 1941 lernte sie Ernst Cassirer kennen, mit dessenphilosophischen Schriften sie sich bereits seit ca. zwanzig Jahren beschäf-tigte. Ihre Übersetzung von Cassirers Untersuchung Sprache und Mythos aus dem Deutschen bereitete den Boden für Cassirers Rezeption in Ame-rika.15Nach seinem Tod führte sie von 1945 bis 1950 seine Vorlesungen ander Columbia University fort.

1942 wurde Susanne K. Langers Ehe geschieden, sie gab ihre Tutoren-stelle auf und ihr Buch Philosophy in a New Key PhK() erschien. Obwohldas Buch breite Aufnahme fand und ebenso international rezipiert wurdewie ihr 1953 veröffentlichtes viertes Buch Feeling and Form FF(), erhieltsie erst 1954 eine feste Professur am Connecticut College in New London.In den beiden folgenden Büchern Problems of Art PA() von 1957 und Philosophical Sketches (PhSk) von 1962 schob sich bereits die These inden Vordergrund, deren Ausarbeitung ihre Spätphilosophie galt.

Gestützt durch ein langfristiges Forschungsstipendium widmete sich Su-sanne K. Langer nach ihrer Emeritierung im Jahr 1962 ganz dem großenProjekt einer kulturtheoretisch-anthropologischen Philosophie des Geis-tes. Ungefähr fünfundzwanzig Jahre arbeitete Langer an ihrem Werk Mind: An Essay on Human Feeling (M I, II, III), dessen drei Bände 1967,1972 und 1982 erschienen. Den dritten Band musste sie infolge ihrer Dia-beteserkrankung und zunehmenden Erblindung um wesentliche Kapitelkürzen; in ihnen hatte sie ihrem Konzept gemäß die Schlussfolgerungenaus den breit angelegten materialen Partien für eine „epistemological andpossibly even metaphysical theory“ (M III, 201) vorgesehen. Am 17. Juli1985 starb Susanne K. Langer neunundachtzigjährig in ihrem Haus in OldLyme.16

Der Perspektivenwechsel Langers von der logisch-semantischen Sym-boltheorie zur biologisch-kulturanthropologisch ausgerichteten Geistphi-losophie fällt etwa in das Erscheinungsjahr von Feeling and Form. Zu die-ser Zeit schrieb sie an einen Freund: „Until I realized one day, not so longago, that I had written so much about this living quality which art has –and I didn’t even know, what life is! I realized that it was time to become astudent again, this time in biology.“17Langer vollzog damit in ihrer philo-sophischen Entwicklung selbstreferenziell das, was sie in ihrem theoreti-schen Ansatz semantisch begründet: die Kontingenz der Erkenntniswege.

Sachlich betrachtet, handelt es sich aber nicht um streng getrenntephilosophische Phasen, sondern mehr um eine Verschiebung der Schwer-punkte. In den Schriften zur Symboltheorie finden sich zunehmend mate-rialreiche Argumentationsfolgen, die auf dem Studium der Humanwissen-schaften fußen. Die spätere biologisch-kulturanthropologische Geistphilo-sophie wiederum arbeitet mit dem begrifflichen Instrumentarium der inden früheren Werken erarbeiteten symboltheoretischen Semantik. Diesersachliche Zusammenhang rechtfertigt einen systematischen Umgang mitden Texten Langers unabhängig von ihrer Entstehungsgeschichte.

4. Der Mensch und seine Symbolisierungen

Was den Menschen zum Menschen macht: (An-)Zeichen und Symbole

Im Licht der späteren Geistphilosophie kann man Langers Buch Phi- losophy in a New Key als groß angelegte anthropologische Studie der na-turhaften Kontingenz des Menschen lesen. Es geht Langer darum, zuzeigen, dass der Mensch kategorial und nicht nur graduell von „jedem an-deren Tier“ zu unterscheiden ist. Innerhalb der Kontinuität des Naturge-schehens sind es die geistigen Prozesse, welche die „Natur“ des Menschenund nur des Menschen ausmachen. Sie können weder entwicklungsge-schichtlich noch systematisch als bloß höherstufige Perzeption des tieri-schen Bereichs angesehen werden. Menschliche Geistigkeit äußert sichnach Langer als natürliches Grundbedürfnis zum Symbolisieren.

Der Unterscheidung von Mensch und Tier liegt eine Unterscheidungder Zeichen zugrunde. Tiere „wissen“ durch Anzeichen PhK(„signs“, ,57ff., vgl. PhK, 62) von dem Dasein einzelner Dinge; sie deuten Zeichenals Anzeichen von of SLihrer Um-Welt („knowledge things“, , 22). Auchdas „höhere Tier“ Mensch bedarf der Interpretation von Anzeichen zurReaktion auf seine Umwelt und zu ihrer bestmöglichen Organisation.Aber er kann auch Zeichen verstehen und kreieren, die etwas über dieWelt aussagen („knowledge about SLPhKthings“, , 22, vgl. , 62). Diese Zei-chen heißen Symbole und ihre Verwendung ist frei von unmittelbaren Pra-xis- und Zweckbezügen. Dem entwicklungspsychologischen Einwand,auch das Symbolisieren sei ein, eben höherer, typisch menschlicher Über-lebenstrieb, hält Langer entgegen, dass sich Symbolisierungen wie Rituale,Zeremonien, Kunst oder Mythen wohl kaum als Mittel der Lebenserhal-tung eignen: „Wenn ein Wilder in Unkenntnis der physikalischen Gesetzeversucht, einen Berg dadurch, dass er ihn umarmt, zum Öffnen seinerHöhlen zu bewegen, so müssen wir beschämt zugeben, dass keine Ratte imExperimentierkäfig des Psychologen eine so offenkundig unwirksame Me-thode anwenden würde, um die Tür zu öffnen. Auch dürften angesichtsihrer Nutzlosigkeit solche Versuche nicht jahrtausendelang fortgesetztwerden [und zwar gerade in evolutionsbiologischer und -psychologischerPerspektive, C. P.]; selbst Schwachsinnige würden schneller lernen“ (PhK dt., 45).

Symbolisieren ist demnach unabhängig von der Instinktbindung an denÜberlebenstrieb und macht gerade dadurch das Definiens des Menschenaus: „This basic need, which certainly is obvious only in man, is the need ofsymbolization. The symbol-making function is one of man’s primary activi-ties, like eating, looking, or moving about. It is the fundamental process ofhis mind, and goes on all the time“ (PhK, 41). Man kann die Symbolisie-rungsfähigkeit in Langers Konzeption somit als eine kontingente Natur-konstante des Menschen bezeichnen. Sie ist dem Menschen als Menscheneigen, realisiert sich aber je relativ zu sozialen, religiösen, historischen Kon-texten, die nicht absolut determiniert oder metaphysisch (vorher-)bestimmtsind.

Durchgängige Symbolisierung und Wirklichkeit

In semantischer Hinsicht legt Philosophy in a New Key die Grundzügeeiner neuen Symboltheorie vor. Langer schafft damit das begriffliche Be-zugssystem („frame work“) für eine Philosophie des Geistes, die das ge-samte Spektrum menschlicher Bewusstseinstätigkeit erfassen kann. Dennauch alltagssprachliche und metaphorische Formulierungen, Rituale, ma-gische Praktiken, religiöse Zeremonien, Mythen und künstlerische Zei-chenprozesse artikulieren die kognitive Weltkonstitution. Langer nimmtNelson Goodmans konstruktivistische Prämisse vorweg, wenn sie betont,dass es keine (vor-)gegebene Wirklichkeit gibt. Die uns umgebende Wirk-lichkeit ist immer schon symbolisch erfasste und erschlossene Wirklich-keit. Bereits unsere „unmittelbare“ sinnliche Wahrnehmung fungiert sym-bolisierend, indem sie die erfassten Dinge und Ereignisse der Naturvorbewusst als Formen, d. h. als Gruppen, Muster, Serien bzw. Gestaltenetc. interpretiert (vgl. PhK, 89ff.).18Vice versa sind aber auch die Symboli-sierungsleistungen, welche die menschliche Kultur ausmachen, nicht na-turunabhängig. Vielmehr sind sie in Langers naturalistischem Modell inder natürlichen Ordnung situiert.

Die fundamentale Interrelationalität von Natur und Kultur kann alsweiterer Baustein zu einer Philosophie der Kontingenz gedeutet werden.Denn konsequent weitergedacht, lässt die permanente Veränderlichkeitdieses Wechselverhältnisses weder absolut fixierte Symbolisierungsrasternoch ewige Naturgesetze zu. Es kann nur viele unterschiedliche Weltper-spektiven und entsprechend verallgemeinerte begriffliche Bezugssystemegeben – seien es physikalische, poetische, biochemische, musikalische, zoo-logische, politische, bildnerische, soziologische etc. und ihre jeweiligenSubsysteme. Jedes Bezugssystem unterliegt je eigenen Gesetzen und kannmit den anderen Bezugssystemen inkompatibel sein; keines dieser Syste-me kann deshalb als solches den notwendigen Wahrheitsanspruch für sicherheben.

Über das Unsagbare

Der gesamte Bereich der sinnlichen und emotionalen Erfahrungen, derWünsche, Gefühle, Einstellungen, Hoffnungen etc. entzieht sich der ein-deutigen Symbolisierung durch idealsprachliche („diskursive“) Zeichen-systeme. Äußerungen dieser Art wurde deshalb von den Vertretern der„Ideal Language Philosophy“ (Langer zitiert Carnap, Russell und den frü-hen Wittgenstein) jegliche Wahrheitsfähigkeit abgesprochen; sie machenkeine Aussagen und nehmen demzufolge nicht Bezug auf Tatsachen. Siehaben also keine referenzielle Funktion, sondern drücken lediglich Be-findlichkeiten aus. Von zweifelhafter Berühmtheit ist in diesem Zu-sammenhang eine Passage geworden, die auch Langer in kritischerAbsicht zitiert. Darin stellt Carnap fest, dass lyrische Verse ebenso wiemetaphysische Aussagen keinen anderen semantischen Status haben alsGefühlsausrufe oder -aufschreie wie „oh“ und „ah“: Sie haben bloß „ex-pressive“ Funktion.19Langer erwidert schlagfertig: „Warum sollten wirunsere Gefühle auf so hohem Niveau herausschreien, dass jeder denkenmuss, wir sprächen? Es ist klar, Dichtung bedeutet mehr als einen Auf-schrei; dass sie artikuliert wird, hat gute Gründe; und die Metaphysik istmehr als nur ein sanftes Brummeln, mit dem wir es uns in der Welt gemüt-lich machen. Wir haben es hier mit Symbolismen zu tun […] Das Feld derSemantik reicht weiter als das der [diskursiv-idealen, C.P.] Sprache“ (PhK dt ., 93). Außerdem ist nach Langer ein pragmatischer Aspekt zu bedenken:chen heißen Symbole und ihre Verwendung ist frei von unmittelbaren Pra-xis- und Zweckbezügen. Dem entwicklungspsychologischen Einwand,auch das Symbolisieren sei ein, eben höherer, typisch menschlicher Über-lebenstrieb, hält Langer entgegen, dass sich Symbolisierungen wie Rituale,Zeremonien, Kunst oder Mythen wohl kaum als Mittel der Lebenserhal-tung eignen: „Wenn ein Wilder in Unkenntnis der physikalischen Gesetzeversucht, einen Berg dadurch, dass er ihn umarmt, zum Öffnen seinerHöhlen zu bewegen, so müssen wir beschämt zugeben, dass keine Ratte imExperimentierkäfig des Psychologen eine so offenkundig unwirksame Me-thode anwenden würde, um die Tür zu öffnen. Auch dürften angesichtsihrer Nutzlosigkeit solche Versuche nicht jahrtausendelang fortgesetztwerden [und zwar gerade in evolutionsbiologischer und -psychologischerPerspektive, C. P.]; selbst Schwachsinnige würden schneller lernen“ (PhK dt., 45).

Symbolisieren ist demnach unabhängig von der Instinktbindung an denÜberlebenstrieb und macht gerade dadurch das Definiens des Menschenaus: „This basic need, which certainly is obvious only in man, is the need ofsymbolization. The symbol-making function is one of man’s primary activi-ties, like eating, looking, or moving about. It is the fundamental process ofhis mind, and goes on all the time“ (PhK, 41). Man kann die Symbolisie-rungsfähigkeit in Langers Konzeption somit als eine kontingente Natur-konstante des Menschen bezeichnen. Sie ist dem Menschen als Menscheneigen, realisiert sich aber je relativ zu sozialen, religiösen, historischen Kon-texten, die nicht absolut determiniert oder metaphysisch (vorher-)bestimmtsind.

Durchgängige Symbolisierung und Wirklichkeit

In semantischer Hinsicht legt Philosophy in a New Key die Grundzügeeiner neuen Symboltheorie vor. Langer schafft damit das begriffliche Be-zugssystem („frame work“) für eine Philosophie des Geistes, die das ge-samte Spektrum menschlicher Bewusstseinstätigkeit erfassen kann. Dennauch alltagssprachliche und metaphorische Formulierungen, Rituale, ma-gische Praktiken, religiöse Zeremonien, Mythen und künstlerische Zei-chenprozesse artikulieren die kognitive Weltkonstitution. Langer nimmtNelson Goodmans konstruktivistische Prämisse vorweg, wenn sie betont,dass es keine (vor-)gegebene Wirklichkeit gibt. Die uns umgebende Wirk-lichkeit ist immer schon symbolisch erfasste und erschlossene Wirklich-keit. Bereits unsere „unmittelbare“ sinnliche Wahrnehmung fungiert sym-bolisierend, indem sie die erfassten Dinge und Ereignisse der Naturvorbewusst als Formen, d. h. als Gruppen, Muster, Serien bzw. Gestaltenetc. interpretiert (vgl. PhK, 89ff.).18Vice versa sind aber auch die Symboli-sierungsleistungen, welche die menschliche Kultur ausmachen, nicht na-turunabhängig. Vielmehr sind sie in Langers naturalistischem Modell inder natürlichen Ordnung situiert.

Die fundamentale Interrelationalität von Natur und Kultur kann alsweiterer Baustein zu einer Philosophie der Kontingenz gedeutet werden.Denn konsequent weitergedacht, lässt die permanente Veränderlichkeitdieses Wechselverhältnisses weder absolut fixierte Symbolisierungsrasternoch ewige Naturgesetze zu. Es kann nur viele unterschiedliche Weltper-spektiven und entsprechend verallgemeinerte begriffliche Bezugssystemegeben – seien es physikalische, poetische, biochemische, musikalische, zoo-logische, politische, bildnerische, soziologische etc. und ihre jeweiligenSubsysteme. Jedes Bezugssystem unterliegt je eigenen Gesetzen und kannmit den anderen Bezugssystemen inkompatibel sein; keines dieser Syste-me kann deshalb als solches den notwendigen Wahrheitsanspruch für sicherheben.

Über das Unsagbare

Der gesamte Bereich der sinnlichen und emotionalen Erfahrungen, derWünsche, Gefühle, Einstellungen, Hoffnungen etc. entzieht sich der ein-deutigen Symbolisierung durch idealsprachliche („diskursive“) Zeichen-systeme. Äußerungen dieser Art wurde deshalb von den Vertretern der„Ideal Language Philosophy“ (Langer zitiert Carnap, Russell und den frü-hen Wittgenstein) jegliche Wahrheitsfähigkeit abgesprochen; sie machenkeine Aussagen und nehmen demzufolge nicht Bezug auf Tatsachen. Siehaben also keine referenzielle Funktion, sondern drücken lediglich Be-findlichkeiten aus. Von zweifelhafter Berühmtheit ist in diesem Zu-sammenhang eine Passage geworden, die auch Langer in kritischerAbsicht zitiert. Darin stellt Carnap fest, dass lyrische Verse ebenso wiemetaphysische Aussagen keinen anderen semantischen Status haben alsGefühlsausrufe oder -aufschreie wie „oh“ und „ah“: Sie haben bloß „ex-pressive“ Funktion.19Langer erwidert schlagfertig: „Warum sollten wirunsere Gefühle auf so hohem Niveau herausschreien, dass jeder denkenmuss, wir sprächen? Es ist klar, Dichtung bedeutet mehr als einen Auf-schrei; dass sie artikuliert wird, hat gute Gründe; und die Metaphysik istmehr als nur ein sanftes Brummeln, mit dem wir es uns in der Welt gemüt-lich machen. Wir haben es hier mit Symbolismen zu tun […] Das Feld derSemantik reicht weiter als das der [diskursiv-idealen, C.P.] Sprache“ (PhK dt ., 93). Außerdem ist nach Langer ein pragmatischer Aspekt zu bedenken:Wenn man das „neo-positivistische“ Präzisionsideal anlegt, kann maneigentlich überhaupt nichts mehr wahrhaft verstehen oder über etwas Aus-sagen treffen: „If we consider how difficult it is to construct a meaningfullanguage that shall meet neo-positivistic standards, it is quite incredible thatpeople should ever say anything at all, or understand each other’s proposi-tions“ (PhK, 87). Wenn also sinnliche, emotionale, lebensweltliche, religiöseund künstlerische Äußerungen „jenseits“ der bisherigen diskursiven Logikliegen, dann muss eben in dem „Jenseits“ eine neue, für diese Äußerungengenuine Semantik erarbeitet werden. Genau dies tut Langer mit ihrem An-satz zu einer präsentativen PhKSymbolik (presentational symbolism, , 97).Präsentative Symbolisierung

Aus der Gegenüberstellung zu diskursiven Symbolsystemen entwickeltLanger als Hauptmerkmale präsentativer Symbolisierung: 1. Es gibt kei-nen Zeichensatz wie etwa das Alphabet, also kein feststehendes Vokabu-lar und keine eindeutig fixierte Syntax zur Kombination und Organisationseiner Elemente. 2. Die Elemente des Vokabulars sind nicht konventionelldefiniert, sondern 3. ausschließlich aus ihrem (individuellen) Kontextheraus zu verstehen, zu verwenden oder sogar zu konstruieren; eine prä-sentative Symbolisierung zeichnet sich primär nicht durch analysierbaren,sondern durch mehrdeutigen und gesamtheitlich-einzigartigen Gegen-standsbezug („total reference“) aus; ihr Gegenstand ist individuell. 4. Eskann demzufolge kein Wörterbuch und keine eindeutige Übersetzung inandere Symbolsysteme geben, sondern nur Strukturanalogien; 5. die Ele-mente der präsentativen Bezugnahmen sind „tausendmal zahlreicher“ alsin der diskursiven Symbolisierung (vgl. PhK dt., 94–97).

Nelson Goodman wird sechsundzwanzig Jahre später ohne direktenBezug auf Langer einen ähnlichen Weg der Analyse von Symbolsystemenbeschreiten und er kommt mit seinen Symptomen der Kunst zu durchausvergleichbaren Symbolbeschreibungen. So sind bei Goodman die erstenbeiden Charakteristika Langers zum Symptom der „syntaktischen Dichte“ausgearbeitet. Insbesondere die im dritten und vierten Merkmal präsen-tativer Symbole mitausgesagte semantische Mehrdeutigkeit präzisiertGoodman in seinem Symptom der „semantischen Dichte“. Das fünfteMerkmal weist in die Richtung von Goodmans „relativer syntaktischerFülle“ sowie der „multiplen und komplexen Bezugnahme“.20

Während aber Langer die Merkmale der präsentativen Symbolik nurüber wenige Seiten skizziert, entwickelt und präzisiert Goodman die vonihr „präsentativ“ genannten Merkmale zu einer über mehrere Bücher hin-weg immer ausgefeilteren Semantik. Und während bei Langer die Unter-scheidung diskursiver und präsentativer Symbolsysteme deckungsgleichmit der Abgrenzung der Wissenschaft(en) von Kunst, Ritual, Mythos undAlltagssprache ist, geht es Goodman mehr um die kognitiven Gemeinsam-keiten wissenschaftlicher und künstlerischer Symbolisierung als um derenUnterschiede.21

5. Semantisch-ontologische Grundlagen – eine Rekonstruktion

Alfred North Whitehead prognostiziert 1937 in seinem Buch Analysis of Meaning , dass die Ausweitung der symbolischen Logik auf Formen, dieüber räumliche, numerische und quantitative Beziehungen hinausgehen, infernerer Zukunft zu ihrer Grundlegungsfunktion für Disziplinen führenwerde wie für die Ästhetik, die Ethik, die Metaphysik und die Theologie.22Genau dies trifft für die Entwicklung des 20.Jahrhunderts und die heuteführenden Theorien zu.23Allerdings war 1937 die Zukunft nicht so fern,wie Whitehead gedacht hatte: 1939 publizierte Charles William Morris’seine semiotische Grundlegung der Ästhetik.241942 erschien mit SusanneK. Langers Philosophy in a New Key der Ansatz zu einer auf die Denk-Formen Kunst, Ritus und Mythos erweiterten symbolischen „Logik“. 1968entwarf Nelson Goodman eine allgemeine Symboltheorie, deren Haupt-anliegen darin besteht, die Gemeinsamkeiten wissenschaftlicher undkünstlerischer Symbolsysteme bereitzustellen.Wenn man das „neo-positivistische“ Präzisionsideal anlegt, kann maneigentlich überhaupt nichts mehr wahrhaft verstehen oder über etwas Aus-sagen treffen: „If we consider how difficult it is to construct a meaningfullanguage that shall meet neo-positivistic standards, it is quite incredible thatpeople should ever say anything at all, or understand each other’s proposi-tions“ (PhK, 87). Wenn also sinnliche, emotionale, lebensweltliche, religiöseund künstlerische Äußerungen „jenseits“ der bisherigen diskursiven Logikliegen, dann muss eben in dem „Jenseits“ eine neue, für diese Äußerungengenuine Semantik erarbeitet werden. Genau dies tut Langer mit ihrem An-satz zu einer präsentativen PhKSymbolik (presentational symbolism, , 97).Präsentative Symbolisierung

Aus der Gegenüberstellung zu diskursiven Symbolsystemen entwickeltLanger als Hauptmerkmale präsentativer Symbolisierung: 1. Es gibt kei-nen Zeichensatz wie etwa das Alphabet, also kein feststehendes Vokabu-lar und keine eindeutig fixierte Syntax zur Kombination und Organisationseiner Elemente. 2. Die Elemente des Vokabulars sind nicht konventionelldefiniert, sondern 3. ausschließlich aus ihrem (individuellen) Kontextheraus zu verstehen, zu verwenden oder sogar zu konstruieren; eine prä-sentative Symbolisierung zeichnet sich primär nicht durch analysierbaren,sondern durch mehrdeutigen und gesamtheitlich-einzigartigen Gegen-standsbezug („total reference“) aus; ihr Gegenstand ist individuell. 4. Eskann demzufolge kein Wörterbuch und keine eindeutige Übersetzung inandere Symbolsysteme geben, sondern nur Strukturanalogien; 5. die Ele-mente der präsentativen Bezugnahmen sind „tausendmal zahlreicher“ alsin der diskursiven Symbolisierung (vgl. PhK dt., 94–97).

Nelson Goodman wird sechsundzwanzig Jahre später ohne direktenBezug auf Langer einen ähnlichen Weg der Analyse von Symbolsystemenbeschreiten und er kommt mit seinen Symptomen der Kunst zu durchausvergleichbaren Symbolbeschreibungen. So sind bei Goodman die erstenbeiden Charakteristika Langers zum Symptom der „syntaktischen Dichte“ausgearbeitet. Insbesondere die im dritten und vierten Merkmal präsen-tativer Symbole mitausgesagte semantische Mehrdeutigkeit präzisiertGoodman in seinem Symptom der „semantischen Dichte“. Das fünfteMerkmal weist in die Richtung von Goodmans „relativer syntaktischerFülle“ sowie der „multiplen und komplexen Bezugnahme“.20

Während aber Langer die Merkmale der präsentativen Symbolik nurüber wenige Seiten skizziert, entwickelt und präzisiert Goodman die vonihr „präsentativ“ genannten Merkmale zu einer über mehrere Bücher hin-weg immer ausgefeilteren Semantik. Und während bei Langer die Unter-scheidung diskursiver und präsentativer Symbolsysteme deckungsgleichmit der Abgrenzung der Wissenschaft(en) von Kunst, Ritual, Mythos undAlltagssprache ist, geht es Goodman mehr um die kognitiven Gemeinsam-keiten wissenschaftlicher und künstlerischer Symbolisierung als um derenUnterschiede.21

5. Semantisch-ontologische Grundlagen – eine Rekonstruktion

Alfred North Whitehead prognostiziert 1937 in seinem Buch Analysis of Meaning , dass die Ausweitung der symbolischen Logik auf Formen, dieüber räumliche, numerische und quantitative Beziehungen hinausgehen, infernerer Zukunft zu ihrer Grundlegungsfunktion für Disziplinen führenwerde wie für die Ästhetik, die Ethik, die Metaphysik und die Theologie.22Genau dies trifft für die Entwicklung des 20.Jahrhunderts und die heuteführenden Theorien zu.23Allerdings war 1937 die Zukunft nicht so fern,wie Whitehead gedacht hatte: 1939 publizierte Charles William Morris’seine semiotische Grundlegung der Ästhetik.241942 erschien mit SusanneK. Langers Philosophy in a New Key der Ansatz zu einer auf die Denk-Formen Kunst, Ritus und Mythos erweiterten symbolischen „Logik“. 1968entwarf Nelson Goodman eine allgemeine Symboltheorie, deren Haupt-anliegen darin besteht, die Gemeinsamkeiten wissenschaftlicher undkünstlerischer Symbolsysteme bereitzustellen.Einordnung

Langers Ansatz in Philosophy in a New Key setzt eine erheblich umfas-sendere Auffassung von „Logik“ voraus als sie bis dato üblich war. Den-noch steht ihr Philosophieren zunächst ganz in der Tradition der Neu-begründung der Philosophie durch die Gründungsväter der (sprach-)ana-lytischen Philosophie, durch Gottlob Frege, Bertrand Russell und (denfrühen) Ludwig Wittgenstein, aber auch die Semiotik von Charles Sanders

Peirce. Als Philosophen, die auf dem „neuen Weg“ gehen, erwähnt Langerausdrücklich ihren Lehrer Alfred North Whitehead sowie Ludwig Witt-genstein, Rudolf Carnap, Charles K. Ogden und Ivor A. Richards, Charles

William Morris, aber auch Ernst Cassirer (PhK, 21f.). Gemeinsam ist der

„Ideal Language Philosophy“ der Gedanke, dass gegen Psychologisierungund Relativierung ein sicheres Fundament der Philosophie in logischenund mathematischen Strukturen gesetzt wird. Sie haben apriorische Gel-tung und bilden derart die einzig adäquate Basis für die angemessene be-griffliche Auseinandersetzung mit philosophischen Problemstellungen.25

Die Entwicklung der mathematischen oder formalen Logik gehört des-halb nach Langer zu den wichtigsten Aufgaben der Philosophie (vgl. SL,

7). 1937 schreibt sie selbst eine Einführung in die symbolische Logik. Aberbereits 1930 legt Langer in ihrer ersten größeren Arbeit, The Practice of

Philosophy ihre Konzeption einer von der symbolischen Logik fundierten

Philosophie vor. Darin bezeichnet sie als deren zentrales Ziel die „Be-schäftigung mit der Bedeutung [meaning]“ (PPhTSD, 21, , 384).

Relativität semantischer Systeme – Kontingenz der Erkenntnis

Philosophie ist also primär Semantik (vgl. TSD, 384). Wie Mathematikund Logik deduziert sie im Rahmen einer systematischen Konzeptionneue Erkenntnisse (Begriffe und Sätze) aus wenigen, hinreichend ge-sicherten Prämissen (vgl. PPh, 31f.). Dabei gibt es nach Langer mehr alsnur ein gültiges System oder Diskursuniversum („universe of discourse“).Insofern kann es je nach Bezugssystem zu unterschiedlichen und sogar in-kompatiblen Erkenntnismodellen kommen; keines ist notwendig wahr(vgl. TSD, FLP, 380 u. ö.; 181 f.). Aber gerade mit dieser relativistischenAuffassung verwehrt sie sich gegen den universalen philosophischenZweifel cartesianischer Prägung. Streng zu Ende gedacht gäbe es wahr-scheinlich gar keine Proposition, die Selbstevidenz für alle Leute besitze.Diese Einsicht aber führt einerseits zum Zweifel an den eigenen Prämis-sen, zum Zweifel des Zweifels … usw. und damit in einen Zirkel. Anderer-seits mündet aber auch der Versuch, die „Wahrheit“ der eigenen Prämis-sen (d. h. ihre Prämissen und deren Wahrheit … usw.) zu beweisen, ineinen regressus in infinitum. Diesen destruktiven Prozess nennt Langer„systematischen Zweifel“ („systematic doubt“). Sie setzt ihm den Gedan-ken der system-relativen Wahrheit entgegen: Der systematische Zweifelschließt nicht die Notwendigkeit von Grundannahmen in einem bestimm-ten logisch-philosophischen Begriffssystem aus. Diese „basic concepts“haben, wie in mathematischen Systemen, Bedeutung durch ihre korrektelogische Verwendung: Von ihnen können alle anderen Propositionen desbetreffenden Diskursuniversums korrekt abgeleitet werden (TSD, 380–382).

Langer betont über den analytischen Ertrag hinaus das inventive bzw. konstruktive Moment dieses logischen Verfahrens. Aus den Ausgangsprä-missen sind nicht nur Erkenntnisse ableitbar, sondern deduzierte Elemen-te können auch neu komponiert werden.26Semantisch unhaltbare Proble-me können so durch die angemessene Neuformulierung zu Begriffen wer-den, die ein Feld philosophisch relevanter Implikationen eröffnen (vgl. PPh , 66f.): „Symbolic logic is an instrument of exact thought, both analyticand constructive … It blasts misconceptions … by purposeful and lucidconstruction of ideas“ (SL, 7). Langers konstruktivistischer Ansatz dersymbolischen Logik erweist sich somit als eine semantische und epistemo-logische Kontingenzkonzeption: Auch wenn es sich bei den logischen Neu-formulierungen immer nur um operative Begriffe in Relation zu einemSystem handelt, so können sie doch als neue Symbole neue Erkenntnissegenerieren. Für den Philosophen wie für den Wissenschaftler und Mathe-matiker gilt: „He does not worry about his logical Principles as long as hehas good ‘working’ ideas, which lead him to the discovery of new facts“(TSD, 384).

Einordnung

Langers Ansatz in Philosophy in a New Key setzt eine erheblich umfas-sendere Auffassung von „Logik“ voraus als sie bis dato üblich war. Den-noch steht ihr Philosophieren zunächst ganz in der Tradition der Neu-begründung der Philosophie durch die Gründungsväter der (sprach-)ana-lytischen Philosophie, durch Gottlob Frege, Bertrand Russell und (denfrühen) Ludwig Wittgenstein, aber auch die Semiotik von Charles Sanders

Peirce. Als Philosophen, die auf dem „neuen Weg“ gehen, erwähnt Langerausdrücklich ihren Lehrer Alfred North Whitehead sowie Ludwig Witt-genstein, Rudolf Carnap, Charles K. Ogden und Ivor A. Richards, Charles

William Morris, aber auch Ernst Cassirer (PhK, 21f.). Gemeinsam ist der

„Ideal Language Philosophy“ der Gedanke, dass gegen Psychologisierungund Relativierung ein sicheres Fundament der Philosophie in logischenund mathematischen Strukturen gesetzt wird. Sie haben apriorische Gel-tung und bilden derart die einzig adäquate Basis für die angemessene be-griffliche Auseinandersetzung mit philosophischen Problemstellungen.25

Die Entwicklung der mathematischen oder formalen Logik gehört des-halb nach Langer zu den wichtigsten Aufgaben der Philosophie (vgl. SL,

7). 1937 schreibt sie selbst eine Einführung in die symbolische Logik. Aberbereits 1930 legt Langer in ihrer ersten größeren Arbeit, The Practice of

Philosophy ihre Konzeption einer von der symbolischen Logik fundierten

Philosophie vor. Darin bezeichnet sie als deren zentrales Ziel die „Be-schäftigung mit der Bedeutung [meaning]“ (PPhTSD, 21, , 384).

Relativität semantischer Systeme – Kontingenz der Erkenntnis

Philosophie ist also primär Semantik (vgl. TSD, 384). Wie Mathematikund Logik deduziert sie im Rahmen einer systematischen Konzeptionneue Erkenntnisse (Begriffe und Sätze) aus wenigen, hinreichend ge-sicherten Prämissen (vgl. PPh, 31f.). Dabei gibt es nach Langer mehr alsnur ein gültiges System oder Diskursuniversum („universe of discourse“).Insofern kann es je nach Bezugssystem zu unterschiedlichen und sogar in-kompatiblen Erkenntnismodellen kommen; keines ist notwendig wahr(vgl. TSD, FLP, 380 u. ö.; 181 f.). Aber gerade mit dieser relativistischenAuffassung verwehrt sie sich gegen den universalen philosophischenZweifel cartesianischer Prägung. Streng zu Ende gedacht gäbe es wahr-scheinlich gar keine Proposition, die Selbstevidenz für alle Leute besitze.Diese Einsicht aber führt einerseits zum Zweifel an den eigenen Prämis-sen, zum Zweifel des Zweifels … usw. und damit in einen Zirkel. Anderer-seits mündet aber auch der Versuch, die „Wahrheit“ der eigenen Prämis-sen (d. h. ihre Prämissen und deren Wahrheit … usw.) zu beweisen, ineinen regressus in infinitum. Diesen destruktiven Prozess nennt Langer„systematischen Zweifel“ („systematic doubt“). Sie setzt ihm den Gedan-ken der system-relativen Wahrheit entgegen: Der systematische Zweifelschließt nicht die Notwendigkeit von Grundannahmen in einem bestimm-ten logisch-philosophischen Begriffssystem aus. Diese „basic concepts“haben, wie in mathematischen Systemen, Bedeutung durch ihre korrektelogische Verwendung: Von ihnen können alle anderen Propositionen desbetreffenden Diskursuniversums korrekt abgeleitet werden (TSD, 380–382).

Langer betont über den analytischen Ertrag hinaus das inventive bzw. konstruktive Moment dieses logischen Verfahrens. Aus den Ausgangsprä-missen sind nicht nur Erkenntnisse ableitbar, sondern deduzierte Elemen-te können auch neu komponiert werden.26Semantisch unhaltbare Proble-me können so durch die angemessene Neuformulierung zu Begriffen wer-den, die ein Feld philosophisch relevanter Implikationen eröffnen (vgl. PPh , 66f.): „Symbolic logic is an instrument of exact thought, both analyticand constructive … It blasts misconceptions … by purposeful and lucidconstruction of ideas“ (SL, 7). Langers konstruktivistischer Ansatz dersymbolischen Logik erweist sich somit als eine semantische und epistemo-logische Kontingenzkonzeption: Auch wenn es sich bei den logischen Neu-formulierungen immer nur um operative Begriffe in Relation zu einemSystem handelt, so können sie doch als neue Symbole neue Erkenntnissegenerieren. Für den Philosophen wie für den Wissenschaftler und Mathe-matiker gilt: „He does not worry about his logical Principles as long as hehas good ‘working’ ideas, which lead him to the discovery of new facts“(TSD, 384).

Symbolische Logik und Erkenntnis der abstrakten Formen

Weit entfernt davon, sich in die vielen, wie man sagen könnte, technisch-formalen Logiken ihrer Zeit einzureihen, beinhaltet Langers Verständnissymbolischer Logik ein breites philosophisches Spektrum. Der Schlüsseldazu ist der Begriff der „abstrakten Formen“ („abstract forms“, SL, 17u. ö.). Alle, auch noch so unterschiedliche Logiken haben das Ziel derfortschreitenden Systematisierung und Verallgemeinerung von Erkennt-nissen und ihren Symbolisierungen. Menschliche Erkenntnis zeichnet sichprimär durch das Wissen über about die Dinge aus („knowledge things“, SL , 22, vgl. PhK, 62). Es impliziert die kognitive Situierung von Erkennt-nisobjekten in den Kontext ihrer generischen, funktionalen, topologi-schen, hierarchischen etc. Relationen. Ein solches kontextuelles Erkennenist nur auf dem Wege des Abstrahierens von der Fülle der multiplen, sichpermanent verändernden Zusammenhänge möglich. Das Abstraktions-ergebnis sind Strukturen, Gesetze oder, im engeren Sinne, logische For- men . Sie werden in Symbolen formuliert und logisch geordnet, generali-siert, präzisiert (PhK, 60ff.). In der symbolischen Logik geht es mithin umnichts anderes als die Entdeckung und Systematisierung der abstraktenFormen der Welt oder auch der Strukturen der Dinge-in-Welt. „Die logi-sche Form eines Dinges ist die Weise, wie ein Ding konstruiert ist“ (SL,24), d.h., welches relationale Gefüge es ist und in welcher Beziehung es zuanderen relationalen Gefügen steht. Insofern hat es die Logik nicht mitEigenschaften oder Qualitäten von Dingen, sondern ausschließlich mitRelationen zu tun (PhK, 55). Außerdem ist zu beachten, dass „Form“keine statische Konstellation bezeichnet. Vielmehr impliziert der Begriffdie permanenten relationalen Veränderungen der Form(en) der Dinge(vgl. SL, 17f., 22f., 24ff., 40).

Logik, so viel wird schon hier deutlich, zielt nach Langer auf die er-kenntnistheoretischen und semantisch-ontologischen Kernfragen derPhilosophie (vgl. SL, 40). Vice versa ist für deren Beantwortung eine ihnenangemessene Logik vonnöten (FLP, 178). Langers Semantik schließt inAnlehnung an Whiteheads Prozessontologie sogar metaphysische Frage-stellungen ein.27Sie entwickelt zu einer Zeit, die weitgehend von Meta-physikkritik geprägt war, einen Ansatz, der die in den letzten Jahrzehntendes 20. Jahrhunderts einsetzende Renaissance der (analytischen) Meta-physik vorwegnimmt.28In diesem Zusammenhang kann auch das Problemerörtert werden, was eigentlich unter den „Dingen“ bzw. relationalen Ge-fügen zu verstehen ist.

Ontologie ohne Substanz und Eigenschaften

In dem bemerkenswerten Aufsatz Facts: The Logical Perspectives of the World von 1930 befasst sich Langer mit „einem der großen Mysterien derPhilosophie“, mit der „metaphysischen Frage“, was Tatsachen sind. Hierinlegt sie eine philosophisch vorausweisende Konzeption vor, die sich gegendie herrschende Substanzontologie richtet. Ihre nonsubstantielle Ontolo-gie schafft die Grundlage für die Pluralität der Erkenntnis- und Symbo-lisierungsweisen des Menschen. Die Hauptschritte ihrer Argumentationlassen sich wie folgt rekonstruieren:

Der rationalistische Irrtum der bis auf Aristoteles zurückgehenden Sub-stanzontologie liegt darin, dass die dem Welt nach satzlogischen Schemavon Subjekt–Prädikat–Propositionen erfasst wird. Gemäß der in dieserAuffassung präsupponierten Kongruenz von Satzlogik und Welt sind dieEntitäten dieser Welt Substanzen, denen Eigenschaften und Relationen zu-kommen, mit anderen Worten, Trägersubstanzen oder Substrate für Eigen-schaften (und Relationen): „If our fundamental ideas are those of subjectand predicate, the world consists of substance and attribute“ (FLP, 179).Die neuere Variante dieser Auffassung geht von zwei Prämissen aus: derAnnahme, erstens, dass die Wirklichkeit im Letzten aus Tatsachen besteht,und zweitens, dass ein Satz (proposition) eine Tatsache dadurch ausdrückt,dass deren Bestandteile in den entsprechenden Bestandteilen des Satzeszum Ausdruck kommen. Das wiederum impliziert, dass eine vollständigeAnalyse der Komponenten, die eine Tatsache ausmachen, auch tatsächlich alle logischen Möglichkeiten der Analyse der Tatsache ausschöpft.

Eine solche Auffassung aber ist mit Langers Konzeption kontingenterErkenntnis und systemrelativer Symbolisierung nicht vereinbar: „[…] nostructure is absolute, no relation peculiar to the material in hand, no analy-sis of fact the only true.“ Weder eine vollständige noch eine absolut wahreAnalyse ist möglich, denn es gibt keine allen Analysen gemeinsame, zu-grunde liegende Sprache: weder als allumfassende, noch als vermittelnd interlinguale noch als erste letzte logische Spracheoder , auf die alle ande-ren reduzibel wären (FLP, 182). Mithin gibt es keine ultimative Basis, wel-che die Übersetzung eines in ein anderes Symbolsystem oder die Reduk-tion auf eine basale und wahre Logik begründen könnte.Symbolische Logik und Erkenntnis der abstrakten Formen

Weit entfernt davon, sich in die vielen, wie man sagen könnte, technisch-formalen Logiken ihrer Zeit einzureihen, beinhaltet Langers Verständnissymbolischer Logik ein breites philosophisches Spektrum. Der Schlüsseldazu ist der Begriff der „abstrakten Formen“ („abstract forms“, SL, 17u. ö.). Alle, auch noch so unterschiedliche Logiken haben das Ziel derfortschreitenden Systematisierung und Verallgemeinerung von Erkennt-nissen und ihren Symbolisierungen. Menschliche Erkenntnis zeichnet sichprimär durch das Wissen über about die Dinge aus („knowledge things“, SL , 22, vgl. PhK, 62). Es impliziert die kognitive Situierung von Erkennt-nisobjekten in den Kontext ihrer generischen, funktionalen, topologi-schen, hierarchischen etc. Relationen. Ein solches kontextuelles Erkennenist nur auf dem Wege des Abstrahierens von der Fülle der multiplen, sichpermanent verändernden Zusammenhänge möglich. Das Abstraktions-ergebnis sind Strukturen, Gesetze oder, im engeren Sinne, logische For- men . Sie werden in Symbolen formuliert und logisch geordnet, generali-siert, präzisiert (PhK, 60ff.). In der symbolischen Logik geht es mithin umnichts anderes als die Entdeckung und Systematisierung der abstraktenFormen der Welt oder auch der Strukturen der Dinge-in-Welt. „Die logi-sche Form eines Dinges ist die Weise, wie ein Ding konstruiert ist“ (SL,24), d.h., welches relationale Gefüge es ist und in welcher Beziehung es zuanderen relationalen Gefügen steht. Insofern hat es die Logik nicht mitEigenschaften oder Qualitäten von Dingen, sondern ausschließlich mitRelationen zu tun (PhK, 55). Außerdem ist zu beachten, dass „Form“keine statische Konstellation bezeichnet. Vielmehr impliziert der Begriffdie permanenten relationalen Veränderungen der Form(en) der Dinge(vgl. SL, 17f., 22f., 24ff., 40).

Logik, so viel wird schon hier deutlich, zielt nach Langer auf die er-kenntnistheoretischen und semantisch-ontologischen Kernfragen derPhilosophie (vgl. SL, 40). Vice versa ist für deren Beantwortung eine ihnenangemessene Logik vonnöten (FLP, 178). Langers Semantik schließt inAnlehnung an Whiteheads Prozessontologie sogar metaphysische Frage-stellungen ein.27Sie entwickelt zu einer Zeit, die weitgehend von Meta-physikkritik geprägt war, einen Ansatz, der die in den letzten Jahrzehntendes 20. Jahrhunderts einsetzende Renaissance der (analytischen) Meta-physik vorwegnimmt.28In diesem Zusammenhang kann auch das Problemerörtert werden, was eigentlich unter den „Dingen“ bzw. relationalen Ge-fügen zu verstehen ist.

Ontologie ohne Substanz und Eigenschaften

In dem bemerkenswerten Aufsatz Facts: The Logical Perspectives of the World von 1930 befasst sich Langer mit „einem der großen Mysterien derPhilosophie“, mit der „metaphysischen Frage“, was Tatsachen sind. Hierinlegt sie eine philosophisch vorausweisende Konzeption vor, die sich gegendie herrschende Substanzontologie richtet. Ihre nonsubstantielle Ontolo-gie schafft die Grundlage für die Pluralität der Erkenntnis- und Symbo-lisierungsweisen des Menschen. Die Hauptschritte ihrer Argumentationlassen sich wie folgt rekonstruieren:

Der rationalistische Irrtum der bis auf Aristoteles zurückgehenden Sub-stanzontologie liegt darin, dass die dem Welt nach satzlogischen Schemavon Subjekt–Prädikat–Propositionen erfasst wird. Gemäß der in dieserAuffassung präsupponierten Kongruenz von Satzlogik und Welt sind dieEntitäten dieser Welt Substanzen, denen Eigenschaften und Relationen zu-kommen, mit anderen Worten, Trägersubstanzen oder Substrate für Eigen-schaften (und Relationen): „If our fundamental ideas are those of subjectand predicate, the world consists of substance and attribute“ (FLP, 179).Die neuere Variante dieser Auffassung geht von zwei Prämissen aus: derAnnahme, erstens, dass die Wirklichkeit im Letzten aus Tatsachen besteht,und zweitens, dass ein Satz (proposition) eine Tatsache dadurch ausdrückt,dass deren Bestandteile in den entsprechenden Bestandteilen des Satzeszum Ausdruck kommen. Das wiederum impliziert, dass eine vollständigeAnalyse der Komponenten, die eine Tatsache ausmachen, auch tatsächlich alle logischen Möglichkeiten der Analyse der Tatsache ausschöpft.

Eine solche Auffassung aber ist mit Langers Konzeption kontingenterErkenntnis und systemrelativer Symbolisierung nicht vereinbar: „[…] nostructure is absolute, no relation peculiar to the material in hand, no analy-sis of fact the only true.“ Weder eine vollständige noch eine absolut wahreAnalyse ist möglich, denn es gibt keine allen Analysen gemeinsame, zu-grunde liegende Sprache: weder als allumfassende, noch als vermittelnd interlinguale noch als erste letzte logische Spracheoder , auf die alle ande-ren reduzibel wären (FLP, 182). Mithin gibt es keine ultimative Basis, wel-che die Übersetzung eines in ein anderes Symbolsystem oder die Reduk-tion auf eine basale und wahre Logik begründen könnte.Wirklichkeit ist nichts anderes als interpretierte und entsprechend for-malisierte Wirklichkeit, d. h. unter bestimmten symbolisch artikulierten

Formen erfasste bzw. konstruierte Wirklichkeit. Die Tatsachen („facts“),aus denen die symbolisierten Wirklichkeiten bestehen, sind relationale

Strukturen, die in Propositionen oder anderen Symbolisierungen ausge-drückt werden können (FLP, 183, 185, 187). Jede Symbolisierung ist rela-tiv auf ihr Symbolsystem. Insofern sind Tatsachen die je nach Symbolsys-tem variierenden Perspektiven eines Ereignisses, oder anders ausgedrückt,logisch konstruierte Ereignisperspektiven. Die individuellen Tatsachen,welche eine aktuelle Wirklichkeit konstituieren, sind nichts anderes als alle Perspektiven auf ein Ereignis, die innerhalb eines Bezugssystems for-muliert werden können: „Thus an event as it fits into a universe of dis-course, i. e. into a logical universe, is a particular fact“ (FLP, 185).

Ereignismetaphysik

Langers Ontologie macht also eine metaphysische Grundannahme. Die

Basisentitäten der Welt sind nicht Trägersubstanzen, sondern Ereignisse.29

„Dinge“ sind nicht etwa als statische Substanzen zu verstehen, die in Er-eignisse eingebunden sind, sondern mit Whitehead selbst „kontinuierliche

Ereignisse“ („continuous events“) (FLP, 186). Denkt man Langers Ansatzunter Einbezug ihrer Logik konsequent weiter, so sind die „metaphysic-ally final constituents of the world“ (FLP, 185) als relationale Gefüge zuverstehen, die durch permanente Veränderlichkeit und einen entspre-chend multiplen Charakter als kontingent und reichhaltig gekennzeichnetsind. Solche komplexen Entitäten erfordern nicht nur die Pluralität von

Symbolsystemen, um etwa als biologische, musikalische, physikalischeoder bildnerische Ereignisperspektiven die Tatsachen unserer Wirklichkeitzu bilden. Sie erfordern auch die Konstruktion von Symbolsystemen,deren Symbole die Komplexität von Ereignissen als Totalität formulierenkönnen. Aufschlussreich hierfür ist Langers letzter Satz dieses wichtigen

Aufsatzes: Danach können Propositionen diesen Anspruch nicht erfüllen;

„the only symbols equal to this task are unanalyzed proper names“ (FLP,

187). Eigennamen oder eben gerade die repräsentativen Symbole der

Kunst, die Langer in ihren späteren Werken als irreduzible Symbole ein-führt, haben demzufolge in besonders hohem Maße semantisch erschlie-ßenden bzw. kognitiv konstruktiven Charakter. Denn sie können die ganz-heitliche Erkenntnisrelation des „feeling“ symbolisieren (vgl. S. 132f.).

Mit Langers metaphysischer Grundannahme sind aber auch Fragen ver-bunden, die an dieser Stelle nur aufgeworfen werden können. Sicher ist,dass sich Langer mit der Annahme von Ereignissen als letzten Entitätenvom radikalen Konstruktivismus unterscheidet, nach dem man nur vonkonstruierten Welten, nicht aber von Perspektiven der Welt bzw. ihrer Er-eignisse sprechen kann.30Aber wie ist in ihrem gemäßigten Konstruk-tivismus – sie selbst nennt ihre Position „conceptual relativism“ (FLP,186) – das Verhältnis zwischen den Tatsachen, d.h. den vielen systemrela-tiv symbolisierten Ereignisperspektiven („fundamentally different eventformulations“) und dem einen fokussierten Ereignis („referring to oneand the same event“) genau zu interpretieren (FLP, 186)? Gibt es Ereig-nisse jenseits oder „hinter“ den Ereignisperspektiven/Tatsachen? Oderkann ein Ereignis als Totalität aller seiner Ereignisperspektiven/Tatsachenaufgefasst werden? Ein Hinweis lässt sich dem Satz entnehmen: „The pro-cess of symbolization itself is an event“ (FLP, 186). Danach sind die Aktedes stets symbolisierenden Denkens, Meinens, Wünschens Fühlens etc.selbst Ereignisse. Das aber heißt, dass wir mit jedem Erfahrungs-Ereigniseine Perspektive eines Ereignisses symbolisieren. Symbolisierungen sindEreignisse von Ereignissen, oder anders ausgedrückt, in der Symbolisie-rung stellen wir einen Bezug zwischen zwei Ereignissen her, der die jewei-lige Tatsache konstituiert.

Repräsentation(en)

Die semantische Basiskorrelation zwischen Zeichen und Bezeichnetemnennt Langer „Repräsentation“ („representation“) oder „Bedeutung“(„meaning“) (vgl. SLPhK, 29ff.; , 53ff.), im Fall von Kunstwerken auch „im-port“ (PCA, 521). Repräsentationen mittels konventioneller Sprachzei-chen, sei es in Wörtern oder in Sätzen, sind Denotationen. Es gibt jedochauch höherstufige und komplexere Arten der Bezugnahme, die sich nichtgemäß den grammatischen bzw. syntaktischen Regeln der Sprache artiku-lieren lassen und die eigene Symbolsysteme erfordern, wie z.B. mathema-tisch-topologische oder auch musikalische oder bildnerische Symbolisie-rungen (vgl. PhK dt., 6; Lachmann 2000a, 42). Hier fungieren die Symbolenach den je für ihr Symbolsystem gültigen Regeln repräsentativ, also imFall der Mathematik z.B. nach algebraischen, im Fall etwa der Musik nachden Notationsregeln der betreffenden Kulturregion. Es ist auch auf dieser

Wirklichkeit ist nichts anderes als interpretierte und entsprechend for-malisierte Wirklichkeit, d. h. unter bestimmten symbolisch artikuliertenFormen erfasste bzw. konstruierte Wirklichkeit. Die Tatsachen („facts“),aus denen die symbolisierten Wirklichkeiten bestehen, sind relationaleStrukturen, die in Propositionen oder anderen Symbolisierungen ausge-drückt werden können (FLP, 183, 185, 187). Jede Symbolisierung ist rela-tiv auf ihr Symbolsystem. Insofern sind Tatsachen die je nach Symbolsys-tem variierenden Perspektiven eines Ereignisses, oder anders ausgedrückt,logisch konstruierte Ereignisperspektiven. Die individuellen Tatsachen,welche eine aktuelle Wirklichkeit konstituieren, sind nichts anderes als alle Perspektiven auf ein Ereignis, die innerhalb eines Bezugssystems for-muliert werden können: „Thus an event as it fits into a universe of dis-course, i. e. into a logical universe, is a particular fact“ (FLP, 185).

Ereignismetaphysik

Langers Ontologie macht also eine metaphysische Grundannahme. DieBasisentitäten der Welt sind nicht Trägersubstanzen, sondern Ereignisse.29„Dinge“ sind nicht etwa als statische Substanzen zu verstehen, die in Er-eignisse eingebunden sind, sondern mit Whitehead selbst „kontinuierlicheEreignisse“ („continuous events“) (FLP, 186). Denkt man Langers Ansatzunter Einbezug ihrer Logik konsequent weiter, so sind die „metaphysic-ally final constituents of the world“ (FLP, 185) als relationale Gefüge zuverstehen, die durch permanente Veränderlichkeit und einen entspre-chend multiplen Charakter als kontingent und reichhaltig gekennzeichnetsind. Solche komplexen Entitäten erfordern nicht nur die Pluralität vonSymbolsystemen, um etwa als biologische, musikalische, physikalischeoder bildnerische Ereignisperspektiven die Tatsachen unserer Wirklichkeitzu bilden. Sie erfordern auch die Konstruktion von Symbolsystemen,deren Symbole die Komplexität von Ereignissen als Totalität formulierenkönnen. Aufschlussreich hierfür ist Langers letzter Satz dieses wichtigenAufsatzes: Danach können Propositionen diesen Anspruch nicht erfüllen;„the only symbols equal to this task are unanalyzed proper names“ (FLP,187). Eigennamen oder eben gerade die repräsentativen Symbole derKunst, die Langer in ihren späteren Werken als irreduzible Symbole ein-führt, haben demzufolge in besonders hohem Maße semantisch erschlie-ßenden bzw. kognitiv konstruktiven Charakter. Denn sie können die ganz-heitliche Erkenntnisrelation des „feeling“ symbolisieren (vgl. S. 132f.).

Mit Langers metaphysischer Grundannahme sind aber auch Fragen ver-bunden, die an dieser Stelle nur aufgeworfen werden können. Sicher ist,dass sich Langer mit der Annahme von Ereignissen als letzten Entitätenvom radikalen Konstruktivismus unterscheidet, nach dem man nur vonkonstruierten Welten, nicht aber von Perspektiven der Welt bzw. ihrer Er-eignisse sprechen kann.30Aber wie ist in ihrem gemäßigten Konstruk-tivismus – sie selbst nennt ihre Position „conceptual relativism“ (FLP,186) – das Verhältnis zwischen den Tatsachen, d.h. den vielen systemrela-tiv symbolisierten Ereignisperspektiven („fundamentally different eventformulations“) und dem einen fokussierten Ereignis („referring to oneand the same event“) genau zu interpretieren (FLP, 186)? Gibt es Ereig-nisse jenseits oder „hinter“ den Ereignisperspektiven/Tatsachen? Oderkann ein Ereignis als Totalität aller seiner Ereignisperspektiven/Tatsachenaufgefasst werden? Ein Hinweis lässt sich dem Satz entnehmen: „The pro-cess of symbolization itself is an event“ (FLP, 186). Danach sind die Aktedes stets symbolisierenden Denkens, Meinens, Wünschens Fühlens etc.selbst Ereignisse. Das aber heißt, dass wir mit jedem Erfahrungs-Ereigniseine Perspektive eines Ereignisses symbolisieren. Symbolisierungen sindEreignisse von Ereignissen, oder anders ausgedrückt, in der Symbolisie-rung stellen wir einen Bezug zwischen zwei Ereignissen her, der die jewei-lige Tatsache konstituiert.

Repräsentation(en)

Die semantische Basiskorrelation zwischen Zeichen und Bezeichnetemnennt Langer „Repräsentation“ („representation“) oder „Bedeutung“(„meaning“) (vgl. SLPhK, 29ff.; , 53ff.), im Fall von Kunstwerken auch „im-port“ (PCA, 521). Repräsentationen mittels konventioneller Sprachzei-chen, sei es in Wörtern oder in Sätzen, sind Denotationen. Es gibt jedochauch höherstufige und komplexere Arten der Bezugnahme, die sich nichtgemäß den grammatischen bzw. syntaktischen Regeln der Sprache artiku-lieren lassen und die eigene Symbolsysteme erfordern, wie z.B. mathema-tisch-topologische oder auch musikalische oder bildnerische Symbolisie-rungen (vgl. PhK dt., 6; Lachmann 2000a, 42). Hier fungieren die Symbolenach den je für ihr Symbolsystem gültigen Regeln repräsentativ, also imFall der Mathematik z.B. nach algebraischen, im Fall etwa der Musik nachden Notationsregeln der betreffenden Kulturregion. Es ist auch auf dieserEbene festzuhalten, dass es keine vorgegebene, notwendige oder ontolo-gische Beziehung zwischen bestimmten Zeichen und den von ihnen be-zeichneten Gegenständen gibt. Die Bedeutungsrelation ist immer konven-tionell und/oder an ein bestimmtes z.B. kulturelles, wissenschaftliches oderdisziplinäres Bezugssystem gebunden. Es gibt nicht nur ein gültiges Zei-chensystem zur Artikulation von Erkenntnis, sondern eine Pluralität von

Symbolisierungen.

Logische Analogie

Mit Rekurs auf Wittgenstein charakterisiert Langer die semantische

Grundkorrelation zwischen Symbol und Symbolisiertem näher als Iso-morphie oder „logische Analogie“. Denn in jedem Fall von Symbolisie-rung basiert die Bezugnahme auf einer Analogie zwischen der Strukturdes Zeichenkomplexes und der Struktur des Bezeichneten. Langerspricht deshalb auch von „logischen Bildern“ („logical pictures“). Zwi-schen dem logischen (Ab-)Bild und dem Abgebildeten besteht keinerleiphänomenale Ähnlichkeit. Sucht man z.B. auf einem Stadtplan einen be-stimmten Platz, so wird man dort weder die Farbe und Form der den

Platz umgebenden Häuser, noch seine Frühjahrsbepflanzung oder den zueiner bestimmten Uhrzeit herrschenden Verkehr entdecken, wohl aberein dem Platz entsprechendes räumliches Verhältnis zu seiner Umgebung,

„analoge Proportionen von Länge und Weite“, eine vergleichbare Lokali-sation im architektonischen Umfeld und eine kompatible „Anordnung“der den Platz begrenzenden bzw. auf ihn zulaufenden Straßenzüge (vgl.

SL , 29f.; PhK, 55, 68ff., 79ff.).31

Ontologischer Status der Zeichen

Eher beiläufig fällt in Langers Logik ein zentraler Satz: „It is only byanalogy that one thing can represent another“ (SL, 30). Er gibt Aufschluss

über Langers Ontologie der Zeichen. Wenn ein „Ding“ ein anderes

„Ding“ repräsentieren kann, dann liegen Zeichen und Bezeichnetes auf derselben Seinsebene . Dasjenige, was als Zeichen fungiert, und dasjenige,was bezeichnet wird, haben denselben ontologischen Status.32Mit diesemzeichentheoretischen Ansatz korrespondiert die oben herausgearbeitetemetaphysisch-ontologische Auffassung, dass ein Ereignis ein anderes sym-bolisiert, und die erkenntnistheoretische Konzeption, dass eine (symboli-sierte) Erfahrung eine andere Erfahrung repräsentiert.

Vor diesem Hintergrund kann auch Langers Auffassung der Struktur-analogie von Symbolisierendem und Symbolisiertem etwas genauer be-stimmt werden. Beide Relata können Konstellationen, Prozesse, Dinge,Erfahrungen, Akte, Gefühle etc. sein, denn alle existieren ausnahmslos alssymbolisierte Tatsachen für uns.

Sofern in Langers Philosophie keine ontologische Differenz zwischenSymbolisierung und Symbolisiertem, kein Dualismus zwischen Erkenntnisund Wirklichkeit besteht, könnte man ihre Position als „ontosemantischenMonismus“ bezeichnen: Symbolsysteme und ihre Elemente, Gesetze, Re-lationen etc. wie auch Symbolisierungsprozesse sind selbst ereignishafteEntitäten. In Korrelation dazu sind Ereignisperspektiven als systemrelativsymbolisierte Tatsachen die Constituentia (unserer) Wirklichkeit. Isomor-phie ist nicht etwa eine Hilfskonstruktion zur Überbrückung ontologischgetrennter Instanzen – hier die konstruierten Symbole, dort die zu be-zeichnende vorgegebene Wirklichkeit –, sondern eine Strukturanalogiezwischen Tatsachen. Konsequent weitergedacht, müssen dann auch Struk-turanalogien selbst als Tatsachen bzw. „Ereignisperspektiven“ verstandenwerden.

Kontextprinzip

Wenn in der Bedeutungskorrelation eine Strukturanalogie zwischen on-tologisch indifferenten Instanzen vorliegt, dann ist der Zeichenstatus eines„Dinges“ kontingent: Etwas ist hat weder notwendig ein Zeichen, noch esnotwendig die Eigenschaft, zu bezeichnen. Denn Bedeutung ist nach Lan-ger ein Problem der Logik, die es ausschließlich mit Relationen zu tun hat.Sofern der Ausdruck „Relation“ jedoch meist fälschlich die Birelation zwi-schen zwei Relata suggeriert und Letzteres der Komplexität der Bedeu-tung nicht gerecht wird, definiert Langer Bedeutung („meaning“) alsFunktion eines Terms („function of a term“). Entsprechend ist Bedeutungdurch Komplexität ausgezeichnet. Die Bezugnahme eines Symbols beziehtdessen gesamten Kontext, d.h. alle es betreffenden Relationen zu anderenSymbolen ein33: Ein Wort wie „fließen“ nimmt in einer physikalischen Be-schreibung auf etwas anderes Bezug als in einem Gedicht, ein Ton wie CEbene festzuhalten, dass es keine vorgegebene, notwendige oder ontolo-gische Beziehung zwischen bestimmten Zeichen und den von ihnen be-zeichneten Gegenständen gibt. Die Bedeutungsrelation ist immer konven-tionell und/oder an ein bestimmtes z.B. kulturelles, wissenschaftliches oderdisziplinäres Bezugssystem gebunden. Es gibt nicht nur ein gültiges Zei-chensystem zur Artikulation von Erkenntnis, sondern eine Pluralität von

Symbolisierungen.

Logische Analogie

Mit Rekurs auf Wittgenstein charakterisiert Langer die semantische

Grundkorrelation zwischen Symbol und Symbolisiertem näher als Iso-morphie oder „logische Analogie“. Denn in jedem Fall von Symbolisie-rung basiert die Bezugnahme auf einer Analogie zwischen der Strukturdes Zeichenkomplexes und der Struktur des Bezeichneten. Langerspricht deshalb auch von „logischen Bildern“ („logical pictures“). Zwi-schen dem logischen (Ab-)Bild und dem Abgebildeten besteht keinerleiphänomenale Ähnlichkeit. Sucht man z.B. auf einem Stadtplan einen be-stimmten Platz, so wird man dort weder die Farbe und Form der den

Platz umgebenden Häuser, noch seine Frühjahrsbepflanzung oder den zueiner bestimmten Uhrzeit herrschenden Verkehr entdecken, wohl aberein dem Platz entsprechendes räumliches Verhältnis zu seiner Umgebung,

„analoge Proportionen von Länge und Weite“, eine vergleichbare Lokali-sation im architektonischen Umfeld und eine kompatible „Anordnung“der den Platz begrenzenden bzw. auf ihn zulaufenden Straßenzüge (vgl.

SL , 29f.; PhK, 55, 68ff., 79ff.).31

Ontologischer Status der Zeichen

Eher beiläufig fällt in Langers Logik ein zentraler Satz: „It is only byanalogy that one thing can represent another“ (SL, 30). Er gibt Aufschluss

über Langers Ontologie der Zeichen. Wenn ein „Ding“ ein anderes

„Ding“ repräsentieren kann, dann liegen Zeichen und Bezeichnetes auf derselben Seinsebene . Dasjenige, was als Zeichen fungiert, und dasjenige,was bezeichnet wird, haben denselben ontologischen Status.32Mit diesemzeichentheoretischen Ansatz korrespondiert die oben herausgearbeitetemetaphysisch-ontologische Auffassung, dass ein Ereignis ein anderes sym-bolisiert, und die erkenntnistheoretische Konzeption, dass eine (symboli-sierte) Erfahrung eine andere Erfahrung repräsentiert.

Vor diesem Hintergrund kann auch Langers Auffassung der Struktur-analogie von Symbolisierendem und Symbolisiertem etwas genauer be-stimmt werden. Beide Relata können Konstellationen, Prozesse, Dinge,Erfahrungen, Akte, Gefühle etc. sein, denn alle existieren ausnahmslos alssymbolisierte Tatsachen für uns.

Sofern in Langers Philosophie keine ontologische Differenz zwischenSymbolisierung und Symbolisiertem, kein Dualismus zwischen Erkenntnisund Wirklichkeit besteht, könnte man ihre Position als „ontosemantischenMonismus“ bezeichnen: Symbolsysteme und ihre Elemente, Gesetze, Re-lationen etc. wie auch Symbolisierungsprozesse sind selbst ereignishafteEntitäten. In Korrelation dazu sind Ereignisperspektiven als systemrelativsymbolisierte Tatsachen die Constituentia (unserer) Wirklichkeit. Isomor-phie ist nicht etwa eine Hilfskonstruktion zur Überbrückung ontologischgetrennter Instanzen – hier die konstruierten Symbole, dort die zu be-zeichnende vorgegebene Wirklichkeit –, sondern eine Strukturanalogiezwischen Tatsachen. Konsequent weitergedacht, müssen dann auch Struk-turanalogien selbst als Tatsachen bzw. „Ereignisperspektiven“ verstandenwerden.

Kontextprinzip

Wenn in der Bedeutungskorrelation eine Strukturanalogie zwischen on-tologisch indifferenten Instanzen vorliegt, dann ist der Zeichenstatus eines„Dinges“ kontingent: Etwas ist hat weder notwendig ein Zeichen, noch esnotwendig die Eigenschaft, zu bezeichnen. Denn Bedeutung ist nach Lan-ger ein Problem der Logik, die es ausschließlich mit Relationen zu tun hat.Sofern der Ausdruck „Relation“ jedoch meist fälschlich die Birelation zwi-schen zwei Relata suggeriert und Letzteres der Komplexität der Bedeu-tung nicht gerecht wird, definiert Langer Bedeutung („meaning“) alsFunktion eines Terms („function of a term“). Entsprechend ist Bedeutungdurch Komplexität ausgezeichnet. Die Bezugnahme eines Symbols beziehtdessen gesamten Kontext, d.h. alle es betreffenden Relationen zu anderenSymbolen ein33: Ein Wort wie „fließen“ nimmt in einer physikalischen Be-schreibung auf etwas anderes Bezug als in einem Gedicht, ein Ton wie Cbedeutet in einem F-Dur-Akkord etwas anderes als in einem C-Moll-Ak-kord etc. (PhKstatus , 55). Aber auch der Symbolist nur aus dem Kontextzu ermitteln: Etwas fungiert in einem kontingenten Kontext als Zeichen,kann aber in einem anderen Kontext ebenso als Bezeichnetes fungieren.

Austauschbarkeit zwischen Symbol und Gegenstand

Wenn Symbol und symbolisierter „Gegenstand“ ontologisch indifferentsind, dann kann je nach dem funktionalen Kontext „a“ ebenso „b“ be-zeichnen wie „b“ umgekehrt „a“: „symbol“ und „object“ sind prinzipiellaustauschbar („interchangeable“, vgl. PhK, 58, 74). Der oben für die se-mantische Grundbeziehung gewählte Ausdruck „Korrelation“ gewinntdamit ein zusätzliches Element: Die Symbolisierungsrichtung ist umkehr-bar. Eine chromatische Notenfolge „C, Cis, D, Dis, E, F, Fis, G“ kann viaStrukturanalogie repräsentieren: eine andere chromatische Folge „Cis, D,Dis, E, F, Fis, G, Gis“ (wie jede andere chromatische Tonfolge), eine Leitermit acht Sprossen, eine Treppe mit acht Stufen, acht gleich große, auf-einander folgende Schritte usf., kurz, „jede Serie, deren verschiedene Teileso angeordnet sind, dass jeder sowohl [so viel] höher als auch niedriger istals jeder andere Teil“ (SL, 28; vgl. 25, 27). Jedes der symbolisierten „Ob-jekte“ kann prinzipiell auch selbst als Symbol fungieren.

Bedeutung-für: die pragmatische Dimension

Als Folge der ontologischen Indifferenz und Austauschbarkeit von Zei-chen und Bezeichnetem ergibt sich das Problem, wie und woran erkenn-bar ist, ob etwas Zeichen oder Bezeichnetes ist und wodurch sich etwas alszeichentauglich für die Zeichenverwendung erweist. Das heißt, es wird dieFrage nach dem Zeichenkriterium gestellt. Damit kommt die pragma-tische Dimension ins Spiel.34Langer löst das Problem folgerichtig auf die-ser Ebene. Sofern „meaning“ als Symbolfunktion bestimmt ist, die einenKontext an Symbolbeziehungen einschließt, ist dieser Kontext nun zu er-weitern und pragmatisch zu charakterisieren. Mit der zweistelligenBinnenrelation zwischen Symbol und Symbolisiertem kommt man nichtaus. Es muss mindestens eine dritte Stelle geben, das „Subjekt“, welchesetwas als Zeichen realisiert bzw. interpretiert. Langer greift damit aufPeirce’ triadische Zeichenverfassung zurück, deutet aber dessen dritteZeicheninstanz zum menschlichen Interpreten um.35Im Zusammenhangder Analyse von Zeichen heißt es: „If it were not for the subject, or inter- pretant, sign and object would be interchangeable“ (PhK, 58).

In Bezug auf das interpretierende Subjekt kann trotz der ontologischenIndifferenz der Status von etwas als Symbol (bzw. Symbolisiertes) ent-schieden werden. Das nämlich, worauf das Erkenntnisinteresse und mithinder Zeichenprozess des Subjekts zielt, ist das Bezeichnete („object“); das-jenige, was besser oder leichter erfassbar ist, fungiert im aktuellen Prozessals Zeichen: „It is only, where one is perceptible and the other (harder orimpossible to perceive) is interesting, that we actually have a case of signi- fication belonging to a term“, heißt es mit Berufung auf Whitehead (PhK,58). Dasselbe gilt in verstärktem Maße für Symbole.

6. Kunstphilosophische Folgerungen

Die Kontextabhängigkeit von Symbolen wie auch Langers Charakteri-sierung von Symbolen als solchen Zeichen, die Erkenntnisse über etwasformulieren, gilt nicht nur für diskursive, sondern auch für präsentativeSymbole, d.h. auch für Kunstwerke. Und sowohl der konstitutive Einbezugdes Interpreten als auch das „about“ können immer nur, wie auf verschie-denen Ebenen gezeigt wurde, zu kontingenten Kennzeichnungen von Ob-jekten als Symbol oder sogar Kunstwerk führen. Langer antizipiert damitzwei Ansätze der gegenwärtigen Kunstphilosophie.

Kunstwerke und andere Dinge

Im Jahr 1914 präsentierte Marcel Duchamp einen gewöhnlichen Fla-schentrockner als Kunstwerk, 1964 stellte Andy Warhol in einer New Yor-ker Galerie seine „brillo boxes“, Nachbildungen der Kartons von Topfrei-nigern, als Kunstwerk(e) aus. Damit ergab sich als eines der wichtigstenkunstphilosophischen Probleme des 20.Jahrhunderts, wie man Kunstwer-ke von lebensweltlichen Objekten unterscheiden, d. h., wie man sie alsKunstwerke identifizieren kann.bedeutet in einem F-Dur-Akkord etwas anderes als in einem C-Moll-Ak-kord etc. (PhKstatus , 55). Aber auch der Symbolist nur aus dem Kontextzu ermitteln: Etwas fungiert in einem kontingenten Kontext als Zeichen,kann aber in einem anderen Kontext ebenso als Bezeichnetes fungieren.

Austauschbarkeit zwischen Symbol und Gegenstand

Wenn Symbol und symbolisierter „Gegenstand“ ontologisch indifferentsind, dann kann je nach dem funktionalen Kontext „a“ ebenso „b“ be-zeichnen wie „b“ umgekehrt „a“: „symbol“ und „object“ sind prinzipiellaustauschbar („interchangeable“, vgl. PhK, 58, 74). Der oben für die se-mantische Grundbeziehung gewählte Ausdruck „Korrelation“ gewinntdamit ein zusätzliches Element: Die Symbolisierungsrichtung ist umkehr-bar. Eine chromatische Notenfolge „C, Cis, D, Dis, E, F, Fis, G“ kann viaStrukturanalogie repräsentieren: eine andere chromatische Folge „Cis, D,Dis, E, F, Fis, G, Gis“ (wie jede andere chromatische Tonfolge), eine Leitermit acht Sprossen, eine Treppe mit acht Stufen, acht gleich große, auf-einander folgende Schritte usf., kurz, „jede Serie, deren verschiedene Teileso angeordnet sind, dass jeder sowohl [so viel] höher als auch niedriger istals jeder andere Teil“ (SL, 28; vgl. 25, 27). Jedes der symbolisierten „Ob-jekte“ kann prinzipiell auch selbst als Symbol fungieren.

Bedeutung-für: die pragmatische Dimension

Als Folge der ontologischen Indifferenz und Austauschbarkeit von Zei-chen und Bezeichnetem ergibt sich das Problem, wie und woran erkenn-bar ist, ob etwas Zeichen oder Bezeichnetes ist und wodurch sich etwas alszeichentauglich für die Zeichenverwendung erweist. Das heißt, es wird dieFrage nach dem Zeichenkriterium gestellt. Damit kommt die pragma-tische Dimension ins Spiel.34Langer löst das Problem folgerichtig auf die-ser Ebene. Sofern „meaning“ als Symbolfunktion bestimmt ist, die einenKontext an Symbolbeziehungen einschließt, ist dieser Kontext nun zu er-weitern und pragmatisch zu charakterisieren. Mit der zweistelligenBinnenrelation zwischen Symbol und Symbolisiertem kommt man nichtaus. Es muss mindestens eine dritte Stelle geben, das „Subjekt“, welchesetwas als Zeichen realisiert bzw. interpretiert. Langer greift damit aufPeirce’ triadische Zeichenverfassung zurück, deutet aber dessen dritteZeicheninstanz zum menschlichen Interpreten um.35Im Zusammenhangder Analyse von Zeichen heißt es: „If it were not for the subject, or inter- pretant, sign and object would be interchangeable“ (PhK, 58).

In Bezug auf das interpretierende Subjekt kann trotz der ontologischenIndifferenz der Status von etwas als Symbol (bzw. Symbolisiertes) ent-schieden werden. Das nämlich, worauf das Erkenntnisinteresse und mithinder Zeichenprozess des Subjekts zielt, ist das Bezeichnete („object“); das-jenige, was besser oder leichter erfassbar ist, fungiert im aktuellen Prozessals Zeichen: „It is only, where one is perceptible and the other (harder orimpossible to perceive) is interesting, that we actually have a case of signi- fication belonging to a term“, heißt es mit Berufung auf Whitehead (PhK,58). Dasselbe gilt in verstärktem Maße für Symbole.

6. Kunstphilosophische Folgerungen

Die Kontextabhängigkeit von Symbolen wie auch Langers Charakteri-sierung von Symbolen als solchen Zeichen, die Erkenntnisse über etwasformulieren, gilt nicht nur für diskursive, sondern auch für präsentativeSymbole, d.h. auch für Kunstwerke. Und sowohl der konstitutive Einbezugdes Interpreten als auch das „about“ können immer nur, wie auf verschie-denen Ebenen gezeigt wurde, zu kontingenten Kennzeichnungen von Ob-jekten als Symbol oder sogar Kunstwerk führen. Langer antizipiert damitzwei Ansätze der gegenwärtigen Kunstphilosophie.

Kunstwerke und andere Dinge

Im Jahr 1914 präsentierte Marcel Duchamp einen gewöhnlichen Fla-schentrockner als Kunstwerk, 1964 stellte Andy Warhol in einer New Yor-ker Galerie seine „brillo boxes“, Nachbildungen der Kartons von Topfrei-nigern, als Kunstwerk(e) aus. Damit ergab sich als eines der wichtigstenkunstphilosophischen Probleme des 20.Jahrhunderts, wie man Kunstwer-ke von lebensweltlichen Objekten unterscheiden, d. h., wie man sie alsKunstwerke identifizieren kann.Wann ist Kunst?

Nehmen wir z. B. ein Kunstwerk wie die „Fettecke“ von Beuys. Siewurde von einer Reinigungskraft des ausstellenden Museums in Unkennt-nis ihres Kunstwerkcharakters entfernt. Die Fettecke fungierte in diesemKontext nicht als Kunstwerk, sondern war bloß eine Fettecke bzw. ein An-zeichen für Schmutz oder Gestank. Kunstwerke dieser Art haben zuGoodmans berühmter Umformulierung der zentralen kunstphilosophi-schen Frage geführt. Statt der Frage „Was ist Kunst?“, die als Antwort eineDefinition von Kunst fordert, könne man nur noch fragen: „Wann istKunst?“ Es gibt keine Definientia und auch keine notwendigen und hin-reichenden Kriterien für den Kunstwerkstatus von etwas, sondern nurkontingente Kennzeichen.36Konsequenterweise entwickelt Goodmanbloße Symptome der Kunst. Deren Anwendung macht zwar die zutreffen-de Identifikation von etwas als Kunstwerk wahrscheinlicher als wenn sienicht zur Verfügung stünden. Das aber setzt die Beteiligung einer anwen-denden Instanz und damit die pragmatische Dimension als konstituierendfür den kontingenten Kunstwerksstatus von Symbolen voraus. Diese Ge-dankenführung bestätigt Langers semantischen Einbezug des kontextuellgebundenen interpretierenden Subjekts als Konstituens der Bedeutungs-relation.

Bezugnahme

Allerdings gibt es ein notwendiges Unterscheidungsmerkmal vonKunstwerken gegenüber bloßen Dingen, wenngleich es keinesfalls aus-reicht, Kunstwerke etwa von wissenschaftlichen Aussagen abzugren-zen: Im Gegensatz zu lebensweltlichen Gebrauchsgegenständen nehmen Kunstwerke Bezug auf etwas; sie symbolisieren Erkenntnisse. Danto greiftdiesen Gedanken auf und formuliert ihn mithilfe des Begriffs, der in Lan-gers Theorie Symbole zu Symbolen macht: Kunstwerke sind immer „überetwas“. Ein Apfel ist ein Apfel, also ein Ding und sonst nichts; ihm fehltder Bezug auf etwas anderes. Ein Apfel-Stillleben hingegen „ist über“Äpfel. Das „about“ bzw. die „aboutness“ ist ein notwendiges, wenn auchbei weitem nicht hinreichendes Merkmal von Kunstwerken, denn jederernsthafte Satz sagt etwas „über“ etwas aus. Aus der Bezugnahmefunktionvon Kunst können wichtige kunstphilosophische Folgerungen gezogenwerden. Zur Unterscheidung von lebensweltlichen Objekten reicht nachDanto die rein empirische Prüfung eines Gegenstandes nicht aus, denn einFlaschentrockner oder eine brillo box halten als solche keine sinnlichwahrnehmbaren Merkmale bereit, die sie als Kunstwerke ausweisen. Siemüssen erst als bezugnehmend in dem Kontext erkannt werden, in dem sieals künstlerisches Symbol fungieren.

Auch nach Langer fungieren künstlerische Symbolisierungen nur ineinem Kontext, der mindestens zweierlei voraussetzt: 1. eine entsprechendeSymbolstruktur als Umfeld, also z.B. eine musikalische Phrase für einenTon, einen Museumsraum für ein Eat-Art-Objekt, ein Theaterstück füreinen Dialog etc.; 2. das Symboldeuten durch Interpreten: Ohne das Wis-sen, dass etwas in einem bestimmten Kontext als künstlerisches Symbolfungiert, würde vielleicht ein Ton als Warnsirene gehört, ein Eat-Art-Ob-jekt aufgegessen und ein Theaterdialog als peinliches Streitgespräch aufge-fasst. Dieser Gedanke wird von Danto dahingehend spezifiziert, dass er beiden Interpreten kunstgeschichtliches und -theoretisches Wissen über denKontext „einer Kunstweltinterpretierten , einer Welt der Dinge“ voraussetzt(Danto VG 207). Dieses Wissen und die entsprechende Beschreibungs-sprache prägen unser Sehen, Hören, Erleben von etwas als Kunst, nichtumgekehrt.37

Das „Wie“ und das „Was“ des Kunstwerks

Kunstwerke schaffen und vermitteln Erkenntnisse, denn sie nehmenBezug auf Tatsachen wie wissenschaftliche Symbolisierungen auch. Wasaber unterscheidet sie wiederum von diesen Symbolisierungen? Konzen-triert man sich auf die semantische Binnenrelation zwischen Symbol undSymbolisiertem, so bieten sich zwei Ansatzpunkte an: die Art und Weise,also das „Wie“ des Symbolisierens, und dasjenige, worauf sich die Symbo-lisierung bezieht, also das „Was“.38

Das „Wie“: präsentatives Symbolisieren

Das „Wie“ wurde mit Langers Kennzeichnung präsentativer Symboleoben kurz vorgestellt (vgl. S. 118 f.). Sie entwickelt sie in Abgrenzung zuder diskursiven Symbolisierung idealsprachlicher Systeme. Wissenschaftli-Wann ist Kunst?

Nehmen wir z. B. ein Kunstwerk wie die „Fettecke“ von Beuys. Siewurde von einer Reinigungskraft des ausstellenden Museums in Unkennt-nis ihres Kunstwerkcharakters entfernt. Die Fettecke fungierte in diesemKontext nicht als Kunstwerk, sondern war bloß eine Fettecke bzw. ein An-zeichen für Schmutz oder Gestank. Kunstwerke dieser Art haben zuGoodmans berühmter Umformulierung der zentralen kunstphilosophi-schen Frage geführt. Statt der Frage „Was ist Kunst?“, die als Antwort eineDefinition von Kunst fordert, könne man nur noch fragen: „Wann istKunst?“ Es gibt keine Definientia und auch keine notwendigen und hin-reichenden Kriterien für den Kunstwerkstatus von etwas, sondern nurkontingente Kennzeichen.36Konsequenterweise entwickelt Goodmanbloße Symptome der Kunst. Deren Anwendung macht zwar die zutreffen-de Identifikation von etwas als Kunstwerk wahrscheinlicher als wenn sienicht zur Verfügung stünden. Das aber setzt die Beteiligung einer anwen-denden Instanz und damit die pragmatische Dimension als konstituierendfür den kontingenten Kunstwerksstatus von Symbolen voraus. Diese Ge-dankenführung bestätigt Langers semantischen Einbezug des kontextuellgebundenen interpretierenden Subjekts als Konstituens der Bedeutungs-relation.

Bezugnahme

Allerdings gibt es ein notwendiges Unterscheidungsmerkmal vonKunstwerken gegenüber bloßen Dingen, wenngleich es keinesfalls aus-reicht, Kunstwerke etwa von wissenschaftlichen Aussagen abzugren-zen: Im Gegensatz zu lebensweltlichen Gebrauchsgegenständen nehmen Kunstwerke Bezug auf etwas; sie symbolisieren Erkenntnisse. Danto greiftdiesen Gedanken auf und formuliert ihn mithilfe des Begriffs, der in Lan-gers Theorie Symbole zu Symbolen macht: Kunstwerke sind immer „überetwas“. Ein Apfel ist ein Apfel, also ein Ding und sonst nichts; ihm fehltder Bezug auf etwas anderes. Ein Apfel-Stillleben hingegen „ist über“Äpfel. Das „about“ bzw. die „aboutness“ ist ein notwendiges, wenn auchbei weitem nicht hinreichendes Merkmal von Kunstwerken, denn jederernsthafte Satz sagt etwas „über“ etwas aus. Aus der Bezugnahmefunktionvon Kunst können wichtige kunstphilosophische Folgerungen gezogenwerden. Zur Unterscheidung von lebensweltlichen Objekten reicht nachDanto die rein empirische Prüfung eines Gegenstandes nicht aus, denn einFlaschentrockner oder eine brillo box halten als solche keine sinnlichwahrnehmbaren Merkmale bereit, die sie als Kunstwerke ausweisen. Siemüssen erst als bezugnehmend in dem Kontext erkannt werden, in dem sieals künstlerisches Symbol fungieren.

Auch nach Langer fungieren künstlerische Symbolisierungen nur ineinem Kontext, der mindestens zweierlei voraussetzt: 1. eine entsprechendeSymbolstruktur als Umfeld, also z.B. eine musikalische Phrase für einenTon, einen Museumsraum für ein Eat-Art-Objekt, ein Theaterstück füreinen Dialog etc.; 2. das Symboldeuten durch Interpreten: Ohne das Wis-sen, dass etwas in einem bestimmten Kontext als künstlerisches Symbolfungiert, würde vielleicht ein Ton als Warnsirene gehört, ein Eat-Art-Ob-jekt aufgegessen und ein Theaterdialog als peinliches Streitgespräch aufge-fasst. Dieser Gedanke wird von Danto dahingehend spezifiziert, dass er beiden Interpreten kunstgeschichtliches und -theoretisches Wissen über denKontext „einer Kunstweltinterpretierten , einer Welt der Dinge“ voraussetzt(Danto VG 207). Dieses Wissen und die entsprechende Beschreibungs-sprache prägen unser Sehen, Hören, Erleben von etwas als Kunst, nichtumgekehrt.37

Das „Wie“ und das „Was“ des Kunstwerks

Kunstwerke schaffen und vermitteln Erkenntnisse, denn sie nehmenBezug auf Tatsachen wie wissenschaftliche Symbolisierungen auch. Wasaber unterscheidet sie wiederum von diesen Symbolisierungen? Konzen-triert man sich auf die semantische Binnenrelation zwischen Symbol undSymbolisiertem, so bieten sich zwei Ansatzpunkte an: die Art und Weise,also das „Wie“ des Symbolisierens, und dasjenige, worauf sich die Symbo-lisierung bezieht, also das „Was“.38

Das „Wie“: präsentatives Symbolisieren

Das „Wie“ wurde mit Langers Kennzeichnung präsentativer Symboleoben kurz vorgestellt (vgl. S. 118 f.). Sie entwickelt sie in Abgrenzung zuder diskursiven Symbolisierung idealsprachlicher Systeme. Wissenschaftli-che Sprachen in diesem Sinne beinhalten die Konstruktion von Kalkülenmit syntaktisch und semantisch eindeutigen Elementen und Gesetzen wieauch ihre Übersetzbarkeit in andere Systeme. Künstlerische Sprachen hin-gegen bringen immer neue individuelle – und das heißt unbeschreibbarkombinationsreiche („indescribable combinations“) – Ganzheiten („totalpictures“) hervor, deren Syntax sich mit jedem Kunstwerk neu formiert

(PhK, 95).39Semantisch ist jedes Kunstwerk entsprechend durch seineganzheitliche Bezugnahme („total reference“, PhK, 96) auf individuelle

Konstellationen – und das heißt auf unbeschreiblich komplexe Tatsachen –gekennzeichnet.

Das „Was“: feeling

Wie aber sind die Tatsachen, auf die sich präsentative Symbolisierungenbeziehen, näher zu verstehen und sind sie gänzlich unterschieden von den

Referenzobjekten diskursiver Symbolisierung? Um in dieser Frage ein

Stück weiter zu kommen, ist an Langers ontologisch-semantische Grund-lagen zu erinnern. Ihr „ontosemantischer Monismus“ impliziert, dass mannicht von einem dualen Weltaufbau ausgehen kann (s.o. S. 123f., 126). Viel-mehr liegen Geist und Wirklichkeit, Erkenntnis und Tatsachen, Symbolund Symbolisiertes ontologisch auf einer Ebene. Die basalen „metaphysi-schen Konstituentia der Welt“ (FLP, 185) sind nach Langer Ereignisse.

Nach Langer ist der spezifische Referenzbereich präsentativer Sym-bole durch den Reichtum unfassbar vieler winziger und äußerst dicht ver-knüpfter Bestimmungen und Subbestimmungen gekennzeichnet. Dasheißt, die Bezugnahme charakterisiert sich durch eine so große Fülle und

Pluralität von „Relationen innerhalb von Relationen“, dass sie nicht klaranalysierbar ist. Der hohe Grad an Komplexität, enger interner Vernet-zung und mithin Undurchschaubarkeit schließt die Artikulation von prä-sentativen Symbolisierungen in diskursiven Aussagen aus (PhK, 93, s.o. S.

118 f.). Langers Beschreibung präsentativer Bezugnahme antizipiert da-mit in den wesentlichen Zügen Nelson Goodmans Kunstsymptom der „se-mantischen Dichte“.40

Das „Unsagbare“ nennt Langer „feeling“. Weit über eine wörtliche

Übersetzung als „Fühlen“ hinaus ist damit der gesamtheitliche Weltbezug des Menschen gemeint. Er ist als prozessuale Relation zwischen dem

„feeling“ und dem „(being) felt“ strukturiert.41Dieser Bereich subjektiverErfahrung umfasst das gesamte Kontinuum von den biologisch-vitalen Be-zügen über die sinnlichen Wahrnehmungen und sensitiven Qualitätsemp-findungen (z. B. angenehm, schmerzhaft) bis hin zu hochdifferenziertenGefühlen (z. B. traurig, glücklich, ergriffen) und schließlich dem begriff-lich-rationalen Denken (vgl. M I, PhK, FF4,19–32; 86 ff.; , 31 f.). In seinerGanzheitlichkeit und internen Ungetrenntheit ist das „feeling“ gerade da-durch charakterisiert, dass es nicht im Einzelnen beschreibbar ist. MeinÜbertragungsvorschlag für Langers „feeling“ ist deshalb der beim Wortgenommene Ausdruck „Aisthesis“.42

Kunstwerke drücken nun aber dieses „feeling“ nicht einfach aus, son-dern als Symbole sind sie durch „aboutness“ gekennzeichnet: Sie formu-lieren etwas über den gesamtheitlich-aisthetischen Weltbezug des Men-schen. „Feelings“ aber muss man im Rahmen der oben rekonstruiertenOntologie Langers als Ereignisse auffassen. Somit beziehen sich Kunst-werke (bzw. Kunstwerksereignisse) auf „feeling“-Ereignisse und artikulie-ren sie als jeweilige „feeling“-Ereignisperspektiven, d.h. als „feeling“-Tat-sachen. Mithin konstituieren Kunstwerke und andere repräsentative Sym-bole aisthetisch strukturierte Welten oder die Welt(en) der aisthetischenTatsachen: „an artistic object […] is filled with it’s meaning, and it’s mean-ing is reality“ (PCAPhSk, 521; , 9ff.).

Das Verhältnis des „Wie“ und des „Was“

Die gesamtheitlichen Zusammenhänge, auf die sich Kunstwerke bezie-hen, sind aber ausschließlich in einer bestimmten Weise erfassbar: Nur das„total picture“, also das ganzheitliche „Wie“ einer präsentativen Symboli-sierung kann die „total reference“, also die ganzheitliche Bezugnahme, aufdas individuell-ganzheitliche „Was“ artikulieren (PhK, 95 f.). Das unter-scheidet sie wesentlich von idealsprachlichen Symbolisierungen. Die Ele-mente solcher diskursiver Sprachen fungieren nach Langer dann am bes-ten, wenn sie maximal „transparent“ auf ihr Bezugsobjekt sind. Die Ge-stalt diskursiver Symbole für sich genommen hat weder einen Wert, nochist sie überhaupt von Belang; in Hinsicht auf ein Subjekt würde die (syn-che Sprachen in diesem Sinne beinhalten die Konstruktion von Kalkülenmit syntaktisch und semantisch eindeutigen Elementen und Gesetzen wieauch ihre Übersetzbarkeit in andere Systeme. Künstlerische Sprachen hin-gegen bringen immer neue individuelle – und das heißt unbeschreibbarkombinationsreiche („indescribable combinations“) – Ganzheiten („totalpictures“) hervor, deren Syntax sich mit jedem Kunstwerk neu formiert

(PhK, 95).39Semantisch ist jedes Kunstwerk entsprechend durch seineganzheitliche Bezugnahme („total reference“, PhK, 96) auf individuelle

Konstellationen – und das heißt auf unbeschreiblich komplexe Tatsachen –gekennzeichnet.

Das „Was“: feeling

Wie aber sind die Tatsachen, auf die sich präsentative Symbolisierungenbeziehen, näher zu verstehen und sind sie gänzlich unterschieden von den

Referenzobjekten diskursiver Symbolisierung? Um in dieser Frage ein

Stück weiter zu kommen, ist an Langers ontologisch-semantische Grund-lagen zu erinnern. Ihr „ontosemantischer Monismus“ impliziert, dass mannicht von einem dualen Weltaufbau ausgehen kann (s.o. S. 123f., 126). Viel-mehr liegen Geist und Wirklichkeit, Erkenntnis und Tatsachen, Symbolund Symbolisiertes ontologisch auf einer Ebene. Die basalen „metaphysi-schen Konstituentia der Welt“ (FLP, 185) sind nach Langer Ereignisse.

Nach Langer ist der spezifische Referenzbereich präsentativer Sym-bole durch den Reichtum unfassbar vieler winziger und äußerst dicht ver-knüpfter Bestimmungen und Subbestimmungen gekennzeichnet. Dasheißt, die Bezugnahme charakterisiert sich durch eine so große Fülle und

Pluralität von „Relationen innerhalb von Relationen“, dass sie nicht klaranalysierbar ist. Der hohe Grad an Komplexität, enger interner Vernet-zung und mithin Undurchschaubarkeit schließt die Artikulation von prä-sentativen Symbolisierungen in diskursiven Aussagen aus (PhK, 93, s.o. S.

118 f.). Langers Beschreibung präsentativer Bezugnahme antizipiert da-mit in den wesentlichen Zügen Nelson Goodmans Kunstsymptom der „se-mantischen Dichte“.40

Das „Unsagbare“ nennt Langer „feeling“. Weit über eine wörtliche

Übersetzung als „Fühlen“ hinaus ist damit der gesamtheitliche Weltbezug des Menschen gemeint. Er ist als prozessuale Relation zwischen dem

„feeling“ und dem „(being) felt“ strukturiert.41Dieser Bereich subjektiverErfahrung umfasst das gesamte Kontinuum von den biologisch-vitalen Be-zügen über die sinnlichen Wahrnehmungen und sensitiven Qualitätsemp-findungen (z. B. angenehm, schmerzhaft) bis hin zu hochdifferenziertenGefühlen (z. B. traurig, glücklich, ergriffen) und schließlich dem begriff-lich-rationalen Denken (vgl. M I, PhK, FF4,19–32; 86 ff.; , 31 f.). In seinerGanzheitlichkeit und internen Ungetrenntheit ist das „feeling“ gerade da-durch charakterisiert, dass es nicht im Einzelnen beschreibbar ist. MeinÜbertragungsvorschlag für Langers „feeling“ ist deshalb der beim Wortgenommene Ausdruck „Aisthesis“.42

Kunstwerke drücken nun aber dieses „feeling“ nicht einfach aus, son-dern als Symbole sind sie durch „aboutness“ gekennzeichnet: Sie formu-lieren etwas über den gesamtheitlich-aisthetischen Weltbezug des Men-schen. „Feelings“ aber muss man im Rahmen der oben rekonstruiertenOntologie Langers als Ereignisse auffassen. Somit beziehen sich Kunst-werke (bzw. Kunstwerksereignisse) auf „feeling“-Ereignisse und artikulie-ren sie als jeweilige „feeling“-Ereignisperspektiven, d.h. als „feeling“-Tat-sachen. Mithin konstituieren Kunstwerke und andere repräsentative Sym-bole aisthetisch strukturierte Welten oder die Welt(en) der aisthetischenTatsachen: „an artistic object […] is filled with it’s meaning, and it’s mean-ing is reality“ (PCAPhSk, 521; , 9ff.).

Das Verhältnis des „Wie“ und des „Was“

Die gesamtheitlichen Zusammenhänge, auf die sich Kunstwerke bezie-hen, sind aber ausschließlich in einer bestimmten Weise erfassbar: Nur das„total picture“, also das ganzheitliche „Wie“ einer präsentativen Symboli-sierung kann die „total reference“, also die ganzheitliche Bezugnahme, aufdas individuell-ganzheitliche „Was“ artikulieren (PhK, 95 f.). Das unter-scheidet sie wesentlich von idealsprachlichen Symbolisierungen. Die Ele-mente solcher diskursiver Sprachen fungieren nach Langer dann am bes-ten, wenn sie maximal „transparent“ auf ihr Bezugsobjekt sind. Die Ge-stalt diskursiver Symbole für sich genommen hat weder einen Wert, nochist sie überhaupt von Belang; in Hinsicht auf ein Subjekt würde die (syn-taktische) Eigenwertigkeit ihrer Gestalt sogar ein Interesse wecken, dasablenkt und damit die semantische Kraft des Ausdrucks schwächt (PhK,

75 f.). Diskursive Symbole sind reine „Vehikel“ für Bedeutungen (PhK,

60). Es kommt allein darauf an, was sie aussagen. In Kunstwerken hin-gegen ist der symbolisierte Gegenstand unhintergehbar an die Weise des

Sagens gebunden; das Bezugsobjekt ist ebenso ein konstitutives Elementihrer Gestalt, wie die Gestalt durch sich selbst auf etwas Bezug nimmt. Dietraditionelle Trennung von Inhalt und Form, vom „Was“ und „Wie“ des

Kunstwerks ist nach Langer ein „Paradox“ (vgl. PCA, 520/521). Wenndemnach die Symbolgestalt präsentativer Symbole in einem intrinsischen

Verhältnis zu dem steht, worauf sie Bezug nimmt, dann bleibt zu fragen,wie dieses Verhältnis im Fall von Kunstwerken genauer zu beschreiben ist.

Ontologische Indifferenz und Exemplifikation

Langers Ansatz der ontologischen Indifferenz und Austauschbarkeitvon Symbol und Symbolisiertem bereitet den Boden für eine semantische

Kennzeichnung, die Kunstwerke in besonderem Maße betrifft: die exem-plifikatorische Bezugnahme. Als Symptom der Kunst wurde dieser neue

Bezugnahmetyp von Nelson Goodman in die Symboltheorie eingeführtund präzise semantisch entfaltet. Susanne K. Langer nimmt bereits einige

Grundzüge der Exemplifikationstheorie vorweg. Vor allem aber schafft siemit ihrem ontosemantischen Monismus dafür den ontologischen Rah-men.

Etwas ist nicht notwendig Symbol für etwas, sondern es fungiert relativzu einem Kontext als Symbol, relativ zu einem anderen nicht (S. 126).

Wenn der Symbolstatus von etwas ontologisch kontingent ist, wenn alsoein „Ding“ ein anderes „Ding“ symbolisieren kann, dann ist zu fragen, wiedie Bezugnahme detailliert vonstatten geht. Wie nimmt z.B. in einem ar-chitekturtheoretischen Kontext eine chromatische Tonleiter Bezug aufeine gleichmäßig ansteigende Treppe und wie geht es, dass dieselbe Treppein einem musikalischen Kontext selbst als Symbol für eine chromatische

Tonleiter fungiert? Die Antwort ist, dass Langers ontologische Austausch-barkeit von Zeichen und Bezeichnetem auch die Grundlage für eine Um- kehrung innerhalb der semantischen Binnenrelation selbst schafft. Die Be- zeichnungsrichtung in dieser zweistelligen Beziehung ist umkehrbar. Inder Denotation verläuft die Bezugnahmerichtung vom Symbol zum Sym-bolisierten; z.B. der Satz „Die Treppe hat gleichmäßig ansteigende Stufen“denotiert eine Treppe mit gleichmäßig ansteigenden Stufen. In der Exem- plifikation verläuft nun nach Goodman die Bezeichnungsrichtung in um-gekehrter Richtung; das bezugnehmende Symbol ist das Denotierte unddas Denotierende ist dasjenige, worauf Bezug genommen wird. Es mussaber noch zweierlei hinzukommen; erstens nimmt das exemplifizierendeSymbol nur auf einige Kennzeichen am Bezugnahmeobjekt Bezug undzweitens muss es diese Kennzeichen auch besitzen, d.h., sie kommen ihmzu und können deshalb von ihm denotiert werden. Um es an dem gewähl-ten Beispiel zu verdeutlichen: Eine Treppe mit gleichmäßig ansteigendenStufen exemplifiziert eine chromatische Tonfolge. Sie tut dies, indem sieauf diejenigen Kennzeichen an einer chromatischen Tonfolge Bezugnimmt, die sie selber hat und andere Kennzeichen außer Acht lässt. EineTreppe exemplifiziert nicht den Klang und die Lautstärke der Tonfolge,sondern den gleichmäßigen Abstand der Tonschritte, denn deren gleich-mäßiger Abstand kommt auch den Stufen der Treppe zu; „gleichmäßigerAbstand“ kann von der Treppe (Symbol) prädiziert, mithin denotiert wer-den. Es handelt sich also genauer um eine Rückbezugnahme vom exempli-fizierenden Symbol (Treppe) auf das Exemplifizierte (chromatische Ton-folge) und dessen Prädikat („gleichmäßiger Abstand [der Tonschritte]“)über sein eigenes denotiertes Kennzeichen (gleichmäßiger Abstand [derTreppenstufen]). Vereinfacht ausgedrückt: Etwas nimmt exemplifizierendBezug, indem es das, worauf es Bezug nimmt, an sich hat.

Bedeutsam ist diese Bezugnahmestruktur insbesondere für die semanti-sche Erklärung so genannter inhalts- oder gegenstandsloser Kunstwerkeetwa aus dem Bereich der absoluten Musik oder der abstrakten Kunst. Siescheinen auf nichts Bezug zu nehmen, d.h. keine Erkenntnisse über Wirk-lichkeit zu vermitteln. Infolge der Exemplifikationstheorie nimmt aberauch z. B. ein dunkelgraues Quadrat Bezug auf Wirklichkeit, denn esexemplifiziert an sich, also an seiner sinnlichen Gestalt, Schwärze-Konstel-lationen wie etwa dunkle Nächte, „schwarze“ Löcher, Trauerkleidung etc.(Goodman, LADD PhK, 50–67; 91–92; vgl. Langer , bes. 204–245).43

Langer nimmt aber auch schon Grundzüge dieses komplizierten neuenBezugnahmetyps vorweg. So sieht sie ein präsentatives Symbol wie etwaeine sich gerichtet fortsetzende oder anschwellende Linie – als Exemplifi-kation des permanenten Veränderungsprozesses, der das Lebendige struk-turiert. Die Linie nimmt Bezug auf diese „Lebensform“ („living form“),indem sie dieselbe Struktur permanenter Veränderung hat und direkt anihrer Gestalt präsentiertpresents : „[…] a ‘presentational’ symbol its importdirectly to any beholder who is sensitive at all to articulated forms inthe given medium“ (PCA, 522). In Langers Ausführungen ist zudem einAspekt gewichtet, den Goodman kaum beachtet. Auch Gewässerprobenin einem naturwissenschaftlichen Kontext haben z. B. denselben Nitrat-taktische) Eigenwertigkeit ihrer Gestalt sogar ein Interesse wecken, dasablenkt und damit die semantische Kraft des Ausdrucks schwächt (PhK,

75 f.). Diskursive Symbole sind reine „Vehikel“ für Bedeutungen (PhK,

60). Es kommt allein darauf an, was sie aussagen. In Kunstwerken hin-gegen ist der symbolisierte Gegenstand unhintergehbar an die Weise des

Sagens gebunden; das Bezugsobjekt ist ebenso ein konstitutives Elementihrer Gestalt, wie die Gestalt durch sich selbst auf etwas Bezug nimmt. Dietraditionelle Trennung von Inhalt und Form, vom „Was“ und „Wie“ des

Kunstwerks ist nach Langer ein „Paradox“ (vgl. PCA, 520/521). Wenndemnach die Symbolgestalt präsentativer Symbole in einem intrinsischen

Verhältnis zu dem steht, worauf sie Bezug nimmt, dann bleibt zu fragen,wie dieses Verhältnis im Fall von Kunstwerken genauer zu beschreiben ist.

Ontologische Indifferenz und Exemplifikation

Langers Ansatz der ontologischen Indifferenz und Austauschbarkeitvon Symbol und Symbolisiertem bereitet den Boden für eine semantische

Kennzeichnung, die Kunstwerke in besonderem Maße betrifft: die exem-plifikatorische Bezugnahme. Als Symptom der Kunst wurde dieser neue

Bezugnahmetyp von Nelson Goodman in die Symboltheorie eingeführtund präzise semantisch entfaltet. Susanne K. Langer nimmt bereits einige

Grundzüge der Exemplifikationstheorie vorweg. Vor allem aber schafft siemit ihrem ontosemantischen Monismus dafür den ontologischen Rah-men.

Etwas ist nicht notwendig Symbol für etwas, sondern es fungiert relativzu einem Kontext als Symbol, relativ zu einem anderen nicht (S. 126).

Wenn der Symbolstatus von etwas ontologisch kontingent ist, wenn alsoein „Ding“ ein anderes „Ding“ symbolisieren kann, dann ist zu fragen, wiedie Bezugnahme detailliert vonstatten geht. Wie nimmt z.B. in einem ar-chitekturtheoretischen Kontext eine chromatische Tonleiter Bezug aufeine gleichmäßig ansteigende Treppe und wie geht es, dass dieselbe Treppein einem musikalischen Kontext selbst als Symbol für eine chromatische

Tonleiter fungiert? Die Antwort ist, dass Langers ontologische Austausch-barkeit von Zeichen und Bezeichnetem auch die Grundlage für eine Um- kehrung innerhalb der semantischen Binnenrelation selbst schafft. Die Be- zeichnungsrichtung in dieser zweistelligen Beziehung ist umkehrbar. Inder Denotation verläuft die Bezugnahmerichtung vom Symbol zum Sym-bolisierten; z.B. der Satz „Die Treppe hat gleichmäßig ansteigende Stufen“denotiert eine Treppe mit gleichmäßig ansteigenden Stufen. In der Exem- plifikation verläuft nun nach Goodman die Bezeichnungsrichtung in um-gekehrter Richtung; das bezugnehmende Symbol ist das Denotierte unddas Denotierende ist dasjenige, worauf Bezug genommen wird. Es mussaber noch zweierlei hinzukommen; erstens nimmt das exemplifizierendeSymbol nur auf einige Kennzeichen am Bezugnahmeobjekt Bezug undzweitens muss es diese Kennzeichen auch besitzen, d.h., sie kommen ihmzu und können deshalb von ihm denotiert werden. Um es an dem gewähl-ten Beispiel zu verdeutlichen: Eine Treppe mit gleichmäßig ansteigendenStufen exemplifiziert eine chromatische Tonfolge. Sie tut dies, indem sieauf diejenigen Kennzeichen an einer chromatischen Tonfolge Bezugnimmt, die sie selber hat und andere Kennzeichen außer Acht lässt. EineTreppe exemplifiziert nicht den Klang und die Lautstärke der Tonfolge,sondern den gleichmäßigen Abstand der Tonschritte, denn deren gleich-mäßiger Abstand kommt auch den Stufen der Treppe zu; „gleichmäßigerAbstand“ kann von der Treppe (Symbol) prädiziert, mithin denotiert wer-den. Es handelt sich also genauer um eine Rückbezugnahme vom exempli-fizierenden Symbol (Treppe) auf das Exemplifizierte (chromatische Ton-folge) und dessen Prädikat („gleichmäßiger Abstand [der Tonschritte]“)über sein eigenes denotiertes Kennzeichen (gleichmäßiger Abstand [derTreppenstufen]). Vereinfacht ausgedrückt: Etwas nimmt exemplifizierendBezug, indem es das, worauf es Bezug nimmt, an sich hat.

Bedeutsam ist diese Bezugnahmestruktur insbesondere für die semanti-sche Erklärung so genannter inhalts- oder gegenstandsloser Kunstwerkeetwa aus dem Bereich der absoluten Musik oder der abstrakten Kunst. Siescheinen auf nichts Bezug zu nehmen, d.h. keine Erkenntnisse über Wirk-lichkeit zu vermitteln. Infolge der Exemplifikationstheorie nimmt aberauch z. B. ein dunkelgraues Quadrat Bezug auf Wirklichkeit, denn esexemplifiziert an sich, also an seiner sinnlichen Gestalt, Schwärze-Konstel-lationen wie etwa dunkle Nächte, „schwarze“ Löcher, Trauerkleidung etc.(Goodman, LADD PhK, 50–67; 91–92; vgl. Langer , bes. 204–245).43

Langer nimmt aber auch schon Grundzüge dieses komplizierten neuenBezugnahmetyps vorweg. So sieht sie ein präsentatives Symbol wie etwaeine sich gerichtet fortsetzende oder anschwellende Linie – als Exemplifi-kation des permanenten Veränderungsprozesses, der das Lebendige struk-turiert. Die Linie nimmt Bezug auf diese „Lebensform“ („living form“),indem sie dieselbe Struktur permanenter Veränderung hat und direkt anihrer Gestalt präsentiertpresents : „[…] a ‘presentational’ symbol its importdirectly to any beholder who is sensitive at all to articulated forms inthe given medium“ (PCA, 522). In Langers Ausführungen ist zudem einAspekt gewichtet, den Goodman kaum beachtet. Auch Gewässerprobenin einem naturwissenschaftlichen Kontext haben z. B. denselben Nitrat-gehalt wie das Gewässer, das sie exemplifizieren. Kunstwerke hingegenhaben die exemplifizierte Eigenschaft nicht nur, auf die sie Bezug neh-men, sondern sie präsentieren zeigen sie an sich; sie sie an ihrer sinnlichwahrnehmbaren Gestalt vor. Dazu gehört nach Langer, dass Kunstwerkedasjenige, was sie präsentieren, aus seinen praktischen Bezügen und rea-len Zusammenhängen lösen und als „abstrahierte“ Konstellation zureigenwertigen ästhetischen Erscheinung bringen: „Exemplification […]makes the forms of things present themselves in abstracto.“ Zickzack-Li-nien und Kreise beispielsweise sind nicht etwa nur formale Motive, son-dern sie nehmen exemplifikatorisch auf grundsätzliche RaumrelationenBezug (PCA, 520, 525ff., 528f.).

Der hier in Langers Philosophie rekonstruierte Begründungszusam-menhang zwischen nonsubstanzieller Ontologie und exemplifikatorischerBezugnahme wurde von ihr nicht explizit formuliert und von Goodmanschon deshalb nicht hergestellt, weil er eine weitgehend ontologisch „ab-stinente“ Semantik vertritt. Das schließt aber nicht aus, dass nicht geradean dieser Schnittstelle von Ontologie und Semantik, die bei Langer vorge-dacht ist, die fruchtbarsten Ansätze zu einer umfassenden Semantik lie-gen. Denn die Rückbindung einer neuen semantischen Struktur an eineentsprechende Ontologie scheint mir zwingend: Wenn nichtwissenschaftli-che und insbesondere künstlerische Formulierungen nicht nur diffuse Ge-fühle ausdrücken, sondern Erkenntnisse artikulieren, dann müssen sie sichauf Wirklichkeit beziehen. Eine Theorie ihrer spezifischen und eigenwerti-gen Symbolisierungsleistung setzt dann auch eine angemessene Beschrei-bung der Wirklichkeit voraus, auf die sie konstruktiv Bezug nehmen: Ineinem konsequenten philosophischen Ansatz muss die kognitive und mit- hin semantische Valenz menschlicher Symbolisierungsweisen in einer über-zeugenden metaphysisch-ontologischen Konzeption situiert sein. SusanneK. Langer gehört deshalb nicht nur durch ihren Ansatz einer neuen Sym-boltheorie zu den wichtigsten philosophischen Persönlichkeiten des20.Jahrhunderts. Für die Bedeutung ihrer Semantik spricht auch, dass sieneben den theoretisch ausformulierten Partien ein Ideen- und Gedanken-Potenzial enthält. Ihre Ereignismetaphysik und ihre monistische Konzep-tion einer Welt der ontologisch-semantischen Tatsachen enthält diesesPotenzial zur theoretischen Ausarbeitung und Weiterentwicklung. Es isthöchste Zeit, dass Susanne K. Langers Wiederentdeckung in breiteremMaße Eingang in die philosophische Welt findet.

Auswahlbibliographie

gehalt wie das Gewässer, das sie exemplifizieren. Kunstwerke hingegenhaben die exemplifizierte Eigenschaft nicht nur, auf die sie Bezug neh-men, sondern sie präsentieren zeigen sie an sich; sie sie an ihrer sinnlichwahrnehmbaren Gestalt vor. Dazu gehört nach Langer, dass Kunstwerkedasjenige, was sie präsentieren, aus seinen praktischen Bezügen und rea-len Zusammenhängen lösen und als „abstrahierte“ Konstellation zureigenwertigen ästhetischen Erscheinung bringen: „Exemplification […]makes the forms of things present themselves in abstracto.“ Zickzack-Li-nien und Kreise beispielsweise sind nicht etwa nur formale Motive, son-dern sie nehmen exemplifikatorisch auf grundsätzliche RaumrelationenBezug (PCA, 520, 525ff., 528f.).

Der hier in Langers Philosophie rekonstruierte Begründungszusam-menhang zwischen nonsubstanzieller Ontologie und exemplifikatorischerBezugnahme wurde von ihr nicht explizit formuliert und von Goodmanschon deshalb nicht hergestellt, weil er eine weitgehend ontologisch „ab-stinente“ Semantik vertritt. Das schließt aber nicht aus, dass nicht geradean dieser Schnittstelle von Ontologie und Semantik, die bei Langer vorge-dacht ist, die fruchtbarsten Ansätze zu einer umfassenden Semantik lie-gen. Denn die Rückbindung einer neuen semantischen Struktur an eineentsprechende Ontologie scheint mir zwingend: Wenn nichtwissenschaftli-che und insbesondere künstlerische Formulierungen nicht nur diffuse Ge-fühle ausdrücken, sondern Erkenntnisse artikulieren, dann müssen sie sichauf Wirklichkeit beziehen. Eine Theorie ihrer spezifischen und eigenwerti-gen Symbolisierungsleistung setzt dann auch eine angemessene Beschrei-bung der Wirklichkeit voraus, auf die sie konstruktiv Bezug nehmen: Ineinem konsequenten philosophischen Ansatz muss die kognitive und mit- hin semantische Valenz menschlicher Symbolisierungsweisen in einer über-zeugenden metaphysisch-ontologischen Konzeption situiert sein. SusanneK. Langer gehört deshalb nicht nur durch ihren Ansatz einer neuen Sym-boltheorie zu den wichtigsten philosophischen Persönlichkeiten des20.Jahrhunderts. Für die Bedeutung ihrer Semantik spricht auch, dass sieneben den theoretisch ausformulierten Partien ein Ideen- und Gedanken-Potenzial enthält. Ihre Ereignismetaphysik und ihre monistische Konzep-tion einer Welt der ontologisch-semantischen Tatsachen enthält diesesPotenzial zur theoretischen Ausarbeitung und Weiterentwicklung. Es isthöchste Zeit, dass Susanne K. Langers Wiederentdeckung in breiteremMaße Eingang in die philosophische Welt findet.

Auswahlbibliographie

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IRIS MURDOCH Lob der Kontingenz

Von Regine Munz

Für ein Schreiben über das Denken von Iris Murdoch ergibt sich die

Schwierigkeit, im Nachhinein so etwas wie ein „System Murdochs“ zukonstruieren.1Murdochs philosophisches Programm ist lediglich implizitin der Auseinandersetzung mit anderen philosophischen Positionen ent-halten. Dabei sind die einzelnen theoretischen Schriften von unterschied-lich systematischem Charakter. Während die Texte The Sovereignty of

Good , Sartre. Romantic Rationalist The Fire and The Sun oder methodischdurchgearbeitet sind und argumentativ verfahren, ist bei den als Metaphy- sics as a Guide to Morals veröffentlichten Gifford Lectures ein eher medi-tativer von „mäandernder Formlosigkeit“2geprägter Stil festzustellen. Ichwerde im Folgenden zu zeigen versuchen, dass gerade dieser an einen sichvielfach windenden Fluss erinnernder Stil, den Murdoch sowohl in ihrenzahlreichen Romanen als auch in den theoretischen Schriften durchge-halten hat, seine inhaltliche Entsprechung findet: Der gedankliche FlussMurdochs, der sich sein Flussbett immer wieder neu und anders wellenför-mig durch die philosophische Landschaft gräbt, dabei Material ablagert,anderes mitnimmt, ein Fluss, dessen Lauf durch die Härte oder Weichheitdes Untergrundes ebenso geprägt ist wie durch die Geschwindigkeit sei-nes Fließens, kann als Versuch verstanden werden, die Balance zwischenNotwendigkeit und Kontingenz zu halten. Neigte sich diese Waage in denfrühen Schriften Murdochs noch in Richtung Kontingenz, so befindet siesich in der zuletzt veröffentlichten Monographie Murdochs Metaphysics as a Guide to Morals im Gleichgewicht. Durchgängig ist allerdings Murdochspositive Bewertung, ja ihr Lob der Kontingenz.

1. Nicht ohne das Gute – biographische Skizze

Die existentiellen Auswirkungen der Gräuel des Zweiten Weltkrieges,die Iris Murdoch bei der Betreuung von Flüchtlingen in Ansätzen mit-erlebte, und ihre humanistische Bildung angelsächsischer Provenienzprägten ihr moralisches Denken. Murdoch wendete die klassische Theodi-zeefrage: „Si deus bonus – unde malum?“ („Wenn es einen guten Gottgibt, warum gibt es dann das Böse?“), in die Frage nach der Möglichkeit,die Realität des Guten festzustellen, ohne die Einsicht in die Abgründemenschlicher Psyche verleugnen zu müssen. Auf welche Weise ist ange-sichts der kontingenten, je individuellen Existenz des Menschen das Gutezu denken? Wie ist – nach Auschwitz – ein gutes Leben möglich? Mit demGuten und den Gräueln des Faschismus wurde Murdoch gleichermaßenkonfrontiert. Iris Murdoch war geliebtes Einzelkind, hochbegabte Schüle-rin und Studentin, wirtschaftlich erfolgreiche und geehrte Schriftstellerinund machte die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, der das Leben gelieb-ter Freunde von Iris Murdoch zerstörte.

Sie wurde am 15. Juli 1919 in Dublin als Tochter protestantischer, bri-tisch-irischer Eltern geboren.3Kurz nach ihrer Geburt übersiedelte die Fa-milie nach London. Iris Murdoch studierte klassische Sprachen und Philo-sophie in Oxford und Cambridge. Während des Zweiten Weltkriegs warsie Mitglied der kommunistischen Partei, zog sich aber kurze Zeit später,nachdem sie von deren Ideologie enttäuscht war, zurück. Dieses politischeEngagement vereitelte Murdochs Plan, nach dem Krieg in den USA zu

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IRIS MURDOCH Lob der Kontingenz

Von Regine Munz

Für ein Schreiben über das Denken von Iris Murdoch ergibt sich die

Schwierigkeit, im Nachhinein so etwas wie ein „System Murdochs“ zukonstruieren.1Murdochs philosophisches Programm ist lediglich implizitin der Auseinandersetzung mit anderen philosophischen Positionen ent-halten. Dabei sind die einzelnen theoretischen Schriften von unterschied-lich systematischem Charakter. Während die Texte The Sovereignty of

Good , Sartre. Romantic Rationalist The Fire and The Sun oder methodischdurchgearbeitet sind und argumentativ verfahren, ist bei den als Metaphy- sics as a Guide to Morals veröffentlichten Gifford Lectures ein eher medi-tativer von „mäandernder Formlosigkeit“2geprägter Stil festzustellen. Ichwerde im Folgenden zu zeigen versuchen, dass gerade dieser an einen sichvielfach windenden Fluss erinnernder Stil, den Murdoch sowohl in ihrenzahlreichen Romanen als auch in den theoretischen Schriften durchge-halten hat, seine inhaltliche Entsprechung findet: Der gedankliche FlussMurdochs, der sich sein Flussbett immer wieder neu und anders wellenför-mig durch die philosophische Landschaft gräbt, dabei Material ablagert,anderes mitnimmt, ein Fluss, dessen Lauf durch die Härte oder Weichheitdes Untergrundes ebenso geprägt ist wie durch die Geschwindigkeit sei-nes Fließens, kann als Versuch verstanden werden, die Balance zwischenNotwendigkeit und Kontingenz zu halten. Neigte sich diese Waage in denfrühen Schriften Murdochs noch in Richtung Kontingenz, so befindet siesich in der zuletzt veröffentlichten Monographie Murdochs Metaphysics as a Guide to Morals im Gleichgewicht. Durchgängig ist allerdings Murdochspositive Bewertung, ja ihr Lob der Kontingenz.

1. Nicht ohne das Gute – biographische Skizze

Die existentiellen Auswirkungen der Gräuel des Zweiten Weltkrieges,die Iris Murdoch bei der Betreuung von Flüchtlingen in Ansätzen mit-erlebte, und ihre humanistische Bildung angelsächsischer Provenienzprägten ihr moralisches Denken. Murdoch wendete die klassische Theodi-zeefrage: „Si deus bonus – unde malum?“ („Wenn es einen guten Gottgibt, warum gibt es dann das Böse?“), in die Frage nach der Möglichkeit,die Realität des Guten festzustellen, ohne die Einsicht in die Abgründemenschlicher Psyche verleugnen zu müssen. Auf welche Weise ist ange-sichts der kontingenten, je individuellen Existenz des Menschen das Gutezu denken? Wie ist – nach Auschwitz – ein gutes Leben möglich? Mit demGuten und den Gräueln des Faschismus wurde Murdoch gleichermaßenkonfrontiert. Iris Murdoch war geliebtes Einzelkind, hochbegabte Schüle-rin und Studentin, wirtschaftlich erfolgreiche und geehrte Schriftstellerinund machte die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, der das Leben gelieb-ter Freunde von Iris Murdoch zerstörte.

Sie wurde am 15. Juli 1919 in Dublin als Tochter protestantischer, bri-tisch-irischer Eltern geboren.3Kurz nach ihrer Geburt übersiedelte die Fa-milie nach London. Iris Murdoch studierte klassische Sprachen und Philo-sophie in Oxford und Cambridge. Während des Zweiten Weltkriegs warsie Mitglied der kommunistischen Partei, zog sich aber kurze Zeit später,nachdem sie von deren Ideologie enttäuscht war, zurück. Dieses politischeEngagement vereitelte Murdochs Plan, nach dem Krieg in den USA zustudieren. Von 1942 bis 1944 arbeitete sie für das britische Schatzamt unddanach für die Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen in England, Bel-gien und Österreich. Im Rahmen dieser Tätigkeit war sie dafür zuständig,

Flüchtlingen und Überlebenden der Konzentrationslager Nahrung, De-cken und andere lebensnotwendige Dinge zu beschaffen, und erlebte da-bei den „völligen Zusammenbruch einer Gesellschaft“4. Daraus resultiertewohl Murdochs außerordentliches Interesse an allgemein verbindlichen

Moralvorstellungen. In dieser Zeit machte Murdoch die Bekanntschaftmit Elias Canetti und Jean-Paul Sartre. Nach ihrer Rückkehr nach Eng-land erhielt sie ein Stipendium in Cambridge. Von 1948 bis 1963 war sie

Dozentin für Philosophie, zunächst am St. Anne’s College in Oxford unddanach in London am Royal College of Art. Schon früh lernte sie John

Wisdom und Elizabeth Anscombe, die bei Ludwig Wittgenstein studierten,kennen und traf sich mit Wittgenstein zu zwei Gesprächen. Dies gab den

Anstoß dazu, dass Murdochs Interesse an Moralphilosophie sich mitsprachphilosophischen Fragestellungen verknüpfte. 1963 zog sich Mur-doch vom Lehrbetrieb zurück, um sich ganz dem Schreiben widmen zukönnen, und entfaltete dabei eine bemerkenswerte Produktivität. Ihrephilosophischen Texte umfassen die Sartre-Studie Sartre. Romantic Ratio- nalist von 1953, The Sovereignty of Good und das letzte veröffentlichteund umfangreichste philosophisches Werk: Metaphysics as a Guide to Mo- rals von 1992. Von ihren sechsundzwanzig veröffentlichten Romanen sind

Under the Net , The BellA Severed HeadThe Black Prince The Sea,, , und the Sea von 1978, der den Booker Prize erhielt, zu nennen. Überdieswurde der Gedichtband A Year of Birds 1978 veröffentlicht. Die Haupt-themen von Murdochs philosophischem und literarischem Schreibengruppieren sich um die Frage nach der Beziehung zwischen menschlicher

Identität und der Idee des Guten, die Auswirkungen der modernen Reli-gionskritik sowie die Beziehung zwischen Moralphilosophie und Literatur.

Murdoch zählt zu den bedeutendsten Figuren der literarischen Öffentlich-keit Großbritanniens. Königin Elisabeth II. erhob sie 1987 zur „Dame“.

Murdoch arbeitete an einem Buch über Heidegger, als bei ihr die Alzhei-mer-Krankheit diagnostiziert wurde. Sie starb am 8. Februar 1999 in Ox-ford. Zu Murdochs Bekanntheitsgrad im deutschsprachigen Raum hatwohl weniger die Rezeption ihrer philosophischen und literarischen

Werke beigetragen, als die Beschreibung ihrer Krankheit durch den Lite-raturdozenten und Kritiker John Bayley, mit dem sie seit 1956 verheiratetwar.5

2. Positive Bewertung von Kontingenz

Murdochs positive Bewertung von Kontingenz hat sich in ihrer Ausei-nandersetzung mit dem französischen Existentialismus und der Philoso-phie Sartres entwickelt, den sie 1945 kennen lernte und dessen Philoso-phie sie mit ihrer Studie Sartre. Romantic Rationalist in Großbritannienbekannt machte. Murdoch beschreibt darin die Welt Sartres als radikalkontingent, d.h., sie ist ohne vorgegebenen Sinn und Wert. Selbst das, wasden Menschen ausmacht, ist nicht von vornherein gegeben. Gegeben istnur die Freiheit des Menschen, der dazu verurteilt ist, das zu wählen, wasseinem Leben Sinn verleihen könnte. Sowohl Sartre als auch Murdoch be-tonen die akzidentielle, kontingente Existenz des Menschen, die sich unse-rem Verlangen nach Form und Ordnung widersetzt. Nur weil wir in vorge-gebenen Situationen kontingente Wesen sind, sind die Bedeutungen, dieMenschen diesen Situationen geben, nicht willkürlich, sondern teilen dieseKontingenz6. Murdoch denkt nun Sartre radikal weiter. Kontingent ist,laut Murdoch, nicht nur das, was nicht-notwendig ist, sondern darüber hi-naus benennt es alles das, was nicht planbar, nicht kontrollierbar, kurz: das,was zufällig ist – so wie das Leben selbst. Den Wunsch nach Ordnung undBewältigung dieses Unplanbaren, Kontingenten, das Suchen nach einerdurchsichtigen, einsehbaren Struktur und der Versuch, sich selbst durchFestlegung gewisser Lebens- und Denkmuster vor dem nicht kontrollier-baren Kontingenten zu schützen, findet Murdoch verständlich. Im Rück-zug auf das solipsistische Zentrum, der mit diesem Ordnungswillen einher-geht, erkennt Murdoch allerdings auch die Ursache dafür, dass SartreKontingenz als etwas Bedrohliches ansieht. Aufgrund der Scheu vor ge-sellschaftlicher Interaktion und aufgrund des Unvermögens, die Wirklich-keit der anderen Menschen anzuerkennen, vernachlässige Sartre die Kom-plexität menschlicher Beziehungen. Für Murdoch hingegen stellt die Weltkeine Bedrohung dar. Im Gegenteil, das Kontingente ist für sie faszinie-rend (SRR, 21). „Warum findet Sartre den Überfluss des Kontingenten inder Welt ekelhaft, anstatt herrlich?“ (SRR, 49), fragt Murdoch mit GabrielMarcel. Kontingenz ist für Murdoch nicht Ursache von Ekel, sondernetwas Positives, zu Schätzendes. Die Wirklichkeit, so wie Murdoch sie ver-steht, steckt voller unvorhersehbarer Elemente. Ereignisse treten auf,ohne vorherbestimmbar gewesen zu sein. Murdochs Romane zeigen instudieren. Von 1942 bis 1944 arbeitete sie für das britische Schatzamt unddanach für die Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen in England, Bel-gien und Österreich. Im Rahmen dieser Tätigkeit war sie dafür zuständig,

Flüchtlingen und Überlebenden der Konzentrationslager Nahrung, De-cken und andere lebensnotwendige Dinge zu beschaffen, und erlebte da-bei den „völligen Zusammenbruch einer Gesellschaft“4. Daraus resultiertewohl Murdochs außerordentliches Interesse an allgemein verbindlichen

Moralvorstellungen. In dieser Zeit machte Murdoch die Bekanntschaftmit Elias Canetti und Jean-Paul Sartre. Nach ihrer Rückkehr nach Eng-land erhielt sie ein Stipendium in Cambridge. Von 1948 bis 1963 war sie

Dozentin für Philosophie, zunächst am St. Anne’s College in Oxford unddanach in London am Royal College of Art. Schon früh lernte sie John

Wisdom und Elizabeth Anscombe, die bei Ludwig Wittgenstein studierten,kennen und traf sich mit Wittgenstein zu zwei Gesprächen. Dies gab den

Anstoß dazu, dass Murdochs Interesse an Moralphilosophie sich mitsprachphilosophischen Fragestellungen verknüpfte. 1963 zog sich Mur-doch vom Lehrbetrieb zurück, um sich ganz dem Schreiben widmen zukönnen, und entfaltete dabei eine bemerkenswerte Produktivität. Ihrephilosophischen Texte umfassen die Sartre-Studie Sartre. Romantic Ratio- nalist von 1953, The Sovereignty of Good und das letzte veröffentlichteund umfangreichste philosophisches Werk: Metaphysics as a Guide to Mo- rals von 1992. Von ihren sechsundzwanzig veröffentlichten Romanen sind

Under the Net , The BellA Severed HeadThe Black Prince The Sea,, , und the Sea von 1978, der den Booker Prize erhielt, zu nennen. Überdieswurde der Gedichtband A Year of Birds 1978 veröffentlicht. Die Haupt-themen von Murdochs philosophischem und literarischem Schreibengruppieren sich um die Frage nach der Beziehung zwischen menschlicher

Identität und der Idee des Guten, die Auswirkungen der modernen Reli-gionskritik sowie die Beziehung zwischen Moralphilosophie und Literatur.

Murdoch zählt zu den bedeutendsten Figuren der literarischen Öffentlich-keit Großbritanniens. Königin Elisabeth II. erhob sie 1987 zur „Dame“.

Murdoch arbeitete an einem Buch über Heidegger, als bei ihr die Alzhei-mer-Krankheit diagnostiziert wurde. Sie starb am 8. Februar 1999 in Ox-ford. Zu Murdochs Bekanntheitsgrad im deutschsprachigen Raum hatwohl weniger die Rezeption ihrer philosophischen und literarischen

Werke beigetragen, als die Beschreibung ihrer Krankheit durch den Lite-raturdozenten und Kritiker John Bayley, mit dem sie seit 1956 verheiratetwar.5

2. Positive Bewertung von Kontingenz

Murdochs positive Bewertung von Kontingenz hat sich in ihrer Ausei-nandersetzung mit dem französischen Existentialismus und der Philoso-phie Sartres entwickelt, den sie 1945 kennen lernte und dessen Philoso-phie sie mit ihrer Studie Sartre. Romantic Rationalist in Großbritannienbekannt machte. Murdoch beschreibt darin die Welt Sartres als radikalkontingent, d.h., sie ist ohne vorgegebenen Sinn und Wert. Selbst das, wasden Menschen ausmacht, ist nicht von vornherein gegeben. Gegeben istnur die Freiheit des Menschen, der dazu verurteilt ist, das zu wählen, wasseinem Leben Sinn verleihen könnte. Sowohl Sartre als auch Murdoch be-tonen die akzidentielle, kontingente Existenz des Menschen, die sich unse-rem Verlangen nach Form und Ordnung widersetzt. Nur weil wir in vorge-gebenen Situationen kontingente Wesen sind, sind die Bedeutungen, dieMenschen diesen Situationen geben, nicht willkürlich, sondern teilen dieseKontingenz6. Murdoch denkt nun Sartre radikal weiter. Kontingent ist,laut Murdoch, nicht nur das, was nicht-notwendig ist, sondern darüber hi-naus benennt es alles das, was nicht planbar, nicht kontrollierbar, kurz: das,was zufällig ist – so wie das Leben selbst. Den Wunsch nach Ordnung undBewältigung dieses Unplanbaren, Kontingenten, das Suchen nach einerdurchsichtigen, einsehbaren Struktur und der Versuch, sich selbst durchFestlegung gewisser Lebens- und Denkmuster vor dem nicht kontrollier-baren Kontingenten zu schützen, findet Murdoch verständlich. Im Rück-zug auf das solipsistische Zentrum, der mit diesem Ordnungswillen einher-geht, erkennt Murdoch allerdings auch die Ursache dafür, dass SartreKontingenz als etwas Bedrohliches ansieht. Aufgrund der Scheu vor ge-sellschaftlicher Interaktion und aufgrund des Unvermögens, die Wirklich-keit der anderen Menschen anzuerkennen, vernachlässige Sartre die Kom-plexität menschlicher Beziehungen. Für Murdoch hingegen stellt die Weltkeine Bedrohung dar. Im Gegenteil, das Kontingente ist für sie faszinie-rend (SRR, 21). „Warum findet Sartre den Überfluss des Kontingenten inder Welt ekelhaft, anstatt herrlich?“ (SRR, 49), fragt Murdoch mit GabrielMarcel. Kontingenz ist für Murdoch nicht Ursache von Ekel, sondernetwas Positives, zu Schätzendes. Die Wirklichkeit, so wie Murdoch sie ver-steht, steckt voller unvorhersehbarer Elemente. Ereignisse treten auf,ohne vorherbestimmbar gewesen zu sein. Murdochs Romane zeigen inzahlreichen Figuren auf, dass Menschen immer wieder unerwartete Per-sönlichkeitszüge an den Tag legen, die darauf hindeuten, dass keine fest-gefügten Bilder ihnen entsprechen.

Ein zweites Moment mischt sich noch in Murdochs Kritik an Sartre. DieKontingenz menschlicher Existenz besteht nicht allein in ihrer Unplanbar-keit, sondern umfasst ebenfalls das Undurchsichtige, Geheimnisvolle derMenschen, welches nicht ohne weiteres in einer Außenperspektive er-kennbar ist. Entscheidende Prozesse im Innenleben der Menschen ereig-nen sich jenseits dessen, was wir deutlich erkennen können, und geradediese mysteriösen Prozesse bleiben in Sartres Philosophie und Literaturausgeblendet. So lautet Murdochs Kritik an Sartres literarischen Textendenn auch, dass seine Romanfiguren kein Bild der menschlichen Situationliefern können, da es in ihnen kein „mystery“ gibt7. Doch Murdoch hathier nicht allein Sartres Philosophie vor Augen, sondern auch analytischePhilosophen wie Richard Hare und Stuart Hampshire. Deren starrer Tren-nung von neutralen Tatsachen und Werten gilt ihre scharfe Kritik, da diemenschliche Sicht der Wirklichkeit nicht so wertefrei und neutral sei, wiees die analytische Philosophie schildert. Bei moralischen Entscheidungenhabe die betreffende Person keine wertneutralen, objektiven Tatsachenvor Augen, die für alle Menschen gleich sind, gerade dies wäre, so gibtMurdoch zu bedenken, eine Vereinfachung und Verarmung der Vorstel-lung von der Innenwelt des Menschen. Die moralische Tätigkeit umfassevielmehr eine von der inneren Welt der Menschen bestimmte Sicht derWirklichkeit, die Ausübung der Liebe und das Respektieren der Kontin-genz. „Ich habe moralische Einstellungen vor Augen, welche die uner-schöpflichen Einzelheiten der Welt, die unendliche Aufgabe zu verstehen,die Wichtigkeit, nicht zu meinen, man würde Individuen und Situationenkennen, die Verbindung von Wissen mit Liebe und von spiritueller Er-kenntnis mit der Auffassung des Einzigartigen betonen“ (EM, 87, „Visionand Choice in Morality“).

Murdoch hat darauf hingewiesen, dass zur undurchsichtigen Innenweltdes Menschen unverzichtbar rationale und emotionale Regungen, Intel-lekt und Gefühl gehören. Doch Sartre betrachtet – wie schon vor ihmKant – Emotionen als Behinderung menschlicher Selbsttätigkeit, ohnezwischen verschiedenen Arten von Emotionen zu differenzieren. Er er-kennt in ihnen keine kreative Kraft (SRR, 131). In ihrer Kritik an SartresPhilosophie der Gefühle verweist Murdoch auf die enorme Bandbreiteder Gefühle, die sich von bewussten Zuständen bis hin zu unbewussten,unbeschreibbaren Gefühlen, von ästhetischen bis hin zu religiösen Emp-findungen erstreckt (EM, 118, Sartre’s ‘The Emotions’). Sie kritisiertSartres Anwendung der Unterscheidung zwischen bewusster und reflexi-ver Tätigkeit auf das Phänomen der Gefühle, indem sie diese als eine Ver-mischung von psychologischen und philosophischen Erklärungsmusternentlarvt (SRR, 120). Sie führe dazu, dass für Sartre Gefühle nur bewusst,aber nie reflexiv sein können. Murdoch meint demgegenüber, dass einigeGefühle sehr wohl reflexives Potenzial aufweisen, dass jedoch jedes Erklä-rungskonzept, das sich nur auf eine bestimmte Art von Gefühl konzentrie-re, dem undurchsichtigen, umfassenden und vielfältigen Phänomen nursehr begrenzt näher käme. Murdoch äußert ihre Kritik an einer unzuläng-lichen Philosophie der Gefühle auch für Kants Moralphilosophie. Die irri-tierende und behindernde Kraft der Emotionen werde bei Kant, in Mur-dochs Interpretation, im Bereich der Vernunft dingfest gemacht. In KantsKonstruktion von Achtung vor dem moralischen Gesetz sieht sie die Ge-fühlskomponente integriert und zugleich entschärft: Welcher Bereich ist inKants Vorstellung eines verantwortlichen Menschen für das Gefühlslebenvorgesehen?, fragt Murdoch. Da Kant die „messy warm empirical psyche“von den reinen Operationen des Verstandes trenne,8können Gefühle nurdurch eine Hintertür Einlass in das philosophische System Kants finden.Obschon Kant also Gefühle nicht als einen festen Bestandteil der Strukturvon Moralität begreife, verschaffe er in einer Fußnote zur Grundlegungder Metaphysik der Sitten dem Gefühl der Achtung oder dem Respekt vordem Moralgesetz zumindest einen kleinen Platz in seinem System. Dieseskantische Gefühl skizziert Murdoch als eine Art leidender Stolz, der dieErkenntnis der Pflicht begleitet. Analog zum Gefühl des Erhabenen ver-schaffe es den Menschen die Erkenntnis, dass sie, obschon sie von ihrenGefühlen beeinflusst werden, zu rationalem Verhalten fähig sind. So spie-len Gefühle bei Kant die Rolle eines erlaubten, ziemlich schmerzhaften„thrill“ (SoG, 82), der eine Art Nebenprodukt der menschlichen Würdeals Vernunftwesen ist. Demgegenüber versucht Murdoch, den Dualismusvon Gefühlen und Verstand zu vermeiden: Sie erkennt in den Gefühlendie vernünftige und im Verstand die gefühlshafte Dimension.zahlreichen Figuren auf, dass Menschen immer wieder unerwartete Per-sönlichkeitszüge an den Tag legen, die darauf hindeuten, dass keine fest-gefügten Bilder ihnen entsprechen.

Ein zweites Moment mischt sich noch in Murdochs Kritik an Sartre. DieKontingenz menschlicher Existenz besteht nicht allein in ihrer Unplanbar-keit, sondern umfasst ebenfalls das Undurchsichtige, Geheimnisvolle derMenschen, welches nicht ohne weiteres in einer Außenperspektive er-kennbar ist. Entscheidende Prozesse im Innenleben der Menschen ereig-nen sich jenseits dessen, was wir deutlich erkennen können, und geradediese mysteriösen Prozesse bleiben in Sartres Philosophie und Literaturausgeblendet. So lautet Murdochs Kritik an Sartres literarischen Textendenn auch, dass seine Romanfiguren kein Bild der menschlichen Situationliefern können, da es in ihnen kein „mystery“ gibt7. Doch Murdoch hathier nicht allein Sartres Philosophie vor Augen, sondern auch analytischePhilosophen wie Richard Hare und Stuart Hampshire. Deren starrer Tren-nung von neutralen Tatsachen und Werten gilt ihre scharfe Kritik, da diemenschliche Sicht der Wirklichkeit nicht so wertefrei und neutral sei, wiees die analytische Philosophie schildert. Bei moralischen Entscheidungenhabe die betreffende Person keine wertneutralen, objektiven Tatsachenvor Augen, die für alle Menschen gleich sind, gerade dies wäre, so gibtMurdoch zu bedenken, eine Vereinfachung und Verarmung der Vorstel-lung von der Innenwelt des Menschen. Die moralische Tätigkeit umfassevielmehr eine von der inneren Welt der Menschen bestimmte Sicht derWirklichkeit, die Ausübung der Liebe und das Respektieren der Kontin-genz. „Ich habe moralische Einstellungen vor Augen, welche die uner-schöpflichen Einzelheiten der Welt, die unendliche Aufgabe zu verstehen,die Wichtigkeit, nicht zu meinen, man würde Individuen und Situationenkennen, die Verbindung von Wissen mit Liebe und von spiritueller Er-kenntnis mit der Auffassung des Einzigartigen betonen“ (EM, 87, „Visionand Choice in Morality“).

Murdoch hat darauf hingewiesen, dass zur undurchsichtigen Innenweltdes Menschen unverzichtbar rationale und emotionale Regungen, Intel-lekt und Gefühl gehören. Doch Sartre betrachtet – wie schon vor ihmKant – Emotionen als Behinderung menschlicher Selbsttätigkeit, ohnezwischen verschiedenen Arten von Emotionen zu differenzieren. Er er-kennt in ihnen keine kreative Kraft (SRR, 131). In ihrer Kritik an SartresPhilosophie der Gefühle verweist Murdoch auf die enorme Bandbreiteder Gefühle, die sich von bewussten Zuständen bis hin zu unbewussten,unbeschreibbaren Gefühlen, von ästhetischen bis hin zu religiösen Emp-findungen erstreckt (EM, 118, Sartre’s ‘The Emotions’). Sie kritisiertSartres Anwendung der Unterscheidung zwischen bewusster und reflexi-ver Tätigkeit auf das Phänomen der Gefühle, indem sie diese als eine Ver-mischung von psychologischen und philosophischen Erklärungsmusternentlarvt (SRR, 120). Sie führe dazu, dass für Sartre Gefühle nur bewusst,aber nie reflexiv sein können. Murdoch meint demgegenüber, dass einigeGefühle sehr wohl reflexives Potenzial aufweisen, dass jedoch jedes Erklä-rungskonzept, das sich nur auf eine bestimmte Art von Gefühl konzentrie-re, dem undurchsichtigen, umfassenden und vielfältigen Phänomen nursehr begrenzt näher käme. Murdoch äußert ihre Kritik an einer unzuläng-lichen Philosophie der Gefühle auch für Kants Moralphilosophie. Die irri-tierende und behindernde Kraft der Emotionen werde bei Kant, in Mur-dochs Interpretation, im Bereich der Vernunft dingfest gemacht. In KantsKonstruktion von Achtung vor dem moralischen Gesetz sieht sie die Ge-fühlskomponente integriert und zugleich entschärft: Welcher Bereich ist inKants Vorstellung eines verantwortlichen Menschen für das Gefühlslebenvorgesehen?, fragt Murdoch. Da Kant die „messy warm empirical psyche“von den reinen Operationen des Verstandes trenne,8können Gefühle nurdurch eine Hintertür Einlass in das philosophische System Kants finden.Obschon Kant also Gefühle nicht als einen festen Bestandteil der Strukturvon Moralität begreife, verschaffe er in einer Fußnote zur Grundlegungder Metaphysik der Sitten dem Gefühl der Achtung oder dem Respekt vordem Moralgesetz zumindest einen kleinen Platz in seinem System. Dieseskantische Gefühl skizziert Murdoch als eine Art leidender Stolz, der dieErkenntnis der Pflicht begleitet. Analog zum Gefühl des Erhabenen ver-schaffe es den Menschen die Erkenntnis, dass sie, obschon sie von ihrenGefühlen beeinflusst werden, zu rationalem Verhalten fähig sind. So spie-len Gefühle bei Kant die Rolle eines erlaubten, ziemlich schmerzhaften„thrill“ (SoG, 82), der eine Art Nebenprodukt der menschlichen Würdeals Vernunftwesen ist. Demgegenüber versucht Murdoch, den Dualismusvon Gefühlen und Verstand zu vermeiden: Sie erkennt in den Gefühlendie vernünftige und im Verstand die gefühlshafte Dimension.

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3. Metaphysik des Guten – Platonisch inspirierte Verwerfungen

Murdochs Denken ist in einer Absatzbewegung zur angelsächsischen

Philosophie im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert entstanden und istals in bestem Sinne unzeitgemäß zu bezeichnen. Dieser Umstand basiertdarauf, dass die Altphilologin Murdoch als profunde Kennerin platoni-scher Philosophie auf die verschiedenen philosophischen Theorien ihrer

Zeit reagiert. Murdochs platonisch inspirierte Hinwendung zu einer letzt-endlich metaphysischen Position in moralphilosophischem Gewand kannals Folge ihrer Ablehnung der dezidiert antimetaphysischen Intention derenglischen Philosophie und zugleich als Kritik an dem zu formalistischen,inhaltsleeren Existentialismus Sartre’scher Prägung verstanden werden.

Daher ist Murdochs anti-antimetaphysisches Programm – positiv gespro-chen, ihre Verteidigung eines teleologischen Moralprinzips – erst vor dem

Hintergrund der angelsächsischen philosophischen Situation ihrer Zeitverständlich. Murdoch entwickelt ihre moralphilosophische und ästheti-sche Konzeption eines das menschliche Handeln und Erkennen transzen-dierenden Guten in der Kritik an den dominierenden philosophischen

Strömungen der fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts:gegenüber dem linguistisch-behavioristischen Empirismus und der libera-len antimetaphysischen Richtung als Hauptströmungen der britischen

Gegenwartsphilosophie einerseits – „the relaxes empirical ethics of the

British tradition (a cheerful amalgam of Hume, Kant and Mill)“ – undgegenüber der vom jungen Sartre repräsentierten existentialistischen The-orie – „the more formal existentialist system“ (SoG. , 50) andererseitsInder Auseinandersetzung mit diesen Positionen ist Murdoch darum be-müht, die Bedingungen und Möglichkeiten einer moralphilosophisch rele-vanten Rede vom Guten, um die ihr ganzes Denken kreist, zu entfalten.

Das Gute ist dabei im höchsten Sinne wirkliche und notwendige Wirklich-keit, unbedingte Vollkommenheit, welche die kontingente menschliche

Existenz bedingt. „Plato gives to Good a unique position, above being,real but not contingently existing, Ens Realissimum.“9Sie nähert sichdabei diesem Denken des Guten von verschiedenen Seiten.

Explizit beschäftigt sich Murdoch mit Platon in den beiden aus Vorträ-gen entstandenen theoretischen Schriften The Sovereignty of Good over other Concepts und The Fire and the Sun. Why Plato Banished the Artists

(EM, 386–463). Die leitende systematische Idee der platonischen Lehreerkennt Murdoch in deren spezifischer Form von „Realismus“, also deren

Annahme objektiver, erkennbarer Gehalte, allen voran die Annahme undprominente Stellung der Idee des Guten. Murdoch instrumentalisiertdiese transzendente Idee der Wirklichkeit des Ethischen. Ihrer Meinungnach ist eine wesentliche Form des menschlichen Bewusstseins und Er-kenntnisvermögens bildhaft verfasst, und selbst in der Sprache der Philo-sophie macht Murdoch metaphorische Anteile aus. Im Anschluss an ihreAusführungen zum Zusammenhang von bildhafter Sprache und Vorstel-lungskraft weist Murdoch darauf hin, dass das Gute eine absolute moral-philosophische Metapher sei (SoG, 77), die bei Platon ihre eigene theore-tische Ausgestaltung erfährt. Murdoch interpretiert das Gute bei Platonals ein fernes, unpersönliches Energiezentrum, das sowohl die kognitiven,rezeptiven als auch verhaltensbestimmenden Schichten des Menschen be-einflusst. Entscheidend für diese Sicht des Guten wird für Murdoch Pla-tons Metapher der Sonne. Murdoch kennzeichnet sie als das Zentrum vonPlatons Höhlengleichnis. Die moralische Pilgerreise nimmt ihren Ausgangbei der Höhle, fährt sodann fort, die Wirklichkeit im Sonnenlicht zu sehen,und endet im Vermögen, die Sonne selbst zu sehen. Murdoch erläutertdies so: „Das Selbst, der Ort, an dem wir leben, ist ein Ort der Illusion. DasGute [goodness] ist verbunden mit dem Versuch, das Nicht-Selbst, d. i. diewirkliche Welt, zu sehen und im Lichte eines tugendhaften Bewusstseinsauf sie zu reagieren. Dies ist die nichtmetaphysische Bedeutung der Ideeder Transzendenz, zu der die Philosophen in ihrer Erklärung des Guten sogetreulich Zuflucht genommen haben“ (SoG, 93). Das Gute ist für Mur-doch also weniger im Sinne einer semantisch klar bestimmbaren Größe zuverstehen – da ihr Inhalt nicht abhängig von einem spezifischen, kulturell-geschichtlichen Kontext sein kann –, als vielmehr als funktionalisiertes for-malethisches Prinzip, welches die Bedingung der Möglichkeit einer in-teresselosen, nicht-narzisstisch verstellten Wahrnehmung der kontingen-ten Wirklichkeit im Lichte des notwendig Guten zum Gegenstand hat. Sobildet die Idee des Guten eine Art Fluchtpunkt: Sie ist nie einer direktenempirischen Erfahrung zugänglich. Unsichtbarkeit und Leere spiegelnsich in der menschlichen Erfahrung. „‘Alles ist eitel’ ist der Anfang unddas Ende der Ethik. Die einzige wirkliche Art gut zu sein ist die, aus kei-nem Grund [for nothing] gut zu sein, inmitten einer Bühne, auf der jedes‘natürliche’ Ding, einschließlich des eigenen Verstands, der Veränderung,d.h. der Notwendigkeit unterworfen ist“ (SoG, 71).

Nun ist allerdings die platonische Philosophie im Allgemeinen, und ihreKonzeption des Guten im Besonderen, nicht ohne kritische Gegenstim-men geblieben. So wenig attraktiv platonische Philosophie für die analy-tische, angelsächsische Philosophie ist, sowenig unwidersprochen ist Pla-tons Philosophie für die kontinentale Philosophietradition geblieben. WieDavid Tracy bemerkt, markiert nach der Meinung vieler Philosophen– von Nietzsche über Heidegger zu Deleuze – Platon den Punkt, an dem

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3. Metaphysik des Guten – Platonisch inspirierte Verwerfungen

Murdochs Denken ist in einer Absatzbewegung zur angelsächsischen

Philosophie im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert entstanden und istals in bestem Sinne unzeitgemäß zu bezeichnen. Dieser Umstand basiertdarauf, dass die Altphilologin Murdoch als profunde Kennerin platoni-scher Philosophie auf die verschiedenen philosophischen Theorien ihrer

Zeit reagiert. Murdochs platonisch inspirierte Hinwendung zu einer letzt-endlich metaphysischen Position in moralphilosophischem Gewand kannals Folge ihrer Ablehnung der dezidiert antimetaphysischen Intention derenglischen Philosophie und zugleich als Kritik an dem zu formalistischen,inhaltsleeren Existentialismus Sartre’scher Prägung verstanden werden.

Daher ist Murdochs anti-antimetaphysisches Programm – positiv gespro-chen, ihre Verteidigung eines teleologischen Moralprinzips – erst vor dem

Hintergrund der angelsächsischen philosophischen Situation ihrer Zeitverständlich. Murdoch entwickelt ihre moralphilosophische und ästheti-sche Konzeption eines das menschliche Handeln und Erkennen transzen-dierenden Guten in der Kritik an den dominierenden philosophischen

Strömungen der fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts:gegenüber dem linguistisch-behavioristischen Empirismus und der libera-len antimetaphysischen Richtung als Hauptströmungen der britischen

Gegenwartsphilosophie einerseits – „the relaxes empirical ethics of the

British tradition (a cheerful amalgam of Hume, Kant and Mill)“ – undgegenüber der vom jungen Sartre repräsentierten existentialistischen The-orie – „the more formal existentialist system“ (SoG. , 50) andererseitsInder Auseinandersetzung mit diesen Positionen ist Murdoch darum be-müht, die Bedingungen und Möglichkeiten einer moralphilosophisch rele-vanten Rede vom Guten, um die ihr ganzes Denken kreist, zu entfalten.

Das Gute ist dabei im höchsten Sinne wirkliche und notwendige Wirklich-keit, unbedingte Vollkommenheit, welche die kontingente menschliche

Existenz bedingt. „Plato gives to Good a unique position, above being,real but not contingently existing, Ens Realissimum.“9Sie nähert sichdabei diesem Denken des Guten von verschiedenen Seiten.

Explizit beschäftigt sich Murdoch mit Platon in den beiden aus Vorträ-gen entstandenen theoretischen Schriften The Sovereignty of Good over other Concepts und The Fire and the Sun. Why Plato Banished the Artists

(EM, 386–463). Die leitende systematische Idee der platonischen Lehreerkennt Murdoch in deren spezifischer Form von „Realismus“, also deren

Annahme objektiver, erkennbarer Gehalte, allen voran die Annahme undprominente Stellung der Idee des Guten. Murdoch instrumentalisiertdiese transzendente Idee der Wirklichkeit des Ethischen. Ihrer Meinungnach ist eine wesentliche Form des menschlichen Bewusstseins und Er-kenntnisvermögens bildhaft verfasst, und selbst in der Sprache der Philo-sophie macht Murdoch metaphorische Anteile aus. Im Anschluss an ihreAusführungen zum Zusammenhang von bildhafter Sprache und Vorstel-lungskraft weist Murdoch darauf hin, dass das Gute eine absolute moral-philosophische Metapher sei (SoG, 77), die bei Platon ihre eigene theore-tische Ausgestaltung erfährt. Murdoch interpretiert das Gute bei Platonals ein fernes, unpersönliches Energiezentrum, das sowohl die kognitiven,rezeptiven als auch verhaltensbestimmenden Schichten des Menschen be-einflusst. Entscheidend für diese Sicht des Guten wird für Murdoch Pla-tons Metapher der Sonne. Murdoch kennzeichnet sie als das Zentrum vonPlatons Höhlengleichnis. Die moralische Pilgerreise nimmt ihren Ausgangbei der Höhle, fährt sodann fort, die Wirklichkeit im Sonnenlicht zu sehen,und endet im Vermögen, die Sonne selbst zu sehen. Murdoch erläutertdies so: „Das Selbst, der Ort, an dem wir leben, ist ein Ort der Illusion. DasGute [goodness] ist verbunden mit dem Versuch, das Nicht-Selbst, d. i. diewirkliche Welt, zu sehen und im Lichte eines tugendhaften Bewusstseinsauf sie zu reagieren. Dies ist die nichtmetaphysische Bedeutung der Ideeder Transzendenz, zu der die Philosophen in ihrer Erklärung des Guten sogetreulich Zuflucht genommen haben“ (SoG, 93). Das Gute ist für Mur-doch also weniger im Sinne einer semantisch klar bestimmbaren Größe zuverstehen – da ihr Inhalt nicht abhängig von einem spezifischen, kulturell-geschichtlichen Kontext sein kann –, als vielmehr als funktionalisiertes for-malethisches Prinzip, welches die Bedingung der Möglichkeit einer in-teresselosen, nicht-narzisstisch verstellten Wahrnehmung der kontingen-ten Wirklichkeit im Lichte des notwendig Guten zum Gegenstand hat. Sobildet die Idee des Guten eine Art Fluchtpunkt: Sie ist nie einer direktenempirischen Erfahrung zugänglich. Unsichtbarkeit und Leere spiegelnsich in der menschlichen Erfahrung. „‘Alles ist eitel’ ist der Anfang unddas Ende der Ethik. Die einzige wirkliche Art gut zu sein ist die, aus kei-nem Grund [for nothing] gut zu sein, inmitten einer Bühne, auf der jedes‘natürliche’ Ding, einschließlich des eigenen Verstands, der Veränderung,d.h. der Notwendigkeit unterworfen ist“ (SoG, 71).

Nun ist allerdings die platonische Philosophie im Allgemeinen, und ihreKonzeption des Guten im Besonderen, nicht ohne kritische Gegenstim-men geblieben. So wenig attraktiv platonische Philosophie für die analy-tische, angelsächsische Philosophie ist, sowenig unwidersprochen ist Pla-tons Philosophie für die kontinentale Philosophietradition geblieben. WieDavid Tracy bemerkt, markiert nach der Meinung vieler Philosophen– von Nietzsche über Heidegger zu Deleuze – Platon den Punkt, an demdie griechische Philosophie eine falsche Richtung nahm.10Murdoch indesnimmt diese kritischen Stimmen auf, indem sie die verschiedenen Absetz-bewegungen von Platon ebenso wie zentrale Aspekte von Platons Ver-ständnis des Guten als Ressourcen für ein besseres Verständnis dermenschlichen Suche nach dem Guten11instrumentalisiert und dabei zu-gleich den kognitiven Aspekt des sittlichen Begehrens untersucht. Ihrer

Argumentation zufolge war Platon niemals so optimistisch hinsichtlich der

Suche nach dem Guten, wie es Platoniker – selbst im postmodernen Zeit-alter – behaupten. Gerade im Ergebnis von Murdochs Vergleich von Platonund Freud zeigt sich, dass Platon darauf insistiert, dass der Eros eine uni-versale Kraft ist, deren Ambiguität sowohl zu Zerstörung als auch zum

Guten führen kann. In ihrer Interpretation Platons bringt Murdoch nichteinfach die Freud’sche Seite von Platons Analyse des Eros zum Klingen,sondern die platonische Seite von Freuds psychoanalytischer Theorie. Die

Freud’sche Theorie teile mit den post-augustinischen Theologien die pessi-mistische Sicht auf den Menschen und sehe die Psyche als ein egozen-trisches System mit einer fast mechanistischen Energie. Nach Murdochs

Verständnis konzipiert Freud den Menschen folgendermaßen: Er ist vonseiner eigenen Lebensgeschichte bestimmt, seine natürlichen Neigungensind sexueller Art, zweideutig und für das Subjekt selbst schwer zu verste-hen. So sind auch Objektivität und Selbstlosigkeit für Menschen nichts Na-türliches (SoG, 51). Freuds Kritik an einem zu positiven Menschenbildtrifft sich mit Murdochs Einschätzung des Menschen und seiner ambivalen-ten Triebkräfte hin zum Guten. Freud hatte in Murdochs Augen die Libidoals den Ausgangspunkt aller künstlerischen und religiösen Erfahrung er-kannt, ebenso wie er ganz richtig sah, dass die menschlichen Ideale als Illu-sionen dienen, welche vor tiefer liegenden, aggressiven Impulsen schützen.

In The Fire and the Sun. Why Plato banished the Artists schließlich ge-lingt es Murdoch, Platons philosophisch motivierte Ablehnung der Kunstin ihr System einzubauen, ohne die Kunst per se zu verdammen. Ihre dies-bezügliche Strategie besteht in der Unterscheidung zwischen Fantasie und

Imagination. Während schlechte Kunst sich selbst als Produkt einer Formvon tagträumerischen, egozentrischen Fantasien disqualifiziere, welchedem egozentrischen Ich eine spezifische Verzerrung der Realität vorspie-geln, rege gute Kunst die Vorstellungskraft an und bringe das egozentri-sche Ich zu einer realistischen, weniger ichbezogenen Wahrnehmung der

Wirklichkeit.12Die moralische Haltung bzw. das Konzept, welches Mur-doch nicht nur in diesem Zusammenhang nicht müde wird herauszustel-len, ist die Liebe. Sie wird für Murdoch zur Formel, welche die Hinwen-dung des Menschen zum Guten bezeichnet, sie ist zugleich Medium undEnergie. Sie ist die integrative Kraft, die Begehren, Liebe und Erkennenverbindet und sowohl in moralischen Handlungen als auch in der Produk-tion und Rezeption von Kunstwerken wirksam ist. Sie befähigt dazu, dienarzisstische Verkrümmung zu überwinden und die Andersheit des An-deren vollumfänglich wahrzunehmen. „Vision“, „attention“ und „love“kennzeichnen den Blick des um moralisches Handeln bestrebten Men-schen und führen dazu, dass ein Mensch seinen Blick auf ein Gegenüberrichtet, welchen als unabhängig von sich selbst zu begreifen ein unablässi-ger, nie abgeschlossener Prozess ist.

4. Murdochs Vision einer moralischen Ästhetik und einer ästhetischen Moral

Murdoch bekundet ihr Interesse an dem einzelnen Menschen, an dessenpartikularen Erfahrungen, an individuellen Wissensbeständen und Ge-fühlswelten mit „Liebe ist das Wissen vom Einzelnen“ (SoG, 28). „Liebeist die Wahrnehmung von Individuen. Liebe, das ist die extrem schwierigeErkenntnis, dass etwas anderes als man selbst real ist. Liebe, Kunst undMoral sind die Entdeckung der Wirklichkeit. Das, was uns überwältigt undzur Erkenntnis unserer übervernünftigen [supersensible] Bestimmungführt, ist nicht, wie es sich Kant vorstellte, die Formlosigkeit der Natur,sondern vielmehr ihre unaussprechliche Partikularität; und am partiku-larsten und individuellsten von allen natürlichen Dingen ist der mensch-liche Verstand“ (EM, 215, „The Sublime and the Good“). Sie wendet sichalso gegen eine philosophische Tradition, welche versucht, die mannigfalti-gen Einzelerfahrungen und menschlichen Unvollkommenheiten theore-tisch zu übersteigen. Diese postmodern anmutende Gegenbewegung zumEinheitsstreben des Bewusstseins basiert weniger auf der Kritik an derGroßen Erzählung und den in sie eingeschriebenen gegenläufigen Irratio-nalitäten denn auf der anthropologischen Einsicht in die uneinholbare Be-sonderheit und partielle Unerkennbarkeit des anderen Menschen, kurz:die Einsicht in die inkommensurable, kontingente Subjektivität des Ein-zelnen. Kontingent wäre dieses Einzelne, das sich sperrt, hereinplatzt undsich gegen jegliche Vereinheitlichungsversuche, seien sie nun philosophi-scher, ästhetischer oder lebenspraktischer Art, widersetzt.

Der dem Murdoch’schen Denken zugrunde liegende Cantus Firmus„Liebe ist das Wissen vom einzelnen Menschen“ umspielt die drei Berei-che Liebe, Wissen und die Unvertretbarkeit des Einzelnen. Murdoch schil-die griechische Philosophie eine falsche Richtung nahm.10Murdoch indesnimmt diese kritischen Stimmen auf, indem sie die verschiedenen Absetz-bewegungen von Platon ebenso wie zentrale Aspekte von Platons Ver-ständnis des Guten als Ressourcen für ein besseres Verständnis dermenschlichen Suche nach dem Guten11instrumentalisiert und dabei zu-gleich den kognitiven Aspekt des sittlichen Begehrens untersucht. Ihrer

Argumentation zufolge war Platon niemals so optimistisch hinsichtlich der

Suche nach dem Guten, wie es Platoniker – selbst im postmodernen Zeit-alter – behaupten. Gerade im Ergebnis von Murdochs Vergleich von Platonund Freud zeigt sich, dass Platon darauf insistiert, dass der Eros eine uni-versale Kraft ist, deren Ambiguität sowohl zu Zerstörung als auch zum

Guten führen kann. In ihrer Interpretation Platons bringt Murdoch nichteinfach die Freud’sche Seite von Platons Analyse des Eros zum Klingen,sondern die platonische Seite von Freuds psychoanalytischer Theorie. Die

Freud’sche Theorie teile mit den post-augustinischen Theologien die pessi-mistische Sicht auf den Menschen und sehe die Psyche als ein egozen-trisches System mit einer fast mechanistischen Energie. Nach Murdochs

Verständnis konzipiert Freud den Menschen folgendermaßen: Er ist vonseiner eigenen Lebensgeschichte bestimmt, seine natürlichen Neigungensind sexueller Art, zweideutig und für das Subjekt selbst schwer zu verste-hen. So sind auch Objektivität und Selbstlosigkeit für Menschen nichts Na-türliches (SoG, 51). Freuds Kritik an einem zu positiven Menschenbildtrifft sich mit Murdochs Einschätzung des Menschen und seiner ambivalen-ten Triebkräfte hin zum Guten. Freud hatte in Murdochs Augen die Libidoals den Ausgangspunkt aller künstlerischen und religiösen Erfahrung er-kannt, ebenso wie er ganz richtig sah, dass die menschlichen Ideale als Illu-sionen dienen, welche vor tiefer liegenden, aggressiven Impulsen schützen.

In The Fire and the Sun. Why Plato banished the Artists schließlich ge-lingt es Murdoch, Platons philosophisch motivierte Ablehnung der Kunstin ihr System einzubauen, ohne die Kunst per se zu verdammen. Ihre dies-bezügliche Strategie besteht in der Unterscheidung zwischen Fantasie und

Imagination. Während schlechte Kunst sich selbst als Produkt einer Formvon tagträumerischen, egozentrischen Fantasien disqualifiziere, welchedem egozentrischen Ich eine spezifische Verzerrung der Realität vorspie-geln, rege gute Kunst die Vorstellungskraft an und bringe das egozentri-sche Ich zu einer realistischen, weniger ichbezogenen Wahrnehmung der

Wirklichkeit.12Die moralische Haltung bzw. das Konzept, welches Mur-doch nicht nur in diesem Zusammenhang nicht müde wird herauszustel-len, ist die Liebe. Sie wird für Murdoch zur Formel, welche die Hinwen-dung des Menschen zum Guten bezeichnet, sie ist zugleich Medium undEnergie. Sie ist die integrative Kraft, die Begehren, Liebe und Erkennenverbindet und sowohl in moralischen Handlungen als auch in der Produk-tion und Rezeption von Kunstwerken wirksam ist. Sie befähigt dazu, dienarzisstische Verkrümmung zu überwinden und die Andersheit des An-deren vollumfänglich wahrzunehmen. „Vision“, „attention“ und „love“kennzeichnen den Blick des um moralisches Handeln bestrebten Men-schen und führen dazu, dass ein Mensch seinen Blick auf ein Gegenüberrichtet, welchen als unabhängig von sich selbst zu begreifen ein unablässi-ger, nie abgeschlossener Prozess ist.

4. Murdochs Vision einer moralischen Ästhetik und einer ästhetischen Moral

Murdoch bekundet ihr Interesse an dem einzelnen Menschen, an dessenpartikularen Erfahrungen, an individuellen Wissensbeständen und Ge-fühlswelten mit „Liebe ist das Wissen vom Einzelnen“ (SoG, 28). „Liebeist die Wahrnehmung von Individuen. Liebe, das ist die extrem schwierigeErkenntnis, dass etwas anderes als man selbst real ist. Liebe, Kunst undMoral sind die Entdeckung der Wirklichkeit. Das, was uns überwältigt undzur Erkenntnis unserer übervernünftigen [supersensible] Bestimmungführt, ist nicht, wie es sich Kant vorstellte, die Formlosigkeit der Natur,sondern vielmehr ihre unaussprechliche Partikularität; und am partiku-larsten und individuellsten von allen natürlichen Dingen ist der mensch-liche Verstand“ (EM, 215, „The Sublime and the Good“). Sie wendet sichalso gegen eine philosophische Tradition, welche versucht, die mannigfalti-gen Einzelerfahrungen und menschlichen Unvollkommenheiten theore-tisch zu übersteigen. Diese postmodern anmutende Gegenbewegung zumEinheitsstreben des Bewusstseins basiert weniger auf der Kritik an derGroßen Erzählung und den in sie eingeschriebenen gegenläufigen Irratio-nalitäten denn auf der anthropologischen Einsicht in die uneinholbare Be-sonderheit und partielle Unerkennbarkeit des anderen Menschen, kurz:die Einsicht in die inkommensurable, kontingente Subjektivität des Ein-zelnen. Kontingent wäre dieses Einzelne, das sich sperrt, hereinplatzt undsich gegen jegliche Vereinheitlichungsversuche, seien sie nun philosophi-scher, ästhetischer oder lebenspraktischer Art, widersetzt.

Der dem Murdoch’schen Denken zugrunde liegende Cantus Firmus„Liebe ist das Wissen vom einzelnen Menschen“ umspielt die drei Berei-che Liebe, Wissen und die Unvertretbarkeit des Einzelnen. Murdoch schil-dert das menschliche Wissen über etwas so, dass es nicht eins zu eins ineine bestimmte, begrifflich eindeutig fassbare Tatsache oder – in einemmoralischen Kontext – in eine klare Handlungsanweisung übersetzt wer-den kann. Für die diskursive Polyvalenz subjektiver, persönlicher Ge-gebenheiten und die sich dem begrifflichen, systematisierenden Denkenentziehende Realität der Liebe führt Murdoch zwei Gründe an. Erstenssind für Murdoch nicht allein Handlungen, sondern in erster Linie Gefüh-le und Einstellungen moralphilosophisch relevante Entitäten. Zweitensstellt sich die Wirklichkeit des anderen Menschen nicht so einfach dar, wiees eine auf den Begriff gebrachte Anthropologie voraussetzen würde. JeneAuffassung schlägt sich sowohl in Murdochs Romanen als auch in ihrerphilosophischen Auffassung nieder. In letztgenannter Perspektive stellendie Menschen in ihrem sozialen und insbesondere moralisch bedeutsamenMiteinander füreinander opake, undurchsichtige Gebilde dar (SoG, 33).Im (moral-)philosophischen Zusammenhang und mithin im Gegensatzzum Einheitsstreben des Bewusstseins lässt diese als anthropologischeGrundgegebenheit postulierte Unschärferelation den einzelnen unfass-baren, kontingenten Menschen nur noch die an den individuellen, inkom-patiblen Realitäten gereifte gegenseitige Liebe und Respekt übrig. Mur-doch legt ihr Augenmerk auf eine bislang kaum belichtete Denkstelle imphilosophischen Theoriegebäude der abendländischen Tradition. Währendder Zusammenhang von Bewusstsein und Moral im Kontext der Freiheits-frage hinlänglich diskutiert und erfasst worden sei, bleibe, so lautet Mur-dochs Vorwurf, der Konnex zwischen Liebe, Tugend und Freiheit philo-sophisch weitgehend im Dunkeln (SoG, 2). Allerdings seien Liebe undRespekt keine lediglich rationalen, wertfreien Vollzugsformen im Bereichdes Bewusstseins. Liebe ist fähig zur unendlichen Erniedrigung und istauch, wie Murdoch schreibt, die Quelle der größten Fehler. Selbst wennsie nur teilweise verfeinert werde, sei sie die Energie und Leidenschaft derSeele bei ihrer Suche nach dem Guten, die Kraft, die uns mit dem Gutenund der Welt durch das Gute verbinde. „Its existence is the unmistakablesign that we are spiritual creatures, attracted by excellence and made forthe Good“ (SoG, 103). In höchstem Maße mache das Phänomen Liebe aufeine zentrale anthropologische Dimension aufmerksam. Aufgrund ihrerUnvollkommenheit – theologisch gesprochen, aufgrund ihrer Sündhaftig-keit – seien Menschen bei der spirituellen Ausrichtung ihrer moralischenExistenz auf das Gute angewiesen. Immer dann, wenn Menschen vonLiebe und Gerechtigkeit sprechen würden, führten sie in die Beschreibungeines bestimmten Menschen die Konzeptionen von Perfektion, von Fort-schritt ein (SoG, 23). Ausgangspunkt von Murdochs anthropologischen Be-stimmungsversuchen ist also weniger ein bestimmtes Erklärungsmuster,welches die Genese des moralischen Handelns darauf aufbauend zu erfas-sen vermag, als vielmehr ein teleologisches Konzept, welches den Ziel-punkt menschlichen Handelns zur Darstellung zu bringen imstande ist.Liebe ist eine Orientierungshilfe, eine Fokussierung von Energie und zu-gleich Leere, Abwesenheit Gottes und Abwesenheit des Guten (M, 503).

Vor dem Hintergrund dieses moralphilosophisch-anthropologischenund mithin religiösen Kontextes ist Murdochs Nachdenken über den Stel-lenwert von Erzählungen im philosophischen Diskurs zu verstehen. Einemallgemeinen Verständnis zufolge stellt sich das Verhältnis von systemati-schem und narrativem Diskurs als Relation von Allgemeinem und Beson-derem dar. Die Platzanweisung, welche die begriffliche Erfassung der Weltin allgemeinen Begriffen und Lehrsätzen der Philosophie zuordnet unddie Darstellung des ephemeren Einzelfalls und des irreduzibel Besonde-ren der Literatur anheim stellt, wird in Frage gestellt. Murdoch schreibt aneiner Stelle: „Reality is not a given whole. An understanding of this, a res-pect for the contingent, is essential to imagination as opposed to fantasy“(EM, 294, „Against Dryness“). Diese Sentenz ist charakteristisch für dieWirklichkeitsauffassung Murdochs. Realität ist für Murdoch weder eineals Totalität verstandene Einheit noch ist sie als eine simple Gegebenheitzu verstehen, d. h., sie ist dem menschlichen Erfassungsvermögen nichtohne weiteres zugänglich. Der Wirklichkeit müsse mit der Vorstellungs-kraft für das Kontingente, unvertretbar Einzelne begegnet werden. DieseVorstellungskraft für das Kontingente ist nicht gleichzusetzen mit derFantasie, welche die Wirklichkeit nach eigenen Prinzipien ordnen möchte.Dennoch löst sich die Realität nicht einfach postmodern auf in kleine, un-verbundene Einzelwahrheiten, sondern das sie organisierende Konzept istdie Idee des Guten und die daran anschließende ästhetisch, erkenntnisthe-oretisch und moralisch relevante Konzeption von Liebe und Schönheit.Das egomanisch-hedonistisch motivierte und mentale Sedation suchendeUmschiffen der Zufallsklippen könne nur dem Bereich bloßer Fantasieund Schönfärberei, nicht jedoch der ästhetisch und moralisch positiv aus-gezeichneten Vorstellungskraft zugerechnet werden (EM, 386–463, „TheFire and the Sun“). Die hier nur kurz gestreiften Postulate zeigen, dassnicht allein stilistisch-ästhetische Momente, sondern vielmehr metaphysi-sche Voraussetzungen die Art von Murdochs Schreiben als einen spezi-fisch imaginären Akt bestimmen. Im Gegensatz zur Philosophin Simonede Beauvoir, die sich in erster Linie als Schriftstellerin gesehen und denphilosophischen Part an Sartre delegiert hat, bewegt sich MurdochsSchreiben auf beiden Ebenen: auf der philosophischen und der literari-schen Ebene.13Doch Murdoch gibt zu bedenken, dass Philosophie keindert das menschliche Wissen über etwas so, dass es nicht eins zu eins ineine bestimmte, begrifflich eindeutig fassbare Tatsache oder – in einemmoralischen Kontext – in eine klare Handlungsanweisung übersetzt wer-den kann. Für die diskursive Polyvalenz subjektiver, persönlicher Ge-gebenheiten und die sich dem begrifflichen, systematisierenden Denkenentziehende Realität der Liebe führt Murdoch zwei Gründe an. Erstenssind für Murdoch nicht allein Handlungen, sondern in erster Linie Gefüh-le und Einstellungen moralphilosophisch relevante Entitäten. Zweitensstellt sich die Wirklichkeit des anderen Menschen nicht so einfach dar, wiees eine auf den Begriff gebrachte Anthropologie voraussetzen würde. JeneAuffassung schlägt sich sowohl in Murdochs Romanen als auch in ihrerphilosophischen Auffassung nieder. In letztgenannter Perspektive stellendie Menschen in ihrem sozialen und insbesondere moralisch bedeutsamenMiteinander füreinander opake, undurchsichtige Gebilde dar (SoG, 33).Im (moral-)philosophischen Zusammenhang und mithin im Gegensatzzum Einheitsstreben des Bewusstseins lässt diese als anthropologischeGrundgegebenheit postulierte Unschärferelation den einzelnen unfass-baren, kontingenten Menschen nur noch die an den individuellen, inkom-patiblen Realitäten gereifte gegenseitige Liebe und Respekt übrig. Mur-doch legt ihr Augenmerk auf eine bislang kaum belichtete Denkstelle imphilosophischen Theoriegebäude der abendländischen Tradition. Währendder Zusammenhang von Bewusstsein und Moral im Kontext der Freiheits-frage hinlänglich diskutiert und erfasst worden sei, bleibe, so lautet Mur-dochs Vorwurf, der Konnex zwischen Liebe, Tugend und Freiheit philo-sophisch weitgehend im Dunkeln (SoG, 2). Allerdings seien Liebe undRespekt keine lediglich rationalen, wertfreien Vollzugsformen im Bereichdes Bewusstseins. Liebe ist fähig zur unendlichen Erniedrigung und istauch, wie Murdoch schreibt, die Quelle der größten Fehler. Selbst wennsie nur teilweise verfeinert werde, sei sie die Energie und Leidenschaft derSeele bei ihrer Suche nach dem Guten, die Kraft, die uns mit dem Gutenund der Welt durch das Gute verbinde. „Its existence is the unmistakablesign that we are spiritual creatures, attracted by excellence and made forthe Good“ (SoG, 103). In höchstem Maße mache das Phänomen Liebe aufeine zentrale anthropologische Dimension aufmerksam. Aufgrund ihrerUnvollkommenheit – theologisch gesprochen, aufgrund ihrer Sündhaftig-keit – seien Menschen bei der spirituellen Ausrichtung ihrer moralischenExistenz auf das Gute angewiesen. Immer dann, wenn Menschen vonLiebe und Gerechtigkeit sprechen würden, führten sie in die Beschreibungeines bestimmten Menschen die Konzeptionen von Perfektion, von Fort-schritt ein (SoG, 23). Ausgangspunkt von Murdochs anthropologischen Be-stimmungsversuchen ist also weniger ein bestimmtes Erklärungsmuster,welches die Genese des moralischen Handelns darauf aufbauend zu erfas-sen vermag, als vielmehr ein teleologisches Konzept, welches den Ziel-punkt menschlichen Handelns zur Darstellung zu bringen imstande ist.Liebe ist eine Orientierungshilfe, eine Fokussierung von Energie und zu-gleich Leere, Abwesenheit Gottes und Abwesenheit des Guten (M, 503).

Vor dem Hintergrund dieses moralphilosophisch-anthropologischenund mithin religiösen Kontextes ist Murdochs Nachdenken über den Stel-lenwert von Erzählungen im philosophischen Diskurs zu verstehen. Einemallgemeinen Verständnis zufolge stellt sich das Verhältnis von systemati-schem und narrativem Diskurs als Relation von Allgemeinem und Beson-derem dar. Die Platzanweisung, welche die begriffliche Erfassung der Weltin allgemeinen Begriffen und Lehrsätzen der Philosophie zuordnet unddie Darstellung des ephemeren Einzelfalls und des irreduzibel Besonde-ren der Literatur anheim stellt, wird in Frage gestellt. Murdoch schreibt aneiner Stelle: „Reality is not a given whole. An understanding of this, a res-pect for the contingent, is essential to imagination as opposed to fantasy“(EM, 294, „Against Dryness“). Diese Sentenz ist charakteristisch für dieWirklichkeitsauffassung Murdochs. Realität ist für Murdoch weder eineals Totalität verstandene Einheit noch ist sie als eine simple Gegebenheitzu verstehen, d. h., sie ist dem menschlichen Erfassungsvermögen nichtohne weiteres zugänglich. Der Wirklichkeit müsse mit der Vorstellungs-kraft für das Kontingente, unvertretbar Einzelne begegnet werden. DieseVorstellungskraft für das Kontingente ist nicht gleichzusetzen mit derFantasie, welche die Wirklichkeit nach eigenen Prinzipien ordnen möchte.Dennoch löst sich die Realität nicht einfach postmodern auf in kleine, un-verbundene Einzelwahrheiten, sondern das sie organisierende Konzept istdie Idee des Guten und die daran anschließende ästhetisch, erkenntnisthe-oretisch und moralisch relevante Konzeption von Liebe und Schönheit.Das egomanisch-hedonistisch motivierte und mentale Sedation suchendeUmschiffen der Zufallsklippen könne nur dem Bereich bloßer Fantasieund Schönfärberei, nicht jedoch der ästhetisch und moralisch positiv aus-gezeichneten Vorstellungskraft zugerechnet werden (EM, 386–463, „TheFire and the Sun“). Die hier nur kurz gestreiften Postulate zeigen, dassnicht allein stilistisch-ästhetische Momente, sondern vielmehr metaphysi-sche Voraussetzungen die Art von Murdochs Schreiben als einen spezi-fisch imaginären Akt bestimmen. Im Gegensatz zur Philosophin Simonede Beauvoir, die sich in erster Linie als Schriftstellerin gesehen und denphilosophischen Part an Sartre delegiert hat, bewegt sich MurdochsSchreiben auf beiden Ebenen: auf der philosophischen und der literari-schen Ebene.13Doch Murdoch gibt zu bedenken, dass Philosophie keingegenüber der Erzählung abgeschlossener, eigener Erkenntnisbereich seinkann, dessen Resultate sich einfach übersetzen ließen, nicht aber der Lite-ratur selbst inhärent wären. So versucht sie die Trennung zwischen verall-gemeinernder diskursiver Systematik und partieller ästhetischer Unsyste-matik aufzuheben. Die Art und Weise der Erarbeitung und Präsentationeines bestimmten Inhaltes ist demnach für sie im philosophischen und lite-rarischen Bereich von entscheidendem Interesse. Moralphilosophinnenwir etwa Martha Nussbaum postulieren lediglich, dass die Aufhebung derTrennung der beiden Bereiche die Literatur an die Moralphilosophie, undumgekehrt die Moralphilosophie wiederum an die Literatur verweist –„moral philosophy needs literature […] literature needs moral philoso-phy“14. Doch außer der Einbeziehung von literarischem Material als Argu-mentationshilfen geben etwa Nussbaums philosophische Schriften nichtnäher zu erkennen, wie sie sich das Zusammengehen von Literatur undPhilosophie praktisch vorstellt. Demgegenüber deutet die schriftstelle-rische, sich von philosophischen Texten, essayistischen Bemerkungen zumZusammenhang von Philosophie und Literatur und zahlreichen Romanenerstreckende Tätigkeit Murdochs darauf hin, dass sie ihr philosophisch er-klärtes Interesse, die Grenzen der Diskursivität zu übersteigen, in ihrenRomanen zumindest versuchsweise verwirklicht hat.15In beiden Gebietennimmt sich Murdoch einer Wirklichkeit in ihrer irreduziblen Diversität an,welche es für sie wahrzunehmen und, vor allem, sie als unabhängig vonsich selbst zu entdecken und darzustellen gilt „in a non-metaphysical, non-totalitarian, non-religious sense“ (EM, 293, „Against Dryness“). Der un-verstellte Blick auf die vielgestaltige Wirklichkeit und auf den nicht fest-gelegten Menschen sei Voraussetzung dieses moralisch und ästhetischqualifizierten Unterfangens. Glücke es, so könne die Literatur jene Auf-gaben erfüllen, welche in der Philosophie vernachlässigt worden sind, siekönne eine neue Sprache der Erfahrung und ein genaueres Bild der Frei-heit bereitstellen (EM, 294, „Against Dryness“). Murdochs therapeuti-sches Projekt für Philosophie und Literatur mit je eigener Diagnose undMedikation setzt dabei die prinzipielle Unterschiedlichkeit von diskursi-vem und literarischem Stil voraus. Sie erklärt in einem Interview, dass eini-ge Philosophen literarischer schreiben würden als die anderen. Sie gehtvon einem idealen philosophischen Stil aus, der, wie sie sagt, „a special un-ambiguous plainness and hardness“ aufweist und von ihr als „austere un-selfish candid style“16bezeichnet wird. Für Murdoch sind philosophischeTexte immer schon durch aseptische Klarheit, asketische Konzentrationauf das Wesentliche und einen strengen, von der eigenen Person absehen-den Stil im Allgemeinen ausgezeichnet. Hingegen ist für Murdoch der aneinen literarischen Text gestellte Anspruch im Vergleich dazu wenigerstreng, sondern vielmehr spielerischer. Ihre Absicht ist es hier, Räume zueröffnen, in denen die imaginativen Kräfte des Lesers bzw. der Leserin ak-tiviert werden können. Damit ist die moralphilosophische Relevanz derRezeption literarischer Werke ausgesagt. Sie bewegt sich nicht im Bereichvon Handlungen und deren Motivation, sondern im Kontext von Einstel-lungen und Sichtweisen, die allererst bestimmte Handlungen in bestimm-ten Zusammenhängen für moralisch geboten erscheinen lassen.

5. Die kontingente menschliche Existenz

Iris Murdoch bindet die Bedingung der Möglichkeit von Moralität anihre oben schon genannten anthropologischen Grundüberzeugungen: andie Sündhaftigkeit des Menschen und zum anderen an eine bestimmteForm eines energetisch-emotional aufgeladenen Zustand als fundamen-tale Weise des moralischen Seins: „What we really are, seems […] like anobscure system of energy out of which choices and visible acts of willemerge at intervals in ways which are often unclear and often depend onthe condition of the system in between the moments of choice“ (SoG, 54).Dieser, den Menschen konstituierende Bereich, der als „substantial, im-penetrable, individual, indefinable and valuable“ (EM, 294, „Against Dry-ness“) charakterisiert wird, ist Quelle und Gegenstand von Sittlichkeit.Eine einfühlende Betrachtung des irrationalen menschlichen Innenlebensgegenüber der Erzählung abgeschlossener, eigener Erkenntnisbereich seinkann, dessen Resultate sich einfach übersetzen ließen, nicht aber der Lite-ratur selbst inhärent wären. So versucht sie die Trennung zwischen verall-gemeinernder diskursiver Systematik und partieller ästhetischer Unsyste-matik aufzuheben. Die Art und Weise der Erarbeitung und Präsentationeines bestimmten Inhaltes ist demnach für sie im philosophischen und lite-rarischen Bereich von entscheidendem Interesse. Moralphilosophinnenwir etwa Martha Nussbaum postulieren lediglich, dass die Aufhebung derTrennung der beiden Bereiche die Literatur an die Moralphilosophie, undumgekehrt die Moralphilosophie wiederum an die Literatur verweist –„moral philosophy needs literature […] literature needs moral philoso-phy“14. Doch außer der Einbeziehung von literarischem Material als Argu-mentationshilfen geben etwa Nussbaums philosophische Schriften nichtnäher zu erkennen, wie sie sich das Zusammengehen von Literatur undPhilosophie praktisch vorstellt. Demgegenüber deutet die schriftstelle-rische, sich von philosophischen Texten, essayistischen Bemerkungen zumZusammenhang von Philosophie und Literatur und zahlreichen Romanenerstreckende Tätigkeit Murdochs darauf hin, dass sie ihr philosophisch er-klärtes Interesse, die Grenzen der Diskursivität zu übersteigen, in ihrenRomanen zumindest versuchsweise verwirklicht hat.15In beiden Gebietennimmt sich Murdoch einer Wirklichkeit in ihrer irreduziblen Diversität an,welche es für sie wahrzunehmen und, vor allem, sie als unabhängig vonsich selbst zu entdecken und darzustellen gilt „in a non-metaphysical, non-totalitarian, non-religious sense“ (EM, 293, „Against Dryness“). Der un-verstellte Blick auf die vielgestaltige Wirklichkeit und auf den nicht fest-gelegten Menschen sei Voraussetzung dieses moralisch und ästhetischqualifizierten Unterfangens. Glücke es, so könne die Literatur jene Auf-gaben erfüllen, welche in der Philosophie vernachlässigt worden sind, siekönne eine neue Sprache der Erfahrung und ein genaueres Bild der Frei-heit bereitstellen (EM, 294, „Against Dryness“). Murdochs therapeuti-sches Projekt für Philosophie und Literatur mit je eigener Diagnose undMedikation setzt dabei die prinzipielle Unterschiedlichkeit von diskursi-vem und literarischem Stil voraus. Sie erklärt in einem Interview, dass eini-ge Philosophen literarischer schreiben würden als die anderen. Sie gehtvon einem idealen philosophischen Stil aus, der, wie sie sagt, „a special un-ambiguous plainness and hardness“ aufweist und von ihr als „austere un-selfish candid style“16bezeichnet wird. Für Murdoch sind philosophischeTexte immer schon durch aseptische Klarheit, asketische Konzentrationauf das Wesentliche und einen strengen, von der eigenen Person absehen-den Stil im Allgemeinen ausgezeichnet. Hingegen ist für Murdoch der aneinen literarischen Text gestellte Anspruch im Vergleich dazu wenigerstreng, sondern vielmehr spielerischer. Ihre Absicht ist es hier, Räume zueröffnen, in denen die imaginativen Kräfte des Lesers bzw. der Leserin ak-tiviert werden können. Damit ist die moralphilosophische Relevanz derRezeption literarischer Werke ausgesagt. Sie bewegt sich nicht im Bereichvon Handlungen und deren Motivation, sondern im Kontext von Einstel-lungen und Sichtweisen, die allererst bestimmte Handlungen in bestimm-ten Zusammenhängen für moralisch geboten erscheinen lassen.

5. Die kontingente menschliche Existenz

Iris Murdoch bindet die Bedingung der Möglichkeit von Moralität anihre oben schon genannten anthropologischen Grundüberzeugungen: andie Sündhaftigkeit des Menschen und zum anderen an eine bestimmteForm eines energetisch-emotional aufgeladenen Zustand als fundamen-tale Weise des moralischen Seins: „What we really are, seems […] like anobscure system of energy out of which choices and visible acts of willemerge at intervals in ways which are often unclear and often depend onthe condition of the system in between the moments of choice“ (SoG, 54).Dieser, den Menschen konstituierende Bereich, der als „substantial, im-penetrable, individual, indefinable and valuable“ (EM, 294, „Against Dry-ness“) charakterisiert wird, ist Quelle und Gegenstand von Sittlichkeit.Eine einfühlende Betrachtung des irrationalen menschlichen Innenlebensgibt richtungsweisende Impulse für die Kennzeichnung moralischen Han-delns. Murdoch sieht die Aufgabe der Moralphilosophie darin, den Wegdes „dicken, unbarmherzigen Egos“ von der egoistischen Selbstbezogen-heit hin zu einer nicht narzisstisch besetzten Sicht der Wirklichkeit zu be-gleiten. Wirklichkeit bedeutet in diesem Zusammenhang weniger die so-ziale, psychische oder naturwissenschaftlich handhabbare Realität, son-dern Wirklichkeit beginnt dort, wo die Illusionen aufhören. Voraussetzungdafür, dass das Ich die Wirklichkeit und die anderen Menschen erkennt,sei die Bewältigung der narzisstischen Regungen, die dazu führen, dass dasIch nur seine Existenz, Gedanken und Gefühle für real hält und die ihnumgebende und bestimmende Wirklichkeit lediglich nach Maßgabe seinereigenen Bedürfnisse wahrnimmt. „Im moralischen Leben ist der Gegnerdas dicke, unbarmherzige Ego. Die Moralphilosophie ist eigentlich, und siewar es in der Vergangenheit auch manchmal, die Auseinandersetzung mitdiesem Ego und den Techniken (wenn es sie gibt), um es zu besiegen. Indieser Hinsicht teilt die Moralphilosophie einige Ziele mit der Religion“(SoG, 52). Murdoch bricht also die moralphilosophische Konzentrationauf die rationalistischen Kategorien von „act“ und „choice“ als zentraleund einzig zugängliche Manifestationen des ansonsten unzugänglichenInnenlebens auf und richtet an ihrer Stelle das Augenmerk auf die Bedin-gung der Möglichkeit einer nicht narzisstisch verstellten Wahrnehmungder Welt, welche eine durch Meditation bzw. Kontemplation geschärfteSicht der Welt beinhaltet. So ist die „Schau“, die nachgerade mystische Vi-sion, das richtige Sehen moralisch qualifiziert, mehr noch: Das richtigeSehen selbst und dessen Einübung werden als moralische Prozesse ver-standen.

An dieser Stelle wird der Einfluss von Simone Weils Denken auf diePhilosophie Murdochs greifbar. Trotz gewichtiger Kritikpunkte an Weilspolitischer Philosophie, an ihrer nicht unproblematischen Stellung zum jü-dischen Glauben sowie an ihrem theoretischen Umgang mit dem Bösenund dem Leiden (EM, 159f., „Knowing the Void“) teilt Murdoch mit Weildas Interesse an Platon und die Annahme des Guten als einer bestimmtenForm transzendenter Realität. Mit ihr teilt sie die Hinwendung zu denkomplexen Vorgängen und Vorstellungen des „inner life“. Sie ordnetdabei Weils Denken als eine Spielart des Existentialismus ein, als dessennotwendiges Korrektiv sie Weil begreift: „Spiritueller Fortschritt wirddurch Meditation erreicht: Diese Auffassung bildet einen Kontrast (undmanche mögen denken, ein willkommenes Korrektiv) zur gegenwärtigenEnglischen Ethik, mit ihrer exklusives Betonung von Handlung und Wahl,und der Vernachlässigung des ‘Innenlebens’“ (EM, 159, „Knowing theVoid“). Für Murdoch wird der Umstand wichtig, dass Simone Weil die Be-griffe des Handelns und des Wählens durch die der Meditation, des War-tens und der Aufmerksamkeit ersetze. Somit trage sie dem (im linguisti-schen Empirismus sowie im Sartre’schen Existentialismus unbeachteten)Innenleben des Menschen Rechnung. Der von Simone Weil übernomme-nen Begriff „attention“ wird für Murdochs moralphilosophische und äs-thetische Theorie bestimmend.

Die Betonung der Aufmerksamkeit, welche vom Ich ablenkt und zumEinfallstor der Gnade wird, hat die Konsequenz, dass das der Aufklärungentnommene Verständnis von Freiheit als die Möglichkeit, einen Zustandvon selbst anzufangen, dem egomanischen Ich und der Schwerkraft derDinge zugeschlagen und somit abgelehnt wird. Freiheit ist weniger dieMöglichkeit, etwas zu tun und etwas anderes zu lassen, als die durch Medi-tation und Warten gereifte Einstellung zu einer Situation. „We should payattention to such a point that we no longer have the choice“ (EM, 159,„Knowing the Void“). Die Wahl in einer konkreten Situation, die für denExistentialismus das Kennzeichen menschlicher Freiheit ist, erhält hierden Charakter von Notwendigkeit. Murdoch zitiert zustimmend WeilsAuffassung von Freiheit, welche in eine Form von Gehorsam und Demutmündet. Damit widerspricht Murdoch einer kantischen Auffassung, wel-che Freiheit mit Vernunft und Ordnung identifiziert, sie verneint eine be-havioristische Auffassung, welche die Freiheit zugunsten des totalen De-terminismus zurücknimmt, und sie bestreitet auch die existentialistischePosition, welche in einem totalen Freiheitsbegriff das Ich selbstherrlichder Realität gegenüberstellt.

Vor dem Hintergrund von Weils Denken wird nun auch Murdochs Frei-heitsverständnis deutlicher, es bewegt sich zwischen dem Bild der totalenFreiheit und der Vorstellung des totalen Determinismus (EM, 159, „Know-ing the Void“). Murdoch geht von zwei unterschiedlichen Begriffen vonFreiheit aus: einem öffentlich-politischen der reinen Freiheit, „pure free-dom“ (EM, 201, „The Darkness of Practical Reason“), und einem mora-lisch-spirituellen Freiheitsbegriff.17Ersterer abstrahiert vom moralischenVorstellungsvermögen des Einzelnen und hebt die Bedeutung der ab-strakt-vernünftigen Freiheitsidee hervor. Letzterer, von Murdoch haupt-sächlich beleuchteter Freiheitsbegriff beschreibt die Freiheit der „vision“.Sie ist ein eher passives Vermögen. Sie ist die als ein Prozess, und nicht alsein Vermögen bzw. Zustand verstandene Freiheit, sich ein Bild von derWelt zu machen (EM, 75, „Metaphysics and Ethics“). Sie ist die Erkennt-nis einer vom Ich unterschiedenen Wirklichkeit. Mit der Vertiefung undErweiterung der Erkenntnis und Einsicht verschwindet die Möglichkeitgibt richtungsweisende Impulse für die Kennzeichnung moralischen Han-delns. Murdoch sieht die Aufgabe der Moralphilosophie darin, den Wegdes „dicken, unbarmherzigen Egos“ von der egoistischen Selbstbezogen-heit hin zu einer nicht narzisstisch besetzten Sicht der Wirklichkeit zu be-gleiten. Wirklichkeit bedeutet in diesem Zusammenhang weniger die so-ziale, psychische oder naturwissenschaftlich handhabbare Realität, son-dern Wirklichkeit beginnt dort, wo die Illusionen aufhören. Voraussetzungdafür, dass das Ich die Wirklichkeit und die anderen Menschen erkennt,sei die Bewältigung der narzisstischen Regungen, die dazu führen, dass dasIch nur seine Existenz, Gedanken und Gefühle für real hält und die ihnumgebende und bestimmende Wirklichkeit lediglich nach Maßgabe seinereigenen Bedürfnisse wahrnimmt. „Im moralischen Leben ist der Gegnerdas dicke, unbarmherzige Ego. Die Moralphilosophie ist eigentlich, und siewar es in der Vergangenheit auch manchmal, die Auseinandersetzung mitdiesem Ego und den Techniken (wenn es sie gibt), um es zu besiegen. Indieser Hinsicht teilt die Moralphilosophie einige Ziele mit der Religion“(SoG, 52). Murdoch bricht also die moralphilosophische Konzentrationauf die rationalistischen Kategorien von „act“ und „choice“ als zentraleund einzig zugängliche Manifestationen des ansonsten unzugänglichenInnenlebens auf und richtet an ihrer Stelle das Augenmerk auf die Bedin-gung der Möglichkeit einer nicht narzisstisch verstellten Wahrnehmungder Welt, welche eine durch Meditation bzw. Kontemplation geschärfteSicht der Welt beinhaltet. So ist die „Schau“, die nachgerade mystische Vi-sion, das richtige Sehen moralisch qualifiziert, mehr noch: Das richtigeSehen selbst und dessen Einübung werden als moralische Prozesse ver-standen.

An dieser Stelle wird der Einfluss von Simone Weils Denken auf diePhilosophie Murdochs greifbar. Trotz gewichtiger Kritikpunkte an Weilspolitischer Philosophie, an ihrer nicht unproblematischen Stellung zum jü-dischen Glauben sowie an ihrem theoretischen Umgang mit dem Bösenund dem Leiden (EM, 159f., „Knowing the Void“) teilt Murdoch mit Weildas Interesse an Platon und die Annahme des Guten als einer bestimmtenForm transzendenter Realität. Mit ihr teilt sie die Hinwendung zu denkomplexen Vorgängen und Vorstellungen des „inner life“. Sie ordnetdabei Weils Denken als eine Spielart des Existentialismus ein, als dessennotwendiges Korrektiv sie Weil begreift: „Spiritueller Fortschritt wirddurch Meditation erreicht: Diese Auffassung bildet einen Kontrast (undmanche mögen denken, ein willkommenes Korrektiv) zur gegenwärtigenEnglischen Ethik, mit ihrer exklusives Betonung von Handlung und Wahl,und der Vernachlässigung des ‘Innenlebens’“ (EM, 159, „Knowing theVoid“). Für Murdoch wird der Umstand wichtig, dass Simone Weil die Be-griffe des Handelns und des Wählens durch die der Meditation, des War-tens und der Aufmerksamkeit ersetze. Somit trage sie dem (im linguisti-schen Empirismus sowie im Sartre’schen Existentialismus unbeachteten)Innenleben des Menschen Rechnung. Der von Simone Weil übernomme-nen Begriff „attention“ wird für Murdochs moralphilosophische und äs-thetische Theorie bestimmend.

Die Betonung der Aufmerksamkeit, welche vom Ich ablenkt und zumEinfallstor der Gnade wird, hat die Konsequenz, dass das der Aufklärungentnommene Verständnis von Freiheit als die Möglichkeit, einen Zustandvon selbst anzufangen, dem egomanischen Ich und der Schwerkraft derDinge zugeschlagen und somit abgelehnt wird. Freiheit ist weniger dieMöglichkeit, etwas zu tun und etwas anderes zu lassen, als die durch Medi-tation und Warten gereifte Einstellung zu einer Situation. „We should payattention to such a point that we no longer have the choice“ (EM, 159,„Knowing the Void“). Die Wahl in einer konkreten Situation, die für denExistentialismus das Kennzeichen menschlicher Freiheit ist, erhält hierden Charakter von Notwendigkeit. Murdoch zitiert zustimmend WeilsAuffassung von Freiheit, welche in eine Form von Gehorsam und Demutmündet. Damit widerspricht Murdoch einer kantischen Auffassung, wel-che Freiheit mit Vernunft und Ordnung identifiziert, sie verneint eine be-havioristische Auffassung, welche die Freiheit zugunsten des totalen De-terminismus zurücknimmt, und sie bestreitet auch die existentialistischePosition, welche in einem totalen Freiheitsbegriff das Ich selbstherrlichder Realität gegenüberstellt.

Vor dem Hintergrund von Weils Denken wird nun auch Murdochs Frei-heitsverständnis deutlicher, es bewegt sich zwischen dem Bild der totalenFreiheit und der Vorstellung des totalen Determinismus (EM, 159, „Know-ing the Void“). Murdoch geht von zwei unterschiedlichen Begriffen vonFreiheit aus: einem öffentlich-politischen der reinen Freiheit, „pure free-dom“ (EM, 201, „The Darkness of Practical Reason“), und einem mora-lisch-spirituellen Freiheitsbegriff.17Ersterer abstrahiert vom moralischenVorstellungsvermögen des Einzelnen und hebt die Bedeutung der ab-strakt-vernünftigen Freiheitsidee hervor. Letzterer, von Murdoch haupt-sächlich beleuchteter Freiheitsbegriff beschreibt die Freiheit der „vision“.Sie ist ein eher passives Vermögen. Sie ist die als ein Prozess, und nicht alsein Vermögen bzw. Zustand verstandene Freiheit, sich ein Bild von derWelt zu machen (EM, 75, „Metaphysics and Ethics“). Sie ist die Erkennt-nis einer vom Ich unterschiedenen Wirklichkeit. Mit der Vertiefung undErweiterung der Erkenntnis und Einsicht verschwindet die Möglichkeitder Wahl. „Freiheit ist nicht das plötzliche Heraustreten des isolierten

Willen in einem unpersönlichen logischen Komplex und aus diesem he-raus, sie ist eine Aufgabe: der fortschreitende Versuch, ein besonderes Ob-jekt klar zu sehen“ (SoG, 23). Freiheit eröffnet erst den Raum, in dem sichder je einzelne Andere entfalten kann. Sie ist die Vorstellungskraft, dieden Anderen in seiner Verschiedenartigkeit begreift. Die Anerkennungdes Anderen dient der Erfüllung seiner in ihm angelegten Möglichkeiten.

Freiheit ist von Wissen und Erkenntnis abhängig. Die wichtigste Ebene fürdie Ausübung der Freiheit liegt innerhalb des Menschen, in seinem Bemü-hen um eine selbstlose Sichtweise der Wirklichkeit, welche auf der Ein-sicht und dem Respekt vor dem niemals gänzlich rational erfassbaren,anderen Menschen basiert. Indem Murdoch Freiheit als eine zu vertiefen-de Anstrengung der Wahrnehmung der kontingenten Existenz der Ande-ren begreift, welche das Moment der Selbstverleugnung in sich trägt, trittdas Moment der Wahl bzw. die Konzeption der Freiheit als Bedingung der

Möglichkeit von moralischer Handlung zurück. Freiheit bedeutet in gewis-sem Sinne Selbstverleugnung, d. i. der Verzicht auf eigene Wünsche, Inter-essen und rationale Erklärungsmuster, um diejenige des Anderen zu er-möglichen. „Freiheit wird in der gegenseitigen Gegenüberstellung aus-geübt, im Zusammenhang mit einer unabgeschlossenen ausdehnbaren

Arbeit am imaginativen Verstehen zweier unreduzierbar unterschied-lichen Individuen. Die Liebe ist die imaginative Erkenntnis, d.h. das Re-spektieren dieser Andersheit“ (EM, 216, „The Sublime and the Good“).

Murdoch konzipiert ihren moralisch-spirituellen Freiheitsbegriff so, dasser das Erkennen und Anerkennen einer vom Ich unterschiedenen, kontin-genten Realität umfasst.

6. Zwischen Einheit und Einzigartigkeit, zwischen Form und Kontingenz

Zwei Pole bestimmen Murdochs Denken: die Betonung des Kontingen-ten zum einen und das Festhalten an der absoluten Bestimmtheit, an der

Notwendigkeit des Guten zum andern. Beide stehen in einer Spannungzueinander. Gemeinsam ist ihnen allerdings, dass sowohl das Gute, diewirkliche Wirklichkeit, als auch die kontingente Wirklichkeit nicht direktdarstellbar sind. Ersteres, weil die Idee des Guten nicht direkt Gegenstandder Erkenntnis werden kann, da erst in ihrem Licht die Wirklichkeit er-scheint, Letzteres, weil sich die konkreten Individuen und die Wirklichkeitdem Verlangen nach Form und Ordnung widersetzen. Nach Murdochs

Kontingenzverständnis kann man sagen, dass sich das Kontingente densprachlichen und systematisierenden Einordnungsversuchen entzieht.

Kann das Gute mit Unsichtbarkeit, einer nicht repräsentierbaren Leereund einem Fluchtpunkt (SoG, 71) in Verbindung gebracht werden, so sinddie kontingenten Menschen und die sie umgebende Wirklichkeit mehrund anders, als es alle möglichen Beschreibungen zur Darstellung bringenkönnten. Mehr noch: Murdoch setzt den Wunsch nach Form und Bedeu-tung gleich mit dem Wunsch nach Reduktion der Wirklichkeit des Ande-ren, die oftmals nur noch als Bedrohung erfahren wird. Die Problematikder Darstellung des bestimmten Kontingenten und des bestimmendenGuten taucht in Murdochs theoretischen und literarischen Schriften wie-der auf: Sie erscheint zum einen theoretisch als Problem von Form undKontingenz und wird indirekt Gegenstand von Murdochs ästhetischerTheorie, welche die Repräsentierbarkeit des Guten beleuchtet. Und sie er-scheint zum anderen im Stil ihrer theoretischen und literarischen Schrif-ten.

Die Frage nach der Repräsentierbarkeit des Guten beantwortet Mur-doch auf zwei verschiedene Arten. Zum einen weist sie darauf hin, dassdas Gute eine für die philosophische Theoriebildung wichtige Metaphersei, die zugleich eine Ausweitung der Vorstellungskraft zum Ziel hat. Mur-doch erklärt, dass Metaphern nicht nur Dekoration sind, sondern dass sievielmehr dazu verhelfen, das menschliche Selbstverständnis zu erweitern(SoG, 77). Zum andern beantwortet sie die Frage nach der Darstellbarkeitdes Guten in ihrer ästhetischen Theorie und in ihren Romanen. GuteKunst und ein guter Roman sind Murdoch zufolge nur dann wahr, wennsie die Wirklichkeit so beschreiben, dass sie in ihrer eigenen Würde undAndersheit zum Ausdruck kommt. Dabei wird die Person, die sich mit die-sen Kunstwerken beschäftigt, verändert. Das Betrachten eines guten Ge-mäldes ist, wie Murdoch meint, vergleichbar mit dem Anschauen eines ge-liebten Menschen. In beiden (moralisch bedeutsamen) Fällen vergisst diebetrachtende Person sich selbst und wird zur betrachteten Person. In an-derer Weise bringt Murdoch diese Idee zum Ausdruck, wenn sie den Zu-sammenhang zwischen Liebe und ihrer ästhetischen Theorie formuliert.Der Satz „[t]he essence of art is love“ heißt für Murdoch zwar auch, dassKunst im moralischen Sinne belehrend oder erzieherisch wirken kann,doch in erster Linie heißt er für sie, dass die Ebene, auf der die Liebe (dieMurdoch an dieser Stelle mit Kunst gleichsetzt) wirkt, tiefer liegt als die,auf welcher überhaupt über irgendeine Verbesserung nachgedacht werdenkann (EM, 218, „The Sublime and the Good“). Die ästhetische Wirkungdes Guten greift also in einer subkutanen, tiefen, menschlichen Schicht.

Iris Murdoch versucht denkerisch die Balance zu halten zwischen derVereinheitlichungstendenz des denkerischen Zugriffs, der einen artifiziel-len Schein auf das an sich unvollständige, fragmentarische Leben wirft,und dem partikularisierenden Denken, das dem Impuls der Ordnung undder Wahl. „Freiheit ist nicht das plötzliche Heraustreten des isolierten

Willen in einem unpersönlichen logischen Komplex und aus diesem he-raus, sie ist eine Aufgabe: der fortschreitende Versuch, ein besonderes Ob-jekt klar zu sehen“ (SoG, 23). Freiheit eröffnet erst den Raum, in dem sichder je einzelne Andere entfalten kann. Sie ist die Vorstellungskraft, dieden Anderen in seiner Verschiedenartigkeit begreift. Die Anerkennungdes Anderen dient der Erfüllung seiner in ihm angelegten Möglichkeiten.

Freiheit ist von Wissen und Erkenntnis abhängig. Die wichtigste Ebene fürdie Ausübung der Freiheit liegt innerhalb des Menschen, in seinem Bemü-hen um eine selbstlose Sichtweise der Wirklichkeit, welche auf der Ein-sicht und dem Respekt vor dem niemals gänzlich rational erfassbaren,anderen Menschen basiert. Indem Murdoch Freiheit als eine zu vertiefen-de Anstrengung der Wahrnehmung der kontingenten Existenz der Ande-ren begreift, welche das Moment der Selbstverleugnung in sich trägt, trittdas Moment der Wahl bzw. die Konzeption der Freiheit als Bedingung der

Möglichkeit von moralischer Handlung zurück. Freiheit bedeutet in gewis-sem Sinne Selbstverleugnung, d. i. der Verzicht auf eigene Wünsche, Inter-essen und rationale Erklärungsmuster, um diejenige des Anderen zu er-möglichen. „Freiheit wird in der gegenseitigen Gegenüberstellung aus-geübt, im Zusammenhang mit einer unabgeschlossenen ausdehnbaren

Arbeit am imaginativen Verstehen zweier unreduzierbar unterschied-lichen Individuen. Die Liebe ist die imaginative Erkenntnis, d.h. das Re-spektieren dieser Andersheit“ (EM, 216, „The Sublime and the Good“).

Murdoch konzipiert ihren moralisch-spirituellen Freiheitsbegriff so, dasser das Erkennen und Anerkennen einer vom Ich unterschiedenen, kontin-genten Realität umfasst.

6. Zwischen Einheit und Einzigartigkeit, zwischen Form und Kontingenz

Zwei Pole bestimmen Murdochs Denken: die Betonung des Kontingen-ten zum einen und das Festhalten an der absoluten Bestimmtheit, an der

Notwendigkeit des Guten zum andern. Beide stehen in einer Spannungzueinander. Gemeinsam ist ihnen allerdings, dass sowohl das Gute, diewirkliche Wirklichkeit, als auch die kontingente Wirklichkeit nicht direktdarstellbar sind. Ersteres, weil die Idee des Guten nicht direkt Gegenstandder Erkenntnis werden kann, da erst in ihrem Licht die Wirklichkeit er-scheint, Letzteres, weil sich die konkreten Individuen und die Wirklichkeitdem Verlangen nach Form und Ordnung widersetzen. Nach Murdochs

Kontingenzverständnis kann man sagen, dass sich das Kontingente densprachlichen und systematisierenden Einordnungsversuchen entzieht.

Kann das Gute mit Unsichtbarkeit, einer nicht repräsentierbaren Leereund einem Fluchtpunkt (SoG, 71) in Verbindung gebracht werden, so sinddie kontingenten Menschen und die sie umgebende Wirklichkeit mehrund anders, als es alle möglichen Beschreibungen zur Darstellung bringenkönnten. Mehr noch: Murdoch setzt den Wunsch nach Form und Bedeu-tung gleich mit dem Wunsch nach Reduktion der Wirklichkeit des Ande-ren, die oftmals nur noch als Bedrohung erfahren wird. Die Problematikder Darstellung des bestimmten Kontingenten und des bestimmendenGuten taucht in Murdochs theoretischen und literarischen Schriften wie-der auf: Sie erscheint zum einen theoretisch als Problem von Form undKontingenz und wird indirekt Gegenstand von Murdochs ästhetischerTheorie, welche die Repräsentierbarkeit des Guten beleuchtet. Und sie er-scheint zum anderen im Stil ihrer theoretischen und literarischen Schrif-ten.

Die Frage nach der Repräsentierbarkeit des Guten beantwortet Mur-doch auf zwei verschiedene Arten. Zum einen weist sie darauf hin, dassdas Gute eine für die philosophische Theoriebildung wichtige Metaphersei, die zugleich eine Ausweitung der Vorstellungskraft zum Ziel hat. Mur-doch erklärt, dass Metaphern nicht nur Dekoration sind, sondern dass sievielmehr dazu verhelfen, das menschliche Selbstverständnis zu erweitern(SoG, 77). Zum andern beantwortet sie die Frage nach der Darstellbarkeitdes Guten in ihrer ästhetischen Theorie und in ihren Romanen. GuteKunst und ein guter Roman sind Murdoch zufolge nur dann wahr, wennsie die Wirklichkeit so beschreiben, dass sie in ihrer eigenen Würde undAndersheit zum Ausdruck kommt. Dabei wird die Person, die sich mit die-sen Kunstwerken beschäftigt, verändert. Das Betrachten eines guten Ge-mäldes ist, wie Murdoch meint, vergleichbar mit dem Anschauen eines ge-liebten Menschen. In beiden (moralisch bedeutsamen) Fällen vergisst diebetrachtende Person sich selbst und wird zur betrachteten Person. In an-derer Weise bringt Murdoch diese Idee zum Ausdruck, wenn sie den Zu-sammenhang zwischen Liebe und ihrer ästhetischen Theorie formuliert.Der Satz „[t]he essence of art is love“ heißt für Murdoch zwar auch, dassKunst im moralischen Sinne belehrend oder erzieherisch wirken kann,doch in erster Linie heißt er für sie, dass die Ebene, auf der die Liebe (dieMurdoch an dieser Stelle mit Kunst gleichsetzt) wirkt, tiefer liegt als die,auf welcher überhaupt über irgendeine Verbesserung nachgedacht werdenkann (EM, 218, „The Sublime and the Good“). Die ästhetische Wirkungdes Guten greift also in einer subkutanen, tiefen, menschlichen Schicht.

Iris Murdoch versucht denkerisch die Balance zu halten zwischen derVereinheitlichungstendenz des denkerischen Zugriffs, der einen artifiziel-len Schein auf das an sich unvollständige, fragmentarische Leben wirft,und dem partikularisierenden Denken, das dem Impuls der Ordnung undKlassifikation widersteht und stattdessen die einzelnen kontingenten Phä-nomene mit einer Art Laserstrahlform von Aufmerksamkeit herausgreiftund individuiert. Murdoch beschreibt die dazu parallele Spannung vonForm und Kontingenz im Roman. Der ideale Roman hält die Spannungvon Form und Kontingenz, die Spannung zwischen der Notwendigkeit, eineinheitliches Ganzes zu schaffen, und der Notwendigkeit, individuelleCharaktere so dazustellen, dass sie die kontingente Wirklichkeit mensch-lichen Lebens widerspiegeln. „A novel must be a house fit for free charac-ters to live in; and to combine form with a respect for reality with all itsodd contingent ways is the highest art of prose“ (EM, 286, „The Sublimeand the Beautiful Revisited“). Murdochs Romantheorie richtet sich gegenden Versuch, Kontingenz durch Form und ein in sich selbst abgeschlosse-nes, engmaschig verwobenes Ganzes zu ersetzen. Hierbei werde der Formals alleinigem Gegenstand des Romans ein Übergewicht über die Wirk-lichkeit zugestanden, in diesem Gebilde würden die einzelnen Figurenkeine Eigenständigkeit besitzen, sondern wären nur dazu da, die Ideenihres Autors zu verkörpern, hebt Murdoch kritisch in ihrem polemischenAufsatz „Against Dryness“ hervor. Die Verhärtung durch eine zu rigideFormgebung stellt Murdoch ebenfalls in Sartres Romanen fest. Hier seiendie Figuren und die Welt, die sie bewohnen, zu transparent, zu weniggeheimnisvoll, stattdessen fungierten sie bei Sartre als Symbole für das Di-lemma des modernen Menschen. Da die Figurenzeichnung in der Roman-konzeption Sartres keine Interaktionen der Figuren untereinander zulas-se, erstarrten die Figuren zu einsamen, trockenen, leblosen und asep-tischen Helden. „Contingency must be defended for it is the essence ofpersonality“ (EM, 285, „The Sublime and the Beautiful Revisited“). Zu-gleich wendet sich Murdoch gegen Tendenzen zu form- und strukturlosenWerken. Zwei Gefahren müsse also aus dem Weg gegangen werden: derNeurose, die darin münde, selbstbezügliche Mythen und Fantasien darzu-stellen, welche die Wirklichkeit der Anderen verbergen, und der Konven-tion, welche darin bestehe, das Individuelle des Anderen in einem unper-sönlichen System untergehen zu lassen. Der Roman ist entweder Fantasieoder ein Stück informativer Prosa, in welcher die konventionellen Charak-tere dazu da sind, einen geschichtlichen oder sozialen Umstand zu illus-trieren, ohne selbst von innen heraus entwickelt zu sein. Erstere bezeich-net Murdoch als kristalline, Letztere als journalistische Romane. DenRoman des 20. Jahrhunderts kritisiert sie als journalistisches, quasi do-kumentarisches, gestaltloses Werk.18Im Ringen um die Endgestalt desKunstwerkes gilt es, die Spannung zwischen den beiden Polen des Form-gebungsprozesses nicht zu zerreißen (EM, 285, „The Sublime and theBeautiful Revisited“).

Das Hauptanliegen von Murdochs Philosophie ist die Beantwortung derFrage, wie das Ganze des menschlichen Lebens in einem System erhelltund geordnet werden kann, obwohl das Leben selbst keine solche Ord-nung aufweist. Dieses Problem markiert eine Spannung zwischen der Ver-einheitlichungstendenz im Lichte des Guten und der partikularisierendenTendenz, die beide in Kunstwerken und in theoretischen Texten zu findensind. In Murdochs theoretischem und darstellerischem Umgang mit dieserparadoxen Ausgangslage ist eine Entwicklung weg von der einseitig star-ken Betonung der Kontingenz hin zu einer Balance zwischen den beidengegensätzlichen Bewegungen der Philosophie festzustellen19. Der End-punkt, der die Balance hält, ist in „Metaphysics as a Guide to Morals“ er-reicht. Dort entwickelt Murdoch eine Metaphysik, die von innen herausdas Kontingente bedenkt und die Idee der Totalität angreift. Die Art derDarstellung ist hierbei eine Kombination aus luziden, systematischen Pas-sagen und zufälligen Assoziationen. Murdochs systematisierender Zugriffist darin erkennbar, dass sie die zentralen moralphilosophischen Themenin ihrem Zusammenhang behandelt. Die große metaphysische ErzählungMurdochs beginnt bei der Kunst, geht über zu moralischem Bewusstseinund endet bei religiösen Themen. Doch der in diesem Aufbau erkennbaresystematisierende Impuls wird, wie Maria Antonaccio feststellt, zugleichwieder negiert: Die erzählerische Bewegung des Textes beginnt bei „Ein-heit/Kunst“ und endet bei „Leere“. Murdoch beschreibt eine Pilgerreisevon der Erscheinung zur Wirklichkeit, von der Kunst zur Leere und vonder Herstellung von Bildern zu deren Negation. In der letzten Passageihrer paradoxen Metaphysik wendet sich Murdoch der atheistischen Theo-logie zu. Am Schluss treten Bestimmtes und Kontingentes in einem Hym-nus gemeinsam auf. Murdoch zitiert aus dem 139. Psalm, selbst wieder alsZitat des Theologen Paul Tillich, die Frage eines Einzelnen: „Wohin sollich gehen vor deinem Geist? Und wohin fliehen vor deinem Angesicht?[…] Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, sowürde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten“(Ps 139, M7+9/, 512).Klassifikation widersteht und stattdessen die einzelnen kontingenten Phä-nomene mit einer Art Laserstrahlform von Aufmerksamkeit herausgreiftund individuiert. Murdoch beschreibt die dazu parallele Spannung vonForm und Kontingenz im Roman. Der ideale Roman hält die Spannungvon Form und Kontingenz, die Spannung zwischen der Notwendigkeit, eineinheitliches Ganzes zu schaffen, und der Notwendigkeit, individuelleCharaktere so dazustellen, dass sie die kontingente Wirklichkeit mensch-lichen Lebens widerspiegeln. „A novel must be a house fit for free charac-ters to live in; and to combine form with a respect for reality with all itsodd contingent ways is the highest art of prose“ (EM, 286, „The Sublimeand the Beautiful Revisited“). Murdochs Romantheorie richtet sich gegenden Versuch, Kontingenz durch Form und ein in sich selbst abgeschlosse-nes, engmaschig verwobenes Ganzes zu ersetzen. Hierbei werde der Formals alleinigem Gegenstand des Romans ein Übergewicht über die Wirk-lichkeit zugestanden, in diesem Gebilde würden die einzelnen Figurenkeine Eigenständigkeit besitzen, sondern wären nur dazu da, die Ideenihres Autors zu verkörpern, hebt Murdoch kritisch in ihrem polemischenAufsatz „Against Dryness“ hervor. Die Verhärtung durch eine zu rigideFormgebung stellt Murdoch ebenfalls in Sartres Romanen fest. Hier seiendie Figuren und die Welt, die sie bewohnen, zu transparent, zu weniggeheimnisvoll, stattdessen fungierten sie bei Sartre als Symbole für das Di-lemma des modernen Menschen. Da die Figurenzeichnung in der Roman-konzeption Sartres keine Interaktionen der Figuren untereinander zulas-se, erstarrten die Figuren zu einsamen, trockenen, leblosen und asep-tischen Helden. „Contingency must be defended for it is the essence ofpersonality“ (EM, 285, „The Sublime and the Beautiful Revisited“). Zu-gleich wendet sich Murdoch gegen Tendenzen zu form- und strukturlosenWerken. Zwei Gefahren müsse also aus dem Weg gegangen werden: derNeurose, die darin münde, selbstbezügliche Mythen und Fantasien darzu-stellen, welche die Wirklichkeit der Anderen verbergen, und der Konven-tion, welche darin bestehe, das Individuelle des Anderen in einem unper-sönlichen System untergehen zu lassen. Der Roman ist entweder Fantasieoder ein Stück informativer Prosa, in welcher die konventionellen Charak-tere dazu da sind, einen geschichtlichen oder sozialen Umstand zu illus-trieren, ohne selbst von innen heraus entwickelt zu sein. Erstere bezeich-net Murdoch als kristalline, Letztere als journalistische Romane. DenRoman des 20. Jahrhunderts kritisiert sie als journalistisches, quasi do-kumentarisches, gestaltloses Werk.18Im Ringen um die Endgestalt desKunstwerkes gilt es, die Spannung zwischen den beiden Polen des Form-gebungsprozesses nicht zu zerreißen (EM, 285, „The Sublime and theBeautiful Revisited“).

Das Hauptanliegen von Murdochs Philosophie ist die Beantwortung derFrage, wie das Ganze des menschlichen Lebens in einem System erhelltund geordnet werden kann, obwohl das Leben selbst keine solche Ord-nung aufweist. Dieses Problem markiert eine Spannung zwischen der Ver-einheitlichungstendenz im Lichte des Guten und der partikularisierendenTendenz, die beide in Kunstwerken und in theoretischen Texten zu findensind. In Murdochs theoretischem und darstellerischem Umgang mit dieserparadoxen Ausgangslage ist eine Entwicklung weg von der einseitig star-ken Betonung der Kontingenz hin zu einer Balance zwischen den beidengegensätzlichen Bewegungen der Philosophie festzustellen19. Der End-punkt, der die Balance hält, ist in „Metaphysics as a Guide to Morals“ er-reicht. Dort entwickelt Murdoch eine Metaphysik, die von innen herausdas Kontingente bedenkt und die Idee der Totalität angreift. Die Art derDarstellung ist hierbei eine Kombination aus luziden, systematischen Pas-sagen und zufälligen Assoziationen. Murdochs systematisierender Zugriffist darin erkennbar, dass sie die zentralen moralphilosophischen Themenin ihrem Zusammenhang behandelt. Die große metaphysische ErzählungMurdochs beginnt bei der Kunst, geht über zu moralischem Bewusstseinund endet bei religiösen Themen. Doch der in diesem Aufbau erkennbaresystematisierende Impuls wird, wie Maria Antonaccio feststellt, zugleichwieder negiert: Die erzählerische Bewegung des Textes beginnt bei „Ein-heit/Kunst“ und endet bei „Leere“. Murdoch beschreibt eine Pilgerreisevon der Erscheinung zur Wirklichkeit, von der Kunst zur Leere und vonder Herstellung von Bildern zu deren Negation. In der letzten Passageihrer paradoxen Metaphysik wendet sich Murdoch der atheistischen Theo-logie zu. Am Schluss treten Bestimmtes und Kontingentes in einem Hym-nus gemeinsam auf. Murdoch zitiert aus dem 139. Psalm, selbst wieder alsZitat des Theologen Paul Tillich, die Frage eines Einzelnen: „Wohin sollich gehen vor deinem Geist? Und wohin fliehen vor deinem Angesicht?[…] Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, sowürde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten“(Ps 139, M7+9/, 512).

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Auswahlbibliographie

HANNAH ARENDT Auf der Suche nach der Freiheit jenseits von Souveränität

Von Katrin Meyer

Warum sollen wir Hannah Arendt lesen? Die Antwort scheint klar: weilihre Philosophie der „Natalität“ und „Pluralität“ das Bild des Menschenin ein neues Licht taucht. Mit Arendt lassen sich Politik und Geschichtevertrauensvoller und heller denken. Der Mensch erscheint als ein Wesen,das gemeinsam mit anderen sich aus Zwängen befreien und Neues er-schaffen kann. Aus Arendts Optik ist die Offenheit – die Kontingenz – derWelt eine Chance und ein Versprechen der Freiheit. Dieses Versprechenist für Feministinnen besonders attraktiv. Mit Arendt kann gezeigt wer-den, dass scheinbar naturgegebene individuelle und kollektive IdentitätenAusdruck von Interaktion und Geschichte sind und damit offen für Verän-derung. Arendt hat in diesem Sinn sowohl die moderne Diskurstheoriewie die postmoderne Identitätskritik geprägt.1

Gibt es auch Gründe, Arendt nicht zu lesen? Der evidenteste ist sicherjener, dass Arendts politische Philosophie für das alltägliche Politisierenvöllig unbrauchbar erscheint. Ihr Politikbegriff ist materiell „leer“ undschließt das meiste aus, was gemeinhin als politisch gilt. Es ist ein langer– oder beinahe ein ungangbarer – Weg von Arendts Verständnis der Poli-tik als ständigem „Neuanfang“ zu liberalen oder marxistischen Politik-theorien, die sich der Schaffung sozialer Gerechtigkeit oder der Sicherungliberaler Freiheitsrechte widmen.2Gerade die feministische Rezeption, die

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Auswahlbibliographie

HANNAH ARENDT Auf der Suche nach der Freiheit jenseits von Souveränität

Von Katrin Meyer

Warum sollen wir Hannah Arendt lesen? Die Antwort scheint klar: weilihre Philosophie der „Natalität“ und „Pluralität“ das Bild des Menschenin ein neues Licht taucht. Mit Arendt lassen sich Politik und Geschichtevertrauensvoller und heller denken. Der Mensch erscheint als ein Wesen,das gemeinsam mit anderen sich aus Zwängen befreien und Neues er-schaffen kann. Aus Arendts Optik ist die Offenheit – die Kontingenz – derWelt eine Chance und ein Versprechen der Freiheit. Dieses Versprechenist für Feministinnen besonders attraktiv. Mit Arendt kann gezeigt wer-den, dass scheinbar naturgegebene individuelle und kollektive IdentitätenAusdruck von Interaktion und Geschichte sind und damit offen für Verän-derung. Arendt hat in diesem Sinn sowohl die moderne Diskurstheoriewie die postmoderne Identitätskritik geprägt.1

Gibt es auch Gründe, Arendt nicht zu lesen? Der evidenteste ist sicherjener, dass Arendts politische Philosophie für das alltägliche Politisierenvöllig unbrauchbar erscheint. Ihr Politikbegriff ist materiell „leer“ undschließt das meiste aus, was gemeinhin als politisch gilt. Es ist ein langer– oder beinahe ein ungangbarer – Weg von Arendts Verständnis der Poli-tik als ständigem „Neuanfang“ zu liberalen oder marxistischen Politik-theorien, die sich der Schaffung sozialer Gerechtigkeit oder der Sicherungliberaler Freiheitsrechte widmen.2Gerade die feministische Rezeption, dieentscheidend zur Arendt-Renaissance seit den 80er-Jahren beigetragenhat, arbeitet sich an diesem Problem der partiellen Inkompatibilität

Arendts mit feministisch-politischen Theorieansätzen ab.3Problematischerscheint dabei weniger Arendts explizite Distanznahme zum politischen

Feminismus als vielmehr die implizite, das heißt unreflektierte Genderisie-rung vieler ihrer zentralen Kategorien.4

Der Versuch, Arendts Denken mit feministischen und liberal-demokra-tischen Fragestellungen zu vereinbaren, ist ein mögliches Erkenntnisinte-resse im Umgang mit Arendts Politiktheorie. Aus hermeneutischer Sichtist dieser Zugang aber nur begrenzt sinnvoll. Im Folgenden wird stattdes-sen gefragt, warum sich Arendts Denken so ambivalent präsentiert. Vonder Antwort hängt ab, wie konstruktiv wir mit dieser Ambivalenz umgehenkönnen.

Wenn wir fragen, warum Arendt Politik so konzipiert, wie sie es tut, sto-

ßen wir auf eine philosophische Grundfrage, die ihrem Denken die Rich-tung gibt.5Es ist die Frage nach dem Wesen der positiven Freiheit. In der

Art und Weise, wie Arendt mit dieser Frage umgeht, lassen sich zweiunterschiedliche Perspektiven freilegen. Ich möchte sie die „kritische“und die „affirmative“ nennen.

Die kritische Perspektive Arendts setzt damit ein, dass ihr der traditio-nelle Freiheitsbegriff fragwürdig wird. In diesem Fragwürdigwerden der

Freiheit liegt eine der großen Bedeutungen ihrer Philosophie. Sie machtuns darauf aufmerksam, dass Freiheit in der Tradition falsch gedachtwurde und dass dieses falsche Denken mit den politischen Katastrophender Moderne zusammenhängt. Der Mensch verfehlt seine Möglichkeitenund verkennt seine Grenzen, wenn er Freiheit – seine Freiheit – nicht rich-tig versteht. Das richtige Verständnis bedeutet, dass der Mensch die Kon-tingenz seiner Freiheit anerkennt (s. dazu unten Kap. 2–4). Die affirmative Perspektive von Arendts Denken zeigt sich daran, dass ihr Anspruch überdie kritische Auseinandersetzung mit der Tradition hinausgeht und in denVersuch mündet, die menschliche Existenz zu rechtfertigen und positiveFreiheit als historisch verwirklicht aufzuzeigen. Arendt möchte zeigen,dass existenzielle Freiheit politisch realisiert werden kann und dass Politiksich darin vollendet (s. dazu unten Kap. 5–6). Auch wenn die affirmativePerspektive möglicherweise scheitert, lässt sich doch mit Arendt die Un-begründbarkeit und Kontingenz von Politik und menschlicher Identitätzum Ausgangspunkt nehmen, um über eine Form von Freiheit nachzuden-ken, die – gerade weil sie grundlos ist – für eine aktuelle, poststrukturalisti-sche Politik anschlussfähig sein könnte (Kap. 7).

1. Biographische Brüche

Die Frage nach der Freiheit stellt sich Arendt nicht unvermittelt, son-dern ist auch biographisch und historisch motiviert. Ihr eigenes Leben istgezeichnet von den großen politischen Katastrophen des 20.Jahrhunderts,die diese Frage als Problem virulent machen.6

Hannah Arendt, die 1906 in Linden bei Hannover als einziges Kind ineiner gebildeten deutsch-jüdischen Familie zur Welt kam und in Königs-berg ihre Kindheit und Jugend verbrachte, studierte 1924 bis 1929 Philoso-phie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers. Mit dem siebzehn Jahre älte-ren, verheirateten Heidegger, der in Marburg lehrte, verband sie ein Lie-besverhältnis, das über die Trennung hinaus für beide lebenslang wichtigblieb. 1925 verließ sie Marburg und studierte bei Jaspers in Heidelberg, beidem sie mit einer Arbeit über den Liebesbegriff bei Augustin promovierte.1929 heiratete Arendt ihren Kommilitonen Günther Stern (bekannt alsGünther Anders) und lebte mit ihm in Frankfurt und Berlin. Dort kam siein engen Kontakt zu Kurt Blumenfeld, dem Vorsitzenden der Zionisti-schen Vereinigung für Deutschland, der Arendts lebenslanger Freundblieb und sie zur intensiven und kritischen Auseinandersetzung mit dementscheidend zur Arendt-Renaissance seit den 80er-Jahren beigetragenhat, arbeitet sich an diesem Problem der partiellen Inkompatibilität

Arendts mit feministisch-politischen Theorieansätzen ab.3Problematischerscheint dabei weniger Arendts explizite Distanznahme zum politischen

Feminismus als vielmehr die implizite, das heißt unreflektierte Genderisie-rung vieler ihrer zentralen Kategorien.4

Der Versuch, Arendts Denken mit feministischen und liberal-demokra-tischen Fragestellungen zu vereinbaren, ist ein mögliches Erkenntnisinte-resse im Umgang mit Arendts Politiktheorie. Aus hermeneutischer Sichtist dieser Zugang aber nur begrenzt sinnvoll. Im Folgenden wird stattdes-sen gefragt, warum sich Arendts Denken so ambivalent präsentiert. Vonder Antwort hängt ab, wie konstruktiv wir mit dieser Ambivalenz umgehenkönnen.

Wenn wir fragen, warum Arendt Politik so konzipiert, wie sie es tut, sto-

ßen wir auf eine philosophische Grundfrage, die ihrem Denken die Rich-tung gibt.5Es ist die Frage nach dem Wesen der positiven Freiheit. In der

Art und Weise, wie Arendt mit dieser Frage umgeht, lassen sich zweiunterschiedliche Perspektiven freilegen. Ich möchte sie die „kritische“und die „affirmative“ nennen.

Die kritische Perspektive Arendts setzt damit ein, dass ihr der traditio-nelle Freiheitsbegriff fragwürdig wird. In diesem Fragwürdigwerden der

Freiheit liegt eine der großen Bedeutungen ihrer Philosophie. Sie machtuns darauf aufmerksam, dass Freiheit in der Tradition falsch gedachtwurde und dass dieses falsche Denken mit den politischen Katastrophender Moderne zusammenhängt. Der Mensch verfehlt seine Möglichkeitenund verkennt seine Grenzen, wenn er Freiheit – seine Freiheit – nicht rich-tig versteht. Das richtige Verständnis bedeutet, dass der Mensch die Kon-tingenz seiner Freiheit anerkennt (s. dazu unten Kap. 2–4). Die affirmative Perspektive von Arendts Denken zeigt sich daran, dass ihr Anspruch überdie kritische Auseinandersetzung mit der Tradition hinausgeht und in denVersuch mündet, die menschliche Existenz zu rechtfertigen und positiveFreiheit als historisch verwirklicht aufzuzeigen. Arendt möchte zeigen,dass existenzielle Freiheit politisch realisiert werden kann und dass Politiksich darin vollendet (s. dazu unten Kap. 5–6). Auch wenn die affirmativePerspektive möglicherweise scheitert, lässt sich doch mit Arendt die Un-begründbarkeit und Kontingenz von Politik und menschlicher Identitätzum Ausgangspunkt nehmen, um über eine Form von Freiheit nachzuden-ken, die – gerade weil sie grundlos ist – für eine aktuelle, poststrukturalisti-sche Politik anschlussfähig sein könnte (Kap. 7).

1. Biographische Brüche

Die Frage nach der Freiheit stellt sich Arendt nicht unvermittelt, son-dern ist auch biographisch und historisch motiviert. Ihr eigenes Leben istgezeichnet von den großen politischen Katastrophen des 20.Jahrhunderts,die diese Frage als Problem virulent machen.6

Hannah Arendt, die 1906 in Linden bei Hannover als einziges Kind ineiner gebildeten deutsch-jüdischen Familie zur Welt kam und in Königs-berg ihre Kindheit und Jugend verbrachte, studierte 1924 bis 1929 Philoso-phie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers. Mit dem siebzehn Jahre älte-ren, verheirateten Heidegger, der in Marburg lehrte, verband sie ein Lie-besverhältnis, das über die Trennung hinaus für beide lebenslang wichtigblieb. 1925 verließ sie Marburg und studierte bei Jaspers in Heidelberg, beidem sie mit einer Arbeit über den Liebesbegriff bei Augustin promovierte.1929 heiratete Arendt ihren Kommilitonen Günther Stern (bekannt alsGünther Anders) und lebte mit ihm in Frankfurt und Berlin. Dort kam siein engen Kontakt zu Kurt Blumenfeld, dem Vorsitzenden der Zionisti-schen Vereinigung für Deutschland, der Arendts lebenslanger Freundblieb und sie zur intensiven und kritischen Auseinandersetzung mit demZionismus anregte. Ihre Biographie über Rahel Varnhagen, die Arendt

1933 vor ihrer Flucht aus Deutschland beinahe abgeschlossen hatte, ver-dankt sich diesem neuen Problembewusstsein. Nach der Machtübernahmeder Nazis solidarisierte sich Arendt aktiv mit der deutschen zionistischen

Organisation, sie wurde vorübergehend von der Gestapo verhaftet undfloh kurz darauf nach Paris, wo sie als Generalsekretärin der Jugend-

Aliyah und später für die Jewish Agency arbeitete. In Paris lernte Arendtauch ihren zweiten Ehemann, den Kommunisten Heinrich Blücher ken-nen. Nach ihrer vorübergehenden Internierung im Konzentrationslager

Gurs gelang ihr, zusammen mit ihrer Mutter und Heinrich Blücher, 1941die Flucht nach New York. Dort arbeitete sie bei der deutsch-jüdischen

Wochenzeitung Aufbau und war Cheflektorin beim Schocken-Verlag. 1951erschien ihr erstes Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft,gefolgt von Vita activa Eichmann in Jerusalem Über die Re-(1958), (1963), volution (1963/1965) und Macht und Gewalt (1970). Nach Erscheinen ihres

Totalitarismus-Buches intensivierte sich ihre akademische Tätigkeit. Siewar an mehreren Universitäten tätig, zuletzt in Chicago und von 1967 biszu ihrem Tod an der New School for Social Research in New York. Siestarb 1975 in New York. Ihr letztes, postum erschienenes Werk war dem

Leben des Geistes gewidmet.

Arendts Lebensweg spiegelt in seiner Zerrissenheit die Grunderfahrun-gen des 20.Jahrhunderts. Revolutionen, Weltkriege und der nationalsozia-listische und stalinistische Totalitarismus bedeuten radikale Traditionsbrü-che und Ereignisse von katastrophischer Kontingenz, die das Denken vorneue Herausforderungen stellen. Der Analyse dieser Brüche und dem

Versuch, ihnen denkend einen positiven Freiheitsbegriff entgegenzuset-zen, ist Arendts Philosophie gewidmet.

2. Der Abgrund der Kontingenz

Arends erstes publiziertes Werk, Die Elemente und Ursprünge totaler

Herrschaft , setzt an bei der beispiellosesten Kontingenzerfahrung der Mo-derne – der Shoa. Sie markiert für sie den Einbruch absoluter Sinnlosig- keit – das heißt ein Geschehen, das sich dem verstehenden Zugriff des

Menschen entzieht und darin unfassbar und unverfügbar wird. In ihremberühmten Fernsehinterview mit Günter Gaus vergleicht Arendt dieses

Unfassbare mit einem „Abgrund“, der sich vor ihr geöffnet habe (Arendt,

Ich will verstehen , 59).

Das Abgründige liegt darin, dass sich im nationalsozialistischen Holo-caust die menschliche Freiheit zum radikal Bösen pervertiert hat. Radikalböse ist nach Arendt, „was Menschen weder bestrafen noch vergeben kön-nen“, weil man es „weder verstehen noch erklären kann“ (Elemente, 701).Diese Erfahrung, dass sich in der Geschichte der Menschheit etwas ereig-net, was das menschliche Verstehen sprengt, trifft den Kern des humanenSelbstverständnisses. Wem oder was ist die Fähigkeit geschuldet, dass sichdie menschliche Handlungsfreiheit zum Guten und Bösen derart radikali-siert und in absolute Kontingenz transformiert? Eine Antwort auf dieseFrage zeigt sich in der Analyse der entfesselten, ‘ungebändigten’ Willkür.

In Elemente und Ursprünge bezeichnet Arendt die Konzentrationslagerals „Laboratorien“, in denen „alles möglich ist“ (Elemente, 679). Wo allesmöglich wird, ist der Willkür des Handelns keine Grenze gesetzt. Die Will-kür zeigt sich gerade daran, dass sie sich über alle Gesetze hinwegsetztund „nichts“ außerhalb ihres eigenen Wollens respektiert; sie zeigt sichaber auch daran, dass es letztlich keinen „rationalen“ Grund für das Han-deln gibt. Die Opfer des Holocaust sind fundamental unschuldig, und wasihnen geschieht, steht in keinem Verhältnis zu ihrem eigenen Tun. In die-ser Zusammenhangslosigkeit von Leben und Schicksal zeigt sich die reineWillkür, die Menschen so behandelt, als ob sie gleichgültige Dinge wären.Das Handeln der Opfer wird bedeutungslos und sie werden damit alsMenschen „entmenschlicht“ (Elemente, 686ff.).

Ist Willkür aber nicht Teil jeder freien Handlung? Die Antwort mitArendt muss lauten: ja. Willkür meint formal dasselbe wie Kontingenz. Siebezeichnet die Gleichwertigkeit von Handlungsmöglichkeiten, denenkeine „notwendigen“ Entscheidungsgründe eingeschrieben sind. Diese In-differenz gegenüber Wahlmöglichkeiten ist als formales Merkmal jederHandlungsfreiheit unaufhebbar, weil es diese Handlungsfreiheit geradeermöglicht. In Vom Leben des Geistes hält Arendt im Rückgriff auf Aristo-teles fest: „Es kann kaum etwas Kontingenteres geben als gewollte Hand-lungen, die – wenn man vom freien Willen ausgeht – alle als Handlungendefiniert werden könnten, von denen man weiß, daß man sie auch hätteunterlassen können“ (Vom Leben, 253). Die Kontingenz zeigt sich somitals „Abgrund der Freiheit“, sie ist jener „Abgrund des Nichts, der sich vorjeder Tat öffnet“ (Vom Leben, 433).

Damit fallen der „Abgrund der Geschichte“ und der „Abgrund derFreiheit“ im Begriff der Kontingenz zusammen. Dieses In-eins-Fallen vonkontingenter Willkür und Freiheit macht Freiheit zu einer denkerischenHerausforderung. Im Vom Leben des Geistes behauptet Arendt, dass diemeisten Denker dieser Herausforderung ausgewichen seien. Statt „denPreis der Kontingenz für das fragwürdige Gut der Spontaneität [zu] be-zahlen, der Fähigkeit, zu tun, was auch ungetan bleiben könnte“ (Vom Leben, 425), habe sich die Philosophie traditionellerweise darum bemüht,den Freiheitsbegriff durch das Denken von Gesetz, System und Notwen-digkeit zu ersetzen – um den Preis der menschlichen Freiheit.

Zionismus anregte. Ihre Biographie über Rahel Varnhagen, die Arendt

1933 vor ihrer Flucht aus Deutschland beinahe abgeschlossen hatte, ver-dankt sich diesem neuen Problembewusstsein. Nach der Machtübernahmeder Nazis solidarisierte sich Arendt aktiv mit der deutschen zionistischen

Organisation, sie wurde vorübergehend von der Gestapo verhaftet undfloh kurz darauf nach Paris, wo sie als Generalsekretärin der Jugend-

Aliyah und später für die Jewish Agency arbeitete. In Paris lernte Arendtauch ihren zweiten Ehemann, den Kommunisten Heinrich Blücher ken-nen. Nach ihrer vorübergehenden Internierung im Konzentrationslager

Gurs gelang ihr, zusammen mit ihrer Mutter und Heinrich Blücher, 1941die Flucht nach New York. Dort arbeitete sie bei der deutsch-jüdischen

Wochenzeitung Aufbau und war Cheflektorin beim Schocken-Verlag. 1951erschien ihr erstes Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft,gefolgt von Vita activa Eichmann in Jerusalem Über die Re-(1958), (1963), volution (1963/1965) und Macht und Gewalt (1970). Nach Erscheinen ihres

Totalitarismus-Buches intensivierte sich ihre akademische Tätigkeit. Siewar an mehreren Universitäten tätig, zuletzt in Chicago und von 1967 biszu ihrem Tod an der New School for Social Research in New York. Siestarb 1975 in New York. Ihr letztes, postum erschienenes Werk war dem

Leben des Geistes gewidmet.

Arendts Lebensweg spiegelt in seiner Zerrissenheit die Grunderfahrun-gen des 20.Jahrhunderts. Revolutionen, Weltkriege und der nationalsozia-listische und stalinistische Totalitarismus bedeuten radikale Traditionsbrü-che und Ereignisse von katastrophischer Kontingenz, die das Denken vorneue Herausforderungen stellen. Der Analyse dieser Brüche und dem

Versuch, ihnen denkend einen positiven Freiheitsbegriff entgegenzuset-zen, ist Arendts Philosophie gewidmet.

2. Der Abgrund der Kontingenz

Arends erstes publiziertes Werk, Die Elemente und Ursprünge totaler

Herrschaft , setzt an bei der beispiellosesten Kontingenzerfahrung der Mo-derne – der Shoa. Sie markiert für sie den Einbruch absoluter Sinnlosig- keit – das heißt ein Geschehen, das sich dem verstehenden Zugriff des

Menschen entzieht und darin unfassbar und unverfügbar wird. In ihremberühmten Fernsehinterview mit Günter Gaus vergleicht Arendt dieses

Unfassbare mit einem „Abgrund“, der sich vor ihr geöffnet habe (Arendt,

Ich will verstehen , 59).

Das Abgründige liegt darin, dass sich im nationalsozialistischen Holo-caust die menschliche Freiheit zum radikal Bösen pervertiert hat. Radikalböse ist nach Arendt, „was Menschen weder bestrafen noch vergeben kön-nen“, weil man es „weder verstehen noch erklären kann“ (Elemente, 701).Diese Erfahrung, dass sich in der Geschichte der Menschheit etwas ereig-net, was das menschliche Verstehen sprengt, trifft den Kern des humanenSelbstverständnisses. Wem oder was ist die Fähigkeit geschuldet, dass sichdie menschliche Handlungsfreiheit zum Guten und Bösen derart radikali-siert und in absolute Kontingenz transformiert? Eine Antwort auf dieseFrage zeigt sich in der Analyse der entfesselten, ‘ungebändigten’ Willkür.

In Elemente und Ursprünge bezeichnet Arendt die Konzentrationslagerals „Laboratorien“, in denen „alles möglich ist“ (Elemente, 679). Wo allesmöglich wird, ist der Willkür des Handelns keine Grenze gesetzt. Die Will-kür zeigt sich gerade daran, dass sie sich über alle Gesetze hinwegsetztund „nichts“ außerhalb ihres eigenen Wollens respektiert; sie zeigt sichaber auch daran, dass es letztlich keinen „rationalen“ Grund für das Han-deln gibt. Die Opfer des Holocaust sind fundamental unschuldig, und wasihnen geschieht, steht in keinem Verhältnis zu ihrem eigenen Tun. In die-ser Zusammenhangslosigkeit von Leben und Schicksal zeigt sich die reineWillkür, die Menschen so behandelt, als ob sie gleichgültige Dinge wären.Das Handeln der Opfer wird bedeutungslos und sie werden damit alsMenschen „entmenschlicht“ (Elemente, 686ff.).

Ist Willkür aber nicht Teil jeder freien Handlung? Die Antwort mitArendt muss lauten: ja. Willkür meint formal dasselbe wie Kontingenz. Siebezeichnet die Gleichwertigkeit von Handlungsmöglichkeiten, denenkeine „notwendigen“ Entscheidungsgründe eingeschrieben sind. Diese In-differenz gegenüber Wahlmöglichkeiten ist als formales Merkmal jederHandlungsfreiheit unaufhebbar, weil es diese Handlungsfreiheit geradeermöglicht. In Vom Leben des Geistes hält Arendt im Rückgriff auf Aristo-teles fest: „Es kann kaum etwas Kontingenteres geben als gewollte Hand-lungen, die – wenn man vom freien Willen ausgeht – alle als Handlungendefiniert werden könnten, von denen man weiß, daß man sie auch hätteunterlassen können“ (Vom Leben, 253). Die Kontingenz zeigt sich somitals „Abgrund der Freiheit“, sie ist jener „Abgrund des Nichts, der sich vorjeder Tat öffnet“ (Vom Leben, 433).

Damit fallen der „Abgrund der Geschichte“ und der „Abgrund derFreiheit“ im Begriff der Kontingenz zusammen. Dieses In-eins-Fallen vonkontingenter Willkür und Freiheit macht Freiheit zu einer denkerischenHerausforderung. Im Vom Leben des Geistes behauptet Arendt, dass diemeisten Denker dieser Herausforderung ausgewichen seien. Statt „denPreis der Kontingenz für das fragwürdige Gut der Spontaneität [zu] be-zahlen, der Fähigkeit, zu tun, was auch ungetan bleiben könnte“ (Vom Leben, 425), habe sich die Philosophie traditionellerweise darum bemüht,den Freiheitsbegriff durch das Denken von Gesetz, System und Notwen-digkeit zu ersetzen – um den Preis der menschlichen Freiheit.

Und Arendt selber? Charakterisierend für ihr Denken ist ihre Entschei-dung, sich mit dem Dilemma der Freiheit auseinander zu setzen. Die Ein-sicht in die kontingente Abgründigkeit der Freiheit ändert ihrer Ansichtnach nichts an der Erkenntnis, dass Freiheit zugleich höchster Ausdruckdes menschlich Sinnhaften sei. Diese Einsicht ist der Ausgangspunkt ihrerphilosophischen Frage nach der Denkmöglichkeit von Freiheit. Diese

Denkmöglichkeit bewährt sich daran, dass sie der Herausforderung der

Kontingenz Rechnung trägt. Gesucht ist eine positive Form der Freiheit,die ihre eigene Destruktivität binden kann, indem sie „ein Prinzip in sichbirgt, durch das die Willkür ferngehalten wird“ (Revolution, 274).

Diese Formulierung zeigt, dass Arendt Kontingenz nicht als absolutpositiven Begriff versteht. Sinnhaft, so wird zu zeigen sein, ist für sie Frei-heit oder Kontingenz nur insofern, als in ihr die Willkür gebunden werdenkann, ohne dass sich damit Freiheit aufhebt.

Arendt unternimmt zur Klärung dieser ‘Bändigung’ einen ersten Schrittin der Analyse der negativen Fehlform des Freiheitsbegriffs als absolute

Willkür.

3. Kritik der souveränen Freiheit

Die Einsicht darin, wie sich Freiheit in ihr Gegenteil verkehrt und selbstmissversteht, gewinnt Arendt in Elemente und Ursprünge aus der Ge-schichte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Sie rekonstruiert im

Rückgriff auf Hobbes’ Begriff der Handlungsfreiheit die Geschichte der

Moderne als destruktive Dynamik der Machtsteigerung. Das heißt: Wenndie Freiheit des Individuums darin besteht, dass es Handlungen souverän,ohne äußere Einschränkung durch andere, realisieren kann, dann impliziertder Freiheitswille den Willen zur Macht (über andere), der letztlich in eineleere und tendenziell grenzenlose Akkumulation von Macht mündet. Diesegrenzenlose Akkumulation der Macht um einer souveränen Handlungs-freiheit willen ist nach Arendt sowohl das Grundprinzip des Imperialismusdes 19.Jahrhunderts wie auch des bürgerlichen Kapitalismus, die sich indieser gemeinsamen Dynamik gegenseitig stützen und antreiben.7Beidemünden in ein Verständnis der Politik als Ideologie, das heißt in die politi-sche Idee, historische Prozesse und Ereignisse berechenbar zu machen

(Elemente, 718). Das ideologische Planen und Berechnen bedeutet das Ver-fügen über die Freiheit der anderen. Entscheidend ist für Arendt, dass die-ses Verfügen letztlich der Souveränität eines Einzelnen entgleitet und dieMachterhaltung zu einem Sachzwang wird, der auch die „Ideologen“ und„Gewalttäter“ selber systematisch „überflüssig“ mach (Elemente, 702).

Bedeutsam für die philosophische Kritik des Freiheitsbegriffs wird dieAnalyse an dem Punkt, an dem Arendt eine systematische Verknüpfungvon Totalitarismus, Ideologie und instrumentellem Denken herstellt. Diesephilosophische Wende ist in den Nachlass-Texten des so genannten Denk- tagebuches nachvollziehbar.

Arendt erkennt, dass instrumentelles Denken einer Verfügungslogik ge-horcht, die dem Tätigkeitstypus des „Herstellen“ entspricht (Denktage- buch , 46 f.). Im Herstellen ist das Subjekt souverän, insofern es über An-fang und Ende seiner Tätigkeit absolut verfügen kann. Dieses Modell des homo faber wurde nach Arendt in der philosophischen Tradition zum Mo-dell des Menschen an sich, das heißt „des“ Menschen als solipsistisches,wesentlich selbstgenügsames Wesen. Souveränitätsdenken und Verfü-gungsmacht treffen sich im philosophischen Solipsismus (Denktagebuch, 54) – im Denken des Menschen als isoliertes und unabhängiges Individu-um. Aus der Sicht der Philosophie „des“ Menschen sind alle anderen Men-schen latent bedrohlich, weil sie dasjenige repräsentieren, was die Souve-ränität des Individuums einzuschränken droht. Der Mitmensch ist keiner,der gibt, sondern nur einer, der nimmt. Arendt vertieft diese Einsicht,indem sie das Wesen des Solipsismus am Willensbegriff festmacht. In Aus-einandersetzung mit Hegel hält sie fest: „Die Philosophie des Menschenendet bei der Willensphilosophie, weil in der Tat nur der Wille sich selbstwollen kann oder ‘sich auf nichts als sich selbst bezieht’“ (Denktagebuch, 84). Damit wandert die kontingente Willkür in den innersten Begriff desMenschen selber. Er stößt das Individuum, wie Arendt in Vom Leben des Geistes beschreibt, in ein „solipsistisches“ Grauen, das heißt in die Verlas-senheit und Isolierung in seinem eigenen – willkürlichen – Willen (Vom Leben , 422).

Diese traditionelle, philosophische Reduktion der menschlichen Frei-heit auf den solipsistischen Willen verkennt nach Arendt, dass der Menschein bedingtes und auf andere angewiesenes Lebewesen ist.

In Vita activa (14 ff.) definiert Arendt diese Angewiesenheit in dreifa-cher Weise als Bedingtheit des Menschen. Der Mensch ist bedingt durchNatur, Welt und Mitmensch, und zwar derart, dass er diese Bedingungenselber mitkonstituiert und sich zu ihnen verhält. „Natürlich“ verhält ersich in den Tätigkeitsformen von Arbeit und einverleibendem Konsum,„technisch“ im Herstellen und Gebrauchen von Gütern und „politisch“ imzwischenmenschlichen Handeln. Jeder Tätigkeitstyp realisiert somit einenbestimmten Aspekt der menschlichen Existenz.

Und Arendt selber? Charakterisierend für ihr Denken ist ihre Entschei-dung, sich mit dem Dilemma der Freiheit auseinander zu setzen. Die Ein-sicht in die kontingente Abgründigkeit der Freiheit ändert ihrer Ansichtnach nichts an der Erkenntnis, dass Freiheit zugleich höchster Ausdruckdes menschlich Sinnhaften sei. Diese Einsicht ist der Ausgangspunkt ihrerphilosophischen Frage nach der Denkmöglichkeit von Freiheit. Diese

Denkmöglichkeit bewährt sich daran, dass sie der Herausforderung der

Kontingenz Rechnung trägt. Gesucht ist eine positive Form der Freiheit,die ihre eigene Destruktivität binden kann, indem sie „ein Prinzip in sichbirgt, durch das die Willkür ferngehalten wird“ (Revolution, 274).

Diese Formulierung zeigt, dass Arendt Kontingenz nicht als absolutpositiven Begriff versteht. Sinnhaft, so wird zu zeigen sein, ist für sie Frei-heit oder Kontingenz nur insofern, als in ihr die Willkür gebunden werdenkann, ohne dass sich damit Freiheit aufhebt.

Arendt unternimmt zur Klärung dieser ‘Bändigung’ einen ersten Schrittin der Analyse der negativen Fehlform des Freiheitsbegriffs als absolute

Willkür.

3. Kritik der souveränen Freiheit

Die Einsicht darin, wie sich Freiheit in ihr Gegenteil verkehrt und selbstmissversteht, gewinnt Arendt in Elemente und Ursprünge aus der Ge-schichte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Sie rekonstruiert im

Rückgriff auf Hobbes’ Begriff der Handlungsfreiheit die Geschichte der

Moderne als destruktive Dynamik der Machtsteigerung. Das heißt: Wenndie Freiheit des Individuums darin besteht, dass es Handlungen souverän,ohne äußere Einschränkung durch andere, realisieren kann, dann impliziertder Freiheitswille den Willen zur Macht (über andere), der letztlich in eineleere und tendenziell grenzenlose Akkumulation von Macht mündet. Diesegrenzenlose Akkumulation der Macht um einer souveränen Handlungs-freiheit willen ist nach Arendt sowohl das Grundprinzip des Imperialismusdes 19.Jahrhunderts wie auch des bürgerlichen Kapitalismus, die sich indieser gemeinsamen Dynamik gegenseitig stützen und antreiben.7Beidemünden in ein Verständnis der Politik als Ideologie, das heißt in die politi-sche Idee, historische Prozesse und Ereignisse berechenbar zu machen

(Elemente, 718). Das ideologische Planen und Berechnen bedeutet das Ver-fügen über die Freiheit der anderen. Entscheidend ist für Arendt, dass die-ses Verfügen letztlich der Souveränität eines Einzelnen entgleitet und dieMachterhaltung zu einem Sachzwang wird, der auch die „Ideologen“ und„Gewalttäter“ selber systematisch „überflüssig“ mach (Elemente, 702).

Bedeutsam für die philosophische Kritik des Freiheitsbegriffs wird dieAnalyse an dem Punkt, an dem Arendt eine systematische Verknüpfungvon Totalitarismus, Ideologie und instrumentellem Denken herstellt. Diesephilosophische Wende ist in den Nachlass-Texten des so genannten Denk- tagebuches nachvollziehbar.

Arendt erkennt, dass instrumentelles Denken einer Verfügungslogik ge-horcht, die dem Tätigkeitstypus des „Herstellen“ entspricht (Denktage- buch , 46 f.). Im Herstellen ist das Subjekt souverän, insofern es über An-fang und Ende seiner Tätigkeit absolut verfügen kann. Dieses Modell des homo faber wurde nach Arendt in der philosophischen Tradition zum Mo-dell des Menschen an sich, das heißt „des“ Menschen als solipsistisches,wesentlich selbstgenügsames Wesen. Souveränitätsdenken und Verfü-gungsmacht treffen sich im philosophischen Solipsismus (Denktagebuch, 54) – im Denken des Menschen als isoliertes und unabhängiges Individu-um. Aus der Sicht der Philosophie „des“ Menschen sind alle anderen Men-schen latent bedrohlich, weil sie dasjenige repräsentieren, was die Souve-ränität des Individuums einzuschränken droht. Der Mitmensch ist keiner,der gibt, sondern nur einer, der nimmt. Arendt vertieft diese Einsicht,indem sie das Wesen des Solipsismus am Willensbegriff festmacht. In Aus-einandersetzung mit Hegel hält sie fest: „Die Philosophie des Menschenendet bei der Willensphilosophie, weil in der Tat nur der Wille sich selbstwollen kann oder ‘sich auf nichts als sich selbst bezieht’“ (Denktagebuch, 84). Damit wandert die kontingente Willkür in den innersten Begriff desMenschen selber. Er stößt das Individuum, wie Arendt in Vom Leben des Geistes beschreibt, in ein „solipsistisches“ Grauen, das heißt in die Verlas-senheit und Isolierung in seinem eigenen – willkürlichen – Willen (Vom Leben , 422).

Diese traditionelle, philosophische Reduktion der menschlichen Frei-heit auf den solipsistischen Willen verkennt nach Arendt, dass der Menschein bedingtes und auf andere angewiesenes Lebewesen ist.

In Vita activa (14 ff.) definiert Arendt diese Angewiesenheit in dreifa-cher Weise als Bedingtheit des Menschen. Der Mensch ist bedingt durchNatur, Welt und Mitmensch, und zwar derart, dass er diese Bedingungenselber mitkonstituiert und sich zu ihnen verhält. „Natürlich“ verhält ersich in den Tätigkeitsformen von Arbeit und einverleibendem Konsum,„technisch“ im Herstellen und Gebrauchen von Gütern und „politisch“ imzwischenmenschlichen Handeln. Jeder Tätigkeitstyp realisiert somit einenbestimmten Aspekt der menschlichen Existenz.

Arbeit und Konsum identifiziert Arendt mit dem Bereich der Notwen-digkeit, dem bloßen Überleben und der biologischen Reproduktion, wieer sich etwa im repetitiven Zyklus der Hausarbeit niederschlägt. In Arbeitund Konsum zeigt sich der Mensch abhängig und privatisiert. Weil jeder

Mensch als Gattungswesen dieselben natürlichen Bedürfnisse befriedigt,gibt es im Reich der Arbeit keine Individualität, sondern nur atomisierte

Privatheit.8Gerade das Umgekehrte gilt im Bereich der künstlichen Her- stellung . Hier äußert sich der „souveräne“ solipsistische Mensch, dessenproduktiver Wille sich im Umgang mit gegenständlichen Objekten ohne

Schranken entfalten kann. Im Herstellen ist der Mensch souverän. Aus-druck dieser Souveränität ist nach Arendt die technisch erzeugte Welt,aber auch künstlerische Produktionen und teilweise das Denken. Das

Denken ist insofern souverän, als sich ein denkendes Individuum in eineinsames Selbstgespräch zurückziehen und über sein Denken „verfügen“kann, allerdings ist das Denken, insofern es an Sprache gebunden ist,durch Mitteilbarkeit und Öffentlichkeit konstituiert und darin geradenicht solipsistisch verfasst.9 Handeln schließlich ist Ausdruck der spezifischzwischenmenschlichen Angewiesenheit. Handeln konstituiert den Bereichvon Politik und Geschichte. Es ist dieses zwischenmenschliche Handeln,das den Einzelnen nach Arendt allererst individuiert.

Was der Mensch sei, realisiert sich, wie Arendt in Vita activa ausführt,erst und nur in seinem Handeln. Sein und Handeln fallen im Menschen ineins, das heißt, die personale Identität, das „Wer-einer-ist“ (Vita, 167), zeigtsich prozesshaft im Zusammensein mit anderen Menschen.

Die These einer prozesshaft erzeugten Identität ist das Gegenteil einessolipsistischen, substantialistisch-statischen Subjektbegriffs. Arendts Iden-titätsbegriff wurde darum von der postmodernen feministischen Theorieals zentraler Gedanke aufgegriffen und als „performatives“10respektive

„narratives“11Konstruktionsprinzip interpretiert. Mit Arendts prozesshaf-tem Identitätsbegriff lässt sich die Kontingenz geschlechtlicher Identitätenbetonen und als kritisches Argument gegen Naturalisierungsversuche ein-setzen. Ob Arendt allerdings Identität tatsächlich konsequent performativansetzt oder ob sie an einem substantiellen Kern von Subjektivität fest-hält, der allem Handeln nicht nur vorausliegt, sondern auch unverfügbarbleibt, lässt sich nicht abschließend beantworten. Sicher ist, dass Arendtdavon ausgeht, dass jedes Subjekt Bedingungen vorfindet, die es nicht sel-ber handelnd miterschafft – darin liegt ja gerade die Pointe der mensch-lichen Angewiesenheit auf Natur, Welt und Mitwelt. Zu diesem „Vorgege-benen“ gehört für Arendt ihre weibliche Identität und ihr Judentum, diesie – in einem Brief an Gershom Scholem – als „gegeben und nicht ge-macht“ (Auschwitz, 72) bezeichnet. Allerdings bleibt offen, ob Arendt die-ses individuell Vorgegebene bloß historisiert – analog zum feministischen„gender“-Begriff, der Weiblichkeit als historisch tradierte soziale Rolle de-finiert, die dem einzelnen Individuum vorgelagert ist – oder ob sie diesesGegebene – im Sinne des biologischen „sex“-Begriffs – naturalisiert unddamit grundsätzlich dem Handlungsbereich entzieht.12

Wie aber kann sich eine Identität „handelnd“ realisieren, ohne dass sievom Einzelnen „hergestellt“ wird?

4. Das Ereignis der Pluralität und seine bindende Macht

Wenn Freiheit nicht hergestellt werden kann respektive wenn jedes Ver-fügungsdenken das wesentlich Sinnhafte an der menschlichen Freiheitverfehlt, dann kann Freiheit nur ein Ereignis sein, das heißt etwas, das sichder Planbarkeit eines Einzelnen entzieht. „Die Quelle der Freiheit, die sichals Spontaneität […] äußert, ist das Ereignis“ (Denktagebuch, 94), schreibtArendt 1951 im Denktagebuch und nimmt damit Bezug auf Heidegger:„Nach Heidegger müßte der Mensch das Ereignis des Seins sein. Dieskönnte klären den Ereignis-Charakter des menschlichen Lebens wie dermenschlichen Geschichte“ (Denktagebuch, 68).

Arendts entscheidende Einsicht gegenüber Heidegger liegt darin, dasssie den unverfügbaren Ereignischarakter der Freiheit nicht an das Sein,sondern an das „Beisammensein“ (Denktagebuch, 118), das heißt an diePluralität der Menschen bindet.13Diese menschliche Gemeinschaft, auf

Arbeit und Konsum identifiziert Arendt mit dem Bereich der Notwen-digkeit, dem bloßen Überleben und der biologischen Reproduktion, wieer sich etwa im repetitiven Zyklus der Hausarbeit niederschlägt. In Arbeitund Konsum zeigt sich der Mensch abhängig und privatisiert. Weil jederMensch als Gattungswesen dieselben natürlichen Bedürfnisse befriedigt,gibt es im Reich der Arbeit keine Individualität, sondern nur atomisiertePrivatheit.8Gerade das Umgekehrte gilt im Bereich der künstlichen Her- stellung . Hier äußert sich der „souveräne“ solipsistische Mensch, dessenproduktiver Wille sich im Umgang mit gegenständlichen Objekten ohneSchranken entfalten kann. Im Herstellen ist der Mensch souverän. Aus-druck dieser Souveränität ist nach Arendt die technisch erzeugte Welt,aber auch künstlerische Produktionen und teilweise das Denken. Das Denken ist insofern souverän, als sich ein denkendes Individuum in eineinsames Selbstgespräch zurückziehen und über sein Denken „verfügen“kann, allerdings ist das Denken, insofern es an Sprache gebunden ist,durch Mitteilbarkeit und Öffentlichkeit konstituiert und darin geradenicht solipsistisch verfasst.9 Handeln schließlich ist Ausdruck der spezifischzwischenmenschlichen Angewiesenheit. Handeln konstituiert den Bereichvon Politik und Geschichte. Es ist dieses zwischenmenschliche Handeln,das den Einzelnen nach Arendt allererst individuiert.

Was der Mensch sei, realisiert sich, wie Arendt in Vita activa ausführt,erst und nur in seinem Handeln. Sein und Handeln fallen im Menschen ineins, das heißt, die personale Identität, das „Wer-einer-ist“ (Vita, 167), zeigtsich prozesshaft im Zusammensein mit anderen Menschen.

Die These einer prozesshaft erzeugten Identität ist das Gegenteil einessolipsistischen, substantialistisch-statischen Subjektbegriffs. Arendts Iden-titätsbegriff wurde darum von der postmodernen feministischen Theorieals zentraler Gedanke aufgegriffen und als „performatives“10respektive„narratives“11Konstruktionsprinzip interpretiert. Mit Arendts prozesshaf-tem Identitätsbegriff lässt sich die Kontingenz geschlechtlicher Identitätenbetonen und als kritisches Argument gegen Naturalisierungsversuche ein-setzen. Ob Arendt allerdings Identität tatsächlich konsequent performativansetzt oder ob sie an einem substantiellen Kern von Subjektivität fest-hält, der allem Handeln nicht nur vorausliegt, sondern auch unverfügbarbleibt, lässt sich nicht abschließend beantworten. Sicher ist, dass Arendtdavon ausgeht, dass jedes Subjekt Bedingungen vorfindet, die es nicht sel-ber handelnd miterschafft – darin liegt ja gerade die Pointe der mensch-lichen Angewiesenheit auf Natur, Welt und Mitwelt. Zu diesem „Vorgege-benen“ gehört für Arendt ihre weibliche Identität und ihr Judentum, diesie – in einem Brief an Gershom Scholem – als „gegeben und nicht ge-macht“ (Auschwitz, 72) bezeichnet. Allerdings bleibt offen, ob Arendt die-ses individuell Vorgegebene bloß historisiert – analog zum feministischen„gender“-Begriff, der Weiblichkeit als historisch tradierte soziale Rolle de-finiert, die dem einzelnen Individuum vorgelagert ist – oder ob sie diesesGegebene – im Sinne des biologischen „sex“-Begriffs – naturalisiert unddamit grundsätzlich dem Handlungsbereich entzieht.12

Wie aber kann sich eine Identität „handelnd“ realisieren, ohne dass sievom Einzelnen „hergestellt“ wird?

4. Das Ereignis der Pluralität und seine bindende Macht

Wenn Freiheit nicht hergestellt werden kann respektive wenn jedes Ver-fügungsdenken das wesentlich Sinnhafte an der menschlichen Freiheitverfehlt, dann kann Freiheit nur ein Ereignis sein, das heißt etwas, das sichder Planbarkeit eines Einzelnen entzieht. „Die Quelle der Freiheit, die sichals Spontaneität […] äußert, ist das Ereignis“ (Denktagebuch, 94), schreibtArendt 1951 im Denktagebuch und nimmt damit Bezug auf Heidegger:„Nach Heidegger müßte der Mensch das Ereignis des Seins sein. Dieskönnte klären den Ereignis-Charakter des menschlichen Lebens wie dermenschlichen Geschichte“ (Denktagebuch, 68).

Arendts entscheidende Einsicht gegenüber Heidegger liegt darin, dasssie den unverfügbaren Ereignischarakter der Freiheit nicht an das Sein,sondern an das „Beisammensein“ (Denktagebuch, 118), das heißt an diePluralität der Menschen bindet.13Diese menschliche Gemeinschaft, aufdie jeder Mensch existenziell angewiesen ist, „gibt“ es nicht dinghaft. Sieist kein Gegenstand, sondern ein Verhältnis. Arendt bestimmt deren Me-dien zweifach: als Erscheinungsraum Sprechen und als Ergebnis von und

Handeln . Das heißt, Kommunikation braucht einen öffentlichen Erschei-nungsraum und (öffentliches) Handeln die Sprachlichkeit.14

Was aber ist darunter zu verstehen? Arendts phänomenalistische These,wonach „Sein und Erscheinen dasselbe“ (Geist, 29) seien, und ihre domi-nante Theatermetaphorik in Vita activa legen nahe, freies Handeln als einetheatralische Performanz zu interpretieren, die sich auf der „Bühne der

Öffentlichkeit“ abspielt. Diese Verherrlichung öffentlich inszenierter Auf-tritte wurde von vielen Feministinnen als männlich konnotiert kritisiert.15

Der Hinweis auf die Öffentlichkeit meint aber möglicherweise etwas an-deres und Entscheidendes in zwischenmenschlichen Beziehungen, das aufdie Intuition zurückgeht, dass nicht jede Mitteilung Ausdruck eines Han-delns ist, das mit dem Sprechenden „etwas zu tun“ hat und seine existen-zielle Freiheit realisiert.

Die Bedeutung der Öffentlichkeit als Erscheinungsraum könnte darinliegen, dass sich der Sprechende überhaupt als ein solcher zu erkennengibt und sich exponiert. Das bedeutet, dass sie oder er sich sowohl „sel-ber“ am Gespräch beteiligt wie auch etwas „Eigenes“ zu sagen hat.16

Damit daraus eine Kommunikation wird, muss mit dem Aussprechen zu-gleich jemand angesprochen werden. Arendt analysiert in Vita activa, wiedaraus ein doppeltes Bezugsgewebe zwischen Menschen entsteht: ein

„erstes Zwischen“ der Sachbezüge und ein „zweites Zwischen“, in demsich Menschen „direkt, über die Sachen, welche den jeweiligen Gegen-stand bilden, hinweg aneinander richten und sich gegenseitig ansprechen“

(Vita, 173). Bildhaft gesprochen erscheint die verhandelte Sache wie ein

„runder Tisch“, an den sich Menschen zur Besprechung setzen und der siesowohl trennt als auch verbindet. Sich um den runden Tisch zu setzenheißt, über miteinander etwas verhandeln und verhandeln. Kommunikati-ves Handeln ist also nicht nur ein unmittelbares Verhältnis der personalenAnerkennung, sondern immer auch ein mediales Verhältnis der sachlichenAuseinandersetzung mit etwas Drittem.17

Zwischenmenschliche Pluralität bleibt also insofern ein Ereignis, als siedurch keinen Einzelnen erzwungen werden kann. Der Raum der Öffent-lichkeit konstituiert sich nur und solange, als sich Menschen miteinandersprechend und handelnd auseinander setzen. Wenn diese Auseinanderset-zung verstummt und versiegt, heißt das, dass die Gemeinsamkeit ihre Macht verloren hat.

In Vita activa Macht und Gewalt und in wird „Macht“ definiert als Aus-druck des gemeinsamen Handelns. Das Gegenteil der handelnden Machtist instrumentelle „Gewalt“. Arendt greift in der Dichotomie von Machtund Gewalt den Gegensatz von Handeln und Herstellen, von Freiheit undSouveränität auf. „Der Extremfall der Macht ist gegeben in der Konstella-tion: Alle gegen Einen, der Extremfall der Gewalt in der Konstellation:Einer gegen Alle. Und das letztere ist ohne Werkzeuge, d.h. ohne Gewalt-mittel niemals möglich“ (Machtals, 43). Ein Einzelner hat nur scheinbar Einzelner Macht. In Wahrheit ist jede individuelle Handlungsmacht Aus-druck einer Ermächtigung durch andere. Sobald diese Unterstützung undErmächtigung fehlt, kann sich der Einzelne nur noch mit Gewaltmittelndurchsetzen. Gewalt ist somit gerade der Indikator für fehlende Macht.„Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppeund bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält“ (Macht, 45).

Arendts Unterscheidung von Macht und Gewalt bricht mit der Tradi-tion der Machttheorien von der Antike bis zu Max Weber, die Macht undGewalt strukturanalog gedacht hat, das heißt, die unterstellt, „daß Gewaltnichts weiter ist als die eklatanteste Manifestation von Macht“ (Macht,36). Arendts Ansatz impliziert einen radikalen Paradigmenwechsel, inso-fern er auf jenes spezifische, „zwischenmenschliche“ Moment in einemMachtverhältnis rekurriert, das dem Handeln seine „Wirkung“ gibt.Indem sie dieses Moment als „konsensuelles“ erkennt, ist der systemati-sche Gegensatz von Macht und Gewalt beschlossen. Macht ist Ausdruckfreiwilliger Unterstützung und wächst proportional zur Freiheit aller Be-teiligten, während Gewalt sich den Gehorsam erzwingt und dadurch dieFreiheit der Unterworfenen negiert.die jeder Mensch existenziell angewiesen ist, „gibt“ es nicht dinghaft. Sieist kein Gegenstand, sondern ein Verhältnis. Arendt bestimmt deren Me-dien zweifach: als Erscheinungsraum Sprechen und als Ergebnis von und

Handeln . Das heißt, Kommunikation braucht einen öffentlichen Erschei-nungsraum und (öffentliches) Handeln die Sprachlichkeit.14

Was aber ist darunter zu verstehen? Arendts phänomenalistische These,wonach „Sein und Erscheinen dasselbe“ (Geist, 29) seien, und ihre domi-nante Theatermetaphorik in Vita activa legen nahe, freies Handeln als einetheatralische Performanz zu interpretieren, die sich auf der „Bühne der

Öffentlichkeit“ abspielt. Diese Verherrlichung öffentlich inszenierter Auf-tritte wurde von vielen Feministinnen als männlich konnotiert kritisiert.15

Der Hinweis auf die Öffentlichkeit meint aber möglicherweise etwas an-deres und Entscheidendes in zwischenmenschlichen Beziehungen, das aufdie Intuition zurückgeht, dass nicht jede Mitteilung Ausdruck eines Han-delns ist, das mit dem Sprechenden „etwas zu tun“ hat und seine existen-zielle Freiheit realisiert.

Die Bedeutung der Öffentlichkeit als Erscheinungsraum könnte darinliegen, dass sich der Sprechende überhaupt als ein solcher zu erkennengibt und sich exponiert. Das bedeutet, dass sie oder er sich sowohl „sel-ber“ am Gespräch beteiligt wie auch etwas „Eigenes“ zu sagen hat.16

Damit daraus eine Kommunikation wird, muss mit dem Aussprechen zu-gleich jemand angesprochen werden. Arendt analysiert in Vita activa, wiedaraus ein doppeltes Bezugsgewebe zwischen Menschen entsteht: ein

„erstes Zwischen“ der Sachbezüge und ein „zweites Zwischen“, in demsich Menschen „direkt, über die Sachen, welche den jeweiligen Gegen-stand bilden, hinweg aneinander richten und sich gegenseitig ansprechen“

(Vita, 173). Bildhaft gesprochen erscheint die verhandelte Sache wie ein

„runder Tisch“, an den sich Menschen zur Besprechung setzen und der siesowohl trennt als auch verbindet. Sich um den runden Tisch zu setzenheißt, über miteinander etwas verhandeln und verhandeln. Kommunikati-ves Handeln ist also nicht nur ein unmittelbares Verhältnis der personalenAnerkennung, sondern immer auch ein mediales Verhältnis der sachlichenAuseinandersetzung mit etwas Drittem.17

Zwischenmenschliche Pluralität bleibt also insofern ein Ereignis, als siedurch keinen Einzelnen erzwungen werden kann. Der Raum der Öffent-lichkeit konstituiert sich nur und solange, als sich Menschen miteinandersprechend und handelnd auseinander setzen. Wenn diese Auseinanderset-zung verstummt und versiegt, heißt das, dass die Gemeinsamkeit ihre Macht verloren hat.

In Vita activa Macht und Gewalt und in wird „Macht“ definiert als Aus-druck des gemeinsamen Handelns. Das Gegenteil der handelnden Machtist instrumentelle „Gewalt“. Arendt greift in der Dichotomie von Machtund Gewalt den Gegensatz von Handeln und Herstellen, von Freiheit undSouveränität auf. „Der Extremfall der Macht ist gegeben in der Konstella-tion: Alle gegen Einen, der Extremfall der Gewalt in der Konstellation:Einer gegen Alle. Und das letztere ist ohne Werkzeuge, d.h. ohne Gewalt-mittel niemals möglich“ (Machtals, 43). Ein Einzelner hat nur scheinbar Einzelner Macht. In Wahrheit ist jede individuelle Handlungsmacht Aus-druck einer Ermächtigung durch andere. Sobald diese Unterstützung undErmächtigung fehlt, kann sich der Einzelne nur noch mit Gewaltmittelndurchsetzen. Gewalt ist somit gerade der Indikator für fehlende Macht.„Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppeund bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält“ (Macht, 45).

Arendts Unterscheidung von Macht und Gewalt bricht mit der Tradi-tion der Machttheorien von der Antike bis zu Max Weber, die Macht undGewalt strukturanalog gedacht hat, das heißt, die unterstellt, „daß Gewaltnichts weiter ist als die eklatanteste Manifestation von Macht“ (Macht,36). Arendts Ansatz impliziert einen radikalen Paradigmenwechsel, inso-fern er auf jenes spezifische, „zwischenmenschliche“ Moment in einemMachtverhältnis rekurriert, das dem Handeln seine „Wirkung“ gibt.Indem sie dieses Moment als „konsensuelles“ erkennt, ist der systemati-sche Gegensatz von Macht und Gewalt beschlossen. Macht ist Ausdruckfreiwilliger Unterstützung und wächst proportional zur Freiheit aller Be-teiligten, während Gewalt sich den Gehorsam erzwingt und dadurch dieFreiheit der Unterworfenen negiert.

Jürgen Habermas hat dieses konsensuelle Element der Macht zur Basiseiner Diskursethik gemacht. Bei Arendt bleibt dieser Schritt ungetan. Sieist insofern radikaler als Habermas, als sie die Macht – das heißt die Er-mächtigung durch den Konsens – nicht noch einmal bestimmten prozedu-ralen Bedingungen unterwirft, sondern ihm den spontanen Ereignis-charakter belässt. Der Preis für dieses starke Ereignis-Denken ist eineschwache Sensibilität für strukturelle Gewalt. Dass Arendt die möglichenverzerrenden Bedingungen, unter denen sich Gruppenkonsens herstellt,aus ihrer Reflexion ausblendet, wurde ihr teilweise als idealistische Ver-kürzung des Machtbegriffs vorgeworfen.18Die Geschichte scheint reich an

Beispielen dafür, dass ein Konsens in Wahrheit bloß Zwangsverhältnisseund Abhängigkeiten reproduziert. In Elemente und Ursprünge analysiert

Arendt selber in diesem Sinn, inwiefern die Gleichschaltung der Bevölke-rung zu einer zentralen Bedingung des nationalsozialistischen Totalita-rismus wurde. Dass Arendt trotz dieser Einsicht in die Ambivalenz

„gleichgeschalteter“ Meinungen die Klärung der prozeduralen Bedingun-gen des „wahren“ Konsens schuldig bleibt, liegt daran, dass der Konsensfür sie kein Selbstzweck ist. Macht ist nicht darum positiv, weil sie Aus-druck eines „Konsens“ ist, sondern nur insofern, als sie Freiheit realisiert.

Freiheit kann aber gerade nicht prozedural hergeleitet werden.

Damit bleibt die durch Pluralität gebundene Freiheit insofern kontin-gent, als sie letztlich von keinem historischen oder transzendenten Gesetzableitbar ist. Die Macht des gemeinsamen Handelns ist ein spontanes Er-eignis, das unter kontingenten Bedingungen zustande kommt und ebensokontingent wieder verschwinden kann. Jenseits kommunikativer Regelnund Prozeduren bleibt diese Freiheit ein riskiertes Ereignis, ein möglicher

Abgrund und gleichzeitig dasjenige, was dank der Anerkennung der kon-tingenten Pluralität den Abgrund der Willkür überspringen lässt. Auf die-ses Prinzip der anerkannten Pluralität gründet sich letztlich Arendts Hoff-nung, dass es möglich sei, Freiheit zu erhalten und Willkür zu bändigen.

Problematisch erscheint nun, dass Arendt diese Figur der positiven Frei-heit nicht nur denkbar macht, sondern auch als ontologisch und historischverwirklicht zu begründen versucht. Damit transformiert sich ihr kriti-sches in ein affirmatives Denken, das heißt, der Begriff der positiven Frei-heit wird von einer traditionskritischen zu einer historisch-affirmativen

Kategorie.

5. Der Begriff des Anfangs und die Aporie seiner politischen Gründung

Der Sinn der menschlichen Freiheit liegt nach Arendt darin, dass in ihrdie menschliche Individualität so zum Ausdruck kommt, dass sie andereIndividualitätsformen nicht unterdrückt, sondern im Gegenteil anregt undstimuliert. Wir können uns die Arendt’sche Welt idealiter vorstellen alseinen Kosmos voller Differenzierungen und Überraschungen und einerGeschichte, die sich wie ein farbiges Kaleidoskop dreht und bei jederWendung neue Lebensformen, Kulturen und Identitäten kristallisiert.Diese Vielfalt persönlich und politisch zu realisieren, darin liegt fürArendt der Sinn der Menschen.

Aber ist diese Vielfalt überhaupt möglich? Und ist sie schon je wirklichgeworden?19Auf diese Frage antwortet Arendt eindeutig mit Ja und re-kurriert dazu auf ein theologisches Motiv – die Rechtfertigung der Weltund des Menschen aus dem „Anfang“: „damit ein Anfang sei, wurde derMensch geschaffen“ (Elemente, 730). Dieser Satz von Augustinus, denArendt in beinahe allen ihren Werken zitiert, kann in seiner Bedeutungfür ihr Denken schwerlich überschätzt werden. Der Anfang ist dasjenige,was die Menschen erlöst rechtfertigtund , denn „der Anfang, der das Prin-zip für alles Folgende in sich birgt, ist auch ein Gott; solange er unter denMenschen weilt, ist alles geborgen“ (Revolutiontheologisch-, 274). Der metaphysische Begriff des „Anfangs“ scheint insofern die ontologische Be- gründung für Arendts politische und existenzielle Philosophie zu sein,durch die das Kontingente des Menschen in einem höheren Sinn gerecht-fertigt wird. Das Prinzip des Anfangs erscheint als religiöses Versprechender Erlösung: „Daß man in der Welt Vertrauen haben und daß man für dieWelt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrücktals in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien ‘die frohe Bot-schaft’ verkünden: ‘Uns ist ein Kind geboren’“ (Vita, 243).

Arendt verbindet das Versprechen des Anfangs mit dem Begriff der„Natalität“ (Vita, 15), das heißt dem anthropologischen Faktum der Ge-bürtlichkeit, das die Fähigkeit, einen Anfang machen zu können, bedingt.20Jürgen Habermas hat dieses konsensuelle Element der Macht zur Basiseiner Diskursethik gemacht. Bei Arendt bleibt dieser Schritt ungetan. Sieist insofern radikaler als Habermas, als sie die Macht – das heißt die Er-mächtigung durch den Konsens – nicht noch einmal bestimmten prozedu-ralen Bedingungen unterwirft, sondern ihm den spontanen Ereignis-charakter belässt. Der Preis für dieses starke Ereignis-Denken ist eineschwache Sensibilität für strukturelle Gewalt. Dass Arendt die möglichenverzerrenden Bedingungen, unter denen sich Gruppenkonsens herstellt,aus ihrer Reflexion ausblendet, wurde ihr teilweise als idealistische Ver-kürzung des Machtbegriffs vorgeworfen.18Die Geschichte scheint reich an

Beispielen dafür, dass ein Konsens in Wahrheit bloß Zwangsverhältnisseund Abhängigkeiten reproduziert. In Elemente und Ursprünge analysiert

Arendt selber in diesem Sinn, inwiefern die Gleichschaltung der Bevölke-rung zu einer zentralen Bedingung des nationalsozialistischen Totalita-rismus wurde. Dass Arendt trotz dieser Einsicht in die Ambivalenz

„gleichgeschalteter“ Meinungen die Klärung der prozeduralen Bedingun-gen des „wahren“ Konsens schuldig bleibt, liegt daran, dass der Konsensfür sie kein Selbstzweck ist. Macht ist nicht darum positiv, weil sie Aus-druck eines „Konsens“ ist, sondern nur insofern, als sie Freiheit realisiert.

Freiheit kann aber gerade nicht prozedural hergeleitet werden.

Damit bleibt die durch Pluralität gebundene Freiheit insofern kontin-gent, als sie letztlich von keinem historischen oder transzendenten Gesetzableitbar ist. Die Macht des gemeinsamen Handelns ist ein spontanes Er-eignis, das unter kontingenten Bedingungen zustande kommt und ebensokontingent wieder verschwinden kann. Jenseits kommunikativer Regelnund Prozeduren bleibt diese Freiheit ein riskiertes Ereignis, ein möglicher

Abgrund und gleichzeitig dasjenige, was dank der Anerkennung der kon-tingenten Pluralität den Abgrund der Willkür überspringen lässt. Auf die-ses Prinzip der anerkannten Pluralität gründet sich letztlich Arendts Hoff-nung, dass es möglich sei, Freiheit zu erhalten und Willkür zu bändigen.

Problematisch erscheint nun, dass Arendt diese Figur der positiven Frei-heit nicht nur denkbar macht, sondern auch als ontologisch und historischverwirklicht zu begründen versucht. Damit transformiert sich ihr kriti-sches in ein affirmatives Denken, das heißt, der Begriff der positiven Frei-heit wird von einer traditionskritischen zu einer historisch-affirmativen

Kategorie.

5. Der Begriff des Anfangs und die Aporie seiner politischen Gründung

Der Sinn der menschlichen Freiheit liegt nach Arendt darin, dass in ihrdie menschliche Individualität so zum Ausdruck kommt, dass sie andereIndividualitätsformen nicht unterdrückt, sondern im Gegenteil anregt undstimuliert. Wir können uns die Arendt’sche Welt idealiter vorstellen alseinen Kosmos voller Differenzierungen und Überraschungen und einerGeschichte, die sich wie ein farbiges Kaleidoskop dreht und bei jederWendung neue Lebensformen, Kulturen und Identitäten kristallisiert.Diese Vielfalt persönlich und politisch zu realisieren, darin liegt fürArendt der Sinn der Menschen.

Aber ist diese Vielfalt überhaupt möglich? Und ist sie schon je wirklichgeworden?19Auf diese Frage antwortet Arendt eindeutig mit Ja und re-kurriert dazu auf ein theologisches Motiv – die Rechtfertigung der Weltund des Menschen aus dem „Anfang“: „damit ein Anfang sei, wurde derMensch geschaffen“ (Elemente, 730). Dieser Satz von Augustinus, denArendt in beinahe allen ihren Werken zitiert, kann in seiner Bedeutungfür ihr Denken schwerlich überschätzt werden. Der Anfang ist dasjenige,was die Menschen erlöst rechtfertigtund , denn „der Anfang, der das Prin-zip für alles Folgende in sich birgt, ist auch ein Gott; solange er unter denMenschen weilt, ist alles geborgen“ (Revolutiontheologisch-, 274). Der metaphysische Begriff des „Anfangs“ scheint insofern die ontologische Be- gründung für Arendts politische und existenzielle Philosophie zu sein,durch die das Kontingente des Menschen in einem höheren Sinn gerecht-fertigt wird. Das Prinzip des Anfangs erscheint als religiöses Versprechender Erlösung: „Daß man in der Welt Vertrauen haben und daß man für dieWelt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrücktals in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien ‘die frohe Bot-schaft’ verkünden: ‘Uns ist ein Kind geboren’“ (Vita, 243).

Arendt verbindet das Versprechen des Anfangs mit dem Begriff der„Natalität“ (Vita, 15), das heißt dem anthropologischen Faktum der Ge-bürtlichkeit, das die Fähigkeit, einen Anfang machen zu können, bedingt.20Dieses Faktum der Natalität ist der Grund, nicht das Ergebnis der han-delnden Individualität, das heißt: „Weil er ein Neuer ist, kann er etwasNeues anfangen“ (Revolution, 272). Arendt will damit – gegen Heideggerund die philosophische Tradition – das Primat der Mortalität für das Den-ken des Menschseins aufbrechen und positiv und lebensbejahend wenden.

Vielleicht ist es dieses affirmative Vertrauen darauf, dass wahre Anfängeimmer schon wirklich sind, das Arendt dazu verführt, Politik auf das Er-eignis der Freiheit zu reduzieren. Der Sinn der Politik liegt für sie einzigdarin, ein Anfang zu sein und neue und zukünftige Anfänge zu begründen.In Über die Revolution identifiziert Arendt einen solchen politischen An-fang mit der amerikanischen Revolution, die selber ein Freiheitsereignissei und zukünftige Freiheit um ihrer selbst willen gegründet habe. Geradedieses Beispiel zeigt jedoch die Problematik von Arendts Interesse aneiner sich selbst begründenden Freiheitspolitik. Tatsächlich brachte dieamerikanische Revolution ja Freiheit nur für einige und beruhte historischauf dem Genozid und der Sklaverei von vielen. Dass Arendt diese Zu-sammenhänge ausblendet, zeigt, dass es ihr darum geht, politische Freiheitso zu denken, dass sie mit der unbedingten Spontaneität des „Anfangs“strukturanalog wird und an dessen Emphase als ‘Erlösungsfigur’ partizi-pieren kann.21

Nicht jedes Handeln, das sich im Erscheinungsraum der Öffentlichkeitereignet, ist ein politischer Anfang. Politische Anfänge sind nur jene, dieihrerseits Anfänge begründen können – die also zwischenmenschliche Be-ziehungen nachhaltig offen und beweglich halten. Arendt behauptet indiesem Sinn, dass Revolutionen die Gründung einer „neuen Ordnung derZeiten“ (Geist, 342 u. 442) seien. Sie brechen verfügende Verfestigungenund repetitive Zwänge auf und öffnen den Raum für die Fragilität desHandelns.22Damit realisieren sich politische Anfänge durch die Gestal-tung menschlicher Zeit.23

Die paradoxe Formulierung einer „gründenden Öffnung“ kann ver-deutlichen, worin die Problematik von Arendts Politikbegriff liegt. Er sollFreiheit begründen, aber nicht „herstellend“ oder „verfügend“, sondernseinerseits „spontan“ und „anfänglich“. Der politische Akt der Freiheits-gründung muss so ständig handelnd reaktualisiert werden, damit seineSpontaneität lebendig bleibt und sich nicht institutionell verfestigt. Politiktendiert bei Arendt letztlich zur permanenten Revolution. Problematischdaran erscheint nicht die temporale Aporie der Freiheitsgründung. ImGegenteil: Sie erfasst präzis, was es überhaupt bedeutet, von politischen Anfängen zu sprechen. Diese sind per definitionem Ereignisse, die unver-fügbar und unplanbar sind, Revolutionen, die meistens erst nachträglichals solche erkennbar werden und insofern nur ex post theoretisierbar sind.Fragwürdiger erscheint viel eher, dass Arendt den gesamten Bereich desPolitischen auf das Ereignis der spontanen Freiheitsgründung reduziert.Diese Reduktion hängt möglicherweise damit zusammen, dass Arendt dasVerhältnis zwischen Bedingung und Begründung von Freiheit nicht ab-schließend geklärt hat. Die Einsicht in die Bedingtheit der Freiheit bleibtbei Arendt unterbestimmt, weil sie die Bedingung Grenze als der Freiheitverkennt. Damit gerät aus dem Blick, dass die Aufgabe der Politik nichtnur im Vollzug von Freiheit, sondern auch in der Sicherung ihrer Be-dingungen liegt.

6. Das ungelöste Verhältnis zwischen Bedingung und Grenze von Freiheit

In Vita activa macht Arendt deutlich, dass der Mensch ein bedingtes undangewiesenes Wesen ist. Er braucht Natur, Welt und Mitmenschlichkeitfür den Vollzug seines Lebens (s. oben Kapitel 3). Diese „existenziellen“Bedingungen sind insofern auch die Bedingungen der menschlichenHandlungsfähigkeit und Freiheit. Es scheint intuitiv plausibel, dass Men-schen nur „frei“ zum Handeln sein können, wenn ihre natürlichen Bedürf-Dieses Faktum der Natalität ist der Grund, nicht das Ergebnis der han-delnden Individualität, das heißt: „Weil er ein Neuer ist, kann er etwasNeues anfangen“ (Revolution, 272). Arendt will damit – gegen Heideggerund die philosophische Tradition – das Primat der Mortalität für das Den-ken des Menschseins aufbrechen und positiv und lebensbejahend wenden.

Vielleicht ist es dieses affirmative Vertrauen darauf, dass wahre Anfängeimmer schon wirklich sind, das Arendt dazu verführt, Politik auf das Er-eignis der Freiheit zu reduzieren. Der Sinn der Politik liegt für sie einzigdarin, ein Anfang zu sein und neue und zukünftige Anfänge zu begründen.In Über die Revolution identifiziert Arendt einen solchen politischen An-fang mit der amerikanischen Revolution, die selber ein Freiheitsereignissei und zukünftige Freiheit um ihrer selbst willen gegründet habe. Geradedieses Beispiel zeigt jedoch die Problematik von Arendts Interesse aneiner sich selbst begründenden Freiheitspolitik. Tatsächlich brachte dieamerikanische Revolution ja Freiheit nur für einige und beruhte historischauf dem Genozid und der Sklaverei von vielen. Dass Arendt diese Zu-sammenhänge ausblendet, zeigt, dass es ihr darum geht, politische Freiheitso zu denken, dass sie mit der unbedingten Spontaneität des „Anfangs“strukturanalog wird und an dessen Emphase als ‘Erlösungsfigur’ partizi-pieren kann.21

Nicht jedes Handeln, das sich im Erscheinungsraum der Öffentlichkeitereignet, ist ein politischer Anfang. Politische Anfänge sind nur jene, dieihrerseits Anfänge begründen können – die also zwischenmenschliche Be-ziehungen nachhaltig offen und beweglich halten. Arendt behauptet indiesem Sinn, dass Revolutionen die Gründung einer „neuen Ordnung derZeiten“ (Geist, 342 u. 442) seien. Sie brechen verfügende Verfestigungenund repetitive Zwänge auf und öffnen den Raum für die Fragilität desHandelns.22Damit realisieren sich politische Anfänge durch die Gestal-tung menschlicher Zeit.23

Die paradoxe Formulierung einer „gründenden Öffnung“ kann ver-deutlichen, worin die Problematik von Arendts Politikbegriff liegt. Er sollFreiheit begründen, aber nicht „herstellend“ oder „verfügend“, sondernseinerseits „spontan“ und „anfänglich“. Der politische Akt der Freiheits-gründung muss so ständig handelnd reaktualisiert werden, damit seineSpontaneität lebendig bleibt und sich nicht institutionell verfestigt. Politiktendiert bei Arendt letztlich zur permanenten Revolution. Problematischdaran erscheint nicht die temporale Aporie der Freiheitsgründung. ImGegenteil: Sie erfasst präzis, was es überhaupt bedeutet, von politischen Anfängen zu sprechen. Diese sind per definitionem Ereignisse, die unver-fügbar und unplanbar sind, Revolutionen, die meistens erst nachträglichals solche erkennbar werden und insofern nur ex post theoretisierbar sind.Fragwürdiger erscheint viel eher, dass Arendt den gesamten Bereich desPolitischen auf das Ereignis der spontanen Freiheitsgründung reduziert.Diese Reduktion hängt möglicherweise damit zusammen, dass Arendt dasVerhältnis zwischen Bedingung und Begründung von Freiheit nicht ab-schließend geklärt hat. Die Einsicht in die Bedingtheit der Freiheit bleibtbei Arendt unterbestimmt, weil sie die Bedingung Grenze als der Freiheitverkennt. Damit gerät aus dem Blick, dass die Aufgabe der Politik nichtnur im Vollzug von Freiheit, sondern auch in der Sicherung ihrer Be-dingungen liegt.

6. Das ungelöste Verhältnis zwischen Bedingung und Grenze von Freiheit

In Vita activa macht Arendt deutlich, dass der Mensch ein bedingtes undangewiesenes Wesen ist. Er braucht Natur, Welt und Mitmenschlichkeitfür den Vollzug seines Lebens (s. oben Kapitel 3). Diese „existenziellen“Bedingungen sind insofern auch die Bedingungen der menschlichenHandlungsfähigkeit und Freiheit. Es scheint intuitiv plausibel, dass Men-schen nur „frei“ zum Handeln sein können, wenn ihre natürlichen Bedürf-nisse befriedigt sind und ihr Verhältnis zur Welt von jener Stabilität ge-prägt ist, die sie brauchen.

Diese Schlussfolgerung zieht Arendt in Vita activa überraschenderweise nicht. Ihre Typologie des Arbeitens, Herstellens und Handelns beabsichtigtnicht, die Tätigkeiten aufeinander zu beziehen und in ihrer wechselseiti-gen Abhängigkeit zu klären, sondern sie versucht umgekehrt, sie von-einander abzugrenzen und „rein“ zu halten. Das Natürliche erscheint alsBedrohung der politischen Freiheit. „Der Leib verlangt immer, versorgt zuwerden, und zur Hölle mit ihm!“ (Verstehen, 76). In dieser Perspektive er-scheinen die Bedingungen Grenzendes Handelns als dessen . In diesemSinn analysiert Arendt, wie ein Tätigkeitsbereich den anderen zerstörenkann, indem er dessen Bereich usurpiert. Eine solche Zerstörung liegtetwa vor, wenn die beständig produzierte Welt, die den Menschen über-dauern soll, um ihm Heimat und Geborgenheit zu bieten, der Vergänglich-keit der natürlichen Bedürfnisse geopfert wird. Wenn also nicht mehr Be-ständiges zum GebrauchKonsum , sondern zum vergänglichen produziertwird.24Zerstörerisch ist aber auch, wenn die Logik des Herstellens dasHandeln verdrängt und den Raum der Freiheit durch Planung, Verwaltungund Organisation verschließt.

Muss diese Möglichkeit der Zerstörung des einen durch das andere im-plizieren, dass es kein Berührungs- oder gar Bedingungsverhältnis zwi-schen Arbeit, Herstellen und Handeln gibt? Diese Frage bleibt in Arendtsphilosophischem Werk die große Leerstelle, die wir an ihrer Stelle füllenmüssen. Denn der Glaube an einen ontologischen Anfang sollte nichtdazu verleiten, den natürlichen und weltlichen Bedingungen dieser Frei-heit keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken – ja diese Bedingungen zuGrenzen und Gefahren der Freiheit zu erklären. Dies aber geschieht,wenn – wie Arendt dies tut – das „Soziale“, das heißt die Sorge um das na-türliche Überleben und die Reproduktion der Familie, Fragen der Haus-haltsführung und der Arbeitsteilung, aber auch die Organisation und Ver-teilung von Gütern und Ressourcen als Bedrohung der Politik empfundenund von dieser fern gehalten wird.25In dieser Verkennung der Freiheits-bedingungen als Freiheitsgrenzen ist Arendts Denken für feministischeund postkoloniale Probleme nicht nur unempfänglich, sondern sie leistetauch der Ausgrenzung jener Subjekte Vorschub, an die das Abgespaltenedelegiert wird.26

Allerdings lässt sich Arendts späteres ‘Missverstehen’ von Bedingungund Grenze der Freiheit mit ihren frühen Gedanken aus Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft korrigieren.27Ihre Ausführungen zur Situa-tion von Staatenlosen und Flüchtlingen zeigt, dass sich Politik nicht nurpräsentisch als Öffnung vollzieht, sondern dass sie auch auf institutionali-sierten Bedingungen des garantierten Rechts ruht. Arendts viel zitierteFormulierung vom „Recht, Rechte zu haben“ (Elemente, 462) weist in die-sem Sinn auf den fundamentalen Anspruch jedes Menschen, als Teil einerGemeinschaft rechtlich und politisch anerkannt zu werden. Davon hängtab, dass der Mensch seine existenzielle und politische Freiheit – seineHandlungsfreiheit – realisieren kann. „Der Verlust der Menschenrechtefindet […] statt, […] wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert,durch den allein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingungdafür bildet, daß seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungenvon Belang sind“ (Elemente, na-461f.). Solange dieser „Standort“ an die tionalstaatliche Zugehörigkeit gebunden ist28, sind nach Arendt Millionenvon Menschen – Minderheiten, Flüchtlinge, Staatenlose – trotz abstraktenAnspruchs auf Menschenrechte faktisch fundamental rechtlos.29

Arendts Hinweis darauf, dass für politische Handlungsfähigkeit ein„Standort“ oder eine „Gemeinschaft“ entscheidend sind, kann gegenihren spontanistischen Politikbegriff in Anschlag gebracht werden. Erbringt zum Ausdruck, dass sich menschliche Freiheit nicht nur im Akt despolitischen Handelns ereignet, sondern dass sie auch durch Garantien derHandlungsmöglichkeit bedingt ist und diese Bedingungen sichern muss.Über Arendt hinaus können wir als fundamental rechtlos nicht nur Staa-nisse befriedigt sind und ihr Verhältnis zur Welt von jener Stabilität ge-prägt ist, die sie brauchen.

Diese Schlussfolgerung zieht Arendt in Vita activa überraschenderweise nicht. Ihre Typologie des Arbeitens, Herstellens und Handelns beabsichtigtnicht, die Tätigkeiten aufeinander zu beziehen und in ihrer wechselseiti-gen Abhängigkeit zu klären, sondern sie versucht umgekehrt, sie von-einander abzugrenzen und „rein“ zu halten. Das Natürliche erscheint als

Bedrohung der politischen Freiheit. „Der Leib verlangt immer, versorgt zuwerden, und zur Hölle mit ihm!“ (Verstehen, 76). In dieser Perspektive er-scheinen die Bedingungen Grenzendes Handelns als dessen . In diesem

Sinn analysiert Arendt, wie ein Tätigkeitsbereich den anderen zerstörenkann, indem er dessen Bereich usurpiert. Eine solche Zerstörung liegtetwa vor, wenn die beständig produzierte Welt, die den Menschen über-dauern soll, um ihm Heimat und Geborgenheit zu bieten, der Vergänglich-keit der natürlichen Bedürfnisse geopfert wird. Wenn also nicht mehr Be-ständiges zum GebrauchKonsum , sondern zum vergänglichen produziertwird.24Zerstörerisch ist aber auch, wenn die Logik des Herstellens das

Handeln verdrängt und den Raum der Freiheit durch Planung, Verwaltungund Organisation verschließt.

Muss diese Möglichkeit der Zerstörung des einen durch das andere im-plizieren, dass es kein Berührungs- oder gar Bedingungsverhältnis zwi-schen Arbeit, Herstellen und Handeln gibt? Diese Frage bleibt in Arendtsphilosophischem Werk die große Leerstelle, die wir an ihrer Stelle füllenmüssen. Denn der Glaube an einen ontologischen Anfang sollte nichtdazu verleiten, den natürlichen und weltlichen Bedingungen dieser Frei-heit keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken – ja diese Bedingungen zu

Grenzen und Gefahren der Freiheit zu erklären. Dies aber geschieht,wenn – wie Arendt dies tut – das „Soziale“, das heißt die Sorge um das na-türliche Überleben und die Reproduktion der Familie, Fragen der Haus-haltsführung und der Arbeitsteilung, aber auch die Organisation und Ver-teilung von Gütern und Ressourcen als Bedrohung der Politik empfundenund von dieser fern gehalten wird.25In dieser Verkennung der Freiheits-bedingungen als Freiheitsgrenzen ist Arendts Denken für feministischeund postkoloniale Probleme nicht nur unempfänglich, sondern sie leistetauch der Ausgrenzung jener Subjekte Vorschub, an die das Abgespaltenedelegiert wird.26

Allerdings lässt sich Arendts späteres ‘Missverstehen’ von Bedingungund Grenze der Freiheit mit ihren frühen Gedanken aus Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft korrigieren.27Ihre Ausführungen zur Situa-tion von Staatenlosen und Flüchtlingen zeigt, dass sich Politik nicht nurpräsentisch als Öffnung vollzieht, sondern dass sie auch auf institutionali-sierten Bedingungen des garantierten Rechts ruht. Arendts viel zitierteFormulierung vom „Recht, Rechte zu haben“ (Elemente, 462) weist in die-sem Sinn auf den fundamentalen Anspruch jedes Menschen, als Teil einerGemeinschaft rechtlich und politisch anerkannt zu werden. Davon hängtab, dass der Mensch seine existenzielle und politische Freiheit – seineHandlungsfreiheit – realisieren kann. „Der Verlust der Menschenrechtefindet […] statt, […] wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert,durch den allein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingungdafür bildet, daß seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungenvon Belang sind“ (Elemente, na-461f.). Solange dieser „Standort“ an die tionalstaatliche Zugehörigkeit gebunden ist28, sind nach Arendt Millionenvon Menschen – Minderheiten, Flüchtlinge, Staatenlose – trotz abstraktenAnspruchs auf Menschenrechte faktisch fundamental rechtlos.29

Arendts Hinweis darauf, dass für politische Handlungsfähigkeit ein„Standort“ oder eine „Gemeinschaft“ entscheidend sind, kann gegenihren spontanistischen Politikbegriff in Anschlag gebracht werden. Erbringt zum Ausdruck, dass sich menschliche Freiheit nicht nur im Akt despolitischen Handelns ereignet, sondern dass sie auch durch Garantien derHandlungsmöglichkeit bedingt ist und diese Bedingungen sichern muss.Über Arendt hinaus können wir als fundamental rechtlos nicht nur Staa-tenlose, Flüchtlinge und Exilierte bezeichnen, sondern auch jene, die ausder Gemeinschaft der Arbeitswelt oder der Zivilgesellschaft herausfallen

– also Arbeitslose, ethnische Minderheiten und natürlich vor allem Frau-en, die in der Öffentlichkeit keinen „Standort“ haben und deren Handelndarum ohne Gewicht ist.30

Das komplexe Verhältnis von gemeinschaftlichem „Standort“ und poli-tischer Handlungsfähigkeit wird von Arendt in ihrer Totalitarismusstudiezwar erkannt, aber in den späteren Texten nicht weiter vertieft. Dies istdarum bedauerlich, weil das Verhältnis von Bedingung und Grenzen der

Freiheit eines der zentralen Probleme der Politik berührt. Politik mit

Arendt gegen Arendt hinsichtlich ihrer Aufgaben zu erweitern, muss aller-dings nicht bedeuten, dass die Radikalität von Arendts Freiheitsbegriffgrundsätzlich verabschiedet wird. Ihr Gedanke, dass Freiheit – jenseitsaller Bedingungen – etwas Unbedingtes hat und reine Spontaneität ist, dievon keinem Gesetz ableitbar und durch keine Prozedur herstellbar ist,bleibt ein wichtiger Gedanke. Politik kann wohl die Bedingungen sicher-stellen, die Freiheit stimulieren, und sie muss alles vermeiden, was Freiheitverunmöglicht, aber die Realisierung der Freiheit selber entzieht sich ihrer

Planung und bleibt ungewiss – ein Ereignis. Dieses kontingente Ereignissollte gerade nicht als „selbstbegründendes“ ontologisiert werden, son-dern kritisch dazu gebraucht werden, falsche Begründungsansprüche zu-rückzuweisen.

Diese Anerkennung der radikalen und unaufhebbaren Kontingenz der

Freiheit ist, wie zum Schluss zu zeigen ist, moralisch-politisch höchst rele-vant, insofern sie Arendts radikalen Begriff der Verantwortung konstitu-iert.

7. Verantwortung für das Kontingente

Die Bedeutung der Verantwortung lässt sich bei Arendt im Zusammen-hang mit ihrer Definition von Macht herleiten. Wenn Macht definiert istals Ereignis der gegenseitigen Zustimmung (s. oben Kapitel 4), dann resul-tiert daraus eine radikale Verantwortung des Einzelnen für alles, was sichdank seiner Unterstützung realisieren kann. Diese Zustimmung mussnicht explizit erfolgen, sondern kann auch im Nichts-Tun impliziert sein.

Am Beispiel der Studentenrevolten von 1968 macht Arendt klar, dass sichniemand hinter der Macht von Einzelnen verstecken kann. Wenn wenige

Studierende den Abbruch einer Vorlesung durchsetzen können, dann des-halb, weil sich die Mehrheit weigert „von ihrer Macht Gebrauch zu ma-chen und die Störer zu überwältigen“ (Macht, 43). Diese Weigerung istletztlich die Ermächtigung der anderen und aus ihr folgt konsequenter-weise, dass jeder für das, was er zulässt, die Verantwortung übernehmenmuss.

Konsequenterweise zieht Arendt in ihrem Aufsatz Was heißt persönliche Verantwortung unter einer Diktatur? daraus den Schluss, dass das bösartigeWort ‘Gehorsam’ aus dem politischen und moralischen Vokabular zu strei-chen sei (Auschwitz, 97). „Nur ein Kind gehorcht; wenn ein Erwachsener‘gehorcht’, dann unterstützt er in Wirklichkeit die Organisation oder dieAutorität oder das Gesetz, die ‘Gehorsam’ verlangen“ (Auschwitz, 95).Damit lehnt sie explizit die Theorie ab, wonach Individuen in einem ge-sellschaftlich-politischen System bloße „Rädchen“ seien, die darum keineVerantwortung für ihr Tun tragen müssten, weil sie nur anonyme Funktio-nen ausüben und keine eigenen Initiativen in das System einbringen könn-ten. Dieser Funktionalisierung des Individuums hält Arendt die Frage ent-gegen, der sich kein Mensch entziehen kann: „Und warum wurden Sie einsolches Rädchen oder blieben es unter derartigen Umständen?“ (Ausch- witz, 83).

Wie radikal Arendt bereit ist, das Verantwortungsprinzip anzuwenden,macht Eichmann in Jerusalem – ihr Buch über „Verantwortlichkeit“31–deutlich. Darin betont sie, dass die jüdischen Gemeindevorsteher, die indie nationalsozialistische Organisation des Holocaust eingebunden wur-den – zum Beispiel indem sie für die Gestapo Listen mit zu deportieren-den Juden und Jüdinnen erstellen mussten –, nicht grundsätzlich von allerVerantwortung loszusprechen seien. Sie wurden zwar erpresst, meintArendt, blieben aber dennoch in beschränktem Umfang „handlungsfähig“und müssten für diese „Kooperation“ die Verantwortung tragen. DieseThese Arendts hat in der jüdischen und intellektuellen Welt einen großenSkandal ausgelöst. Arendt schien die Opfer für ihren Untergang selbstverantwortlich zu machen und aus der sicheren Distanz der Nachkriegszeitüber die Zumutbarkeit von Revolte und Widerstand und den Mut zur mär-tyrerhaften Selbstaufopferung zu richten. Gershom Scholem hat Arendtentsprechend vorgeworfen, sie empfinde zu wenig Liebe für ihr Volk undfühle sich nicht als Jüdin (Auschwitz, 65). Dieser Vorwurf ist insofernschwach, als er an eine exklusive Solidarität appelliert. Das Argument kannaber verallgemeinert werden zur Frage, ob die „Liebe“ zu anderen Men-tenlose, Flüchtlinge und Exilierte bezeichnen, sondern auch jene, die ausder Gemeinschaft der Arbeitswelt oder der Zivilgesellschaft herausfallen

– also Arbeitslose, ethnische Minderheiten und natürlich vor allem Frau-en, die in der Öffentlichkeit keinen „Standort“ haben und deren Handelndarum ohne Gewicht ist.30

Das komplexe Verhältnis von gemeinschaftlichem „Standort“ und poli-tischer Handlungsfähigkeit wird von Arendt in ihrer Totalitarismusstudiezwar erkannt, aber in den späteren Texten nicht weiter vertieft. Dies istdarum bedauerlich, weil das Verhältnis von Bedingung und Grenzen der

Freiheit eines der zentralen Probleme der Politik berührt. Politik mit

Arendt gegen Arendt hinsichtlich ihrer Aufgaben zu erweitern, muss aller-dings nicht bedeuten, dass die Radikalität von Arendts Freiheitsbegriffgrundsätzlich verabschiedet wird. Ihr Gedanke, dass Freiheit – jenseitsaller Bedingungen – etwas Unbedingtes hat und reine Spontaneität ist, dievon keinem Gesetz ableitbar und durch keine Prozedur herstellbar ist,bleibt ein wichtiger Gedanke. Politik kann wohl die Bedingungen sicher-stellen, die Freiheit stimulieren, und sie muss alles vermeiden, was Freiheitverunmöglicht, aber die Realisierung der Freiheit selber entzieht sich ihrer

Planung und bleibt ungewiss – ein Ereignis. Dieses kontingente Ereignissollte gerade nicht als „selbstbegründendes“ ontologisiert werden, son-dern kritisch dazu gebraucht werden, falsche Begründungsansprüche zu-rückzuweisen.

Diese Anerkennung der radikalen und unaufhebbaren Kontingenz der

Freiheit ist, wie zum Schluss zu zeigen ist, moralisch-politisch höchst rele-vant, insofern sie Arendts radikalen Begriff der Verantwortung konstitu-iert.

7. Verantwortung für das Kontingente

Die Bedeutung der Verantwortung lässt sich bei Arendt im Zusammen-hang mit ihrer Definition von Macht herleiten. Wenn Macht definiert istals Ereignis der gegenseitigen Zustimmung (s. oben Kapitel 4), dann resul-tiert daraus eine radikale Verantwortung des Einzelnen für alles, was sichdank seiner Unterstützung realisieren kann. Diese Zustimmung mussnicht explizit erfolgen, sondern kann auch im Nichts-Tun impliziert sein.

Am Beispiel der Studentenrevolten von 1968 macht Arendt klar, dass sichniemand hinter der Macht von Einzelnen verstecken kann. Wenn wenige

Studierende den Abbruch einer Vorlesung durchsetzen können, dann des-halb, weil sich die Mehrheit weigert „von ihrer Macht Gebrauch zu ma-chen und die Störer zu überwältigen“ (Macht, 43). Diese Weigerung istletztlich die Ermächtigung der anderen und aus ihr folgt konsequenter-weise, dass jeder für das, was er zulässt, die Verantwortung übernehmenmuss.

Konsequenterweise zieht Arendt in ihrem Aufsatz Was heißt persönliche Verantwortung unter einer Diktatur? daraus den Schluss, dass das bösartigeWort ‘Gehorsam’ aus dem politischen und moralischen Vokabular zu strei-chen sei (Auschwitz, 97). „Nur ein Kind gehorcht; wenn ein Erwachsener‘gehorcht’, dann unterstützt er in Wirklichkeit die Organisation oder dieAutorität oder das Gesetz, die ‘Gehorsam’ verlangen“ (Auschwitz, 95).Damit lehnt sie explizit die Theorie ab, wonach Individuen in einem ge-sellschaftlich-politischen System bloße „Rädchen“ seien, die darum keineVerantwortung für ihr Tun tragen müssten, weil sie nur anonyme Funktio-nen ausüben und keine eigenen Initiativen in das System einbringen könn-ten. Dieser Funktionalisierung des Individuums hält Arendt die Frage ent-gegen, der sich kein Mensch entziehen kann: „Und warum wurden Sie einsolches Rädchen oder blieben es unter derartigen Umständen?“ (Ausch- witz, 83).

Wie radikal Arendt bereit ist, das Verantwortungsprinzip anzuwenden,macht Eichmann in Jerusalem – ihr Buch über „Verantwortlichkeit“31–deutlich. Darin betont sie, dass die jüdischen Gemeindevorsteher, die indie nationalsozialistische Organisation des Holocaust eingebunden wur-den – zum Beispiel indem sie für die Gestapo Listen mit zu deportieren-den Juden und Jüdinnen erstellen mussten –, nicht grundsätzlich von allerVerantwortung loszusprechen seien. Sie wurden zwar erpresst, meintArendt, blieben aber dennoch in beschränktem Umfang „handlungsfähig“und müssten für diese „Kooperation“ die Verantwortung tragen. DieseThese Arendts hat in der jüdischen und intellektuellen Welt einen großenSkandal ausgelöst. Arendt schien die Opfer für ihren Untergang selbstverantwortlich zu machen und aus der sicheren Distanz der Nachkriegszeitüber die Zumutbarkeit von Revolte und Widerstand und den Mut zur mär-tyrerhaften Selbstaufopferung zu richten. Gershom Scholem hat Arendtentsprechend vorgeworfen, sie empfinde zu wenig Liebe für ihr Volk undfühle sich nicht als Jüdin (Auschwitz, 65). Dieser Vorwurf ist insofernschwach, als er an eine exklusive Solidarität appelliert. Das Argument kannaber verallgemeinert werden zur Frage, ob die „Liebe“ zu anderen Men-schen sich nicht gerade dann bewähren sollte, wenn diese anderen schwachsind, und ob nicht die Schwäche der Schwächsten zu kritisieren, unmensch-lich sei. Dieser Einwand unterstellt, dass es – auch im Sinne Arendts –keine grenzenlose Verantwortung gibt und dass die Entscheidung darüber,wo diese Grenze verläuft, unterschiedlich interpretierbar ist.

Die Grenze der Verantwortung liegt aus der Sicht Arendts systematischgesehen im Begriff der Gewalt. Ein total entmündigtes und terrorisiertesLeben kann für die Zerstörung seiner Freiheit nicht zur Verantwortunggezogen werden. Ein totales Opfer bleibt „objektiv“ schuldlos, auch wennes – wie etwa im System des Konzentrationslagers – zur Vernichtung ande-rer Menschen eingesetzt wird und sich dadurch „subjektiv“ mitschuldigfühlt. Die Grenzziehung zwischen Schuldlosigkeit und Verantwortunghängt somit davon ab, dass Gewalt und Macht, die sich systematisch aus-schließen, auch faktisch unterscheidbar sind. Insofern ist das Argumentder Rädchen-Theorie nicht wirklich außer Kraft gesetzt, sondern kehrtwieder in der Frage, was totale Gewalt sei respektive woran sich erkennenlasse, ob jemand noch (minimal) handlungsfähig sei. Es scheint zweifel-haft, ob solche Fragen zu entscheiden sind, ohne dass die psychologischeDimension der Gewalt – zum Beispiel in Form der Verinnerlichung sexisti-scher oder rassistischer Selbstbilder – mitberücksichtigt wird. Arendtsphilosophisch-politische Terminologie müsste für diese Fragestellung wohlerweitert werden.

Ist aber nicht fragwürdiger noch als die Grenzziehung zwischen Machtund Gewalt das Faktum des Verantwortungsbegriffs selber? Dieser scheintungeheuerlich, wenn wir ihn mit der Tatsache verbinden, dass nach Arendtkein Subjekt handelnd souverän ist, sondern sich immer in Geschichte undPluralität verstrickt. Widerspricht die Unterstellung eines Subjekts derVerantwortung nicht dem Gedanken der prozesshaften Identität jedes In-dividuums? Wie ist ein Subjekt der Verantwortung denkbar, wenn sich dasSubjekt im Handeln allererst konstituiert?

Diese Fragen weisen womöglich auf das Entscheidende an Arendts Ver-antwortungsbegriff hin, das sie selber allerdings nicht explizit gemacht hat.Verantwortung scheint objektiv ‘unbegründet’ und ‘unbegründbar’ zusein, da menschliche Taten nie die Taten einzelner souveräner Subjektesind, sondern durch andere bedingt und auf andere angewiesen bleiben(s. oben Kapitel 3). Jemandem Verantwortung für sein Tun zu unterstellen,ist darum eine ‘unbegründete’ Zumutung und zugleich auch eine positive Anerkennung von Freiheit. Der Verantwortungsbegriff spricht den Men-schen in seiner Freiheit an und anerkennt ihn als handlungsfähiges Sub-jekt, obwohl er seiner Geschichte ‘ausgeliefert’ und darin ‘unfrei’ ist.Indem ein Subjekt die an ihn herangetragene Zumutung der Verantwor-tung übernimmt, anerkennt es sich auch selber als frei. Verantwortungkonstituiert somit Freiheit – nicht umgekehrt.

Diese Radikalität der ‘grundlosen’ Verantwortung macht Arendts Ver-antwortungsbegriff anschlussfähig für eine poststrukturalistische Ethik,wie sie etwa Judith Butler in jüngster Zeit entworfen hat (s. dazu in diesemBand). Wenn sich das Subjekt im Sinne Michel Foucaults in produktivenMachtstrukturen eingebunden erkennt, ohne zu wissen, wo seine Freiheitanfängt und wo es bloß verinnerlichte Zwänge wiederholt, verliert sich der‘begründete’ Verantwortungsdiskurs im Ungewissen; seine Grundlage– der ‘objektive’ Begriff von Freiheit – entschwindet. Die Rede über Ver-antwortung scheint insofern nur noch als ‘politischer’ Diskurs möglich zusein, das heißt als Mittel und Ausdruck für die Gestaltung zwischen-menschlicher Verhältnisse, die nicht auf ‘objektiven Tatsachen’ beruhen,sondern diese im Wandel der Geschichte ständig neu aushandeln und ge-stalten. Diese Einsicht hat auch eine Konsequenz für die hier diskutierteFrage, was positive Freiheit sei. Freiheit, so können wir im Sinne Arendtsfolgern, realisiert sich, wenn Menschen Verantwortung für das Kontingen-te zugemutet wird und sie diese Zumutung als Chance erkennen und an-nehmen.

Auswahlbibliographie

schen sich nicht gerade dann bewähren sollte, wenn diese anderen schwachsind, und ob nicht die Schwäche der Schwächsten zu kritisieren, unmensch-lich sei. Dieser Einwand unterstellt, dass es – auch im Sinne Arendts –keine grenzenlose Verantwortung gibt und dass die Entscheidung darüber,wo diese Grenze verläuft, unterschiedlich interpretierbar ist.

Die Grenze der Verantwortung liegt aus der Sicht Arendts systematischgesehen im Begriff der Gewalt. Ein total entmündigtes und terrorisiertesLeben kann für die Zerstörung seiner Freiheit nicht zur Verantwortunggezogen werden. Ein totales Opfer bleibt „objektiv“ schuldlos, auch wennes – wie etwa im System des Konzentrationslagers – zur Vernichtung ande-rer Menschen eingesetzt wird und sich dadurch „subjektiv“ mitschuldigfühlt. Die Grenzziehung zwischen Schuldlosigkeit und Verantwortunghängt somit davon ab, dass Gewalt und Macht, die sich systematisch aus-schließen, auch faktisch unterscheidbar sind. Insofern ist das Argumentder Rädchen-Theorie nicht wirklich außer Kraft gesetzt, sondern kehrtwieder in der Frage, was totale Gewalt sei respektive woran sich erkennenlasse, ob jemand noch (minimal) handlungsfähig sei. Es scheint zweifel-haft, ob solche Fragen zu entscheiden sind, ohne dass die psychologischeDimension der Gewalt – zum Beispiel in Form der Verinnerlichung sexisti-scher oder rassistischer Selbstbilder – mitberücksichtigt wird. Arendtsphilosophisch-politische Terminologie müsste für diese Fragestellung wohlerweitert werden.

Ist aber nicht fragwürdiger noch als die Grenzziehung zwischen Machtund Gewalt das Faktum des Verantwortungsbegriffs selber? Dieser scheintungeheuerlich, wenn wir ihn mit der Tatsache verbinden, dass nach Arendtkein Subjekt handelnd souverän ist, sondern sich immer in Geschichte undPluralität verstrickt. Widerspricht die Unterstellung eines Subjekts derVerantwortung nicht dem Gedanken der prozesshaften Identität jedes In-dividuums? Wie ist ein Subjekt der Verantwortung denkbar, wenn sich dasSubjekt im Handeln allererst konstituiert?

Diese Fragen weisen womöglich auf das Entscheidende an Arendts Ver-antwortungsbegriff hin, das sie selber allerdings nicht explizit gemacht hat.Verantwortung scheint objektiv ‘unbegründet’ und ‘unbegründbar’ zusein, da menschliche Taten nie die Taten einzelner souveräner Subjektesind, sondern durch andere bedingt und auf andere angewiesen bleiben(s. oben Kapitel 3). Jemandem Verantwortung für sein Tun zu unterstellen,ist darum eine ‘unbegründete’ Zumutung und zugleich auch eine positive Anerkennung von Freiheit. Der Verantwortungsbegriff spricht den Men-schen in seiner Freiheit an und anerkennt ihn als handlungsfähiges Sub-jekt, obwohl er seiner Geschichte ‘ausgeliefert’ und darin ‘unfrei’ ist.Indem ein Subjekt die an ihn herangetragene Zumutung der Verantwor-tung übernimmt, anerkennt es sich auch selber als frei. Verantwortungkonstituiert somit Freiheit – nicht umgekehrt.

Diese Radikalität der ‘grundlosen’ Verantwortung macht Arendts Ver-antwortungsbegriff anschlussfähig für eine poststrukturalistische Ethik,wie sie etwa Judith Butler in jüngster Zeit entworfen hat (s. dazu in diesemBand). Wenn sich das Subjekt im Sinne Michel Foucaults in produktivenMachtstrukturen eingebunden erkennt, ohne zu wissen, wo seine Freiheitanfängt und wo es bloß verinnerlichte Zwänge wiederholt, verliert sich der‘begründete’ Verantwortungsdiskurs im Ungewissen; seine Grundlage– der ‘objektive’ Begriff von Freiheit – entschwindet. Die Rede über Ver-antwortung scheint insofern nur noch als ‘politischer’ Diskurs möglich zusein, das heißt als Mittel und Ausdruck für die Gestaltung zwischen-menschlicher Verhältnisse, die nicht auf ‘objektiven Tatsachen’ beruhen,sondern diese im Wandel der Geschichte ständig neu aushandeln und ge-stalten. Diese Einsicht hat auch eine Konsequenz für die hier diskutierteFrage, was positive Freiheit sei. Freiheit, so können wir im Sinne Arendtsfolgern, realisiert sich, wenn Menschen Verantwortung für das Kontingen-te zugemutet wird und sie diese Zumutung als Chance erkennen und an-nehmen.

Auswahlbibliographie

JUDITH BUTLER Macht der Kontingenz – Begriff der Kritik

Von Patricia Purtschert

„Ich glaube in der Tat, dass Politik einen Charakter der Kontingenz unddes Kontexts an sich hat, der auf der theoretischen Ebene nicht vorherge-sagt werden kann. Und dass wenn Theorie beginnt programmatisch zuwerden, im Stile von ‘hier sind meine fünf Vorschriften’, […] von vornhe-rein das ganze Problem des Kontexts und der Kontingenz ausgeschlossenwird.“1Mit diesen Worten skizziert die Philosophin Judith Butler ein Ver-hältnis zwischen Theorie und Politik – und damit ist nicht nur die staat-liche Politik gemeint, sondern vielmehr der immer schon politische Be-reich des Sozialen –, das sich nicht auf eine einfache Formel reduzierenlässt. Theorie, so führt sie aus, kann das Politische beschreiben und analy-sieren, aber sie kann es nicht beherrschen und abschließend reglementie-ren. Mit dieser Anerkennung einer unaufhebbaren Kontingenz, welcheden Bereich des Politischen bestimmt und ohne den das Politische nichtdenkbar ist, wird gleichzeitig eine Grenze der Theorie markiert, an der siesich kontinuierlich abarbeiten muss. Butlers Denken kann als Ausei-nandersetzung mit der Kontingenz des Politischen verstanden werden, wel-che die Theorie gerade deshalb unaufhörlich beschäftigt, weil sich dieseKontingenz theoretisch nicht einholen lässt. Butler tritt damit ein philo-sophisches Erbe Hannah Arendts an, die in der Vita activa beschreibt,wie die politische Philosophie seit Plato versucht, der Unabsehbarkeitmenschlichen Handelns beizukommen. Dieser Versuch, das Politischeplanbar und berechenbar zu machen, ihm „Dauerhaftigkeit und Ord-nung“2zu verleihen, negiert aber mit der radikalen Kontingenz des Han-

JUDITH BUTLER Macht der Kontingenz – Begriff der Kritik

Von Patricia Purtschert

„Ich glaube in der Tat, dass Politik einen Charakter der Kontingenz unddes Kontexts an sich hat, der auf der theoretischen Ebene nicht vorherge-sagt werden kann. Und dass wenn Theorie beginnt programmatisch zuwerden, im Stile von ‘hier sind meine fünf Vorschriften’, […] von vornhe-rein das ganze Problem des Kontexts und der Kontingenz ausgeschlossenwird.“1Mit diesen Worten skizziert die Philosophin Judith Butler ein Ver-hältnis zwischen Theorie und Politik – und damit ist nicht nur die staat-liche Politik gemeint, sondern vielmehr der immer schon politische Be-reich des Sozialen –, das sich nicht auf eine einfache Formel reduzierenlässt. Theorie, so führt sie aus, kann das Politische beschreiben und analy-sieren, aber sie kann es nicht beherrschen und abschließend reglementie-ren. Mit dieser Anerkennung einer unaufhebbaren Kontingenz, welcheden Bereich des Politischen bestimmt und ohne den das Politische nichtdenkbar ist, wird gleichzeitig eine Grenze der Theorie markiert, an der siesich kontinuierlich abarbeiten muss. Butlers Denken kann als Ausei-nandersetzung mit der Kontingenz des Politischen verstanden werden, wel-che die Theorie gerade deshalb unaufhörlich beschäftigt, weil sich dieseKontingenz theoretisch nicht einholen lässt. Butler tritt damit ein philo-sophisches Erbe Hannah Arendts an, die in der Vita activa beschreibt,wie die politische Philosophie seit Plato versucht, der Unabsehbarkeitmenschlichen Handelns beizukommen. Dieser Versuch, das Politischeplanbar und berechenbar zu machen, ihm „Dauerhaftigkeit und Ord-nung“2zu verleihen, negiert aber mit der radikalen Kontingenz des Han-delns jenen Aspekt, der bei Arendt den Bereich des Politischen geradeauszeichnet.

Wie Arendt stellt Butler ein Vergessen der Kontingenz in der Theoriefest, interpretiert dies aber nicht als philosophisch tradiertes Missverste-hen des Politischen, sondern als eine spezifische Strategie diskursiver

Macht.3

Der Begriff der Kontingenz umfasst gemeinhin die Eventualität, Poten-zialität und Zufälligkeit des Möglichen und wird dem Begriff der Not-wendigkeit gegenübergestellt. Butler bestimmt das Verhältnis zwischen

Notwendigkeit und Kontingenz im Gegensatz dazu nicht als logisch-gegen- sätzliches , sondern als genealogisch-strategisches. Die Prämissen unseres

Denkens sind demnach immer schon historische, kontextuelle und damitkontingente Setzungen, funktionieren aber als „das Unhinterfragte, Un-hinterfragbare“4der Theorie und beanspruchen derart einen Status, durchden sie sich der Anfechtbarkeit entziehen. Was mit dem Gewicht der Not-wendigkeit auftritt – transzendentale Bedingungen etwa oder ontologi-sche Wahrheiten –, steht noch immer im Geltungsbereich der Kontingenz,auch wenn deren Spuren verwischt worden sind. Das Vergessen der Unab-sehbarkeit des Politischen, das Arendt diagnostiziert, wird bei Butler zumstrategischen Auslöschen der Kontingenz in hegemonialen Macht-Wissen-

Systemen. Damit kann der Einbruch des Kontingenten zum Ort einer Kri-tik werden, die sich gegen ontologisierende, essentialisierende und natura-lisierende Strategien der Macht wendet. Im Folgenden soll Butlers Werk

über den Begriff der Kritik erschlossen und dabei gefragt werden, wie

Wissen, Macht und Subjektivierung zusammenhängen.

1. Bi(bli)ographische Skizze

Judith Butler, 1956 geboren und in den USA aufgewachsen, ist Inhabe-rin der Maxine-Elliot-Professur in Rhetorik und vergleichenden Literatur-wissenschaften an der University of California in Berkeley. Während des

Philosophiestudiums in Yale und einem Studienaufenthalt in Heidelbergbeschäftigte sie sich vorwiegend mit Hermeneutik, Phänomenologie, derFrankfurter Schule und der Philosophie Hegels. Ihre Dissertation überden Begriff des Begehrens bei Hegel und in der französischen Hegel-Re-zeption wurde 1987 unter dem Titel Subjects of Desire veröffentlicht. Im1990 erschienenen Gender Trouble Das Unbehagen der Geschlechter(dt.: )problematisiert Butler die Prämisse der heterosexuellen Ausrichtung desBegehrens, der Zweigeschlechtlichkeit und der natürlichen (d.h. kulturellunvermittelten) Gegebenheit des geschlechtlichen Körpers. Das Buchführte zu einer dekonstruktiven Wende in der feministischen Diskussionund avancierte zu einem Klassiker der Queer Studies. Als Antwort auf dieKritik an Das Unbehagen der Geschlechter veröffentlicht Butler 1993 dasBuch Bodies that Matter Körper von Gewicht(dt.: ), in dem sie das Verhält-nis zwischen Diskurs und Materialität des Körpers genauer zu bestimmensucht. Im 1997 erschienenen Excitable Speech Hass spricht(dt.: ) fragt But-ler nach den Bedingungen, die sexistisches, homophobes und rassistischesSprechen sowie Praktiken des Widerstandes gegen dieses ermöglichen. Imselben Jahr erschien The Psychic Life of Power. Theories in Subjection (dt.: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung ). Diese Untersuchungwidmet sich der Frage, wie das Konzept sozialer Disziplinierung mit derVorstellung der Psyche zusammen gedacht werden kann. In Antigone’s Claim (dt.: Antigones Verlangen) untersucht Butler den unbestimmten fa-miliären Status der Antigone und macht ihn zum Ausgangspunkt einesNachdenkens über postödipale Formen von Verwandtschaftsbeziehungen.Unter dem Titel Kritik der ethischen Gewalt wurden 2003 die Adorno-Vor-lesungen veröffentlicht, die Butler im Herbst 2002 am Institut für So-zialforschung in Frankfurt am Main vorgetragen hat. Butler wendet sichdabei der Frage zu, wie eine kritische Praxis als ethisches Verhältnis zusich und Anderen reformuliert werden kann.

2. Die Praxis permanenter Kritik

In ihrem Artikel zu Foucaults Kritikbegriff schlägt Judith Butler einePraxis der Kritik vor, die am „Riss im Gewebe unseres epistemologischenNetzes“5ansetzt. Dabei geht sie mit Foucault davon aus, dass es für dieKritik keinen Ort außerhalb jenes diskursiven Feldes gibt, welches derKritik ausgesetzt werden soll, ja dass die eigene kritische Position, um vonanderen entziffert werden zu können, vielmehr in diesem Feld selbst arti-delns jenen Aspekt, der bei Arendt den Bereich des Politischen geradeauszeichnet.

Wie Arendt stellt Butler ein Vergessen der Kontingenz in der Theoriefest, interpretiert dies aber nicht als philosophisch tradiertes Missverste-hen des Politischen, sondern als eine spezifische Strategie diskursiver

Macht.3

Der Begriff der Kontingenz umfasst gemeinhin die Eventualität, Poten-zialität und Zufälligkeit des Möglichen und wird dem Begriff der Not-wendigkeit gegenübergestellt. Butler bestimmt das Verhältnis zwischen

Notwendigkeit und Kontingenz im Gegensatz dazu nicht als logisch-gegen- sätzliches , sondern als genealogisch-strategisches. Die Prämissen unseres

Denkens sind demnach immer schon historische, kontextuelle und damitkontingente Setzungen, funktionieren aber als „das Unhinterfragte, Un-hinterfragbare“4der Theorie und beanspruchen derart einen Status, durchden sie sich der Anfechtbarkeit entziehen. Was mit dem Gewicht der Not-wendigkeit auftritt – transzendentale Bedingungen etwa oder ontologi-sche Wahrheiten –, steht noch immer im Geltungsbereich der Kontingenz,auch wenn deren Spuren verwischt worden sind. Das Vergessen der Unab-sehbarkeit des Politischen, das Arendt diagnostiziert, wird bei Butler zumstrategischen Auslöschen der Kontingenz in hegemonialen Macht-Wissen-

Systemen. Damit kann der Einbruch des Kontingenten zum Ort einer Kri-tik werden, die sich gegen ontologisierende, essentialisierende und natura-lisierende Strategien der Macht wendet. Im Folgenden soll Butlers Werk

über den Begriff der Kritik erschlossen und dabei gefragt werden, wie

Wissen, Macht und Subjektivierung zusammenhängen.

1. Bi(bli)ographische Skizze

Judith Butler, 1956 geboren und in den USA aufgewachsen, ist Inhabe-rin der Maxine-Elliot-Professur in Rhetorik und vergleichenden Literatur-wissenschaften an der University of California in Berkeley. Während des

Philosophiestudiums in Yale und einem Studienaufenthalt in Heidelbergbeschäftigte sie sich vorwiegend mit Hermeneutik, Phänomenologie, derFrankfurter Schule und der Philosophie Hegels. Ihre Dissertation überden Begriff des Begehrens bei Hegel und in der französischen Hegel-Re-zeption wurde 1987 unter dem Titel Subjects of Desire veröffentlicht. Im1990 erschienenen Gender Trouble Das Unbehagen der Geschlechter(dt.: )problematisiert Butler die Prämisse der heterosexuellen Ausrichtung desBegehrens, der Zweigeschlechtlichkeit und der natürlichen (d.h. kulturellunvermittelten) Gegebenheit des geschlechtlichen Körpers. Das Buchführte zu einer dekonstruktiven Wende in der feministischen Diskussionund avancierte zu einem Klassiker der Queer Studies. Als Antwort auf dieKritik an Das Unbehagen der Geschlechter veröffentlicht Butler 1993 dasBuch Bodies that Matter Körper von Gewicht(dt.: ), in dem sie das Verhält-nis zwischen Diskurs und Materialität des Körpers genauer zu bestimmensucht. Im 1997 erschienenen Excitable Speech Hass spricht(dt.: ) fragt But-ler nach den Bedingungen, die sexistisches, homophobes und rassistischesSprechen sowie Praktiken des Widerstandes gegen dieses ermöglichen. Imselben Jahr erschien The Psychic Life of Power. Theories in Subjection (dt.: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung ). Diese Untersuchungwidmet sich der Frage, wie das Konzept sozialer Disziplinierung mit derVorstellung der Psyche zusammen gedacht werden kann. In Antigone’s Claim (dt.: Antigones Verlangen) untersucht Butler den unbestimmten fa-miliären Status der Antigone und macht ihn zum Ausgangspunkt einesNachdenkens über postödipale Formen von Verwandtschaftsbeziehungen.Unter dem Titel Kritik der ethischen Gewalt wurden 2003 die Adorno-Vor-lesungen veröffentlicht, die Butler im Herbst 2002 am Institut für So-zialforschung in Frankfurt am Main vorgetragen hat. Butler wendet sichdabei der Frage zu, wie eine kritische Praxis als ethisches Verhältnis zusich und Anderen reformuliert werden kann.

2. Die Praxis permanenter Kritik

In ihrem Artikel zu Foucaults Kritikbegriff schlägt Judith Butler einePraxis der Kritik vor, die am „Riss im Gewebe unseres epistemologischenNetzes“5ansetzt. Dabei geht sie mit Foucault davon aus, dass es für dieKritik keinen Ort außerhalb jenes diskursiven Feldes gibt, welches derKritik ausgesetzt werden soll, ja dass die eigene kritische Position, um vonanderen entziffert werden zu können, vielmehr in diesem Feld selbst arti-kuliert werden muss. Eine solche immanente Kritik versucht nicht, nor-mative Kategorien durch andere zu ersetzen, sondern sie untersucht dieProduktion des Normativen an sich. Sie fragt danach, welches Verhältniszwischen Wissen und Macht besteht, „sodass sich unsere epistemolo-gischen Gewissheiten als Unterstützung einer Strukturierungsweise derWelt herausstellen, die alternative Möglichkeiten des Ordnens verwirft“(a.a.O., 252). Kritik wird damit zu einem Unternehmen, das nach den Le-gitimierungsstrategien jener diskursiven Macht fragt, die den Bereich desDenkbaren bestimmt. Diese Wissensfelder bilden aber, auch wenn sie to-talisierende Effekte zeitigen, selber keine Totalität. Sie sind von Rissendurchzogen, welche auf die Kontingenz ihrer Formation weisen und andenen das Intelligible vom Undenkbaren gestört wird. Kritik ist damit dieBeschäftigung mit der Krise, die den Gewissheiten unseres Denkensimmer schon eingeschrieben ist. „Man fragt nach den Grenzen von Er-kenntnisweisen, weil man bereits innerhalb des epistemologischen Feldesin eine Krise des epistemologischen Feldes geraten ist, in dem man lebt“(a.a.O., 252–253).

Die Frage nach den Grenzen der Erkenntnisweisen und die Diagnoseeiner epistomologischen Krise lesen sich erst einmal wie ein Echo auf dieKritik Immanuel Kants. Stellt eine poststrukturalistische Kritik wie dieje-nige Butlers das Erbe der Aufklärung dar oder markiert sie vielmehr denBruch mit ihr?

In seinem berühmten Zeitungsartikel Was ist Aufklärung? fordert Kantdazu auf, alle zur Gewohnheit gewordenen Prinzipien mit Hilfe des eige-nen Verstandes zu überprüfen. Auf ähnliche Weise schlägt Butler vor, „dieFrage nach den Grenzen unserer sichersten Denkweisen [zu] stellen“(a.a.O., 252). In der Kritik der reinen Vernunft radikalisiert Kant seine For-derung, indem er dasjenige der Kritik unterzieht, was er als einzigen zu-verlässigen Fixpunkt der Erkenntnis ausgemacht hat: die Vernunft. Auchdieser Gestus, mit der Kritik gerade an den Grundfesten der Erkenntnisanzusetzen, findet sich bei Butler, wenn sie schreibt, dass die Grenzen desWissbaren nur befragt werden können, indem „eine gewisse Sicherheitinnerhalb einer vorhandenen Ontologie aufs Spiel“ (Kritik, 260) gesetztwird. Im Verhältnis zum Risiko eines Denkens aber, das seine eigenenPrämissen aufs Spiel setzt, tritt ein wesentlicher Unterschied zwischeneinem aufklärerischen und einem poststrukturalistischen Kritikverständ-nis zu Tage. Kant stellt die Grenzen der Erkenntnis in Frage, um den Auto-ritätsbereich der Vernunft zu bestimmen und sie als selbstbegründende In-stanz zum Ausgangspunkt sicherer epistemologischer und moralischerWissenssysteme zu machen. Er geht das Risiko einer radikalen Kritik ein,um innerhalb gewisser Grenzen der Erkenntnis die Möglichkeit des Irr-tums eliminieren zu können. Kritik zielt darauf ab, den Herrschaftsbereichder Vernunft und seine Grenzen festzulegen und den Bereich des Wiss-baren durch die Bestimmung transzendentaler Gesetzmäßigkeiten zu sta-bilisieren. Vehement ausgeschlossen wird dabei der Bereich des Unwiss-baren, Undenkbaren und Übersinnlichen, als eine Dimension, die demmenschlichen Denken aufgrund seiner Beschränktheit nicht zugänglichist. Die poststrukturalistische Kritik hingegen setzt sich in ein strategischesVerhältnis zum Undenkbaren. Sie siedelt sich da an, wo die Ordnung einesdiskursiven Feldes bedroht ist, um dessen Grenzen zu kritisieren, die „einebestimmte Nötigung ausüben, ohne in irgendeiner Notwendigkeit begrün-det zu sein“ (ebd.). Dies macht es möglich, die Legitimität eines Wissens-systems von seinen Grenzen her in Frage zu stellen und seine autorisieren-den Prämissen als „kontingente, anfechtbare Annahme[n]“ auszuweisen(Kontingente Grundlagen, 37). Kritik stellt damit nicht eine theoretischePraxis dar, welche den Geltungsbereich der Vernunft bestimmt, sondern„das Feld der Vernunft selbst aufs Spiel“ setzt (a.a.O., 256).

Während Kant darauf bedacht ist, eine Analyse der Vernunft vorzu-legen, die gerade „nicht durch Machtsprüche“6beeinträchtigt wird, gehteine poststrukturalistische Kritik hingegen von einem Nexus von Machtund Wissen aus und versucht zu zeigen, „wie die Theorie, wie die Philoso-phie stets in die Macht verwickelt ist“ (Kontingente Grundlagen, 35). Einesolche Kritik radikalisiert den Gestus der Aufklärung und stellt Letzterezugleich in Frage, indem sie das Primat der Vernunft problematisiert undden transitorischen Status der Kritik ausdehnt: Kritik bringt nicht mehrdie Bedingungen der Möglichkeit eines stabilen Wissenssystems hervor,sondern stellt die kontinuierliche Reflexion auf dessen Produktionsbedin-gungen dar. Aufgrund der Verschränkung von Wissen und Macht sindepistemische Grenzen nicht nur die Grenzen einer kritischen aber limi-tierten Vernunft, sondern immer auch Ausdruck der Machtverhältnisse, inder diese operiert.

Dieser Form der Kritik, die sich permanent auf die selbstfundierendeBewegung von Wissenssystemen bezieht, wurde der Vorwurf gemacht, pa-rasitär zu sein: Sie dekonstruiere andere Theorien, ohne alternative The-sen anzubieten. So kritisiert Martha Nussbaum, dass Butler kaum jemalseigene Aussagen stark mache. Viele ihrer Sätze seien in der Frageformverfasst, oder aber sie „beginnen mit ‘überlegen Sie …’ oder ‘man könntevorschlagen […]’ – auf eine Weise, dass Butler der Leserin niemals wirklichmitteilt, ob sie der beschriebenen Meinung zustimmt oder nicht“7. Wäh-kuliert werden muss. Eine solche immanente Kritik versucht nicht, nor-mative Kategorien durch andere zu ersetzen, sondern sie untersucht dieProduktion des Normativen an sich. Sie fragt danach, welches Verhältniszwischen Wissen und Macht besteht, „sodass sich unsere epistemolo-gischen Gewissheiten als Unterstützung einer Strukturierungsweise derWelt herausstellen, die alternative Möglichkeiten des Ordnens verwirft“(a.a.O., 252). Kritik wird damit zu einem Unternehmen, das nach den Le-gitimierungsstrategien jener diskursiven Macht fragt, die den Bereich desDenkbaren bestimmt. Diese Wissensfelder bilden aber, auch wenn sie to-talisierende Effekte zeitigen, selber keine Totalität. Sie sind von Rissendurchzogen, welche auf die Kontingenz ihrer Formation weisen und andenen das Intelligible vom Undenkbaren gestört wird. Kritik ist damit dieBeschäftigung mit der Krise, die den Gewissheiten unseres Denkensimmer schon eingeschrieben ist. „Man fragt nach den Grenzen von Er-kenntnisweisen, weil man bereits innerhalb des epistemologischen Feldesin eine Krise des epistemologischen Feldes geraten ist, in dem man lebt“(a.a.O., 252–253).

Die Frage nach den Grenzen der Erkenntnisweisen und die Diagnoseeiner epistomologischen Krise lesen sich erst einmal wie ein Echo auf dieKritik Immanuel Kants. Stellt eine poststrukturalistische Kritik wie dieje-nige Butlers das Erbe der Aufklärung dar oder markiert sie vielmehr denBruch mit ihr?

In seinem berühmten Zeitungsartikel Was ist Aufklärung? fordert Kantdazu auf, alle zur Gewohnheit gewordenen Prinzipien mit Hilfe des eige-nen Verstandes zu überprüfen. Auf ähnliche Weise schlägt Butler vor, „dieFrage nach den Grenzen unserer sichersten Denkweisen [zu] stellen“(a.a.O., 252). In der Kritik der reinen Vernunft radikalisiert Kant seine For-derung, indem er dasjenige der Kritik unterzieht, was er als einzigen zu-verlässigen Fixpunkt der Erkenntnis ausgemacht hat: die Vernunft. Auchdieser Gestus, mit der Kritik gerade an den Grundfesten der Erkenntnisanzusetzen, findet sich bei Butler, wenn sie schreibt, dass die Grenzen desWissbaren nur befragt werden können, indem „eine gewisse Sicherheitinnerhalb einer vorhandenen Ontologie aufs Spiel“ (Kritik, 260) gesetztwird. Im Verhältnis zum Risiko eines Denkens aber, das seine eigenenPrämissen aufs Spiel setzt, tritt ein wesentlicher Unterschied zwischeneinem aufklärerischen und einem poststrukturalistischen Kritikverständ-nis zu Tage. Kant stellt die Grenzen der Erkenntnis in Frage, um den Auto-ritätsbereich der Vernunft zu bestimmen und sie als selbstbegründende In-stanz zum Ausgangspunkt sicherer epistemologischer und moralischerWissenssysteme zu machen. Er geht das Risiko einer radikalen Kritik ein,um innerhalb gewisser Grenzen der Erkenntnis die Möglichkeit des Irr-tums eliminieren zu können. Kritik zielt darauf ab, den Herrschaftsbereichder Vernunft und seine Grenzen festzulegen und den Bereich des Wiss-baren durch die Bestimmung transzendentaler Gesetzmäßigkeiten zu sta-bilisieren. Vehement ausgeschlossen wird dabei der Bereich des Unwiss-baren, Undenkbaren und Übersinnlichen, als eine Dimension, die demmenschlichen Denken aufgrund seiner Beschränktheit nicht zugänglichist. Die poststrukturalistische Kritik hingegen setzt sich in ein strategischesVerhältnis zum Undenkbaren. Sie siedelt sich da an, wo die Ordnung einesdiskursiven Feldes bedroht ist, um dessen Grenzen zu kritisieren, die „einebestimmte Nötigung ausüben, ohne in irgendeiner Notwendigkeit begrün-det zu sein“ (ebd.). Dies macht es möglich, die Legitimität eines Wissens-systems von seinen Grenzen her in Frage zu stellen und seine autorisieren-den Prämissen als „kontingente, anfechtbare Annahme[n]“ auszuweisen(Kontingente Grundlagen, 37). Kritik stellt damit nicht eine theoretischePraxis dar, welche den Geltungsbereich der Vernunft bestimmt, sondern„das Feld der Vernunft selbst aufs Spiel“ setzt (a.a.O., 256).

Während Kant darauf bedacht ist, eine Analyse der Vernunft vorzu-legen, die gerade „nicht durch Machtsprüche“6beeinträchtigt wird, gehteine poststrukturalistische Kritik hingegen von einem Nexus von Machtund Wissen aus und versucht zu zeigen, „wie die Theorie, wie die Philoso-phie stets in die Macht verwickelt ist“ (Kontingente Grundlagen, 35). Einesolche Kritik radikalisiert den Gestus der Aufklärung und stellt Letzterezugleich in Frage, indem sie das Primat der Vernunft problematisiert undden transitorischen Status der Kritik ausdehnt: Kritik bringt nicht mehrdie Bedingungen der Möglichkeit eines stabilen Wissenssystems hervor,sondern stellt die kontinuierliche Reflexion auf dessen Produktionsbedin-gungen dar. Aufgrund der Verschränkung von Wissen und Macht sindepistemische Grenzen nicht nur die Grenzen einer kritischen aber limi-tierten Vernunft, sondern immer auch Ausdruck der Machtverhältnisse, inder diese operiert.

Dieser Form der Kritik, die sich permanent auf die selbstfundierendeBewegung von Wissenssystemen bezieht, wurde der Vorwurf gemacht, pa-rasitär zu sein: Sie dekonstruiere andere Theorien, ohne alternative The-sen anzubieten. So kritisiert Martha Nussbaum, dass Butler kaum jemalseigene Aussagen stark mache. Viele ihrer Sätze seien in der Frageformverfasst, oder aber sie „beginnen mit ‘überlegen Sie …’ oder ‘man könntevorschlagen […]’ – auf eine Weise, dass Butler der Leserin niemals wirklichmitteilt, ob sie der beschriebenen Meinung zustimmt oder nicht“7. Wäh-rend Nussbaum daraus folgert, Butler betreibe eine rhetorische Selbst-Mystifizierung, weist jene auf das epistemologische Potenzial des Fragenshin. Butler hält fest, dass die Frage nicht nur ein mögliches Urteil vor-bereitet, sondern ein Moment der Retardierung bewirkt, durch welche dasUrteil gerade ausgesetzt wird. „Urteile fungieren […] als Art und Weise,ein Besonderes unter eine bereits konstituierte Kategorie zu subsumieren,während Kritik nach der verschließenden Konstitution des Feldes der Ka-tegorien selbst fragt“ (Kritik, 250). Während das Urteil von den Kate-gorien Gebrauch macht, setzt sich die Kritik in eine andere Beziehung zuden Kategorien, die sie verwendet. Im Modus der Frage werden diesenicht instrumentell zur Anwendung gebracht, sondern als Grundlagen derTheorie herausgestellt und damit als kontingente Setzungen des Denkensbefragbar.

Foucault hat eine solche Praxis als Ethos einer permanenten Kritik un-seres historischen Daseins bezeichnet.8Kritik wird an dieser Stelle zueiner eminent politischen Praxis, an der sich die Frage nach dem Subjektnicht von der Frage nach den gesellschaftlichen Machtverhältnissen tren-nen lässt, die dieses hervorbringen. Der Begriff der Kritik umreißt darummehr als eine erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit den Prämis-sen des Denkens. Epistemische Felder bestimmen, wie das Wissen geord-net ist, darüber hinaus aber konstituieren sie die diskursive Oberfläche,auf welcher Objekte und Subjekte überhaupt erscheinen können. Diskur-sive Formationen legen darum nicht nur die Bereiche des Wissens fest,sondern auch diejenigen sprachlichen Felder, in denen etwas als „Seien-des“ erscheinen kann. Der ontologische Status eines Subjekts ist damitvon jenen diskursiven Kategorien abhängig, welche die Bereiche des Seinsfestlegen. „Die Macht umgrenzt, was ein Subjekt ‘sein’ kann, sie zieht dieGrenzen, jenseits derer es nicht länger ‘ist’ oder jenseits welcher es ineinen Bereich suspendierter Ontologie gerät“ (Kritik, 260). Sprache und(soziales) Sein sind an dieser Stelle eng verknüpft: Was sich nicht durchsprachliche Kategorien darstellen lässt, kann im Sprachlichen nicht als in-telligibel erscheinen. Der Begriff der „Intelligibilität“ fungiert bei Butlerals Gelenkstelle zwischen der konstitutiven Kraft des Diskurses und denBereichen gesellschaftlich anerkannten Seins. Intelligibel sind jene Sub-jekte und Lebensformen, welche einerseits verständlich, begreiflich unddenkbar und andererseits gesellschaftlich anerkannt sind. Diese Verknüp-fung von „Diskurs“ und sozialem „Sein“ ermöglicht es, die Grenzen desDenkbaren nicht als Grenzen des Möglichen zu verstehen, sondern sie imNamen von (noch) „undenkbaren“ Subjektpositionen in Frage zu stellen.

3. Genealogie des Geschlechts

Das Geschäft der permanenten Kritik besteht darin, die kontinuierlichhergestellte Differenz zwischen notwendigen, d. h. ontologischen, trans-zendentalen oder natürlichen Prämissen und kontingenten, d.h. sozialen,politischen oder historischen Ereignissen als Effekt diskursiver Macht zuentziffern. Weil die Macht auch „den Begriffsapparat [durchdringt], derversucht, über die Macht zu verhandeln, […] ebenso wie die Subjekt-Posi-tion des Kritikers“ (Kontingente Grundlagen, 36), stellt Kritik auch einePraxis der unabschließbaren Selbstreflexion dar. Als eine solche Form derSelbstkritik lässt sich Butlers Auseinandersetzung mit den Prämissen desFeminismus lesen, zu dessen Denktradition sie sich selber zählt. „Die fe-ministische Kritik muß auch begreifen, wie die Kategorie ‘Frau(en)’, dasSubjekt des Feminismus, gerade durch jene Machtstrukturen hervorge-bracht und eingeschränkt wird, mittels derer das Ziel der Emanzipationerreicht werden soll.“9Damit wird das Projekt einer innerfeministischen„permanenten Kritik“ ersichtlich, welche kontinuierlich nach den Gren-zen der eigenen Prämissen fragt, auch und gerade wenn diese im Namender Befreiung eingesetzt worden sind. So kritisiert Butler in Das Unbeha- gen der Geschlechter die Trennung zwischen dem sozialen Geschlecht(„gender“) und dem biologischem Geschlecht („sex“), die seit den späten70er-Jahren ein zentrales Paradigma feministischer Theorie und Forschungdarstellt. Butler weist darauf hin, dass sich der Körper auch als „Materia-lität“ immer schon im Bereich des Bezeichenbaren befindet und durchdiesen konstituiert wird. Damit stellt sich nicht mehr die Frage, wie sichdas natürliche vom sozialen Geschlecht unterscheidet, sondern wie und inwelcher Funktion der biologische Körper als „das radikal Nicht-konstru-ierte“ (a.a.O., 24) erscheinen kann.10Butler beginnt, eine kritische Genea-rend Nussbaum daraus folgert, Butler betreibe eine rhetorische Selbst-Mystifizierung, weist jene auf das epistemologische Potenzial des Fragenshin. Butler hält fest, dass die Frage nicht nur ein mögliches Urteil vor-bereitet, sondern ein Moment der Retardierung bewirkt, durch welche dasUrteil gerade ausgesetzt wird. „Urteile fungieren […] als Art und Weise,ein Besonderes unter eine bereits konstituierte Kategorie zu subsumieren,während Kritik nach der verschließenden Konstitution des Feldes der Ka-tegorien selbst fragt“ (Kritik, 250). Während das Urteil von den Kate-gorien Gebrauch macht, setzt sich die Kritik in eine andere Beziehung zuden Kategorien, die sie verwendet. Im Modus der Frage werden diesenicht instrumentell zur Anwendung gebracht, sondern als Grundlagen derTheorie herausgestellt und damit als kontingente Setzungen des Denkensbefragbar.

Foucault hat eine solche Praxis als Ethos einer permanenten Kritik un-seres historischen Daseins bezeichnet.8Kritik wird an dieser Stelle zueiner eminent politischen Praxis, an der sich die Frage nach dem Subjektnicht von der Frage nach den gesellschaftlichen Machtverhältnissen tren-nen lässt, die dieses hervorbringen. Der Begriff der Kritik umreißt darummehr als eine erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit den Prämis-sen des Denkens. Epistemische Felder bestimmen, wie das Wissen geord-net ist, darüber hinaus aber konstituieren sie die diskursive Oberfläche,auf welcher Objekte und Subjekte überhaupt erscheinen können. Diskur-sive Formationen legen darum nicht nur die Bereiche des Wissens fest,sondern auch diejenigen sprachlichen Felder, in denen etwas als „Seien-des“ erscheinen kann. Der ontologische Status eines Subjekts ist damitvon jenen diskursiven Kategorien abhängig, welche die Bereiche des Seinsfestlegen. „Die Macht umgrenzt, was ein Subjekt ‘sein’ kann, sie zieht dieGrenzen, jenseits derer es nicht länger ‘ist’ oder jenseits welcher es ineinen Bereich suspendierter Ontologie gerät“ (Kritik, 260). Sprache und(soziales) Sein sind an dieser Stelle eng verknüpft: Was sich nicht durchsprachliche Kategorien darstellen lässt, kann im Sprachlichen nicht als in-telligibel erscheinen. Der Begriff der „Intelligibilität“ fungiert bei Butlerals Gelenkstelle zwischen der konstitutiven Kraft des Diskurses und denBereichen gesellschaftlich anerkannten Seins. Intelligibel sind jene Sub-jekte und Lebensformen, welche einerseits verständlich, begreiflich unddenkbar und andererseits gesellschaftlich anerkannt sind. Diese Verknüp-fung von „Diskurs“ und sozialem „Sein“ ermöglicht es, die Grenzen desDenkbaren nicht als Grenzen des Möglichen zu verstehen, sondern sie imNamen von (noch) „undenkbaren“ Subjektpositionen in Frage zu stellen.

3. Genealogie des Geschlechts

Das Geschäft der permanenten Kritik besteht darin, die kontinuierlichhergestellte Differenz zwischen notwendigen, d. h. ontologischen, trans-zendentalen oder natürlichen Prämissen und kontingenten, d.h. sozialen,politischen oder historischen Ereignissen als Effekt diskursiver Macht zuentziffern. Weil die Macht auch „den Begriffsapparat [durchdringt], derversucht, über die Macht zu verhandeln, […] ebenso wie die Subjekt-Posi-tion des Kritikers“ (Kontingente Grundlagen, 36), stellt Kritik auch einePraxis der unabschließbaren Selbstreflexion dar. Als eine solche Form derSelbstkritik lässt sich Butlers Auseinandersetzung mit den Prämissen desFeminismus lesen, zu dessen Denktradition sie sich selber zählt. „Die fe-ministische Kritik muß auch begreifen, wie die Kategorie ‘Frau(en)’, dasSubjekt des Feminismus, gerade durch jene Machtstrukturen hervorge-bracht und eingeschränkt wird, mittels derer das Ziel der Emanzipationerreicht werden soll.“9Damit wird das Projekt einer innerfeministischen„permanenten Kritik“ ersichtlich, welche kontinuierlich nach den Gren-zen der eigenen Prämissen fragt, auch und gerade wenn diese im Namender Befreiung eingesetzt worden sind. So kritisiert Butler in Das Unbeha- gen der Geschlechter die Trennung zwischen dem sozialen Geschlecht(„gender“) und dem biologischem Geschlecht („sex“), die seit den späten70er-Jahren ein zentrales Paradigma feministischer Theorie und Forschungdarstellt. Butler weist darauf hin, dass sich der Körper auch als „Materia-lität“ immer schon im Bereich des Bezeichenbaren befindet und durchdiesen konstituiert wird. Damit stellt sich nicht mehr die Frage, wie sichdas natürliche vom sozialen Geschlecht unterscheidet, sondern wie und inwelcher Funktion der biologische Körper als „das radikal Nicht-konstru-ierte“ (a.a.O., 24) erscheinen kann.10Butler beginnt, eine kritische Genea-logie von Geschlecht zu schreiben, indem sie danach fragt, wie Vorstellun-gen eines „natürlichen“ oder „wahren“ Geschlechts mobilisiert werden,um bestimmte historisch-kulturelle Praktiken zu legitimieren und andereauszuschließen. Butlers Kritik an den grundlegenden Kategorien von Ge-schlecht nimmt dabei die Form einer radikalen Ontologiekritik an. „Die

Ontologie ist […] keine Grundlage, sondern eine normative Anweisung,die verstohlen wirksam ist, indem sie sich als notwendiger Grund in denpolitischen Diskurs einschreibt“ (Unbehagen, 217). Damit suspendiert

Butler die Diskussion über einen „wahren“ Grund von Geschlecht undfragt stattdessen, wie „Geschlechterwahrheiten“ produziert werden. Wasin den ontologisch verbürgten Positionen eines „natürlichen“ Geschlechtsauftaucht, wird als Effekt einer „heterosexuellen Matrix“ entzifferbar,welche bestimmte Formen von Geschlecht naturalisiert und andere ver-wirft.11Diese Matrix, so Butler, operiert als ein „Raster der kulturellen In-telligibilität, durch das die Körper, Geschlechtsidentitäten und Begehrennaturalisiert werden“ (Unbehagen, 219). Eine solche kritische Lektürefolgt Friedrich Nietzsches Konzept der Genealogie, mit dem er sich gegendie Vorstellung wendet, den wahren Begriff einer Sache aus ihrem Ur-sprung ableiten zu können. Stattdessen geht Nietzsche davon aus, dass die

Bedeutungszusammenhänge, die sich um einen Begriff bilden, Effektevorherrschender Interpretationsmächte darstellen. „[Die] ganze Geschich-te eines ‘Dings’, eines Organs, eines Brauchs kann dergestalt eine fortge-setzte Zeichenkette von immer neuen Interpretationen und Zurecht-machungen sein.“12Eine solche Perspektive ermöglicht es Butler, in der

Philosophie sorgfältig auseinander gehaltene Begriffe wie das Ontolo-gische, Natürliche oder Essenzielle nun auf eine Gemeinsamkeit hin les-bar zu machen: Sie legitimieren gesellschaftliche Normen dadurch, dass siediese im Modus der Deskription präsentieren und dabei auf einen Ur-sprung oder Grund zurückführen. Diesem scheinbar notwendigen Grundist aber immer eine Herrschaftsposition eingeschrieben, in deren Interessedie kausale Verbindung von Ursache und Effekt erstellt worden ist. Im

Anschluss an Nietzsches Genealogie fragt Butler darum nach den „politi-schen Einsätze[n], die auf dem Spiel stehen, wenn die Identitätskategorienals Ursprung Ursache und bezeichnet werden, obgleich sie in Wirklichkeit Effekte von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen mit vielfäl-tigen und diffusen Ursprungsorten sind“ (Unbehagen, 9). Die Unterschei-dung zwischen Normativem und Deskriptivem selbst wird an dieser StelleAnsatzpunkt eines genealogischen Verdachts, der das Deskriptive alsstrategisches Element immer schon normativ operierender Macht-Wissen-Systeme bestimmt. Wird dies auf die Frage der Geschlechtsidentitätangewendet, zeigt sich, dass jene Subjekte ein intelligibles Geschlechtaufweisen, „die in bestimmtem Sinne Beziehungen der Kohärenz undKontinuität zwischen dem anatomischen Geschlecht (‘sex’), der Ge-schlechtsidentität (‘gender’), der sexuellen Praxis und dem Begehren stif-ten und aufrechterhalten“ (Butler, Unbehagen, 38). Zugleich mit diesenidealisierten Normen entstehen aber immer auch „Gespenster der Dis-kontinuität und Inkohärenz, die ihrerseits nur auf dem Hintergrund vonexistierenden Normen der Kohärenz und Kontinuität denkbar sind“(ebd.). Mit den intelligiblen Geschlechtsidentitäten, die ein hoch spezi-fiziertes Set von Normen und Relationen darstellen, tauchen damit vielfäl-tige Abweichungen auf: Körper, die nicht eindeutig dem männlichen oderweiblichen Geschlecht zugeordnet sind, weibliche Körper, die weiblicheKörper begehren, und männliche Körper, die sich weiblich artikulieren.13Das Unbehagen der Geschlechter handle, so Butler in einem Interview,„von begehrenden Subjekten, die entweder aus der heterosexuellen Normfallen oder in ihr als eines von mehreren Sets von Normen operieren, aberauf ‘perverse’ oder unlegitimierte Weise“14. Diese „verworfenen“ Subjektestellen den ontologisch privilegierten Status jener Geschlechteridentitätenin Frage, die „die Stelle des ‘Wirklichen’“ (Unbehagen, 60) einnehmen.Vom unabgesicherten Ort dieser Anderen her werden gesellschaftlichePrämissen als Regulative lesbar, deren Status sich nicht als transzendental,sondern als kontingent erweist.logie von Geschlecht zu schreiben, indem sie danach fragt, wie Vorstellun-gen eines „natürlichen“ oder „wahren“ Geschlechts mobilisiert werden,um bestimmte historisch-kulturelle Praktiken zu legitimieren und andereauszuschließen. Butlers Kritik an den grundlegenden Kategorien von Ge-schlecht nimmt dabei die Form einer radikalen Ontologiekritik an. „DieOntologie ist […] keine Grundlage, sondern eine normative Anweisung,die verstohlen wirksam ist, indem sie sich als notwendiger Grund in denpolitischen Diskurs einschreibt“ (Unbehagen, 217). Damit suspendiertButler die Diskussion über einen „wahren“ Grund von Geschlecht undfragt stattdessen, wie „Geschlechterwahrheiten“ produziert werden. Wasin den ontologisch verbürgten Positionen eines „natürlichen“ Geschlechtsauftaucht, wird als Effekt einer „heterosexuellen Matrix“ entzifferbar,welche bestimmte Formen von Geschlecht naturalisiert und andere ver-wirft.11Diese Matrix, so Butler, operiert als ein „Raster der kulturellen In-telligibilität, durch das die Körper, Geschlechtsidentitäten und Begehrennaturalisiert werden“ (Unbehagen, 219). Eine solche kritische Lektürefolgt Friedrich Nietzsches Konzept der Genealogie, mit dem er sich gegendie Vorstellung wendet, den wahren Begriff einer Sache aus ihrem Ur-sprung ableiten zu können. Stattdessen geht Nietzsche davon aus, dass dieBedeutungszusammenhänge, die sich um einen Begriff bilden, Effektevorherrschender Interpretationsmächte darstellen. „[Die] ganze Geschich-te eines ‘Dings’, eines Organs, eines Brauchs kann dergestalt eine fortge-setzte Zeichenkette von immer neuen Interpretationen und Zurecht-machungen sein.“12Eine solche Perspektive ermöglicht es Butler, in derPhilosophie sorgfältig auseinander gehaltene Begriffe wie das Ontolo-gische, Natürliche oder Essenzielle nun auf eine Gemeinsamkeit hin les-bar zu machen: Sie legitimieren gesellschaftliche Normen dadurch, dass siediese im Modus der Deskription präsentieren und dabei auf einen Ur-sprung oder Grund zurückführen. Diesem scheinbar notwendigen Grundist aber immer eine Herrschaftsposition eingeschrieben, in deren Interessedie kausale Verbindung von Ursache und Effekt erstellt worden ist. ImAnschluss an Nietzsches Genealogie fragt Butler darum nach den „politi-schen Einsätze[n], die auf dem Spiel stehen, wenn die Identitätskategorienals Ursprung Ursache und bezeichnet werden, obgleich sie in Wirklichkeit Effekte von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen mit vielfäl-tigen und diffusen Ursprungsorten sind“ (Unbehagen, 9). Die Unterschei-dung zwischen Normativem und Deskriptivem selbst wird an dieser StelleAnsatzpunkt eines genealogischen Verdachts, der das Deskriptive alsstrategisches Element immer schon normativ operierender Macht-Wissen-Systeme bestimmt. Wird dies auf die Frage der Geschlechtsidentitätangewendet, zeigt sich, dass jene Subjekte ein intelligibles Geschlechtaufweisen, „die in bestimmtem Sinne Beziehungen der Kohärenz undKontinuität zwischen dem anatomischen Geschlecht (‘sex’), der Ge-schlechtsidentität (‘gender’), der sexuellen Praxis und dem Begehren stif-ten und aufrechterhalten“ (Butler, Unbehagen, 38). Zugleich mit diesenidealisierten Normen entstehen aber immer auch „Gespenster der Dis-kontinuität und Inkohärenz, die ihrerseits nur auf dem Hintergrund vonexistierenden Normen der Kohärenz und Kontinuität denkbar sind“(ebd.). Mit den intelligiblen Geschlechtsidentitäten, die ein hoch spezi-fiziertes Set von Normen und Relationen darstellen, tauchen damit vielfäl-tige Abweichungen auf: Körper, die nicht eindeutig dem männlichen oderweiblichen Geschlecht zugeordnet sind, weibliche Körper, die weiblicheKörper begehren, und männliche Körper, die sich weiblich artikulieren.13Das Unbehagen der Geschlechter handle, so Butler in einem Interview,„von begehrenden Subjekten, die entweder aus der heterosexuellen Normfallen oder in ihr als eines von mehreren Sets von Normen operieren, aberauf ‘perverse’ oder unlegitimierte Weise“14. Diese „verworfenen“ Subjektestellen den ontologisch privilegierten Status jener Geschlechteridentitätenin Frage, die „die Stelle des ‘Wirklichen’“ (Unbehagen, 60) einnehmen.Vom unabgesicherten Ort dieser Anderen her werden gesellschaftlichePrämissen als Regulative lesbar, deren Status sich nicht als transzendental,sondern als kontingent erweist.

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4. Das Subjekt der Performativität

Wie aber wirken solche Normen auf das Subjekt ein; wie werden sie vondiesem angeeignet und verkörpert? Butler erörtert den Zusammenhangzwischen gesellschaftlichen Normen und der Subjektivierung mit dem

Konzept der Performativität. Dabei wird das Subjekt nicht auf eine Sub-stanz zurückgeführt, sondern als eine „in Formierung begriffene Struk-tur“15konzipiert. Butler greift damit Nietzsches Kritik an der Vorstellungauf, das Subjekt sei der Autor seiner Handlungen. Dem hält Nietzsche die

These entgegen, dass es keinen Täter hinter der Tat gebe und dass die Vor-stellung, dass der Täter seine eigenen Handlungen verursache, vielmehreinen Effekt dieser Handlungen darstelle: „‘der Thäter’ ist zum Thun blosshinzugedichtet“ (Nietzsche, Genealogie, 279). Dieser Perspektivenwechselvom Subjekt auf sein Tun wird in Butlers Konzept der Performativität zum

Ausgangspunkt einer poststrukturalistischen Subjekttheorie. „Eine perfor-mative Handlung ist eine solche, die das, was sie benennt, hervorruft oderin Szene setzt und so die konstitutive oder produktive Macht der Redeunterstreicht. In dem Maße, wie ein Performativ eine vorgängige Intention

‘auszudrücken’ scheint – einen Täter hinter der Tat – ist diese vorgängige

Handlungsfähigkeit nur lesbar als Effekt dieser Äußerung.“16Damit wirddie genealogische Einsicht, dass Ursache und Wirkung nicht kausal, son-dern strategisch verknüpft sind, auf die Frage der Subjektivierung übertra-gen. Das Subjekt, das als notwendige Ursache seiner Handlung erscheint,wird nun als deren kontingenter Effekt lesbar.

Wie aber können Serien von Handlungen einen Subjektivierungspro-zess bilden? Butler greift an dieser Stelle John Austins Sprechakttheorieauf, die beschreibt, inwiefern sprachliche Äußerungen Handlungen dar-stellen; wie man also mit Worten Dinge tun kann.17Anstatt wie Austin voneinem intentional handelnden Subjekt auszugehen, dessen Aussagen unter

Berufung auf Konventionen zu Taten werden, definiert Butler Performati-vität als erzwungene, und das heißt auch dem Bewusstsein immer partiellentzogene Repetition gesellschaftlicher Regeln. Performativität stellt die

„erzwungene unentwegte Wiederholung der Normen“18dar. Um als sozialentzifferbar in Erscheinung zu treten, um überhaupt die sprachlichen Ka-tegorien des „Seins“ einnehmen zu können, muss sich das Subjekt bestän-dig den diskursiven Regeln, sozialen Codes und gesellschaftlichen Vor-schriften unterwerfen. Dieser performativen Wiederholung von Normengeht das Subjekt nicht voraus; es entsteht im Prozess seiner Formation und als dieser Prozess.19Indem es soziale Normen inkorporiert, wiederholtund reproduziert, stellt das Subjekt ein Moment der Verstetigung beste-hender Machtregimes dar. Gleichzeitig, und darin liegt ein Paradox derSubjektivierung, erweist es sich auch als Ort der Destabilisierung vonMacht. Butler bezieht sich an dieser Stelle auf Jacques Derridas Kritik ander Sprechakttheorie, in der er zeigt, dass der performative Akt sich nicht möglicherweise wiederholt, sondern nur als nicht-identische Wiederholungmöglich ist.20In dieser Repetition werden Normen kontinuierlich verfehlt,verändert und „falsch“ zitiert. Normen sind damit einerseits auf ihreWiederholung angewiesen, um in Kraft zu bleiben, andererseits ist es gera-de ihre beständige Iteration, welche sie verletzlich und anfechtbar macht.Das Subjekt, das sich den gesellschaftlichen Kategorien unterwerfen muss,um zu sozialer Existenz zu gelangen, ist damit ein Ort sowohl der Stabili-sierung wie auch der Subvertierung gesellschaftlicher Normen.

Butlers Vorschlag, Subjektivierung und Handlungsfähigkeit jenseitseines essentialistischen Subjekts zu denken, stößt innerhalb der feministi-schen Diskussion auf Widerstand.21So schreibt Seyla Benhabib: „Ich binskeptisch, dass eine Sprechakttheorie zur performativen Geschlechter-konstitution (‘gender constitution’) uns eine hinreichende Erklärung vonGeschlechter-Bildung (‘gender formation’) geben kann, die auch die Fä-

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4. Das Subjekt der Performativität

Wie aber wirken solche Normen auf das Subjekt ein; wie werden sie vondiesem angeeignet und verkörpert? Butler erörtert den Zusammenhangzwischen gesellschaftlichen Normen und der Subjektivierung mit dem

Konzept der Performativität. Dabei wird das Subjekt nicht auf eine Sub-stanz zurückgeführt, sondern als eine „in Formierung begriffene Struk-tur“15konzipiert. Butler greift damit Nietzsches Kritik an der Vorstellungauf, das Subjekt sei der Autor seiner Handlungen. Dem hält Nietzsche die

These entgegen, dass es keinen Täter hinter der Tat gebe und dass die Vor-stellung, dass der Täter seine eigenen Handlungen verursache, vielmehreinen Effekt dieser Handlungen darstelle: „‘der Thäter’ ist zum Thun blosshinzugedichtet“ (Nietzsche, Genealogie, 279). Dieser Perspektivenwechselvom Subjekt auf sein Tun wird in Butlers Konzept der Performativität zum

Ausgangspunkt einer poststrukturalistischen Subjekttheorie. „Eine perfor-mative Handlung ist eine solche, die das, was sie benennt, hervorruft oderin Szene setzt und so die konstitutive oder produktive Macht der Redeunterstreicht. In dem Maße, wie ein Performativ eine vorgängige Intention

‘auszudrücken’ scheint – einen Täter hinter der Tat – ist diese vorgängige

Handlungsfähigkeit nur lesbar als Effekt dieser Äußerung.“16Damit wirddie genealogische Einsicht, dass Ursache und Wirkung nicht kausal, son-dern strategisch verknüpft sind, auf die Frage der Subjektivierung übertra-gen. Das Subjekt, das als notwendige Ursache seiner Handlung erscheint,wird nun als deren kontingenter Effekt lesbar.

Wie aber können Serien von Handlungen einen Subjektivierungspro-zess bilden? Butler greift an dieser Stelle John Austins Sprechakttheorieauf, die beschreibt, inwiefern sprachliche Äußerungen Handlungen dar-stellen; wie man also mit Worten Dinge tun kann.17Anstatt wie Austin voneinem intentional handelnden Subjekt auszugehen, dessen Aussagen unter

Berufung auf Konventionen zu Taten werden, definiert Butler Performati-vität als erzwungene, und das heißt auch dem Bewusstsein immer partiellentzogene Repetition gesellschaftlicher Regeln. Performativität stellt die

„erzwungene unentwegte Wiederholung der Normen“18dar. Um als sozialentzifferbar in Erscheinung zu treten, um überhaupt die sprachlichen Ka-tegorien des „Seins“ einnehmen zu können, muss sich das Subjekt bestän-dig den diskursiven Regeln, sozialen Codes und gesellschaftlichen Vor-schriften unterwerfen. Dieser performativen Wiederholung von Normengeht das Subjekt nicht voraus; es entsteht im Prozess seiner Formation und als dieser Prozess.19Indem es soziale Normen inkorporiert, wiederholtund reproduziert, stellt das Subjekt ein Moment der Verstetigung beste-hender Machtregimes dar. Gleichzeitig, und darin liegt ein Paradox derSubjektivierung, erweist es sich auch als Ort der Destabilisierung vonMacht. Butler bezieht sich an dieser Stelle auf Jacques Derridas Kritik ander Sprechakttheorie, in der er zeigt, dass der performative Akt sich nicht möglicherweise wiederholt, sondern nur als nicht-identische Wiederholungmöglich ist.20In dieser Repetition werden Normen kontinuierlich verfehlt,verändert und „falsch“ zitiert. Normen sind damit einerseits auf ihreWiederholung angewiesen, um in Kraft zu bleiben, andererseits ist es gera-de ihre beständige Iteration, welche sie verletzlich und anfechtbar macht.Das Subjekt, das sich den gesellschaftlichen Kategorien unterwerfen muss,um zu sozialer Existenz zu gelangen, ist damit ein Ort sowohl der Stabili-sierung wie auch der Subvertierung gesellschaftlicher Normen.

Butlers Vorschlag, Subjektivierung und Handlungsfähigkeit jenseitseines essentialistischen Subjekts zu denken, stößt innerhalb der feministi-schen Diskussion auf Widerstand.21So schreibt Seyla Benhabib: „Ich binskeptisch, dass eine Sprechakttheorie zur performativen Geschlechter-konstitution (‘gender constitution’) uns eine hinreichende Erklärung vonGeschlechter-Bildung (‘gender formation’) geben kann, die auch die Fä-higkeit zur Selbstbestimmung der Handlungsfähigkeit jenseits des Kom-plexes von Konstitution erklären kann.“22Dieser Einwand übersieht aller-dings die Pointe von Butlers Subjektbegriff, die gerade darin besteht,Handlungsfähigkeit im Prozess der Subjektformation zu lokalisieren. Per-formativität soll das paradoxe Zusammenspiel von Zwang und Hand-lungsfähigkeit erfassen, ohne eine individuelle Quelle des Handelns zuunterstellen, die außerhalb des diskursiven Regimes liegt. Das Subjektkonstituiert sich vielmehr „innerhalb eines gegebenen Macht- und Dis-kursgeflechtes, das für Umdeutungen, Wiederentfaltungen und subversiveZitate von innen und für Unterbrechungen und unerwartete Übereinstim-mungen mit anderen Netzwerken offen ist“ (Butler, Sorgfältiges Lesen,125).

Die Kritik von Saba Mahmood richtet sich nicht gegen den Ansatz derPerformativität per se, sondern gegen die positive Bedeutung, welche derDestabilisierung von Normen dabei zukommt. Mahmood führt aus, dassdie Emphase, mit der die Veränderung von Normen bedacht werde, aufButlers westlichen liberalen Freiheitsbegriff zurückzuführen sei. Als pro-blematisch erweise sich dieser, weil damit andere Formen von Handlungs-fähigkeit und Widerstand, wie sie zum Beispiel in nicht-säkularen Gesell-schaften existieren, nicht erkannt werden können. Mahmood schlägt vor,dass „Handlungskapazität nicht nur in jenen Akten erforderlich ist, welchezu (progressiven) Veränderungen führen, sondern auch in jenen, welcheKontinuität, Stase und Stabilität zum Ziel haben“23. In der Tat werdenHandlungen, welche bestehende Normen reproduzieren, in Butlers Arbei-ten oft problematisiert, weil sie zur Konsolidierung bestehender Macht-systeme beitragen können. Das bedeutet aber nicht, dass mit dem Konzeptder Performativität nicht andere Formen von Handlungsfähigkeit denkbarwären. Wenn das Normative ein umkämpfter Ort gegenläufiger, wider-sprüchlicher, sich ausschließender und ständig verändernder Annahmenund Anweisungen darstellt, ist es möglich, dass die Stabilisierung bestimm-ter Normen zur Destabilisierung anderer Normen führt. So kann die affir-mative Wiederholung bestehender Normen etwa gegen den Anspruchneoliberaler Wirtschaftsvorgaben oder gegen neoimperialistische Konzep-te unter Umständen als Handlungsfähigkeit und Widerstand gedeutetwerden.

5. Inklusion und Exklusion: Die Logik der Verwerfung

Wenn Butler eine Motivation ihrer Arbeit darin sieht, „auf der Erweite-rung der Legitimität von Körpern zu insistieren, die als falsch, unreal undunintelligibel erachtet worden sind“24, dann geht es ihr nicht nur darumaufzuzeigen, dass gewisse Lebensformen gesellschaftlich privilegiertersind als andere. Die Vorstellung einer rational erfassbaren sozialen Hierar-chie, die analysiert und kritisiert werden kann, setzt voraus, dass alle Sub-jektpositionen gleichermaßen im Bereich des Repräsentierbaren erschei-nen. Genau diesen Ausgangspunkt aber stellt Butler in Frage, indem siedie Logik der Repräsentation an sich problematisiert. Sie geht davon aus,dass die Bedingungen der Intelligibilität selbst, d. h. der Möglichkeit, alskohärentes, verständliches und begreifliches Subjekt erscheinen zu kön-nen, von Macht-Wissen-Systemen hervorgebracht und reguliert werden.Damit ist die „Erzeugung des Nicht-Symbolisierbaren, des Unaussprech-lichen, des Unentzifferbaren […] immer auch eine Strategie des sozialenVerwerflichmachens“ (Körper von Gewicht, 253). Die Untrennbarkeit die-ser Logik der Verwerfung von der Manifestation gesellschaftlicher Machtmacht es zu einer politischen Aufgabe der Kritik, Ausschlussverfahrennachzuzeichnen und ihre Legitimität in Frage zu stellen. Für Butler be-steht die Aufgabe der Kritik darin, das Verworfene – als Störung, alsUnterbruch, als negative Präsenz – ins Feld des Diskursiven zu holen unddabei die Grenzen zwischen Intelligiblem und Nicht-Intelligiblem zu de-stabilisieren.25higkeit zur Selbstbestimmung der Handlungsfähigkeit jenseits des Kom-plexes von Konstitution erklären kann.“22Dieser Einwand übersieht aller-dings die Pointe von Butlers Subjektbegriff, die gerade darin besteht,Handlungsfähigkeit im Prozess der Subjektformation zu lokalisieren. Per-formativität soll das paradoxe Zusammenspiel von Zwang und Hand-lungsfähigkeit erfassen, ohne eine individuelle Quelle des Handelns zuunterstellen, die außerhalb des diskursiven Regimes liegt. Das Subjektkonstituiert sich vielmehr „innerhalb eines gegebenen Macht- und Dis-kursgeflechtes, das für Umdeutungen, Wiederentfaltungen und subversiveZitate von innen und für Unterbrechungen und unerwartete Übereinstim-mungen mit anderen Netzwerken offen ist“ (Butler, Sorgfältiges Lesen,125).

Die Kritik von Saba Mahmood richtet sich nicht gegen den Ansatz derPerformativität per se, sondern gegen die positive Bedeutung, welche derDestabilisierung von Normen dabei zukommt. Mahmood führt aus, dassdie Emphase, mit der die Veränderung von Normen bedacht werde, aufButlers westlichen liberalen Freiheitsbegriff zurückzuführen sei. Als pro-blematisch erweise sich dieser, weil damit andere Formen von Handlungs-fähigkeit und Widerstand, wie sie zum Beispiel in nicht-säkularen Gesell-schaften existieren, nicht erkannt werden können. Mahmood schlägt vor,dass „Handlungskapazität nicht nur in jenen Akten erforderlich ist, welchezu (progressiven) Veränderungen führen, sondern auch in jenen, welcheKontinuität, Stase und Stabilität zum Ziel haben“23. In der Tat werdenHandlungen, welche bestehende Normen reproduzieren, in Butlers Arbei-ten oft problematisiert, weil sie zur Konsolidierung bestehender Macht-systeme beitragen können. Das bedeutet aber nicht, dass mit dem Konzeptder Performativität nicht andere Formen von Handlungsfähigkeit denkbarwären. Wenn das Normative ein umkämpfter Ort gegenläufiger, wider-sprüchlicher, sich ausschließender und ständig verändernder Annahmenund Anweisungen darstellt, ist es möglich, dass die Stabilisierung bestimm-ter Normen zur Destabilisierung anderer Normen führt. So kann die affir-mative Wiederholung bestehender Normen etwa gegen den Anspruchneoliberaler Wirtschaftsvorgaben oder gegen neoimperialistische Konzep-te unter Umständen als Handlungsfähigkeit und Widerstand gedeutetwerden.

5. Inklusion und Exklusion: Die Logik der Verwerfung

Wenn Butler eine Motivation ihrer Arbeit darin sieht, „auf der Erweite-rung der Legitimität von Körpern zu insistieren, die als falsch, unreal undunintelligibel erachtet worden sind“24, dann geht es ihr nicht nur darumaufzuzeigen, dass gewisse Lebensformen gesellschaftlich privilegiertersind als andere. Die Vorstellung einer rational erfassbaren sozialen Hierar-chie, die analysiert und kritisiert werden kann, setzt voraus, dass alle Sub-jektpositionen gleichermaßen im Bereich des Repräsentierbaren erschei-nen. Genau diesen Ausgangspunkt aber stellt Butler in Frage, indem siedie Logik der Repräsentation an sich problematisiert. Sie geht davon aus,dass die Bedingungen der Intelligibilität selbst, d. h. der Möglichkeit, alskohärentes, verständliches und begreifliches Subjekt erscheinen zu kön-nen, von Macht-Wissen-Systemen hervorgebracht und reguliert werden.Damit ist die „Erzeugung des Nicht-Symbolisierbaren, des Unaussprech-lichen, des Unentzifferbaren […] immer auch eine Strategie des sozialenVerwerflichmachens“ (Körper von Gewicht, 253). Die Untrennbarkeit die-ser Logik der Verwerfung von der Manifestation gesellschaftlicher Machtmacht es zu einer politischen Aufgabe der Kritik, Ausschlussverfahrennachzuzeichnen und ihre Legitimität in Frage zu stellen. Für Butler be-steht die Aufgabe der Kritik darin, das Verworfene – als Störung, alsUnterbruch, als negative Präsenz – ins Feld des Diskursiven zu holen unddabei die Grenzen zwischen Intelligiblem und Nicht-Intelligiblem zu de-stabilisieren.25Isabel Lorey setzt dem entgegen, dass Butler einerseits binäre Identi-tätskonzepte wie dasjenige eines männlichen oder weiblichen Geschlechtskritisiere, selber aber einem binären Mechanismus von Inklusion und Ex-klusion das Wort rede. Butler beschränke sich darauf, „die kulturelle Kon-struiertheit von Grenzen zu beschreiben, nicht aber die Grenzziehungenin ihrer Zweidimensionalität von Ein- und Ausschlüssen“26zu kritisieren.

Lorey übersieht dabei allerdings, dass Butler nicht inhaltliche Binaritätenfixiert, sondern den strukturellen Aspekt des Ausschlusses thematisiert.

Was zudem im mechanistischen Bild von Ein- und Ausschlüssen unterbe-stimmt bleibt, gewinnt im Zuge von Butlers Analysen an Differenziertheitund Komplexität: Das Verworfene ist zuweilen gar nicht denk- und reprä-sentierbar, dann wieder taucht es als Halbsubjekt, als Präsubjekt, als ab-weichendes oder pathologisiertes Subjekt im Diskurs auf. Auch begründetsich eine Identität nicht über eine einzige Verwerfung, sondern über einensich stets verändernden unbestimmbaren Bereich ausgeschlossener Le-bens- und Seinsformen. „Das Verworfene [the abject] bezeichnet hiergenau jene ‘nicht lebbaren’ und ‘unbewohnbaren’ Zonen des sozialen Le-bens, die dennoch dicht bevölkert sind von denjenigen, die nicht den Sta-tus des Subjekts genießen, deren Leben im Zeichen des ‘Nicht-Lebbaren’jedoch benötigt wird, um den Bereich des Subjekts einzugrenzen“ (Butler,

Körper von Gewicht , 23).

Die Logik der Verwerfung untersucht Butler ausführlich anhand der

Frage, wie sich die männliche und weibliche Geschlechtsidentität über den

Ausschluss der Homosexualität generiert. So zeigt sie, dass der psychoana-lytischen Theorie ein Tabu der Homosexualität eingeschrieben ist, dasdem Inzesttabu stillschweigend vorausgeht. Als Effekt dieser immer schonausgeschlossenen Möglichkeit, ein gleichgeschlechtliches Subjekt zubegehren, entstehen mit der heterosexuell strukturierten Geschlechter-differenz auch homosexuelle Figuren der Verwerfung. „Die Figur der Kas-tration, die differentiell operiert, um die Zwangsgewalt der geschlechts-spezifischen Bestrafung zu konstituieren, beinhaltet zumindest zwei un-artikulierte Figuren der verwerflichen Homosexualität, und zwar die desverweiblichten Schwulen [fag] und die der phallizisierten Lesbe [dyke]“

(a. a. O., 135). Inwiefern aber sind nun solche Figuren des Verworfenennicht nur Nebenerscheinungen der heterosexuellen Logik, sondern auchkonstitutiv für diese Ordnung selbst? Butler zeigt anhand der psycho-analytischen Theorie Jacques Lacans, dass die Figuren der männlichenLesbe und des weiblichen Schwulen den psychotischen Identitätsverlustrepräsentieren, der beim Austritt aus dem ödipal strukturierten Bereichdes Symbolischen droht. So werden sie zu Figuren, welche die Grenze zwi-schen einer (heterosexuellen) intelligiblen Geschlechtsidentität und der(homosexuellen) Psychose markieren. Da das Symbolische bei Lacandurch die heterosexuell operierende Geschlechterdifferenz in Kraft ge-setzt wird, beruht es gleichzeitig auf der Verwerfung der Homosexuali-tät. Diese fungiert als Androhung dessen, was sich beim Übertreten desheterosexuellen Gesetzes ereignen würde: der Verlust des überlebens-wichtigen sprachlichen Differenzierungsprozesses. Anstatt diese Ver-schränkung von homosexuellem Begehren und Psychose zu akzeptieren,fragt Butler, in „welchem Umfang […] die Fantasie der psychotischen Auf-lösung selbst die Wirkung eines bestimmten Verbots gegen die sexuellenMöglichkeiten [ist], die den heterosexuellen Vertrag außer Kraft setzen?“(a.a.O., 137).

Wieder wird an dieser Stelle das Verfahren der permanenten Kritik er-kennbar, das vor dem (quasi-)transzendentalen Anspruch der hetero-sexuellen Geschlechterdifferenz nicht Halt macht, sondern deren Le-gitimität in Frage stellt und dabei die Möglichkeit eröffnet, Begehren undGeschlecht von der kontingenten Bedingung der Zwangsheterosexualitätabzulösen.

Butlers Kritik an Lacans Theorie zeigt, wie Normen über den konstituti-ven Ausschluss funktionieren und wie das Ausgeschlossene am Rande dersprachlichen und gesellschaftlichen Ordnung wieder auftaucht. Wenn dieVerdrängung der gleichgeschlechtlichen Liebe die Entstehung von Ge-schlecht begründet, dann ist die heterosexuelle Identität durch ein eigen-artiges Band gerade an jene Begehrensposition gebunden, die sie unterkeinen Umständen einnehmen kann. Die Homosexualität umfasst damitnicht nur die am Rande des Sozialen angesiedelte Lebensform von Lesbenund Schwulen, sondern sie ist auch inmitten der hegemonialen, hetero-sexuellen Psyche als anwesendes Abwesendes zu finden. Präsent ist sieallerdings nicht nur als ein Verbot der gleichgeschlechtlichen Liebe, son-dern auch als ihr nicht erinnerbarer und nicht repräsentierbarer Verlust.Die Einnahme einer weiblichen Position gründet damit auf einer unbe-wussten doppelten Verneinung der Homosexualität; sie bedeutet, eine an-dere Frau niemals niemals geliebt und verloren zu haben. „Dieses ‘nie-nie’begründet somit gleichsam das heterosexuelle Subjekt; es handelt sich umeine Identität, die auf dem verweigerten Einstehen für eine Bindung unddamit auf verweigerter Trauer gründet“ (a.a.O., 132). Das Phänomen desIsabel Lorey setzt dem entgegen, dass Butler einerseits binäre Identi-tätskonzepte wie dasjenige eines männlichen oder weiblichen Geschlechtskritisiere, selber aber einem binären Mechanismus von Inklusion und Ex-klusion das Wort rede. Butler beschränke sich darauf, „die kulturelle Kon-struiertheit von Grenzen zu beschreiben, nicht aber die Grenzziehungenin ihrer Zweidimensionalität von Ein- und Ausschlüssen“26zu kritisieren.

Lorey übersieht dabei allerdings, dass Butler nicht inhaltliche Binaritätenfixiert, sondern den strukturellen Aspekt des Ausschlusses thematisiert.

Was zudem im mechanistischen Bild von Ein- und Ausschlüssen unterbe-stimmt bleibt, gewinnt im Zuge von Butlers Analysen an Differenziertheitund Komplexität: Das Verworfene ist zuweilen gar nicht denk- und reprä-sentierbar, dann wieder taucht es als Halbsubjekt, als Präsubjekt, als ab-weichendes oder pathologisiertes Subjekt im Diskurs auf. Auch begründetsich eine Identität nicht über eine einzige Verwerfung, sondern über einensich stets verändernden unbestimmbaren Bereich ausgeschlossener Le-bens- und Seinsformen. „Das Verworfene [the abject] bezeichnet hiergenau jene ‘nicht lebbaren’ und ‘unbewohnbaren’ Zonen des sozialen Le-bens, die dennoch dicht bevölkert sind von denjenigen, die nicht den Sta-tus des Subjekts genießen, deren Leben im Zeichen des ‘Nicht-Lebbaren’jedoch benötigt wird, um den Bereich des Subjekts einzugrenzen“ (Butler,

Körper von Gewicht , 23).

Die Logik der Verwerfung untersucht Butler ausführlich anhand der

Frage, wie sich die männliche und weibliche Geschlechtsidentität über den

Ausschluss der Homosexualität generiert. So zeigt sie, dass der psychoana-lytischen Theorie ein Tabu der Homosexualität eingeschrieben ist, dasdem Inzesttabu stillschweigend vorausgeht. Als Effekt dieser immer schonausgeschlossenen Möglichkeit, ein gleichgeschlechtliches Subjekt zubegehren, entstehen mit der heterosexuell strukturierten Geschlechter-differenz auch homosexuelle Figuren der Verwerfung. „Die Figur der Kas-tration, die differentiell operiert, um die Zwangsgewalt der geschlechts-spezifischen Bestrafung zu konstituieren, beinhaltet zumindest zwei un-artikulierte Figuren der verwerflichen Homosexualität, und zwar die desverweiblichten Schwulen [fag] und die der phallizisierten Lesbe [dyke]“

(a. a. O., 135). Inwiefern aber sind nun solche Figuren des Verworfenennicht nur Nebenerscheinungen der heterosexuellen Logik, sondern auchkonstitutiv für diese Ordnung selbst? Butler zeigt anhand der psycho-analytischen Theorie Jacques Lacans, dass die Figuren der männlichenLesbe und des weiblichen Schwulen den psychotischen Identitätsverlustrepräsentieren, der beim Austritt aus dem ödipal strukturierten Bereichdes Symbolischen droht. So werden sie zu Figuren, welche die Grenze zwi-schen einer (heterosexuellen) intelligiblen Geschlechtsidentität und der(homosexuellen) Psychose markieren. Da das Symbolische bei Lacandurch die heterosexuell operierende Geschlechterdifferenz in Kraft ge-setzt wird, beruht es gleichzeitig auf der Verwerfung der Homosexuali-tät. Diese fungiert als Androhung dessen, was sich beim Übertreten desheterosexuellen Gesetzes ereignen würde: der Verlust des überlebens-wichtigen sprachlichen Differenzierungsprozesses. Anstatt diese Ver-schränkung von homosexuellem Begehren und Psychose zu akzeptieren,fragt Butler, in „welchem Umfang […] die Fantasie der psychotischen Auf-lösung selbst die Wirkung eines bestimmten Verbots gegen die sexuellenMöglichkeiten [ist], die den heterosexuellen Vertrag außer Kraft setzen?“(a.a.O., 137).

Wieder wird an dieser Stelle das Verfahren der permanenten Kritik er-kennbar, das vor dem (quasi-)transzendentalen Anspruch der hetero-sexuellen Geschlechterdifferenz nicht Halt macht, sondern deren Le-gitimität in Frage stellt und dabei die Möglichkeit eröffnet, Begehren undGeschlecht von der kontingenten Bedingung der Zwangsheterosexualitätabzulösen.

Butlers Kritik an Lacans Theorie zeigt, wie Normen über den konstituti-ven Ausschluss funktionieren und wie das Ausgeschlossene am Rande dersprachlichen und gesellschaftlichen Ordnung wieder auftaucht. Wenn dieVerdrängung der gleichgeschlechtlichen Liebe die Entstehung von Ge-schlecht begründet, dann ist die heterosexuelle Identität durch ein eigen-artiges Band gerade an jene Begehrensposition gebunden, die sie unterkeinen Umständen einnehmen kann. Die Homosexualität umfasst damitnicht nur die am Rande des Sozialen angesiedelte Lebensform von Lesbenund Schwulen, sondern sie ist auch inmitten der hegemonialen, hetero-sexuellen Psyche als anwesendes Abwesendes zu finden. Präsent ist sieallerdings nicht nur als ein Verbot der gleichgeschlechtlichen Liebe, son-dern auch als ihr nicht erinnerbarer und nicht repräsentierbarer Verlust.Die Einnahme einer weiblichen Position gründet damit auf einer unbe-wussten doppelten Verneinung der Homosexualität; sie bedeutet, eine an-dere Frau niemals niemals geliebt und verloren zu haben. „Dieses ‘nie-nie’begründet somit gleichsam das heterosexuelle Subjekt; es handelt sich umeine Identität, die auf dem verweigerten Einstehen für eine Bindung unddamit auf verweigerter Trauer gründet“ (a.a.O., 132). Das Phänomen desnicht repräsentierbaren und nicht betrauerbaren Verlusts der Homosexua-lität in der heterosexuellen Psyche beschreibt Butler mit Sigmund FreudsKonzept der Melancholie Körper von Gewicht(vgl. , 309). Das Verworfenekehrt damit in der melancholischen Verfasstheit des Subjekts wieder undäußert sich als Unvermögen, dasjenige zu betrauern, dessen Verlust dasSubjekt begründet. Ein solcher Ansatz eröffnet auch die Möglichkeit, ho-mophobe Praktiken als Ausdruck der „heterosexuellen Melancholie“ zuverstehen, welche in einer Kultur am Werk sind; eine These, die ein neuesLicht etwa auf das Unvermögen wirft, den Verlust homosexueller Partnerim Falle von Aids öffentlich anzuerkennen. Andererseits wird auch dieSchwierigkeit einer weitreichenden kulturellen Anerkennung von Homo-sexualität neu bestimmt. Sie würde das Durcharbeiten jener geschlecht-lichen Positionen erfordern, „in der Männlichkeit und Weiblichkeit Spu-ren unbetrauerter und unbetrauerbarer Liebe sind, ja in der Männlichkeitund Weiblichkeit in der heterosexuellen Matrix durch die Ablehnungen,die sie vollziehen, gestärkt werden“ (Psyche der Macht, 132).

Eine solche Figur der Melancholie, welche das Unbetrauerbare ihrerKultur repräsentiert, macht Butler in Sophokles’ Antigone aus. Die Toch-ter aus der inzestuösen Ehe zwischen Ödipus und seiner Mutter Iokastebegräbt ihren Bruder entgegen dem Willen ihres Onkels Kreon und mussdiese Tat mit ihrem Leben büßen. Für Butler markiert Antigone eineFigur der Krise normativer Verwandtschaftsbeziehungen. Sie kann, „ver-strickt in ein inzestuöses Erbe, das ihre eigene Position innerhalb der Ver-wandtschaftsbeziehungen erschüttert, kaum für die normativen Prinzipiender Verwandtschaft stehen“27. Als Schwester ihres Vaters und als Geliebteihres Bruders befindet sich Antigone allerdings auch nicht gänzlich außer-halb gängiger Verwandtschaftsstrukturen. Ihre Position stellt vielmehreine zweifache Verwirrung normativer Familienstrukturen dar: einerseitsdurch ihre inzestuöse Herkunft, andererseits durch ihr Beharren auf derLiebe zu dem vom Staat verstoßenen Bruder, eine Liebe, für welche dieGesellschaftsordnung keinen Ort kennt. Dadurch „entsteht eine Melan-cholie, die dem Leben und dem Lieben jenseits der Lebbarkeit und außer-halb des Feldes der Liebe anhaftet“ (a. a. O., 126). Antigone verkörpertden melancholischen Zustand einer Kultur, in welcher der Verlust einerLiebe nicht betrauert werden kann, weil es diese aus der vorherrschendenPerspektive nicht gegeben hat. „Jene Beziehungen, denen die Legitimitätabgesprochen wird oder die neue Begriffe der Legitimität erfordern, sindweder tot noch lebendig, sie sind Figurationen des Nicht-Menschlichen ander Grenze des Menschlichen“ (a. a. O., 127). Mit der Verteidigung ihrerunerlaubten Liebe bewegt sich Antigone über das gesellschaftlich Legiti-mierte hinaus, sie eröffnet dadurch aber auch eine Perspektive, welche diebestehende Familienordnung in Frage stellt. Obwohl sich das hegemonialeVerständnis von Verwandtschaft durchsetzt und Antigone ihre Tat mitdem Leben bezahlt, stellt ihr Widerstand den machtstrategischen Charak-ter desjenigen heraus, was als „unwandelbare Notwendigkeit“ der Fami-lienordnung auftritt. Ihr Beharren auf einer Liebe, die es eigentlich nichtgibt, und ihre Trauer für einen Verlust, den sie nicht betrauern darf, bringtdie scheinbar „natürliche“ Familien- und Geschlechterordnung in eineKrise, in welcher die Kontingenz dieser Ordnung kurz aufscheint, bevorsie erneut verdeckt wird.

In Butlers Lektüre wird Antigone zur Figur für zwei Verhältnisse: demje-nigen der Kritik, der sich Butler ausführlich gewidmet hat, und dem derEthik, der sie sich in ihren späteren Schriften zuwendet. Die Kritik richtetsich dabei auf gesellschaftliche Ordnungssysteme und fragt, „wie die Weltder Gesetze aussehen müsste, in der Antigone am Leben geblieben wäre“28.Die Ethik hingegen thematisiert, wie das Subjekt in Widerstreit zu den he-gemonialen Normen treten kann, denen es seine Entstehung verdankt. Die-ser Ansatz macht den Unterschied zu einer Ethik unübersehbar, die einenallgemein gültigen Normenkatalog als Leitfaden für ein gutes Leben zu ent-wickeln sucht. Im Kontext von Butlers Theorie, in welcher Normen sowohlals Verdichtungsmomente gesellschaftlicher Macht wie auch als Bedingun-gen der Subjektformation bestimmt sind, muss das Verhältnis zwischen demSubjekt und den Normen ungleich problematischer gefasst werden.

6. Von der ethischen Kritik zur kritischen Ethik

Der politische Einsatz von Butlers Kritik, das Eintreten für jene Indivi-duen, die am Rande oder außerhalb der diskursiv gestifteten intelligiblenSubjektpositionen existieren, könnte als „ethische“ Dimension ihrer Ar-beit bezeichnet werden. Der Begriff der „Ethik“ findet allerdings in ihrenfrühen Texten kaum Verwendung. Den Artikel Ethical Ambivalence eröff-net Butler denn auch mit der Feststellung, dass sie Widerstand empfindegegenüber der ethischen Wende, die sich in der dekonstruktivistischenTheorie vollzieht. „Ich war besorgt, dass die Rückkehr zur Ethik dieFlucht vor der Politik bedeute.“29Im Nachhinein scheint es, als ob diesernicht repräsentierbaren und nicht betrauerbaren Verlusts der Homosexua-lität in der heterosexuellen Psyche beschreibt Butler mit Sigmund FreudsKonzept der Melancholie Körper von Gewicht(vgl. , 309). Das Verworfenekehrt damit in der melancholischen Verfasstheit des Subjekts wieder undäußert sich als Unvermögen, dasjenige zu betrauern, dessen Verlust dasSubjekt begründet. Ein solcher Ansatz eröffnet auch die Möglichkeit, ho-mophobe Praktiken als Ausdruck der „heterosexuellen Melancholie“ zuverstehen, welche in einer Kultur am Werk sind; eine These, die ein neuesLicht etwa auf das Unvermögen wirft, den Verlust homosexueller Partnerim Falle von Aids öffentlich anzuerkennen. Andererseits wird auch dieSchwierigkeit einer weitreichenden kulturellen Anerkennung von Homo-sexualität neu bestimmt. Sie würde das Durcharbeiten jener geschlecht-lichen Positionen erfordern, „in der Männlichkeit und Weiblichkeit Spu-ren unbetrauerter und unbetrauerbarer Liebe sind, ja in der Männlichkeitund Weiblichkeit in der heterosexuellen Matrix durch die Ablehnungen,die sie vollziehen, gestärkt werden“ (Psyche der Macht, 132).

Eine solche Figur der Melancholie, welche das Unbetrauerbare ihrerKultur repräsentiert, macht Butler in Sophokles’ Antigone aus. Die Toch-ter aus der inzestuösen Ehe zwischen Ödipus und seiner Mutter Iokastebegräbt ihren Bruder entgegen dem Willen ihres Onkels Kreon und mussdiese Tat mit ihrem Leben büßen. Für Butler markiert Antigone eineFigur der Krise normativer Verwandtschaftsbeziehungen. Sie kann, „ver-strickt in ein inzestuöses Erbe, das ihre eigene Position innerhalb der Ver-wandtschaftsbeziehungen erschüttert, kaum für die normativen Prinzipiender Verwandtschaft stehen“27. Als Schwester ihres Vaters und als Geliebteihres Bruders befindet sich Antigone allerdings auch nicht gänzlich außer-halb gängiger Verwandtschaftsstrukturen. Ihre Position stellt vielmehreine zweifache Verwirrung normativer Familienstrukturen dar: einerseitsdurch ihre inzestuöse Herkunft, andererseits durch ihr Beharren auf derLiebe zu dem vom Staat verstoßenen Bruder, eine Liebe, für welche dieGesellschaftsordnung keinen Ort kennt. Dadurch „entsteht eine Melan-cholie, die dem Leben und dem Lieben jenseits der Lebbarkeit und außer-halb des Feldes der Liebe anhaftet“ (a. a. O., 126). Antigone verkörpertden melancholischen Zustand einer Kultur, in welcher der Verlust einerLiebe nicht betrauert werden kann, weil es diese aus der vorherrschendenPerspektive nicht gegeben hat. „Jene Beziehungen, denen die Legitimitätabgesprochen wird oder die neue Begriffe der Legitimität erfordern, sindweder tot noch lebendig, sie sind Figurationen des Nicht-Menschlichen ander Grenze des Menschlichen“ (a. a. O., 127). Mit der Verteidigung ihrerunerlaubten Liebe bewegt sich Antigone über das gesellschaftlich Legiti-mierte hinaus, sie eröffnet dadurch aber auch eine Perspektive, welche diebestehende Familienordnung in Frage stellt. Obwohl sich das hegemonialeVerständnis von Verwandtschaft durchsetzt und Antigone ihre Tat mitdem Leben bezahlt, stellt ihr Widerstand den machtstrategischen Charak-ter desjenigen heraus, was als „unwandelbare Notwendigkeit“ der Fami-lienordnung auftritt. Ihr Beharren auf einer Liebe, die es eigentlich nichtgibt, und ihre Trauer für einen Verlust, den sie nicht betrauern darf, bringtdie scheinbar „natürliche“ Familien- und Geschlechterordnung in eineKrise, in welcher die Kontingenz dieser Ordnung kurz aufscheint, bevorsie erneut verdeckt wird.

In Butlers Lektüre wird Antigone zur Figur für zwei Verhältnisse: demje-nigen der Kritik, der sich Butler ausführlich gewidmet hat, und dem derEthik, der sie sich in ihren späteren Schriften zuwendet. Die Kritik richtetsich dabei auf gesellschaftliche Ordnungssysteme und fragt, „wie die Weltder Gesetze aussehen müsste, in der Antigone am Leben geblieben wäre“28.Die Ethik hingegen thematisiert, wie das Subjekt in Widerstreit zu den he-gemonialen Normen treten kann, denen es seine Entstehung verdankt. Die-ser Ansatz macht den Unterschied zu einer Ethik unübersehbar, die einenallgemein gültigen Normenkatalog als Leitfaden für ein gutes Leben zu ent-wickeln sucht. Im Kontext von Butlers Theorie, in welcher Normen sowohlals Verdichtungsmomente gesellschaftlicher Macht wie auch als Bedingun-gen der Subjektformation bestimmt sind, muss das Verhältnis zwischen demSubjekt und den Normen ungleich problematischer gefasst werden.

6. Von der ethischen Kritik zur kritischen Ethik

Der politische Einsatz von Butlers Kritik, das Eintreten für jene Indivi-duen, die am Rande oder außerhalb der diskursiv gestifteten intelligiblenSubjektpositionen existieren, könnte als „ethische“ Dimension ihrer Ar-beit bezeichnet werden. Der Begriff der „Ethik“ findet allerdings in ihrenfrühen Texten kaum Verwendung. Den Artikel Ethical Ambivalence eröff-net Butler denn auch mit der Feststellung, dass sie Widerstand empfindegegenüber der ethischen Wende, die sich in der dekonstruktivistischenTheorie vollzieht. „Ich war besorgt, dass die Rückkehr zur Ethik dieFlucht vor der Politik bedeute.“29Im Nachhinein scheint es, als ob dieserText trotz oder gerade wegen Butlers Ambivalenz gegenüber der Ethikeine Wende dahin markiert; eine Wende zur Ethik, die sich bezeichnender-weise als Kritik der Ethik vollzieht. Ist Butlers Ethik damit nichts anderesals ein neuer Name für ihr Projekt der Kritik, oder bedeutet er eine Ab-wendung davon?

Obwohl sich Butler in der Kritik der ethischen Gewalt der Ethik zuwen-det, und dabei in einer bislang unbekannten und vielleicht befremdenden

Weise vom Subjekt spricht, schlage ich vor, die „ethische Wende“ nicht als

Bruch mit dem Projekt der Kritik zu lesen. Dies, weil schon in früheren

Texten Butlers eine „ethische“ Dimension ausgemacht werden kann undweil Butlers Überlegungen zur Ethik im Rahmen ihres kritischen Projektsentwickelt werden.

In einem Interview hält Butler fest, dass es ihr um die Auseinanderset-zung mit gesellschaftlichen Normen gehe „zu dem Zweck, die Grenzendessen, was als ein Mensch, als Liebe, als Trauer, als Gemeinschaft gilt, zuerweitern“30. Diese Form der Kritik könnte als ethisch bezeichnet werden,weil sie von der Sorge um die Anderen angetrieben wird. Sie agiert im

Namen derjenigen, denen ein Name versagt bleibt, ohne dabei zu bean-spruchen, für diese Anderen, die an den Rändern des Denkbaren aufge-sucht werden müssen, sprechen zu können. Eine solche Perspektive kannauch den Einwand entkräften, dass die menschliche Individualität in But-lers Schriften keinen Ort findet, weil das Subjekt darin „nur“ als diskursive

Position konzipiert werde. Diese Einschätzung führt etwa Barbara Duden,nach der Lektüre von Das Unbehagen der Geschlechter, zur erschreckten

Äußerung: „Ich bin nicht ohne Substanz, bin nicht sinn-los […]. Ich bindoch wer und nicht was.“31Duden erinnert an dieser Stelle an Hannah

Arendts Unterscheidung zwischen einem einzigartigen personalen „Wer“des Menschen im Gegensatz zu seinem gesellschaftlich bestimmbaren

„Was“. Unterschieden von den kategorisierbaren Eigenschaften und Fä-higkeiten einer Person, seinem Was, kommt gemäß Arendt im Sprechenund Handeln das unkontrollierbare und singuläre Wer einer Person zum

Vorschein. Dies entzieht sich dem Zugriff der Sprache; sobald das Wer mit

Worten erfasst werden soll, bleibt nur ein Was zurück. „Es stellt sich he-raus, dass die Sprache, wenn wir sie als ein Mittel der Beschreibung des

Wer benutzen wollen, sich versagt und an dem Was hängen bleibt, so dasswir schließlich höchstens Charaktertypen hingestellt haben, die alles ande-re sind als Personen“ (Arendt, 222–223). Im Gegensatz zu Dudens Lesartscheint mir aber, dass Butlers Arbeiten gerade in ihrem Schweigen zurmenschlichen Individualität der Sorge um sie gewidmet sind. Wenn dasWer ein paradoxer Begriff darstellt, der dasjenige am Menschen be-schreibt, was sich der Benennung entzieht, dann könnte Butlers Weigerung,das Individuelle des Menschen zu konzeptualisieren, gerade ein Zeichenseiner Anerkennung sein. Wird Arendts Wer außerdem als dasjenige gele-sen, was über das Reguliertwerden durch den Diskurs hinausgeht, dann bil-det genau dies in Butlers Texten eine Leerstelle und einen Fluchtpunkt zu-gleich, auf den ihr Fragen kontinuierlich ausgerichtet bleibt. Butlers Kritikan der Normierungsmacht kann als Sorge um dasjenige interpretiert wer-den, was mehr und anders ist als diese Normen; als dasjenige, was der nor-mierenden Kraft des Diskurses beharrlich entkommt, ohne je gänzlichaußerhalb des Diskurses existieren zu können. Es geht damit um dasjenigedes Subjekts, „das nicht vollständig durch eine diskursive Konstruktion er-fasst und bezwungen werden kann, etwas, das sich diesem totalisierendenZugriff entzieht“ (Butler, Eine Welt, in der Antigone …, 591).

Auf dem Hintergrund von Arendts Begrifflichkeit könnte ButlersWende zur Ethik nun als Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Wasund Wer gelesen werden. Die genealogische Kritik problematisiert hege-moniale Bedingungen der Subjektformation – und damit dasjenige, wasPersonen kontinuierlich zu einem regulierten und disziplinierten Wasmacht. Die Ethik hingegen wendet sich der Frage zu, wie im kritischenVollzug der eigenen Subjektivierung ein zerbrechliches Verhältnis desSelbst zu sich und Anderen ausgemacht werden kann – zum Wer also, dassich kategorialen Festlegungen beharrlich entzieht. „Es geht nicht nurdarum, wie der andere hergestellt wird oder nicht – man kann mehr oderweniger detaillierte Beschreibungen davon geben, wie diese Konstruktionsich vollzieht – sondern darum, wer der andere ist […]. Das, was der ande-re ist, ist nicht reduzierbar auf das, was sagbar ist“ (a. a. O.). In einemersten Schritt nähert sich Butler diesen Fragen in der Diskussion von Fou-caults Begriff der „Entunterwerfung“ („déassujettisement“). Ethik be-schreibt dann einen „Ethos“, ein Selbstverhältnis, das durch Normen ge-stiftet wird, zu denen sich das Selbst in einen kritischen Bezug setzt. Ethikist die „Stilisierung“ des Selbst durch jene Normen, die es hervorbringen.Angelpunkt dieses Ansatzes ist die Kritik, die ihrerseits als ethische Praxisumgedeutet wird. „Kritik bezieht sich nicht nur auf eine gegebene gesell-schaftliche Praxis oder auf einen bestimmten Horizont der Verständlich-keit, sie impliziert auch, dass ich mir selbst fraglich werde. Die Selbst-hinterfragung wird für Foucault zu einer ethischen Folge der Kritik.“32Text trotz oder gerade wegen Butlers Ambivalenz gegenüber der Ethikeine Wende dahin markiert; eine Wende zur Ethik, die sich bezeichnender-weise als Kritik der Ethik vollzieht. Ist Butlers Ethik damit nichts anderesals ein neuer Name für ihr Projekt der Kritik, oder bedeutet er eine Ab-wendung davon?

Obwohl sich Butler in der Kritik der ethischen Gewalt der Ethik zuwen-det, und dabei in einer bislang unbekannten und vielleicht befremdenden

Weise vom Subjekt spricht, schlage ich vor, die „ethische Wende“ nicht als

Bruch mit dem Projekt der Kritik zu lesen. Dies, weil schon in früheren

Texten Butlers eine „ethische“ Dimension ausgemacht werden kann undweil Butlers Überlegungen zur Ethik im Rahmen ihres kritischen Projektsentwickelt werden.

In einem Interview hält Butler fest, dass es ihr um die Auseinanderset-zung mit gesellschaftlichen Normen gehe „zu dem Zweck, die Grenzendessen, was als ein Mensch, als Liebe, als Trauer, als Gemeinschaft gilt, zuerweitern“30. Diese Form der Kritik könnte als ethisch bezeichnet werden,weil sie von der Sorge um die Anderen angetrieben wird. Sie agiert im

Namen derjenigen, denen ein Name versagt bleibt, ohne dabei zu bean-spruchen, für diese Anderen, die an den Rändern des Denkbaren aufge-sucht werden müssen, sprechen zu können. Eine solche Perspektive kannauch den Einwand entkräften, dass die menschliche Individualität in But-lers Schriften keinen Ort findet, weil das Subjekt darin „nur“ als diskursive

Position konzipiert werde. Diese Einschätzung führt etwa Barbara Duden,nach der Lektüre von Das Unbehagen der Geschlechter, zur erschreckten

Äußerung: „Ich bin nicht ohne Substanz, bin nicht sinn-los […]. Ich bindoch wer und nicht was.“31Duden erinnert an dieser Stelle an Hannah

Arendts Unterscheidung zwischen einem einzigartigen personalen „Wer“des Menschen im Gegensatz zu seinem gesellschaftlich bestimmbaren

„Was“. Unterschieden von den kategorisierbaren Eigenschaften und Fä-higkeiten einer Person, seinem Was, kommt gemäß Arendt im Sprechenund Handeln das unkontrollierbare und singuläre Wer einer Person zum

Vorschein. Dies entzieht sich dem Zugriff der Sprache; sobald das Wer mit

Worten erfasst werden soll, bleibt nur ein Was zurück. „Es stellt sich he-raus, dass die Sprache, wenn wir sie als ein Mittel der Beschreibung des

Wer benutzen wollen, sich versagt und an dem Was hängen bleibt, so dasswir schließlich höchstens Charaktertypen hingestellt haben, die alles ande-re sind als Personen“ (Arendt, 222–223). Im Gegensatz zu Dudens Lesartscheint mir aber, dass Butlers Arbeiten gerade in ihrem Schweigen zurmenschlichen Individualität der Sorge um sie gewidmet sind. Wenn dasWer ein paradoxer Begriff darstellt, der dasjenige am Menschen be-schreibt, was sich der Benennung entzieht, dann könnte Butlers Weigerung,das Individuelle des Menschen zu konzeptualisieren, gerade ein Zeichenseiner Anerkennung sein. Wird Arendts Wer außerdem als dasjenige gele-sen, was über das Reguliertwerden durch den Diskurs hinausgeht, dann bil-det genau dies in Butlers Texten eine Leerstelle und einen Fluchtpunkt zu-gleich, auf den ihr Fragen kontinuierlich ausgerichtet bleibt. Butlers Kritikan der Normierungsmacht kann als Sorge um dasjenige interpretiert wer-den, was mehr und anders ist als diese Normen; als dasjenige, was der nor-mierenden Kraft des Diskurses beharrlich entkommt, ohne je gänzlichaußerhalb des Diskurses existieren zu können. Es geht damit um dasjenigedes Subjekts, „das nicht vollständig durch eine diskursive Konstruktion er-fasst und bezwungen werden kann, etwas, das sich diesem totalisierendenZugriff entzieht“ (Butler, Eine Welt, in der Antigone …, 591).

Auf dem Hintergrund von Arendts Begrifflichkeit könnte ButlersWende zur Ethik nun als Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Wasund Wer gelesen werden. Die genealogische Kritik problematisiert hege-moniale Bedingungen der Subjektformation – und damit dasjenige, wasPersonen kontinuierlich zu einem regulierten und disziplinierten Wasmacht. Die Ethik hingegen wendet sich der Frage zu, wie im kritischenVollzug der eigenen Subjektivierung ein zerbrechliches Verhältnis desSelbst zu sich und Anderen ausgemacht werden kann – zum Wer also, dassich kategorialen Festlegungen beharrlich entzieht. „Es geht nicht nurdarum, wie der andere hergestellt wird oder nicht – man kann mehr oderweniger detaillierte Beschreibungen davon geben, wie diese Konstruktionsich vollzieht – sondern darum, wer der andere ist […]. Das, was der ande-re ist, ist nicht reduzierbar auf das, was sagbar ist“ (a. a. O.). In einemersten Schritt nähert sich Butler diesen Fragen in der Diskussion von Fou-caults Begriff der „Entunterwerfung“ („déassujettisement“). Ethik be-schreibt dann einen „Ethos“, ein Selbstverhältnis, das durch Normen ge-stiftet wird, zu denen sich das Selbst in einen kritischen Bezug setzt. Ethikist die „Stilisierung“ des Selbst durch jene Normen, die es hervorbringen.Angelpunkt dieses Ansatzes ist die Kritik, die ihrerseits als ethische Praxisumgedeutet wird. „Kritik bezieht sich nicht nur auf eine gegebene gesell-schaftliche Praxis oder auf einen bestimmten Horizont der Verständlich-keit, sie impliziert auch, dass ich mir selbst fraglich werde. Die Selbst-hinterfragung wird für Foucault zu einer ethischen Folge der Kritik.“32Butler wendet aber ein, dass dieser Ethik, die das Selbst in ein transforma-torisch-kritisches Verhältnis zu den Normen stellt, durch die es hervorge-bracht wird, der Bezug zu Anderen fehlt. Mit Adriana Cavarero hält siedem entgegen, dass die Frage „Wer bist du?“ immer nur an Andere ge-richtet werden kann.33Der Konstituierungsprozess des Selbst, der überNormen erfolgt, ereignet sich gleichzeitig als Anerkennungsprozess imBezug zu Anderen. Butler greift an dieser Stelle Cavareros Überlegungenzur Narrativität auf und führt Subjektivierung nun – im Unterschied zurPerformativität, welche das Subjekt in Relation zu den Normen setzt – aufdas konstitutive Verhältnis zu Anderen zurück. Ein Selbst muss sich Ande-ren erzählen, um Selbst zu werden. Bei diesen kontinuierlichen Versuchen,von sich Rechenschaft zu geben, setzt sich das Subjekt den Anderen aus.Es erfährt dabei, dass die Anwesenheit der Anderen das Vermögen derSprache immer schon übersteigt. Die Anderen, die sich gegenüber demZugriff der Sprache als irreduzibel erweisen, führen dem Selbst seine eige-ne Unfassbarkeit vor Augen. Damit wird die Erzählung des Selbst, in deres zu einem sprachlich fassbaren Was wird, unaufhörlich von seinem Werdurchbrochen. Das Ausgesetztsein stellt die „Bedingung meiner Erzäh-lung [dar], die ich innerhalb derselben nicht vollständig thematisierenkann“ (a.a.O., 52). An dieser Stelle wird deutlich, dass Butler die Subjekti-vierung in Absetzung von ihren früheren Schriften als Prozess beschreibt,der über die produktive Kraft gesellschaftlicher Normierung hinausgeht.„Cavarero ist hier mutiger als ich und bemerkt, dass jedem Wesen etwasIrreduzibles eignet, das in den verschiedenen Geschichten deutlich wird,die wir zu erzählen haben“ (a.a.O., 46). Cavarero wird an dieser Stelle zurAnderen, durch welche Butler jene Frage nach dem Wer stellen kann, diein ihren früheren Werken eine Leerstelle geblieben ist. Mit diesem Ein-bruch der menschlichen Irreduzibilität durch die Alterität verschiebt sichauch die Bedeutung der Kontingenz. Sie stellt nicht mehr den genealo-gisch-strategischen Ort der Kritik dar, von dem aus die Notwendigkeit ge-sellschaftlicher Prämissen in Frage gestellt werden kann. Kontingenz be-deutet nun, die Kohärenz der eigenen Selbstbeschreibung kontinuierlichpreisgeben zu müssen. Sobald das Selbst sich eine Erzählung geben will,eine Erzählung, die es ihm ermöglicht, als Selbst zu erscheinen, wird esdurch das Ausgesetztsein an die Anderen von der Unmöglichkeit seinesUnterfangens heimgesucht. Die Erfahrung der Kontingenz ereignet sichan der Schwelle zwischen dem Wer und dem Was; sie stellt das Aufbrechender Kategorien dar, mit deren Hilfe sich das Selbst in eine kohärente Er-zählung einzuschreiben sucht. Diese ständige Unmöglichkeit des Versuchs,in einem umfassenden Sinn von sich Rechenschaft zu geben, versucht But-ler aber als ein Scheitern zu bestimmen, das „zu einer bestimmten ethi-schen Disposition“ (a. a. O., 53) führt. Es wird zum möglichen Ausgangs-punkt einer Ethik, in der „meine eigene Fremdheit mir selbst gegenüberparadoxerweise die Quelle meiner ethischen Verknüpfung mit Anderenist“ (a.a.O., 95).

Mit dieser Skizze einer Ethik entfaltet Butler Möglichkeiten, über dienormative Regulierung des Subjekts hinaus die Frage zu stellen, wer die-ses Subjekt ist und inwiefern es sich Anderen verdankt. Offen bleibt dabeian vielen Stellen die Frage nach dem Ort des Politischen. In welchem Ver-hältnis steht das existentielle „Ausgesetztsein“ des Selbst, das Anderenvon sich Rechenschaft abgibt, von der Erfahrung jenes Selbst, das rassisti-schen, sexistischen oder homophoben Angriffen oder der Möglichkeit sol-cher Angriffe „ausgesetzt“ ist? Wer ist dieser „Andere“, der uns die deut-sche Übersetzung als männlicher Anderer im Singular präsentiert, dem ichimmer schon zugewendet bin, durch den ich mich konstituiere: Ist es einAnderer, eine Andere, oder sind es die Anderen? Was sind die Bedingun-gen dafür, dass jemand als Andere oder Anderer gelten kann? Wie werdendiese Bedingungen hergestellt und wie werden sie reguliert? Wie wirdMenschen die Möglichkeit genommen, als Andere in Erscheinung zu tre-ten, etwa durch westliche Vorstellungen von Afrika als einem ent-indivi-duierten und einheitlichen Schauplatz von Krieg und Krankheit, vontschetschenischen Männern als Terroristen oder von muslimischen Frauenals schweigende Opfer ihrer Gesellschaft? Welche Bedeutung kommt demKörper zu? Welche Gewalt erfährt er, wenn er aus der Szene der Alteritätausgeschlossen wird, und welche Markierungen erhält er, wenn er in sieeintritt? Einige dieser Fragen werden in der Kritik der ethischen Gewalt gestellt, sie geraten aber immer wieder auch aus der Sicht. Es sind Fragen,die unentwegt zurück zur konstitutiven Bedeutung von Normen führenund dadurch die Möglichkeit eröffnen könnten, Butlers Theorie der Per-formativität entlang einer Ethik der Alterität umzuschreiben. In der Vor-bemerkung zur Kritik der ethischen Gewalt behauptet Butler, Foucaultsethische Wende werde falsch verstanden, wenn man glaubt, er habe „dasStudium der Macht zugunsten der Untersuchung des ethischen Subjektsaufgegeben“ (a. a. O., 9). Mit dieser Bemerkung nimmt Butler auch einemögliche Kritik an ihrer eigenen Wende zur Ethik vorweg. Es bleibt je-doch weiter auszuführen, auf welche Weise die Wende zur Ethik als neueHinwendung zur Politik vollzogen werden kann.Butler wendet aber ein, dass dieser Ethik, die das Selbst in ein transforma-torisch-kritisches Verhältnis zu den Normen stellt, durch die es hervorge-bracht wird, der Bezug zu Anderen fehlt. Mit Adriana Cavarero hält siedem entgegen, dass die Frage „Wer bist du?“ immer nur an Andere ge-richtet werden kann.33Der Konstituierungsprozess des Selbst, der überNormen erfolgt, ereignet sich gleichzeitig als Anerkennungsprozess imBezug zu Anderen. Butler greift an dieser Stelle Cavareros Überlegungenzur Narrativität auf und führt Subjektivierung nun – im Unterschied zurPerformativität, welche das Subjekt in Relation zu den Normen setzt – aufdas konstitutive Verhältnis zu Anderen zurück. Ein Selbst muss sich Ande-ren erzählen, um Selbst zu werden. Bei diesen kontinuierlichen Versuchen,von sich Rechenschaft zu geben, setzt sich das Subjekt den Anderen aus.Es erfährt dabei, dass die Anwesenheit der Anderen das Vermögen derSprache immer schon übersteigt. Die Anderen, die sich gegenüber demZugriff der Sprache als irreduzibel erweisen, führen dem Selbst seine eige-ne Unfassbarkeit vor Augen. Damit wird die Erzählung des Selbst, in deres zu einem sprachlich fassbaren Was wird, unaufhörlich von seinem Werdurchbrochen. Das Ausgesetztsein stellt die „Bedingung meiner Erzäh-lung [dar], die ich innerhalb derselben nicht vollständig thematisierenkann“ (a.a.O., 52). An dieser Stelle wird deutlich, dass Butler die Subjekti-vierung in Absetzung von ihren früheren Schriften als Prozess beschreibt,der über die produktive Kraft gesellschaftlicher Normierung hinausgeht.„Cavarero ist hier mutiger als ich und bemerkt, dass jedem Wesen etwasIrreduzibles eignet, das in den verschiedenen Geschichten deutlich wird,die wir zu erzählen haben“ (a.a.O., 46). Cavarero wird an dieser Stelle zurAnderen, durch welche Butler jene Frage nach dem Wer stellen kann, diein ihren früheren Werken eine Leerstelle geblieben ist. Mit diesem Ein-bruch der menschlichen Irreduzibilität durch die Alterität verschiebt sichauch die Bedeutung der Kontingenz. Sie stellt nicht mehr den genealo-gisch-strategischen Ort der Kritik dar, von dem aus die Notwendigkeit ge-sellschaftlicher Prämissen in Frage gestellt werden kann. Kontingenz be-deutet nun, die Kohärenz der eigenen Selbstbeschreibung kontinuierlichpreisgeben zu müssen. Sobald das Selbst sich eine Erzählung geben will,eine Erzählung, die es ihm ermöglicht, als Selbst zu erscheinen, wird esdurch das Ausgesetztsein an die Anderen von der Unmöglichkeit seinesUnterfangens heimgesucht. Die Erfahrung der Kontingenz ereignet sichan der Schwelle zwischen dem Wer und dem Was; sie stellt das Aufbrechender Kategorien dar, mit deren Hilfe sich das Selbst in eine kohärente Er-zählung einzuschreiben sucht. Diese ständige Unmöglichkeit des Versuchs,in einem umfassenden Sinn von sich Rechenschaft zu geben, versucht But-ler aber als ein Scheitern zu bestimmen, das „zu einer bestimmten ethi-schen Disposition“ (a. a. O., 53) führt. Es wird zum möglichen Ausgangs-punkt einer Ethik, in der „meine eigene Fremdheit mir selbst gegenüberparadoxerweise die Quelle meiner ethischen Verknüpfung mit Anderenist“ (a.a.O., 95).

Mit dieser Skizze einer Ethik entfaltet Butler Möglichkeiten, über dienormative Regulierung des Subjekts hinaus die Frage zu stellen, wer die-ses Subjekt ist und inwiefern es sich Anderen verdankt. Offen bleibt dabeian vielen Stellen die Frage nach dem Ort des Politischen. In welchem Ver-hältnis steht das existentielle „Ausgesetztsein“ des Selbst, das Anderenvon sich Rechenschaft abgibt, von der Erfahrung jenes Selbst, das rassisti-schen, sexistischen oder homophoben Angriffen oder der Möglichkeit sol-cher Angriffe „ausgesetzt“ ist? Wer ist dieser „Andere“, der uns die deut-sche Übersetzung als männlicher Anderer im Singular präsentiert, dem ichimmer schon zugewendet bin, durch den ich mich konstituiere: Ist es einAnderer, eine Andere, oder sind es die Anderen? Was sind die Bedingun-gen dafür, dass jemand als Andere oder Anderer gelten kann? Wie werdendiese Bedingungen hergestellt und wie werden sie reguliert? Wie wirdMenschen die Möglichkeit genommen, als Andere in Erscheinung zu tre-ten, etwa durch westliche Vorstellungen von Afrika als einem ent-indivi-duierten und einheitlichen Schauplatz von Krieg und Krankheit, vontschetschenischen Männern als Terroristen oder von muslimischen Frauenals schweigende Opfer ihrer Gesellschaft? Welche Bedeutung kommt demKörper zu? Welche Gewalt erfährt er, wenn er aus der Szene der Alteritätausgeschlossen wird, und welche Markierungen erhält er, wenn er in sieeintritt? Einige dieser Fragen werden in der Kritik der ethischen Gewalt gestellt, sie geraten aber immer wieder auch aus der Sicht. Es sind Fragen,die unentwegt zurück zur konstitutiven Bedeutung von Normen führenund dadurch die Möglichkeit eröffnen könnten, Butlers Theorie der Per-formativität entlang einer Ethik der Alterität umzuschreiben. In der Vor-bemerkung zur Kritik der ethischen Gewalt behauptet Butler, Foucaultsethische Wende werde falsch verstanden, wenn man glaubt, er habe „dasStudium der Macht zugunsten der Untersuchung des ethischen Subjektsaufgegeben“ (a. a. O., 9). Mit dieser Bemerkung nimmt Butler auch einemögliche Kritik an ihrer eigenen Wende zur Ethik vorweg. Es bleibt je-doch weiter auszuführen, auf welche Weise die Wende zur Ethik als neueHinwendung zur Politik vollzogen werden kann.

203

Auswahlbibliographie

AGNES HELLER Philosophin der Kontingenz

Von Rachael Sotos

Agnes Heller wurde 1929 in Budapest geboren. Sie überlebte den Holo-caust, doch der Großteil ihrer Familie wurde in den Konzentrationslagernder Nationalsozialisten ermordet. 1947 hörte die junge Physikstudentineine für sie unverständliche Vorlesung von Georg Lukács: Voller Staunenwandte sie sich daraufhin dem Studium der Philosophie zu. Nach dem Stu-dium bei Lukács wurde sie Assistenzprofessorin seines Fachbereiches.Aufgrund ihrer aktiven Teilnahme an der Ungarischen Revolution von1956 wurde sie nach deren Niederschlagung durch die Panzer der Sowjet-union gemeinsam mit Lukács aus dem akademischen Dienst entlassen.Die folgenden Jahre verbrachte sie als Lehrerin an einer Grammatikschu-le und es war ihr nicht erlaubt, zu publizieren. Trotz allem erwiesen sichdie 60er-Jahre für Heller als äußerst produktiv. Sie gründete eine Familie,erhielt eine Stellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Institutfür Soziologie, schrieb einige Bücher und war Mitglied der intellektuellenGemeinschaft, die sich um Lukács herum gruppierte, der so genannten„Budapester Schule“. 1968 schloss Agnes Heller sich anderen Intellektuel-len an, die gegen die sowjetische Invasion der ČSSR protestierten. Danachwar sie zunehmenden politischen Schikanen ausgesetzt und einer ständi-gen Belästigung durch die ungarische Polizei. Nach einigen schwierigenJahren als „politisch arbeitslose“ Übersetzerin emigrierte sie 1977, ge-meinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn, nach Australien. Dort lehrtesie an der La Trobe University in Melbourne. 1984 nahm sie eine Stelle ander New School for Social Research in New York an. Heller fuhr fort mitihrer Lehrtätigkeit, als „Hannah Arendt Professor“ für Philosophie undPolitikwissenschaften.

Seit dem großen Umbruch von 1989 verbringt sie nun die Hälfte desJahres in ihrer ungarischen Heimat, wo sie zum Mitglied der Akademieder Wissenschaften gewählt wurde. Unter den vielen internationalen Aus-zeichnungen, die Agnes Heller erhielt, sind der Lessing-Preis der StadtHamburg, der Hannah-Arendt-Preis der Stadt Bremen sowie der Sze-chenyi-Nationalpreis Ungarns. Am bekanntesten wurde sie durch ihre Ar-beiten über Ethik, soziologische und politische Theorie und durch ihre

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Auswahlbibliographie

AGNES HELLER Philosophin der Kontingenz

Von Rachael Sotos

Agnes Heller wurde 1929 in Budapest geboren. Sie überlebte den Holo-caust, doch der Großteil ihrer Familie wurde in den Konzentrationslagernder Nationalsozialisten ermordet. 1947 hörte die junge Physikstudentineine für sie unverständliche Vorlesung von Georg Lukács: Voller Staunenwandte sie sich daraufhin dem Studium der Philosophie zu. Nach dem Stu-dium bei Lukács wurde sie Assistenzprofessorin seines Fachbereiches.Aufgrund ihrer aktiven Teilnahme an der Ungarischen Revolution von1956 wurde sie nach deren Niederschlagung durch die Panzer der Sowjet-union gemeinsam mit Lukács aus dem akademischen Dienst entlassen.Die folgenden Jahre verbrachte sie als Lehrerin an einer Grammatikschu-le und es war ihr nicht erlaubt, zu publizieren. Trotz allem erwiesen sichdie 60er-Jahre für Heller als äußerst produktiv. Sie gründete eine Familie,erhielt eine Stellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Institutfür Soziologie, schrieb einige Bücher und war Mitglied der intellektuellenGemeinschaft, die sich um Lukács herum gruppierte, der so genannten„Budapester Schule“. 1968 schloss Agnes Heller sich anderen Intellektuel-len an, die gegen die sowjetische Invasion der ČSSR protestierten. Danachwar sie zunehmenden politischen Schikanen ausgesetzt und einer ständi-gen Belästigung durch die ungarische Polizei. Nach einigen schwierigenJahren als „politisch arbeitslose“ Übersetzerin emigrierte sie 1977, ge-meinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn, nach Australien. Dort lehrtesie an der La Trobe University in Melbourne. 1984 nahm sie eine Stelle ander New School for Social Research in New York an. Heller fuhr fort mitihrer Lehrtätigkeit, als „Hannah Arendt Professor“ für Philosophie undPolitikwissenschaften.

Seit dem großen Umbruch von 1989 verbringt sie nun die Hälfte desJahres in ihrer ungarischen Heimat, wo sie zum Mitglied der Akademieder Wissenschaften gewählt wurde. Unter den vielen internationalen Aus-zeichnungen, die Agnes Heller erhielt, sind der Lessing-Preis der StadtHamburg, der Hannah-Arendt-Preis der Stadt Bremen sowie der Sze-chenyi-Nationalpreis Ungarns. Am bekanntesten wurde sie durch ihre Ar-beiten über Ethik, soziologische und politische Theorie und durch ihre

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Studien auf dem Gebiet der Geschichtsphilosophie. In den letzten Jahrenverlegte sie den Schwerpunkt ihrer Arbeit mehr in Bereiche wie Reli-gionsphilosophie, Ästhetik und Metaphysik.

In ihrem Buch A Theory of Modernity entwirft Agnes Heller eine Vor-stellung dessen, was sie das historische Bewusstsein „reflektierter Postmo-derner“ nennt. Solche Individuen, so schreibt sie, „denken in Begriffen derKontingenz; und zwar nicht nur bezüglich des einzelnen Individuums (so-wohl seiner kosmischen wie sozialen Kontingenz), sondern auch bezüglichhistorischer Momente und Zeitalter – also bezüglich der Kontingenz ihrerGegenwart“1. Das Denken in Begriffen der Kontingenz bedeutet für Hel-ler letztendlich die Erkenntnis der Grenzen des Wissens und in prakti-schen Fragen die Notwendigkeit der Wahl. Obiges Zitat zeigt jedoch, dasses dabei zu unterscheiden gilt: Es ist etwas anderes, die Kontingenz des In-dividuums zu denken, als die Kontingenz historischer Epochen zu erken-nen; ebenso gilt es, das Denken der kosmischen Kontingenz von einemDenken in Begriffen der gesellschaftlich-historischen Kontingenz zu tren-nen. Daher folge ich in diesem Essay Hellers dreiteiligem Schema mit fol-gender Aufteilung: 1) der Theorie der Moderne, 2) der Ethik und Moral-philosophie und 3) der spekulativen Philosophie. Es gibt wenige, derenLeben und Arbeit sich mit den Ereignissen und Trends des letzten halbenJahrhunderts so verkreuzt haben, wie dies bei Agnes Heller der Fall ist,und wenige haben so kompromisslos über ihr eigenes Verhältnis zum„postmodern turn“ nachgedacht. Umso mehr ist es angebracht, kurz dieFrage aufzuwerfen, wie sehr Heller bereits vor der Zeit eine Philosophinder Kontingenz war, bevor dieser Stempel durch besagten „turn“ allge-meine Verbreitung fand.

1. Die junge Heller

Die zehn glorreichen Tage der Ungarischen Revolution von 1956 wur-den durch den Einmarsch russischer Panzertruppen gewaltsam beendet,aber einige Veränderungen blieben spürbar. So veranlasste diese Erfah-rung eine Gruppe junger Intellektueller, einen Kreis um György Lukácszu bilden, der später als die „Budapester Schule“ bekannt wurde: Dortwollten sie das Projekt einer immanenten Kritik des „realexistierendenSozialismus“ voranbringen.

Tatsächlich hatte sich Agnes Heller bereits in ihrer kurz vor der Revolu-tion erschienenen Dissertation mit der moralischen Unzulässigkeit einerstalinistischen Politik der Massenopferung auseinander gesetzt. In ihren1957/58 an der Universität Budapest gehaltenen Vorlesungen, die durchVervielfältigungen verbreitet wurden, entwickelte Heller ihren ersten sys-tematischen Versuch zu einer Theorie der Moral. Das Ergebnis dieser Be-mühungen war ein Balanceakt zwischen Historizismus und der Anrufunguniversaler Normen. Dies hatte für Heller sowohl in persönlicher wie inberuflicher Hinsicht Folgen. Die verantwortlichen Behörden erkannten zuRecht die „politische“ Botschaft, die in der Verherrlichung der attischen polis , dem Beharren auf der Freiheit des Individuums und in der Kritikder Bürokratie steckte. Als im Jahre 1958 alle diejenigen, die sich weiger-ten, Lukács zu denunzieren, entlassen wurden, wurde auch die viel ver-sprechende Universitätskarriere Hellers beendet; darüber hinaus wurdesie mit einem „halboffiziellen Publikationsverbot“ belangt und war, so er-innert sich ihr Freund und Budapester Mitstreiter György Markus, „wegendes Textes ihrer Ethikvorlesungen bösartigen Attacken ausgesetzt“2. Inder Nachbetrachtung kann man erkennen, welch hohen Preis die jungeAgnes Heller für ihre Treue zur Idee der Kontingenz und für ihr Engage-ment bezüglich einer freien und offenen Gesellschaft bezahlte, die siegegenüber allen Behauptungen angeblich notwendiger Entwicklungenaufrechterhielt, einer Notwendigkeit, die in diesem Fall unmittelbar durchdie Kommunistische Partei verkörpert wurde.

Im Kontext eines totalitären Staates war es ja tatsächlich eine radikaleBehauptung, dass Moralität unabhängig von den politischen Zielen derPartei begriffen werden muss. Dabei sollte nicht unbeachtet bleiben, wieauch für Heller Politik und Ethik miteinander verbunden waren; der inihrer frühen Moraltheorie unternommene Versuch, die kommunale Ethikder Antike und die moralische Autonomie des Individuums miteinanderzu versöhnen, war ja keine bloße Abstraktion, sondern wurzelte in ihrerErfahrung der Revolution:

„Es war ’56, da konnte niemand Trinkgeld geben. In diesen Tagen gab eskeine Diebstähle, keiner der entlassenen Mörder mordete, kein Räuberraubte. Die ganze Nation befand sich sozusagen auf dem dritten Level derMoral – jeder übertraf sich selbst. Insofern war ’56 im Leben Ungarnsnicht nur ein republikanischer Augenblick, sondern auch ein Fest demon-strativer Moral.“3

Diese Anekdote zeigt auf lebendige Weise Hellers Verständnis derMöglichkeiten der Kontingenz. Besonders bemerkenswert ist der impliziteKontrast zu Hannah Arendt, die selbst eine sympathisierende Beobachte-Studien auf dem Gebiet der Geschichtsphilosophie. In den letzten Jahrenverlegte sie den Schwerpunkt ihrer Arbeit mehr in Bereiche wie Reli-gionsphilosophie, Ästhetik und Metaphysik.

In ihrem Buch A Theory of Modernity entwirft Agnes Heller eine Vor-stellung dessen, was sie das historische Bewusstsein „reflektierter Postmo-derner“ nennt. Solche Individuen, so schreibt sie, „denken in Begriffen der

Kontingenz; und zwar nicht nur bezüglich des einzelnen Individuums (so-wohl seiner kosmischen wie sozialen Kontingenz), sondern auch bezüglichhistorischer Momente und Zeitalter – also bezüglich der Kontingenz ihrer

Gegenwart“1. Das Denken in Begriffen der Kontingenz bedeutet für Hel-ler letztendlich die Erkenntnis der Grenzen des Wissens und in prakti-schen Fragen die Notwendigkeit der Wahl. Obiges Zitat zeigt jedoch, dasses dabei zu unterscheiden gilt: Es ist etwas anderes, die Kontingenz des In-dividuums zu denken, als die Kontingenz historischer Epochen zu erken-nen; ebenso gilt es, das Denken der kosmischen Kontingenz von einem

Denken in Begriffen der gesellschaftlich-historischen Kontingenz zu tren-nen. Daher folge ich in diesem Essay Hellers dreiteiligem Schema mit fol-gender Aufteilung: 1) der Theorie der Moderne, 2) der Ethik und Moral-philosophie und 3) der spekulativen Philosophie. Es gibt wenige, deren

Leben und Arbeit sich mit den Ereignissen und Trends des letzten halben

Jahrhunderts so verkreuzt haben, wie dies bei Agnes Heller der Fall ist,und wenige haben so kompromisslos über ihr eigenes Verhältnis zum

„postmodern turn“ nachgedacht. Umso mehr ist es angebracht, kurz die

Frage aufzuwerfen, wie sehr Heller bereits vor der Zeit eine Philosophinder Kontingenz war, bevor dieser Stempel durch besagten „turn“ allge-meine Verbreitung fand.

1. Die junge Heller

Die zehn glorreichen Tage der Ungarischen Revolution von 1956 wur-den durch den Einmarsch russischer Panzertruppen gewaltsam beendet,aber einige Veränderungen blieben spürbar. So veranlasste diese Erfah-rung eine Gruppe junger Intellektueller, einen Kreis um György Lukácszu bilden, der später als die „Budapester Schule“ bekannt wurde: Dortwollten sie das Projekt einer immanenten Kritik des „realexistierenden

Sozialismus“ voranbringen.

Tatsächlich hatte sich Agnes Heller bereits in ihrer kurz vor der Revolu-tion erschienenen Dissertation mit der moralischen Unzulässigkeit einerstalinistischen Politik der Massenopferung auseinander gesetzt. In ihren

1957/58 an der Universität Budapest gehaltenen Vorlesungen, die durch

Vervielfältigungen verbreitet wurden, entwickelte Heller ihren ersten sys-tematischen Versuch zu einer Theorie der Moral. Das Ergebnis dieser Be-mühungen war ein Balanceakt zwischen Historizismus und der Anrufunguniversaler Normen. Dies hatte für Heller sowohl in persönlicher wie inberuflicher Hinsicht Folgen. Die verantwortlichen Behörden erkannten zuRecht die „politische“ Botschaft, die in der Verherrlichung der attischen polis , dem Beharren auf der Freiheit des Individuums und in der Kritikder Bürokratie steckte. Als im Jahre 1958 alle diejenigen, die sich weiger-ten, Lukács zu denunzieren, entlassen wurden, wurde auch die viel ver-sprechende Universitätskarriere Hellers beendet; darüber hinaus wurdesie mit einem „halboffiziellen Publikationsverbot“ belangt und war, so er-innert sich ihr Freund und Budapester Mitstreiter György Markus, „wegendes Textes ihrer Ethikvorlesungen bösartigen Attacken ausgesetzt“2. Inder Nachbetrachtung kann man erkennen, welch hohen Preis die jungeAgnes Heller für ihre Treue zur Idee der Kontingenz und für ihr Engage-ment bezüglich einer freien und offenen Gesellschaft bezahlte, die siegegenüber allen Behauptungen angeblich notwendiger Entwicklungenaufrechterhielt, einer Notwendigkeit, die in diesem Fall unmittelbar durchdie Kommunistische Partei verkörpert wurde.

Im Kontext eines totalitären Staates war es ja tatsächlich eine radikaleBehauptung, dass Moralität unabhängig von den politischen Zielen derPartei begriffen werden muss. Dabei sollte nicht unbeachtet bleiben, wieauch für Heller Politik und Ethik miteinander verbunden waren; der inihrer frühen Moraltheorie unternommene Versuch, die kommunale Ethikder Antike und die moralische Autonomie des Individuums miteinanderzu versöhnen, war ja keine bloße Abstraktion, sondern wurzelte in ihrerErfahrung der Revolution:

„Es war ’56, da konnte niemand Trinkgeld geben. In diesen Tagen gab eskeine Diebstähle, keiner der entlassenen Mörder mordete, kein Räuberraubte. Die ganze Nation befand sich sozusagen auf dem dritten Level derMoral – jeder übertraf sich selbst. Insofern war ’56 im Leben Ungarnsnicht nur ein republikanischer Augenblick, sondern auch ein Fest demon-strativer Moral.“3

Diese Anekdote zeigt auf lebendige Weise Hellers Verständnis derMöglichkeiten der Kontingenz. Besonders bemerkenswert ist der impliziteKontrast zu Hannah Arendt, die selbst eine sympathisierende Beobachte-rin der Ereignisse von 1956 war und für die die Revolutionären Räte einherausragendes Beispiel für politische „Gebürtlichkeit“ („natality“) wa-ren. Heller stimmt mit Arendt zwar darin überein, dass es sich um einen

„republikanischen Augenblick“ handelt, geht aber noch einen Schritt wei-ter: Die Möglichkeiten, die in einem solchen Moment des erhöhten Be-wusstseins der Kontingenz impliziert sind, können und sollten gedachtwerden in Bezug auf das (empirische) Phänomen, dass es darin gute Men-schen gibt, die in dieser Welt handeln.4

In diesen kurzen Bemerkungen zur „jungen Heller“ sollte ihr Verhältniszum Marxismus und zur „Renaissance des Marxismus“ in jenen Tagennicht vergessen werden. Heller selbst hat geschrieben, dass von Marx in ihren frühen Schriften wenig die Rede war ; ihr Marxismus „sollte nochkommen. Er kam mit und durch die Neue Linke.“5Denn erst im Jahr

1965, als sie von der jugoslawischen Praxis-Gruppe eingeladen wurde, anderen Sommeruniversität auf der Insel Korula teilzunehmen, trat sie

„hinaus in die Welt“. Diese bemerkenswerten Begegnungen brachten eine

„wahre Starparade“ marxistischer Intellektueller zusammen, darunter

Leszek Kolakowski, den sie bereits kannte, Ernst Bloch, „voller Charmeund Würze“, den alternden Marcuse, der „benahm sich schon damals wieein Fußballstar“, und ein sehr interessanter, junger und offener Denker,

Jürgen Habermas.6Hellers Debüt in Praxis, Wert und Ge-mit dem Essay schichte , macht anschaulich, dass es in der Geschichte keine einzelne be-stimmende Variable, z. B. die Produktionskräfte, gibt. Die Entwicklungmenschlicher „Werte“ wird darin nicht mit Rückgriff auf eine reduktiveökonomische Theorie konstruiert. Vielmehr gelten darin freie, sich selbstreflektierende und in heterogenen Sphären handelnde Menschen als dieeinzigen Handlungsträger der Geschichte. So entstehen dann auch dieWerte in der Geschichte als „Früchte des Zufalls“7.

In den folgenden Jahren beteiligte sich Heller an den zeitgenössischenKontroversen um die Interpretation von Marx. Simon Tormey hat aufge-zeigt, dass die Aufgabe, einen „positivistischen Absolutismus“ zu bekämp-fen, sehr viel gemein hatte mit der immanenten Kritik, die von der Buda-pester Schule bereits betrieben wurde. Auf der einen Seite war man mitder Dominanz der Apparatschiks und einer „total verwalteten Gesell-schaft“ konfrontiert, auf der anderen Seite mit einer reduktiven empiri-schen Theorie, in der das „Zufällige, das Unausgegorene, das Kontingenteauf der Suche nach Gewissheit und Präzision“ verloren ging.8Um dieserHerausforderung begegnen zu können, wurde Marx’ eigener wissenschaft-licher Anspruch vernachlässigt und er selbst in den Rang eines Philoso- phen erhoben. Dieser Erhebung von Marx entsprach konsequenterweiseeine teilweise Trennung von Theorie und Praxis. Nach Hellers eigenerEmpfehlung sollten Marxisten deshalb zu Marxisten werden, weil sie denMarxismus als praktischen Glauben erwählten und nicht wegen irgend-welcher vermeintlich wissenschaftlicher Garantien. So wie für Kant derGlaube an die Freiheit und die Unsterblichkeit der Seele eine Sache von praktischer Bedeutung war, so sollten Marxisten ihre Grundüberzeugun-gen deshalb wählen, weil dies als Konsequenz „folgt aus unserer jeweili-gen Wertwahl“9. Für Heller selbst bedeutete dies, dass man Marx vorallem deshalb wählte, weil er der Theoretiker der Entfremdung und derTräger praktisch relevanter regulativer Ideen ist, oder weil, um es mit derlinks-hegelianischen Sprache der damaligen Zeit auszudrücken, er derPhilosoph der „rationalen Utopie“ ist, eines „Sollens“ und nicht eines„Seins“.

Das mit beachtlicher Vorahnung in den Monaten vor den Ereignissenvom Mai 1968 geschriebene Buch Alltagsleben verdient besondere Beach-tung. Es werden darin bereits einige Aspekte von Hellers ausgereifterPhilosophie herausgearbeitet, wenn auch noch unter dem Banner des vomjungen Marx entwickelten Begriffs des „Gattungswesens“; darüber hinausist es ein weiterer Beleg dafür, dass Heller sich immer dann als eine Philo-rin der Ereignisse von 1956 war und für die die Revolutionären Räte einherausragendes Beispiel für politische „Gebürtlichkeit“ („natality“) wa-ren. Heller stimmt mit Arendt zwar darin überein, dass es sich um einen

„republikanischen Augenblick“ handelt, geht aber noch einen Schritt wei-ter: Die Möglichkeiten, die in einem solchen Moment des erhöhten Be-wusstseins der Kontingenz impliziert sind, können und sollten gedachtwerden in Bezug auf das (empirische) Phänomen, dass es darin gute Men-schen gibt, die in dieser Welt handeln.4

In diesen kurzen Bemerkungen zur „jungen Heller“ sollte ihr Verhältniszum Marxismus und zur „Renaissance des Marxismus“ in jenen Tagennicht vergessen werden. Heller selbst hat geschrieben, dass von Marx in ihren frühen Schriften wenig die Rede war ; ihr Marxismus „sollte nochkommen. Er kam mit und durch die Neue Linke.“5Denn erst im Jahr

1965, als sie von der jugoslawischen Praxis-Gruppe eingeladen wurde, anderen Sommeruniversität auf der Insel Korula teilzunehmen, trat sie

„hinaus in die Welt“. Diese bemerkenswerten Begegnungen brachten eine

„wahre Starparade“ marxistischer Intellektueller zusammen, darunter

Leszek Kolakowski, den sie bereits kannte, Ernst Bloch, „voller Charmeund Würze“, den alternden Marcuse, der „benahm sich schon damals wieein Fußballstar“, und ein sehr interessanter, junger und offener Denker,

Jürgen Habermas.6Hellers Debüt in Praxis, Wert und Ge-mit dem Essay schichte , macht anschaulich, dass es in der Geschichte keine einzelne be-stimmende Variable, z. B. die Produktionskräfte, gibt. Die Entwicklungmenschlicher „Werte“ wird darin nicht mit Rückgriff auf eine reduktiveökonomische Theorie konstruiert. Vielmehr gelten darin freie, sich selbstreflektierende und in heterogenen Sphären handelnde Menschen als dieeinzigen Handlungsträger der Geschichte. So entstehen dann auch dieWerte in der Geschichte als „Früchte des Zufalls“7.

In den folgenden Jahren beteiligte sich Heller an den zeitgenössischenKontroversen um die Interpretation von Marx. Simon Tormey hat aufge-zeigt, dass die Aufgabe, einen „positivistischen Absolutismus“ zu bekämp-fen, sehr viel gemein hatte mit der immanenten Kritik, die von der Buda-pester Schule bereits betrieben wurde. Auf der einen Seite war man mitder Dominanz der Apparatschiks und einer „total verwalteten Gesell-schaft“ konfrontiert, auf der anderen Seite mit einer reduktiven empiri-schen Theorie, in der das „Zufällige, das Unausgegorene, das Kontingenteauf der Suche nach Gewissheit und Präzision“ verloren ging.8Um dieserHerausforderung begegnen zu können, wurde Marx’ eigener wissenschaft-licher Anspruch vernachlässigt und er selbst in den Rang eines Philoso- phen erhoben. Dieser Erhebung von Marx entsprach konsequenterweiseeine teilweise Trennung von Theorie und Praxis. Nach Hellers eigenerEmpfehlung sollten Marxisten deshalb zu Marxisten werden, weil sie denMarxismus als praktischen Glauben erwählten und nicht wegen irgend-welcher vermeintlich wissenschaftlicher Garantien. So wie für Kant derGlaube an die Freiheit und die Unsterblichkeit der Seele eine Sache von praktischer Bedeutung war, so sollten Marxisten ihre Grundüberzeugun-gen deshalb wählen, weil dies als Konsequenz „folgt aus unserer jeweili-gen Wertwahl“9. Für Heller selbst bedeutete dies, dass man Marx vorallem deshalb wählte, weil er der Theoretiker der Entfremdung und derTräger praktisch relevanter regulativer Ideen ist, oder weil, um es mit derlinks-hegelianischen Sprache der damaligen Zeit auszudrücken, er derPhilosoph der „rationalen Utopie“ ist, eines „Sollens“ und nicht eines„Seins“.

Das mit beachtlicher Vorahnung in den Monaten vor den Ereignissenvom Mai 1968 geschriebene Buch Alltagsleben verdient besondere Beach-tung. Es werden darin bereits einige Aspekte von Hellers ausgereifterPhilosophie herausgearbeitet, wenn auch noch unter dem Banner des vomjungen Marx entwickelten Begriffs des „Gattungswesens“; darüber hinausist es ein weiterer Beleg dafür, dass Heller sich immer dann als eine Philo-sophin der Kontingenz erweist, wenn sie ihre eigene Position gegen diephilosophischen Widersacher formuliert.10Als Folge von Hellers Mi-schung aus phänomenologischer Beschreibung und Kritischer Theorie er-scheint die Sphäre des Alltagslebens, traditionell die Sphäre der Kontin-genz par excellence, voll emanzipatorischen Potenzials. Dabei setzt sichHeller mit den konservativen Tendenzen der Phänomenologie auseinan-der: Gerade dort, wo die kontingente Sphäre des Alltagslebens bejahtwird, sollte das Maß der Authentizität nicht an der individuierenden Er-fahrung des Seins-zum-Tode genommen werden, sondern am Ausmaß, indem die menschlichen Beziehungen „humanisiert und demokratisiert“werden.11

Zuletzt ist Hellers 1971/72 geschriebenes Buch Die Philosophie des lin- ken Radikalismus das Konzentrat ihrer bisherigen Arbeit. In diesem grenzt sie sich gegen die durch Habermas und Apel vertretene Kritische Theorie ab. Während sie die Idee einer „rationalen Kommunikationsgemein-schaft“ als Ideal der Demokratie enthusiastisch aufgreift, trifft sie einigewichtige Unterscheidungen, welche die zentrale Stellung der Kontingenzin ihrer „reifen“ Philosophie zum Ausdruck bringen. Heller argumentiert,dass die einzelnen Teilnehmer emanzipatorische Werte als gemeinsameGrundlage der Diskussion wählen müssen, bevor eine konsensorientierteDiskussion überhaupt stattfinden kann. Selbst die „ideale Kommunika-tionsgemeinschaft“ ist ein unvollständiges regulatives Ideal, da es von denkonkret verkörperten Individuen abstrahiert. In Hellers alternativem Mo-dell erscheint das Individuum als kontingente Person mit Bedürfnissenund Gefühlen, die für sich eine Philosophie mit emanzipatorischer Signifi-kanz, eine rationale Utopie, wählt und diese in die Praxis umsetzt, um aufdiese Weise in ihrem eigenen Sein die Einheit von Theorie und Praxis zumanifestieren: Nicht als Philosophin, „sondern als Menschein ; als Menschunter denen, die die Wahrheit wissen wollen, als einer von denen, die wol-len, dass die Welt das Zuhause der Menschheit sein möge“12.

Die praktische Dimension der Notwendigkeit einer individuellen Wahl,dieser ungebrochene Kierkegaard’sche Voluntarismus, bleibt eine Kons-tante in der weiteren Arbeit Hellers. In den folgenden Jahren werden fürHeller und ihre Budapester Mitstreiter allerdings auch die Fruchtlosigkeiteiner immanenten Kritik der totalitären Gesellschaft deutlich und dieGrenzen des radikalen Universalismus sichtbar. Denn: Obwohl HellersFesthalten an der Utopie der Überwindung der Entfremdung in nicht-de-terministischen und pluralistischen Begriffen gefasst war, kam dort nochder Entwurf eines einzigen, vereinigenden Projektes zum Ausdruck. Sowurde darin genuine Pluralität gegen den metaphysischen Trost „einersehr bequemen quasi-historischen Einheit und Kohärenz all dessen, wasansonsten nicht miteinander übereinstimmen würde“13, getauscht. Poli-tisch gesehen ist der Niedergang der radikalen Linken für Heller dahersicherlich ein Verlust. Doch philosophisch betrachtet ist die Bejahungeiner größeren Pluralität an Perspektiven, von „heterogenen Räumen undTemporalitäten“14, eine viel versprechende Entwicklung. Aus dieser frag-mentierten und pluralistischen Perspektive heraus erweist sich Heller voll-kommen als eine Philosophin der Kontingenz, wie die folgende Diskussionihrer Theorie der Moderne, ihrer Moraltheorie und ihrer Haltung zur spe-kulativen Philosophie zeigen wird.

2. Die Moderne, das neugeborene Kind

A Theory of Modernity ist die Frucht der Zusammenarbeit von AgnesHeller mit ihrem Ehemann, Ferenc Fehér. Eine Arbeit, die beide beschäf-tigte, seit sie 1978 aus dem kommunistischen Ungarn emigriert waren.15Für diese Dissidenten und postmarxistischen Denker war das Ergebnisder Reflexion über den Niedergang des radikalen Universalismus und dieErschöpfung der Metanarrative der Ruf nach einem grundsätzlich neuensophin der Kontingenz erweist, wenn sie ihre eigene Position gegen diephilosophischen Widersacher formuliert.10Als Folge von Hellers Mi-schung aus phänomenologischer Beschreibung und Kritischer Theorie er-scheint die Sphäre des Alltagslebens, traditionell die Sphäre der Kontin-genz par excellence, voll emanzipatorischen Potenzials. Dabei setzt sichHeller mit den konservativen Tendenzen der Phänomenologie auseinan-der: Gerade dort, wo die kontingente Sphäre des Alltagslebens bejahtwird, sollte das Maß der Authentizität nicht an der individuierenden Er-fahrung des Seins-zum-Tode genommen werden, sondern am Ausmaß, indem die menschlichen Beziehungen „humanisiert und demokratisiert“werden.11

Zuletzt ist Hellers 1971/72 geschriebenes Buch Die Philosophie des lin- ken Radikalismus das Konzentrat ihrer bisherigen Arbeit. In diesem grenzt sie sich gegen die durch Habermas und Apel vertretene Kritische Theorie ab. Während sie die Idee einer „rationalen Kommunikationsgemein-schaft“ als Ideal der Demokratie enthusiastisch aufgreift, trifft sie einigewichtige Unterscheidungen, welche die zentrale Stellung der Kontingenzin ihrer „reifen“ Philosophie zum Ausdruck bringen. Heller argumentiert,dass die einzelnen Teilnehmer emanzipatorische Werte als gemeinsameGrundlage der Diskussion wählen müssen, bevor eine konsensorientierteDiskussion überhaupt stattfinden kann. Selbst die „ideale Kommunika-tionsgemeinschaft“ ist ein unvollständiges regulatives Ideal, da es von denkonkret verkörperten Individuen abstrahiert. In Hellers alternativem Mo-dell erscheint das Individuum als kontingente Person mit Bedürfnissenund Gefühlen, die für sich eine Philosophie mit emanzipatorischer Signifi-kanz, eine rationale Utopie, wählt und diese in die Praxis umsetzt, um aufdiese Weise in ihrem eigenen Sein die Einheit von Theorie und Praxis zumanifestieren: Nicht als Philosophin, „sondern als Menschein ; als Menschunter denen, die die Wahrheit wissen wollen, als einer von denen, die wol-len, dass die Welt das Zuhause der Menschheit sein möge“12.

Die praktische Dimension der Notwendigkeit einer individuellen Wahl,dieser ungebrochene Kierkegaard’sche Voluntarismus, bleibt eine Kons-tante in der weiteren Arbeit Hellers. In den folgenden Jahren werden fürHeller und ihre Budapester Mitstreiter allerdings auch die Fruchtlosigkeiteiner immanenten Kritik der totalitären Gesellschaft deutlich und dieGrenzen des radikalen Universalismus sichtbar. Denn: Obwohl HellersFesthalten an der Utopie der Überwindung der Entfremdung in nicht-de-terministischen und pluralistischen Begriffen gefasst war, kam dort nochder Entwurf eines einzigen, vereinigenden Projektes zum Ausdruck. Sowurde darin genuine Pluralität gegen den metaphysischen Trost „einersehr bequemen quasi-historischen Einheit und Kohärenz all dessen, wasansonsten nicht miteinander übereinstimmen würde“13, getauscht. Poli-tisch gesehen ist der Niedergang der radikalen Linken für Heller dahersicherlich ein Verlust. Doch philosophisch betrachtet ist die Bejahungeiner größeren Pluralität an Perspektiven, von „heterogenen Räumen undTemporalitäten“14, eine viel versprechende Entwicklung. Aus dieser frag-mentierten und pluralistischen Perspektive heraus erweist sich Heller voll-kommen als eine Philosophin der Kontingenz, wie die folgende Diskussionihrer Theorie der Moderne, ihrer Moraltheorie und ihrer Haltung zur spe-kulativen Philosophie zeigen wird.

2. Die Moderne, das neugeborene Kind

A Theory of Modernity ist die Frucht der Zusammenarbeit von AgnesHeller mit ihrem Ehemann, Ferenc Fehér. Eine Arbeit, die beide beschäf-tigte, seit sie 1978 aus dem kommunistischen Ungarn emigriert waren.15Für diese Dissidenten und postmarxistischen Denker war das Ergebnisder Reflexion über den Niedergang des radikalen Universalismus und dieErschöpfung der Metanarrative der Ruf nach einem grundsätzlich neuenWeg innerhalb der politischen Theorie. In Ist die Moderne überlebens- fähig? besteht Heller darauf, dass die Moderne nicht allein aus einer ein-zigen Perspektive heraus verstanden werden kann – sei es eine optimis-tische Darlegung unendlichen Fortschritts oder irgendeine der vielen

Verfallsgeschichten. Vielmehr schlägt sie vor, die Moderne als ein „neuge-borenes historisches Kind“ zu betrachten, ein kontingentes, historisches

Wesen, dessen eigene Überlebenskraft noch im Ungewissen ist.

„Die alte Erzählung kann ersetzt werden durch ein Bild der Moderne,als einem erst kürzlich zur Welt gekommenen Neugeborenen. [Die Essaysin diesem Band] sind der Erfahrung der ‘Verwunderung’ entsprungen

(dem platonischen thaumazein), in der Betrachtung der Moderne alseinem brandneuen Experiment, einem Experiment, das vor ungefährzweihundert Jahren begonnen wurde (nach jedem geschichtlichen Maßalso quasi gestern), das immer noch in der Versuchsphase ist, in dem esauch (ganz gravierende) Irrtümer gegeben hat und gibt. Es ist möglich, un-serem selbstgewählten und immer wieder neu zu interpretierenden histo-rischen Erbe gerecht zu werden, und im selben Atemzug der Kontingenzund Neuartigkeit der Moderne gerecht zu werden. Wenn wir dies tun, wer-den alle Probleme unserer Geschichte in einem neuen Licht erscheinen.

[…] Es wird dann nicht mehr um den Niedergang einer senilen Kulturgehen, sondern um die Fähigkeit (oder Unfähigkeit) eines brandneuensozialen Arrangements, sein Überleben zu sichern.“16

In A Theory of Modernity entwickelt Heller diese mütterliche Erfah-rung platonischer Verwunderung weiter zu einem Ethos aufgeklärter Ig-noranz, indem sie nach „einem sich selbst reflektierenden Bewusstsein der

Moderne“ ruft, nach „einer Art Moderne, die sich selbst auf sokratische

Weise erkennt. Denn sie weiß auch, dass sie sehr wenig weiß, wenn über-haupt etwas“ (4).17Doch für Heller ist es unmöglich, ihre mütterlichen In-stinkte gegenüber dem Neugeborenen abzulegen, denn wieder mahnt sie,dass dieses Wissen um den kontingenten Stand der Moderne unseren Ver-antwortungssinn wachrufen sollte. Wenn wir erst einmal die Frage nachdem angeblich intelligiblen Telos der Moderne zur Seite legen, dann führtuns diese Haltung zur praktischen Frage: „Wofür sind wir (die Bewohnerder Gegenwart) verantwortlich?“ (3). Diese praktische Haltung beizube-halten, ist keine leichte Aufgabe, denn es ist schwer, gleichzeitig Verant-wortung zu übernehmen und die „Wunder der Kontingenz offen zu legen,ohne die Medizinen in Anwendung zu bringen, die das Wissen und/oderder Glaube anzubieten haben“ (ebd.). Doch Heller besteht darauf, dassdies der einzige Weg ist, der den Fallen des Zynismus und des Fundamen-talismus entgeht.

Hellers Ethos der reflektierten Postmoderne wird durch einen ganz be-stimmten zeitlichen Horizont geformt. Wir besitzen keinen privilegiertenStandpunkt mehr, von dem aus wir Einblick in die Geschichte nehmenkönnten. Wir haben es uns jetzt im „Bahnhof der Gegenwart“ bequem ge-macht, nachdem wir aus den „Schnellzügen“ in die Zukunft ausgestiegensind, um eine von Hellers Lieblingsmetaphern wiederzugeben. Entspre-chend interpretieren wir unsere Aufgabe: „Um im Geiste des Bewusst-seins der Kontingenz Verantwortung zu übernehmen, müssen wir in denBegriffen einer ‘absoluten Gegenwart’ denken“ (7). Zusammengefasstheißt dies: Jeder Mensch trägt Verantwortung für die Gegenwart (ein-schließlich der Vergangenheit und der Zukunft dieser Gegenwart), abernicht für eine „Zukunft, die niemand kennen kann“ (10). Mehr als allesandere, sollte man sich vor Narrativen in Acht nehmen, die wieder an dieideologischen Albträume des letzten Jahrhunderts erinnern, die entsetz-lichen Aufforderungen, „Opfer zu bringen auf dem Altar unserer Urgroß-enkel“ (240, Fn. 28). Auch wenn es möglicherweise eine der wenigen Stel-len ist, an denen Heller offen defensiv wirkt, so ist doch die folgendeGegenüberstellung ihrer eigenen Verantwortungsethik gegen diejenigezeitgenössischer Umweltschützer insoweit bemerkenswert, als sie diepraktischen Begrenzungen durch eine Verpflichtung gegenüber der Ge-genwart typischerweise in mütterliche Termini kleidet: „Ein wirklichesKind hat einen größeren Anspruch auf ein Elternteil als ein möglichesKind“ (240, Fn. 30).18

Wie Sokrates weiß auch Heller trotz ihres Anspruchs, nichts zu wissen,tatsächlich sehr viel und ihr A Theory of Modernity macht sich dann auchden ganzen Reichtum der Gesellschaftstheorie zunutze. Es gelingt Hellernicht nur, die wichtigsten theoretischen Perspektiven auszubalancieren,sondern sie erstellt auch eine Analyse der komplexen Arbeitsweise vonWeg innerhalb der politischen Theorie. In Ist die Moderne überlebens- fähig? besteht Heller darauf, dass die Moderne nicht allein aus einer ein-zigen Perspektive heraus verstanden werden kann – sei es eine optimis-tische Darlegung unendlichen Fortschritts oder irgendeine der vielen

Verfallsgeschichten. Vielmehr schlägt sie vor, die Moderne als ein „neuge-borenes historisches Kind“ zu betrachten, ein kontingentes, historisches

Wesen, dessen eigene Überlebenskraft noch im Ungewissen ist.

„Die alte Erzählung kann ersetzt werden durch ein Bild der Moderne,als einem erst kürzlich zur Welt gekommenen Neugeborenen. [Die Essaysin diesem Band] sind der Erfahrung der ‘Verwunderung’ entsprungen

(dem platonischen thaumazein), in der Betrachtung der Moderne alseinem brandneuen Experiment, einem Experiment, das vor ungefährzweihundert Jahren begonnen wurde (nach jedem geschichtlichen Maßalso quasi gestern), das immer noch in der Versuchsphase ist, in dem esauch (ganz gravierende) Irrtümer gegeben hat und gibt. Es ist möglich, un-serem selbstgewählten und immer wieder neu zu interpretierenden histo-rischen Erbe gerecht zu werden, und im selben Atemzug der Kontingenzund Neuartigkeit der Moderne gerecht zu werden. Wenn wir dies tun, wer-den alle Probleme unserer Geschichte in einem neuen Licht erscheinen.

[…] Es wird dann nicht mehr um den Niedergang einer senilen Kulturgehen, sondern um die Fähigkeit (oder Unfähigkeit) eines brandneuensozialen Arrangements, sein Überleben zu sichern.“16

In A Theory of Modernity entwickelt Heller diese mütterliche Erfah-rung platonischer Verwunderung weiter zu einem Ethos aufgeklärter Ig-noranz, indem sie nach „einem sich selbst reflektierenden Bewusstsein der

Moderne“ ruft, nach „einer Art Moderne, die sich selbst auf sokratische

Weise erkennt. Denn sie weiß auch, dass sie sehr wenig weiß, wenn über-haupt etwas“ (4).17Doch für Heller ist es unmöglich, ihre mütterlichen In-stinkte gegenüber dem Neugeborenen abzulegen, denn wieder mahnt sie,dass dieses Wissen um den kontingenten Stand der Moderne unseren Ver-antwortungssinn wachrufen sollte. Wenn wir erst einmal die Frage nachdem angeblich intelligiblen Telos der Moderne zur Seite legen, dann führtuns diese Haltung zur praktischen Frage: „Wofür sind wir (die Bewohnerder Gegenwart) verantwortlich?“ (3). Diese praktische Haltung beizube-halten, ist keine leichte Aufgabe, denn es ist schwer, gleichzeitig Verant-wortung zu übernehmen und die „Wunder der Kontingenz offen zu legen,ohne die Medizinen in Anwendung zu bringen, die das Wissen und/oderder Glaube anzubieten haben“ (ebd.). Doch Heller besteht darauf, dassdies der einzige Weg ist, der den Fallen des Zynismus und des Fundamen-talismus entgeht.

Hellers Ethos der reflektierten Postmoderne wird durch einen ganz be-stimmten zeitlichen Horizont geformt. Wir besitzen keinen privilegiertenStandpunkt mehr, von dem aus wir Einblick in die Geschichte nehmenkönnten. Wir haben es uns jetzt im „Bahnhof der Gegenwart“ bequem ge-macht, nachdem wir aus den „Schnellzügen“ in die Zukunft ausgestiegensind, um eine von Hellers Lieblingsmetaphern wiederzugeben. Entspre-chend interpretieren wir unsere Aufgabe: „Um im Geiste des Bewusst-seins der Kontingenz Verantwortung zu übernehmen, müssen wir in denBegriffen einer ‘absoluten Gegenwart’ denken“ (7). Zusammengefasstheißt dies: Jeder Mensch trägt Verantwortung für die Gegenwart (ein-schließlich der Vergangenheit und der Zukunft dieser Gegenwart), abernicht für eine „Zukunft, die niemand kennen kann“ (10). Mehr als allesandere, sollte man sich vor Narrativen in Acht nehmen, die wieder an dieideologischen Albträume des letzten Jahrhunderts erinnern, die entsetz-lichen Aufforderungen, „Opfer zu bringen auf dem Altar unserer Urgroß-enkel“ (240, Fn. 28). Auch wenn es möglicherweise eine der wenigen Stel-len ist, an denen Heller offen defensiv wirkt, so ist doch die folgendeGegenüberstellung ihrer eigenen Verantwortungsethik gegen diejenigezeitgenössischer Umweltschützer insoweit bemerkenswert, als sie diepraktischen Begrenzungen durch eine Verpflichtung gegenüber der Ge-genwart typischerweise in mütterliche Termini kleidet: „Ein wirklichesKind hat einen größeren Anspruch auf ein Elternteil als ein möglichesKind“ (240, Fn. 30).18

Wie Sokrates weiß auch Heller trotz ihres Anspruchs, nichts zu wissen,tatsächlich sehr viel und ihr A Theory of Modernity macht sich dann auchden ganzen Reichtum der Gesellschaftstheorie zunutze. Es gelingt Hellernicht nur, die wichtigsten theoretischen Perspektiven auszubalancieren,sondern sie erstellt auch eine Analyse der komplexen Arbeitsweise vonInstitutionen, betrachtet diverse Phänomene, die im Zusammenhang mit

„Kultur“ und „Zivilisation“ diskutiert werden, einschließlich des Totali-tarismus und des Fundamentalismus, und reflektiert über die Lebens-erfahrung von Individuen, die unter fragmentierten und dynamischen

Zeitbedingungen leben. Soweit alle diese Analysen auf einer generellen

Kontingenzthese beruhen, ist es wichtig, dabei Hellers Unterscheidungzwischen dem, was „politisch-geschichtlich kontingent“ ist, z.B. Ereignisse,die Entstehung von Institutionen, die Frage der Überlebensfähigkeit der

Moderne selbst und dem, was bereits gesellschaftlich und historisch kon-kret ist, in den Blick zu nehmen. Auf eine einfache Formel gebracht: Alles,was letztendlich kontingent ist, also entweder sein kann oder nicht seinkann, „ist in Bezug auf seine Wirkungsweise nicht kontingent. Denn wennetwas funktioniert, wenn es reproduziert wird, dann muss dabei auch eineinterne Logik am Werk sein“ (161). Entsprechend ist die Intransparenzder Moderne auch nicht der Abwesenheit eines einzelnen identifizier-baren Kausalfaktors geschuldet, sondern der Anwesenheit und gleichzeiti-gen Wechselwirkung mehrerer solcher heterogener Faktoren. „Kontingenzbedeutet: Es gibt viele Ursachen, die wie im Zickzack durcheinander lau-fen und das, was daraus resultiert, kann von keiner Verkörperung einesder Faktoren, die in der Entstehung des politischen Systems zusammen-wirken, abgelesen werden“ (ebd.).

Wer versuchen wollte, die These von den „im Zickzack durcheinanderlaufenden Ursachen“ herauszuarbeiten, der könnte sich gut an Theres

Jöhls Bemerkung über die musikalische Dimension von Hellers Arbeitorientieren, denn in A Theory of Modernity findet sich tatsächlich einefein herausgearbeitete und ziselierte Orchestrierung.19Hier möchte ichdem etwas bescheideneren Hinweis Hellers folgen, die im Vorwort ein-räumt, dass der ihre Theorie formende Reflexionsprozess auch „im Schrei-ben eines historischen Romans hätte münden können, anstelle einer Theo-rie der Moderne“ (ix). Die drei Hauptprotagonisten sind wie in einem

Roman eingeführt: die „Logik“ der Technologie, die „Logik“ der funktio-nalen Verteilung sozialer Stellungen und die „Logik“ der politischen

Macht (64). Die drei „Logiken“ sind tatsächlich als lebende Charaktere zubetrachten, denn Heller verdeutlicht, dass ihre Entwicklung nicht im Lich-te von „Gesetzen der Geschichte“, diesen „Abstraktionen des Verstan-des“, betrachtet werden kann, da sie „nicht in der Lage sind, geschichtliche

Phänomene an den Wurzeln zu begreifen“ (6). Entsprechend nimmt das

Drama seinen Lauf, wenn diese drei „Charaktere“ gleichzeitig auftreten.

Dies geschieht ganz offensichtlich, wenn wir zum Beispiel die Spannungenzwischen Staat und Wirtschaft betrachten oder den Einfluss, den die Tech-nologie auf die Produktion und den Konsum ausübt. Am wichtigsten sinddie Wechselwirkungen und gegenseitigen Begrenzungen, mit denen dieCharaktere des von Heller dargelegten Dramas aufeinander einwirken.Hier begegnet uns die wesentliche postmoderne Innovation, denn Hellerspricht sich hier sehr klar für die postweberianische Praxis aus, in der jedeSphäre von den Standpunkten der anderen her kritisiert werden soll (68).Da jeder der Charaktere sowohl „zerstörerische wie auch selbstzerstöreri-sche“ Tendenzen aufweist, benötigt er jeweils den mäßigenden Einflussseiner Gegenspieler. In dieser chaotischen und fragmentarischen Praxisgegenseitiger Kritik liegt noch ein Element begründbarer Hoffnung. Wennfür diesen Ausgleich kein Spielraum mehr besteht, dann werden „auf eineroder mehr Ebenen funktionale Schwierigkeiten oder Defizite auftreten“(66). Hieraus leitet Heller dann die schlüssige Formulierung ihrer Kontin-genzthese ab:

„Die Moderne in den Begriffen dreier unterschiedlicher Entwicklungs-logiken zu verstehen, […] ist eine Empfehlung der Praxis, drei unter-schiedliche Perspektiven einzunehmen. Ich glaube, diese Perspektive (abund an die Perspektive zu wechseln) wird meine Botschaft dem Lesernäher bringen. Diese Botschaft ist einfach: Die Moderne sollte nicht alsein homogenisiertes oder totalisiertes Ganzes betrachtet werden, sondernals eine fragmentierte Welt voller, wenn auch nicht unbegrenzter, Möglich-keiten“ (65).

Um Hellers Erfahrung des platonischen thaumazein als Antwort auf dieneugeborene „geschichtliche Konstellation“ besser zu verstehen, solltenwir uns die gerade beschriebene mise-en-scène der Moderne noch einmalaus einer gewissen Distanz anschauen, indem wir das Ganze betrachtenund nicht nur von einer möglichen Perspektive zur anderen wechseln. WasHeller als das „Wesen der Moderne“ beschreibt, ist ein Wunder, dessenbereits Hegel gewahr wurde. „Die Moderne widersteht nicht nur der de-struktiven Kraft der Negation, sie wird auch selbst durch diese Kraft lau-fend verjüngt und am Leben erhalten“ (42). Wenn wir dem Spektakel derModerne mit einer gewissen Hoffnung folgen können und nicht gezwun-gen sind anzunehmen, dass es zwangsläufig in einer Tragödie mündenwird, dann genau aus diesem paradoxen Grund: dass die Moderne aufdem Prinzip („arche“) der Freiheit gründet, „einem Prinzip, das prinzipiellgar nichts gründet, ein Prinzip, das prinzipiell jede Gründung negiert“(15). Es ist dabei wichtig, die Heller’sche Radikalisierung Hegels nichtaußer Acht zu lassen. Da sie es ablehnt, ihre Theorie in die Begriffe einerlegitimierenden Theodizee zu fassen, verliert sie die praktische Perspekti-ve niemals aus den Augen; anstatt das Individuum im Universellen aufzu-heben, unterstreicht sie „die Paradoxien der Freiheit“, die dem Individu-um auferlegen, im Bewusstsein seiner Kontingenz, Verantwortung für seinInstitutionen, betrachtet diverse Phänomene, die im Zusammenhang mit

„Kultur“ und „Zivilisation“ diskutiert werden, einschließlich des Totali-tarismus und des Fundamentalismus, und reflektiert über die Lebens-erfahrung von Individuen, die unter fragmentierten und dynamischen

Zeitbedingungen leben. Soweit alle diese Analysen auf einer generellen

Kontingenzthese beruhen, ist es wichtig, dabei Hellers Unterscheidungzwischen dem, was „politisch-geschichtlich kontingent“ ist, z.B. Ereignisse,die Entstehung von Institutionen, die Frage der Überlebensfähigkeit der

Moderne selbst und dem, was bereits gesellschaftlich und historisch kon-kret ist, in den Blick zu nehmen. Auf eine einfache Formel gebracht: Alles,was letztendlich kontingent ist, also entweder sein kann oder nicht seinkann, „ist in Bezug auf seine Wirkungsweise nicht kontingent. Denn wennetwas funktioniert, wenn es reproduziert wird, dann muss dabei auch eineinterne Logik am Werk sein“ (161). Entsprechend ist die Intransparenzder Moderne auch nicht der Abwesenheit eines einzelnen identifizier-baren Kausalfaktors geschuldet, sondern der Anwesenheit und gleichzeiti-gen Wechselwirkung mehrerer solcher heterogener Faktoren. „Kontingenzbedeutet: Es gibt viele Ursachen, die wie im Zickzack durcheinander lau-fen und das, was daraus resultiert, kann von keiner Verkörperung einesder Faktoren, die in der Entstehung des politischen Systems zusammen-wirken, abgelesen werden“ (ebd.).

Wer versuchen wollte, die These von den „im Zickzack durcheinanderlaufenden Ursachen“ herauszuarbeiten, der könnte sich gut an Theres

Jöhls Bemerkung über die musikalische Dimension von Hellers Arbeitorientieren, denn in A Theory of Modernity findet sich tatsächlich einefein herausgearbeitete und ziselierte Orchestrierung.19Hier möchte ichdem etwas bescheideneren Hinweis Hellers folgen, die im Vorwort ein-räumt, dass der ihre Theorie formende Reflexionsprozess auch „im Schrei-ben eines historischen Romans hätte münden können, anstelle einer Theo-rie der Moderne“ (ix). Die drei Hauptprotagonisten sind wie in einem

Roman eingeführt: die „Logik“ der Technologie, die „Logik“ der funktio-nalen Verteilung sozialer Stellungen und die „Logik“ der politischen

Macht (64). Die drei „Logiken“ sind tatsächlich als lebende Charaktere zubetrachten, denn Heller verdeutlicht, dass ihre Entwicklung nicht im Lich-te von „Gesetzen der Geschichte“, diesen „Abstraktionen des Verstan-des“, betrachtet werden kann, da sie „nicht in der Lage sind, geschichtliche

Phänomene an den Wurzeln zu begreifen“ (6). Entsprechend nimmt das

Drama seinen Lauf, wenn diese drei „Charaktere“ gleichzeitig auftreten.

Dies geschieht ganz offensichtlich, wenn wir zum Beispiel die Spannungenzwischen Staat und Wirtschaft betrachten oder den Einfluss, den die Tech-nologie auf die Produktion und den Konsum ausübt. Am wichtigsten sinddie Wechselwirkungen und gegenseitigen Begrenzungen, mit denen dieCharaktere des von Heller dargelegten Dramas aufeinander einwirken.Hier begegnet uns die wesentliche postmoderne Innovation, denn Hellerspricht sich hier sehr klar für die postweberianische Praxis aus, in der jedeSphäre von den Standpunkten der anderen her kritisiert werden soll (68).Da jeder der Charaktere sowohl „zerstörerische wie auch selbstzerstöreri-sche“ Tendenzen aufweist, benötigt er jeweils den mäßigenden Einflussseiner Gegenspieler. In dieser chaotischen und fragmentarischen Praxisgegenseitiger Kritik liegt noch ein Element begründbarer Hoffnung. Wennfür diesen Ausgleich kein Spielraum mehr besteht, dann werden „auf eineroder mehr Ebenen funktionale Schwierigkeiten oder Defizite auftreten“(66). Hieraus leitet Heller dann die schlüssige Formulierung ihrer Kontin-genzthese ab:

„Die Moderne in den Begriffen dreier unterschiedlicher Entwicklungs-logiken zu verstehen, […] ist eine Empfehlung der Praxis, drei unter-schiedliche Perspektiven einzunehmen. Ich glaube, diese Perspektive (abund an die Perspektive zu wechseln) wird meine Botschaft dem Lesernäher bringen. Diese Botschaft ist einfach: Die Moderne sollte nicht alsein homogenisiertes oder totalisiertes Ganzes betrachtet werden, sondernals eine fragmentierte Welt voller, wenn auch nicht unbegrenzter, Möglich-keiten“ (65).

Um Hellers Erfahrung des platonischen thaumazein als Antwort auf dieneugeborene „geschichtliche Konstellation“ besser zu verstehen, solltenwir uns die gerade beschriebene mise-en-scène der Moderne noch einmalaus einer gewissen Distanz anschauen, indem wir das Ganze betrachtenund nicht nur von einer möglichen Perspektive zur anderen wechseln. WasHeller als das „Wesen der Moderne“ beschreibt, ist ein Wunder, dessenbereits Hegel gewahr wurde. „Die Moderne widersteht nicht nur der de-struktiven Kraft der Negation, sie wird auch selbst durch diese Kraft lau-fend verjüngt und am Leben erhalten“ (42). Wenn wir dem Spektakel derModerne mit einer gewissen Hoffnung folgen können und nicht gezwun-gen sind anzunehmen, dass es zwangsläufig in einer Tragödie mündenwird, dann genau aus diesem paradoxen Grund: dass die Moderne aufdem Prinzip („arche“) der Freiheit gründet, „einem Prinzip, das prinzipiellgar nichts gründet, ein Prinzip, das prinzipiell jede Gründung negiert“(15). Es ist dabei wichtig, die Heller’sche Radikalisierung Hegels nichtaußer Acht zu lassen. Da sie es ablehnt, ihre Theorie in die Begriffe einerlegitimierenden Theodizee zu fassen, verliert sie die praktische Perspekti-ve niemals aus den Augen; anstatt das Individuum im Universellen aufzu-heben, unterstreicht sie „die Paradoxien der Freiheit“, die dem Individu-um auferlegen, im Bewusstsein seiner Kontingenz, Verantwortung für seinLeben zu übernehmen, ohne dabei Rekurs auf eine absolutistische Recht-fertigung nehmen zu können. In dieser Hinsicht ist Hellers „späte“ politi-sche Theorie dem radikalen Erbe des Linkshegelianismus immer nochverbunden. Die Spannung zwischen „Ist“ und „Soll“ ist jetzt als struktu-relle Eigenschaft in die Moderne selbst inkorporiert.20Entgegen den Pes-simisten von Nietzsche bis Adorno findet Heller in ihrer umfassendenPerspektive sehr viel Raum für nicht-nihilistische Praktiken. Nicht Kritikist die Quelle der Gefahr, sondern die Möglichkeit, dabei das Anfangs-paradox, die „nichts gründende Gründung“, außer Acht zu lassen.

Fundamentalismus und Totalitarismus sind zwei – für Heller analoge –Phänomene, die auf gefährliche Weise versuchen, diese Paradoxien derModerne zu umgehen. Sie sind die Übeltäter in der von Heller präsentier-ten Erzählung der Moderne. Sie macht deutlich, dass es sich dabei umdurch und durch moderne Protagonisten handelt, gerade auch dort, wo sieselbst vormoderne Formen propagieren. Für Heller liegt der Schlüsselzum Verständnis der Moderne darin, sie nicht ausschließlich im Kontexteines normativen Begriffs liberaler Demokratie zu verstehen; moderneFreiheit „ist nicht nur die politische Freiheit“ (52–53), sie besteht ebensoaus der viel umfassenderen Kraft der Negation. Jede moderne Revolution,ob sie im Namen der Freiheit durchgeführt wird oder um neue absoluteFundamente zu legen, kann nicht anders als ihre eigenen modernen Insti-tutionen zu entwickeln und ihre eigene Dynamik der Moderne zu entfal-ten. So haben zum Beispiel die kommunistischen und nationalsozialisti-schen Regime viele traditionelle Formen beseitigt und die „Negation vonoben“ zu einer „permanenten Eigenschaft ihrer Regime gemacht“ (ebd.).Die Wahrheit ist, so Heller, dass „sehr unterschiedliche Lebensformen sichals kompatibel mit den modernen gesellschaftlichen Arrangements“ (53)erwiesen haben – fundamentalistische Lebensformen eingeschlossen. Da-raus folgt, dass jede Verteidigung der förderlichen Eigenschaften der Mo-derne diese nicht einfach defensiv mit dem Guten gleichsetzen kann,sondern sich mit den Paradoxien der nichts gründenden Gründung aus-einander setzen muss.

Zuletzt soll noch auf ein Leitmotiv von Hellers Verständnis der Kontin-genz in der Moderne eingegangen werden, nämlich die Empfehlung, unse-re Freiheit immer als durch „double bind“ begrenzt zu verstehen. Theore-tisch betrachtet ist der „double bind“ eine von Cornelius Castoriadis inspi-rierte Antwort auf Heideggers Theorie des „Gestells“, der umfassendenVerfügung technologischen Denkens. In der Moderne gibt es nicht eine,sondern zwei „imaginäre Institutionen“, die technische und die geschicht-liche; „wenn wir also ‘verfügt’ sind, so sind wir ‘verfügt’ durch zwei Gestel-le, die nicht deckungsgleich sind“ (72). In der Praxis bedeutet dieses dop-pelte Gestell eine Möglichkeit, unsere Freiheit innerhalb der Bedingungender Kontingenz zu verwirklichen.

„Es ist dies die Freiheit als Autonomie; jedoch ist diese Freiheit insoweitauch ein Mangel an Freiheit, wie sie in der freien Annahme des ‘doublebind’ besteht. Die Paradoxien der Moderne werden durch den ‘doublebind’ manifest, als Wahrheit über die paradoxe Natur der Freiheit der mo-dernen Menschen“ (95).

3. Kontingente Personen und die Ethik der Persönlichkeit

Ethik und Moralphilosophie waren für Agnes Heller immer die wich-tigsten Themen, von ihrer Dissertation im Jahre 1955 bis zu A Theory of Morals , einer Trilogie, mit der sie ihre Überlegungen zu diesem Thema ab-schließt. Hellers Projekt setzt sich aber von allen anderen schon durch dieFrage ab, die als eine Art Klammer alle drei Bücher zusammenhält und siewiederum als Philosophin der Kontingenz ausweist: „Es gibt gute Men-schen. Wie sind sie möglich?“ Anstatt nach der Möglichkeit moralischenWissens zu fragen, betrachtet Hellers (quasi-)transzendentale Analyse ein historisches Apriori : die kontingente Existenz konkret verkörperter, guterPersonen.

Im ersten Band der Trilogie, General Ethics, betrachtet Heller die Mög-lichkeit guter Menschen, indem sie die existentiellen Strukturen be-schreibt, durch welche man die ethischen Verhaltensweisen von Menschen generell erhellen kann. Durch ihre sehr stark vergleichende Arbeitsweisegewinnt Heller einen originellen Zugang zu den unterschiedlichen Phäno-menen der Moral, einschließlich der Frage nach dem Bösen oder derFrage nach der Verantwortung. Auch in General Ethics, in dem Heller voneiner schematischen Darstellung der „conditio humana“, und nicht etwavon einer Theorie der „menschlichen Natur“, ausgeht, spielt der Begriffder Kontingenz eine wichtige Rolle. In Hellers zum Existentialismus nei-gender Anthropologie ist jeder erwachsene Mensch das Resultat einermehr oder weniger gut gelungenen Abstimmung zweier Kontingenzenaufeinander: dem „Apriori“ ihrer genetischen Ausstattung und dem „A-priori“ der gesellschaftlich-historischen Welt, in die sie „geworfen“ wur-den. Diese werden zu Recht als „Kontingenzen“ gesehen, denn keines derbeiden bestimmt das andere vorher; jedes neugeborene Kind ist ein Akzi-dens, darauf programmiert, sich in jedem gesellschaftlichen Kontext zuentwickeln. Auch wenn in traditionellen Gesellschaften das Bewusstseinfür diese Kontingenz generell wenig ausgeprägt ist, so ist es doch vorhan-Leben zu übernehmen, ohne dabei Rekurs auf eine absolutistische Recht-fertigung nehmen zu können. In dieser Hinsicht ist Hellers „späte“ politi-sche Theorie dem radikalen Erbe des Linkshegelianismus immer nochverbunden. Die Spannung zwischen „Ist“ und „Soll“ ist jetzt als struktu-relle Eigenschaft in die Moderne selbst inkorporiert.20Entgegen den Pes-simisten von Nietzsche bis Adorno findet Heller in ihrer umfassendenPerspektive sehr viel Raum für nicht-nihilistische Praktiken. Nicht Kritikist die Quelle der Gefahr, sondern die Möglichkeit, dabei das Anfangs-paradox, die „nichts gründende Gründung“, außer Acht zu lassen.

Fundamentalismus und Totalitarismus sind zwei – für Heller analoge –Phänomene, die auf gefährliche Weise versuchen, diese Paradoxien derModerne zu umgehen. Sie sind die Übeltäter in der von Heller präsentier-ten Erzählung der Moderne. Sie macht deutlich, dass es sich dabei umdurch und durch moderne Protagonisten handelt, gerade auch dort, wo sieselbst vormoderne Formen propagieren. Für Heller liegt der Schlüsselzum Verständnis der Moderne darin, sie nicht ausschließlich im Kontexteines normativen Begriffs liberaler Demokratie zu verstehen; moderneFreiheit „ist nicht nur die politische Freiheit“ (52–53), sie besteht ebensoaus der viel umfassenderen Kraft der Negation. Jede moderne Revolution,ob sie im Namen der Freiheit durchgeführt wird oder um neue absoluteFundamente zu legen, kann nicht anders als ihre eigenen modernen Insti-tutionen zu entwickeln und ihre eigene Dynamik der Moderne zu entfal-ten. So haben zum Beispiel die kommunistischen und nationalsozialisti-schen Regime viele traditionelle Formen beseitigt und die „Negation vonoben“ zu einer „permanenten Eigenschaft ihrer Regime gemacht“ (ebd.).Die Wahrheit ist, so Heller, dass „sehr unterschiedliche Lebensformen sichals kompatibel mit den modernen gesellschaftlichen Arrangements“ (53)erwiesen haben – fundamentalistische Lebensformen eingeschlossen. Da-raus folgt, dass jede Verteidigung der förderlichen Eigenschaften der Mo-derne diese nicht einfach defensiv mit dem Guten gleichsetzen kann,sondern sich mit den Paradoxien der nichts gründenden Gründung aus-einander setzen muss.

Zuletzt soll noch auf ein Leitmotiv von Hellers Verständnis der Kontin-genz in der Moderne eingegangen werden, nämlich die Empfehlung, unse-re Freiheit immer als durch „double bind“ begrenzt zu verstehen. Theore-tisch betrachtet ist der „double bind“ eine von Cornelius Castoriadis inspi-rierte Antwort auf Heideggers Theorie des „Gestells“, der umfassendenVerfügung technologischen Denkens. In der Moderne gibt es nicht eine,sondern zwei „imaginäre Institutionen“, die technische und die geschicht-liche; „wenn wir also ‘verfügt’ sind, so sind wir ‘verfügt’ durch zwei Gestel-le, die nicht deckungsgleich sind“ (72). In der Praxis bedeutet dieses dop-pelte Gestell eine Möglichkeit, unsere Freiheit innerhalb der Bedingungender Kontingenz zu verwirklichen.

„Es ist dies die Freiheit als Autonomie; jedoch ist diese Freiheit insoweitauch ein Mangel an Freiheit, wie sie in der freien Annahme des ‘doublebind’ besteht. Die Paradoxien der Moderne werden durch den ‘doublebind’ manifest, als Wahrheit über die paradoxe Natur der Freiheit der mo-dernen Menschen“ (95).

3. Kontingente Personen und die Ethik der Persönlichkeit

Ethik und Moralphilosophie waren für Agnes Heller immer die wich-tigsten Themen, von ihrer Dissertation im Jahre 1955 bis zu A Theory of Morals , einer Trilogie, mit der sie ihre Überlegungen zu diesem Thema ab-schließt. Hellers Projekt setzt sich aber von allen anderen schon durch dieFrage ab, die als eine Art Klammer alle drei Bücher zusammenhält und siewiederum als Philosophin der Kontingenz ausweist: „Es gibt gute Men-schen. Wie sind sie möglich?“ Anstatt nach der Möglichkeit moralischenWissens zu fragen, betrachtet Hellers (quasi-)transzendentale Analyse ein historisches Apriori : die kontingente Existenz konkret verkörperter, guterPersonen.

Im ersten Band der Trilogie, General Ethics, betrachtet Heller die Mög-lichkeit guter Menschen, indem sie die existentiellen Strukturen be-schreibt, durch welche man die ethischen Verhaltensweisen von Menschen generell erhellen kann. Durch ihre sehr stark vergleichende Arbeitsweisegewinnt Heller einen originellen Zugang zu den unterschiedlichen Phäno-menen der Moral, einschließlich der Frage nach dem Bösen oder derFrage nach der Verantwortung. Auch in General Ethics, in dem Heller voneiner schematischen Darstellung der „conditio humana“, und nicht etwavon einer Theorie der „menschlichen Natur“, ausgeht, spielt der Begriffder Kontingenz eine wichtige Rolle. In Hellers zum Existentialismus nei-gender Anthropologie ist jeder erwachsene Mensch das Resultat einermehr oder weniger gut gelungenen Abstimmung zweier Kontingenzenaufeinander: dem „Apriori“ ihrer genetischen Ausstattung und dem „A-priori“ der gesellschaftlich-historischen Welt, in die sie „geworfen“ wur-den. Diese werden zu Recht als „Kontingenzen“ gesehen, denn keines derbeiden bestimmt das andere vorher; jedes neugeborene Kind ist ein Akzi-dens, darauf programmiert, sich in jedem gesellschaftlichen Kontext zuentwickeln. Auch wenn in traditionellen Gesellschaften das Bewusstseinfür diese Kontingenz generell wenig ausgeprägt ist, so ist es doch vorhan-den, auf eine, wenn man so will, unbewusste Art und Weise, nämlich durchdie „existentielle Spannung“21die in der subjektiven Erfahrung jedes ein-zigartigen Individuums präsent ist.

In A Philosophy of Morals nimmt die Frage der Kontingenz dann denzentralen Platz ein, und zwar „qua Existenzform“. Dies bedeutet, dass

Heller mit Nachdruck darauf besteht, auch dieses Buch der Moralphilo-sophie mit der Erfahrung der Kontingenz zu beginnen, in dem sie eine de-taillierte Darstellung der Tugenden, der Normen und Maximen gibt, diefür nach moralischer Anleitung suchende Handelnde von praktischer Re-levanz sind. Dieser Nachdruck erklärt sich aus dem konkreten Anliegen,denn Heller beschäftigt sich in diesem Buch nicht mit der generellen Mög-lichkeit der Existenz guter Menschen, sondern mit dieser Möglichkeit im

Jetzt , in der Moderne.

„Der moderne Mensch ist ‘ein Geworfener’, weil seine Umstände voneiner doppelten Kontingenz gekennzeichnet sind. Zusätzlich zu der an-fänglichen, zumeist unbewussten Kontingenz gibt es eine zweite qua ‘Le-bensform’, die in den letzten zweihundert Jahren in der modernen Welt an

Gewicht gewonnen hat. Der moderne Mensch erhält die Bestimmung, das

Telos, seines Lebens nicht im Moment der Geburt zugeeignet, wie dies invormodernen Zeiten geschah, in denen jeder eine vorherbestimmte Sachetun sollte, ob dies ihm oder ihr nun gefiel oder nicht. Der moderne

Mensch ist als ein Bündel von Möglichkeiten geboren, ohne Telos […] dieexistentialistische Formel des ‘Sich-selbst-Wählens’ kann auch als ein beschreibender Kommentar gelesen werden, zur Lebensform in der Mo-derne“ (5–6).

Für alle, die mit den subjektiven und heroischen Varianten des Existen-tialismus vertraut sind (z. B. Sartre, Weber), ist die Verbindung zwischen

Moral und der „Wahl-seiner-Selbst“ höchst problematisch. Dieser Skepsisbegegnet Heller mit einer Kierkegaard’schen Version der existentiellen

Wahl, indem sie unterscheidet zwischen einer Wahl des eigenen Selbstunter der „Kategorie der Differenz“ und einer Wahl, die „unter der Kate-gorie des Universellen“ getroffen wird. Im ersten Fall wählt man sich als

„Ausnahme“, als jemand, der einer Berufung folgt, als Politiker, Künstler,

Philosoph usw. Eine solche existentielle Wahl verspricht, wenn sie mit Er-folg gesegnet ist, das Glück, das durch die Entwicklung der eigenen Talen-te erlebt werden kann. Doch diese Wahl beinhaltet große Risiken, füreinen selbst, wie auch für andere; nicht nur, dass diese Wahl unter den Ein-fluss äußerer Mächte gestellt ist, wie zum Beispiel die statistische Wahr-scheinlichkeit des Erfolges, sondern auch deswegen, weil die Entscheidun-gen, die jemand in der Verfolgung der eigenen Talente oder Berufung trifft,

„durchaus nicht die unter moralischen Gesichtspunkten bestmöglichen“sind (17).

Die existentielle Wahl unter der Kategorie des Universellen ist eineganz andere Angelegenheit. Hier wählt man sich nicht als „Ausnahme“,sondern als gute, anständige Person. Dies impliziert vor allem moralische Autonomie , jedoch keine, die allein in Kant’schen oder Habermas’schenBegriffen gefasst wäre: Man wählt sich nicht als „eine blutleere Abstrak-tion […] der reinen Vernunft und rationalen Kommunikation“ (28). Viel-mehr wird man zu seinem eigenen Selbst als dem Universellen, indemman zuallererst jede der eigenen kontingenten Bestimmungen wählt, dieFamilie, die Geschichte, die Neigungen, Neurosen, Ängste usw. Dies be-deutet nicht etwa, dass man blind jeder Neigung folgt, sondern dass manVerantwortung für sich selbst übernimmt in dem Sinne, dass man wederdas Schlechte in sich selbst fördert, noch auf äußere Rechtfertigungen fürunakzeptables Verhalten baut. So gesehen ist die Wahl des eigenen Selbstunter der Kategorie des Universellen die moderne Version der (sokrati-schen) Selbsterkenntnis (9). Sokratisch gesprochen bedeutet es, sich selbstals jemanden zu wählen, für den es schlimmer ist, Unrecht zu tun, als Un-recht zu erleiden. In Kierkegaards Begriffen bedeutet es, sich als eine Per-son zu wählen, die das Ethische wählt, als eine Person, für die alle folgen-den Entscheidungen unter den Kategorien des Guten und des Bösen ge-troffen werden (13).

Hellers moderne Moralphilosophie richtet sich an genau solche Wesen,kontingente Personen, die sich selbst unter ethischen Kategorien gewählthaben. Aus ihrer Sicht mangeln die wichtigsten Alternativen zu ihrer The-orie daran, dass sie die der Moderne spezifische Existenzform nicht inRechnung stellen. Denn ob diese Alternativen nun substantiell-partiku-läre oder formal-universalistische Herangehensweisen propagieren, sobleibt doch für alle bestehen, dass ihre wesentlichen GeltungsansprüchePositionen herausformuliert haben, die sich durch Mitgliedschaft in einerbestimmten Gruppe definieren; ob dies ein Stamm ist, eine Gemeinschaft,ein Staat oder eine wie auch immer geartete Abstraktion der „Mensch-heit“ (105). Solche Zugänge, auch in ihren universalistischen Varianten,sind aus vormodernen geschichtlichen Konstellationen überkommen, „indenen moralische Normen, Tugenden und Ideen generell entlang den Li-nien sozialer Stratifikation ausdifferenziert waren“ (5). Gleichzeitig er-möglicht die Vorstellung einer sich selbst wählenden kontingenten Personeine Philosophie, die die substantiellen und die formalen Elemente derMoralphilosophie tatsächlich miteinander kombiniert, d.h. das Fundamentfür eine wirklich moderne Sittlichkeit:

„Alle modernen Frauen und Männer haben etwas gemein: Sie sind allekontingent. Sie teilen diese fundamentale Lebenserfahrung und befindenden, auf eine, wenn man so will, unbewusste Art und Weise, nämlich durchdie „existentielle Spannung“21die in der subjektiven Erfahrung jedes ein-zigartigen Individuums präsent ist.

In A Philosophy of Morals nimmt die Frage der Kontingenz dann denzentralen Platz ein, und zwar „qua Existenzform“. Dies bedeutet, dass

Heller mit Nachdruck darauf besteht, auch dieses Buch der Moralphilo-sophie mit der Erfahrung der Kontingenz zu beginnen, in dem sie eine de-taillierte Darstellung der Tugenden, der Normen und Maximen gibt, diefür nach moralischer Anleitung suchende Handelnde von praktischer Re-levanz sind. Dieser Nachdruck erklärt sich aus dem konkreten Anliegen,denn Heller beschäftigt sich in diesem Buch nicht mit der generellen Mög-lichkeit der Existenz guter Menschen, sondern mit dieser Möglichkeit im

Jetzt , in der Moderne.

„Der moderne Mensch ist ‘ein Geworfener’, weil seine Umstände voneiner doppelten Kontingenz gekennzeichnet sind. Zusätzlich zu der an-fänglichen, zumeist unbewussten Kontingenz gibt es eine zweite qua ‘Le-bensform’, die in den letzten zweihundert Jahren in der modernen Welt an

Gewicht gewonnen hat. Der moderne Mensch erhält die Bestimmung, das

Telos, seines Lebens nicht im Moment der Geburt zugeeignet, wie dies invormodernen Zeiten geschah, in denen jeder eine vorherbestimmte Sachetun sollte, ob dies ihm oder ihr nun gefiel oder nicht. Der moderne

Mensch ist als ein Bündel von Möglichkeiten geboren, ohne Telos […] dieexistentialistische Formel des ‘Sich-selbst-Wählens’ kann auch als ein beschreibender Kommentar gelesen werden, zur Lebensform in der Mo-derne“ (5–6).

Für alle, die mit den subjektiven und heroischen Varianten des Existen-tialismus vertraut sind (z. B. Sartre, Weber), ist die Verbindung zwischen

Moral und der „Wahl-seiner-Selbst“ höchst problematisch. Dieser Skepsisbegegnet Heller mit einer Kierkegaard’schen Version der existentiellen

Wahl, indem sie unterscheidet zwischen einer Wahl des eigenen Selbstunter der „Kategorie der Differenz“ und einer Wahl, die „unter der Kate-gorie des Universellen“ getroffen wird. Im ersten Fall wählt man sich als

„Ausnahme“, als jemand, der einer Berufung folgt, als Politiker, Künstler,

Philosoph usw. Eine solche existentielle Wahl verspricht, wenn sie mit Er-folg gesegnet ist, das Glück, das durch die Entwicklung der eigenen Talen-te erlebt werden kann. Doch diese Wahl beinhaltet große Risiken, füreinen selbst, wie auch für andere; nicht nur, dass diese Wahl unter den Ein-fluss äußerer Mächte gestellt ist, wie zum Beispiel die statistische Wahr-scheinlichkeit des Erfolges, sondern auch deswegen, weil die Entscheidun-gen, die jemand in der Verfolgung der eigenen Talente oder Berufung trifft,

„durchaus nicht die unter moralischen Gesichtspunkten bestmöglichen“sind (17).

Die existentielle Wahl unter der Kategorie des Universellen ist eineganz andere Angelegenheit. Hier wählt man sich nicht als „Ausnahme“,sondern als gute, anständige Person. Dies impliziert vor allem moralische Autonomie , jedoch keine, die allein in Kant’schen oder Habermas’schenBegriffen gefasst wäre: Man wählt sich nicht als „eine blutleere Abstrak-tion […] der reinen Vernunft und rationalen Kommunikation“ (28). Viel-mehr wird man zu seinem eigenen Selbst als dem Universellen, indemman zuallererst jede der eigenen kontingenten Bestimmungen wählt, dieFamilie, die Geschichte, die Neigungen, Neurosen, Ängste usw. Dies be-deutet nicht etwa, dass man blind jeder Neigung folgt, sondern dass manVerantwortung für sich selbst übernimmt in dem Sinne, dass man wederdas Schlechte in sich selbst fördert, noch auf äußere Rechtfertigungen fürunakzeptables Verhalten baut. So gesehen ist die Wahl des eigenen Selbstunter der Kategorie des Universellen die moderne Version der (sokrati-schen) Selbsterkenntnis (9). Sokratisch gesprochen bedeutet es, sich selbstals jemanden zu wählen, für den es schlimmer ist, Unrecht zu tun, als Un-recht zu erleiden. In Kierkegaards Begriffen bedeutet es, sich als eine Per-son zu wählen, die das Ethische wählt, als eine Person, für die alle folgen-den Entscheidungen unter den Kategorien des Guten und des Bösen ge-troffen werden (13).

Hellers moderne Moralphilosophie richtet sich an genau solche Wesen,kontingente Personen, die sich selbst unter ethischen Kategorien gewählthaben. Aus ihrer Sicht mangeln die wichtigsten Alternativen zu ihrer The-orie daran, dass sie die der Moderne spezifische Existenzform nicht inRechnung stellen. Denn ob diese Alternativen nun substantiell-partiku-läre oder formal-universalistische Herangehensweisen propagieren, sobleibt doch für alle bestehen, dass ihre wesentlichen GeltungsansprüchePositionen herausformuliert haben, die sich durch Mitgliedschaft in einerbestimmten Gruppe definieren; ob dies ein Stamm ist, eine Gemeinschaft,ein Staat oder eine wie auch immer geartete Abstraktion der „Mensch-heit“ (105). Solche Zugänge, auch in ihren universalistischen Varianten,sind aus vormodernen geschichtlichen Konstellationen überkommen, „indenen moralische Normen, Tugenden und Ideen generell entlang den Li-nien sozialer Stratifikation ausdifferenziert waren“ (5). Gleichzeitig er-möglicht die Vorstellung einer sich selbst wählenden kontingenten Personeine Philosophie, die die substantiellen und die formalen Elemente derMoralphilosophie tatsächlich miteinander kombiniert, d.h. das Fundamentfür eine wirklich moderne Sittlichkeit:

„Alle modernen Frauen und Männer haben etwas gemein: Sie sind allekontingent. Sie teilen diese fundamentale Lebenserfahrung und befindensich alle in derselben Schwierigkeit: Entweder sie wählen sich selbst, odersie lassen andere für sich wählen. Es gibt viel im Leben der Anderen, dassie nicht verstehen. Man kann nicht von ihnen erwarten, dass sie in Din-gen miteinander übereinstimmen, die sich auf ihre konkreten Lebens-bedingungen, ihre Erfahrungen, Ideen und Ziele beziehen. Da aber dieKontingenz von allen als Lebensbedingung geteilt wird, können sich dieMenschen basierend auf diesem universellen Grund/Fundament verstän-digen. Auf dieser gemeinsamen Erfahrung und Schwierigkeit kann sicheine moderne Moralphilosophie gründen. Eine kontingente Person kannsich mit anderen kontingenten Personen darüber austauschen, was siealle angeht: Kontingenz. Jede kontingente Person hat die Berechtigung,über die Schwierigkeiten der Kontingenz zu reden, da sie oder er selbstauch kontingent ist, wie all die anderen, mit denen er oder sie kommuni-ziert“ (7).

Agnes Heller spricht mit ihrer Moralphilosophie also als eine kontin-gente Person zu anderen kontingenten Personen. Diese Herabsetzung dereigenen philosophischen Autorität, wie auch der Autorität der Moralphilo-sophie ganz allgemein, führt allerdings nicht dazu, dass sich damit auch ihr Anspruch verringern würde: Heller unternimmt die Aufgabe, Richtlinienfür „jeden Handelnden“ und für „jede mögliche Art moralischer Bera-tung“ zu formulieren (3). Dabei bleibt sie ihrem erzählerischen Zugangzum Thema treu und präsentiert diese Richtlinien, indem sie den gutenMenschen auf seiner Lebensreise begleitet, durch die Mühsal des Alltags,bei seinen persönlichen Beziehungen und institutionellen Verpflichtungenebenso wie bei der Erörterung von Gerechtigkeitsfragen oder staatspoliti-scher und globaler Verantwortung. Durch diese umfassende Dokumen-tation moderner moralischer Erfahrung bringt Heller die tatsächlicheSubstanz moderner Moral zum Ausdruck, die konkreten Tugenden, dieLeitnormen und die universalen Maximen, auf die sich Menschen, die Ratsuchen, vernünftigerweise stützen können. Das Buch unterscheidet sichvon einer Ethik rationaler Kommunikation dadurch, dass es nicht nur dieProzeduren zur Identifizierung bestimmter Normen herausarbeitet, son-dern auch die Normen selbst formuliert, von denen viele ganz eindeutigsubstantiellen Gehalt haben, wie zum Beispiel das „universal orientativeprinciple“, die Sorge um andere Menschen wie auch die Pflicht zur Coura-ge und Reziprozität im Handeln. Doch bietet Hellers moralischer Ratkeine Garantien und erspart dem Einzelnen auch nicht die Notwendig-keit, in komplexen und risikoreichen Umständen, in denen genuine mora-lische Konflikte ausgetragen werden, eine jeweils eigene Wahl zu treffen.So betrachtet bezieht sich ihre Diskussion größtenteils darauf, wie kontin-gente Personen, jede auf ihre einzigartige Weise, in die Lage versetzt wer-den, ihre eigene Fähigkeit zur „phronesis“ und für moralische Urteile zukultivieren, „die Gewohnheit, im Dienste praktischer Entscheidungen dietheoretische Vernunft zu gebrauchen“ (173).

In der letzten Arbeit der Trilogie lässt Heller die normative Aufgabe derMoralphilosophie hinter sich, um die Lebenswege einiger repräsentativerIndividuen exemplarisch darzulegen. Mit dem Titel An Ethics of Perso- nality , einer Formulierung, die sowohl bei Weber wie auch bei Lukács zufinden ist, stellt sie sich zustimmend in eine Tradition innerhalb der mo-dernen Ethik, mit der sie auf ganz innige Weise verwoben ist. Da sie zu-tiefst kritisch gegenüber den subjektivistischen und elitären Ausformulie-rungen der Persönlichkeitsethik eingestellt ist, betont sie gleichzeitig dieVerwandtschaft ihres eigenen Denkens mit zeitgenössischen Ethiken, dieum den Begriff der Alterität herum zentriert sind.22In Hellers eigenenWorten: Jeder Teil der Arbeit erzählt „die Geschichte des Rufes oder An-spruchs, der durch einen Anderen an eine Person ergeht, und erzählt dieGeschichte der Verantwortung, die von der Person eingegangen wird.Jedes Menschen Antwort auf diesen Ruf, auf diese Stimme wird eine ganzeigene sein“ (7–8).

Der erste Teil des Buches betrachtet Nietzsche als ein Beispiel dafür,dass Kontingenz als „Ruf des Schicksals“ erfahren wird, nicht als Rufeines Anderen. Heller begegnet Nietzsches Herausforderung mit einerraffinierten und kompliziert belegten Diskussion seiner Beziehung zuWagner. In dieser Interpretation ist die Genealogie der Moral eine opern-analoge Antwort auf den Parsifal. ParsifalGenauso kann nach Heller auch als profunde Antwort auf Nietzsche verstanden werden. Parzival selbst,der „nicht weiß, wo er herkommt“, ist eine „kontingente Person“, „einSymbol für die Ethik der Persönlichkeit“, der von der „Liebe zu seinemSchicksal angetrieben“ wird (40, 41). Auch der Kniefall Parzivals vor einerWahrheit, die nicht seinem eigenen Selbst entspringt, gefährdet diesen re-präsentativen Status nicht. Denn die Stimmen, die er hört, sind nicht dieVertreter einer alles beherrschenden heteronomen Macht, sondern dieLieder seines eigenen moralischen Zentrums, seiner Fähigkeit zur „Auf-klärung durch Mitleid“ (45). Mit dieser Parabel des Mitleids spricht Wag-ner direkt auf Nietzsches Versagen bei dem Versuch an, das formale Krite-rium der Autonomie mit substantiellen Kriterien auszubalancieren, diemehr dem ästhetischen als dem ethischen Bereich zuzuordnen sind (z.B.sich alle in derselben Schwierigkeit: Entweder sie wählen sich selbst, odersie lassen andere für sich wählen. Es gibt viel im Leben der Anderen, dassie nicht verstehen. Man kann nicht von ihnen erwarten, dass sie in Din-gen miteinander übereinstimmen, die sich auf ihre konkreten Lebens-bedingungen, ihre Erfahrungen, Ideen und Ziele beziehen. Da aber dieKontingenz von allen als Lebensbedingung geteilt wird, können sich dieMenschen basierend auf diesem universellen Grund/Fundament verstän-digen. Auf dieser gemeinsamen Erfahrung und Schwierigkeit kann sicheine moderne Moralphilosophie gründen. Eine kontingente Person kannsich mit anderen kontingenten Personen darüber austauschen, was siealle angeht: Kontingenz. Jede kontingente Person hat die Berechtigung,über die Schwierigkeiten der Kontingenz zu reden, da sie oder er selbstauch kontingent ist, wie all die anderen, mit denen er oder sie kommuni-ziert“ (7).

Agnes Heller spricht mit ihrer Moralphilosophie also als eine kontin-gente Person zu anderen kontingenten Personen. Diese Herabsetzung dereigenen philosophischen Autorität, wie auch der Autorität der Moralphilo-sophie ganz allgemein, führt allerdings nicht dazu, dass sich damit auch ihr Anspruch verringern würde: Heller unternimmt die Aufgabe, Richtlinienfür „jeden Handelnden“ und für „jede mögliche Art moralischer Bera-tung“ zu formulieren (3). Dabei bleibt sie ihrem erzählerischen Zugangzum Thema treu und präsentiert diese Richtlinien, indem sie den gutenMenschen auf seiner Lebensreise begleitet, durch die Mühsal des Alltags,bei seinen persönlichen Beziehungen und institutionellen Verpflichtungenebenso wie bei der Erörterung von Gerechtigkeitsfragen oder staatspoliti-scher und globaler Verantwortung. Durch diese umfassende Dokumen-tation moderner moralischer Erfahrung bringt Heller die tatsächlicheSubstanz moderner Moral zum Ausdruck, die konkreten Tugenden, dieLeitnormen und die universalen Maximen, auf die sich Menschen, die Ratsuchen, vernünftigerweise stützen können. Das Buch unterscheidet sichvon einer Ethik rationaler Kommunikation dadurch, dass es nicht nur dieProzeduren zur Identifizierung bestimmter Normen herausarbeitet, son-dern auch die Normen selbst formuliert, von denen viele ganz eindeutigsubstantiellen Gehalt haben, wie zum Beispiel das „universal orientativeprinciple“, die Sorge um andere Menschen wie auch die Pflicht zur Coura-ge und Reziprozität im Handeln. Doch bietet Hellers moralischer Ratkeine Garantien und erspart dem Einzelnen auch nicht die Notwendig-keit, in komplexen und risikoreichen Umständen, in denen genuine mora-lische Konflikte ausgetragen werden, eine jeweils eigene Wahl zu treffen.So betrachtet bezieht sich ihre Diskussion größtenteils darauf, wie kontin-gente Personen, jede auf ihre einzigartige Weise, in die Lage versetzt wer-den, ihre eigene Fähigkeit zur „phronesis“ und für moralische Urteile zukultivieren, „die Gewohnheit, im Dienste praktischer Entscheidungen dietheoretische Vernunft zu gebrauchen“ (173).

In der letzten Arbeit der Trilogie lässt Heller die normative Aufgabe derMoralphilosophie hinter sich, um die Lebenswege einiger repräsentativerIndividuen exemplarisch darzulegen. Mit dem Titel An Ethics of Perso- nality , einer Formulierung, die sowohl bei Weber wie auch bei Lukács zufinden ist, stellt sie sich zustimmend in eine Tradition innerhalb der mo-dernen Ethik, mit der sie auf ganz innige Weise verwoben ist. Da sie zu-tiefst kritisch gegenüber den subjektivistischen und elitären Ausformulie-rungen der Persönlichkeitsethik eingestellt ist, betont sie gleichzeitig dieVerwandtschaft ihres eigenen Denkens mit zeitgenössischen Ethiken, dieum den Begriff der Alterität herum zentriert sind.22In Hellers eigenenWorten: Jeder Teil der Arbeit erzählt „die Geschichte des Rufes oder An-spruchs, der durch einen Anderen an eine Person ergeht, und erzählt dieGeschichte der Verantwortung, die von der Person eingegangen wird.Jedes Menschen Antwort auf diesen Ruf, auf diese Stimme wird eine ganzeigene sein“ (7–8).

Der erste Teil des Buches betrachtet Nietzsche als ein Beispiel dafür,dass Kontingenz als „Ruf des Schicksals“ erfahren wird, nicht als Rufeines Anderen. Heller begegnet Nietzsches Herausforderung mit einerraffinierten und kompliziert belegten Diskussion seiner Beziehung zuWagner. In dieser Interpretation ist die Genealogie der Moral eine opern-analoge Antwort auf den Parsifal. ParsifalGenauso kann nach Heller auch als profunde Antwort auf Nietzsche verstanden werden. Parzival selbst,der „nicht weiß, wo er herkommt“, ist eine „kontingente Person“, „einSymbol für die Ethik der Persönlichkeit“, der von der „Liebe zu seinemSchicksal angetrieben“ wird (40, 41). Auch der Kniefall Parzivals vor einerWahrheit, die nicht seinem eigenen Selbst entspringt, gefährdet diesen re-präsentativen Status nicht. Denn die Stimmen, die er hört, sind nicht dieVertreter einer alles beherrschenden heteronomen Macht, sondern dieLieder seines eigenen moralischen Zentrums, seiner Fähigkeit zur „Auf-klärung durch Mitleid“ (45). Mit dieser Parabel des Mitleids spricht Wag-ner direkt auf Nietzsches Versagen bei dem Versuch an, das formale Krite-rium der Autonomie mit substantiellen Kriterien auszubalancieren, diemehr dem ästhetischen als dem ethischen Bereich zuzuordnen sind (z.B.Adel über Ressentiment; Raffinement). Eine Art Anti-Zarathustra vorZarathustra, repräsentiert Parzival eine moralische Wahrheit: dass nämlichjede Ethik der Persönlichkeit durch zumindest ein „rein ethisches“ Krite-rium qualifiziert werden muss.

Der zweite Teil der Ethics of Personality besteht aus drei Dialogen, diezwischen einem Kantianer, einem Nietzscheaner und einer Kierkegaardia-nerin (die in einer Doppelrolle auch noch als die Wahrheitsgöttin auftritt)geführt werden. Jeder Diskussionsteilnehmer betrachtet die Dilemmatader Kontingenz vom Standpunkt des jeweils eigenen Lebens. Ein Belegfür Hellers Glauben an die Kraft ethischer Offenlegung ist darin zu sehen,dass der Kantianer Joachim im Verlauf der Diskussion eine „Bekehrungzur Kontingenz“ erlebt, indem er sich die starke Forderung zu Eigenmacht – wie Heller selbst sicherlich auch –, dass die „praktische Ethik mo-derner Männer und Frauen nichts anderes als eine Persönlichkeitsethiksein kann. Gute Menschen in der Moderne praktizieren alle eine Persön-lichkeitsethik“ (137). Diese Bekehrung wird vorbereitet durch Diskussio-nen, in deren Verlauf Kant „postmodernisiert“ wird, d. h., auch die Mo-ralphilosophie wird zu Demonstrationszwecken genutzt, um die Grenzender Vernunft aufzuzeigen, nicht nur die Epistemologie; die Abstraktiondes Moralgesetzes wird durch eine „ethische Hermeneutik“ angereichert(110–112, 112). Trotzdem bleibt es eine schmerzhafte Bekehrung, da esschwer ist, zuzugeben, dass die Unterwerfung unter das Moralgesetz nichtin universeller Wahrheit gründet, sondern in Kontingenz, in einem psycho-logischen Bedürfnis nach einer „Krücke“ (193). An dieser Stelle erleich-tert Vera, die Anhängerin Kierkegaards, Joachim seine Bekehrung. Sanfterklärt sie, dass Joachims Misstrauen gegen das phänomenale Selbst viel-leicht „unelegant“ sei (196), aber dennoch Universalität zum Ausdruckbringe, weil damit in ganz eigener Weise die Spannungen der mensch-lichen Existenz reproduziert, das Grundelement jedes Narrativs der con- ditio humana (208).

In den Dialogen kommt der junge Nietzscheaner Lawrence gut weg,was auch an seinem Flirt mit der weisen Vera erkennbar ist, doch im letz-ten Teil des Buches, in dem seine Freundin und ihre Großmutter seinePersönlichkeit in einer Serie von Briefen diskutieren, erscheint er ineinem ambivalenteren Licht. Darin wird dem jungen Philosophen durchdie Großmutter, die erkennbar nach Hellers eigener Großmutter gezeich-net ist, eine grundsätzlich andere Version der Ethik der Persönlichkeitgegenübergestellt, nämlich die der „schönen kontingenten Person“ –archetypisch durch eine Frau repräsentiert. Da sie nicht von der Aufgabebesessen ist, sich selbst zu bestimmen, entweder als Künstler oder als mo-ralisch autonomes Wesen, wird sie durch eine grundsätzlich andere Bezie-hung zu sich selbst und zur Kontingenz gekennzeichnet. Ähnlich wie Kantdie Erfahrung des Schönen als den Ausgleich der Fakultäten beschreibt, soist auch die schöne Person in der Lage, die Spannungen der menschlichenExistenz, ihre unterschiedlichen Fakultäten, Gefühle und Intuitionen fort-laufend zu harmonisieren, so als wären es unterschiedliche Instrumente.Wie in einem „Quartett kann jedes Instrument für eine Weile den Solo-part übernehmen und ihm seinen Ton und sein Timbre verleihen“ (256).Die ethische Signifikanz dieser Version traditioneller Weiblichkeit zeigtsich in einer Offenheit gegenüber der Existenz: Die „harmonische undschöne Person ist nicht nur kontingent, sie bleibt auf grundlegende Weiseauch kontingent“ (ebd.). In der Praxis bedeutet dies, dass sie das Lebenmit emotionaler Dichte erfährt und gegenüber einer Pluralität moralischerAutoritäten offen ist:

„Manchmal folgt sie dem Moralgesetz, in anderen Fällen wählt sie dasUnvermeidbare, in wieder anderen wählt sie aus zwischen vielen Möglich-keiten und Wegen; manchmal spekuliert sie in der Lichtung des Seins,manchmal versinkt sie in freier Lust in der Betrachtung einer Landschaftoder sie kultiviert auch einfach ihren Garten“ (247).

Der maskuline Charakter hingegen, so die Erzählung Hellers, ist da-gegen sublim. Er erfährt die Kontingenz in ausgesprochenen Extremen.„Durch die Natur mit einer Überempfindlichkeit ausgestattet, einer star-ken Neigung zum Leiden und einer inneren psychologischen Unaus-geglichenheit“, befindet er sich „mit sich selbst und der Welt im Krieg“(261). Da sie, wie Kant, eine gewisse Dankbarkeit für die Gaben des Ge-nies empfindet, öffnet die Großmutter „ihm den Zugang in ihr Utopia“,doch sie warnt dabei, dass solche Charaktere gefährlich sein können. Die-ses sanfte und ausgeglichene Urteil, das die Risiken existentiell bedeut-samer Wahlen ebenso unterstreicht wie die „Krücken“, die wir gelegent-lich gebrauchen, ist für den Geist der Heller’schen Moralphilosophiebezeichnend.

4. Kosmische Kontingenz und die spekulative Aufgabe der Philosophie

Eine Sache ist ganz sicher: Agnes Heller war immer Parteigängerin derPhilosophie. Auf Hellers Vorstellung unserer fragmentierten zeitgenössi-schen Welt traf es zweifelsohne zu, dass die Philosophie „immer idiosyn-kratischer geworden war, d.h. persönlicher und subjektiver“, aber dadurchwurde sie noch lange nicht irrelevant oder zu Literatur reduziert.23DieAdel über Ressentiment; Raffinement). Eine Art Anti-Zarathustra vorZarathustra, repräsentiert Parzival eine moralische Wahrheit: dass nämlichjede Ethik der Persönlichkeit durch zumindest ein „rein ethisches“ Krite-rium qualifiziert werden muss.

Der zweite Teil der Ethics of Personality besteht aus drei Dialogen, diezwischen einem Kantianer, einem Nietzscheaner und einer Kierkegaardia-nerin (die in einer Doppelrolle auch noch als die Wahrheitsgöttin auftritt)geführt werden. Jeder Diskussionsteilnehmer betrachtet die Dilemmatader Kontingenz vom Standpunkt des jeweils eigenen Lebens. Ein Belegfür Hellers Glauben an die Kraft ethischer Offenlegung ist darin zu sehen,dass der Kantianer Joachim im Verlauf der Diskussion eine „Bekehrungzur Kontingenz“ erlebt, indem er sich die starke Forderung zu Eigenmacht – wie Heller selbst sicherlich auch –, dass die „praktische Ethik mo-derner Männer und Frauen nichts anderes als eine Persönlichkeitsethiksein kann. Gute Menschen in der Moderne praktizieren alle eine Persön-lichkeitsethik“ (137). Diese Bekehrung wird vorbereitet durch Diskussio-nen, in deren Verlauf Kant „postmodernisiert“ wird, d. h., auch die Mo-ralphilosophie wird zu Demonstrationszwecken genutzt, um die Grenzender Vernunft aufzuzeigen, nicht nur die Epistemologie; die Abstraktiondes Moralgesetzes wird durch eine „ethische Hermeneutik“ angereichert(110–112, 112). Trotzdem bleibt es eine schmerzhafte Bekehrung, da esschwer ist, zuzugeben, dass die Unterwerfung unter das Moralgesetz nichtin universeller Wahrheit gründet, sondern in Kontingenz, in einem psycho-logischen Bedürfnis nach einer „Krücke“ (193). An dieser Stelle erleich-tert Vera, die Anhängerin Kierkegaards, Joachim seine Bekehrung. Sanfterklärt sie, dass Joachims Misstrauen gegen das phänomenale Selbst viel-leicht „unelegant“ sei (196), aber dennoch Universalität zum Ausdruckbringe, weil damit in ganz eigener Weise die Spannungen der mensch-lichen Existenz reproduziert, das Grundelement jedes Narrativs der con- ditio humana (208).

In den Dialogen kommt der junge Nietzscheaner Lawrence gut weg,was auch an seinem Flirt mit der weisen Vera erkennbar ist, doch im letz-ten Teil des Buches, in dem seine Freundin und ihre Großmutter seinePersönlichkeit in einer Serie von Briefen diskutieren, erscheint er ineinem ambivalenteren Licht. Darin wird dem jungen Philosophen durchdie Großmutter, die erkennbar nach Hellers eigener Großmutter gezeich-net ist, eine grundsätzlich andere Version der Ethik der Persönlichkeitgegenübergestellt, nämlich die der „schönen kontingenten Person“ –archetypisch durch eine Frau repräsentiert. Da sie nicht von der Aufgabebesessen ist, sich selbst zu bestimmen, entweder als Künstler oder als mo-ralisch autonomes Wesen, wird sie durch eine grundsätzlich andere Bezie-hung zu sich selbst und zur Kontingenz gekennzeichnet. Ähnlich wie Kantdie Erfahrung des Schönen als den Ausgleich der Fakultäten beschreibt, soist auch die schöne Person in der Lage, die Spannungen der menschlichenExistenz, ihre unterschiedlichen Fakultäten, Gefühle und Intuitionen fort-laufend zu harmonisieren, so als wären es unterschiedliche Instrumente.Wie in einem „Quartett kann jedes Instrument für eine Weile den Solo-part übernehmen und ihm seinen Ton und sein Timbre verleihen“ (256).Die ethische Signifikanz dieser Version traditioneller Weiblichkeit zeigtsich in einer Offenheit gegenüber der Existenz: Die „harmonische undschöne Person ist nicht nur kontingent, sie bleibt auf grundlegende Weiseauch kontingent“ (ebd.). In der Praxis bedeutet dies, dass sie das Lebenmit emotionaler Dichte erfährt und gegenüber einer Pluralität moralischerAutoritäten offen ist:

„Manchmal folgt sie dem Moralgesetz, in anderen Fällen wählt sie dasUnvermeidbare, in wieder anderen wählt sie aus zwischen vielen Möglich-keiten und Wegen; manchmal spekuliert sie in der Lichtung des Seins,manchmal versinkt sie in freier Lust in der Betrachtung einer Landschaftoder sie kultiviert auch einfach ihren Garten“ (247).

Der maskuline Charakter hingegen, so die Erzählung Hellers, ist da-gegen sublim. Er erfährt die Kontingenz in ausgesprochenen Extremen.„Durch die Natur mit einer Überempfindlichkeit ausgestattet, einer star-ken Neigung zum Leiden und einer inneren psychologischen Unaus-geglichenheit“, befindet er sich „mit sich selbst und der Welt im Krieg“(261). Da sie, wie Kant, eine gewisse Dankbarkeit für die Gaben des Ge-nies empfindet, öffnet die Großmutter „ihm den Zugang in ihr Utopia“,doch sie warnt dabei, dass solche Charaktere gefährlich sein können. Die-ses sanfte und ausgeglichene Urteil, das die Risiken existentiell bedeut-samer Wahlen ebenso unterstreicht wie die „Krücken“, die wir gelegent-lich gebrauchen, ist für den Geist der Heller’schen Moralphilosophiebezeichnend.

4. Kosmische Kontingenz und die spekulative Aufgabe der Philosophie

Eine Sache ist ganz sicher: Agnes Heller war immer Parteigängerin derPhilosophie. Auf Hellers Vorstellung unserer fragmentierten zeitgenössi-schen Welt traf es zweifelsohne zu, dass die Philosophie „immer idiosyn-kratischer geworden war, d.h. persönlicher und subjektiver“, aber dadurchwurde sie noch lange nicht irrelevant oder zu Literatur reduziert.23DiePhilosophie konstituiert ihr eigenes einzigartiges Genre; und die Philoso-phen und Philosophinnen haben spekulative Aufgaben. Um den Umfangund die Spezifität dieser Aufgaben zu bestimmen, plädiert Heller für eineScheidung zwischen Theorie und Praxis, d. h. zwischen spekulativer undpraktischer Philosophie. In A Philosophy of History in Fragments be-schreibt Heller die Bedingungen dieser Scheidung, die durchaus im gegen-seitigen Einvernehmen vollzogen wird. Sie unterscheidet zwischen kosmi- scher Kontingenz und gesellschaftlich-geschichtlicher Kontingenz.

Wie in der Diskussion über Moderne und Moraltheorie dargelegt, istdie gesellschaftlich-geschichtliche Kontingenz die „conditio humana derModerne“ (16). Auch unser Bewusstsein der Kontingenz, wie es sich in un-serem historischen Bewusstsein reflektiert, rührt daher. Im „Gefängnis derGeschichtlichkeit“ gefangen, sind wir uns der Grenzen unserer eigenenPerspektive ständig bewusst. Und da gesellschaftlich-geschichtliche Kon-tingenz Erfahrungen beinhaltet, die in den Tatsachen der gesellschaft-lichen Realität gründen, schränkt sie ein, was von uns allen gemeinsam alsHorizont geteilt werden kann. Ihre Auswirkungen sind durch und durchpraktischer Natur (22): Sie impliziert, dass jeder Mensch nicht nur sichselbst, sondern auch seine Welt wählen muss. „Solange wir uns diese Weltteilen und keine andere, ist es unmöglich eine authentische Person zu sein,ohne die eigene historische Kontingenz anzunehmen, d. h. zu lernen, mitihr zu leben und der Versuchung zu widerstehen, ihr zu entfliehen“ (8).

Die Frage der kosmischen Kontingenz ist andererseits „durch und durchspekulativ und gar nicht praktischer Natur“ (21). Bei ihr geht es weder umdie Faktizität der modernen gesellschaftlichen Realität noch um das Be-wusstsein unserer Geschichtlichkeit, sondern um die Frage, ob es ein kos-misches Telos gibt oder nicht, ob der blinde Zufall unser Universum be-herrscht oder ob es in ihm einen intelligiblen Zweck oder einen Sinn gibt.Für Heller sind dies keine epistemologischen Fragen, sondern existentiel-le. Sie sind in Kants Darstellung des unauslöschbaren metaphysischen Be-dürfnisses der Menschen reflektiert, oder in zeitgenössischer Formulie-rung: im Bedürfnis nach Sinn. Sie unterstreicht ganz entschieden, dass dieSuche nach Sinn nicht vollständig eingebunden bleibt in der Faktizität dervon allen geteilten Welt, da weder die Wissenschaft noch die Religionnoch irgendeine Philosophie die Autorität für sich in Anspruch nehmenkann, die Frage nach dem Sinn ein für alle Mal zu beantworten:

„In der postmodernen Welt kann der sture Wille, an dem Bewusstseinder Kontingenz festzuhalten, friedlich neben den Versuchen existieren,dieses zu überwinden. Die Manifestationen kosmischer Kontingenz tref-fen den Nerv einiger Menschen, während andere von einer Vielzahl teleo-logischer Kompositionen beeinflusst werden, die darauf abzielen, kosmi-sche Kontingenz zu annullieren“ (7).

Für viele Menschen mit hochmodernem Bewusstsein ist die Akzeptanzkosmischer Kontingenz eine Frage der Ehre; der „Tod Gottes“ ist dasWahrzeichen der Aufklärung und der progressiven Möglichkeiten der Mo-derne. In Hellers geschichtlicher Diskussion kosmischer Kontingenz ver-bindet sie allerdings die Legitimität der Moderne nicht mit der Akzeptanzdieser Kontingenz.24Das Bewusstwerden der kosmischen Kontingenz isteine immer schon vorhandene Möglichkeit innerhalb der conditio humana,die zum Beispiel in der biblischen Genesis oder bei Epikur angedeutetwird. Ins Zentrum der modernen Imagination rückte sie dann mit demCartesianismus und den modernen Naturwissenschaften. Doch diese Er-eignisse überschnitten sich nicht direkt mit dem Bewusstwerden der ge-sellschaftlich-geschichtlichen Kontingenz: Es gab keine „direkte Verbin-dung mit der Entdeckung der Geschichtlichkeit des Menschen“ (6). Auchhängen die unterschiedlichen philosophischen Versuche, mit dem Schockder kosmischen Kontingenz umzugehen und ihn zu überwinden, nichthauptsächlich von der historischen Konstellation ab, der sie entspringen,sondern sie sind oft durch sehr unterschiedliche Quellen, Traditionen undEpochen inspiriert. Zusammenfassend kann man sagen: Nachdem Hellerdie Spekulation von allen Dringlichkeiten der gesellschaftlichen Realitätgetrennt hat, erzählt sie die moderne Erfahrung kosmischer Kontingenzausschließlich aus der Perspektive der Sinnfrage. Daraus lässt sich jedochnicht schließen, dass die gesellschaftlich-geschichtliche Kontingenz voll-kommen von der kosmischen Kontingenz getrennt wäre. Diese sind zwardialektisch aufeinander bezogen, aber „im Kierkegaard’schen eher als imHegel’schen Sinne des Begriffs“ (3).

„Da moderne Frauen und Männer kontingente Menschen sind und siesich dieser Kontingenz auch bewusst sind, leiden sie unter einer ‘Krank-heit zum Tode’ in der Form eines fortdauernden ‘Sinndefizits’. In Abwe-senheit eines selbstverständlichen traditionellen Glaubens an die göttlicheVorhersehung […] wird auch das Bedürfnis nach Sinnstiftung durch Den-ken größer“ (187).

Das Ausmaß von Hellers Bemühung darum, die sinnstiftende Funktionspekulativen Denkens zu schützen, zeigt sich am Anfang von A Philoso- phy of History in Fragments . Obwohl Heller eindeutig die Haltung vertritt,dass jede wirklich authentische Antwort auf die Frage der kosmischenKontingenz, sei sie nun gläubig, agnostisch oder atheistisch, in der Formeiner Pascal’schen Wette gegeben werden muss und nicht durch einen Wis-sensanspruch, so behauptet sie dennoch nicht, damit die einzig möglichePhilosophie konstituiert ihr eigenes einzigartiges Genre; und die Philoso-phen und Philosophinnen haben spekulative Aufgaben. Um den Umfangund die Spezifität dieser Aufgaben zu bestimmen, plädiert Heller für eine

Scheidung zwischen Theorie und Praxis, d. h. zwischen spekulativer undpraktischer Philosophie. In A Philosophy of History in Fragments be-schreibt Heller die Bedingungen dieser Scheidung, die durchaus im gegen-seitigen Einvernehmen vollzogen wird. Sie unterscheidet zwischen kosmi- scher Kontingenz und gesellschaftlich-geschichtlicher Kontingenz.

Wie in der Diskussion über Moderne und Moraltheorie dargelegt, istdie gesellschaftlich-geschichtliche Kontingenz die „conditio humana der

Moderne“ (16). Auch unser Bewusstsein der Kontingenz, wie es sich in un-serem historischen Bewusstsein reflektiert, rührt daher. Im „Gefängnis der

Geschichtlichkeit“ gefangen, sind wir uns der Grenzen unserer eigenen

Perspektive ständig bewusst. Und da gesellschaftlich-geschichtliche Kon-tingenz Erfahrungen beinhaltet, die in den Tatsachen der gesellschaft-lichen Realität gründen, schränkt sie ein, was von uns allen gemeinsam als

Horizont geteilt werden kann. Ihre Auswirkungen sind durch und durchpraktischer Natur (22): Sie impliziert, dass jeder Mensch nicht nur sichselbst, sondern auch seine Welt wählen muss. „Solange wir uns diese Weltteilen und keine andere, ist es unmöglich eine authentische Person zu sein,ohne die eigene historische Kontingenz anzunehmen, d. h. zu lernen, mitihr zu leben und der Versuchung zu widerstehen, ihr zu entfliehen“ (8).

Die Frage der kosmischen Kontingenz ist andererseits „durch und durchspekulativ und gar nicht praktischer Natur“ (21). Bei ihr geht es weder umdie Faktizität der modernen gesellschaftlichen Realität noch um das Be-wusstsein unserer Geschichtlichkeit, sondern um die Frage, ob es ein kos-misches Telos gibt oder nicht, ob der blinde Zufall unser Universum be-herrscht oder ob es in ihm einen intelligiblen Zweck oder einen Sinn gibt.

Für Heller sind dies keine epistemologischen Fragen, sondern existentiel-le. Sie sind in Kants Darstellung des unauslöschbaren metaphysischen Be-dürfnisses der Menschen reflektiert, oder in zeitgenössischer Formulie-rung: im Bedürfnis nach Sinn. Sie unterstreicht ganz entschieden, dass die

Suche nach Sinn nicht vollständig eingebunden bleibt in der Faktizität dervon allen geteilten Welt, da weder die Wissenschaft noch die Religionnoch irgendeine Philosophie die Autorität für sich in Anspruch nehmenkann, die Frage nach dem Sinn ein für alle Mal zu beantworten:

„In der postmodernen Welt kann der sture Wille, an dem Bewusstseinder Kontingenz festzuhalten, friedlich neben den Versuchen existieren,dieses zu überwinden. Die Manifestationen kosmischer Kontingenz tref-fen den Nerv einiger Menschen, während andere von einer Vielzahl teleo-logischer Kompositionen beeinflusst werden, die darauf abzielen, kosmi-sche Kontingenz zu annullieren“ (7).

Für viele Menschen mit hochmodernem Bewusstsein ist die Akzeptanzkosmischer Kontingenz eine Frage der Ehre; der „Tod Gottes“ ist dasWahrzeichen der Aufklärung und der progressiven Möglichkeiten der Mo-derne. In Hellers geschichtlicher Diskussion kosmischer Kontingenz ver-bindet sie allerdings die Legitimität der Moderne nicht mit der Akzeptanzdieser Kontingenz.24Das Bewusstwerden der kosmischen Kontingenz isteine immer schon vorhandene Möglichkeit innerhalb der conditio humana,die zum Beispiel in der biblischen Genesis oder bei Epikur angedeutetwird. Ins Zentrum der modernen Imagination rückte sie dann mit demCartesianismus und den modernen Naturwissenschaften. Doch diese Er-eignisse überschnitten sich nicht direkt mit dem Bewusstwerden der ge-sellschaftlich-geschichtlichen Kontingenz: Es gab keine „direkte Verbin-dung mit der Entdeckung der Geschichtlichkeit des Menschen“ (6). Auchhängen die unterschiedlichen philosophischen Versuche, mit dem Schockder kosmischen Kontingenz umzugehen und ihn zu überwinden, nichthauptsächlich von der historischen Konstellation ab, der sie entspringen,sondern sie sind oft durch sehr unterschiedliche Quellen, Traditionen undEpochen inspiriert. Zusammenfassend kann man sagen: Nachdem Hellerdie Spekulation von allen Dringlichkeiten der gesellschaftlichen Realitätgetrennt hat, erzählt sie die moderne Erfahrung kosmischer Kontingenzausschließlich aus der Perspektive der Sinnfrage. Daraus lässt sich jedochnicht schließen, dass die gesellschaftlich-geschichtliche Kontingenz voll-kommen von der kosmischen Kontingenz getrennt wäre. Diese sind zwardialektisch aufeinander bezogen, aber „im Kierkegaard’schen eher als imHegel’schen Sinne des Begriffs“ (3).

„Da moderne Frauen und Männer kontingente Menschen sind und siesich dieser Kontingenz auch bewusst sind, leiden sie unter einer ‘Krank-heit zum Tode’ in der Form eines fortdauernden ‘Sinndefizits’. In Abwe-senheit eines selbstverständlichen traditionellen Glaubens an die göttlicheVorhersehung […] wird auch das Bedürfnis nach Sinnstiftung durch Den-ken größer“ (187).

Das Ausmaß von Hellers Bemühung darum, die sinnstiftende Funktionspekulativen Denkens zu schützen, zeigt sich am Anfang von A Philoso- phy of History in Fragments . Obwohl Heller eindeutig die Haltung vertritt,dass jede wirklich authentische Antwort auf die Frage der kosmischenKontingenz, sei sie nun gläubig, agnostisch oder atheistisch, in der Formeiner Pascal’schen Wette gegeben werden muss und nicht durch einen Wis-sensanspruch, so behauptet sie dennoch nicht, damit die einzig möglicheAntwortform zu vertreten. Sie erinnert daran, dass Kirkegaard in guter

Pascal’scher Tradition Hegel dafür lächerlich gemacht habe, seine Wissen- schaft der Logik nicht als „Gedankenexperiment“, sondern als „Absolutes

Wissen“ präsentiert zu haben. Heller stimmt insoweit zu, dass „letztend-lich kein spekulatives Denken befähigt ist, Kontingenz authentisch aufzu-heben“, nimmt aber trotzdem eine nachsichtigere Haltung ein, als Kierke-gaard dies tut, und schlägt vor, dass wir die sinnvollen Geschenke spekula-tiven Denkens mit anderen Kriterien als jenen beurteilen, die wir zur

Beurteilung des Charakters heranziehen. Im Kontext der zeitgenössischen

Trennung von Theorie und Praxis erscheint ihr das ästhetische Urteil hartgenug: Denn – wie Kierkegaard selbst auch schon bemerkte – es hat wirk-lich etwas „äußerst Komisches“, wenn ein Philosoph die Schöpfungenseines eigenen Denkens als eine göttliche Schickung feiert, ob diese nun

Hegels „Geist“ ist oder Heideggers „Sein“. Und diese Komik entgehtauch niemandem, außer vielleicht den gläubigsten Jüngern. Aber wir,wohlwollend und dankbar für die Geschenke des Sinns, sollten die Ge-wissheit haben, dass an diesem Punkt die älteste aller Antworten Strafegenug ist: das leise Lachen von Platons thrakischem Bauernmädchen (3).

Aus dem Amerikanischen von Felix Ensslin.

Auswahlbibliographie

SEYLA BENHABIB Meine Kontingenz und unsere Vernunft1

Von Barbara Reiter

1. Einleitung

In der Türkei geboren, in Amerika lehrend, nennt Benhabib selbst ihrebeiden philosophischen Hauptquellen in der Einleitung zu ihrem Buchüber Hannah Arendt. Sie spricht dort von ihrer „tiefempfundenen Identi-fikation mit einer Jüdin, die aus einer europäischen Tradition kommt – inmeinem Fall nicht die deutsch-jüdische, sondern die spanisch-sephardi-sche“. Als weitere Hauptquelle nennt sie die rationalistische Tradition derPhilosophie von Kant bis Habermas.2

Ihre Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie, mit postmodernenund dekonstruktivistischen Ansätzen und der feministischen Theorie füh-ren zu Interpretationen klassischer Texte, die neue Lektüren ermöglichen.Sie erlauben auch, in der umgekehrten Richtung, Texte des radikalen Fe-minismus und des Dekonstruktivismus zu lesen und zu interpretieren,ohne auf die Ansprüche der Vernunft zu verzichten.3Ihre Position zurKontingenz lässt sich in diesem Spannungsfeld nachzeichnen.

In einem ersten Schritt (mit Hegel) radikalisiert Benhabib, darin JudithButler nicht unähnlich, die Notwendigkeit der Kontingenz (siehe Ab-schnitt 2. Herkunft und Umstände – Anerkennung von Kontingenz). Ineinem weiteren Schritt nimmt sie – vor allem im Vergleich zu radikalenFeministinnen wie Judith Butler – eine stärker traditionelle PositionAntwortform zu vertreten. Sie erinnert daran, dass Kirkegaard in guter

Pascal’scher Tradition Hegel dafür lächerlich gemacht habe, seine Wissen- schaft der Logik nicht als „Gedankenexperiment“, sondern als „Absolutes

Wissen“ präsentiert zu haben. Heller stimmt insoweit zu, dass „letztend-lich kein spekulatives Denken befähigt ist, Kontingenz authentisch aufzu-heben“, nimmt aber trotzdem eine nachsichtigere Haltung ein, als Kierke-gaard dies tut, und schlägt vor, dass wir die sinnvollen Geschenke spekula-tiven Denkens mit anderen Kriterien als jenen beurteilen, die wir zur

Beurteilung des Charakters heranziehen. Im Kontext der zeitgenössischen

Trennung von Theorie und Praxis erscheint ihr das ästhetische Urteil hartgenug: Denn – wie Kierkegaard selbst auch schon bemerkte – es hat wirk-lich etwas „äußerst Komisches“, wenn ein Philosoph die Schöpfungenseines eigenen Denkens als eine göttliche Schickung feiert, ob diese nun

Hegels „Geist“ ist oder Heideggers „Sein“. Und diese Komik entgehtauch niemandem, außer vielleicht den gläubigsten Jüngern. Aber wir,wohlwollend und dankbar für die Geschenke des Sinns, sollten die Ge-wissheit haben, dass an diesem Punkt die älteste aller Antworten Strafegenug ist: das leise Lachen von Platons thrakischem Bauernmädchen (3).

Aus dem Amerikanischen von Felix Ensslin.

Auswahlbibliographie

SEYLA BENHABIB Meine Kontingenz und unsere Vernunft1

Von Barbara Reiter

1. Einleitung

In der Türkei geboren, in Amerika lehrend, nennt Benhabib selbst ihrebeiden philosophischen Hauptquellen in der Einleitung zu ihrem Buchüber Hannah Arendt. Sie spricht dort von ihrer „tiefempfundenen Identi-fikation mit einer Jüdin, die aus einer europäischen Tradition kommt – inmeinem Fall nicht die deutsch-jüdische, sondern die spanisch-sephardi-sche“. Als weitere Hauptquelle nennt sie die rationalistische Tradition derPhilosophie von Kant bis Habermas.2

Ihre Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie, mit postmodernenund dekonstruktivistischen Ansätzen und der feministischen Theorie füh-ren zu Interpretationen klassischer Texte, die neue Lektüren ermöglichen.Sie erlauben auch, in der umgekehrten Richtung, Texte des radikalen Fe-minismus und des Dekonstruktivismus zu lesen und zu interpretieren,ohne auf die Ansprüche der Vernunft zu verzichten.3Ihre Position zurKontingenz lässt sich in diesem Spannungsfeld nachzeichnen.

In einem ersten Schritt (mit Hegel) radikalisiert Benhabib, darin JudithButler nicht unähnlich, die Notwendigkeit der Kontingenz (siehe Ab-schnitt 2. Herkunft und Umstände – Anerkennung von Kontingenz). Ineinem weiteren Schritt nimmt sie – vor allem im Vergleich zu radikalenFeministinnen wie Judith Butler – eine stärker traditionelle Positiongegenüber der Kontingenz ein. Mit Aristoteles und Kant vertritt sie einenethischen Rationalismus, der der Kontingenz eine wesentliche Rolle, abereine wesentliche Rolle in der zweiten Reihe zuweist (3. Vernunft als ge-meinsame Grundlage – Kritik der Kontingenz). In einem dritten Schrittverbindet sie nun diese Position mit den wichtigen Überzeugungen sowohlder Postmoderne als auch des Feminismus, nämlich, dass die Herkunfteiner Person deren philosophische Überzeugungen und deren politischeMöglichkeiten wesentlich bestimmen. Auf der Ebene der gemeinsamenÜberlegung, der demokratischen Deliberation, holen wir die zunächst ernstgenommenen Unterschiede wieder ein, indem wir uns auf eine gemein-same Rationalität einigen (4. Vereinbarkeit? Nur im Prozess und nicht end-gültig – Deliberative Demokratie, Überwindung der Kontingenz). Bezie-hen wir nun die Erkenntnisse aus Abschnitt 4 auf die Zukunft bzw. zurückauf die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Philosophie, dann ergibt sich,dass das Einfühlen in andere wahrscheinlich ausreicht für die Welt-Gesell-schaft – Welt im doppelten Sinn: als globales Miteinander und jeweiligesgutes Leben der einzelnen Person –, so dass wir uns auf die Ausschließlich-keit von entweder Wahrheit oder Kontingenz gar nicht einlassen müssen.Wir können unsere gemeinsame Welt verändern, wenn wir unsere Ge-schichte erzählen und anderen Geschichten zuhören; die Frage nach derWahrheit tritt zurück zugunsten einer lebbaren Welt für alle (5. Schluss:Pluralismus von Welt).

Biographische Skizze

Seyla Benhabib wurde 1950 in Istanbul geboren, promovierte von 1975bis 1977 in Philosophie an der Yale University und unterrichtete im An-schluss dort. 1979 bis 1981 war sie Humboldt-Forschungsstipendiatin amMax-Planck-Institut in Deutschland. Sie lehrte an der Boston Universityund an der State University of New York at Stony Brook. Von 1991 bis1993 war sie Professorin für politische Wissenschaft und Philosophie ander New School for Social Research in New York. Sie war ab 1993 Profes-sorin für Government, Department of Government und Senior Researcham Center for European Studies an der Harvard University. Seit 2003 istsie Professorin für Political Science and Philosophy an der Yale University.

2. Herkunft und Umstände – Anerkennung von Kontingenz

Das philosophische Selbst fragte die allermeiste Zeit nach sich selbst,nach Gott, nach der Wahrheit, ohne nach Herkunft und Umständen derPerson zu fragen. Nicht einmal die quälende Intensität des Existenzphilo-sophen Kierkegaard zieht die Umstände der Herkunft in Betracht. DemSelbst geht es um sein Selbst und sonst erst einmal nichts.

Wie soll es aber möglich sein, das Selbst nicht als ein Gewordenes zu be-greifen?

Wer wir sind, hängt in wesentlichen Stücken nicht von uns ab. Herkunft,Gene, sexuelle Ausrichtung, Geburtsort, Geschlecht, Erziehung, Bega-bung, die Förderung von Begabungen durch die Eltern sind ganz unab-hängig von uns oder nicht maßgeblich beeinflusst von uns – Letztereskann selbst für Entscheidungen gelten, die wir für uns zu treffen glauben.Entweder sind es Entscheidungen, die vor unserem Lebensbeginn getrof-fen wurden bzw. in Vertretung von uns, oder es handelt sich um Entschei-dungen, die weit weg von uns getroffen werden oder von Faktoren be-stimmt sind, deren Einfluss die Betroffenen nicht kontrollieren können.Oder es handelt sich um Fakten, auf die kein Mensch Einfluss nimmt odernehmen kann, primäre Religionszugehörigkeit etwa, Geschlecht oder pri-märe Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur. Diese Festlegungen wer-den nicht von uns getroffen und beeinflussen uns zugleich.

Deutlich wird dies an Benhabibs Auseinandersetzung mit HannahArendt, genauer mit deren Beschäftigung mit der deutschen Jüdin Rahelvon Varnhagen.

Die Identität der Rahel von Varnhagen ist durch ihr Jüdischsein inDeutschland geprägt. Es bedeutet das Ausgeschlossensein in Hinsichten,die für die aufgeklärte Frau nicht akzeptabel waren. Dieses Ausgeschlos-sensein bestimmt das Selbst in einer Weise, die nicht unbemerkt bleibendarf: „Bemerkenswert ist, dass das ‘Jüdische’ für Arendt eine bestimmteArt existentieller Bedingtheit zulässt, die sie als ‘Schicksalhaftigkeit’ be-zeichnet. Anders gesagt, Judesein ist eine Form des Schicksals – das heißtmehr als ein Zufall, weil das Schicksal, obwohl zufällig, das Leben grund-sätzlicher und nachhaltiger bestimmt als ein Zufall.“4

Anders als für ihren Lehrer Karl Jaspers ist diese Zugehörigkeit fürHannah Arendt kein Zufall, von dem die Existenz bereinigt werden muss.5Benhabib geht noch weiter als Arendt.

Die eigene Herkunft ist genau dann relevant für das Selbst, wenn siedazu führt, dass das Selbst von einem Diskurs ausgeschlossen wird, der re-levant für das Selbst ist. Diese Nichtzugänglichkeit von Macht- und Wis-senspositionen gilt für die jüdische Deutsche Rahel von Varnhagen und siegilt, so die erste Generation des Feminismus, für Frauen in der von Män-nern dominierten Philosophiegeschichte. Diese Dynamik wiederholt sich,so die zweite Generation des Feminismus, für die marginalisierten Frauen:gegenüber der Kontingenz ein. Mit Aristoteles und Kant vertritt sie einenethischen Rationalismus, der der Kontingenz eine wesentliche Rolle, abereine wesentliche Rolle in der zweiten Reihe zuweist (3. Vernunft als ge-meinsame Grundlage – Kritik der Kontingenz). In einem dritten Schrittverbindet sie nun diese Position mit den wichtigen Überzeugungen sowohlder Postmoderne als auch des Feminismus, nämlich, dass die Herkunfteiner Person deren philosophische Überzeugungen und deren politischeMöglichkeiten wesentlich bestimmen. Auf der Ebene der gemeinsamenÜberlegung, der demokratischen Deliberation, holen wir die zunächst ernstgenommenen Unterschiede wieder ein, indem wir uns auf eine gemein-same Rationalität einigen (4. Vereinbarkeit? Nur im Prozess und nicht end-gültig – Deliberative Demokratie, Überwindung der Kontingenz). Bezie-hen wir nun die Erkenntnisse aus Abschnitt 4 auf die Zukunft bzw. zurückauf die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Philosophie, dann ergibt sich,dass das Einfühlen in andere wahrscheinlich ausreicht für die Welt-Gesell-schaft – Welt im doppelten Sinn: als globales Miteinander und jeweiligesgutes Leben der einzelnen Person –, so dass wir uns auf die Ausschließlich-keit von entweder Wahrheit oder Kontingenz gar nicht einlassen müssen.Wir können unsere gemeinsame Welt verändern, wenn wir unsere Ge-schichte erzählen und anderen Geschichten zuhören; die Frage nach derWahrheit tritt zurück zugunsten einer lebbaren Welt für alle (5. Schluss:Pluralismus von Welt).

Biographische Skizze

Seyla Benhabib wurde 1950 in Istanbul geboren, promovierte von 1975bis 1977 in Philosophie an der Yale University und unterrichtete im An-schluss dort. 1979 bis 1981 war sie Humboldt-Forschungsstipendiatin amMax-Planck-Institut in Deutschland. Sie lehrte an der Boston Universityund an der State University of New York at Stony Brook. Von 1991 bis1993 war sie Professorin für politische Wissenschaft und Philosophie ander New School for Social Research in New York. Sie war ab 1993 Profes-sorin für Government, Department of Government und Senior Researcham Center for European Studies an der Harvard University. Seit 2003 istsie Professorin für Political Science and Philosophy an der Yale University.

2. Herkunft und Umstände – Anerkennung von Kontingenz

Das philosophische Selbst fragte die allermeiste Zeit nach sich selbst,nach Gott, nach der Wahrheit, ohne nach Herkunft und Umständen derPerson zu fragen. Nicht einmal die quälende Intensität des Existenzphilo-sophen Kierkegaard zieht die Umstände der Herkunft in Betracht. DemSelbst geht es um sein Selbst und sonst erst einmal nichts.

Wie soll es aber möglich sein, das Selbst nicht als ein Gewordenes zu be-greifen?

Wer wir sind, hängt in wesentlichen Stücken nicht von uns ab. Herkunft,Gene, sexuelle Ausrichtung, Geburtsort, Geschlecht, Erziehung, Bega-bung, die Förderung von Begabungen durch die Eltern sind ganz unab-hängig von uns oder nicht maßgeblich beeinflusst von uns – Letztereskann selbst für Entscheidungen gelten, die wir für uns zu treffen glauben.Entweder sind es Entscheidungen, die vor unserem Lebensbeginn getrof-fen wurden bzw. in Vertretung von uns, oder es handelt sich um Entschei-dungen, die weit weg von uns getroffen werden oder von Faktoren be-stimmt sind, deren Einfluss die Betroffenen nicht kontrollieren können.Oder es handelt sich um Fakten, auf die kein Mensch Einfluss nimmt odernehmen kann, primäre Religionszugehörigkeit etwa, Geschlecht oder pri-märe Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur. Diese Festlegungen wer-den nicht von uns getroffen und beeinflussen uns zugleich.

Deutlich wird dies an Benhabibs Auseinandersetzung mit HannahArendt, genauer mit deren Beschäftigung mit der deutschen Jüdin Rahelvon Varnhagen.

Die Identität der Rahel von Varnhagen ist durch ihr Jüdischsein inDeutschland geprägt. Es bedeutet das Ausgeschlossensein in Hinsichten,die für die aufgeklärte Frau nicht akzeptabel waren. Dieses Ausgeschlos-sensein bestimmt das Selbst in einer Weise, die nicht unbemerkt bleibendarf: „Bemerkenswert ist, dass das ‘Jüdische’ für Arendt eine bestimmteArt existentieller Bedingtheit zulässt, die sie als ‘Schicksalhaftigkeit’ be-zeichnet. Anders gesagt, Judesein ist eine Form des Schicksals – das heißtmehr als ein Zufall, weil das Schicksal, obwohl zufällig, das Leben grund-sätzlicher und nachhaltiger bestimmt als ein Zufall.“4

Anders als für ihren Lehrer Karl Jaspers ist diese Zugehörigkeit fürHannah Arendt kein Zufall, von dem die Existenz bereinigt werden muss.5Benhabib geht noch weiter als Arendt.

Die eigene Herkunft ist genau dann relevant für das Selbst, wenn siedazu führt, dass das Selbst von einem Diskurs ausgeschlossen wird, der re-levant für das Selbst ist. Diese Nichtzugänglichkeit von Macht- und Wis-senspositionen gilt für die jüdische Deutsche Rahel von Varnhagen und siegilt, so die erste Generation des Feminismus, für Frauen in der von Män-nern dominierten Philosophiegeschichte. Diese Dynamik wiederholt sich,so die zweite Generation des Feminismus, für die marginalisierten Frauen:Schwarze und Frauen der dritten Welt klagen Zugang ein zu den Bil-dungsmöglichkeiten, die den Frauen Europas und Nordamerikas offenstehen.

Aus der Anerkennung von Kontingenz ergibt sich eine unausweichliche

Perspektivität und Begrenztheit, die wir zwar hinnehmen müssen, die wirin wesentlichen Hinsichten aber nicht unqualifiziert stehen lassen können.

Wenn die vermeintliche Kontingenz in Ungerechtigkeit umschlägt, kön-nen wir sie nicht als Schicksal abtun, sondern müssen handeln.6

3. Vernunft als gemeinsame Grundlage – Kritik der Kontingenz

Wie finden wir nun heraus, wie wir mit Kontingenz im Handeln umge-hen können? Aus der Geschichte der Philosophie sind wir mit der Qualifi-zierung von Kontingenz vertraut. Was heißt Kontingenz? Ich gehe hier aufdrei unterschiedliche Aspekte von Kontingenz ein, die ich für das Ver-ständnis der Benhabib’schen Position und generell für sinnvoll erachte.

1. Kontingenz der Herkunft

In diesem Aspekt von Kontingenz steckt der Ansatz zum Pluralismus.

Jede Person hat einen eigenen und unverwechselbaren Hintergrund, dersie ausmacht und der ihre Einzigartigkeit verbürgt. In diesem Sinn steht

Kontingenz für Pluralismus und Differenz. Erst die kontingenten Faktorenmachen meine Welt zu meiner Welt, indem sie sie unverwechselbar ma-chen.

2. Kontingenz als Offenheit

Dieser Aspekt von Kontingenz betrifft alles, was uns begegnet, was wirannehmen oder ignorieren können und, insofern wir es annehmen, wo-möglich verändern können.7Er betrifft damit auch unseren Handlungs-spielraum angesichts alltäglicher Kontingenz. In einem weiter gefassten

Sinn bedeutet er die Offenheit der Zukunft für unsere Veränderungen:

Was in der Zukunft geschieht, kann von unseren Entscheidungen und

Handlungen in der Gegenwart abhängen. Dieser Sinn von Kontingenz istwichtig für Benhabibs politische Philosophie, weil er garantiert, dass Ver-

änderung möglich ist und damit Politik machbar ist.

3. Logische Kontingenz

Dinge können auch anders sein, als sie sind, ohne dass das Wesentlichedavon berührt wird. Kontingente Dinge im logischen Sinn können wiede-rum als a) notwendig kontingent oder b) kontingent kontingent verstan-den werden. Das klassische Beispiel für ein kontingent kontingentes Attri-but ist der sitzende Sokrates: Ob er steht oder sitzt, er ist Sokrates. Wirlegen ihm ein Attribut bei (stehend, sitzend, liegend), aber das ändertnichts an seinem Wesen (Sokrates zu sein). Sokrates’ Körperposition kannsich verändern, die Beschreibung „sitzend“ kann zutreffend sein, mussaber nicht zutreffend sein. Im Lebensvollzug muss ich ständig entscheiden,ob ein Ereignis, eine Begegnung in diesem Sinn kontingent ist oder nicht:Wenn ich mir vorgenommen habe, etwas zu tun, dann tue ich es womög-lich, egal, was mir auf dem Weg dorthin begegnet. Um zielgerichtet underfolgreich handeln zu können, ignoriere ich Dinge, die mich ablenkenkönnen. Das setzt voraus, dass ich zwischen Wesentlichem und Unwesent-lichem unterscheide.8

Notwendig kontingent ist das, was uns in einem wesentlichen Sinne be-einflusst und nicht von uns beeinflussbar ist. Klassisches Beispiel sind Her-kunft und Geschlecht. In der feministischen Lesart ist das Geschlecht sowichtig, weil das Geschlecht uns formt, aber nicht von uns bestimmt wird indem Sinne, dass wir uns aussuchen könnten, ob wir als Frau oder als Mannzur Welt kommen. In diesem Sinne erhält „kontingent“ in der neueren De-batte, egal ob in der Postmoderne-Debatte oder im Feminismus, eine völligneue Schärfe, die es vorher so noch nicht hatte. Beide Debatten zwingenuns, Grundlagen neu zu überdenken und unsere Begrifflichkeiten zu prüfen.

Der Umstand, dass wir wesentlich geprägt sind durch Umstände, dienicht von uns abhängen, war von dem Existenzphilosophen Karl Jaspersnoch als kontingent kontingent eingeschätzt worden: Natürlich ist RahelVarnhagen Jüdin, aber das betrifft nicht ihre Existenz; ihre Herkunft spieltkeine Rolle für ihre Existenz, weil sie auch anders sein könnte. Für Arendtund Benhabib verschiebt sich die Herkunft in den Bereich der Existenz,unsere Herkunft macht unsere Welt aus und bestimmt uns in einem we-sentlichen Sinn. Existenz kann nicht ohne Herkunft verstanden werden,die kontingenten Faktoren unserer je eigenen Welt sind notwendig kontin-Schwarze und Frauen der dritten Welt klagen Zugang ein zu den Bil-dungsmöglichkeiten, die den Frauen Europas und Nordamerikas offenstehen.

Aus der Anerkennung von Kontingenz ergibt sich eine unausweichliche

Perspektivität und Begrenztheit, die wir zwar hinnehmen müssen, die wirin wesentlichen Hinsichten aber nicht unqualifiziert stehen lassen können.

Wenn die vermeintliche Kontingenz in Ungerechtigkeit umschlägt, kön-nen wir sie nicht als Schicksal abtun, sondern müssen handeln.6

3. Vernunft als gemeinsame Grundlage – Kritik der Kontingenz

Wie finden wir nun heraus, wie wir mit Kontingenz im Handeln umge-hen können? Aus der Geschichte der Philosophie sind wir mit der Qualifi-zierung von Kontingenz vertraut. Was heißt Kontingenz? Ich gehe hier aufdrei unterschiedliche Aspekte von Kontingenz ein, die ich für das Ver-ständnis der Benhabib’schen Position und generell für sinnvoll erachte.

1. Kontingenz der Herkunft

In diesem Aspekt von Kontingenz steckt der Ansatz zum Pluralismus.

Jede Person hat einen eigenen und unverwechselbaren Hintergrund, dersie ausmacht und der ihre Einzigartigkeit verbürgt. In diesem Sinn steht

Kontingenz für Pluralismus und Differenz. Erst die kontingenten Faktorenmachen meine Welt zu meiner Welt, indem sie sie unverwechselbar ma-chen.

2. Kontingenz als Offenheit

Dieser Aspekt von Kontingenz betrifft alles, was uns begegnet, was wirannehmen oder ignorieren können und, insofern wir es annehmen, wo-möglich verändern können.7Er betrifft damit auch unseren Handlungs-spielraum angesichts alltäglicher Kontingenz. In einem weiter gefassten

Sinn bedeutet er die Offenheit der Zukunft für unsere Veränderungen:

Was in der Zukunft geschieht, kann von unseren Entscheidungen und

Handlungen in der Gegenwart abhängen. Dieser Sinn von Kontingenz istwichtig für Benhabibs politische Philosophie, weil er garantiert, dass Ver-

änderung möglich ist und damit Politik machbar ist.

3. Logische Kontingenz

Dinge können auch anders sein, als sie sind, ohne dass das Wesentlichedavon berührt wird. Kontingente Dinge im logischen Sinn können wiede-rum als a) notwendig kontingent oder b) kontingent kontingent verstan-den werden. Das klassische Beispiel für ein kontingent kontingentes Attri-but ist der sitzende Sokrates: Ob er steht oder sitzt, er ist Sokrates. Wirlegen ihm ein Attribut bei (stehend, sitzend, liegend), aber das ändertnichts an seinem Wesen (Sokrates zu sein). Sokrates’ Körperposition kannsich verändern, die Beschreibung „sitzend“ kann zutreffend sein, mussaber nicht zutreffend sein. Im Lebensvollzug muss ich ständig entscheiden,ob ein Ereignis, eine Begegnung in diesem Sinn kontingent ist oder nicht:Wenn ich mir vorgenommen habe, etwas zu tun, dann tue ich es womög-lich, egal, was mir auf dem Weg dorthin begegnet. Um zielgerichtet underfolgreich handeln zu können, ignoriere ich Dinge, die mich ablenkenkönnen. Das setzt voraus, dass ich zwischen Wesentlichem und Unwesent-lichem unterscheide.8

Notwendig kontingent ist das, was uns in einem wesentlichen Sinne be-einflusst und nicht von uns beeinflussbar ist. Klassisches Beispiel sind Her-kunft und Geschlecht. In der feministischen Lesart ist das Geschlecht sowichtig, weil das Geschlecht uns formt, aber nicht von uns bestimmt wird indem Sinne, dass wir uns aussuchen könnten, ob wir als Frau oder als Mannzur Welt kommen. In diesem Sinne erhält „kontingent“ in der neueren De-batte, egal ob in der Postmoderne-Debatte oder im Feminismus, eine völligneue Schärfe, die es vorher so noch nicht hatte. Beide Debatten zwingenuns, Grundlagen neu zu überdenken und unsere Begrifflichkeiten zu prüfen.

Der Umstand, dass wir wesentlich geprägt sind durch Umstände, dienicht von uns abhängen, war von dem Existenzphilosophen Karl Jaspersnoch als kontingent kontingent eingeschätzt worden: Natürlich ist RahelVarnhagen Jüdin, aber das betrifft nicht ihre Existenz; ihre Herkunft spieltkeine Rolle für ihre Existenz, weil sie auch anders sein könnte. Für Arendtund Benhabib verschiebt sich die Herkunft in den Bereich der Existenz,unsere Herkunft macht unsere Welt aus und bestimmt uns in einem we-sentlichen Sinn. Existenz kann nicht ohne Herkunft verstanden werden,die kontingenten Faktoren unserer je eigenen Welt sind notwendig kontin-gent. Die Anerkennung dieser individuellen Welten, die die Identität von

Personen mit ausmachen, ist für Benhabib die positive Leistung des Kon-tingenzbegriffs. Dieser Aspekt von Kontingenz ist die Grundlage für Plu-ralismus und dafür, dass wir andere besser mit einbeziehen können in eine

Welt, die wir gemeinsam gestalten. In diesem Sinne radikalisiert Benhabibden Kontingenzbegriff.

Für Benhabib können wir festhalten, dass Verschiedenheit zwar wesent-lich ist, aber dass gleichzeitig die Verschiedenheit nicht ausschließt, dasswir im Sinne der Offenheit der Zukunft diese gemeinsam für alle und ge-recht gestalten. Dieses „für alle“ ist mit dem Anspruch verbunden, dassdie Ansprüche aller gleichermaßen berücksichtigt werden. Wie erreichenwir Einigung über diese Fragen? Indem wir uns verständigen, gemeinsamnachdenken und im Bestfall zu Entscheidungen kommen, wie zu handelnsei. Dieses Vorgehen ist nur möglich, wenn wir von einer Verständigungs-möglichkeit ausgehen. Traditionell ist dies eine Rolle, welche die Vernunftspielt, und genau das ist die Rolle, die Benhabib der Vernunft auch lassenoder erneut zuweisen möchte.

„Ich möchte auf die Risse und Sprünge im ehrwürdigen Gebäude der

Tradition hinweisen, die groß genug sind, um das Licht einer neuen Ver-nunft erblicken zu lassen; einer Vernunft, die dem Prinzip der Gerechtig-keit seine Würde und seinen angestammten Platz belässt, ohne das indivi-duelle Glücksverlangen auf die hinteren Ränge zu verweisen.“9

4. Vereinbarkeit? Nur im Prozess und nicht endgültig – Überwindung der Kontingenz

Was bedeutet das für die ursprüngliche Anerkennung der Unterschiedein Herkunft und Geschlecht? Wir haben es bei Benhabib mit einem zwei-stufigen Modell zu tun. Auf der ersten Ebene werden die Unterschiedezwischen Subjekten radikal ernst genommen. Auf der zweiten Stufe findendiese radikal unterschiedlichen Subjekte etwas, auf das sie sich einigenkönnen.

Wie sind diese beiden Ebenen überhaupt sinnvoll zusammenzudenken?

Nur in einem zeitlichen Ablauf, in einem Prozess, können wir uns vorstellen,dass die Gültigkeit der Inhalte beider Stufen – a) Wir sind unterschiedlich,sofern wir kontingenter Herkunft sind, und b) wir sind gleich, sofern wir ra-tional sind oder sein können – erhalten bleibt und dennoch ein sinnvoller

Dialog auch der Geschlechter stattfinden kann. Jeder Mensch hat das

Recht, Rechte zu haben, das Recht auf eine, auf seine oder ihre Welt. Her-kunft und Umstände sind in Bezug auf dieses Recht kontingent. In einerWelt-Gesellschaft haben wir alle das Recht auf Welt, auf eine Welt, insofernwir alle zu derselben Welt gehören, und auf eine je eigene Welt, insofern wiralle unterschiedliche Bedingungen in dieser gemeinsamen Welt haben.

Die Interpretation der ersten beiden Artikel der Menschenrechtserklä-rung von 1948 soll diese Überlegungen veranschaulichen. Der erste Satzvon Artikel 1 lautet:

Das Gleichheitspostulat steht zu Anfang der Erklärung und wird dochim zweiten Satz auf eine Weise erweitert, die Feministinnen nicht anerken-nen können:

Brüderlichkeit, im englischen Original „brotherhood“, impliziert dasmännliche Geschlecht, es heißt dort nicht etwa Menschlichkeit oder garSchwesterlichkeit oder Mütterlichkeit. Wir können das nicht anerkennen,weil nicht alle Menschen Männer sind und damit nicht alle Menschen Brü-der. Das Bild von Gleichheit ist historisch geprägt durch den Umgangunter Männern, Brüdern. Radikale Feministinnen könnten nun meinen,wir müssen die Menschenrechte neu schreiben. Und in gewisser Weisehaben sie Recht: Wie sollen wir Gleichheit leben, wenn selbst ein sogrundlegendes Dokument wie die Menschenrechtserklärung als Erstesmännliche Vorherrschaft fort- und festschreibt?

Benhabib sagt, das sei im Prinzip richtig, wir wollen aber gleichzeitignicht das verlieren, was im ersten Satz ausgesagt wird, nämlich: ALLEMenschen sind gleich. Bevor wir Frauen sind, oder Männer sind, sind wirMenschen und als solche sind wir gleich. Diese Auffassung ändert nichtsdaran, dass durch den Begriff „Brüderlichkeit“ das Geschlecht festge-schrieben ist und auf eine Weise festgeschrieben ist, die wir nicht akzeptie-ren können, weil wir, vom Feminismus herkommend, feststellen, dass dieseRedewendung Ausdruck festgefügter Denkweisen ist, die wir verändernmüssen, weil sie die Gleichheit in Frage stellen. Weil das männliche Den-ken bestimmend war für die Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind,gilt es, dieses zu kritisieren, wenn wir den Anspruch auf Gleichheit, wie erim ersten Satz formuliert wird, ernst nehmen.

Im zweiten Artikel der Menschenrechtserklärung wird diese Gleichheitnäher bestimmt. Es werden Qualifikationen vorgenommen, die klar ma-chen, dass das Geschlecht keine Begründung für Diskriminierung seinkann.11Im Übergang vom ersten zum zweiten Artikel finden wir also dasgent. Die Anerkennung dieser individuellen Welten, die die Identität von

Personen mit ausmachen, ist für Benhabib die positive Leistung des Kon-tingenzbegriffs. Dieser Aspekt von Kontingenz ist die Grundlage für Plu-ralismus und dafür, dass wir andere besser mit einbeziehen können in eine

Welt, die wir gemeinsam gestalten. In diesem Sinne radikalisiert Benhabibden Kontingenzbegriff.

Für Benhabib können wir festhalten, dass Verschiedenheit zwar wesent-lich ist, aber dass gleichzeitig die Verschiedenheit nicht ausschließt, dasswir im Sinne der Offenheit der Zukunft diese gemeinsam für alle und ge-recht gestalten. Dieses „für alle“ ist mit dem Anspruch verbunden, dassdie Ansprüche aller gleichermaßen berücksichtigt werden. Wie erreichenwir Einigung über diese Fragen? Indem wir uns verständigen, gemeinsamnachdenken und im Bestfall zu Entscheidungen kommen, wie zu handelnsei. Dieses Vorgehen ist nur möglich, wenn wir von einer Verständigungs-möglichkeit ausgehen. Traditionell ist dies eine Rolle, welche die Vernunftspielt, und genau das ist die Rolle, die Benhabib der Vernunft auch lassenoder erneut zuweisen möchte.

„Ich möchte auf die Risse und Sprünge im ehrwürdigen Gebäude der

Tradition hinweisen, die groß genug sind, um das Licht einer neuen Ver-nunft erblicken zu lassen; einer Vernunft, die dem Prinzip der Gerechtig-keit seine Würde und seinen angestammten Platz belässt, ohne das indivi-duelle Glücksverlangen auf die hinteren Ränge zu verweisen.“9

4. Vereinbarkeit? Nur im Prozess und nicht endgültig – Überwindung der Kontingenz

Was bedeutet das für die ursprüngliche Anerkennung der Unterschiedein Herkunft und Geschlecht? Wir haben es bei Benhabib mit einem zwei-stufigen Modell zu tun. Auf der ersten Ebene werden die Unterschiedezwischen Subjekten radikal ernst genommen. Auf der zweiten Stufe findendiese radikal unterschiedlichen Subjekte etwas, auf das sie sich einigenkönnen.

Wie sind diese beiden Ebenen überhaupt sinnvoll zusammenzudenken?

Nur in einem zeitlichen Ablauf, in einem Prozess, können wir uns vorstellen,dass die Gültigkeit der Inhalte beider Stufen – a) Wir sind unterschiedlich,sofern wir kontingenter Herkunft sind, und b) wir sind gleich, sofern wir ra-tional sind oder sein können – erhalten bleibt und dennoch ein sinnvoller

Dialog auch der Geschlechter stattfinden kann. Jeder Mensch hat das

Recht, Rechte zu haben, das Recht auf eine, auf seine oder ihre Welt. Her-kunft und Umstände sind in Bezug auf dieses Recht kontingent. In einerWelt-Gesellschaft haben wir alle das Recht auf Welt, auf eine Welt, insofernwir alle zu derselben Welt gehören, und auf eine je eigene Welt, insofern wiralle unterschiedliche Bedingungen in dieser gemeinsamen Welt haben.

Die Interpretation der ersten beiden Artikel der Menschenrechtserklä-rung von 1948 soll diese Überlegungen veranschaulichen. Der erste Satzvon Artikel 1 lautet:

Das Gleichheitspostulat steht zu Anfang der Erklärung und wird dochim zweiten Satz auf eine Weise erweitert, die Feministinnen nicht anerken-nen können:

Brüderlichkeit, im englischen Original „brotherhood“, impliziert dasmännliche Geschlecht, es heißt dort nicht etwa Menschlichkeit oder garSchwesterlichkeit oder Mütterlichkeit. Wir können das nicht anerkennen,weil nicht alle Menschen Männer sind und damit nicht alle Menschen Brü-der. Das Bild von Gleichheit ist historisch geprägt durch den Umgangunter Männern, Brüdern. Radikale Feministinnen könnten nun meinen,wir müssen die Menschenrechte neu schreiben. Und in gewisser Weisehaben sie Recht: Wie sollen wir Gleichheit leben, wenn selbst ein sogrundlegendes Dokument wie die Menschenrechtserklärung als Erstesmännliche Vorherrschaft fort- und festschreibt?

Benhabib sagt, das sei im Prinzip richtig, wir wollen aber gleichzeitignicht das verlieren, was im ersten Satz ausgesagt wird, nämlich: ALLEMenschen sind gleich. Bevor wir Frauen sind, oder Männer sind, sind wirMenschen und als solche sind wir gleich. Diese Auffassung ändert nichtsdaran, dass durch den Begriff „Brüderlichkeit“ das Geschlecht festge-schrieben ist und auf eine Weise festgeschrieben ist, die wir nicht akzeptie-ren können, weil wir, vom Feminismus herkommend, feststellen, dass dieseRedewendung Ausdruck festgefügter Denkweisen ist, die wir verändernmüssen, weil sie die Gleichheit in Frage stellen. Weil das männliche Den-ken bestimmend war für die Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind,gilt es, dieses zu kritisieren, wenn wir den Anspruch auf Gleichheit, wie erim ersten Satz formuliert wird, ernst nehmen.

Im zweiten Artikel der Menschenrechtserklärung wird diese Gleichheitnäher bestimmt. Es werden Qualifikationen vorgenommen, die klar ma-chen, dass das Geschlecht keine Begründung für Diskriminierung seinkann.11Im Übergang vom ersten zum zweiten Artikel finden wir also dasBewusstsein für die Schwierigkeit, dass wir immer schon irgendwie be-stimmt sind. Und wir und die Autoren der Menschenrechtserklärung kom-men nun einmal aus einer patriarchalisch bestimmten Gesellschaft, die inden letzten Hunderten von Jahren, vielleicht sogar Tausenden von Jahrendominante Denkweisen geschaffen hat, die männlich geprägt sind wie dieWelt, die sie regieren. Das können wir nicht leugnen, aber wir können esverändern wollen.

Sollen wir uns nun von dieser männlich dominiert-dominanten Vernunftfern halten? Im Gegenteil. Anders als Judith Butler, welche die Kontin-genz radikalisiert, um ein Theoriegebäude zum Einsturz zu bringen unddanach keines mehr zu errichten, benutzt Seyla Benhabib ihren zweistufi-gen Kontingenzbegriff, um ein bestehendes Theoriegebäude zu reparieren:„die entscheidenden Erkenntnisse der universalistischen Tradition [kön-nen] heute neu formuliert werden […], ohne daß man sich den metaphysi-schen Illusionen der Aufklärung hingeben müßte.“12

Wir können die Welt verändern, weil es die gemeinsame Vernunft gibt.Dies ist ein Boden, auf dem wir stehen, auch wenn unsere Unterschiedemaßgeblich sind. Dabei ist die geteilte Vernunft nichts, was uns unabhän-gig von kontingenten Faktoren wie Herkunft und Geschlecht macht. Viel-mehr erreichen wir diese gemeinsame Grundlage immer erst durch Aus-einandersetzung und Überlegung. Bei diesem gemeinsamen Überlegengibt es Leitideen wie etwa die Frage nach dem guten menschlichen Lebenfür alle.

Die prinzipielle Verletzbarkeit nicht nur des guten menschlichen Le-bens, sondern überhaupt menschlichen Lebens, macht uns klar, dass wirder Regeln bedürfen, um unser Zusammenleben auf eine Weise zu ord-nen, die alle zum Zuge kommen lässt. Prominentes Beispiel dafür ist dieMenschenrechtserklärung von 1948.

Auch das eine Einsicht der Kritischen Theorie. Das Leben ist beschä-digt. Das heißt nicht, dass es ein Leben ist, das wir nicht führen können,aber wenn wir es führen wollen, dann müssen wir uns auf gemeinsamePrämissen einigen. Solche Prämissen können nur dann als plausibel gel-ten, wenn sie allen nachvollziehbar sind. Das heißt, dass es einen gemein-samen Kern von Rationalität geben muss, der allen, unabhängig von Ge-schlecht, Herkunft, Alter und Hautfarbe und sonstigen Unterschieden, wiesie etwa in Artikel 2 der Menschenrechtserklärung festgehalten sind, zu-gänglich ist und zugänglich sein muss, damit es auch in Konfliktfällenimmer wieder zu einer Einigung kommen kann.

5. Schluss: Pluralismus von Welt

Statt sich in einfache Opposition zur Überlieferung zu setzen, interpre-tiert Benhabib traditionelle Texte. In dieser Interpretation lässt sich zei-gen, dass es die Wand, gegen die die Postmoderne und andere radikale Er-neuerungsphilosophien anlaufen, vielleicht gar nicht gibt. Zwischen denZeilen finden sich gültige Aussagen, wenn wir es nur verstehen und denMut haben, diese Texte neu zu lesen.

Und so ist Kontingenz auch nicht allein ein Kampfbegriff für Benhabibin dem Maße wie er es etwa für Richard Rorty oder auch Butler ist, son-dern vielmehr eine Gegebenheit, die das Faktum der Vernunft schonimmer bestimmt hat und umso mehr weiterbestimmt, als der Traum vonder makellosen Vernunft seine Unantastbarkeit verloren hat. So wird inder Geschichte und eben auch in der Gegenwart immer wieder der Wegfrei für neue Interpretationen klassischer Texte.

Das Programm Benhabibs, Kontingenz in einem zweistufigen Verfah-ren erst zur Geltung zu bringen und dann „aufzuheben“, ermöglicht uns,klassische Texte neu zu lesen und so zu interpretieren, dass sie für unsSinn ergeben. Doch wie interpretieren wir heute, wie sollen wir heuteinterpretieren?

Das Leben nach 1945 war exemplarisch beschädigt. Das war etwas, dasBewusstsein für die Schwierigkeit, dass wir immer schon irgendwie be-stimmt sind. Und wir und die Autoren der Menschenrechtserklärung kom-men nun einmal aus einer patriarchalisch bestimmten Gesellschaft, die inden letzten Hunderten von Jahren, vielleicht sogar Tausenden von Jahrendominante Denkweisen geschaffen hat, die männlich geprägt sind wie dieWelt, die sie regieren. Das können wir nicht leugnen, aber wir können esverändern wollen.

Sollen wir uns nun von dieser männlich dominiert-dominanten Vernunftfern halten? Im Gegenteil. Anders als Judith Butler, welche die Kontin-genz radikalisiert, um ein Theoriegebäude zum Einsturz zu bringen unddanach keines mehr zu errichten, benutzt Seyla Benhabib ihren zweistufi-gen Kontingenzbegriff, um ein bestehendes Theoriegebäude zu reparieren:„die entscheidenden Erkenntnisse der universalistischen Tradition [kön-nen] heute neu formuliert werden […], ohne daß man sich den metaphysi-schen Illusionen der Aufklärung hingeben müßte.“12

Wir können die Welt verändern, weil es die gemeinsame Vernunft gibt.Dies ist ein Boden, auf dem wir stehen, auch wenn unsere Unterschiedemaßgeblich sind. Dabei ist die geteilte Vernunft nichts, was uns unabhän-gig von kontingenten Faktoren wie Herkunft und Geschlecht macht. Viel-mehr erreichen wir diese gemeinsame Grundlage immer erst durch Aus-einandersetzung und Überlegung. Bei diesem gemeinsamen Überlegengibt es Leitideen wie etwa die Frage nach dem guten menschlichen Lebenfür alle.

Die prinzipielle Verletzbarkeit nicht nur des guten menschlichen Le-bens, sondern überhaupt menschlichen Lebens, macht uns klar, dass wirder Regeln bedürfen, um unser Zusammenleben auf eine Weise zu ord-nen, die alle zum Zuge kommen lässt. Prominentes Beispiel dafür ist dieMenschenrechtserklärung von 1948.

Auch das eine Einsicht der Kritischen Theorie. Das Leben ist beschä-digt. Das heißt nicht, dass es ein Leben ist, das wir nicht führen können,aber wenn wir es führen wollen, dann müssen wir uns auf gemeinsamePrämissen einigen. Solche Prämissen können nur dann als plausibel gel-ten, wenn sie allen nachvollziehbar sind. Das heißt, dass es einen gemein-samen Kern von Rationalität geben muss, der allen, unabhängig von Ge-schlecht, Herkunft, Alter und Hautfarbe und sonstigen Unterschieden, wiesie etwa in Artikel 2 der Menschenrechtserklärung festgehalten sind, zu-gänglich ist und zugänglich sein muss, damit es auch in Konfliktfällenimmer wieder zu einer Einigung kommen kann.

5. Schluss: Pluralismus von Welt

Statt sich in einfache Opposition zur Überlieferung zu setzen, interpre-tiert Benhabib traditionelle Texte. In dieser Interpretation lässt sich zei-gen, dass es die Wand, gegen die die Postmoderne und andere radikale Er-neuerungsphilosophien anlaufen, vielleicht gar nicht gibt. Zwischen denZeilen finden sich gültige Aussagen, wenn wir es nur verstehen und denMut haben, diese Texte neu zu lesen.

Und so ist Kontingenz auch nicht allein ein Kampfbegriff für Benhabibin dem Maße wie er es etwa für Richard Rorty oder auch Butler ist, son-dern vielmehr eine Gegebenheit, die das Faktum der Vernunft schonimmer bestimmt hat und umso mehr weiterbestimmt, als der Traum vonder makellosen Vernunft seine Unantastbarkeit verloren hat. So wird inder Geschichte und eben auch in der Gegenwart immer wieder der Wegfrei für neue Interpretationen klassischer Texte.

Das Programm Benhabibs, Kontingenz in einem zweistufigen Verfah-ren erst zur Geltung zu bringen und dann „aufzuheben“, ermöglicht uns,klassische Texte neu zu lesen und so zu interpretieren, dass sie für unsSinn ergeben. Doch wie interpretieren wir heute, wie sollen wir heuteinterpretieren?

Das Leben nach 1945 war exemplarisch beschädigt. Das war etwas, dasAdorno als jüdischer Deutscher besonders deutlich gesehen hat und waser zu einem Grundstein seiner Philosophie nach 1945 bzw. schon nach1933 gemacht hat.

Philosophisch konnten wir immer schon sagen, dass das Leben alsLeben etwas ist, das beschädigt werden kann und somit aus Sicht der idea-len Theorie etwa der Platons auch immer schon beschädigt ist im Ver-gleich zu den Ideen und Gedankengebäuden, in denen kein menschlichesLeben ist.13

Können wir nicht die Welt als das strukturierte Ensemble notwendigerBedingungen für menschliches Wohlergehen verstehen? Und ist nicht Pla-tons Staat der erste Versuch einer Ausformulierung dieser notwendigenBedingungen und der Katalog von Bedingungen, den die amerikanischePhilosophin Martha Nussbaum aufstellt, ein aktueller Schritt in dieseRichtung der philosophisch versuchten normativen Definition von Welt?14Neben den materiellen Bedingungen für „Welt“ gibt es eine Reihe vonnicht-materiellen Bedingungen, wichtig ist jedoch, dass die materiellenund nicht-materiellen eine je eigene Einheit für einen Menschen bilden,dessen Welt es ist und den diese Welt ausmacht. Die Tatsache, dass wir alleeine so beschaffene Welt sind oder haben, ermöglicht das Verstehen derWelt einer anderen Person.

Zu dem materiellen Verlust der je eigenen Welt, etwa dem Verlust deseigenen Hauses durch Flucht, tritt der Verlust von Vertrauen in die Weltals Ganze und in die geteilte Welt. Die Offenheit für das Leiden der Men-schen, die diesen Verlust erleiden, mag ausreichen für den Willen, dieseWelt zu verändern.15

Prominentester Versuch einer rechtlich verbindlichen Definition dieserWelt im Sinne von gutem menschlichem Leben für alle ist nach wie vor dieUN-Menschenrechtserklärung von 1948. Benhabibs politische Philosophiekann verstanden werden als eine Vitalisierung dieses Konzepts, und zwarnicht einfach um des Konzepts oder der Utopie willen, sondern vielmehrals nötig gewordenes Neudenken dieses Konzepts im Angesicht der globa-len Umwälzungen.16

Die Anerkennung des Pluralismus ist eine der Voraussetzungen für Weltin diesem Sinne. Darin stimmt Benhabib mit Hannah Arendt überein. Ver-langt ist nicht zuletzt die Anerkennung der Vielfalt von Ansprüchen derverschiedenen Kulturen – und dabei handelt es sich durchaus auch ummaterielle Ansprüche. Dies zu betonen, darin liegt vielleicht das marxisti-sche Moment in Benhabibs Denken. Wir können die materielle Absiche-rung und Wohlfahrt für uns als Mitglieder dieser Kultur und dieser Gesell-schaften nicht für legitim halten, wenn wir nicht die entsprechendenAnsprüche anderer Menschen anerkennen. Dies kann Redistribution er-fordern nämlich zugunsten von Menschen, die weder mit uns verwandtnoch auf andere Weise mit uns besonders (also kontingent) verbundensind.

Für eine solche Position, die motiviert ist von der prinzipiellen Offen-heit für das Elend anderer, ist die Begründung auf Wahrheit im starkenSinn (wie Rationalisten es fordern) gar nicht nötig: Erzählen und Zuhörenmag genügen als Ausgangspunkt für die Motivation, die Welt zu verän-dern. Allerdings nur dann, wenn wir die Grundwerte der Gleichheit undAngemessenheit teilen und über eine geteilte Vernunft verfügen.

Auswahlbibliographie

Adorno als jüdischer Deutscher besonders deutlich gesehen hat und waser zu einem Grundstein seiner Philosophie nach 1945 bzw. schon nach1933 gemacht hat.

Philosophisch konnten wir immer schon sagen, dass das Leben alsLeben etwas ist, das beschädigt werden kann und somit aus Sicht der idea-len Theorie etwa der Platons auch immer schon beschädigt ist im Ver-gleich zu den Ideen und Gedankengebäuden, in denen kein menschlichesLeben ist.13

Können wir nicht die Welt als das strukturierte Ensemble notwendigerBedingungen für menschliches Wohlergehen verstehen? Und ist nicht Pla-tons Staat der erste Versuch einer Ausformulierung dieser notwendigenBedingungen und der Katalog von Bedingungen, den die amerikanischePhilosophin Martha Nussbaum aufstellt, ein aktueller Schritt in dieseRichtung der philosophisch versuchten normativen Definition von Welt?14Neben den materiellen Bedingungen für „Welt“ gibt es eine Reihe vonnicht-materiellen Bedingungen, wichtig ist jedoch, dass die materiellenund nicht-materiellen eine je eigene Einheit für einen Menschen bilden,dessen Welt es ist und den diese Welt ausmacht. Die Tatsache, dass wir alleeine so beschaffene Welt sind oder haben, ermöglicht das Verstehen derWelt einer anderen Person.

Zu dem materiellen Verlust der je eigenen Welt, etwa dem Verlust deseigenen Hauses durch Flucht, tritt der Verlust von Vertrauen in die Weltals Ganze und in die geteilte Welt. Die Offenheit für das Leiden der Men-schen, die diesen Verlust erleiden, mag ausreichen für den Willen, dieseWelt zu verändern.15

Prominentester Versuch einer rechtlich verbindlichen Definition dieserWelt im Sinne von gutem menschlichem Leben für alle ist nach wie vor dieUN-Menschenrechtserklärung von 1948. Benhabibs politische Philosophiekann verstanden werden als eine Vitalisierung dieses Konzepts, und zwarnicht einfach um des Konzepts oder der Utopie willen, sondern vielmehrals nötig gewordenes Neudenken dieses Konzepts im Angesicht der globa-len Umwälzungen.16

Die Anerkennung des Pluralismus ist eine der Voraussetzungen für Weltin diesem Sinne. Darin stimmt Benhabib mit Hannah Arendt überein. Ver-langt ist nicht zuletzt die Anerkennung der Vielfalt von Ansprüchen derverschiedenen Kulturen – und dabei handelt es sich durchaus auch ummaterielle Ansprüche. Dies zu betonen, darin liegt vielleicht das marxisti-sche Moment in Benhabibs Denken. Wir können die materielle Absiche-rung und Wohlfahrt für uns als Mitglieder dieser Kultur und dieser Gesell-schaften nicht für legitim halten, wenn wir nicht die entsprechendenAnsprüche anderer Menschen anerkennen. Dies kann Redistribution er-fordern nämlich zugunsten von Menschen, die weder mit uns verwandtnoch auf andere Weise mit uns besonders (also kontingent) verbundensind.

Für eine solche Position, die motiviert ist von der prinzipiellen Offen-heit für das Elend anderer, ist die Begründung auf Wahrheit im starkenSinn (wie Rationalisten es fordern) gar nicht nötig: Erzählen und Zuhörenmag genügen als Ausgangspunkt für die Motivation, die Welt zu verän-dern. Allerdings nur dann, wenn wir die Grundwerte der Gleichheit undAngemessenheit teilen und über eine geteilte Vernunft verfügen.

Auswahlbibliographie

LUCE IRIGARAY Kontingenz als Differenz

Von Franziska Frei Gerlach

Die sexuelle Differenz stellt eine der Fragen oder die Frage dar, die inunserer Epoche zu denken ist. Jede Epoche hat – Heidegger zufolge – eineSache zu ‘bedenken’. Nur eine. Die sexuelle Differenz ist wahrscheinlichdiejenige unserer Zeit. Diejenige, die uns, wäre sie gedacht, die ‘Rettung’bringen würde? (Ethik, 11).1

Die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Luce Irigaraydenkt seit ihren bahnbrechenden Texten aus den siebziger Jahren des20.Jahrhunderts stets von einer unerschütterlichen Grundlegung her: dersexuellen Differenz der Geschlechter. Diese liegt als Axiom ihren kriti-schen Analysen institutionalisierter Diskurse und ihren politischen Vor-schlägen zugrunde, und darauf basieren ihre gesellschaftstheoretischenEntwürfe.

Es entbehrt darum nicht einer gewissen Widerständigkeit, die Diffe-renztheoretikerin Irigaray als Denkerin der Kontingenz zu verstehen. Or-ganisiert doch der Begriff der Geschlechterdifferenz, der bei Irigaray un-verkennbar auf einer dualen Logik basiert, die Ordnung der Dinge andersals derjenige der Kontingenz, der Zufälligkeiten und eine Vielzahl vonMöglichkeiten impliziert.

Diese Widerständigkeit lässt sich jedoch produktiv machen, wenn ge-nauer in den Blick genommen wird, dass Irigarays Theorie mit zwei ver-schiedenen Differenzbegriffen operiert, deren Unterschiedenheit geradedarin zu verdeutlichen wäre, wie sie im Hinblick auf die Frage der Kontin-genz organisiert sind. Zeigen möchte ich dies vor allem an Irigarayssprachtheoretischer Position.

Irigarays strikte Ausrichtung am Axiom der sexuellen Differenz hatinnerhalb des feministischen Diskurses viel Kritik provoziert. Ein weitverbreiteter Einwand lautet, sie schreibe nicht gegen die androzentrischeOrdnung des Gleichen an, sondern stelle diese fest – bloß mit umgekehr-ten Wertigkeiten versehen. Dieser Einwand kann über die am Kontingenz-

LUCE IRIGARAY Kontingenz als Differenz

Von Franziska Frei Gerlach

Die sexuelle Differenz stellt eine der Fragen oder die Frage dar, die inunserer Epoche zu denken ist. Jede Epoche hat – Heidegger zufolge – eineSache zu ‘bedenken’. Nur eine. Die sexuelle Differenz ist wahrscheinlichdiejenige unserer Zeit. Diejenige, die uns, wäre sie gedacht, die ‘Rettung’bringen würde? (Ethik, 11).1

Die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Luce Irigaraydenkt seit ihren bahnbrechenden Texten aus den siebziger Jahren des20.Jahrhunderts stets von einer unerschütterlichen Grundlegung her: dersexuellen Differenz der Geschlechter. Diese liegt als Axiom ihren kriti-schen Analysen institutionalisierter Diskurse und ihren politischen Vor-schlägen zugrunde, und darauf basieren ihre gesellschaftstheoretischenEntwürfe.

Es entbehrt darum nicht einer gewissen Widerständigkeit, die Diffe-renztheoretikerin Irigaray als Denkerin der Kontingenz zu verstehen. Or-ganisiert doch der Begriff der Geschlechterdifferenz, der bei Irigaray un-verkennbar auf einer dualen Logik basiert, die Ordnung der Dinge andersals derjenige der Kontingenz, der Zufälligkeiten und eine Vielzahl vonMöglichkeiten impliziert.

Diese Widerständigkeit lässt sich jedoch produktiv machen, wenn ge-nauer in den Blick genommen wird, dass Irigarays Theorie mit zwei ver-schiedenen Differenzbegriffen operiert, deren Unterschiedenheit geradedarin zu verdeutlichen wäre, wie sie im Hinblick auf die Frage der Kontin-genz organisiert sind. Zeigen möchte ich dies vor allem an Irigarayssprachtheoretischer Position.

Irigarays strikte Ausrichtung am Axiom der sexuellen Differenz hatinnerhalb des feministischen Diskurses viel Kritik provoziert. Ein weitverbreiteter Einwand lautet, sie schreibe nicht gegen die androzentrischeOrdnung des Gleichen an, sondern stelle diese fest – bloß mit umgekehr-ten Wertigkeiten versehen. Dieser Einwand kann über die am Kontingenz-begriff orientierte Spezifizierung von Irigarays Differenzbegriff entkräftetwerden, resultiert er doch aus einer Vermischung der unterschiedlichen

Begriffsinhalte.

Irigaray als Denkerin der Kontingenz zu verstehen ermöglicht darüberhinaus, ihre Position in der Theoriesituation der neunziger Jahre – in derdie Kontingenz des Geschlechtes diagnostiziert wird – genauer zu bestim-men. Wo siedelt sie die Möglichkeit von Kontingenz an, wo und wie suchtsie Kontingenz wiederzugewinnen und wo nicht?

Zuletzt soll Irigarays gesellschaftstheoretischer Entwurf einer Verwirk-lichung der sexuellen Differenz auf seine Implikationen hin befragt wer-den. Irigaray sieht die Herstellung einer ursprünglichen Situation von

Zweiheit vor, in der zwei in sich gänzlich verschiedene und untereinanderbezugslose Systeme eine neue Ethik, eine neue Kultur gründen würden.

Wie aber, so ist zu fragen, interagieren zwei bezugslose Systeme miteinan-der, wenn kein vermittelndes Drittes – wie eine gemeinsame Sprache – daist? Wie also ist Kommunikation möglich? Auf diese Frage könnte die Si-tuation der doppelten Kontingenz, wie sie in der Systemtheorie diskutiertwird, eine mögliche Antwort sein.

Doch bevor ich Irigaray anhand ausgewählter Textpartien als Denkerinder Kontingenz diskutieren werde, sollen einige Informationen zu ihrerbiographischen Situierung, ihrem wissenschaftlichen Werdegang und denwichtigsten Rezeptionslinien ihres Werks einen Überblick ermöglichen.

1. Von der Kritik an Differenz zum Entwurf von Differenz

Luce Irigaray wurde 1932 in Blaton in Belgien geboren. Ihre wissen-schaftliche Sozialisation ist beeindruckend: Sie hat zwei Doktorwürden,eine in Philosophie und eine in Linguistik, sie hat eine Licence in Philo-sophie und in Literaturwissenschaften, eine Licence in Psychologie undein Diplom in Psychopathologie und ist ausgebildete Psychoanalytikerin.

Darüber hinaus war und ist Irigaray politisch aktiv. Jüngst hat sie ihren

Entwurf eines geschlechterdifferenten Rechts dem Europäischen Parla-ment zur Ratifikation eingereicht.2

1955 schloss Irigaray ihre Studien an der Universität Löwen (Belgien)ab und unterrichtete danach in Brüssel. In den frühen sechziger Jahrenzog sie nach Paris, wo sie Psychologie mit Schwerpunkt Psychopathologiestudierte. Seit 1964 ist sie Mitglied des Centre National des RecherchesScientifiques in Paris, wo sie gegenwärtig die Position einer Forschungs-leiterin für Philosophie innehat.

Besonders wichtig für ihren wissenschaftlichen Werdegang war JacquesLacan, an dessen Pariser École freudienne sie sich zur Psychoanalytikerinausbildete. Neben den klassischen philosophischen Autoren und Fragestel-lungen, die Irigaray in ihren Selbstaussagen jeweils als ihren prägendstenwissenschaftlichen Hintergrund nennt, bietet ihr die strukturalistischePsychoanalyse Lacans nicht die einzige methodische Anregung des intel-lektuellen Paris der sechziger Jahre. Fruchtbar gemacht hat Irigaray inihrer eigenen Arbeit ebenfalls die dekonstruktive Literaturkritik JacquesDerridas sowie die historische Diskursanalyse Michel Foucaults.

1968 promovierte sie in Linguistik mit einer Arbeit über geschlechter-differentes Sprachverhalten, seit 1970 unterrichtete sie an der freien Uni-versität Vincennes. 1974 veröffentlichte sie ihre zweite – die philosophi-sche – Dissertation, Speculum de l’autre femme, was einen Wendepunkt inihrer Karriere bedeutete.3

Speculum wurde zu einem der wichtigsten Grundlagentexte feministi-scher Theoriebildung. In Speculum schreibt Irigaray gegen die abendländi-sche Denktradition an, die sie in ihrer um-, spiegel- und wiederschreiben-den Art als phallogozentrisch, als strukturiert nach einer Ordnung desGleichen mit dem männlichen Geschlecht und dem darauf gegründetenlogisch-rationalen Denken als absolutem Wertmaßstab bestimmt. Ziel derDurchquerung der abendländischen Denktradition ist ein Doppeltes: Zumeinen zeigt Irigaray die Mechanismen auf, mit denen Frauen aus der Logikder Diskurse ausgeschlossen werden, um von außen, als Spiegel oder „ver-kehrte Wiedergabe des Subjekts“ (Geschlecht, 80) deren Funktionierenzugleich zu garantieren. Zum anderen sucht sie in den verborgenen Gän-gen der Diskurse nach Orten, wo weibliche Gegenlogik aufbewahrt wird.Der Titel Speculum, Spiegel(-bild) – des Subjekts, aber auch der Welt(„speculum mundi“)4 und Instrument für gynäkologische Untersuchung,mit dem Verborgenes sichtbar wird, versinnbildlicht diese doppelte Denk-bewegung.begriff orientierte Spezifizierung von Irigarays Differenzbegriff entkräftetwerden, resultiert er doch aus einer Vermischung der unterschiedlichen

Begriffsinhalte.

Irigaray als Denkerin der Kontingenz zu verstehen ermöglicht darüberhinaus, ihre Position in der Theoriesituation der neunziger Jahre – in derdie Kontingenz des Geschlechtes diagnostiziert wird – genauer zu bestim-men. Wo siedelt sie die Möglichkeit von Kontingenz an, wo und wie suchtsie Kontingenz wiederzugewinnen und wo nicht?

Zuletzt soll Irigarays gesellschaftstheoretischer Entwurf einer Verwirk-lichung der sexuellen Differenz auf seine Implikationen hin befragt wer-den. Irigaray sieht die Herstellung einer ursprünglichen Situation von

Zweiheit vor, in der zwei in sich gänzlich verschiedene und untereinanderbezugslose Systeme eine neue Ethik, eine neue Kultur gründen würden.

Wie aber, so ist zu fragen, interagieren zwei bezugslose Systeme miteinan-der, wenn kein vermittelndes Drittes – wie eine gemeinsame Sprache – daist? Wie also ist Kommunikation möglich? Auf diese Frage könnte die Si-tuation der doppelten Kontingenz, wie sie in der Systemtheorie diskutiertwird, eine mögliche Antwort sein.

Doch bevor ich Irigaray anhand ausgewählter Textpartien als Denkerinder Kontingenz diskutieren werde, sollen einige Informationen zu ihrerbiographischen Situierung, ihrem wissenschaftlichen Werdegang und denwichtigsten Rezeptionslinien ihres Werks einen Überblick ermöglichen.

1. Von der Kritik an Differenz zum Entwurf von Differenz

Luce Irigaray wurde 1932 in Blaton in Belgien geboren. Ihre wissen-schaftliche Sozialisation ist beeindruckend: Sie hat zwei Doktorwürden,eine in Philosophie und eine in Linguistik, sie hat eine Licence in Philo-sophie und in Literaturwissenschaften, eine Licence in Psychologie undein Diplom in Psychopathologie und ist ausgebildete Psychoanalytikerin.

Darüber hinaus war und ist Irigaray politisch aktiv. Jüngst hat sie ihren

Entwurf eines geschlechterdifferenten Rechts dem Europäischen Parla-ment zur Ratifikation eingereicht.2

1955 schloss Irigaray ihre Studien an der Universität Löwen (Belgien)ab und unterrichtete danach in Brüssel. In den frühen sechziger Jahrenzog sie nach Paris, wo sie Psychologie mit Schwerpunkt Psychopathologiestudierte. Seit 1964 ist sie Mitglied des Centre National des RecherchesScientifiques in Paris, wo sie gegenwärtig die Position einer Forschungs-leiterin für Philosophie innehat.

Besonders wichtig für ihren wissenschaftlichen Werdegang war JacquesLacan, an dessen Pariser École freudienne sie sich zur Psychoanalytikerinausbildete. Neben den klassischen philosophischen Autoren und Fragestel-lungen, die Irigaray in ihren Selbstaussagen jeweils als ihren prägendstenwissenschaftlichen Hintergrund nennt, bietet ihr die strukturalistischePsychoanalyse Lacans nicht die einzige methodische Anregung des intel-lektuellen Paris der sechziger Jahre. Fruchtbar gemacht hat Irigaray inihrer eigenen Arbeit ebenfalls die dekonstruktive Literaturkritik JacquesDerridas sowie die historische Diskursanalyse Michel Foucaults.

1968 promovierte sie in Linguistik mit einer Arbeit über geschlechter-differentes Sprachverhalten, seit 1970 unterrichtete sie an der freien Uni-versität Vincennes. 1974 veröffentlichte sie ihre zweite – die philosophi-sche – Dissertation, Speculum de l’autre femme, was einen Wendepunkt inihrer Karriere bedeutete.3

Speculum wurde zu einem der wichtigsten Grundlagentexte feministi-scher Theoriebildung. In Speculum schreibt Irigaray gegen die abendländi-sche Denktradition an, die sie in ihrer um-, spiegel- und wiederschreiben-den Art als phallogozentrisch, als strukturiert nach einer Ordnung desGleichen mit dem männlichen Geschlecht und dem darauf gegründetenlogisch-rationalen Denken als absolutem Wertmaßstab bestimmt. Ziel derDurchquerung der abendländischen Denktradition ist ein Doppeltes: Zumeinen zeigt Irigaray die Mechanismen auf, mit denen Frauen aus der Logikder Diskurse ausgeschlossen werden, um von außen, als Spiegel oder „ver-kehrte Wiedergabe des Subjekts“ (Geschlecht, 80) deren Funktionierenzugleich zu garantieren. Zum anderen sucht sie in den verborgenen Gän-gen der Diskurse nach Orten, wo weibliche Gegenlogik aufbewahrt wird.Der Titel Speculum, Spiegel(-bild) – des Subjekts, aber auch der Welt(„speculum mundi“)4 und Instrument für gynäkologische Untersuchung,mit dem Verborgenes sichtbar wird, versinnbildlicht diese doppelte Denk-bewegung.

Ein Wendepunkt war Speculum für Irigaray aber auch, was ihre institu-tionelle Verankerung betraf: Sie verlor aufgrund ihrer provokativen The-sen ihre Stelle in Vincennes und damit zugleich ihre Lehrbefugnis inFrankreich, und sie wurde von Lacan aus seiner École freudienne aus-geschlossen. Dieser Karrierebruch war von tragischer Ironie, war es dochder beste Beleg für die Richtigkeit ihrer These: den Ausschluss einer diffe-renten weiblichen Position als Gesetzmäßigkeit des phallogozentrischenDiskurses.

Doch als feministische Denkerin wurde Irigaray nun auch internationalimmer bekannter. Viele ihrer Vortragsreihen sind inzwischen publiziertworden, oft auch Diskussionen ihrer Thesen in ihrer quasi-mündlichenGesprächsform, favorisiert doch Irigaray das Miteinandersprechen alsadäquate Form für die Vermittlung ihres Denkens. So präsentiert Ce sexe qui n’en est pas un von 19775zentrale Thesen aus Speculum in einer leich-ter zugänglichen Gesprächsform und diskutiert zugleich verschiedene, in-zwischen dagegen vorgebrachte Einwände. 1982 hatte Irigaray dann denLehrstuhl für Philosophie an der Universität Rotterdam inne; die dort ge-haltene Vorlesungsreihe ist als Éthique de la différence sexuelle 1984 publi-ziert worden.

Irigaray unterteilt retrospektiv ihre Arbeit in drei Phasen.6Die erstePhase nennt sie ihre kritischste, die sie durch die drei bisher genanntenPublikationen – Speculum, Geschlecht Ethik – und repräsentiert sieht. Ineiner zweiten Phase galt ihre Anstrengung vor allem den Bedingungen derMöglichkeit einer Definition eines wahrhaft anderen weiblichen Subjek-tes,7und in ihrer dritten und jetzigen Phase geht es um die Definitioneines neuen Beziehungsmodells, das eine hierarchiefreie Beziehung zwi-schen Mann und Frau ermöglichen würde. Diese späteren Texte geltenmehrheitlich einem geschlechterdifferenten Gesellschaftsentwurf und er-proben das Differenztheorem an institutionellen Diskursen wie Recht undReligion: Essere due , von 1994im Original auf Italienisch geschrieben undinzwischen in verschiedene Sprachen (nicht aber in Deutsch) übersetzt, istein typisches Beispiel dafür. Bei den auf Deutsch zugänglichen Werkenthematisieren vor allem Genealogie der Geschlechter Zurvon 1986, die in Geschlechterdifferenz versammelten Interviews und Vorträge, 1987 publi-ziert, Die Zeit der Differenz: Für eine friedliche Revolution, 1991, sowieIrigarays Gesprächsbeiträge in Der Atem von Frauen von 1997 diese The-men.8

In der Irigaray-Rezeption hat diese Wende von einer kritischen zu einerutopisch-affirmativen Haltung Kritik, gar „Entsetzen“9ausgelöst. Bei ge-nauerem Hinsehen aber wird evident, dass von einer Wende nicht dieRede sein kann, eher von einer Schwerpunktverlagerung. Denn „das Posi-tive“ ist von allem Anfang an präsent, und in ihren ersten Texten findensich auch schon verschiedene Entwürfe, wie eine weibliche Subjektposi-tion und wie ein geschlechterdifferentes Miteinander aussehen könnten.Die Veränderung von den frühen zu den späteren Texten betrifft damitnicht Irigarays grundsätzliche Position, wohl aber die konkreten Unter-suchungsgegenstände und die Gewichtung des „Positive[n]“, was sich auchstilistisch in einem emphatischeren Redegestus niederschlägt.

In der in den späten siebziger Jahren einsetzenden anglo-amerikani-schen Rezeption wurde Irigaray vor allem als Sprachtheoretikerin gele-sen, und zwar zusammen mit Hélène Cixous und Julia Kristeva.10Stilbil-dend für diese Rezeptionslinie wirkten der Reader von Elaine Marks undIsabelle de Courtviron New French Feminism von 1980 und Toril Mois vielgelesenes Sexual/Textual Politics von 1985.11Beide Bücher vermitteltendie drei so genannten „french feminists“ als einheitliche Gruppe, die ge-meinsam eine „écriture féminine“ begründen würde, deren Grundlage derweibliche Körper sei. Diese Sichtweise prägte auch die deutschsprachigeRezeption, und erst mit der Zeit wurde wahrgenommen, dass die Diffe-

Ein Wendepunkt war Speculum für Irigaray aber auch, was ihre institu-tionelle Verankerung betraf: Sie verlor aufgrund ihrer provokativen The-sen ihre Stelle in Vincennes und damit zugleich ihre Lehrbefugnis inFrankreich, und sie wurde von Lacan aus seiner École freudienne aus-geschlossen. Dieser Karrierebruch war von tragischer Ironie, war es dochder beste Beleg für die Richtigkeit ihrer These: den Ausschluss einer diffe-renten weiblichen Position als Gesetzmäßigkeit des phallogozentrischenDiskurses.

Doch als feministische Denkerin wurde Irigaray nun auch internationalimmer bekannter. Viele ihrer Vortragsreihen sind inzwischen publiziertworden, oft auch Diskussionen ihrer Thesen in ihrer quasi-mündlichenGesprächsform, favorisiert doch Irigaray das Miteinandersprechen alsadäquate Form für die Vermittlung ihres Denkens. So präsentiert Ce sexe qui n’en est pas un von 19775zentrale Thesen aus Speculum in einer leich-ter zugänglichen Gesprächsform und diskutiert zugleich verschiedene, in-zwischen dagegen vorgebrachte Einwände. 1982 hatte Irigaray dann denLehrstuhl für Philosophie an der Universität Rotterdam inne; die dort ge-haltene Vorlesungsreihe ist als Éthique de la différence sexuelle 1984 publi-ziert worden.

Irigaray unterteilt retrospektiv ihre Arbeit in drei Phasen.6Die erstePhase nennt sie ihre kritischste, die sie durch die drei bisher genanntenPublikationen – Speculum, Geschlecht Ethik – und repräsentiert sieht. Ineiner zweiten Phase galt ihre Anstrengung vor allem den Bedingungen derMöglichkeit einer Definition eines wahrhaft anderen weiblichen Subjek-tes,7und in ihrer dritten und jetzigen Phase geht es um die Definitioneines neuen Beziehungsmodells, das eine hierarchiefreie Beziehung zwi-schen Mann und Frau ermöglichen würde. Diese späteren Texte geltenmehrheitlich einem geschlechterdifferenten Gesellschaftsentwurf und er-proben das Differenztheorem an institutionellen Diskursen wie Recht undReligion: Essere due , von 1994im Original auf Italienisch geschrieben undinzwischen in verschiedene Sprachen (nicht aber in Deutsch) übersetzt, istein typisches Beispiel dafür. Bei den auf Deutsch zugänglichen Werkenthematisieren vor allem Genealogie der Geschlechter Zurvon 1986, die in Geschlechterdifferenz versammelten Interviews und Vorträge, 1987 publi-ziert, Die Zeit der Differenz: Für eine friedliche Revolution, 1991, sowieIrigarays Gesprächsbeiträge in Der Atem von Frauen von 1997 diese The-men.8

In der Irigaray-Rezeption hat diese Wende von einer kritischen zu einerutopisch-affirmativen Haltung Kritik, gar „Entsetzen“9ausgelöst. Bei ge-nauerem Hinsehen aber wird evident, dass von einer Wende nicht dieRede sein kann, eher von einer Schwerpunktverlagerung. Denn „das Posi-tive“ ist von allem Anfang an präsent, und in ihren ersten Texten findensich auch schon verschiedene Entwürfe, wie eine weibliche Subjektposi-tion und wie ein geschlechterdifferentes Miteinander aussehen könnten.Die Veränderung von den frühen zu den späteren Texten betrifft damitnicht Irigarays grundsätzliche Position, wohl aber die konkreten Unter-suchungsgegenstände und die Gewichtung des „Positive[n]“, was sich auchstilistisch in einem emphatischeren Redegestus niederschlägt.

In der in den späten siebziger Jahren einsetzenden anglo-amerikani-schen Rezeption wurde Irigaray vor allem als Sprachtheoretikerin gele-sen, und zwar zusammen mit Hélène Cixous und Julia Kristeva.10Stilbil-dend für diese Rezeptionslinie wirkten der Reader von Elaine Marks undIsabelle de Courtviron New French Feminism von 1980 und Toril Mois vielgelesenes Sexual/Textual Politics von 1985.11Beide Bücher vermitteltendie drei so genannten „french feminists“ als einheitliche Gruppe, die ge-meinsam eine „écriture féminine“ begründen würde, deren Grundlage derweibliche Körper sei. Diese Sichtweise prägte auch die deutschsprachigeRezeption, und erst mit der Zeit wurde wahrgenommen, dass die Diffe-renzen zwischen Cixous, Irigaray und Kristeva die Gemeinsamkeiten

überwiegen dürften. Doch während Kristeva schon bald als eigenständige

Denkerin rezipiert wurde, erwies sich die rezeptionsgeschichtliche Fusionvon Cixous und Irigaray als hartnäckiger. Die lang anhaltende Essentialis-musdiskussion über Irigaray ist unter anderem Effekt dieser Überblen-dung mit den Schriften von Cixous.12

Gegen eine zweite, ebenfalls über die Rezeption gestiftete weibliche

Traditionslinie hat sich Irigaray jüngst explizit gewendet: „I’m not adaughter of Simone de Beauvoir.“ Ihre Auffassung des „autre sexe“ alseiner echten Zweiheit sei kategorial verschieden von Beauvoirs „deu-xième sexe“, das sich ableite, verpflichtet bleibe. Zu dieser scharfen

Absage an eine weibliche Genealogie – notabene ein wichtiges Thema in

Irigarays eigenem gesellschaftstheoretischem Werk – hat auch eine per-sönliche Enttäuschung beigetragen: Beauvoir hatte Irigaray auf die Über-sendung von Speculum nicht geantwortet (Hirsh/Olson, 15).13

2. Kontingenz und Differenz: Begriffsvoraussetzungen

Kontingent ist, so lautet in etwa der gemeinsame Nenner der unter-schiedlichen Begriffsdefinitionen, was weder notwendig noch unmöglichist, was auch anders möglich oder nicht sein könnte und zufällig so ist, wiees ist. Kontingenz, so Hans Blumenberg, „bedeutet die Beurteilung der

Wirklichkeit vom Standpunkt der Notwendigkeit und der Möglichkeither“.14Eine Vielzahl von über Kontingenz nachdenkenden Wissenschaft-lern geht davon aus, dass die Kontingenzerfahrung eine Geschichte habe,die sich – so der Tenor des Kontingenz-Poetik und Her-Bandes der Reihe meneutik – als Geschichte eines zunehmenden Kontingenzbewusstseinsschreiben lasse, die ihre Klimax in der Moderne erreiche. Als Reflexions-kategorie wissenschaftlicher Beschreibung dagegen hat der Begriff der

Kontingenz seine Konjunktur in der Postmoderne, wobei vor allem die

Systemtheorie Niklas Luhmanns für seine Breitenwirkung sorgte.15Ety-mologisch leitet sich der Begriff vom lateinischen contingentia und „con-tingere“ her, was wörtlich „zusammen (sich) berühren“ respektive „zu-(sammen)fallen“ heißt, woraus sich „Zufall“ und „Zufälligkeit“ ableitenlassen, Begriffe, die die deutschsprachige Kontingenztradition seit Kantdominierten.16

Differenz dagegen bezeichnet ganz allgemein die Folge der logischenOperation des Unterscheidens von Dingen, Lebewesen, Werten oderSachverhalten, die auch etwas gemeinsam haben. „Diaphorà“ unterschie-den nennt Aristoteles, „was anders ist und doch etwas gleich hat, nichtnur der Zahl, sondern auch der Art oder der Gattung oder einem Ver-hältnis nach“.17Diese Operation des Unterscheidens kann sich sowohlauf ein Paar, also auf das Verhältnis des Einen zum Anderen, als auch aufdie Differenz des Einen zum Vielen beziehen. Im Deutschen Idealismus,insbesondere bei Hegel und Fichte, hat sich dann endgültig jene identi-tätslogische Ausrichtung des Differenzbegriffs etabliert, dem vor allemdie Kritik der – mit Heinz Kimmerle – „neuen“ Philosophie der Diffe-renz18gilt, die am wirkungsmächtigsten von Jacques Derrida formuliertworden ist.

Irigarays in den siebziger Jahren des 20.Jahrhunderts entwickelte Diffe-renzphilosophie steht nun zweifellos auch im Kontext von Derridas Den-ken der Differenz/Differänz, die sich die Doppeldeutung des französi-schen Verbs „différer“ („sich unterscheiden“, aber auch „aufschieben“) zuNutze macht und gegen den identitätslogischen Differenzbegriff auf dergraphematisch kenntlich gemachten „différance“ (im Deutschen gewöhn-lich als „Differänz“ wiedergegeben) besteht, als einem unabschließbarenrenzen zwischen Cixous, Irigaray und Kristeva die Gemeinsamkeiten

überwiegen dürften. Doch während Kristeva schon bald als eigenständige

Denkerin rezipiert wurde, erwies sich die rezeptionsgeschichtliche Fusionvon Cixous und Irigaray als hartnäckiger. Die lang anhaltende Essentialis-musdiskussion über Irigaray ist unter anderem Effekt dieser Überblen-dung mit den Schriften von Cixous.12

Gegen eine zweite, ebenfalls über die Rezeption gestiftete weibliche

Traditionslinie hat sich Irigaray jüngst explizit gewendet: „I’m not adaughter of Simone de Beauvoir.“ Ihre Auffassung des „autre sexe“ alseiner echten Zweiheit sei kategorial verschieden von Beauvoirs „deu-xième sexe“, das sich ableite, verpflichtet bleibe. Zu dieser scharfen

Absage an eine weibliche Genealogie – notabene ein wichtiges Thema in

Irigarays eigenem gesellschaftstheoretischem Werk – hat auch eine per-sönliche Enttäuschung beigetragen: Beauvoir hatte Irigaray auf die Über-sendung von Speculum nicht geantwortet (Hirsh/Olson, 15).13

2. Kontingenz und Differenz: Begriffsvoraussetzungen

Kontingent ist, so lautet in etwa der gemeinsame Nenner der unter-schiedlichen Begriffsdefinitionen, was weder notwendig noch unmöglichist, was auch anders möglich oder nicht sein könnte und zufällig so ist, wiees ist. Kontingenz, so Hans Blumenberg, „bedeutet die Beurteilung der

Wirklichkeit vom Standpunkt der Notwendigkeit und der Möglichkeither“.14Eine Vielzahl von über Kontingenz nachdenkenden Wissenschaft-lern geht davon aus, dass die Kontingenzerfahrung eine Geschichte habe,die sich – so der Tenor des Kontingenz-Poetik und Her-Bandes der Reihe meneutik – als Geschichte eines zunehmenden Kontingenzbewusstseinsschreiben lasse, die ihre Klimax in der Moderne erreiche. Als Reflexions-kategorie wissenschaftlicher Beschreibung dagegen hat der Begriff der

Kontingenz seine Konjunktur in der Postmoderne, wobei vor allem die

Systemtheorie Niklas Luhmanns für seine Breitenwirkung sorgte.15Ety-mologisch leitet sich der Begriff vom lateinischen contingentia und „con-tingere“ her, was wörtlich „zusammen (sich) berühren“ respektive „zu-(sammen)fallen“ heißt, woraus sich „Zufall“ und „Zufälligkeit“ ableitenlassen, Begriffe, die die deutschsprachige Kontingenztradition seit Kantdominierten.16

Differenz dagegen bezeichnet ganz allgemein die Folge der logischenOperation des Unterscheidens von Dingen, Lebewesen, Werten oderSachverhalten, die auch etwas gemeinsam haben. „Diaphorà“ unterschie-den nennt Aristoteles, „was anders ist und doch etwas gleich hat, nichtnur der Zahl, sondern auch der Art oder der Gattung oder einem Ver-hältnis nach“.17Diese Operation des Unterscheidens kann sich sowohlauf ein Paar, also auf das Verhältnis des Einen zum Anderen, als auch aufdie Differenz des Einen zum Vielen beziehen. Im Deutschen Idealismus,insbesondere bei Hegel und Fichte, hat sich dann endgültig jene identi-tätslogische Ausrichtung des Differenzbegriffs etabliert, dem vor allemdie Kritik der – mit Heinz Kimmerle – „neuen“ Philosophie der Diffe-renz18gilt, die am wirkungsmächtigsten von Jacques Derrida formuliertworden ist.

Irigarays in den siebziger Jahren des 20.Jahrhunderts entwickelte Diffe-renzphilosophie steht nun zweifellos auch im Kontext von Derridas Den-ken der Differenz/Differänz, die sich die Doppeldeutung des französi-schen Verbs „différer“ („sich unterscheiden“, aber auch „aufschieben“) zuNutze macht und gegen den identitätslogischen Differenzbegriff auf dergraphematisch kenntlich gemachten „différance“ (im Deutschen gewöhn-lich als „Differänz“ wiedergegeben) besteht, als einem unabschließbarenProzess des Aufschiebens und Verweisens, der selbst ohne Zentrum undfesten Grund ist.19

Doch auch wenn Berührungspunkte zwischen Derridas und Irigarays

Differenzphilosophie bestehen und sie in ihrer Kritik der identitätslogi-schen Begriffstradition übereinstimmen, so sind sie in einem Punkt sehrvoneinander zu unterscheiden: Während Derridas Differänzbegriff jede

Figur des Ursprungs verneint, so beruht der von Irigaray entworfene Dif-ferenzbegriff auf einer ursprünglichen Zweiheit. Erst in Ableitung vondiesem Axiom, das heißt erst in den konkreten Füllungen und Darstellun-gen der Kategorien findet sich dann auch bei Irigaray ein Fließen von

Strukturen und Bedeutungen, die Derridas Denken der Differänz entspre-chen.20

Wie Irigaray ihre Differenzbegriffe gewinnt, soll im Folgenden vorallem an ihrer Bestimmung der Geschlechterdifferenz und an ihrensprachphilosophischen Thesen gezeigt werden.

3. Diskursives Versicherungswesen

Im Zentrum von Irigarays Kritik in Speculum stehen die Diskurse der

Philosophie und der Psychoanalyse, die sie als solche ansieht, die die Kon-tingenz der Welt21in eine androzentrische Notwendigkeit umgedeutet undandere Möglichkeiten systematisch ausgeschlossen haben. Bei diesen

Möglichkeiten setzt Irigaray nochmals an. Ausgeschlossen worden ist, sodie Diagnose, der Ort des Weiblichen, und dies auf allen Ebenen: im Ima-ginären, das heißt in den kulturellen Vorstellungen, die unseren Symbol-systemen zugrunde liegen, in der symbolischen Ordnung selbst, insbeson-dere der Sprache, aber auch in den Institutionen wie Recht, Religion oder

Wissenschaft, sowie in den realen Handlungspraxen quer durch die Sozial-geschichte.

Diesen verloren gegangenen Ort des Weiblichen sucht Irigaray über den

„Umweg“ der Analyse der „Funktionsweise der Logik des Diskurses“

(Geschlecht, 167 f.) wiederzugewinnen. Mit Foucault geht sie davon aus,dass Diskurse als geregelte Menge von Aussagen die Ordnung des Wissensrepräsentieren und deren Geltung garantieren. Als eine Art von Superdis-kurs betrachtet Irigaray dabei den philosophischen Diskurs, „[…] insoferner den Diskurs der Diskurse konstituiert“ (Geschlecht, 76).

In Die Macht des Diskurses fragt Irigaray nach den Bedingungen derMöglichkeit dieser Macht und kommt zum Schluss, dass sich diese Domi-nanz vor allem dem Vermögen verdankt, „alles Andere in die Ökonomie des Gleichen zurückzuführen “ (ebd.).22Diese Ökonomie ist darauf ausge-richtet, sich in der Wiederholung des Gleichen ihrer selbst zu versichern:In Irigarays Lektüre erscheinen Philosophie, aber auch Teile der Psycho-analyse als Versicherungswesen des Patriarchats. In einer Ausweitung vonHermann Lübbes Versicherungsthese lässt sich sagen, dass Irigaray denphilosophischen und psychoanalytischen Diskurs als institutionalisierteKontingenzbewältigungspraxen des Phallogozentrismus definiert.23Diesestarke These beruht nicht zuletzt auf Irigarays Textauswahl. In Speculum untersucht sie – neben den psychoanalytischen Klassikern Freud undLacan – die traditionellen Vertreter des philosophischen Kanons: Aristote-les, Platon, Plotin, Descartes, Kant und Hegel. Querdenker, die der Ord-nung des Gleichen nicht subsumierbar wären – wie beispielsweise Schel-ling und seine frühromantische Zusammenschau des Differenten –, fehlen.

Diese Ordnung des Gleichen organisiert, laut Irigaray, auch und vorallem die Differenz der Geschlechter, die sie nicht als echte Differenz,sondern nur als „das ANDERE des GLEICHEN“ (Geschlecht, 102) zu-lässt. Insofern beschreiben die psychoanalytischen Theoriemodelle Freudsund Lacans das Verhältnis der Geschlechter und den Status der weib-lichen Sexualität treffend:

„Die Psychoanalyse hält über die weibliche Sexualität den Diskurs derWahrheit. Einen Diskurs, der das Wahre über die Logik der Wahrheit sagt:nämlich, daß das Weibliche in ihr nur im Inneren von Modellen und Geset- zen vorkommt, die von männlichen Subjekten verordnet sind. Was impli-ziert, daß nicht wirklich zwei Geschlechter existieren, sondern nur ein ein-ziges“ (Geschlecht, 89).

Prozess des Aufschiebens und Verweisens, der selbst ohne Zentrum undfesten Grund ist.19

Doch auch wenn Berührungspunkte zwischen Derridas und Irigarays

Differenzphilosophie bestehen und sie in ihrer Kritik der identitätslogi-schen Begriffstradition übereinstimmen, so sind sie in einem Punkt sehrvoneinander zu unterscheiden: Während Derridas Differänzbegriff jede

Figur des Ursprungs verneint, so beruht der von Irigaray entworfene Dif-ferenzbegriff auf einer ursprünglichen Zweiheit. Erst in Ableitung vondiesem Axiom, das heißt erst in den konkreten Füllungen und Darstellun-gen der Kategorien findet sich dann auch bei Irigaray ein Fließen von

Strukturen und Bedeutungen, die Derridas Denken der Differänz entspre-chen.20

Wie Irigaray ihre Differenzbegriffe gewinnt, soll im Folgenden vorallem an ihrer Bestimmung der Geschlechterdifferenz und an ihrensprachphilosophischen Thesen gezeigt werden.

3. Diskursives Versicherungswesen

Im Zentrum von Irigarays Kritik in Speculum stehen die Diskurse der

Philosophie und der Psychoanalyse, die sie als solche ansieht, die die Kon-tingenz der Welt21in eine androzentrische Notwendigkeit umgedeutet undandere Möglichkeiten systematisch ausgeschlossen haben. Bei diesen

Möglichkeiten setzt Irigaray nochmals an. Ausgeschlossen worden ist, sodie Diagnose, der Ort des Weiblichen, und dies auf allen Ebenen: im Ima-ginären, das heißt in den kulturellen Vorstellungen, die unseren Symbol-systemen zugrunde liegen, in der symbolischen Ordnung selbst, insbeson-dere der Sprache, aber auch in den Institutionen wie Recht, Religion oder

Wissenschaft, sowie in den realen Handlungspraxen quer durch die Sozial-geschichte.

Diesen verloren gegangenen Ort des Weiblichen sucht Irigaray über den

„Umweg“ der Analyse der „Funktionsweise der Logik des Diskurses“

(Geschlecht, 167 f.) wiederzugewinnen. Mit Foucault geht sie davon aus,dass Diskurse als geregelte Menge von Aussagen die Ordnung des Wissensrepräsentieren und deren Geltung garantieren. Als eine Art von Superdis-kurs betrachtet Irigaray dabei den philosophischen Diskurs, „[…] insoferner den Diskurs der Diskurse konstituiert“ (Geschlecht, 76).

In Die Macht des Diskurses fragt Irigaray nach den Bedingungen derMöglichkeit dieser Macht und kommt zum Schluss, dass sich diese Domi-nanz vor allem dem Vermögen verdankt, „alles Andere in die Ökonomie des Gleichen zurückzuführen “ (ebd.).22Diese Ökonomie ist darauf ausge-richtet, sich in der Wiederholung des Gleichen ihrer selbst zu versichern:In Irigarays Lektüre erscheinen Philosophie, aber auch Teile der Psycho-analyse als Versicherungswesen des Patriarchats. In einer Ausweitung vonHermann Lübbes Versicherungsthese lässt sich sagen, dass Irigaray denphilosophischen und psychoanalytischen Diskurs als institutionalisierteKontingenzbewältigungspraxen des Phallogozentrismus definiert.23Diesestarke These beruht nicht zuletzt auf Irigarays Textauswahl. In Speculum untersucht sie – neben den psychoanalytischen Klassikern Freud undLacan – die traditionellen Vertreter des philosophischen Kanons: Aristote-les, Platon, Plotin, Descartes, Kant und Hegel. Querdenker, die der Ord-nung des Gleichen nicht subsumierbar wären – wie beispielsweise Schel-ling und seine frühromantische Zusammenschau des Differenten –, fehlen.

Diese Ordnung des Gleichen organisiert, laut Irigaray, auch und vorallem die Differenz der Geschlechter, die sie nicht als echte Differenz,sondern nur als „das ANDERE des GLEICHEN“ (Geschlecht, 102) zu-lässt. Insofern beschreiben die psychoanalytischen Theoriemodelle Freudsund Lacans das Verhältnis der Geschlechter und den Status der weib-lichen Sexualität treffend:

„Die Psychoanalyse hält über die weibliche Sexualität den Diskurs derWahrheit. Einen Diskurs, der das Wahre über die Logik der Wahrheit sagt:nämlich, daß das Weibliche in ihr nur im Inneren von Modellen und Geset- zen vorkommt, die von männlichen Subjekten verordnet sind. Was impli-ziert, daß nicht wirklich zwei Geschlechter existieren, sondern nur ein ein-ziges“ (Geschlecht, 89).

Diese Logik des Diskurses nun durchquert Irigaray in ihren Arbeitenneu, um sowohl deren Funktionsweise aufzudecken als auch „ihre nochwirkungslosen Implikationen zu entfalten“ (ebd.). Dazu gilt es zu klären,wie der phallogozentrische Diskurs das weibliche Geschlecht definiert. Iri-garay ortet das Weibliche als Spiegel des männlichen Subjekts: „als Man-gel, als Fehlen, oder als Mime und verkehrte Wiedergabe des Subjekts“

(Geschlecht, 80). Als Mangelwesen ist das Weibliche an die Peripherie der

Diskursproduktion abgeschoben und damit zugleich sowohl von Aktivitätausgeschlossen als auch in das System eingebunden. Denn als Kehrseiteund Spiegelbild übernimmt das Weibliche eine wichtige Funktion im dis-kursiven Versicherungswesen. Als ein Beispiel dafür beschreibt Irigaray

Freuds These des weiblichen Penisneides: „Denn wenn ihr Begehren sichlediglich als ‘Penisneid’ ausdrücken kann, dann steht fest, daß er einen

Penis hat“ (Speculum, 62). Es ist diese Konstruktion des Komplementären,die das Funktionieren des androzentrischen Logos ermöglicht. Als Bild fürdiese Funktion des Weiblichen steht in Irigarays Analyse der Spiegel.

Damit überträgt sie die Spiegelmetapher, die Lacan in seinem stilbilden-den Aufsatz Das Spiegelbild als Bildner der Ichfunktion von 1949 alswesentlich für die Subjektkonstitution entwickelt hat, auf die Subjekt-Ob-jekt-Konstitution der Geschlechter im Patriarchat: Das männliche Subjektist qua Spiegelung im weiblichen Objekt, das es sich als Anderes seinerselbst gegenübergestellt hat. Folge dieser Konstellation ist, dass nur ein

Subjekt existieren kann: das männliche.

„Spiegelung und Spekulation“ (Speculum, 328) erweisen sich damit alszentrale Verfahren der Kontingenzbewältigung und zugleich als wirksame

Strategien androzentrischer Machterhaltung. Doch bei dieser Diagnosebleibt Irigaray nicht stehen. Ihr geht es darum, das Kontingente wiederzu-gewinnen. Dazu sucht sie jene Systemorte auf, wo der Prozess der Kontin-genzbewältigung im Diskurs repräsentiert ist, um durch eine spielerische

Wiederholung die Möglichkeiten erscheinen zu lassen, die dabei ausge-schlossen worden waren.

4. Repräsentation von Kontingenzbewältigung

Als einen dieser Systemorte, in denen der Ausschluss des Kontingentenrepräsentiert wird, liest Irigaray Platons Höhlengleichnis aus dem siebten

Buch der Politeia.24Irigarays Platon-Lektüre trifft sich damit mit dem Be-ginn der Meta-Erzählung über die Geschichte des Kontingenzbewusst-seins, wie sie im KontingenzPoetik und Hermeneutik -Band der Reihe von1998 vertreten wird. Doch während diese Autoren von einer Entwicklungausgehen, die sich als Geschichte eines zunehmenden Kontingenzbewusst-seins schreiben lässt, die ihren Anfang nimmt bei den in einer Welt „abso-luter Notwendigkeit“ lebenden und das Kontingente nicht wahrnehmen-den Griechen, ihre Mitte in der „Kontingenzkultur“ der Neuzeit findetund ihre „Kulminationsphase“ in der Moderne erreicht,25diagnostiziertIrigaray die Wiederholung des Immergleichen im Beziehungsdreieck vonWirklichkeit, Notwendigkeit und Möglichkeit. Insofern sich bei Platoneine frühe und wirkungsmächtige Ausformulierung dieser Repräsentationder Kontingenzbewältigung befindet, nimmt das Höhlengleichnis in Iriga-rays Denken eine prototypische Funktion ein. Dies insbesondere, was dieKonzeption von Sprache anbelangt.

Die herrschende Sprache ist gemäß Irigarays Positionierung des Diskur-ses der Diskurse die philosophische. Und diese zeichnet sich dadurch aus,dass sie Begriffe definiert, um Klarheit bemüht ist und versucht, Kom-plexität so zu reduzieren, dass eindeutiges Verstehen möglich wird. Für Iri-garay sind all dies Merkmale der Ordnung des Gleichen, die der unge-formten Materie ihre Repräsentation aufzwingt. Sichtbar ist dies in derhierarchisch-starren Form der Grammatik, etwa dem Regelwerk der Syn-tax, dem Sprache unterworfen ist.

Diese Hierarchisierung von Sprachform und Materie ist im Höhlen-gleichnis in einem erzählten „wunderliche[n] Bild“ (Politeia, 515a) auf-bewahrt und wird gemäß Irigarays Lesart als „Vorspiegelung eines alstranszendental bezeichneten Ortes eingeführt, eines transzendentalen Si-gnifikanten, der den Diskurs beherrschen, übersteigen und garantierenwird“ (Speculum, 323 f.). Bekanntlich werden vor den in der Höhle an„Hals und Schenkeln“ gefesselten Gefangenen Geräte vorbeigetragen,von denen diese aufgrund spezifischer Gegebenheiten nur die Schattenauf der Höhlenwand sehen können und diese Schatten darum für das„Wahre“ halten und ihnen zwangsläufig auch das von der Höhlenwand re-flektierte Echo der von den „Vorübergehenden“ geführten Unterhaltungzuordnen müssen (Politeia, 514a, 515c, b). Irigarays Lesart führt die beiPlaton in der näheren Bestimmung der Gefangenen als „[u]ns ganz ähn-liche“ (Politeia, 515a) angelegte Allegorie aus und fokussiert dabei auf dieSprache: „Gefesselt wie wir, dem Ursprung den Rücken zukehrend, denBlick nach vorn gewendet. Vor allem aufgrund einer bestimmten Sprache,Diese Logik des Diskurses nun durchquert Irigaray in ihren Arbeitenneu, um sowohl deren Funktionsweise aufzudecken als auch „ihre nochwirkungslosen Implikationen zu entfalten“ (ebd.). Dazu gilt es zu klären,wie der phallogozentrische Diskurs das weibliche Geschlecht definiert. Iri-garay ortet das Weibliche als Spiegel des männlichen Subjekts: „als Man-gel, als Fehlen, oder als Mime und verkehrte Wiedergabe des Subjekts“

(Geschlecht, 80). Als Mangelwesen ist das Weibliche an die Peripherie der

Diskursproduktion abgeschoben und damit zugleich sowohl von Aktivitätausgeschlossen als auch in das System eingebunden. Denn als Kehrseiteund Spiegelbild übernimmt das Weibliche eine wichtige Funktion im dis-kursiven Versicherungswesen. Als ein Beispiel dafür beschreibt Irigaray

Freuds These des weiblichen Penisneides: „Denn wenn ihr Begehren sichlediglich als ‘Penisneid’ ausdrücken kann, dann steht fest, daß er einen

Penis hat“ (Speculum, 62). Es ist diese Konstruktion des Komplementären,die das Funktionieren des androzentrischen Logos ermöglicht. Als Bild fürdiese Funktion des Weiblichen steht in Irigarays Analyse der Spiegel.

Damit überträgt sie die Spiegelmetapher, die Lacan in seinem stilbilden-den Aufsatz Das Spiegelbild als Bildner der Ichfunktion von 1949 alswesentlich für die Subjektkonstitution entwickelt hat, auf die Subjekt-Ob-jekt-Konstitution der Geschlechter im Patriarchat: Das männliche Subjektist qua Spiegelung im weiblichen Objekt, das es sich als Anderes seinerselbst gegenübergestellt hat. Folge dieser Konstellation ist, dass nur ein

Subjekt existieren kann: das männliche.

„Spiegelung und Spekulation“ (Speculum, 328) erweisen sich damit alszentrale Verfahren der Kontingenzbewältigung und zugleich als wirksame

Strategien androzentrischer Machterhaltung. Doch bei dieser Diagnosebleibt Irigaray nicht stehen. Ihr geht es darum, das Kontingente wiederzu-gewinnen. Dazu sucht sie jene Systemorte auf, wo der Prozess der Kontin-genzbewältigung im Diskurs repräsentiert ist, um durch eine spielerische

Wiederholung die Möglichkeiten erscheinen zu lassen, die dabei ausge-schlossen worden waren.

4. Repräsentation von Kontingenzbewältigung

Als einen dieser Systemorte, in denen der Ausschluss des Kontingentenrepräsentiert wird, liest Irigaray Platons Höhlengleichnis aus dem siebten

Buch der Politeia.24Irigarays Platon-Lektüre trifft sich damit mit dem Be-ginn der Meta-Erzählung über die Geschichte des Kontingenzbewusst-seins, wie sie im KontingenzPoetik und Hermeneutik -Band der Reihe von1998 vertreten wird. Doch während diese Autoren von einer Entwicklungausgehen, die sich als Geschichte eines zunehmenden Kontingenzbewusst-seins schreiben lässt, die ihren Anfang nimmt bei den in einer Welt „abso-luter Notwendigkeit“ lebenden und das Kontingente nicht wahrnehmen-den Griechen, ihre Mitte in der „Kontingenzkultur“ der Neuzeit findetund ihre „Kulminationsphase“ in der Moderne erreicht,25diagnostiziertIrigaray die Wiederholung des Immergleichen im Beziehungsdreieck vonWirklichkeit, Notwendigkeit und Möglichkeit. Insofern sich bei Platoneine frühe und wirkungsmächtige Ausformulierung dieser Repräsentationder Kontingenzbewältigung befindet, nimmt das Höhlengleichnis in Iriga-rays Denken eine prototypische Funktion ein. Dies insbesondere, was dieKonzeption von Sprache anbelangt.

Die herrschende Sprache ist gemäß Irigarays Positionierung des Diskur-ses der Diskurse die philosophische. Und diese zeichnet sich dadurch aus,dass sie Begriffe definiert, um Klarheit bemüht ist und versucht, Kom-plexität so zu reduzieren, dass eindeutiges Verstehen möglich wird. Für Iri-garay sind all dies Merkmale der Ordnung des Gleichen, die der unge-formten Materie ihre Repräsentation aufzwingt. Sichtbar ist dies in derhierarchisch-starren Form der Grammatik, etwa dem Regelwerk der Syn-tax, dem Sprache unterworfen ist.

Diese Hierarchisierung von Sprachform und Materie ist im Höhlen-gleichnis in einem erzählten „wunderliche[n] Bild“ (Politeia, 515a) auf-bewahrt und wird gemäß Irigarays Lesart als „Vorspiegelung eines alstranszendental bezeichneten Ortes eingeführt, eines transzendentalen Si-gnifikanten, der den Diskurs beherrschen, übersteigen und garantierenwird“ (Speculum, 323 f.). Bekanntlich werden vor den in der Höhle an„Hals und Schenkeln“ gefesselten Gefangenen Geräte vorbeigetragen,von denen diese aufgrund spezifischer Gegebenheiten nur die Schattenauf der Höhlenwand sehen können und diese Schatten darum für das„Wahre“ halten und ihnen zwangsläufig auch das von der Höhlenwand re-flektierte Echo der von den „Vorübergehenden“ geführten Unterhaltungzuordnen müssen (Politeia, 514a, 515c, b). Irigarays Lesart führt die beiPlaton in der näheren Bestimmung der Gefangenen als „[u]ns ganz ähn-liche“ (Politeia, 515a) angelegte Allegorie aus und fokussiert dabei auf dieSprache: „Gefesselt wie wir, dem Ursprung den Rücken zukehrend, denBlick nach vorn gewendet. Vor allem aufgrund einer bestimmten Sprache,bestimmter Sprachnormen, die man, zum Beispiel, Verkettung nennt“(Speculum, 325).

Irigaray liest das Höhlengleichnis als Allegorie der Sprachkonzeption,die auf Fesselung respektive „Verkettung“, auf Zwang, Täuschung undSpiegelungen beruht und letztlich durch einen transzendentalen Signifi-kanten garantiert wird, von dem die Eingeweihten, die Philosophen, zu er-zählen wissen:

„Eine ganze Sprachkonzeption macht an diesem Punkt die Illusioneiner besonderen Metaphorik fest – oder läuft auf sie hinaus –, die Illusioneiner Metametaphorik, die durch das Vorherrschen einer Wahrheit postu-liert wird, die im voraus über den Ablauf der Unterhaltung, der Interven-tionen entscheidetSpeculum“ (, 328f.).

Durch eine psychoanalytische Lektürehaltung bringt nun Irigaray dasWeibliche ins Spiel. Sie liest die Höhle nicht nur als „Nachbild der Welt“(Speculum, 306), sondern auch als – schon in den platonischen Dialogenangelegte26– Topographie des Weiblichen und Mütterlichen. Irigaray ana-logisiert die Höhle mit der mütterlichen Materie, der im Namen des laca-nianischen Gesetzes des Vaters, repräsentiert in der platonischen Idee, dieRessourcen für die Sprache entzogen werden. Das formlose Weibliche istsomit nur noch als Verdrängtes in den Zwischenräumen der Sprache les-bar. Während sich die platonische Erzählung ausschließlich um die Dar-stellung der Formen und Schatten kümmert, legt Irigaray Wert darauf,dass diese nur dank dem materialen Höhlengrund erscheinen können: DasHöhlengleichnis betreibt die systematische Ausschließung des „physikali-sche[n] Erbgut[es] der Mutter“ (Speculum, 403) und die männliche Ver-einnahmung des Gebärens als einer Geburt der Sprache.

Gemäß Irigarays Lektüre ist damit im Höhlengleichnis nicht nur dieErinnerung an die Sprachwerdung als Umgestaltung der formlosen Mate-rie bewahrt, sondern auch diejenige an einen ursprünglichen Mutter-mord, den Irigaray in einer alternativen psychoanalytischen Ursprungs-erzählung lange vor der Freud’schen Tötung des Vaters durch die Ur-horde ansetzt. Da die Sprache diesen ursprünglichen Muttermord alsihren eigenen Ursprung verdrängen hilft, ist ihm so schwer auf die Spurzu kommen.27

Konsequenz dieses Ausschlusses des Weiblichen aus dem Symbolischenist, dass sich das Weibliche systemimmanent gar nicht zum Ausdruck brin-gen kann; in dieser Diagnose stimmt Irigaray mit Lacans viel zitiertemDiktum überein: „Die Frau ist ausgeschlossen von der Natur der Dinge,die die Natur der Wörter ist.“28Historisch werden dem Weiblichen darumnur zwei Sprechmodi zugestanden, so Irigaray weiter: Schweigen und Mi-mesis. Doch mit Irigaray gilt es, diese Sprechmodi nicht als universellenAusschluss zu akzeptieren, sondern subversiv zu wenden, das heißt, „Mi-mesis zu spielen […], um durch einen Effekt spielerischer Wiederholungdas ‘erscheinen’ zu lassen, was verborgen bleiben mußte: die Verschüttungeiner möglichen Operation des Weiblichen in der Sprache“ (Geschlecht,78).

Der Ort des Weiblichen ist gemäß Irigaray ein doppelter: Zum einen istes der Systemort in der Ordnung des Gleichen als Spiegel, der als ‘Anderesdes Gleichen’ eine zentrale Rolle in der Kontingenzbewältigung über-nimmt, zum anderen aber gibt es ein dieser Ordnung nicht subsumierbares„[Anderswo]“ (ebd.), das – wie zu zeigen sein wird – für das Kontingenteschlechthin steht.

5. Sich sprechende Lippen: Kontingenzermächtigung

Irigaray spricht sich zwar entschieden und wiederholt gegen Defini-tionsversuche jenes weiblichen ‘Anderswo’ aus, doch besteht für sie keinZweifel daran, was dessen Grundlage ist: Es ist Das Geschlecht, das nicht eins ist :

„Die Frau ‘berührt sich’ immerzu, ohne daß es ihr übrigens verbotenwerden könnte, da ihr Geschlecht aus zwei Lippen besteht, die sich unauf-hörlich aneinander schmiegen. Sie ist also in sich selbst schon immer zwei,die einander berühren, die jedoch nicht in eins (einen) und eins (eine)trennbar sind […] Sie ist weder eine noch zwei. […] Sie widersteht jederadäquaten Definition. […] Das heißt, daß auch in ihrem Sagen – wenig-stens wenn sie es wagt – die Frau sich immerzu selbst berührt“ (Ge- schlecht , 23, 25, 28).

Mit den Lippen, die sich berühren und sprechen, entwirft Irigaray eineTheoriemetapher, die nicht nur einen – gemäß Lacans Theoriesprache,aber in Lacans eigener Theorie nicht zulässigen – alternativen transzen-dentalen Signifikanten für die symbolische Ordnung bezeichnet29, sondernbestimmter Sprachnormen, die man, zum Beispiel, Verkettung nennt“(Speculum, 325).

Irigaray liest das Höhlengleichnis als Allegorie der Sprachkonzeption,die auf Fesselung respektive „Verkettung“, auf Zwang, Täuschung undSpiegelungen beruht und letztlich durch einen transzendentalen Signifi-kanten garantiert wird, von dem die Eingeweihten, die Philosophen, zu er-zählen wissen:

„Eine ganze Sprachkonzeption macht an diesem Punkt die Illusioneiner besonderen Metaphorik fest – oder läuft auf sie hinaus –, die Illusioneiner Metametaphorik, die durch das Vorherrschen einer Wahrheit postu-liert wird, die im voraus über den Ablauf der Unterhaltung, der Interven-tionen entscheidetSpeculum“ (, 328f.).

Durch eine psychoanalytische Lektürehaltung bringt nun Irigaray dasWeibliche ins Spiel. Sie liest die Höhle nicht nur als „Nachbild der Welt“(Speculum, 306), sondern auch als – schon in den platonischen Dialogenangelegte26– Topographie des Weiblichen und Mütterlichen. Irigaray ana-logisiert die Höhle mit der mütterlichen Materie, der im Namen des laca-nianischen Gesetzes des Vaters, repräsentiert in der platonischen Idee, dieRessourcen für die Sprache entzogen werden. Das formlose Weibliche istsomit nur noch als Verdrängtes in den Zwischenräumen der Sprache les-bar. Während sich die platonische Erzählung ausschließlich um die Dar-stellung der Formen und Schatten kümmert, legt Irigaray Wert darauf,dass diese nur dank dem materialen Höhlengrund erscheinen können: DasHöhlengleichnis betreibt die systematische Ausschließung des „physikali-sche[n] Erbgut[es] der Mutter“ (Speculum, 403) und die männliche Ver-einnahmung des Gebärens als einer Geburt der Sprache.

Gemäß Irigarays Lektüre ist damit im Höhlengleichnis nicht nur dieErinnerung an die Sprachwerdung als Umgestaltung der formlosen Mate-rie bewahrt, sondern auch diejenige an einen ursprünglichen Mutter-mord, den Irigaray in einer alternativen psychoanalytischen Ursprungs-erzählung lange vor der Freud’schen Tötung des Vaters durch die Ur-horde ansetzt. Da die Sprache diesen ursprünglichen Muttermord alsihren eigenen Ursprung verdrängen hilft, ist ihm so schwer auf die Spurzu kommen.27

Konsequenz dieses Ausschlusses des Weiblichen aus dem Symbolischenist, dass sich das Weibliche systemimmanent gar nicht zum Ausdruck brin-gen kann; in dieser Diagnose stimmt Irigaray mit Lacans viel zitiertemDiktum überein: „Die Frau ist ausgeschlossen von der Natur der Dinge,die die Natur der Wörter ist.“28Historisch werden dem Weiblichen darumnur zwei Sprechmodi zugestanden, so Irigaray weiter: Schweigen und Mi-mesis. Doch mit Irigaray gilt es, diese Sprechmodi nicht als universellenAusschluss zu akzeptieren, sondern subversiv zu wenden, das heißt, „Mi-mesis zu spielen […], um durch einen Effekt spielerischer Wiederholungdas ‘erscheinen’ zu lassen, was verborgen bleiben mußte: die Verschüttungeiner möglichen Operation des Weiblichen in der Sprache“ (Geschlecht,78).

Der Ort des Weiblichen ist gemäß Irigaray ein doppelter: Zum einen istes der Systemort in der Ordnung des Gleichen als Spiegel, der als ‘Anderesdes Gleichen’ eine zentrale Rolle in der Kontingenzbewältigung über-nimmt, zum anderen aber gibt es ein dieser Ordnung nicht subsumierbares„[Anderswo]“ (ebd.), das – wie zu zeigen sein wird – für das Kontingenteschlechthin steht.

5. Sich sprechende Lippen: Kontingenzermächtigung

Irigaray spricht sich zwar entschieden und wiederholt gegen Defini-tionsversuche jenes weiblichen ‘Anderswo’ aus, doch besteht für sie keinZweifel daran, was dessen Grundlage ist: Es ist Das Geschlecht, das nicht eins ist :

„Die Frau ‘berührt sich’ immerzu, ohne daß es ihr übrigens verbotenwerden könnte, da ihr Geschlecht aus zwei Lippen besteht, die sich unauf-hörlich aneinander schmiegen. Sie ist also in sich selbst schon immer zwei,die einander berühren, die jedoch nicht in eins (einen) und eins (eine)trennbar sind […] Sie ist weder eine noch zwei. […] Sie widersteht jederadäquaten Definition. […] Das heißt, daß auch in ihrem Sagen – wenig-stens wenn sie es wagt – die Frau sich immerzu selbst berührt“ (Ge- schlecht , 23, 25, 28).

Mit den Lippen, die sich berühren und sprechen, entwirft Irigaray eineTheoriemetapher, die nicht nur einen – gemäß Lacans Theoriesprache,aber in Lacans eigener Theorie nicht zulässigen – alternativen transzen-dentalen Signifikanten für die symbolische Ordnung bezeichnet29, sondernzugleich ein Bild des Kontingenten per se ist: Heißt „contingere“ doch imursprünglichen Wortsinn „zusammen sich berühren“.30Steht der Spiegelin Irigarays Denken als Bild für die Kontingenzbewältigung im Namen der

Identitätslogik, so bezeichnen die Lippen jenen Bereich des in sich un-unterscheidbar Verschiedenen, das sich der Identitätslogik entzieht undfür die Macht des Kontingenten einsteht.

Wenn Kontingenz gemäß Blumenberg die Beurteilung der Wirklichkeitvom Standpunkt der Notwendigkeit und der Möglichkeit her bedeutet, soverschiebt Irigaray in diesem Dreiecksverhältnis die Gewichte so, dasseine Wirklichkeit denkbar wird, in der nicht verschiedene Möglichkeitenexklusiv, sondern inklusiv nebeneinander stehen. Bedingung dieser Prä-senz von Möglichkeiten ist die Wiedereinsetzung der sexuellen Differenz,was für das Weibliche ja bedeutet, „nicht eins“ zu sein. Vor diesem Apriorientspricht das Kontingenztheorem nicht mehr nur einer Möglichkeit – ‘eskönnte auch anders sein’ –, sondern bezeichnet eine Notwendigkeit: Das

Weibliche ist immer schon „unendlich anders“, „die Frauen […] sindimmer schon woanders“ (Geschlecht, 28f.).

Die Theoriemetapher der sich sprechenden Lippen gehört zu den meist-umstrittenen Punkten in der Irigaray-Rezeption. In den späten siebzigerund frühen achtziger Jahren wurde vor allem daran die Essentialismus-debatte festgemacht.31Auch in den neunziger Jahren war wiederholt von

„Schamlippentheorie“ die Rede, die lächerlich und biologistisch sei.32Nunist es ein Spezifikum der psychoanalytischen Theoriesprache, dass sie sichihre Begriffe aus dem Feld der Morphologie des Geschlechts und der

Sexualität leiht. Das kann man durchaus biologistisch und lächerlich fin-den. Diese Kritik müsste sich dann aber auch auf Lacan beziehen. Das tutsie jedoch meist nicht, der Gestus der Kritik verläuft vielmehr so, dass La-cans Metapher des Phallus von seiner biologischen Referenz losgelöst ge-dacht, Irigaray dagegen eine solche Differenzierung für ihre Lippen-metapher nicht zugestanden wird.33Dabei wäre doch zu bedenken, dass– zumindest nach den Regeln der Rhetorik – die Lippenmetapher als Bildfür die Voraussetzung von Sprache um einiges stimmiger denn dasjenigedes Phallus ist.34

Das unermüdliche Bemühen, Lacans „Phallus“ von seiner biologischenReferenz loszulösen und eine Lektüre, die darauf beharrt, als falsch zuentlarven, verweist jedoch gerade auf die Wirksamkeit dieses Referenten.Was ja auch Lacan selbst in Die Bedeutung des Phallus deutlich macht:

„Man kann sagen, daß die Wahl auf diesen Signifikanten fällt, weil er amauffallendsten von alledem, was man in der Realität antrifft, die sexuelleKopulation ausdrückt wie auch den Gipfel des Symbolischen im buchstäb-lichen (typographischen) Sinn dieses Begriffs, da er im sexuellen Bereichder (logischen) Kopula entspricht. Man kann auch sagen, daß er kraft sei-ner Turgeszenz das Bild des Lebensflusses ist, soweit dieser in die (in der)Zeugung eingeht.“35

Wenn auch unbestritten ist, dass der Lacan’sche Phallus als Signifikantohne Signifikat den Penis nicht bedeutet, so ist doch evident, dass er ihnkonnotiert. Aus einer psychoanalytischen Perspektive heraus müssendarum die Theoriemetaphern von Lacan und Irigaray fairerweise nachdenselben Kriterien bewertet werden.

Bedeutend schwieriger als die Einordnung der Lippenmetapher ineinen psychoanalytischen Theoriekontext gestaltet sich nun aber eine ad-äquate Darstellung des von Irigaray von diesem transzendentalen Signifi-kanten aus eröffneten Feldes eines weiblichen Symbolischen. Wie siehteine Sprachkonzeption aus, die eine Repräsentation des Kontingenten imoben genannten Sinn, das heißt einer Vielzahl von Möglichkeiten wäre, diesich weder einer syntaktischen Hierarchie noch semantischen oder prag-matischen Auswahlverfahren zu unterwerfen hätte?

Doch bevor hier Irigarays Entwurf eines „Parler-femme“ zur Sprachekommen kann, bedarf es vorab noch einer weiteren Begriffsklärung. Iriga-zugleich ein Bild des Kontingenten per se ist: Heißt „contingere“ doch imursprünglichen Wortsinn „zusammen sich berühren“.30Steht der Spiegelin Irigarays Denken als Bild für die Kontingenzbewältigung im Namen der

Identitätslogik, so bezeichnen die Lippen jenen Bereich des in sich un-unterscheidbar Verschiedenen, das sich der Identitätslogik entzieht undfür die Macht des Kontingenten einsteht.

Wenn Kontingenz gemäß Blumenberg die Beurteilung der Wirklichkeitvom Standpunkt der Notwendigkeit und der Möglichkeit her bedeutet, soverschiebt Irigaray in diesem Dreiecksverhältnis die Gewichte so, dasseine Wirklichkeit denkbar wird, in der nicht verschiedene Möglichkeitenexklusiv, sondern inklusiv nebeneinander stehen. Bedingung dieser Prä-senz von Möglichkeiten ist die Wiedereinsetzung der sexuellen Differenz,was für das Weibliche ja bedeutet, „nicht eins“ zu sein. Vor diesem Apriorientspricht das Kontingenztheorem nicht mehr nur einer Möglichkeit – ‘eskönnte auch anders sein’ –, sondern bezeichnet eine Notwendigkeit: Das

Weibliche ist immer schon „unendlich anders“, „die Frauen […] sindimmer schon woanders“ (Geschlecht, 28f.).

Die Theoriemetapher der sich sprechenden Lippen gehört zu den meist-umstrittenen Punkten in der Irigaray-Rezeption. In den späten siebzigerund frühen achtziger Jahren wurde vor allem daran die Essentialismus-debatte festgemacht.31Auch in den neunziger Jahren war wiederholt von

„Schamlippentheorie“ die Rede, die lächerlich und biologistisch sei.32Nunist es ein Spezifikum der psychoanalytischen Theoriesprache, dass sie sichihre Begriffe aus dem Feld der Morphologie des Geschlechts und der

Sexualität leiht. Das kann man durchaus biologistisch und lächerlich fin-den. Diese Kritik müsste sich dann aber auch auf Lacan beziehen. Das tutsie jedoch meist nicht, der Gestus der Kritik verläuft vielmehr so, dass La-cans Metapher des Phallus von seiner biologischen Referenz losgelöst ge-dacht, Irigaray dagegen eine solche Differenzierung für ihre Lippen-metapher nicht zugestanden wird.33Dabei wäre doch zu bedenken, dass– zumindest nach den Regeln der Rhetorik – die Lippenmetapher als Bildfür die Voraussetzung von Sprache um einiges stimmiger denn dasjenigedes Phallus ist.34

Das unermüdliche Bemühen, Lacans „Phallus“ von seiner biologischenReferenz loszulösen und eine Lektüre, die darauf beharrt, als falsch zuentlarven, verweist jedoch gerade auf die Wirksamkeit dieses Referenten.Was ja auch Lacan selbst in Die Bedeutung des Phallus deutlich macht:

„Man kann sagen, daß die Wahl auf diesen Signifikanten fällt, weil er amauffallendsten von alledem, was man in der Realität antrifft, die sexuelleKopulation ausdrückt wie auch den Gipfel des Symbolischen im buchstäb-lichen (typographischen) Sinn dieses Begriffs, da er im sexuellen Bereichder (logischen) Kopula entspricht. Man kann auch sagen, daß er kraft sei-ner Turgeszenz das Bild des Lebensflusses ist, soweit dieser in die (in der)Zeugung eingeht.“35

Wenn auch unbestritten ist, dass der Lacan’sche Phallus als Signifikantohne Signifikat den Penis nicht bedeutet, so ist doch evident, dass er ihnkonnotiert. Aus einer psychoanalytischen Perspektive heraus müssendarum die Theoriemetaphern von Lacan und Irigaray fairerweise nachdenselben Kriterien bewertet werden.

Bedeutend schwieriger als die Einordnung der Lippenmetapher ineinen psychoanalytischen Theoriekontext gestaltet sich nun aber eine ad-äquate Darstellung des von Irigaray von diesem transzendentalen Signifi-kanten aus eröffneten Feldes eines weiblichen Symbolischen. Wie siehteine Sprachkonzeption aus, die eine Repräsentation des Kontingenten imoben genannten Sinn, das heißt einer Vielzahl von Möglichkeiten wäre, diesich weder einer syntaktischen Hierarchie noch semantischen oder prag-matischen Auswahlverfahren zu unterwerfen hätte?

Doch bevor hier Irigarays Entwurf eines „Parler-femme“ zur Sprachekommen kann, bedarf es vorab noch einer weiteren Begriffsklärung. Iriga-ray spricht in ihren Texten meist von der Wiedereinsetzung eines weib-lichen Imaginären und zeigt dessen Wirkungsweise dann in der Sprache.

Deswegen ist wiederholt der Vorwurf erhoben worden, dass eine Ver-mischung der beiden Lacan’schen Kategorien des Imaginären und des

Symbolischen stattfinde.36Doch diese Kritik greift zu kurz. Vielmehr ist zubeachten, dass Irigaray das Imaginäre und das Symbolische als miteinan-der vernetzt denkt, als sich gegenseitig bedingend. Es ist eine bestimmte

Struktur des Imaginären (das Spiegelbild), das eine spezifische symboli-sche Ordnung strukturiert (die männliche), doch zugleich ist das Imaginä-re Effekt des Symbolischen: Es kann nur im Symbolischen und durch das

Symbolische zum Ausdruck kommen. Sprache gehört darum beiden Di-mensionen an, dem Symbolischen wie auch dem Imaginären.37Darumspielen die beiden Kategorien auch in Irigarays Suche nach einem ur-sprünglicheren „Parler-femme“ ineinander.

In ihrer Durchquerung der abendländischen Diskurse bezeichnet Iriga-ray zwei Orte, an denen Spuren des weiblichen Imaginären aufbewahrtsind: im hysterischen und im mystischen Sprechen.38Beide Sprechpraxenbezeichnen einen sozialen Freiraum im Patriarchat, der zwar ausgegrenzt,aber dennoch auf den herrschenden Diskurs bezogen bleibt. Geschlech-terdifferentes Sprechen also, das als Reaktion auf bestehende Strukturenund zugleich als körperliches Leiden zustande kommt. Hysterikerinnenleiden an grässlichen Konvulsionen, Mystikerinnen erleben die Leiden

Christi nach:

„Das Problem des ‘Frau-Sprechens’ besteht gerade im Finden einermöglichen Kontinuität zwischen jener Gestik oder Sprache des Begehrens,die zur Zeit nur in der Form von Symptomen und Pathologie erkennbarsind, und einer Sprache, die auch eine verbale Sprache umfaßt“ (Ge- schlecht , 142f.).

Gerade wegen dieser mageren Ausgangslage versucht Irigaray an ver-schiedenen Stellen Hinweise dafür zu geben, was jetzt schon als Parler- femme möglich sein könnte. In ihren Skizzen zu einer „Syntax des Weib-lichen“ geht Irigaray davon aus, dass „in der Gestik des Körpers“, im „Lei-den, aber auch im Lachen der Frauen“ viel von dieser anderen Syntaxabzulesen wäre (Geschlecht, 140).

Darin, dass sie der Materie, dem Körper und der Stimme dabei einezentrale Position einräumt, trifft sich Irigaray mit Hélène Cixous’ Entwurfeiner „écriture féminine“, deren zentrales Merkmal ein Körper-Schreibenist. Doch anders als Cixous geht Irigaray nicht davon aus, dass der indivi-duell gegebene Körper jener „geheime[] Grund“ sei, „der alle Metaphernmöglich und mächtig“ mache und ein befreites Sich-zur-Frau-Schreibenerlaube,39sondern sucht nach Worten, „die das Körperliche nicht ausstrei-chen, sondern die ‘körperlich’ sprechen“ (Geschlechterdifferenz, 111). Sieunterstellt sich damit – anders als Cixous – nicht dem Primat der Schrift,sondern favorisiert ausdrücklich das Sprechen.

Nur konsequent ist es darum, wenn sie nach konkreten Beispielen des„Parler-femme“ befragt antwortet: „Aber vom ‘Frau-Sprechen’ kann ichIhnen einfach nicht berichten: es spricht sich, es läßt sich nicht meta-spre-chen“ (Geschlecht, 150). Ein Beispiel dafür ist sicher Irigarays Essay Wenn unsere Lippen sich sprechen :

„Ich liebe dich: deinen Körper da, hier, jetzt. Ich/du berühre dich/michund das reicht völlig, damit wir uns lebendig fühlen.“

„Öffne deine Lippen, aber öffne sie nicht einfach so. Ich öffne sie nichteinfach so. Du/ich, wir sind weder offen noch verschlossen. Weil wir unsniemals einfach so trennen: ein einziges Wort kann nicht ausgesprochenwerden. Hervorgebracht, ausgeschieden werden von unseren Mündern.Zwischen deinen/meinen Lippen gibt es ein unaufhörliches Hin und Hervon Gesängen, Reden. Ohne daß das Eine, die Eine jemals von dem/derAnderen zu trennen wäre. Ich/du: das sind immer mehrere auf einmal“(215).

Der Lippen-Essay vermittelt einen Eindruck davon, wie sich das Zulas-sen des Kontingenten in der Sprache auf deren Struktur und Gehalt aus-wirkt. Inhaltlich bewegt sich die Rede von den Lippen im Bereich des Be-rührens, der Liebe, des Vielfältigen, Ununterscheidbaren, der Bewegungund enthält darüber hinaus einen Appellcharakter: „öffne“, „sprich“(ebd.). Diese Aufforderung zum Sprechen respektive zum Öffnen und Be-rühren der Lippen verweist darauf, dass Handeln notwendig ist, damit sichdiese weibliche Sprache konstituieren und Gehör verschaffen kann. Zu-gleich ist diese Handlungsanweisung auch eine zeitgenössische Remi-niszenz an die frühe Frauenbewegung, als in Selbsterfahrungsgruppen„Frauen-unter-sich“ (Geschlecht, 141) ein nicht männerbestimmtes Selbst-bild zu gewinnen suchten.

Leitmotivartig durchzieht die Reflexion und das Spiel mit dem viel-leicht häufigsten und mit den vielfältigsten Konnotationen aufgeladenenSatz unserer Kultur: „Ich liebe dich“, den Lippen-Essay und verweist da-rauf, dass es Irigaray auch um eine neue Sprache der Liebe geht, die „ohneGabe, ohne Schuld“ (Geschlechtdes Paa-, 212) wäre und eine neue „Ethik res “ (Genealogie, 210) begründen würde.ray spricht in ihren Texten meist von der Wiedereinsetzung eines weib-lichen Imaginären und zeigt dessen Wirkungsweise dann in der Sprache.

Deswegen ist wiederholt der Vorwurf erhoben worden, dass eine Ver-mischung der beiden Lacan’schen Kategorien des Imaginären und des

Symbolischen stattfinde.36Doch diese Kritik greift zu kurz. Vielmehr ist zubeachten, dass Irigaray das Imaginäre und das Symbolische als miteinan-der vernetzt denkt, als sich gegenseitig bedingend. Es ist eine bestimmte

Struktur des Imaginären (das Spiegelbild), das eine spezifische symboli-sche Ordnung strukturiert (die männliche), doch zugleich ist das Imaginä-re Effekt des Symbolischen: Es kann nur im Symbolischen und durch das

Symbolische zum Ausdruck kommen. Sprache gehört darum beiden Di-mensionen an, dem Symbolischen wie auch dem Imaginären.37Darumspielen die beiden Kategorien auch in Irigarays Suche nach einem ur-sprünglicheren „Parler-femme“ ineinander.

In ihrer Durchquerung der abendländischen Diskurse bezeichnet Iriga-ray zwei Orte, an denen Spuren des weiblichen Imaginären aufbewahrtsind: im hysterischen und im mystischen Sprechen.38Beide Sprechpraxenbezeichnen einen sozialen Freiraum im Patriarchat, der zwar ausgegrenzt,aber dennoch auf den herrschenden Diskurs bezogen bleibt. Geschlech-terdifferentes Sprechen also, das als Reaktion auf bestehende Strukturenund zugleich als körperliches Leiden zustande kommt. Hysterikerinnenleiden an grässlichen Konvulsionen, Mystikerinnen erleben die Leiden

Christi nach:

„Das Problem des ‘Frau-Sprechens’ besteht gerade im Finden einermöglichen Kontinuität zwischen jener Gestik oder Sprache des Begehrens,die zur Zeit nur in der Form von Symptomen und Pathologie erkennbarsind, und einer Sprache, die auch eine verbale Sprache umfaßt“ (Ge- schlecht , 142f.).

Gerade wegen dieser mageren Ausgangslage versucht Irigaray an ver-schiedenen Stellen Hinweise dafür zu geben, was jetzt schon als Parler- femme möglich sein könnte. In ihren Skizzen zu einer „Syntax des Weib-lichen“ geht Irigaray davon aus, dass „in der Gestik des Körpers“, im „Lei-den, aber auch im Lachen der Frauen“ viel von dieser anderen Syntaxabzulesen wäre (Geschlecht, 140).

Darin, dass sie der Materie, dem Körper und der Stimme dabei einezentrale Position einräumt, trifft sich Irigaray mit Hélène Cixous’ Entwurfeiner „écriture féminine“, deren zentrales Merkmal ein Körper-Schreibenist. Doch anders als Cixous geht Irigaray nicht davon aus, dass der indivi-duell gegebene Körper jener „geheime[] Grund“ sei, „der alle Metaphernmöglich und mächtig“ mache und ein befreites Sich-zur-Frau-Schreibenerlaube,39sondern sucht nach Worten, „die das Körperliche nicht ausstrei-chen, sondern die ‘körperlich’ sprechen“ (Geschlechterdifferenz, 111). Sieunterstellt sich damit – anders als Cixous – nicht dem Primat der Schrift,sondern favorisiert ausdrücklich das Sprechen.

Nur konsequent ist es darum, wenn sie nach konkreten Beispielen des„Parler-femme“ befragt antwortet: „Aber vom ‘Frau-Sprechen’ kann ichIhnen einfach nicht berichten: es spricht sich, es läßt sich nicht meta-spre-chen“ (Geschlecht, 150). Ein Beispiel dafür ist sicher Irigarays Essay Wenn unsere Lippen sich sprechen :

„Ich liebe dich: deinen Körper da, hier, jetzt. Ich/du berühre dich/michund das reicht völlig, damit wir uns lebendig fühlen.“

„Öffne deine Lippen, aber öffne sie nicht einfach so. Ich öffne sie nichteinfach so. Du/ich, wir sind weder offen noch verschlossen. Weil wir unsniemals einfach so trennen: ein einziges Wort kann nicht ausgesprochenwerden. Hervorgebracht, ausgeschieden werden von unseren Mündern.Zwischen deinen/meinen Lippen gibt es ein unaufhörliches Hin und Hervon Gesängen, Reden. Ohne daß das Eine, die Eine jemals von dem/derAnderen zu trennen wäre. Ich/du: das sind immer mehrere auf einmal“(215).

Der Lippen-Essay vermittelt einen Eindruck davon, wie sich das Zulas-sen des Kontingenten in der Sprache auf deren Struktur und Gehalt aus-wirkt. Inhaltlich bewegt sich die Rede von den Lippen im Bereich des Be-rührens, der Liebe, des Vielfältigen, Ununterscheidbaren, der Bewegungund enthält darüber hinaus einen Appellcharakter: „öffne“, „sprich“(ebd.). Diese Aufforderung zum Sprechen respektive zum Öffnen und Be-rühren der Lippen verweist darauf, dass Handeln notwendig ist, damit sichdiese weibliche Sprache konstituieren und Gehör verschaffen kann. Zu-gleich ist diese Handlungsanweisung auch eine zeitgenössische Remi-niszenz an die frühe Frauenbewegung, als in Selbsterfahrungsgruppen„Frauen-unter-sich“ (Geschlecht, 141) ein nicht männerbestimmtes Selbst-bild zu gewinnen suchten.

Leitmotivartig durchzieht die Reflexion und das Spiel mit dem viel-leicht häufigsten und mit den vielfältigsten Konnotationen aufgeladenenSatz unserer Kultur: „Ich liebe dich“, den Lippen-Essay und verweist da-rauf, dass es Irigaray auch um eine neue Sprache der Liebe geht, die „ohneGabe, ohne Schuld“ (Geschlechtdes Paa-, 212) wäre und eine neue „Ethik res “ (Genealogie, 210) begründen würde.

Auf der semantischen und der syntaktischen Ebene nun produziert der

Einsatz des Kontingenten eine Polylogik des Sinns. Die syntagmatischen

Ordnungsbeziehungen werden durch Vervielfältigungen „du/ich“, „wir“unterlaufen, die auch auf der Bedeutungsebene Mehrdeutigkeiten produ-zieren, Bedeutungen multiplizieren, und damit zugleich zeigen, dass Ein-deutigkeit nur auf Kosten des Ausschlusses anderer Möglichkeiten ent-stehen kann.

Konfrontiert man nun dieses lippensprechende Beispiel mit Irigaraystheoretischen Forderungen an diese neue Syntax, so zeigt sich, dass sie in

Letzterem viel radikaler ist: Dort postuliert sie, die „Syntax umzustürzen

(SpeculumLippen, 181), während der -Essay syntaktische Ordnungsbezie-hungen spielerisch verschiebt. Die praktische Einlösung geht „nicht ein-fach so“, in diesem Punkt ist Irigaray realistisch: „Ich könnte, ich kann alsonicht, und ich wüßte nicht, wie irgendeine Frau es könnte, mich einfach, inaller Gelassenheit, auf Anhieb, in diesem anderen syntaktischen Funktio-nieren niederlassen“ (Geschlecht, 140).

6. Kontingenz von Geschlecht versus Differenz von Geschlecht

Das Kontingente erlangt bei Irigaray seine Macht in Konzepten des

Weiblichen, in den Entwürfen zur Realisierung der sexuellen Differenzund dem Wiedereinsetzen einer weiblichen Sprache. Nicht aber auf der

Ebene der Kategorie Geschlecht selbst, hier geht Irigaray strikt von einer

Zwei-Geschlechter-Theorie aus. Wie ist dieser Einsatz von Kontingenz inder Theoriesituation der neunziger Jahre zu beurteilen, in der mehrheitlichdie Kontingenz von Geschlecht diagnostiziert wird?40

Judith Butler, deren Theorieentwurf die feministischen Debatten derneunziger Jahre bestimmte, zeigt in ihren Analysen, dass nicht nur diekonkreten Überschreibungen des Männlichen und des Weiblichen, son-dern die zweigeschlechtliche Ordnung selbst als solche kontingent ist.41

Sie gewinnt ihre Einsichten an Geschlechtsidentitäten, die nicht den Nor-men entsprechen:

„Nur von einer ihrer selbst bewußten, entnaturalisierten Position auskönnen wir erkennen, wie sich der Anschein der Natürlichkeit konstitu-iert. […] Daher eröffnet das Fremde, Inkohärente, das, was ‘herausfällt’,für uns einen Weg, die als selbstverständlich hingenommene Welt dersexuellen Kategorisierung als eine Konstruktion, die im Grunde auch an-ders konstruiert sein könnte, zu verstehen.“42

Keine notwendigen und natürlichen Regeln liegen gemäß Butler denGeschlechtsidentitäten zugrunde, sondern kontingente Konstruktionen,die ihre eigene Legitimation im wiederholenden Vollzug performativ kon-stituieren und die Sinnhaftigkeit der Konstruktion so auf eine logische undnaturalisierte Basis stellen. Mit der Entnaturalisierung gilt es, sich von on-tologischen Gewissheiten zu verabschieden: Geltung erlangen die Kon-struktionen über die Wirkungen der Machtdynamik, stabilisierendes Prin-zip ist ihre Naturalisierung.

Butlers Projekt der Genealogie der zweigeschlechtlichen Ordnung fo-kussiert insbesondere auf die sexuelle Orientierung. Sie stellt eine zwin-gende Kausalität zwischen der heterosexuellen Fixierung des Begehrensund der Produktion jenes binären Rahmens fest, der die scheinbar ontolo-gische Kategorie der Geschlechterdifferenz hervorbringt. Es sind aber,laut Butler, die definierenden Episteme – „Zwangsheterosexualität“ unddamit zugleich das Tabu gegen Homosexualität, das in Butlers Analyse alsprimäres, das heißt kulturbegründendes Tabu fungiert43–, die eine Zwei-Geschlechter-Ordnung produzieren.

Unter der Prämisse, dass auch die Kategorie Geschlecht unter das Kon-tingenztheorem zu stellen ist, werden Modelle formulierbar, die ein Ein-Geschlechter- (Thomas Laqueur), Drei-Geschlechter- (Monique Wittig)oder Fünf-Geschlechter-Modell (Anne Fausto Sterling) diagnostizieren.44Es ist mit anderen Worten kontingent, von wie vielen Geschlechtern eineGesellschaft ausgeht, und zu fragen ist darum nicht nach einer ursprüng-licheren Geschlechterordnung, sondern nach den Machtkonfigurationen,die das dominierende Geschlechtermodell als scheinbar Notwendiges her-vorbringen.

Letzteres zielt aber genau ins Zentrum von Irigarays Denken: Naivitäthinsichtlich der Machtwirkung definierender Episteme kann Irigaray ge-Auf der semantischen und der syntaktischen Ebene nun produziert der

Einsatz des Kontingenten eine Polylogik des Sinns. Die syntagmatischen

Ordnungsbeziehungen werden durch Vervielfältigungen „du/ich“, „wir“unterlaufen, die auch auf der Bedeutungsebene Mehrdeutigkeiten produ-zieren, Bedeutungen multiplizieren, und damit zugleich zeigen, dass Ein-deutigkeit nur auf Kosten des Ausschlusses anderer Möglichkeiten ent-stehen kann.

Konfrontiert man nun dieses lippensprechende Beispiel mit Irigaraystheoretischen Forderungen an diese neue Syntax, so zeigt sich, dass sie in

Letzterem viel radikaler ist: Dort postuliert sie, die „Syntax umzustürzen

(SpeculumLippen, 181), während der -Essay syntaktische Ordnungsbezie-hungen spielerisch verschiebt. Die praktische Einlösung geht „nicht ein-fach so“, in diesem Punkt ist Irigaray realistisch: „Ich könnte, ich kann alsonicht, und ich wüßte nicht, wie irgendeine Frau es könnte, mich einfach, inaller Gelassenheit, auf Anhieb, in diesem anderen syntaktischen Funktio-nieren niederlassen“ (Geschlecht, 140).

6. Kontingenz von Geschlecht versus Differenz von Geschlecht

Das Kontingente erlangt bei Irigaray seine Macht in Konzepten des

Weiblichen, in den Entwürfen zur Realisierung der sexuellen Differenzund dem Wiedereinsetzen einer weiblichen Sprache. Nicht aber auf der

Ebene der Kategorie Geschlecht selbst, hier geht Irigaray strikt von einer

Zwei-Geschlechter-Theorie aus. Wie ist dieser Einsatz von Kontingenz inder Theoriesituation der neunziger Jahre zu beurteilen, in der mehrheitlichdie Kontingenz von Geschlecht diagnostiziert wird?40

Judith Butler, deren Theorieentwurf die feministischen Debatten derneunziger Jahre bestimmte, zeigt in ihren Analysen, dass nicht nur diekonkreten Überschreibungen des Männlichen und des Weiblichen, son-dern die zweigeschlechtliche Ordnung selbst als solche kontingent ist.41

Sie gewinnt ihre Einsichten an Geschlechtsidentitäten, die nicht den Nor-men entsprechen:

„Nur von einer ihrer selbst bewußten, entnaturalisierten Position auskönnen wir erkennen, wie sich der Anschein der Natürlichkeit konstitu-iert. […] Daher eröffnet das Fremde, Inkohärente, das, was ‘herausfällt’,für uns einen Weg, die als selbstverständlich hingenommene Welt dersexuellen Kategorisierung als eine Konstruktion, die im Grunde auch an-ders konstruiert sein könnte, zu verstehen.“42

Keine notwendigen und natürlichen Regeln liegen gemäß Butler denGeschlechtsidentitäten zugrunde, sondern kontingente Konstruktionen,die ihre eigene Legitimation im wiederholenden Vollzug performativ kon-stituieren und die Sinnhaftigkeit der Konstruktion so auf eine logische undnaturalisierte Basis stellen. Mit der Entnaturalisierung gilt es, sich von on-tologischen Gewissheiten zu verabschieden: Geltung erlangen die Kon-struktionen über die Wirkungen der Machtdynamik, stabilisierendes Prin-zip ist ihre Naturalisierung.

Butlers Projekt der Genealogie der zweigeschlechtlichen Ordnung fo-kussiert insbesondere auf die sexuelle Orientierung. Sie stellt eine zwin-gende Kausalität zwischen der heterosexuellen Fixierung des Begehrensund der Produktion jenes binären Rahmens fest, der die scheinbar ontolo-gische Kategorie der Geschlechterdifferenz hervorbringt. Es sind aber,laut Butler, die definierenden Episteme – „Zwangsheterosexualität“ unddamit zugleich das Tabu gegen Homosexualität, das in Butlers Analyse alsprimäres, das heißt kulturbegründendes Tabu fungiert43–, die eine Zwei-Geschlechter-Ordnung produzieren.

Unter der Prämisse, dass auch die Kategorie Geschlecht unter das Kon-tingenztheorem zu stellen ist, werden Modelle formulierbar, die ein Ein-Geschlechter- (Thomas Laqueur), Drei-Geschlechter- (Monique Wittig)oder Fünf-Geschlechter-Modell (Anne Fausto Sterling) diagnostizieren.44Es ist mit anderen Worten kontingent, von wie vielen Geschlechtern eineGesellschaft ausgeht, und zu fragen ist darum nicht nach einer ursprüng-licheren Geschlechterordnung, sondern nach den Machtkonfigurationen,die das dominierende Geschlechtermodell als scheinbar Notwendiges her-vorbringen.

Letzteres zielt aber genau ins Zentrum von Irigarays Denken: Naivitäthinsichtlich der Machtwirkung definierender Episteme kann Irigaray ge-rade nicht vorgeworfen werden, und in ihrer Analyse der herrschenden

Ordnung diagnostiziert sie ja ebenfalls deren Kontingenz. Faktisch ist dievon Irigaray beschriebene ‘Ordnung des Selben’ ein Ein-Geschlechter-

Modell.

Auch ist es nicht so, dass Irigaray homoerotisches Begehren ausschlösse,davon legt ihr Essay der sich berührenden Lippen beredtes Zeugnis ab.

Die Differenz liegt also nicht darin, dass Irigaray andere Sexualitätennicht zulässt, sondern darin, wo diese in ihrem Theoriemodell angesiedeltsind. Nicht als eigenständige Kategorien auf grundsätzlicher Ebene, son-dern als Teilbereiche innerhalb der Kategorien des Weiblichen respektive

Männlichen: „Die Liebe des Selben im Selben stellt eine Interioriät her,die sich zum anderen hin öffnen kann“ (Ethik, 85; vgl. 122ff.). Diese Öff-nung zum anderen hin, die eine neue Ethik der sexuellen Differenz be-gründen soll, kann heterosexuell gedacht werden – und Irigarays Redevon „Mann“, „Frau“ und deren „copula“ legt dies in der Tat nahe – dochwäre dies eine Heterosexualität, die nichts mehr mit jenen definierenden

Epistemen zu tun hätte, denen Butlers wie Irigarays Kritik gleichermaßengilt, die vielmehr bezugslos ‘anderswo’ wäre.

Es ist nun genau diese Positivität eines ‘Anderswo’, das in Irigarays

Theorie jeweils den Horizont einer Wiedereinsetzung der sexuellen Diffe-renz bezeichnet, dieses Moment unverrückbarer Notwendigkeit in Iriga-rays Denken der Kontingenz, das eine konsequent genealogisch denkende

Machttheoretikerin wie Butler nur befremden kann.45Nimmt man dieses

‘Positive’ aber als Theoriekonstellation ernst, so stellt sich erst recht die

Frage nach Kontingenz, denn wie soll eine neue Ethik, eine neue Kulturzwischen zwei bezugslosen Systemen begründet werden, wie Kommunika-tion zwischen zwei gänzlich verschiedenen Zeichensystemen möglich sein,wenn keine übergreifende Struktur da ist? Im Kern ist dies die Frage nachder Möglichkeit von Interaktion von zwei sich unbekannten Aktanten ineinem unbestimmten Raum, auf die die Systemtheorie mit dem Theoremder doppelten Kontingenz antwortet.

7. Luce Irigarays Paar als System aus doppelter Kontingenz?

Wie also entsteht Interaktion unter der Bedingung der Wiedereinset-zung der sexuellen Differenz? Irigaray deutet dies nur punktuell an, ihre

Überlegungen gelten als feministische Denkerin den Möglichkeiten, wiediese Situation von Zweiheit langfristig (über die Veränderung von Sym-bolsystemen) und kurzfristig (über die Umgestaltung ziviler Rechte) her-beizuführen ist. Wenn sie von ihrer Vision der Zweiheit spricht, wird sieselten konkret, sondern spricht in konsequent sexueller Metaphorik voneinem „Kopulieren zwischen den Geschlechtern in der Sprache“ (Ge- schlecht , 159).

Der Versuch, Irigarays ‘Positives’ mit dem systemtheoretischen Konzeptder doppelten Kontingenz zu fassen, muss sich der Differenz der beidenTheorietraditionen bewusst sein: Dem systemkritischen und auf Verände-rung zielenden Impetus feministischen Denkens steht eine wertneutraleBeschreibungshaltung in der Systemtheorie gegenüber.46Doch währendsich Irigarays Thesen, wie ein „Parler-femme“ wiederzuentdecken und ein-zuführen wäre, wertneutral gar nicht denken lassen, so bietet es sich beiihrem ‘Positiven’ als – per Gedankenexperiment – gegebenem ‘Paar’ an,dies systemtheoretisch zu fassen.

Es lässt sich sogar eine gemeinsame Denkvoraussetzung aufzeigen: DasTheorem der doppelten Kontingenz, das Niklas Luhmann von Talcott Par-sons übernimmt und auf der Ebene einer Theorie selbstreferenziellerSysteme ansiedelt, beruht wie Irigarays Konzept der Zweiheit auf einerZerschlagung der Spiegelmetaphorik: „wenn man diese Metapher (derSpiegelung, F. F. G.) auf die Ebene der Beziehung zwischen selbstreferen-ziell operierenden Systemen übernimmt, löst sie sich auf. Die Spiegelzerbrechen“ (Luhmann, 154).

Selbstreferenziell operierende Systeme (das können bei Luhmannpsychische oder soziale Systeme sein) oder – näher an Irigarays eigenerTheoriesprache – autopoietische Systeme,47die aufeinander treffen, ste-hen laut Luhmann unter der Bedingung der doppelten Kontingenz:

„Die Grundsituation der doppelten Kontingenz ist dann einfach: Zweiblack boxes bekommen es, auf Grund welcher Zufälle immer, miteinanderzu tun. Jede bestimmt ihr eigenes Verhalten durch komplexe selbstrefe-renzielle Operationen innerhalb ihrer Grenzen. Das, was von ihr sichtbarwird, ist deshalb notwendig Reduktion. Jede unterstellt das gleiche der an-deren. Deshalb bleiben die black boxes bei aller Bemühung und bei allemZeitaufwand […] füreinander undurchsichtig“ (Luhmann, 156).

In Situationen doppelter Kontingenz gewinnt jede Festlegung, so zufäl-rade nicht vorgeworfen werden, und in ihrer Analyse der herrschenden

Ordnung diagnostiziert sie ja ebenfalls deren Kontingenz. Faktisch ist dievon Irigaray beschriebene ‘Ordnung des Selben’ ein Ein-Geschlechter-

Modell.

Auch ist es nicht so, dass Irigaray homoerotisches Begehren ausschlösse,davon legt ihr Essay der sich berührenden Lippen beredtes Zeugnis ab.

Die Differenz liegt also nicht darin, dass Irigaray andere Sexualitätennicht zulässt, sondern darin, wo diese in ihrem Theoriemodell angesiedeltsind. Nicht als eigenständige Kategorien auf grundsätzlicher Ebene, son-dern als Teilbereiche innerhalb der Kategorien des Weiblichen respektive

Männlichen: „Die Liebe des Selben im Selben stellt eine Interioriät her,die sich zum anderen hin öffnen kann“ (Ethik, 85; vgl. 122ff.). Diese Öff-nung zum anderen hin, die eine neue Ethik der sexuellen Differenz be-gründen soll, kann heterosexuell gedacht werden – und Irigarays Redevon „Mann“, „Frau“ und deren „copula“ legt dies in der Tat nahe – dochwäre dies eine Heterosexualität, die nichts mehr mit jenen definierenden

Epistemen zu tun hätte, denen Butlers wie Irigarays Kritik gleichermaßengilt, die vielmehr bezugslos ‘anderswo’ wäre.

Es ist nun genau diese Positivität eines ‘Anderswo’, das in Irigarays

Theorie jeweils den Horizont einer Wiedereinsetzung der sexuellen Diffe-renz bezeichnet, dieses Moment unverrückbarer Notwendigkeit in Iriga-rays Denken der Kontingenz, das eine konsequent genealogisch denkende

Machttheoretikerin wie Butler nur befremden kann.45Nimmt man dieses

‘Positive’ aber als Theoriekonstellation ernst, so stellt sich erst recht die

Frage nach Kontingenz, denn wie soll eine neue Ethik, eine neue Kulturzwischen zwei bezugslosen Systemen begründet werden, wie Kommunika-tion zwischen zwei gänzlich verschiedenen Zeichensystemen möglich sein,wenn keine übergreifende Struktur da ist? Im Kern ist dies die Frage nachder Möglichkeit von Interaktion von zwei sich unbekannten Aktanten ineinem unbestimmten Raum, auf die die Systemtheorie mit dem Theoremder doppelten Kontingenz antwortet.

7. Luce Irigarays Paar als System aus doppelter Kontingenz?

Wie also entsteht Interaktion unter der Bedingung der Wiedereinset-zung der sexuellen Differenz? Irigaray deutet dies nur punktuell an, ihre

Überlegungen gelten als feministische Denkerin den Möglichkeiten, wiediese Situation von Zweiheit langfristig (über die Veränderung von Sym-bolsystemen) und kurzfristig (über die Umgestaltung ziviler Rechte) her-beizuführen ist. Wenn sie von ihrer Vision der Zweiheit spricht, wird sieselten konkret, sondern spricht in konsequent sexueller Metaphorik voneinem „Kopulieren zwischen den Geschlechtern in der Sprache“ (Ge- schlecht , 159).

Der Versuch, Irigarays ‘Positives’ mit dem systemtheoretischen Konzeptder doppelten Kontingenz zu fassen, muss sich der Differenz der beidenTheorietraditionen bewusst sein: Dem systemkritischen und auf Verände-rung zielenden Impetus feministischen Denkens steht eine wertneutraleBeschreibungshaltung in der Systemtheorie gegenüber.46Doch währendsich Irigarays Thesen, wie ein „Parler-femme“ wiederzuentdecken und ein-zuführen wäre, wertneutral gar nicht denken lassen, so bietet es sich beiihrem ‘Positiven’ als – per Gedankenexperiment – gegebenem ‘Paar’ an,dies systemtheoretisch zu fassen.

Es lässt sich sogar eine gemeinsame Denkvoraussetzung aufzeigen: DasTheorem der doppelten Kontingenz, das Niklas Luhmann von Talcott Par-sons übernimmt und auf der Ebene einer Theorie selbstreferenziellerSysteme ansiedelt, beruht wie Irigarays Konzept der Zweiheit auf einerZerschlagung der Spiegelmetaphorik: „wenn man diese Metapher (derSpiegelung, F. F. G.) auf die Ebene der Beziehung zwischen selbstreferen-ziell operierenden Systemen übernimmt, löst sie sich auf. Die Spiegelzerbrechen“ (Luhmann, 154).

Selbstreferenziell operierende Systeme (das können bei Luhmannpsychische oder soziale Systeme sein) oder – näher an Irigarays eigenerTheoriesprache – autopoietische Systeme,47die aufeinander treffen, ste-hen laut Luhmann unter der Bedingung der doppelten Kontingenz:

„Die Grundsituation der doppelten Kontingenz ist dann einfach: Zweiblack boxes bekommen es, auf Grund welcher Zufälle immer, miteinanderzu tun. Jede bestimmt ihr eigenes Verhalten durch komplexe selbstrefe-renzielle Operationen innerhalb ihrer Grenzen. Das, was von ihr sichtbarwird, ist deshalb notwendig Reduktion. Jede unterstellt das gleiche der an-deren. Deshalb bleiben die black boxes bei aller Bemühung und bei allemZeitaufwand […] füreinander undurchsichtig“ (Luhmann, 156).

In Situationen doppelter Kontingenz gewinnt jede Festlegung, so zufäl-lig sie auch entstanden sein mag, Informations- und Anschlusswert für an-deres Handeln: Die black boxes beobachten einander wechselseitig, rea-gieren aufeinander und strukturieren darauf aufbauend ihre Erwartungenan den anderen: „Auf diese Weise kann eine emergente Ordnung zustan-dekommen, die bedingt ist durch die Komplexität der sie ermöglichendenSysteme […]. Wir nennen diese emergente Ordnung soziales System“(Luhmann, 157).

Gemäß den Prämissen der Systemtheorie würde sich Irigarays neuesPaar ein neues soziales System schaffen. Dies wäre zwar ein System, indem keines auf das andere reduzierbar oder durch dieses substituierbarwäre: „Sie bleiben getrennt, sie verschmelzen nicht“ (ebd.). Doch alsSystem beruht dieses notwendig auf einer Reduktion von Kontingenzen,insofern Handlung die Realisierung einer Möglichkeit und den Ausschlussanderer Möglichkeiten bedeutet.

Irigaray jedoch geht es bei ihrer Wiedereinsetzung der sexuellen Diffe-renz gerade nicht um Kontingenzreduktion, sondern um das Erhalten vonKontingenzen, das Offenhalten von Möglichkeiten. Das bedeutet konse-quenterweise auch, dass die Situation der doppelten Kontingenz nicht– oder allenfalls nur sehr vorläufig – zum Aufbau sozialer Systeme führt.Vielmehr geht es Irigaray darum, diese Ursprungssituation der doppeltenKontingenz in steter Wiedereinsetzung zu bewahren, wie sie in einer ande-ren begrifflichen Tradition, derjenigen von Descartes zeigt:

„Um zur Konstitution einer Ethik der sexuellen Differenz zu gelangen,muß man auf jeden Fall auf jene Leidenschaft zurückkommen, die nachDescartes die erste ist: die Verwunderung. Auf jene Leidenschaft, die keinGegenteil und keinen Gegensatz hat, und die immer ein erstes Mal ist. Sosind der Mann und die Frau, die Frau und der Mann, immer ein erstes Malin ihrer Begegnung: sie sind einander nicht substituierbar. […] Was der an-dere ist, wer er ist, ich weiß es nie. […] Das Staunen, das Verzaubertsein,die Verwunderung angesichts des Unerkennbaren müßten an ihren Ortzurückkehren: den der sexuellen Differenz“ (Ethik, 20f.).

Immer ein erstes Mal, immer Verwunderung, das ist der radikale Flucht-punkt von Irigarays Projekt einer Wiedereinsetzung von sexueller Diffe-renz, die permanente Herstellung der Situation der doppelten Kontingenz,in der alles offen und alles möglich ist.

Auswahlbibliographie

lig sie auch entstanden sein mag, Informations- und Anschlusswert für an-deres Handeln: Die black boxes beobachten einander wechselseitig, rea-gieren aufeinander und strukturieren darauf aufbauend ihre Erwartungenan den anderen: „Auf diese Weise kann eine emergente Ordnung zustan-dekommen, die bedingt ist durch die Komplexität der sie ermöglichendenSysteme […]. Wir nennen diese emergente Ordnung soziales System“(Luhmann, 157).

Gemäß den Prämissen der Systemtheorie würde sich Irigarays neuesPaar ein neues soziales System schaffen. Dies wäre zwar ein System, indem keines auf das andere reduzierbar oder durch dieses substituierbarwäre: „Sie bleiben getrennt, sie verschmelzen nicht“ (ebd.). Doch alsSystem beruht dieses notwendig auf einer Reduktion von Kontingenzen,insofern Handlung die Realisierung einer Möglichkeit und den Ausschlussanderer Möglichkeiten bedeutet.

Irigaray jedoch geht es bei ihrer Wiedereinsetzung der sexuellen Diffe-renz gerade nicht um Kontingenzreduktion, sondern um das Erhalten vonKontingenzen, das Offenhalten von Möglichkeiten. Das bedeutet konse-quenterweise auch, dass die Situation der doppelten Kontingenz nicht– oder allenfalls nur sehr vorläufig – zum Aufbau sozialer Systeme führt.Vielmehr geht es Irigaray darum, diese Ursprungssituation der doppeltenKontingenz in steter Wiedereinsetzung zu bewahren, wie sie in einer ande-ren begrifflichen Tradition, derjenigen von Descartes zeigt:

„Um zur Konstitution einer Ethik der sexuellen Differenz zu gelangen,muß man auf jeden Fall auf jene Leidenschaft zurückkommen, die nachDescartes die erste ist: die Verwunderung. Auf jene Leidenschaft, die keinGegenteil und keinen Gegensatz hat, und die immer ein erstes Mal ist. Sosind der Mann und die Frau, die Frau und der Mann, immer ein erstes Malin ihrer Begegnung: sie sind einander nicht substituierbar. […] Was der an-dere ist, wer er ist, ich weiß es nie. […] Das Staunen, das Verzaubertsein,die Verwunderung angesichts des Unerkennbaren müßten an ihren Ortzurückkehren: den der sexuellen Differenz“ (Ethik, 20f.).

Immer ein erstes Mal, immer Verwunderung, das ist der radikale Flucht-punkt von Irigarays Projekt einer Wiedereinsetzung von sexueller Diffe-renz, die permanente Herstellung der Situation der doppelten Kontingenz,in der alles offen und alles möglich ist.

Auswahlbibliographie

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LYNN HANKINSON NELSON UND SANDRA HARDING Feministische Wissenschaftstheorie und Kontingenz

Von Kathrin Hönig

Auf dem Feld feministischer Wissenschaftstheorie kann der Kontingenz-gedanke unter verschiedenen Aspekten und auf verschiedenen Ebenenaufgegriffen werden.1Da ist zum einen die traditionellerweise behauptete

Kontingenz des Geschlechts des Forschungssubjektes. Dem steht der his-torische Ausschluss des weiblichen Geschlechts von der Position des For-schungssubjektes gegenüber. Zum anderen wird, ebenfalls traditioneller-weise, behauptet, dass wissenschaftliche Theorien inhaltlich nicht kontin-gent seien, dass also objektive Forschungsergebnisse keine Alternativenzuließen. Die feministische Wissenschaftstheorie bezieht ihr kritisches

Potenzial aus dem Verdacht, dass die eine Kontingenz mit der anderen

Nicht-Kontingenz nicht vereinbar sei. Mit anderen Worten, feministische

Wissenschaftstheorie unterstellt, dass die quantitative Untervertretung von

Frauen auf der Ebene der Forschungssubjekte qualitative Konsequenzenfür die Ergebnisse von Wissenschaft hatte und hat. Anhand der Leitfrage,inwiefern Geschlecht eine relevante Variable für den wissenschaftlichen

Produktionsprozess sei, unternimmt feministische Wissenschaftstheorieeine umfassende Kritik bestehender wissenschaftstheoretischer Ansätze.

Im Folgenden wird zwischen einem so genannten wissenschaftsinternenund einem so genannten wissenschaftsexternen Ansatz der Wissenschafts-theorie unterschieden.

Der meist sozialwissenschaftlich oder wissenssoziologisch ausgerichtete wissenschaftsexterne Ansatz geht von vornherein davon aus, dass auchökonomische, politische oder soziale Faktoren, z. B. das Geschlecht derForschungssubjekte, eine Rolle spielen für das Forschungsergebnis bzw.den Forschungsinhalt. Wissenschaft wird als die Tätigkeit einer bestimm-ten, hochspezialisierten sozialen Gruppe, nämlich der Fachwissenschaft-ler(innen), betrachtet, als eine soziale Institution, die in einen größeren,gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet ist. Dem gegenübersteht der so genannte wissenschaftsinterne Ansatz in der Wissenschaftsthe-orie, der sich auf die kognitiven, epistemischen oder logischen Aspektevon Wissenschaft konzentriert und z. B. versucht, wissenschaftliche For-schung oder Fortschritt anhand der logischen Struktur von Theorien zu er-klären oder eine Begründung der jeweiligen Methodologie zu geben.Dabei sollten die als kontingent angesehenen so genannten kontextuellen Faktoren sozialen, politischen oder ökonomischen Ursprungs gerade keineRolle spielen. Gemäß dem wissenschaftsinternen Ansatz hat Wissenschaft,wenn sie Anspruch auf Objektivität erheben will, völlig neutral gegenüberkontextuellen Faktoren zu sein.

Der wissenschaftsinterne Ansatz steht historisch gesehen in der Tradi-tionslinie des Empirismus, welcher in Verbindung mit dem logischen Ato-mismus des frühen zwanzigsten Jahrhunderts im so genannten „WienerKreis“ zur Ausbildung des logischen Positivismus . logischen Empi-bzw rismus führte. Der oben skizzierte wissenschaftsexterne Ansatz hingegenkann mit derjenigen Traditionslinie in Verbindung gebracht werden, welchesich von Hegel bzw. dem Linkshegelianismus herkommend über den dia-lektischen Materialismus hin zur Wissenssoziologie nachzeichnen lässt. Derinterne, empiristisch orientierte und der externe, sozialwissenschaftlichbzw. wissenssoziologisch orientierte Ansatz hatten zunächst kaum Berüh-rungspunkte. Außerdem brach in Europa aufgrund der Emigration fast desgesamten „Wiener Kreises“ während der Zeit des Nationalsozialismus dieempiristische Traditionslinie weitgehend ab, während sie sich in den USAin der Folge etablierte. Daraus entstand dort eine neue philosophische Teil-disziplin, die „philosophy of science“.2Diese stand in ihren Anfängen der

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LYNN HANKINSON NELSON UND SANDRA HARDING Feministische Wissenschaftstheorie und Kontingenz

Von Kathrin Hönig

Auf dem Feld feministischer Wissenschaftstheorie kann der Kontingenz-gedanke unter verschiedenen Aspekten und auf verschiedenen Ebenenaufgegriffen werden.1Da ist zum einen die traditionellerweise behauptete

Kontingenz des Geschlechts des Forschungssubjektes. Dem steht der his-torische Ausschluss des weiblichen Geschlechts von der Position des For-schungssubjektes gegenüber. Zum anderen wird, ebenfalls traditioneller-weise, behauptet, dass wissenschaftliche Theorien inhaltlich nicht kontin-gent seien, dass also objektive Forschungsergebnisse keine Alternativenzuließen. Die feministische Wissenschaftstheorie bezieht ihr kritisches

Potenzial aus dem Verdacht, dass die eine Kontingenz mit der anderen

Nicht-Kontingenz nicht vereinbar sei. Mit anderen Worten, feministische

Wissenschaftstheorie unterstellt, dass die quantitative Untervertretung von

Frauen auf der Ebene der Forschungssubjekte qualitative Konsequenzenfür die Ergebnisse von Wissenschaft hatte und hat. Anhand der Leitfrage,inwiefern Geschlecht eine relevante Variable für den wissenschaftlichen

Produktionsprozess sei, unternimmt feministische Wissenschaftstheorieeine umfassende Kritik bestehender wissenschaftstheoretischer Ansätze.

Im Folgenden wird zwischen einem so genannten wissenschaftsinternenund einem so genannten wissenschaftsexternen Ansatz der Wissenschafts-theorie unterschieden.

Der meist sozialwissenschaftlich oder wissenssoziologisch ausgerichtete wissenschaftsexterne Ansatz geht von vornherein davon aus, dass auchökonomische, politische oder soziale Faktoren, z. B. das Geschlecht derForschungssubjekte, eine Rolle spielen für das Forschungsergebnis bzw.den Forschungsinhalt. Wissenschaft wird als die Tätigkeit einer bestimm-ten, hochspezialisierten sozialen Gruppe, nämlich der Fachwissenschaft-ler(innen), betrachtet, als eine soziale Institution, die in einen größeren,gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet ist. Dem gegenübersteht der so genannte wissenschaftsinterne Ansatz in der Wissenschaftsthe-orie, der sich auf die kognitiven, epistemischen oder logischen Aspektevon Wissenschaft konzentriert und z. B. versucht, wissenschaftliche For-schung oder Fortschritt anhand der logischen Struktur von Theorien zu er-klären oder eine Begründung der jeweiligen Methodologie zu geben.Dabei sollten die als kontingent angesehenen so genannten kontextuellen Faktoren sozialen, politischen oder ökonomischen Ursprungs gerade keineRolle spielen. Gemäß dem wissenschaftsinternen Ansatz hat Wissenschaft,wenn sie Anspruch auf Objektivität erheben will, völlig neutral gegenüberkontextuellen Faktoren zu sein.

Der wissenschaftsinterne Ansatz steht historisch gesehen in der Tradi-tionslinie des Empirismus, welcher in Verbindung mit dem logischen Ato-mismus des frühen zwanzigsten Jahrhunderts im so genannten „WienerKreis“ zur Ausbildung des logischen Positivismus . logischen Empi-bzw rismus führte. Der oben skizzierte wissenschaftsexterne Ansatz hingegenkann mit derjenigen Traditionslinie in Verbindung gebracht werden, welchesich von Hegel bzw. dem Linkshegelianismus herkommend über den dia-lektischen Materialismus hin zur Wissenssoziologie nachzeichnen lässt. Derinterne, empiristisch orientierte und der externe, sozialwissenschaftlichbzw. wissenssoziologisch orientierte Ansatz hatten zunächst kaum Berüh-rungspunkte. Außerdem brach in Europa aufgrund der Emigration fast desgesamten „Wiener Kreises“ während der Zeit des Nationalsozialismus dieempiristische Traditionslinie weitgehend ab, während sie sich in den USAin der Folge etablierte. Daraus entstand dort eine neue philosophische Teil-disziplin, die „philosophy of science“.2Diese stand in ihren Anfängen derstrikt intern argumentierenden Tradition des logischen Positivismus nahe.

Sie entwickelte sich jedoch nicht zuletzt aufgrund einer Kritik am Positi-vismus, welche auch mit wissenschaftshistorischen und wissenssoziologi-schen Argumenten und Methoden arbeitete, rasch weiter und differenzier-te sich aus. „Philosophy of science“ präsentiert sich heute als ein Feld, aufdem mit verschiedenen Ansätzen und Methoden gearbeitet wird.

Im Folgenden möchte ich zeigen, dass nicht nur ein wissenschaftsexter-ner sozialwissenschaftlich orientierter Ansatz es erlaubt, eine feministi-sche Kritik an den Wissenschaften zu formulieren und damit Kontingenzauf dem Feld naturwissenschaftlicher Theorien zu thematisieren, sonderndass die Weiterentwicklung des wissenschaftsinternen empiristischen An-satzes ebenfalls interessante Möglichkeiten für eine feministische Kritikeröffnet hat, wobei Kontingenz hier auf eine ganz andere Weise begründetwird. Ich beziehe mich zu diesem Zweck auf zwei amerikanische Philoso-phinnen, welche aus Platzgründen stellvertretend für die beiden Ansätzestehen. Es sind dies Sandra Harding für den sozialwissenschaftlich orien-tierten Ansatz und Lynn Hankinson Nelson für einen empiristisch orien-tierten, den Internalismus allerdings modifizierenden Ansatz.3

1. Lynn Hankinson Nelsons feministischer Empirismus

Lynn Hankinson Nelsons feministischer Empirismus („feminist empiri-cism“) beruht auf einer sorgfältigen und kritischen Verlängerung des Em-pirismus von Willard Van Orman Quine, der sich wiederum kritisch ab-gegrenzt hat vom Empirismus des „Wiener Kreises“. Zwei zentrale Ele-mente des Quine’schen Denkens erweisen sich als besonders nützlich fürdas Projekt eines feministischen Empirismus. Es sind dies erstens sein Theorienholismus in Kombination mit der Nichtunterscheidung zwischenTheorie und Sprache sowie zweitens die so genannte Unterbestimmtheits- these. Der (Quine’sche) Holismus besagt, dass wir Aussagen bzw. Über-zeugungen nicht einzeln oder isoliert auf ihren Wahrheitsgehalt bzw. ihrenempirischen Gehalt hin überprüfen können, sondern dass dies nur im Ver-bund mit der ganzen Theorie, der die Aussage entnommen ist, Sinn macht.Die erweiterte Form dieses Holismus ist ein Theorienholismus, der besagt,dass verschiedene Theorien ein Gewebe formen, in welchem die einzelnenTheorien miteinander in Verbindung stehen und das ebenfalls als Ganzesmit der Realität zu konfrontieren ist.4Damit einher geht ein Kohärenz- gebot : Gibt es an einer Stelle Änderungen im Gewebe, so muss an anderenStellen ausgleichend darauf reagiert werden, damit das Gesamtsystem ko-härent bleibt. Was die Nichtunterscheidung zwischen Theorie und Sprachebetrifft, so ist dies eine Quine’sche Spezialität, die es erlaubt, auch den All-tagsverstand bzw. die Ansichten des gesunden Menschenverstandes alseine Art „Theorie“ zu verstehen, wenn auch als eine, die uns zur „zweitenNatur“ geworden ist.5

Die Unterbestimmtheitsthese behauptet, dass zwischen Theorie undempirischen Belegen für die Theorie keine Eins-zu-eins-Beziehung be-steht, sondern eine Lücke derart, dass eine Theorie durch sämtliche mög-lichen Belege nicht vollständig bestimmt ist. Dies eröffnet die Möglichkeitalternativer Theorien bzw. Theorieformulierungen bei gleich bleibenderBeleglage.6

Hankinson Nelson ist überzeugt, dass der Empirismus, der Erfahrungbzw. Erfahrungsbelege als konstitutives Element von Theorien berücksich-tigt, immer noch der beste verfügbare Ansatz in der Wissenschaftstheorieist.7Auch in diesem Punkt schließt sie an Quine an, der Erfahrung nichtals das vortheoretische oder vorbegriffliche Fundament von Wissenschaftverstanden haben will, sondern betont, dass Erfahrung sprachlich verfasstund damit öffentlich ist, dass sie uns stets nur im Rahmen eines Begriffs-schemas zugänglich ist.8Quine, und damit komme ich zum ersten der bei-strikt intern argumentierenden Tradition des logischen Positivismus nahe.Sie entwickelte sich jedoch nicht zuletzt aufgrund einer Kritik am Positi-vismus, welche auch mit wissenschaftshistorischen und wissenssoziologi-schen Argumenten und Methoden arbeitete, rasch weiter und differenzier-te sich aus. „Philosophy of science“ präsentiert sich heute als ein Feld, aufdem mit verschiedenen Ansätzen und Methoden gearbeitet wird.

Im Folgenden möchte ich zeigen, dass nicht nur ein wissenschaftsexter-ner sozialwissenschaftlich orientierter Ansatz es erlaubt, eine feministi-sche Kritik an den Wissenschaften zu formulieren und damit Kontingenzauf dem Feld naturwissenschaftlicher Theorien zu thematisieren, sonderndass die Weiterentwicklung des wissenschaftsinternen empiristischen An-satzes ebenfalls interessante Möglichkeiten für eine feministische Kritikeröffnet hat, wobei Kontingenz hier auf eine ganz andere Weise begründetwird. Ich beziehe mich zu diesem Zweck auf zwei amerikanische Philoso-phinnen, welche aus Platzgründen stellvertretend für die beiden Ansätzestehen. Es sind dies Sandra Harding für den sozialwissenschaftlich orien-tierten Ansatz und Lynn Hankinson Nelson für einen empiristisch orien-tierten, den Internalismus allerdings modifizierenden Ansatz.3

1. Lynn Hankinson Nelsons feministischer Empirismus

Lynn Hankinson Nelsons feministischer Empirismus („feminist empiri-cism“) beruht auf einer sorgfältigen und kritischen Verlängerung des Em-pirismus von Willard Van Orman Quine, der sich wiederum kritisch ab-gegrenzt hat vom Empirismus des „Wiener Kreises“. Zwei zentrale Ele-mente des Quine’schen Denkens erweisen sich als besonders nützlich fürdas Projekt eines feministischen Empirismus. Es sind dies erstens sein Theorienholismus in Kombination mit der Nichtunterscheidung zwischenTheorie und Sprache sowie zweitens die so genannte Unterbestimmtheits- these. Der (Quine’sche) Holismus besagt, dass wir Aussagen bzw. Über-zeugungen nicht einzeln oder isoliert auf ihren Wahrheitsgehalt bzw. ihrenempirischen Gehalt hin überprüfen können, sondern dass dies nur im Ver-bund mit der ganzen Theorie, der die Aussage entnommen ist, Sinn macht.Die erweiterte Form dieses Holismus ist ein Theorienholismus, der besagt,dass verschiedene Theorien ein Gewebe formen, in welchem die einzelnenTheorien miteinander in Verbindung stehen und das ebenfalls als Ganzesmit der Realität zu konfrontieren ist.4Damit einher geht ein Kohärenz- gebot : Gibt es an einer Stelle Änderungen im Gewebe, so muss an anderenStellen ausgleichend darauf reagiert werden, damit das Gesamtsystem ko-härent bleibt. Was die Nichtunterscheidung zwischen Theorie und Sprachebetrifft, so ist dies eine Quine’sche Spezialität, die es erlaubt, auch den All-tagsverstand bzw. die Ansichten des gesunden Menschenverstandes alseine Art „Theorie“ zu verstehen, wenn auch als eine, die uns zur „zweitenNatur“ geworden ist.5

Die Unterbestimmtheitsthese behauptet, dass zwischen Theorie undempirischen Belegen für die Theorie keine Eins-zu-eins-Beziehung be-steht, sondern eine Lücke derart, dass eine Theorie durch sämtliche mög-lichen Belege nicht vollständig bestimmt ist. Dies eröffnet die Möglichkeitalternativer Theorien bzw. Theorieformulierungen bei gleich bleibenderBeleglage.6

Hankinson Nelson ist überzeugt, dass der Empirismus, der Erfahrungbzw. Erfahrungsbelege als konstitutives Element von Theorien berücksich-tigt, immer noch der beste verfügbare Ansatz in der Wissenschaftstheorieist.7Auch in diesem Punkt schließt sie an Quine an, der Erfahrung nichtals das vortheoretische oder vorbegriffliche Fundament von Wissenschaftverstanden haben will, sondern betont, dass Erfahrung sprachlich verfasstund damit öffentlich ist, dass sie uns stets nur im Rahmen eines Begriffs-schemas zugänglich ist.8Quine, und damit komme ich zum ersten der bei-den erwähnten Theorieelemente, macht bei der Entwicklung dieses Ge-dankens keinen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Begriffsschemaunserer Alltagssprache und dem Begriffsschema, wie es etwa durch einenaturwissenschaftliche Theorie repräsentiert wird. Die Sprache ist bereitsTheorie und Theorie ist immer auch Sprache, zwischen ihnen gibt eshöchstens einen fließenden Übergang.

Mit der Übernahme dieses Elementes der Quine’schen Theorie zusam-men mit dem Theorienholismus hat Hankinson Nelson ein wichtiges Ar-gument zur Hand, wenn es darum geht, gesellschaftliche Erfahrungen, wieetwa die von Frauen, in die naturwissenschaftliche Theoriebildung einzu-bringen, ohne sie dadurch als wissenschaftsexterne kontextuelle Faktorenauszuzeichnen. Denn wenn den Ansichten und Überzeugungen der alltäg-lichen Praxis der Status theoretischer Aussagen nicht grundsätzlich abge-sprochen werden kann, dann können ebendiese Ansichten und Überzeu-gungen nicht mehr in einen scharfen Gegensatz zu anderen, gegebenen-falls theoretisch-naturwissenschaftlichen Ansichten und Überzeugungengebracht werden. Der Gegensatz zwischen „wissenschaftlich“ und „unwis-senschaftlich“ fällt tendenziell in sich zusammen. Daraus folgt dann, dasssowohl „nichtwissenschaftliche“ als auch „wissenschaftliche“ Erfahrungeneine Rolle als Belege bei der Theorieevaluation spielen können. Damit hatdann aber auch die Auffassung von Wissenschaft als einer autonomen, vonanderen gesellschaftlichen Tätigkeiten isolierten Aktivität keinen Bestandmehr. Insofern handelt es sich um einen modifizierten internen Ansatz.„Science without boundaries“ nennt Hankinson Nelson diese Auffassung.9Demgemäß könnten und sollten wir nicht zwischen naturwissenschaft-lichen Erkenntnissen und Praktiken und andersartigen Erkenntnissen undPraktiken unterscheiden; genauso wenig wie wir scharf zwischen der wis-senschaftlichen Gemeinschaft auf der einen und der größeren Gemein-schaft, im Sinne von Gesellschaft, auf der anderen Seite unterscheidenkönnen. Jede und jeder ist Teil der Gesellschaft sowie als Wissenschaft-ler(in) Teil einer in die Gesellschaft eingebetteten, kleineren mehr oderweniger spezialisierten wissenschaftlichen Gemeinschaft. Gemeinschaftenund nicht Individuen sind die primären Erkenntnissubjekte.10Die Theo-rien der jeweiligen wissenschaftlichen Gemeinschaft prägen zwar die An-sichten und Überzeugungen der Gemeinschaftsmitglieder; sie tun diesjedoch nicht isoliert, sondern sind stets im Zusammenhang mit anderenwissenschaftlichen, aber auch nichtwissenschaftlichen Theorien, eben bei-spielsweise den Ansichten des gesunden Menschenverstandes, zu betrach-ten. „Scientists, feminists and nonfeminists, work within an inclusive bodyof theory they inherit and, in their small ways, alter – again, on the basis oftheir experiences, including their social and political experiences, andother theories.“11Wichtig für die Argumentation von Hankinson Nelsonist, dass alle unsere Überzeugungen und Erkenntnisansprüche letztlich derKontrolle durch die Erfahrung unterworfen sind, d.h. sowohl die wissen-schaftlichen als auch die nicht wissenschaftlichen als auch, und in diesemPunkt geht sie über Quine und auch andere feministische Ansätze hinaus,unsere Werturteile.12Indem Hankinson Nelson auch Werturteile undganze Wertesysteme der empirischen Kontrolle unterzieht, begegnet siedem gegenüber feministischer Wissenschaftstheorie häufig erhobenenVorwurf eines radikalen Konstruktivismus oder auch eines Erkenntnis-relativismus. Hankinson Nelson besteht darauf, dass nicht jedes Wertesys-tem so gut ist wie ein anderes. Man wird also nicht beispielsweise ein an-drozentrisches gegen ein gynozentrisches Wertesystem inklusive einer da-rauf aufbauenden Wissenschaft ausspielen können. Selbstverständlichfließen in die feministische Wissenschaftskritik feministische Werte ein,die sich auf geschlechtsspezifisch diskriminierende Erfahrung zurückfüh-ren lassen. Doch damit diese Erfahrungen als Belege für oder gegen einebestimmte Theorie ins Feld geführt werden können, müssen sie sich mes-sen lassen an öffentlichen Standards der Belegüberprüfung („public stan-dards of evidence“13). Hankinson Nelson bleibt auch hier streng empiris-tisch, markiert aber deutlich den Unterschied zu denjenigen Ansätzen,welche Wertneutralität behaupten: Eine feministisch-empiristische Wis-senschaftstheorie geht bewusst mit den ihr zugrunde liegenden Werten um und sie unterwirft sie der empirischen Kontrolle. Demgegenüber kann dietraditionelle Auffassung von Wissenschaft, in welcher Werten kein Platzeingeräumt wird, dem unbewussten Einsickern von Werten nicht Einhaltgebieten.14Ob der feministische Ansatz hält, was er verspricht, kann frei-lich nicht a priori entschieden werden, sondern wird sich an der Erfahrungden erwähnten Theorieelemente, macht bei der Entwicklung dieses Ge-dankens keinen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Begriffsschemaunserer Alltagssprache und dem Begriffsschema, wie es etwa durch einenaturwissenschaftliche Theorie repräsentiert wird. Die Sprache ist bereitsTheorie und Theorie ist immer auch Sprache, zwischen ihnen gibt eshöchstens einen fließenden Übergang.

Mit der Übernahme dieses Elementes der Quine’schen Theorie zusam-men mit dem Theorienholismus hat Hankinson Nelson ein wichtiges Ar-gument zur Hand, wenn es darum geht, gesellschaftliche Erfahrungen, wieetwa die von Frauen, in die naturwissenschaftliche Theoriebildung einzu-bringen, ohne sie dadurch als wissenschaftsexterne kontextuelle Faktorenauszuzeichnen. Denn wenn den Ansichten und Überzeugungen der alltäg-lichen Praxis der Status theoretischer Aussagen nicht grundsätzlich abge-sprochen werden kann, dann können ebendiese Ansichten und Überzeu-gungen nicht mehr in einen scharfen Gegensatz zu anderen, gegebenen-falls theoretisch-naturwissenschaftlichen Ansichten und Überzeugungengebracht werden. Der Gegensatz zwischen „wissenschaftlich“ und „unwis-senschaftlich“ fällt tendenziell in sich zusammen. Daraus folgt dann, dasssowohl „nichtwissenschaftliche“ als auch „wissenschaftliche“ Erfahrungeneine Rolle als Belege bei der Theorieevaluation spielen können. Damit hatdann aber auch die Auffassung von Wissenschaft als einer autonomen, vonanderen gesellschaftlichen Tätigkeiten isolierten Aktivität keinen Bestandmehr. Insofern handelt es sich um einen modifizierten internen Ansatz.„Science without boundaries“ nennt Hankinson Nelson diese Auffassung.9Demgemäß könnten und sollten wir nicht zwischen naturwissenschaft-lichen Erkenntnissen und Praktiken und andersartigen Erkenntnissen undPraktiken unterscheiden; genauso wenig wie wir scharf zwischen der wis-senschaftlichen Gemeinschaft auf der einen und der größeren Gemein-schaft, im Sinne von Gesellschaft, auf der anderen Seite unterscheidenkönnen. Jede und jeder ist Teil der Gesellschaft sowie als Wissenschaft-ler(in) Teil einer in die Gesellschaft eingebetteten, kleineren mehr oderweniger spezialisierten wissenschaftlichen Gemeinschaft. Gemeinschaftenund nicht Individuen sind die primären Erkenntnissubjekte.10Die Theo-rien der jeweiligen wissenschaftlichen Gemeinschaft prägen zwar die An-sichten und Überzeugungen der Gemeinschaftsmitglieder; sie tun diesjedoch nicht isoliert, sondern sind stets im Zusammenhang mit anderenwissenschaftlichen, aber auch nichtwissenschaftlichen Theorien, eben bei-spielsweise den Ansichten des gesunden Menschenverstandes, zu betrach-ten. „Scientists, feminists and nonfeminists, work within an inclusive bodyof theory they inherit and, in their small ways, alter – again, on the basis oftheir experiences, including their social and political experiences, andother theories.“11Wichtig für die Argumentation von Hankinson Nelsonist, dass alle unsere Überzeugungen und Erkenntnisansprüche letztlich derKontrolle durch die Erfahrung unterworfen sind, d.h. sowohl die wissen-schaftlichen als auch die nicht wissenschaftlichen als auch, und in diesemPunkt geht sie über Quine und auch andere feministische Ansätze hinaus,unsere Werturteile.12Indem Hankinson Nelson auch Werturteile undganze Wertesysteme der empirischen Kontrolle unterzieht, begegnet siedem gegenüber feministischer Wissenschaftstheorie häufig erhobenenVorwurf eines radikalen Konstruktivismus oder auch eines Erkenntnis-relativismus. Hankinson Nelson besteht darauf, dass nicht jedes Wertesys-tem so gut ist wie ein anderes. Man wird also nicht beispielsweise ein an-drozentrisches gegen ein gynozentrisches Wertesystem inklusive einer da-rauf aufbauenden Wissenschaft ausspielen können. Selbstverständlichfließen in die feministische Wissenschaftskritik feministische Werte ein,die sich auf geschlechtsspezifisch diskriminierende Erfahrung zurückfüh-ren lassen. Doch damit diese Erfahrungen als Belege für oder gegen einebestimmte Theorie ins Feld geführt werden können, müssen sie sich mes-sen lassen an öffentlichen Standards der Belegüberprüfung („public stan-dards of evidence“13). Hankinson Nelson bleibt auch hier streng empiris-tisch, markiert aber deutlich den Unterschied zu denjenigen Ansätzen,welche Wertneutralität behaupten: Eine feministisch-empiristische Wis-senschaftstheorie geht bewusst mit den ihr zugrunde liegenden Werten um und sie unterwirft sie der empirischen Kontrolle. Demgegenüber kann dietraditionelle Auffassung von Wissenschaft, in welcher Werten kein Platzeingeräumt wird, dem unbewussten Einsickern von Werten nicht Einhaltgebieten.14Ob der feministische Ansatz hält, was er verspricht, kann frei-lich nicht a priori entschieden werden, sondern wird sich an der Erfahrungmessen lassen müssen. „[A] feminist epistemology cannot ‘prove’ or, inand of itself, ‘justify’ feminists’ claims. Feminists believe to be true whatthey claim is true. The justification of feminist claims will be on the basis oftheir empirical adequacy.“15

Bevor ich Hankinson Nelsons feministischen Empirismus ausdrücklichmit dem Kontingenzgedanken in Verbindung bringen kann, ist das zweitevon Quine übernommene Theorieelement aufzugreifen, die Unterbe-stimmtheitsthese. Sie spielt bei der Argumentation von Hankinson Nelsoneine weitaus geringere Rolle als das erste Theorieelement. Hingegen ist sienicht nur für den Kontingenzgedanken, sondern auch für ein gewisses

Kontingenzbewusstsein wichtig; ein Kontingenzbewusstsein, das am Endeauch den feministischen Ansatz selbst umfasst.

Die Unterbestimmtheitsthese besagt, dass, bei gegebener Beleglage,keine bestimmte Theorieformulierung als die allein richtige (oder wahre)ausgezeichnet werden kann, sondern dass Alternativen denkbar sind, dieals ebenso richtig (oder wahr) gelten können. Dies liegt daran, dass empi-rische Belege, um intersubjektiv überprüfbar zu sein, grundsätzlich öffent-lichen Charakter haben müssen, dass es sich also – im empiristischen Jar-gon gesprochen – um beobachtbare bzw. wahrnehmbare Belege handelnmuss. Nun machen aber komplexere (natur-)wissenschaftliche Theorienauch (hypothetische) Aussagen über unbeobachtbare Entitäten, Sachver-halte und Ereignisse. Angesichts dieser Situation, so die Unterbestimmt-heitsthese, lassen die beobachtbaren Entitäten, Sachverhalte oder Ereig-nisse die Hypothesen über unbeobachtbare Entitäten, Sachverhalte und

Ereignisse unbestimmt. Denn es ist (logisch) möglich, dass die gleichen be-obachtbaren Entitäten, Sachverhalte und Ereignisse mit anderen Hypo-thesen über die Verhältnisse im unbeobachtbaren Bereich ebenso verein-bar sind. Daraus folgt, dass eine zu evaluierende Theorie nicht eins zu einsauf die Wirklichkeit abgebildet und dort überprüft werden kann oder, an-ders gesagt, dass die (wahrnehmbare) Wirklichkeit von nicht nur einer

Theorie angemessen abgebildet wird. Es sind Alternativen vorstellbar, dieder empirischen Überprüfung ebenso standhalten. Man spricht auch vonder empirischen Äquivalenz von Theorien.16Wird die Unterbestimmtheits-these nun mit einem Theorienholismus kombiniert, so hat das weit rei-chende Folgen. Denn gegebenenfalls erfordert die Veränderung an einer

Stelle im (Theorien-)Gewebe Anpassungen an anderen Stellen, um die

Kohärenz zu wahren.

Auf zweifache Weise kommt eine solche Kombination von Unter-bestimmtheit und Theorienholismus feministischen Anliegen entgegen.Erstens sind bestehende Theorien nichts Absolutes, Stabiles oder Alter-nativeloses. „There is ‘room’ for alternatives to our going theories – alter-native ways of describing the order we have found in nature, including ourcurrent laws of nature – and our adoption of such alternatives in one areaof science or in our common-sense dealings with the world will eventuallyreverberate through others of our theories.“17Ganz ohne irgendwelchekontextuelle Faktoren oder Werte (seien es feministische oder andere)einfließen zu lassen, kann angesichts der Unterbestimmtheitsthese ineinem ersten Schritt auf die Möglichkeit alternativer Theorieformulierun-gen aufmerksam gemacht werden. In einem zweiten Schritt kann man sichdann für diejenige Theorieformulierung entscheiden, die mit der weib-lichen (Alltags-)Erfahrung oder feministischen Werten am besten in Ein-klang steht. Dadurch, dass alle unsere Überzeugungen und Ansichten, diewissenschaftlichen wie die nicht wissenschaftlichen, die wertenden wie dienicht wertenden, der empirischen Kontrolle unterworfen sind, wird dieje-nige Theorieformulierung das Rennen machen, die mit der Gesamtheit un-serer Erfahrungen am besten im Einklang steht. Dies ist das Fazit, das sichaus Hankinson Nelsons Ansatz ziehen lässt. Die Frage ist allerdings, wasgenau sie mit „unsere“ Erfahrungen meint und wer das „wir“ ist, auf wel-ches jene verweisen. Bevor ich diese Frage aufgreife, ist auf den zweitenfeministisch nutzbaren Aspekt der Kombination von Theorienholismusund Unterbestimmtheitsthese einzugehen.

Es lässt sich nämlich zweitens der anfangs angeführte feministische Ver-dacht bestärken, dass es nicht ohne Konsequenzen für den Gehalt von Wis-senschaft ist, wer Wissenschaft betreibt. Da die Werte und Überzeugungendes Alltagsverstandes gemäß der Ununterscheidbarkeit von Theorie undSprache eine Rolle auch in der Wissenschaft spielen, steht zu vermuten,dass auf der Grundlage bestimmter Alltagswerte und -überzeugungen be-stimmte Theorieformulierungen favorisiert und andere abgelehnt werden,weil jene besser als diese mit der Gesamtheit der Erfahrungen in Einklangstehen. Laut Hankinson Nelson wäre dann die Unterbestimmtheitsthesedafür verantwortlich, dass Unterschiede in den Alltagsüberzeugungen aufder Theorieebene via alternative Theorieformulierungen auch tatsächlichmanifest werden können. „Given a view of science that incorporates thesepositions [die Position, dass die Wissenschaft nicht autonom sei, zusammenmit der Unterbestimmtheitsthese], it is possible to recognize that if currentdivisions in cognitive labor and authority also mirror differences in ‘com-mon-sense’ or ‘extrascientific’ experience, such divisions might have con-sequences for the content of science – that is, who is theorizing, in termsmessen lassen müssen. „[A] feminist epistemology cannot ‘prove’ or, inand of itself, ‘justify’ feminists’ claims. Feminists believe to be true whatthey claim is true. The justification of feminist claims will be on the basis oftheir empirical adequacy.“15

Bevor ich Hankinson Nelsons feministischen Empirismus ausdrücklichmit dem Kontingenzgedanken in Verbindung bringen kann, ist das zweitevon Quine übernommene Theorieelement aufzugreifen, die Unterbe-stimmtheitsthese. Sie spielt bei der Argumentation von Hankinson Nelsoneine weitaus geringere Rolle als das erste Theorieelement. Hingegen ist sienicht nur für den Kontingenzgedanken, sondern auch für ein gewisses

Kontingenzbewusstsein wichtig; ein Kontingenzbewusstsein, das am Endeauch den feministischen Ansatz selbst umfasst.

Die Unterbestimmtheitsthese besagt, dass, bei gegebener Beleglage,keine bestimmte Theorieformulierung als die allein richtige (oder wahre)ausgezeichnet werden kann, sondern dass Alternativen denkbar sind, dieals ebenso richtig (oder wahr) gelten können. Dies liegt daran, dass empi-rische Belege, um intersubjektiv überprüfbar zu sein, grundsätzlich öffent-lichen Charakter haben müssen, dass es sich also – im empiristischen Jar-gon gesprochen – um beobachtbare bzw. wahrnehmbare Belege handelnmuss. Nun machen aber komplexere (natur-)wissenschaftliche Theorienauch (hypothetische) Aussagen über unbeobachtbare Entitäten, Sachver-halte und Ereignisse. Angesichts dieser Situation, so die Unterbestimmt-heitsthese, lassen die beobachtbaren Entitäten, Sachverhalte oder Ereig-nisse die Hypothesen über unbeobachtbare Entitäten, Sachverhalte und

Ereignisse unbestimmt. Denn es ist (logisch) möglich, dass die gleichen be-obachtbaren Entitäten, Sachverhalte und Ereignisse mit anderen Hypo-thesen über die Verhältnisse im unbeobachtbaren Bereich ebenso verein-bar sind. Daraus folgt, dass eine zu evaluierende Theorie nicht eins zu einsauf die Wirklichkeit abgebildet und dort überprüft werden kann oder, an-ders gesagt, dass die (wahrnehmbare) Wirklichkeit von nicht nur einer

Theorie angemessen abgebildet wird. Es sind Alternativen vorstellbar, dieder empirischen Überprüfung ebenso standhalten. Man spricht auch vonder empirischen Äquivalenz von Theorien.16Wird die Unterbestimmtheits-these nun mit einem Theorienholismus kombiniert, so hat das weit rei-chende Folgen. Denn gegebenenfalls erfordert die Veränderung an einer

Stelle im (Theorien-)Gewebe Anpassungen an anderen Stellen, um die

Kohärenz zu wahren.

Auf zweifache Weise kommt eine solche Kombination von Unter-bestimmtheit und Theorienholismus feministischen Anliegen entgegen.Erstens sind bestehende Theorien nichts Absolutes, Stabiles oder Alter-nativeloses. „There is ‘room’ for alternatives to our going theories – alter-native ways of describing the order we have found in nature, including ourcurrent laws of nature – and our adoption of such alternatives in one areaof science or in our common-sense dealings with the world will eventuallyreverberate through others of our theories.“17Ganz ohne irgendwelchekontextuelle Faktoren oder Werte (seien es feministische oder andere)einfließen zu lassen, kann angesichts der Unterbestimmtheitsthese ineinem ersten Schritt auf die Möglichkeit alternativer Theorieformulierun-gen aufmerksam gemacht werden. In einem zweiten Schritt kann man sichdann für diejenige Theorieformulierung entscheiden, die mit der weib-lichen (Alltags-)Erfahrung oder feministischen Werten am besten in Ein-klang steht. Dadurch, dass alle unsere Überzeugungen und Ansichten, diewissenschaftlichen wie die nicht wissenschaftlichen, die wertenden wie dienicht wertenden, der empirischen Kontrolle unterworfen sind, wird dieje-nige Theorieformulierung das Rennen machen, die mit der Gesamtheit un-serer Erfahrungen am besten im Einklang steht. Dies ist das Fazit, das sichaus Hankinson Nelsons Ansatz ziehen lässt. Die Frage ist allerdings, wasgenau sie mit „unsere“ Erfahrungen meint und wer das „wir“ ist, auf wel-ches jene verweisen. Bevor ich diese Frage aufgreife, ist auf den zweitenfeministisch nutzbaren Aspekt der Kombination von Theorienholismusund Unterbestimmtheitsthese einzugehen.

Es lässt sich nämlich zweitens der anfangs angeführte feministische Ver-dacht bestärken, dass es nicht ohne Konsequenzen für den Gehalt von Wis-senschaft ist, wer Wissenschaft betreibt. Da die Werte und Überzeugungendes Alltagsverstandes gemäß der Ununterscheidbarkeit von Theorie undSprache eine Rolle auch in der Wissenschaft spielen, steht zu vermuten,dass auf der Grundlage bestimmter Alltagswerte und -überzeugungen be-stimmte Theorieformulierungen favorisiert und andere abgelehnt werden,weil jene besser als diese mit der Gesamtheit der Erfahrungen in Einklangstehen. Laut Hankinson Nelson wäre dann die Unterbestimmtheitsthesedafür verantwortlich, dass Unterschiede in den Alltagsüberzeugungen aufder Theorieebene via alternative Theorieformulierungen auch tatsächlichmanifest werden können. „Given a view of science that incorporates thesepositions [die Position, dass die Wissenschaft nicht autonom sei, zusammenmit der Unterbestimmtheitsthese], it is possible to recognize that if currentdivisions in cognitive labor and authority also mirror differences in ‘com-mon-sense’ or ‘extrascientific’ experience, such divisions might have con-sequences for the content of science – that is, who is theorizing, in termsof common-sense experience, might make a difference to the content ofthat theorizing. The ‘slack’ between theories and evidence, and the con-nection between common sense and science, might allow for such an oc-currence.“18Die Unterbestimmtheitsthese zusammen mit einem Theorien-holismus liefert somit eine Begründung für die feministische These, dassGeschlecht eine relevante Variable bei der Theoriebildung ist.

Kommen wir nun zu der Frage zurück, was mit „unseren“ Erfahrungengemeint ist und wer das „wir“ ist, auf welches sie verweisen. HankinsonNelsons nicht weiter ausgeführter Begriff der öffentlichen Standards derBelegüberprüfung lässt vermuten, dass in Bezug auf solche Standards einallgemeiner Minimalkonsens hergestellt werden kann. Dieser Minimal-konsens scheint darin zu bestehen, dass es unvernünftig wäre, etwas zuglauben oder von etwas überzeugt zu sein, wofür es offensichtliche Gegen-belege („counterevidence“) gibt, das also der allgemeinen Erfahrung bzw.der Standardwahrnehmung widerspricht.19Gleichzeitig aber ist klar, dassdie in die Gesellschaft eingebetteten kleineren wissenschaftlichen Gemein-schaften, die so genannten „epistemological communities“, ihre eigenenStandards der Belegüberprüfung haben.20Insofern aber als wissenschaft-liche Gemeinschaften ihre eigenen Standards der Belegüberprüfunghaben, gibt es mehrere „wirs“. Und weil das so ist, gibt es z. B. zwischenfeministischen und nicht feministischen Wissenschaftlern/-innen nicht not-wendigerweise einen Konsens. „Given the notion of an epistemologicalcommunity, we can begin to characterize some aspects of the current stateof science by saying that a community of feminist scientists and a com-munity of their nonfeminist colleagues differ in terms of a number of theo-ries.“21An dieser Stelle ergibt sich nun vor dem Hintergrund der Unter-bestimmtheitsthese folgendes Problem: Wie bereits erwähnt, können fe-ministische Wissenschaftler(innen) die in ihre Forschung einfließendenfeministischen Werte und damit auch ihre Theorieformulierungen nicht apriori rechtfertigen. Diese müssen sich empirisch bewähren. Genausomüssen sich die nicht auf feministischen Werten beruhenden Theoriefor-mulierungen empirisch bewähren. Und das tun sie meist auch, zumindestin den Augen derjenigen wissenschaftlichen Gemeinschaft, die sie vertritt.Kann nun die feministische Wissenschaftskritik einer nicht feministischenTheorieformulierung keine Fehler nachweisen, welche zur Aufgabe derTheorie führten, so ließe sich mittels der Unterbestimmtheitsthese argu-mentieren, dass verschiedene Theorieformulierungen den Belegen glei-chermaßen gerecht zu werden in der Lage seien, dass sie also empirischäquivalent sein können. Damit aber ist prinzipiell auch die feministisch in-spirierte Theorieformulierung nur eine unter mehreren möglichen, empi-risch äquivalenten Theorieformulierungen; d. h., sie ist kontingent. DieUnterbestimmtheitsthese, welche der feministischen Kritik so viel Spiel-raum für alternative Theorieformulierungen eröffnete, macht vor der fe-ministisch inspirierten Theorieformulierung nicht Halt.

Es ist so. Es könnte auch anders sein.22Um dieses grundsätzliche Kon-tingenzbewusstsein kommt auch oder vielleicht gerade ein feministischerEmpirismus nicht herum. Dieser Befund hat trotzdem einen großen Vor-teil: Unter der Voraussetzung, dass es nicht um die Durchsetzung von Par-tialinteressen einzelner wissenschaftlicher Gemeinschaften geht, zwingtein solches Kontingenzbewusstseins dazu, öffentlich auszuhandeln, was alsdie relevanten Belege bzw. Erfahrungen gelten soll, was also die Gesamt-heit unserer Erfahrung ausmacht, welche Werte zu den relevanten Erfah-rungsbelegen hinzugerechnet werden sollen (und welche unberücksichtigtbleiben können) und wie nicht zuletzt die öffentlichen Standards der Be-legüberprüfung aussehen sollen, wenn sie sich auf wissenschaftliche Theo-rien beziehen. Denn es ist klar, dass der oben skizzierte undifferenzierteMinimalkonsens nicht ausreicht, um eine komplexe naturwissenschaftlicheTheorie zu evaluieren. Aus diesem Grunde wird die Entwicklung einer fe-ministischen Wissenschaft Hand in Hand gehen mit der Entwicklung einerfeministischen Gesellschaft.23

2. Sandra Hardings feministische Wissenssoziologie

Obwohl Sandra Harding ihre Doktorarbeit über Quines Erkenntnisthe-orie geschrieben hat, grenzt sie sich später, in ihren feministischen wissen-schaftstheoretischen Schriften, scharf von empiristischen Ansätzen ab. Fürihren eigenen Ansatz kombiniert sie verschiedene Ansätze, was eine ein-deutige Zuordnung erschwert. Meines Erachtens trifft die Bezeichnung„feministische Wissenssoziologie“ Hardings Werk am besten. Sie decktsich jedoch nicht mit den von ihr selbst verwendeten Begriffen.24Hardingof common-sense experience, might make a difference to the content ofthat theorizing. The ‘slack’ between theories and evidence, and the con-nection between common sense and science, might allow for such an oc-currence.“18Die Unterbestimmtheitsthese zusammen mit einem Theorien-holismus liefert somit eine Begründung für die feministische These, dassGeschlecht eine relevante Variable bei der Theoriebildung ist.

Kommen wir nun zu der Frage zurück, was mit „unseren“ Erfahrungengemeint ist und wer das „wir“ ist, auf welches sie verweisen. HankinsonNelsons nicht weiter ausgeführter Begriff der öffentlichen Standards derBelegüberprüfung lässt vermuten, dass in Bezug auf solche Standards einallgemeiner Minimalkonsens hergestellt werden kann. Dieser Minimal-konsens scheint darin zu bestehen, dass es unvernünftig wäre, etwas zuglauben oder von etwas überzeugt zu sein, wofür es offensichtliche Gegen-belege („counterevidence“) gibt, das also der allgemeinen Erfahrung bzw.der Standardwahrnehmung widerspricht.19Gleichzeitig aber ist klar, dassdie in die Gesellschaft eingebetteten kleineren wissenschaftlichen Gemein-schaften, die so genannten „epistemological communities“, ihre eigenenStandards der Belegüberprüfung haben.20Insofern aber als wissenschaft-liche Gemeinschaften ihre eigenen Standards der Belegüberprüfunghaben, gibt es mehrere „wirs“. Und weil das so ist, gibt es z. B. zwischenfeministischen und nicht feministischen Wissenschaftlern/-innen nicht not-wendigerweise einen Konsens. „Given the notion of an epistemologicalcommunity, we can begin to characterize some aspects of the current stateof science by saying that a community of feminist scientists and a com-munity of their nonfeminist colleagues differ in terms of a number of theo-ries.“21An dieser Stelle ergibt sich nun vor dem Hintergrund der Unter-bestimmtheitsthese folgendes Problem: Wie bereits erwähnt, können fe-ministische Wissenschaftler(innen) die in ihre Forschung einfließendenfeministischen Werte und damit auch ihre Theorieformulierungen nicht apriori rechtfertigen. Diese müssen sich empirisch bewähren. Genausomüssen sich die nicht auf feministischen Werten beruhenden Theoriefor-mulierungen empirisch bewähren. Und das tun sie meist auch, zumindestin den Augen derjenigen wissenschaftlichen Gemeinschaft, die sie vertritt.Kann nun die feministische Wissenschaftskritik einer nicht feministischenTheorieformulierung keine Fehler nachweisen, welche zur Aufgabe derTheorie führten, so ließe sich mittels der Unterbestimmtheitsthese argu-mentieren, dass verschiedene Theorieformulierungen den Belegen glei-chermaßen gerecht zu werden in der Lage seien, dass sie also empirischäquivalent sein können. Damit aber ist prinzipiell auch die feministisch in-spirierte Theorieformulierung nur eine unter mehreren möglichen, empi-risch äquivalenten Theorieformulierungen; d. h., sie ist kontingent. DieUnterbestimmtheitsthese, welche der feministischen Kritik so viel Spiel-raum für alternative Theorieformulierungen eröffnete, macht vor der fe-ministisch inspirierten Theorieformulierung nicht Halt.

Es ist so. Es könnte auch anders sein.22Um dieses grundsätzliche Kon-tingenzbewusstsein kommt auch oder vielleicht gerade ein feministischerEmpirismus nicht herum. Dieser Befund hat trotzdem einen großen Vor-teil: Unter der Voraussetzung, dass es nicht um die Durchsetzung von Par-tialinteressen einzelner wissenschaftlicher Gemeinschaften geht, zwingtein solches Kontingenzbewusstseins dazu, öffentlich auszuhandeln, was alsdie relevanten Belege bzw. Erfahrungen gelten soll, was also die Gesamt-heit unserer Erfahrung ausmacht, welche Werte zu den relevanten Erfah-rungsbelegen hinzugerechnet werden sollen (und welche unberücksichtigtbleiben können) und wie nicht zuletzt die öffentlichen Standards der Be-legüberprüfung aussehen sollen, wenn sie sich auf wissenschaftliche Theo-rien beziehen. Denn es ist klar, dass der oben skizzierte undifferenzierteMinimalkonsens nicht ausreicht, um eine komplexe naturwissenschaftlicheTheorie zu evaluieren. Aus diesem Grunde wird die Entwicklung einer fe-ministischen Wissenschaft Hand in Hand gehen mit der Entwicklung einerfeministischen Gesellschaft.23

2. Sandra Hardings feministische Wissenssoziologie

Obwohl Sandra Harding ihre Doktorarbeit über Quines Erkenntnisthe-orie geschrieben hat, grenzt sie sich später, in ihren feministischen wissen-schaftstheoretischen Schriften, scharf von empiristischen Ansätzen ab. Fürihren eigenen Ansatz kombiniert sie verschiedene Ansätze, was eine ein-deutige Zuordnung erschwert. Meines Erachtens trifft die Bezeichnung„feministische Wissenssoziologie“ Hardings Werk am besten. Sie decktsich jedoch nicht mit den von ihr selbst verwendeten Begriffen.24Hardinggibt zwar zu, es gebe „Richtungen in der Wissenssoziologie, die Vorläuferdessen sind, was mir als Darstellungsform vorschwebt“25, zieht es dannaber vor, von einem sozialwissenschaftlichen Ansatz zu sprechen. DiesemAnsatz attestiert sie Modellcharakter für alle Wissenschaftstypen. „MeineArgumentation wird dahin gehen, daß eine kritische und selbstreflexiveSozialwissenschaft das Modell für alle Wissenschaften darstellen sollte.“26Dies hat zur Folge, dass auch die Naturwissenschaften darunter subsu-miert werden können und fürderhin als „eine spezielle Form von Sozial-wissenschaften“27gelten. Mit diesem Zug verwischt Harding üblicheUnterscheidungen28und bringt traditionelle Hierarchien durcheinander.Dies betrifft insbesondere die Rede von einer „harten“ und einer „wei-chen“ Wissenschaft, wobei das Prädikat „hart“ in der Regel den Naturwis-senschaften zugewiesen wird und „weich“ den Geisteswissenschaften. Dieempirischen Sozialwissenschaften befinden sich irgendwo im Grenzlanddazwischen. Als härteste (und deshalb nobelste) Wissenschaft wird diePhysik angesehen.

Indem eine „kritische und selbstreflexive Sozialwissenschaft das Modellfür alle Wissenschaften“ darstellt, sind nicht nur die Weichen für einen ex-ternen wissenschaftstheoretischen Ansatz gestellt, sondern es wird auchvon vornherein die Beweislast umgekehrt. Statt den so genannten „har-ten“ Naturwissenschaften nachweisen zu müssen, dass sie nicht wertneu-tral sind, kann man sie nun einfach am anderen „Ende des Kontinuumswertgebundener Forschungstraditionen“29ansiedeln und dazu übergehen,diejenigen hergebrachten Überzeugungen in Frage zu stellen, welcheeinem wissenssoziologischen bzw. sozialwissenschaftlichen Ansatz noch imWege stehen: „Warum wird die Vorstellung, auch die Naturwissenschaftsei ein historisch veränderbares Ensemble gesellschaftlicher Tätigkeitenund Praxisformen, mit dem Tabu belegt? Warum wird nicht anerkannt,daß eine gründliche wissenschaftliche und Würdigung der Wissenschaftdavon ausgehen muß, daß die Denk- und Praxisformen der WissenschaftGesetzmäßigkeiten und Kausalitäten gehorchen, die ihrerseits beschrie-ben und erklärt werden können?“30Gemäß Harding bräuchte es dazueine Theorie, welche „die gesellschaftliche Herausbildung von Denksyste-men“31erklären könnte. Eine solche Theorie wäre dann auch in der Lage,„den Geschlechtsbegriff als Bestandteil wissenschaftlicher Denkschemata,als Organisationsform der gesellschaftlichen Arbeit von Wissenschaft oderals Aspekt der individuellen Identität von Wissenschaftlern und Wissen-schaftlerinnen herauszuarbeiten“32.

In einer nunmehr klassischen Dreiteilung unterscheidet Harding dreifeministische wissenschaftstheoretische Ansätze: den feministischen Em-pirismus, die feministische Standpunkttheorie und den feministischenPostmodernismus.33Deren Aufgabe, um es zu wiederholen, ist es, „den Ge-schlechtsbegriff als Bestandteil wissenschaftlicher Denkschemata, als Or-ganisationsform der gesellschaftlichen Arbeit von Wissenschaft oder alsAspekt der individuellen Identität von Wissenschaftlern und Wissen-schaftlerinnen herauszuarbeiten“. In der hier genannten Reihenfolge sinddiese Ansätze so aufeinander bezogen, dass einer jeweils die inhärentenProbleme des vorhergehenden überwinden soll. Hardings Sympathien gel-ten einer Mischung aus Standpunkttheorie und postmodernen Ansätzen,einem „postmoderne[n] Standpunkt-Denken“34. Aufbauend auf dieser Mi-schung entwickelt sie den Begriff der strengen Objektivität („strong objec-tivity“), welcher die problematischen Aspekte des postmodernen Ansatzesauffängt und überwindet. Strenge Objektivität wird zum Kennzeicheneiner sozialwissenschaftlich verstandenen Theorie der Naturwissenschaft35und somit zum Kennzeichen einer feministischen Wissenssoziologie. ImFolgenden gehe ich ein auf diese drei Ansätze in ihrer Entwicklung hinzum Begriff der strengen Objektivität.

Der feministische Empirismus zeichnet sich gemäß Harding durch dasBeharren auf der rigoroseren Anwendung bestehender methodologischerStandards aus. Diese sollen den Forschungsergebnissen die allgemeineund wertfreie Objektivität garantieren, welche androzentrische oder sexis-tische Verzerrungen per se ausschließen würde. Im Rahmen des Begriffs-paars „gute Wissenschaft“ – „schlechte Wissenschaft“ argumentieren lautgibt zwar zu, es gebe „Richtungen in der Wissenssoziologie, die Vorläuferdessen sind, was mir als Darstellungsform vorschwebt“25, zieht es dannaber vor, von einem sozialwissenschaftlichen Ansatz zu sprechen. DiesemAnsatz attestiert sie Modellcharakter für alle Wissenschaftstypen. „MeineArgumentation wird dahin gehen, daß eine kritische und selbstreflexiveSozialwissenschaft das Modell für alle Wissenschaften darstellen sollte.“26Dies hat zur Folge, dass auch die Naturwissenschaften darunter subsu-miert werden können und fürderhin als „eine spezielle Form von Sozial-wissenschaften“27gelten. Mit diesem Zug verwischt Harding üblicheUnterscheidungen28und bringt traditionelle Hierarchien durcheinander.Dies betrifft insbesondere die Rede von einer „harten“ und einer „wei-chen“ Wissenschaft, wobei das Prädikat „hart“ in der Regel den Naturwis-senschaften zugewiesen wird und „weich“ den Geisteswissenschaften. Dieempirischen Sozialwissenschaften befinden sich irgendwo im Grenzlanddazwischen. Als härteste (und deshalb nobelste) Wissenschaft wird diePhysik angesehen.

Indem eine „kritische und selbstreflexive Sozialwissenschaft das Modellfür alle Wissenschaften“ darstellt, sind nicht nur die Weichen für einen ex-ternen wissenschaftstheoretischen Ansatz gestellt, sondern es wird auchvon vornherein die Beweislast umgekehrt. Statt den so genannten „har-ten“ Naturwissenschaften nachweisen zu müssen, dass sie nicht wertneu-tral sind, kann man sie nun einfach am anderen „Ende des Kontinuumswertgebundener Forschungstraditionen“29ansiedeln und dazu übergehen,diejenigen hergebrachten Überzeugungen in Frage zu stellen, welcheeinem wissenssoziologischen bzw. sozialwissenschaftlichen Ansatz noch imWege stehen: „Warum wird die Vorstellung, auch die Naturwissenschaftsei ein historisch veränderbares Ensemble gesellschaftlicher Tätigkeitenund Praxisformen, mit dem Tabu belegt? Warum wird nicht anerkannt,daß eine gründliche wissenschaftliche und Würdigung der Wissenschaftdavon ausgehen muß, daß die Denk- und Praxisformen der WissenschaftGesetzmäßigkeiten und Kausalitäten gehorchen, die ihrerseits beschrie-ben und erklärt werden können?“30Gemäß Harding bräuchte es dazueine Theorie, welche „die gesellschaftliche Herausbildung von Denksyste-men“31erklären könnte. Eine solche Theorie wäre dann auch in der Lage,„den Geschlechtsbegriff als Bestandteil wissenschaftlicher Denkschemata,als Organisationsform der gesellschaftlichen Arbeit von Wissenschaft oderals Aspekt der individuellen Identität von Wissenschaftlern und Wissen-schaftlerinnen herauszuarbeiten“32.

In einer nunmehr klassischen Dreiteilung unterscheidet Harding dreifeministische wissenschaftstheoretische Ansätze: den feministischen Em-pirismus, die feministische Standpunkttheorie und den feministischenPostmodernismus.33Deren Aufgabe, um es zu wiederholen, ist es, „den Ge-schlechtsbegriff als Bestandteil wissenschaftlicher Denkschemata, als Or-ganisationsform der gesellschaftlichen Arbeit von Wissenschaft oder alsAspekt der individuellen Identität von Wissenschaftlern und Wissen-schaftlerinnen herauszuarbeiten“. In der hier genannten Reihenfolge sinddiese Ansätze so aufeinander bezogen, dass einer jeweils die inhärentenProbleme des vorhergehenden überwinden soll. Hardings Sympathien gel-ten einer Mischung aus Standpunkttheorie und postmodernen Ansätzen,einem „postmoderne[n] Standpunkt-Denken“34. Aufbauend auf dieser Mi-schung entwickelt sie den Begriff der strengen Objektivität („strong objec-tivity“), welcher die problematischen Aspekte des postmodernen Ansatzesauffängt und überwindet. Strenge Objektivität wird zum Kennzeicheneiner sozialwissenschaftlich verstandenen Theorie der Naturwissenschaft35und somit zum Kennzeichen einer feministischen Wissenssoziologie. ImFolgenden gehe ich ein auf diese drei Ansätze in ihrer Entwicklung hinzum Begriff der strengen Objektivität.

Der feministische Empirismus zeichnet sich gemäß Harding durch dasBeharren auf der rigoroseren Anwendung bestehender methodologischerStandards aus. Diese sollen den Forschungsergebnissen die allgemeineund wertfreie Objektivität garantieren, welche androzentrische oder sexis-tische Verzerrungen per se ausschließen würde. Im Rahmen des Begriffs-paars „gute Wissenschaft“ – „schlechte Wissenschaft“ argumentieren lautHarding feministische Empiristinnen, dass „nur ‘schlechte Wissenschaft’oder ‘schlechte Soziologie’ […] für den fortgesetzten Einfluss von Vor-urteilen auf die Forschungsergebnisse verantwortlich“36sei. Harding kri-tisiert, dass ein solcher feministischer Empirismus übersieht, wie sehr dastraditionelle Objektivitätsideal selbst androzentrisch verzerrt ist, weil esz.B. auf einer strikten Trennung zwischen Wissenschaft und Gesellschaftbesteht. Harding argumentiert, dass das Bestehen auf einer rigoroseren

Einhaltung der methodologischen Normen des Empirismus auch dazuführen könne, „daß die Befolgung dieser Regeln gerade zu androzentri-schen Forschungsergebnissen führt. Die Normen selbst sind in erster

Linie darauf ausgerichtet, Antworten auf die Sorte Fragen hervorzubrin-gen, die eine androzentrische Gesellschaft über Natur und soziales Lebenstellt, und eine kritische Überprüfung der Art und Weise zu verhindern,wie nahezu kulturweite Überzeugungen tatsächlich nicht mittels dieser

Normen aus den Forschungsergebnissen zu eliminieren sind.“37Eine

Überwindung dieser misslichen Lage sollen die Standpunkttheorien be-werkstelligen. Sie beziehen bewusst den gesellschaftlichen Zusammen-hang, dem eine Theorie bzw. ihre Vertreter entstammen, als relevanten

Faktor der Theoriebildung in ihre Überlegungen ein und sollten deshalbprinzipiell in der Lage sein, nicht nur individuelle, sondern auch kultur-weite sexistische und androzentrische Vorurteile als solche zu erkennenund zu benennen.

Feministische Standpunkttheorien lassen sich auf einen historischen

Materialismus, d.h. auf marxistische Gesellschaftsanalysen zurückführen.

Die Quintessenz dieses Ansatzes kommt in Marx’ Diktum vom Sein, wel-ches das Bewusstsein bestimmt, zum Ausdruck.38Bei Harding präsentiertsich die Kernaussage der Standpunkttheorien folgendermaßen: „Diegrundlegende Annahme lautet, daß die menschliche Arbeit, oder das ‘ma-terielle’ Sein, das menschliche Bewußtsein nicht nur strukturiert, sondernauch begrenzt: Was wir tun, prägt und beschränkt unsere Erkenntnisse.“39

In einer Gesellschaftsordnung, in welcher die Geschlechterdifferenz bei-nahe ubiquitäre Wirkungen zeitigt, ist demgemäß davon auszugehen, dassauch das vergeschlechtlichte Sein unsere Erkenntnisse prägt und be-schränkt. Während es bei Marx das Proletariat ist, das aufgrund seiner ma-teriellen Involvierung in den Produktionsprozess zu einer vollständigerenSicht auf die Wirklichkeit kommt als die Bourgeoisie, welche sich, über-spitzt gesagt, die Hände nicht schmutzig machen muss, so sind es in den fe-ministischen Standpunkttheorien die Frauen als gesellschaftliche Gruppe,die eine vollständigere Sicht der sozialen Wirklichkeit inklusive der sieprägenden geschlechtsbezogenen Unterdrückungsverhältnisse zu ent-wickeln vermögen. Bezogen auf die Wissenschaft bzw. in einem wissen-schaftstheoretischen Zusammenhang ist ein „feministischer erkenntnis-theoretischer Standpunkt […] eine interessengeleitete gesellschaftlicheOrtsbestimmung (interessengeleitet im Sinne von ‘engagiert’, nicht ‘einsei-tig verzerrt’), die denjenigen, welche diesen Ort einnehmen, einen wissen-schaftlichen und erkenntnistheoretischen strategischen Vorteil verschafft.Die Unterjochung der sinnlichen, konkreten und beziehungsorientiertenTätigkeit der Frauen läßt sie solche Aspekte von Natur und Gesellschaftbegreifen, die der auf spezifisch männlicher Tätigkeit basierenden For-schung unzugänglich sind. Die auf männlichen Tätigkeitsformen sich grün-dende Weltsicht ist sowohl partiell als auch pervertiert; letzteres deswegen,weil sie die den Dingen zukommende Ordnung systematisch ins Gegenteilverkehrt, indem sie die abstrakte an die Stelle der konkreten Realitätsetzt.“40In einen feministischen Standpunkt gehen die konkreten Erfah-rungen von Frauen ein. Die Standpunkttheorie ist deshalb die Theorie,welche Hardings feministisch-wissenssoziologischer GrundüberzeugungRechnung trägt, dass es darum gehe, von der Erfahrung von Frauen aus-zugehen.41Zusammenfassend lässt sich festhalten: Mit einer historischoperierenden Standpunkttheorie, bei welcher auf die Bedingungen derMöglichkeit des jeweiligen Standpunktes reflektiert wird, ein Standpunktalso relativ zu seiner Zeit analysiert wird, lässt sich „die gesellschaftlicheHerausbildung von Denksystemen“42, die „Beziehung zwischen Erkennt-nis und sozialer Ordnung“43erklären. Diese auf Kontingenz verweisendeHistorisierung betrifft, wie wir später noch sehen werden, auch die He-rausbildung des feministischen Standpunktes selbst.

Nun hat sich jedoch der standpunkttheoretische Ansatz rasch als nichtganz unproblematisch erwiesen. Problematisch sind z. B. die Einebnungvon Differenzen innerhalb eines Standpunktes, die damit einhergehendeTendenz zur Essentialisierung sowie der Anspruch, dass nur eine GruppeHarding feministische Empiristinnen, dass „nur ‘schlechte Wissenschaft’oder ‘schlechte Soziologie’ […] für den fortgesetzten Einfluss von Vor-urteilen auf die Forschungsergebnisse verantwortlich“36sei. Harding kri-tisiert, dass ein solcher feministischer Empirismus übersieht, wie sehr dastraditionelle Objektivitätsideal selbst androzentrisch verzerrt ist, weil esz.B. auf einer strikten Trennung zwischen Wissenschaft und Gesellschaftbesteht. Harding argumentiert, dass das Bestehen auf einer rigoroserenEinhaltung der methodologischen Normen des Empirismus auch dazuführen könne, „daß die Befolgung dieser Regeln gerade zu androzentri-schen Forschungsergebnissen führt. Die Normen selbst sind in ersterLinie darauf ausgerichtet, Antworten auf die Sorte Fragen hervorzubrin-gen, die eine androzentrische Gesellschaft über Natur und soziales Lebenstellt, und eine kritische Überprüfung der Art und Weise zu verhindern,wie nahezu kulturweite Überzeugungen tatsächlich nicht mittels dieserNormen aus den Forschungsergebnissen zu eliminieren sind.“37EineÜberwindung dieser misslichen Lage sollen die Standpunkttheorien be-werkstelligen. Sie beziehen bewusst den gesellschaftlichen Zusammen-hang, dem eine Theorie bzw. ihre Vertreter entstammen, als relevantenFaktor der Theoriebildung in ihre Überlegungen ein und sollten deshalbprinzipiell in der Lage sein, nicht nur individuelle, sondern auch kultur-weite sexistische und androzentrische Vorurteile als solche zu erkennenund zu benennen.

Feministische Standpunkttheorien lassen sich auf einen historischenMaterialismus, d.h. auf marxistische Gesellschaftsanalysen zurückführen.Die Quintessenz dieses Ansatzes kommt in Marx’ Diktum vom Sein, wel-ches das Bewusstsein bestimmt, zum Ausdruck.38Bei Harding präsentiertsich die Kernaussage der Standpunkttheorien folgendermaßen: „Diegrundlegende Annahme lautet, daß die menschliche Arbeit, oder das ‘ma-terielle’ Sein, das menschliche Bewußtsein nicht nur strukturiert, sondernauch begrenzt: Was wir tun, prägt und beschränkt unsere Erkenntnisse.“39In einer Gesellschaftsordnung, in welcher die Geschlechterdifferenz bei-nahe ubiquitäre Wirkungen zeitigt, ist demgemäß davon auszugehen, dassauch das vergeschlechtlichte Sein unsere Erkenntnisse prägt und be-schränkt. Während es bei Marx das Proletariat ist, das aufgrund seiner ma-teriellen Involvierung in den Produktionsprozess zu einer vollständigerenSicht auf die Wirklichkeit kommt als die Bourgeoisie, welche sich, über-spitzt gesagt, die Hände nicht schmutzig machen muss, so sind es in den fe-ministischen Standpunkttheorien die Frauen als gesellschaftliche Gruppe,die eine vollständigere Sicht der sozialen Wirklichkeit inklusive der sieprägenden geschlechtsbezogenen Unterdrückungsverhältnisse zu ent-wickeln vermögen. Bezogen auf die Wissenschaft bzw. in einem wissen-schaftstheoretischen Zusammenhang ist ein „feministischer erkenntnis-theoretischer Standpunkt […] eine interessengeleitete gesellschaftlicheOrtsbestimmung (interessengeleitet im Sinne von ‘engagiert’, nicht ‘einsei-tig verzerrt’), die denjenigen, welche diesen Ort einnehmen, einen wissen-schaftlichen und erkenntnistheoretischen strategischen Vorteil verschafft.Die Unterjochung der sinnlichen, konkreten und beziehungsorientiertenTätigkeit der Frauen läßt sie solche Aspekte von Natur und Gesellschaftbegreifen, die der auf spezifisch männlicher Tätigkeit basierenden For-schung unzugänglich sind. Die auf männlichen Tätigkeitsformen sich grün-dende Weltsicht ist sowohl partiell als auch pervertiert; letzteres deswegen,weil sie die den Dingen zukommende Ordnung systematisch ins Gegenteilverkehrt, indem sie die abstrakte an die Stelle der konkreten Realitätsetzt.“40In einen feministischen Standpunkt gehen die konkreten Erfah-rungen von Frauen ein. Die Standpunkttheorie ist deshalb die Theorie,welche Hardings feministisch-wissenssoziologischer GrundüberzeugungRechnung trägt, dass es darum gehe, von der Erfahrung von Frauen aus-zugehen.41Zusammenfassend lässt sich festhalten: Mit einer historischoperierenden Standpunkttheorie, bei welcher auf die Bedingungen derMöglichkeit des jeweiligen Standpunktes reflektiert wird, ein Standpunktalso relativ zu seiner Zeit analysiert wird, lässt sich „die gesellschaftlicheHerausbildung von Denksystemen“42, die „Beziehung zwischen Erkennt-nis und sozialer Ordnung“43erklären. Diese auf Kontingenz verweisendeHistorisierung betrifft, wie wir später noch sehen werden, auch die He-rausbildung des feministischen Standpunktes selbst.

Nun hat sich jedoch der standpunkttheoretische Ansatz rasch als nichtganz unproblematisch erwiesen. Problematisch sind z. B. die Einebnungvon Differenzen innerhalb eines Standpunktes, die damit einhergehendeTendenz zur Essentialisierung sowie der Anspruch, dass nur eine Gruppebzw. nur ein Standpunkt jeweils über die epistemisch privilegierte Positionverfügt.44

Harding greift insbesondere den Punkt der Einebnung von Differenzenauf, indem sie darauf aufmerksam macht, dass es „die“ Frau als gesell-schaftliches Gruppensubjekt nicht gibt, sondern höchstens auf vielfältige

Weise – ökonomisch, sozial, ethnisch oder anderweitig – situierte Frauen.

Dies führt im Rahmen des Standpunktansatzes zu gewissen Schwierigkei-ten. „Fordert nicht die interne Logik der Standpunkttheorien, daß die ge-sellschaftliche Erfahrung farbiger Frauen ‘wahrere Wege’ zu Vernunft und

Gesellschaft eröffnet, die nicht von rassen- und geschlechtsspezifischen

Loyalitäten verzerrt sind?“45Dieser vom postmodernen Differenzdenkeninspirierte Gedankengang mündet in eine Multiplizierung der Standpunk-te, worauf ein weiterer Kritikpunkt aufbaut. Er betrifft nicht mehr bloßdie „übersteigerten Verallgemeinerungen“46, mit welcher Differenzenunter Frauen eingeebnet werden, sondern auch die Tendenz zur Verabso-lutierung eines Standpunktes zu dem alleinigen epistemisch privilegierten

Standpunkt. Laut Harding kritisieren postmoderne Ansätze zu Recht dasdem Konzept der universalen Vernunft verpflichtete aufklärerische Erbedes Standpunktansatzes: „[…] die Standpunkttheorien scheinen jener

‘einen wahren Geschichte’ über uns und unsere Welt verpflichtet zu sein,welche die postmodernen Erkenntnistheorien als gefährliche Fiktion be-trachten. Können sich erstere in ausreichender Weise von ihren moder-nistischen Vorfahren lösen, um zwar parteiliche, dennoch aber ‘wenigerfalsche’ Geschichten zu begründen?“47

Das Problem mit den postmodernen Ansätzen ist, dass man mit ihnenzwar ein absolutistisches Einheitsdenken sowie einen erkenntnistheoreti-schen Fundamentalismus kritisieren kann, dass man aber, wenn man den

Gedanken von der Nichtprivilegierbarkeit eines epistemischen Stand-punktes bzw. einer „Geschichte“ über die Wirklichkeit ernst nimmt, so-gleich ins Fahrwasser des Relativismus gerät. Und das Etikett „Rela-tivismus“ möchte eine feministische Wissenschaftstheorie in der Regelnicht aufgeklebt bekommen.48In dem früheren Buch Feministische Wis- senschaftstheorie sucht Harding nach einem Modell, welches in nicht bloßadditiver Weise verschiedene Teilstandpunkte zu einem feministischenStandpunkt vereint, sodass damit eine „zwar parteiliche, dennoch aber‘weniger falsche’ Geschichte“ erzählt werden könnte.49Die Ausführungendazu bleiben jedoch vage und werden in dem späteren Buch Das Ge- schlecht des Wissens durch den Ruf nach „strenger Objektivität“ als Ant-wort auf die Frage nach der „weniger falschen Geschichte“ abgelöst.

Strenge Objektivität steht im Gegensatz zu dem von Harding so ge-nannten „Objektivismus“. Der Objektivismus entspricht mehr oder weni-ger dem traditionellen Objektivitätsideal, welches (mindestens) Wertfrei-heit, Allgemeingültigkeit und Unparteilichkeit anstrebt. In HardingsAugen ist dies eine schwache Form von Objektivität; einerseits, weil derBegriff „objektiv“ zu eng angewendet wird, wenn z. B. auf strikter Wert-neutralität bestanden wird, andererseits, weil der Begriff „objektiv“,indem der Ausschluss sämtlicher Werte gefordert wird, zu weit gefasstwird. Denn, so argumentiert Harding vor dem Hintergrund des Stand-punktansatzes, es sei klar, „dass nicht alle gesellschaftlichen Werte undInteressen die gleichen schlechten Auswirkungen auf die Forschungs-ergebnisse haben. Einige generieren weniger voreingenommene undverzerrte Überzeugungen als andere – oder als angeblich wertfreie For-schung […].“50Mit dieser Aussage holt sich Harding zum einen die gesell-schaftlichen Werte und Interessen ins wissenschaftstheoretische Boot.Zum anderen möchte sie damit dem Vorwurf des Relativismus vorbeugen.Was sie vermeiden möchte, ist nicht ein historischer Relativismus, welchermit dem Standpunktansatz sogar ausdrücklich verbunden wird,51sonderneinen „Bewertungs- oder erkenntnistheoretischen Relativismus, der dieMöglichkeit vernünftiger Maßstäbe für die Entscheidung zwischen kon-kurrierenden Behauptungen ganz generell bestreitet“52.bzw. nur ein Standpunkt jeweils über die epistemisch privilegierte Positionverfügt.44

Harding greift insbesondere den Punkt der Einebnung von Differenzenauf, indem sie darauf aufmerksam macht, dass es „die“ Frau als gesell-schaftliches Gruppensubjekt nicht gibt, sondern höchstens auf vielfältige

Weise – ökonomisch, sozial, ethnisch oder anderweitig – situierte Frauen.

Dies führt im Rahmen des Standpunktansatzes zu gewissen Schwierigkei-ten. „Fordert nicht die interne Logik der Standpunkttheorien, daß die ge-sellschaftliche Erfahrung farbiger Frauen ‘wahrere Wege’ zu Vernunft und

Gesellschaft eröffnet, die nicht von rassen- und geschlechtsspezifischen

Loyalitäten verzerrt sind?“45Dieser vom postmodernen Differenzdenkeninspirierte Gedankengang mündet in eine Multiplizierung der Standpunk-te, worauf ein weiterer Kritikpunkt aufbaut. Er betrifft nicht mehr bloßdie „übersteigerten Verallgemeinerungen“46, mit welcher Differenzenunter Frauen eingeebnet werden, sondern auch die Tendenz zur Verabso-lutierung eines Standpunktes zu dem alleinigen epistemisch privilegierten

Standpunkt. Laut Harding kritisieren postmoderne Ansätze zu Recht dasdem Konzept der universalen Vernunft verpflichtete aufklärerische Erbedes Standpunktansatzes: „[…] die Standpunkttheorien scheinen jener

‘einen wahren Geschichte’ über uns und unsere Welt verpflichtet zu sein,welche die postmodernen Erkenntnistheorien als gefährliche Fiktion be-trachten. Können sich erstere in ausreichender Weise von ihren moder-nistischen Vorfahren lösen, um zwar parteiliche, dennoch aber ‘wenigerfalsche’ Geschichten zu begründen?“47

Das Problem mit den postmodernen Ansätzen ist, dass man mit ihnenzwar ein absolutistisches Einheitsdenken sowie einen erkenntnistheoreti-schen Fundamentalismus kritisieren kann, dass man aber, wenn man den

Gedanken von der Nichtprivilegierbarkeit eines epistemischen Stand-punktes bzw. einer „Geschichte“ über die Wirklichkeit ernst nimmt, so-gleich ins Fahrwasser des Relativismus gerät. Und das Etikett „Rela-tivismus“ möchte eine feministische Wissenschaftstheorie in der Regelnicht aufgeklebt bekommen.48In dem früheren Buch Feministische Wis- senschaftstheorie sucht Harding nach einem Modell, welches in nicht bloßadditiver Weise verschiedene Teilstandpunkte zu einem feministischenStandpunkt vereint, sodass damit eine „zwar parteiliche, dennoch aber‘weniger falsche’ Geschichte“ erzählt werden könnte.49Die Ausführungendazu bleiben jedoch vage und werden in dem späteren Buch Das Ge- schlecht des Wissens durch den Ruf nach „strenger Objektivität“ als Ant-wort auf die Frage nach der „weniger falschen Geschichte“ abgelöst.

Strenge Objektivität steht im Gegensatz zu dem von Harding so ge-nannten „Objektivismus“. Der Objektivismus entspricht mehr oder weni-ger dem traditionellen Objektivitätsideal, welches (mindestens) Wertfrei-heit, Allgemeingültigkeit und Unparteilichkeit anstrebt. In HardingsAugen ist dies eine schwache Form von Objektivität; einerseits, weil derBegriff „objektiv“ zu eng angewendet wird, wenn z. B. auf strikter Wert-neutralität bestanden wird, andererseits, weil der Begriff „objektiv“,indem der Ausschluss sämtlicher Werte gefordert wird, zu weit gefasstwird. Denn, so argumentiert Harding vor dem Hintergrund des Stand-punktansatzes, es sei klar, „dass nicht alle gesellschaftlichen Werte undInteressen die gleichen schlechten Auswirkungen auf die Forschungs-ergebnisse haben. Einige generieren weniger voreingenommene undverzerrte Überzeugungen als andere – oder als angeblich wertfreie For-schung […].“50Mit dieser Aussage holt sich Harding zum einen die gesell-schaftlichen Werte und Interessen ins wissenschaftstheoretische Boot.Zum anderen möchte sie damit dem Vorwurf des Relativismus vorbeugen.Was sie vermeiden möchte, ist nicht ein historischer Relativismus, welchermit dem Standpunktansatz sogar ausdrücklich verbunden wird,51sonderneinen „Bewertungs- oder erkenntnistheoretischen Relativismus, der dieMöglichkeit vernünftiger Maßstäbe für die Entscheidung zwischen kon-kurrierenden Behauptungen ganz generell bestreitet“52.

Diesem Zweck dient das Konzept der strengen Objektivität, welches

„eine kritische Forschung“ fordert, „um zu bestimmen, welche sozialen

Situationen die objektivsten Erkenntnisansprüche hervorbringen kön-nen“.53Dabei spielt der Gedanke einer strengen Reflexivität („strong re-flexivity“) eine wesentliche Rolle.

Wie bei Hankinson Nelson geht es auch bei Harding darum, einen Be-griff von Wissenschaft zu entwickeln, bei welchem gesellschaftliche Werteund Interessen als angeblich wissenschaftsexterne Faktoren eine selbstver-ständliche Rolle spielen, ohne dass es zu einer Beliebigkeit von For-schungsprogrammen mitsamt ihrer Ergebnisse kommt, was einem Bewer-tungsrelativismus gleichkäme. Was bei Hankinson Nelson die Unterwer-fung auch der Wertesysteme unter die empirische Kontrolle leisten soll,leistet bei Harding das Konzept der „strengen Reflexivität“. Diese steht inengem Zusammenhang mit strenger Objektivität. Grob vereinfachend ge-sprochen geht es bei der strengen Reflexivität darum, dass die Forschungs-subjekte einen kritischen Blick auf ihren eigenen Standpunkt, also auf ihreeigene soziale und historische Verortung werfen und die Ergebnisse dieserkritischen Überprüfung wiederum als einen Teil der für ihre Forschung re-levanten Belege akzeptieren. Indem das Forschungssubjekt sich seinereigenen historischen und gesellschaftlichen Situiertheit bewusst wird undvor sich selbst Rechenschaft ablegt über das damit einhergehende Werte-system, ist es in der Lage, Theorien am Maßstab strenger Objektivität zuevaluieren. Demokratisch-partizipatorische Werte54werden als Belege

Vorrang haben vor Werten, welche z.B. ein hierarchisches, mit Ausschlüs-sen operierendes konservatives Gesellschaftsbild propagieren. Dies jeden-falls entspricht Hardings Position zum Zeitpunkt der Abfassung von Femi- nistische Wissenschaftstheorie . Zum Zeitpunkt der ausdrücklichen Ent-wicklung des Konzeptes strenger Objektivität in Das Geschlecht des

Wissens sind die Dinge weniger klar. Die Multiplikation der Standpunkteführt dazu, dass sich verschiedene emanzipatorische Standpunkte tenden-ziell konkurrieren. Die Gefahr eines Bewertungsrelativismus ist nicht ge-bannt. Hardings vage Empfehlung dazu lautet, dass die streng reflexivkonstruierten verschiedenen Standpunkte sich gegenseitig „durchdrin-gen“55müssten. „Der Feminismus sollte sich auf die Interessen der ande-ren Bewegungen konzentrieren, und jede der anderen muß feministischeInteressen ins Zentrum rücken.“56Dieser Gedanke appelliert meines Er-achtens jedoch zu stark an ein weder ausdrücklich eingeführtes nocherläutertes kooperatives Solidaritätsbewusstsein der Beteiligten. Er gibtkeinen Maßstab oder eine Handlungsmaxime an die Hand, die im Kon-fliktfall, d. h., wenn es um die Frage geht, welcher Standpunkt die objek-tivsten Überzeugungen generiert oder welches Wertesystem die besserenemanzipatorischen Werte mitbringt, zu einer Lösung führen würden.57

Hingegen sehe ich eine Stärke des Konzepts der strengen Reflexivitätdarin, dass eine feministische Wissenschaftstheorie sich nun nicht ihrer-seits hegemonial oder absolutistisch gebärden und andere Ansätze per seund ohne empirische Überprüfung verwerfen kann. Indem auch eine femi-nistische Wissenschaftstheorie über ihre soziale und historische Verortungsowie die in sie eingeflossenen Werte Rechenschaft ablegen und sie in denTheoriebildungsprozess einbeziehen muss, wird sie unausweichlich eintief gehendes Kontingenzbewusstsein generieren. Dies ist zum einen dasBewusstsein um die historische Kontingenz des feministischen Ansatzesselbst. Harding beschreibt mehrfach den „historischen Moment“, in wel-chem der Feminismus entstehen konnte, und charakterisiert ihn als einenMoment, in dem „besondere ökonomische, politische und gesellschaftlicheDiesem Zweck dient das Konzept der strengen Objektivität, welches

„eine kritische Forschung“ fordert, „um zu bestimmen, welche sozialen

Situationen die objektivsten Erkenntnisansprüche hervorbringen kön-nen“.53Dabei spielt der Gedanke einer strengen Reflexivität („strong re-flexivity“) eine wesentliche Rolle.

Wie bei Hankinson Nelson geht es auch bei Harding darum, einen Be-griff von Wissenschaft zu entwickeln, bei welchem gesellschaftliche Werteund Interessen als angeblich wissenschaftsexterne Faktoren eine selbstver-ständliche Rolle spielen, ohne dass es zu einer Beliebigkeit von For-schungsprogrammen mitsamt ihrer Ergebnisse kommt, was einem Bewer-tungsrelativismus gleichkäme. Was bei Hankinson Nelson die Unterwer-fung auch der Wertesysteme unter die empirische Kontrolle leisten soll,leistet bei Harding das Konzept der „strengen Reflexivität“. Diese steht inengem Zusammenhang mit strenger Objektivität. Grob vereinfachend ge-sprochen geht es bei der strengen Reflexivität darum, dass die Forschungs-subjekte einen kritischen Blick auf ihren eigenen Standpunkt, also auf ihreeigene soziale und historische Verortung werfen und die Ergebnisse dieserkritischen Überprüfung wiederum als einen Teil der für ihre Forschung re-levanten Belege akzeptieren. Indem das Forschungssubjekt sich seinereigenen historischen und gesellschaftlichen Situiertheit bewusst wird undvor sich selbst Rechenschaft ablegt über das damit einhergehende Werte-system, ist es in der Lage, Theorien am Maßstab strenger Objektivität zuevaluieren. Demokratisch-partizipatorische Werte54werden als Belege

Vorrang haben vor Werten, welche z.B. ein hierarchisches, mit Ausschlüs-sen operierendes konservatives Gesellschaftsbild propagieren. Dies jeden-falls entspricht Hardings Position zum Zeitpunkt der Abfassung von Femi- nistische Wissenschaftstheorie . Zum Zeitpunkt der ausdrücklichen Ent-wicklung des Konzeptes strenger Objektivität in Das Geschlecht des

Wissens sind die Dinge weniger klar. Die Multiplikation der Standpunkteführt dazu, dass sich verschiedene emanzipatorische Standpunkte tenden-ziell konkurrieren. Die Gefahr eines Bewertungsrelativismus ist nicht ge-bannt. Hardings vage Empfehlung dazu lautet, dass die streng reflexivkonstruierten verschiedenen Standpunkte sich gegenseitig „durchdrin-gen“55müssten. „Der Feminismus sollte sich auf die Interessen der ande-ren Bewegungen konzentrieren, und jede der anderen muß feministischeInteressen ins Zentrum rücken.“56Dieser Gedanke appelliert meines Er-achtens jedoch zu stark an ein weder ausdrücklich eingeführtes nocherläutertes kooperatives Solidaritätsbewusstsein der Beteiligten. Er gibtkeinen Maßstab oder eine Handlungsmaxime an die Hand, die im Kon-fliktfall, d. h., wenn es um die Frage geht, welcher Standpunkt die objek-tivsten Überzeugungen generiert oder welches Wertesystem die besserenemanzipatorischen Werte mitbringt, zu einer Lösung führen würden.57

Hingegen sehe ich eine Stärke des Konzepts der strengen Reflexivitätdarin, dass eine feministische Wissenschaftstheorie sich nun nicht ihrer-seits hegemonial oder absolutistisch gebärden und andere Ansätze per seund ohne empirische Überprüfung verwerfen kann. Indem auch eine femi-nistische Wissenschaftstheorie über ihre soziale und historische Verortungsowie die in sie eingeflossenen Werte Rechenschaft ablegen und sie in denTheoriebildungsprozess einbeziehen muss, wird sie unausweichlich eintief gehendes Kontingenzbewusstsein generieren. Dies ist zum einen dasBewusstsein um die historische Kontingenz des feministischen Ansatzesselbst. Harding beschreibt mehrfach den „historischen Moment“, in wel-chem der Feminismus entstehen konnte, und charakterisiert ihn als einenMoment, in dem „besondere ökonomische, politische und gesellschaftlicheVerschiebungen“58stattgefunden haben. Zum anderen beschreibt sie denstandpunkttheoretischen Ansatz auch als einen, der auf theoretische

Alternativen aufmerksam macht. Und die Möglichkeit einer Alternativeist ein Merkmal von Kontingenz: Es könnte auch anders sein, als es ist.

Harding schreibt: „Die feministische Standpunkt-Theorie fokussiert aufder wissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Bedeutung der Kluftzwischen dem Verständnis, das durch die vorherrschenden begrifflichen

Schemata zur Verfügung steht, und der Weltsicht, die verfügbar wird, wennwir vom Leben der Menschen in den ausgebeuteten, unterdrückten undbeherrschten Gruppen ausgehen.“59Schließlich gibt es noch eine dritte

Dimension, in welcher ein Kontingenzbewusstsein zum Ausdruck kommt;ein Kontingenzbewusstsein, das sich nunmehr feministisch selbstbewusstgibt. Diese wird eröffnet durch die Frage, warum die traditionelle Natur-wissenschaft so lange verzerrte Beschreibungen über Frauen und Weib-lichkeit hervorgebracht hat. Weil, so antwortet Harding mit Anne Fausto-

Sterling, „kein alternativer Bezugsrahmen zur Verfügung stand, innerhalbdessen sie [die meist männlichen Wissenschaftler] eine neue Sichtweisehätten entwickeln können. Der Feminismus bot diese neue Perspektiveund eröffnete damit vielen WissenschaftlerInnen – auch solchen, die sichnicht als politische Feministinnen betrachten – die Möglichkeit, in eineneue Richtung voranzuschreiten. Solange eine politische und gesellschaft-liche Bewegung fehlte, hat es die ‘gute Wissenschaft’ nicht sehr weit ge-bracht.“60

3. Abschließende Bemerkungen

Bezogen auf den Bereich wissenschaftlicher Theorien und Theoriebil-dung wurden hier zwei feministische Herangehensweisen vorgestellt. Ichhabe sie dem internen respektive dem externen wissenschaftstheoreti-schen Ansatz zugeordnet und behauptet, dass Kontingenz darin je andersverortet und begründet werde. Ein wissenschaftsinterner Ansatz legt den

Schwerpunkt der Analyse auf die kognitiven, epistemischen und logischen

Faktoren, die für Theorien, Theoriebildung und Theoriewahl relevant sind,interessiert sich also mehr für begründungslogische oder methodologischeFragen. Diese werden dem so genannten Begründungszusammenhang vonTheorien zugerechnet. Der so genannte Entstehungszusammenhang vonTheorien hingegen, der die kontextuellen Faktoren umfasst, ist Themaeines wissenschaftsexternen Ansatzes. Dieser Ansatz geht davon aus, dasssich das, was Wissenschaft ist, nicht auf die Begründungslogik von Theo-rien reduzieren lässt. Insofern hat es ein externer Ansatz von vornhereinleichter, das kontingente Geschlecht als einen zwar kontextuellen, nichts-destoweniger relevanten Faktor der Theoriebildung zu thematisieren.

Im wissenschaftsexternen Ansatz von Sandra Harding fließen die kon-textuellen Faktoren in den Begriff der strengen Objektivität ein. StrengeObjektivität in Kombination mit strenger Reflexivität verlangt die bewuss-te und kritische Berücksichtigung des historischen und gesellschaftlichenStandpunktes des Forschungssubjektes in Wechselwirkung mit den For-schungsobjekten sowie den Forschungsresultaten. Kontingenz lässt sichhier in dem standpunkttheoretischen Anspruch verorten, dass unter-schiedliche Standpunkte unterschiedliche Forschungsresultate hervorbrin-gen. Strenge Reflexivität generiert aber auch ein Kontingenzbewusstsein,das vor dem je eigenen Standpunkt nicht Halt macht. Auch der feministi-sche Standpunkt und mit ihm die in seinem Rahmen gebildeten Theoriensind historisch kontingent. Die Frauenbewegung war historisch weder un-möglich noch notwendig. Aber ohne Frauenbewegung hätte es keine femi-nistische Wissenschaftskritik und ohne feministische Wissenschaftskritikkeinen Begriff strenger Objektivität gegeben.

In Bezug auf historische Kontingenz kommt Lynn Hankinson Nelson zueiner ähnlichen Einschätzung, wenn sie schreibt: „In short, there is noavoiding the historical relativity of feminist science criticism, its sources insocial and political changes in contemporary western societies, and thefundamental relationships between politics and science revealed in andthrough that criticism.“61In der Diagnose historischer Situiertheit feminis-tischer Wissenschaftskritik treffen sich ein externer und ein interner femi-nistischer wissenschaftstheoretischer Ansatz.

Von den allgemeinen historischen und sozialen Bedingungen, die einefeministische Wissenschaftskritik ermöglichten, lassen sich noch einmalbestimmte theoriehistorische Bedingungen unterscheiden. Es handelt sichum Verschiebungen, welche auf dem Feld der Wissenschaftstheorie imRahmen der Positivismuskritik stattgefunden und die vormals strikt inter-nen Ansätze modifiziert haben.62In diesem Zusammenhang lässt sich dieVerschiebungen“58stattgefunden haben. Zum anderen beschreibt sie denstandpunkttheoretischen Ansatz auch als einen, der auf theoretische

Alternativen aufmerksam macht. Und die Möglichkeit einer Alternativeist ein Merkmal von Kontingenz: Es könnte auch anders sein, als es ist.

Harding schreibt: „Die feministische Standpunkt-Theorie fokussiert aufder wissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Bedeutung der Kluftzwischen dem Verständnis, das durch die vorherrschenden begrifflichen

Schemata zur Verfügung steht, und der Weltsicht, die verfügbar wird, wennwir vom Leben der Menschen in den ausgebeuteten, unterdrückten undbeherrschten Gruppen ausgehen.“59Schließlich gibt es noch eine dritte

Dimension, in welcher ein Kontingenzbewusstsein zum Ausdruck kommt;ein Kontingenzbewusstsein, das sich nunmehr feministisch selbstbewusstgibt. Diese wird eröffnet durch die Frage, warum die traditionelle Natur-wissenschaft so lange verzerrte Beschreibungen über Frauen und Weib-lichkeit hervorgebracht hat. Weil, so antwortet Harding mit Anne Fausto-

Sterling, „kein alternativer Bezugsrahmen zur Verfügung stand, innerhalbdessen sie [die meist männlichen Wissenschaftler] eine neue Sichtweisehätten entwickeln können. Der Feminismus bot diese neue Perspektiveund eröffnete damit vielen WissenschaftlerInnen – auch solchen, die sichnicht als politische Feministinnen betrachten – die Möglichkeit, in eineneue Richtung voranzuschreiten. Solange eine politische und gesellschaft-liche Bewegung fehlte, hat es die ‘gute Wissenschaft’ nicht sehr weit ge-bracht.“60

3. Abschließende Bemerkungen

Bezogen auf den Bereich wissenschaftlicher Theorien und Theoriebil-dung wurden hier zwei feministische Herangehensweisen vorgestellt. Ichhabe sie dem internen respektive dem externen wissenschaftstheoreti-schen Ansatz zugeordnet und behauptet, dass Kontingenz darin je andersverortet und begründet werde. Ein wissenschaftsinterner Ansatz legt den

Schwerpunkt der Analyse auf die kognitiven, epistemischen und logischen

Faktoren, die für Theorien, Theoriebildung und Theoriewahl relevant sind,interessiert sich also mehr für begründungslogische oder methodologischeFragen. Diese werden dem so genannten Begründungszusammenhang vonTheorien zugerechnet. Der so genannte Entstehungszusammenhang vonTheorien hingegen, der die kontextuellen Faktoren umfasst, ist Themaeines wissenschaftsexternen Ansatzes. Dieser Ansatz geht davon aus, dasssich das, was Wissenschaft ist, nicht auf die Begründungslogik von Theo-rien reduzieren lässt. Insofern hat es ein externer Ansatz von vornhereinleichter, das kontingente Geschlecht als einen zwar kontextuellen, nichts-destoweniger relevanten Faktor der Theoriebildung zu thematisieren.

Im wissenschaftsexternen Ansatz von Sandra Harding fließen die kon-textuellen Faktoren in den Begriff der strengen Objektivität ein. StrengeObjektivität in Kombination mit strenger Reflexivität verlangt die bewuss-te und kritische Berücksichtigung des historischen und gesellschaftlichenStandpunktes des Forschungssubjektes in Wechselwirkung mit den For-schungsobjekten sowie den Forschungsresultaten. Kontingenz lässt sichhier in dem standpunkttheoretischen Anspruch verorten, dass unter-schiedliche Standpunkte unterschiedliche Forschungsresultate hervorbrin-gen. Strenge Reflexivität generiert aber auch ein Kontingenzbewusstsein,das vor dem je eigenen Standpunkt nicht Halt macht. Auch der feministi-sche Standpunkt und mit ihm die in seinem Rahmen gebildeten Theoriensind historisch kontingent. Die Frauenbewegung war historisch weder un-möglich noch notwendig. Aber ohne Frauenbewegung hätte es keine femi-nistische Wissenschaftskritik und ohne feministische Wissenschaftskritikkeinen Begriff strenger Objektivität gegeben.

In Bezug auf historische Kontingenz kommt Lynn Hankinson Nelson zueiner ähnlichen Einschätzung, wenn sie schreibt: „In short, there is noavoiding the historical relativity of feminist science criticism, its sources insocial and political changes in contemporary western societies, and thefundamental relationships between politics and science revealed in andthrough that criticism.“61In der Diagnose historischer Situiertheit feminis-tischer Wissenschaftskritik treffen sich ein externer und ein interner femi-nistischer wissenschaftstheoretischer Ansatz.

Von den allgemeinen historischen und sozialen Bedingungen, die einefeministische Wissenschaftskritik ermöglichten, lassen sich noch einmalbestimmte theoriehistorische Bedingungen unterscheiden. Es handelt sichum Verschiebungen, welche auf dem Feld der Wissenschaftstheorie imRahmen der Positivismuskritik stattgefunden und die vormals strikt inter-nen Ansätze modifiziert haben.62In diesem Zusammenhang lässt sich diewissenschaftstheoretische Kontingenzdiagnose radikalisieren. Denn dermodifiziert-interne Ansatz à la Hankinson Nelson geht über die Diagnosesozial-historischer Kontingenz hinaus und zeigt eine von historischen Rah-menbedingungen unabhängige prinzipielle Kontingenz (natur-)wissen-schaftlicher Theorien auf: Die Unterbestimmtheitsthese, welche für dieempirische Äquivalenz von Theorien argumentiert, behauptet alternativeTheorieformulierungen als prinzipielle Möglichkeit. Und damit, so ihrHauptvertreter Quine, beeinflusse sie zutiefst unsere Haltung gegenüberwissenschaftlichen Theorien.63Es ist so. Es könnte auch anders sein.

Biographische Skizzen

Auswahlbibliographie

wissenschaftstheoretische Kontingenzdiagnose radikalisieren. Denn dermodifiziert-interne Ansatz à la Hankinson Nelson geht über die Diagnosesozial-historischer Kontingenz hinaus und zeigt eine von historischen Rah-menbedingungen unabhängige prinzipielle Kontingenz (natur-)wissen-schaftlicher Theorien auf: Die Unterbestimmtheitsthese, welche für dieempirische Äquivalenz von Theorien argumentiert, behauptet alternativeTheorieformulierungen als prinzipielle Möglichkeit. Und damit, so ihrHauptvertreter Quine, beeinflusse sie zutiefst unsere Haltung gegenüberwissenschaftlichen Theorien.63Es ist so. Es könnte auch anders sein.

Biographische Skizzen

Auswahlbibliographie

DIE AUTORINNEN

Frei Gerlach, Franziska, Dr. phil., geb. 1965, Wissenschaftliche Mitarbeite-rin am Deutschen Seminar der Universität Basel, Lehraufträge an denUniversitäten Basel, Freiburg i. Br. und Würzburg. Arbeitet zurzeit aneinem Habilitationsprojekt zu „Geschwisterlichkeit um 1800“, gefördertvom Schweizerischen Nationalfonds. Schrift und Geschlecht.Publikationen: Feministische Entwürfe und Lektüren von Marlen Haushofer, Ingeborg Bachmann und Anne Duden , Berlin 1998; KörperKonzepte/Concepts du corps. Interdisziplinäre Studien zur Geschlechterforschung , Münster u. a.2003 (hrsg. mit A. Kreis-Schinck, C. Opitz u. B. Ziegler).

Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara, Prof. Dr. phil. habil., Dr. theol. h. c., Lehr-stuhl für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaftan der Technischen Universität Dresden. Monographien u. a.: Romano Guardini (1885–1968). Leben und Werk , Mainz 4. Aufl. 1995; Unerbittliches Licht: Edith Stein , Mainz 3. Aufl. 1999; Eros – Glück – Tod und andere Ver- suche im christlichen Denken , München 2001.

Henke, Silvia, Dr. phil., geb. 1962, 1990–1999 Wissenschaftliche Mit-arbeiterin und Dozentin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft ander Universität Basel. Seit 2001 Dozentin für Kulturtheorie an der Hoch-schule für Kunst und Gestaltung in Luzern. Diverse Übersetzungs- undpublizistische Tätigkeiten. Forschungsschwerpunkt: Brief und Werk, Bio-graphik und Existenz. Veröffentlichungen u.a.: Wie es ihr gefällt – Wissen- schaft, Künste und alles andere (hrsg. mit Sabina Mohler), Freiburg i. Br.1991; Fehl am Platz. Studien zu einem kleinen Drama im Werk von Alfred Jarry, Else Lasker-Schüler, Marieluise Fleißer und Djuna Barnes , Würzburg1997.

Hönig, Kathrin, Dr. phil., geb. 1963. Nach der Ausbildung zur FotografinStudium an der FU Berlin. Mehrjährige Tätigkeit als freie Radio-Journa-listin, danach Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Semi-nar der Universität Basel, Weiterbildung in Pittsburgh; Promotion miteiner Arbeit über die Begründbarkeit von Relativismus. Zurzeit Wissen-schaftliche Mitarbeiterin an der UniFrauenstelle – Gleichstellung vonFrau und Mann an der Universität Zürich.

Meyer, Katrin, Dr. phil., geb. 1962, Assistentin und Lehrbeauftragte fürPhilosophie an der Universität St. Gallen. Veröffentlichungen u.a.: Ästhe-

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DIE AUTORINNEN

Frei Gerlach, Franziska, Dr. phil., geb. 1965, Wissenschaftliche Mitarbeite-rin am Deutschen Seminar der Universität Basel, Lehraufträge an denUniversitäten Basel, Freiburg i. Br. und Würzburg. Arbeitet zurzeit aneinem Habilitationsprojekt zu „Geschwisterlichkeit um 1800“, gefördertvom Schweizerischen Nationalfonds. Schrift und Geschlecht.Publikationen: Feministische Entwürfe und Lektüren von Marlen Haushofer, Ingeborg Bachmann und Anne Duden , Berlin 1998; KörperKonzepte/Concepts du corps. Interdisziplinäre Studien zur Geschlechterforschung , Münster u. a.2003 (hrsg. mit A. Kreis-Schinck, C. Opitz u. B. Ziegler).

Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara, Prof. Dr. phil. habil., Dr. theol. h. c., Lehr-stuhl für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaftan der Technischen Universität Dresden. Monographien u. a.: Romano Guardini (1885–1968). Leben und Werk , Mainz 4. Aufl. 1995; Unerbittliches Licht: Edith Stein , Mainz 3. Aufl. 1999; Eros – Glück – Tod und andere Ver- suche im christlichen Denken , München 2001.

Henke, Silvia, Dr. phil., geb. 1962, 1990–1999 Wissenschaftliche Mit-arbeiterin und Dozentin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft ander Universität Basel. Seit 2001 Dozentin für Kulturtheorie an der Hoch-schule für Kunst und Gestaltung in Luzern. Diverse Übersetzungs- undpublizistische Tätigkeiten. Forschungsschwerpunkt: Brief und Werk, Bio-graphik und Existenz. Veröffentlichungen u.a.: Wie es ihr gefällt – Wissen- schaft, Künste und alles andere (hrsg. mit Sabina Mohler), Freiburg i. Br.1991; Fehl am Platz. Studien zu einem kleinen Drama im Werk von Alfred Jarry, Else Lasker-Schüler, Marieluise Fleißer und Djuna Barnes , Würzburg1997.

Hönig, Kathrin, Dr. phil., geb. 1963. Nach der Ausbildung zur FotografinStudium an der FU Berlin. Mehrjährige Tätigkeit als freie Radio-Journa-listin, danach Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Semi-nar der Universität Basel, Weiterbildung in Pittsburgh; Promotion miteiner Arbeit über die Begründbarkeit von Relativismus. Zurzeit Wissen-schaftliche Mitarbeiterin an der UniFrauenstelle – Gleichstellung vonFrau und Mann an der Universität Zürich.

Meyer, Katrin, Dr. phil., geb. 1962, Assistentin und Lehrbeauftragte fürPhilosophie an der Universität St. Gallen. Veröffentlichungen u.a.: Ästhe-

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tik der Historie. Friedrich Nietzsches „Vom Nutzen und Nachteil der Histo- rie für das Leben“ , Würzburg 1998; Über Macht sprechen und Gewalt mei- nen. Michel Foucault und die Widerläufigkeit von Strategien , in: Integra- tionen des Widerläufigen , hrsg. von Elke Huwiler und Nicole Wachter,Hamburg 2003.

Munz, Regine, Pfrn., Dr. theol., geb. 1961, Wissenschaftliche Mitarbeiterinam Theologischen Seminar der Universität Basel und protestantische Psy-chiatrieseelsorgerin. Arbeitet am Habilitationsprojekt zu „Narrativitätund Gnade“, gefördert vom Schweizerischen Nationalfonds. Veröffent-lichungen u. a.: Religion als Beispiel. Sprache und Methode bei Ludwig Wittgenstein in theologischer Perspektive , Düsseldorf: Parerga 1997, diverseAufsätze zur Theologie des 20. Jahrhunderts, zur Feministischen Theorieund zur Sprachphilosophie und Religionsphilosophie.

Peres, Constanze, Prof. Dr. phil., geb. 1957 in Koblenz/Rhein. 1982 Promo-tion in Philosophie. Seit 1994 Professorin für Philosophie/Ästhetik an derHochschule für Bildende Künste Dresden; Bücher (u.a.): Die Struktur der Kunst in Hegels Ästhetik , Bonn 1983; Antizipation in Kunst und Wissen- schaft. Ein interdisziplinäres Erkenntnisproblem und seine Begründung bei Leibniz (hrsg. mit F. Gaede), Tübingen 1997; Wahrheit – Sein – Struktur. Auseinandersetzungen mit Metaphysik (hrsg. mit D. Greimann), Hildes-heim/Zürich/New York 2000; des Weiteren Aufsätze, Lexikonartikel undVorträge zur Ästhetiktheorie, Metaphysik, Erkenntnistheorie und Metho-dologie der Philosophie.

Reiter, Barbara, geb. 1964, arbeitet als Künstlerin und Filmemacherin zuden Menschenrechten. Director of Programs im MenschenrechtsnetzwerkINSCRIRE. Die Menschenrechte Schreiben. Magisterarbeit in Philoso-phie 1991, Thema: Der Zufall als Ursache bei Aristoteles. Zahlreiche Über-setzungen aus dem Englischen und Amerikanischen. Unterrichtet Ethikund Politische Philosophie und Mediendesign an der Universität Bremen. Purtschert, Patricia (Lic. phil. I), geb. 1973, zurzeit Forschungsaufenthaltan der University of California in Berkeley.

Sotos, Rachael, Dr. phil., geb. 1968, schrieb ihre Doktorarbeit über Han-nah Arendts Konzeption der Griechen an der New School for Social Re-search in New York.

Wicki-Vogt, Maja, Dr. phil., geb. 1940, Philosophin, Psychoanalytikerinund Traumatherapeutin. Dozentin an Universitäten und Fachhochschulensowie eigene Praxis, zahlreiche Publikationen (u. a.): Simone Weil. Eine Logik des Absurden , Bern, Stuttgart 1983.