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: Die TH Darmstadt zwischen Vergangenheitspolitik und Zukunftsmanagement (1945–1960)

Die TH Darmstadt zwischen Vergangenheitspolitik und Zukunftsmanagement (1945–1960)

Inhalt

4. Erweiterung im „Wiederaufbau“. Die bauliche Entwicklung der TH Darmstadt nach 1945

„Sie liegt im Herzen der Stadt“, so betitelte eine Darmstädter Tageszeitung im Jahr 1953einen Bericht über die Lage der TH Darmstadt.209Tatsächlich entstand die TH Darmstadtals eine Gründung der Landesregierung inmitten der ehemaligen Residenzstadt. Dieshatte sie mit anderen klassischen Einrichtungen des technischen Bildungswesens gemein-sam.210Von Anfang an musste sich die Hochschule in einer festgefügten, historisch ge-wachsenen Stadtstruktur entwickeln, ihrem Wachstum waren damit Grenzen gesetzt.Dies änderte sich nach dem Krieg: Bis zum Jahr 1960 gelang es der Hochschule, sichinnerhalb der Stadt um das Doppelte zu vergrößern. Umso mehr stellt sich die Frage, wieder Wiederaufbau und die Erweiterung der Hochschule innerhalb der Stadtgrenzen ablie-fen? Welche Akteure waren beteiligt, welche unterschiedlichen Phasen gab es? Zur Be-antwortung dieser Fragen konnte neben den Senatsunterlagen auch auf vorhandene Vor-arbeiten zurückgegriffen werden.211

Die bauliche Entwicklung der TH Darmstadt nach 1945 79 Die ersten Monate nach dem Krieg. Zeit der Provisorien und Übergangslösungen Darmstadt wurde während des Krieges stark zerstört. Nach kleineren Luftangriffen imJuli 1941 vernichtete ein erster Großangriff der britischen Royal Air Force im September1943 Teile der Altstadt. In der Nacht vom 11. auf den 12. September 1944 wurden diegesamte Altstadt sowie die westliche Vorstadt von einem Flächenbombardement getrof-fen und brannte in großen Teilen aus. Etwa 12.300 Menschen, das entsprach zu diesemZeitpunkt 10 Prozent der Bevölkerung, kamen ums Leben. Von über 29.000 Wohnungenblieben nur 1.500 unbeschädigt.212Auch die Hochschule war von den Angriffen starkbetroffen, der Hochschulbetrieb wurde dadurch jedoch nicht aufgehalten. Wie berichtet,waren die meisten Hochschulinstitute infolge der andauernden Luftangriffe im Laufe derzweiten Hälfte 1944 ausgelagert worden, um weiter ihren Arbeiten nachgehen zu können.

Der genaue Zerstörungsgrad der Hochschule wurde nach 1945 zu keinem Zeitpunktvon offizieller Seite ermittelt. Die Angaben darüber, zu wie viel Prozent die TH Darm-stadt zerstört worden war, schwanken daher in verschiedenen Darstellungen zwischen 60und 80 Prozent.213Dies liegt zum einen daran, dass den Angaben unterschiedliche Erhe-bungsgrößen zugrunde lagen. Zum anderen kann davon ausgegangen werden, dass dieherausgegebenen Zahlen in der Nachkriegszeit durchaus überhöht wurden, da diese nichtzweckfrei, sondern interessengebunden waren, insofern Baustoffzuteilungen und andereZuwendungen davon abhängig waren.214

Die Durchführung der ersten Aufräumarbeiten, Enttrümmerungs- und Sicherheits-maßnahmen erfolgte noch während des Krieges unter dem Einsatz von Zwangsarbei-tern.215Der Anfangspunkt für den Wiederaufbau der Hochschule war demnach nicht erstdas Jahr 1945, in der Regel wurde nach den Angriffen sofort mit Aufräum- und Instand-setzungsarbeiten begonnen.

Bis zur Währungsreform bestand die Tätigkeit der Hochschule zum Wiederaufbau ausder Weiterführung von behelfsmäßigen Instandsetzungen. Der Mangel an Materialien80 4. Erweiterung im „Wiederaufbau“ und Facharbeitern ließ die Arbeiten nur langsam voranschreiten. Bei der Trümmerbesei-tigung und der Ausbesserung der beschädigten Hochschulgebäude konnte die TH nacheiner Absprache mit dem Polizeipräsidium Hochschulangehörige einsetzen, die als ehe-malige Parteimitglieder Räumdienste zu absolvieren hatten.216Leiter des Arbeitseinsatzeswurde Professor Vieweg, der am 7. August 1945 dazu aufrief, dass alle, ob Parteimitgliedoder nicht, mithelfen sollten.217Auch die Studierenden wurden wie überall zu Räum-diensten hinzugezogen.218Der studentische Aufbaudienst war an der TH Darmstadt je-doch nur im Studienjahr 1947/1948 obligatorisch, danach wurden nur noch ausgewählteStudierende gegen Entgelt beschäftigt.219

Bis 1948/1949 war für einen systematischen Wiederaufbau weder der organisatori-sche Rahmen noch die finanzielle Grundlage vorhanden. Provisorien und Übergangslö-sungen prägten daher für mehrere Jahre den Hochschulalltag. So ging es vordergründigdarum, Erhaltenes zu bewahren und unter den gegebenen Umständen den Unterrichtsbe-trieb aufrechtzuerhalten. Diese Aufgabe lag in den Händen der einzelnen Institutsvor-stände. Gleich nach dem Ende des „Dritten Reiches“ wies der Vertrauensausschuss – vonApril bis November 1945 das leitende Hochschulgremium – die Institutsvorstände an, dieArbeiten für eine Erhaltung und Sicherstellung der Hochschule aufzunehmen bzw. wei-terzuführen. Nach und nach gingen die Meldungen über den Zustand der Institute bei derHochschulleitung ein. In der Regel wurde die Rückmeldung gegeben, dass mit dem Un-terricht, in dem Rahmen wie er zuvor auch stattgefunden hatte, sofort wieder begonnenwerden könnte.220

Der Zustand der Institute war allerdings sehr unterschiedlich. Der Westflügel desHauptgebäudes war durch einen direkten Bombentreffer zerstört worden. Dies betraf ne-ben dem IPM weitere Lehrstühle für Mathematik und Mechanik.221Komplett zerstörtworden war des Weiteren das Physikhörsaalgebäude mit Observatorium am Herrngarten. Die bauliche Entwicklung der TH Darmstadt nach 1945 81Auch die Versuchsanstalt für Straßen- und Stadtbauwesen in der Holzhofallee war einge-stürzt.222Ebenfalls stärk beschädigt war die Otto-Berndt-Halle, die Turn- und Festhalleder TH Darmstadt. Wenig übrig geblieben war zudem von dem danebengelegenen Ka-sernengebäude in der Alexanderstraße, in dem die Fächer Biologie, Geologie, Mineralo-gie, Meteorologie, Aerodynamik und Papierfabrikation bzw. Papiertechnik untergebrachtwaren.223

Die Professoren der zerstörten Institute Neuhaus (Mineralogie)224, Ankel (Zoolo-gie)225, Stocker (Botanik)226sowie Wagner (Geologie und Technische Gesteinskunde)227meldeten der Hochschulleitung nichtsdestotrotz, dass der Unterricht stattfinden könne.Grund hierfür: Die meisten von ihnen blieben noch Monate nach Kriegsende in denwährend des Krieges bezogenen Auslagerungsstellen.228Darüber hinaus dienten dieWohnhäuser der Professoren oftmals als Arbeitsräume. Das eingestürzte Institut für Stra-ßen- und Stadtbauwesen von Professor Reinhold war noch im Jahr 1949 in seiner Ausla-gerungsstätte in Rohrbach untergebracht, bis eine behelfsmäßige Baracke auf dem Hoch-schulgelände aufgebaut wurde.229Teile des Instituts für Zoologie kamen im BotanischenGarten unter.230Einzelne Institute, wie die Fakultät Kultur- und Staatswissenschaften unddie Hochschulbibliothek, kamen im Zintl-Institut unter.231Andere Fächer dagegen, wiebeispielsweise die Architektur, waren voll arbeitsfähig.232

Ende des Jahres 1945 begann der neu konstituierte Kleine Senat damit, den Wieder-aufbau zu strukturieren. Dafür wurden die Dekane aufgefordert, ihren Raumbedarf aus-zuarbeiten.233Seit Oktober 1945 hatte die Gesamtleitung und Planung des Wiederaufbausder langjährige Architekturprofessor Karl Gruber inne. Der von ihm geleitete Bauaus-schuss stellte die Reihenfolge der zu erledigenden Wiederaufbauarbeiten fest.234Ihm zurSeite standen ein Baubüro, das von Diplomingenieur Ott-Heinrich Blaum, Sohn desFrankfurter Oberbürgermeisters, geleitet wurde, und eine Zentralwerkstatt, deren Leitung82 4. Erweiterung im „Wiederaufbau“ Gerhard Koehler übernahm.235Das Baubüro war unter anderem für die Zuteilung vonBaumaterialien an die Institute zuständig. Gruber stellte auf Grundlage dieser Informati-onen einen Generalplan auf.236Ab dem Studienjahr 1948/49 wurde Jakob Hubert Pinand,seit 1946 Architekturprofessor der TH Darmstadt, Grubers Nachfolger.

Als problematisch stellte sich in dieser ersten Zeit die Finanzierung der Arbeiten dar.Im Jahr 1945 bekam die Hochschule von der neuen Landesregierung einen Vorschuss-kredit in Höhe von 80.000 RM, später wurden weitere 100.000 RM zur Verfügung ge-stellt.237Im November 1947 wurde über die Idee, einen Bauhof einzurichten, der alsselbstständige Baufirma fungieren sollte, gesprochen.238

Planungen für einen Gesamtwiederaufbau waren aufgrund dieser Rahmenbedingun-gen zunächst noch nicht möglich. In den ersten Jahren ging es vielmehr darum, Über-gangslösungen zur Aufrechterhaltung des Hochschulbetriebs zu finden. Neben der kom-pletten Zerstörung einiger Institute kamen die Besetzungen einzelner Hochschulgebäudedurch die Amerikaner dazu.239Raummangel war darum ein allgegenwärtiges Thema fürdie Hochschule.240Immer wieder, so lassen die Protokolle der Senatssitzungen erkennen,mussten aufgrund des Mangels während des laufenden Semesters Raumänderungen vor-genommen werden. In den Unterlagen lassen sich Hinweise darauf finden, dass die Situ-ation für Konflikte zwischen den Ordinarien sorgte.241Wahrscheinlich aufgrund dieserKonflikte, sah sich schließlich der Rektor dazu veranlasst, stärker durchzugreifen. In ei-nem Rundschreiben vom September 1946 gab er bekannt, dass aufgrund der katastropha-len Raumlage in der Technischen Hochschule, wegen des nur langsam fortschreitendenWiederaufbaus, außergewöhnliche Maßnahmen notwendig seien. Er rief den Ordinarienins Bewusstsein, dass wegen der völligen Zerstörung mancher Institute und Hörsaalgrup-pen auch „wohlerworbene“ Rechte angetastet werden müssten. Kein zugeteilter Raum –außer mit spezieller Einrichtung – könne darum als endgültig gelten.242Dieser Aufruflässt erahnen, wie angespannt die Lage zwischen den einzelnen Lehrstühlen war.

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Mit der Frage der Neuzuteilung von frei gewordenen Räumen beschäftigte sich fortander Kleine Senat in Sondersitzungen.243Im November 1946 wurde außerdem eine Raum-kommission gegründet.244Ein sogenanntes Raumbuch wurde eingeführt, in dem die Zu-erkennung der Räume durch den Senat schriftlich festgehalten wurde. Offensichtlich wardas Dokumentieren notwendig geworden, da einzelne Institutsvorstände oder Hochschul-mitarbeiter Ansprüche auf Räume erhoben, ohne dass sie diese offiziell zugewiesen be-kommen hatten.245

Über mehrere Jahre sammelte und verhandelte die Raumkommission bestehend ausden Professoren Brecht, Busch, Klöppel, Pinand und Schmieden über Raumanträge derverschiedenen Fakultäten.246In Zusammenarbeit mit dem Baubüro unter der Leitung vonBlaum und nach Zustimmung des Rektors wurden die Anträge bearbeitet und nach Dring-lichkeiten auf die nach und nach zur Verfügung stehenden Räume verteilt.

Erweiterung im Wiederaufbau. Ausarbeitung eines Gesamtbebauungsplans durch das neu gegründete Staatliche Hochschulbauamt

Bald nach Kriegsende beschäftigte sich die Hochschulleitung mit einem auf lange Sichtgeplanten Bauprogramm. Der Bauausschuss unter der Leitung von Professor Pinand eru-ierte mittels einer Umfrage die Ansprüche der einzelnen Institute für die nächstenJahre.247Geplant war weiter eine Baukommission, die das Bauprogramm aufstellensollte.248Ende des Jahres 1946, noch unter der Leitung von Professor Gruber, der auchfür den Wiederaufbau der Stadt eingebunden worden war, weihte die HochschulleitungVertreter der Stadt Darmstadt in die zukünftigen Aufbaupläne der Hochschule ein.249Wieweit die Erweiterungspläne der TH Darmstadt zu diesem Zeitpunkt reichten, geht aus denüberlieferten Akten nicht hervor. Jedoch war den zuständigen Akteuren der Hochschulebereits Anfang 1946 bewusst, dass der Wiederaufbau der Hochschule „eng mit der Frageder [ihrer] Existenz“ zusammenhänge, und ein Bauprogramm im „Großen und auf weiteSicht“ angepeilt werden musste.250Der Rektor versäumte es nicht, gegenüber der Stadt,84 4. Erweiterung im „Wiederaufbau“ die aufgrund der großflächigen Zerstörung ihre Hauptstadtfunktion an Wiesbaden verlo-ren hatte, die besondere Bedeutung der TH Darmstadt zu unterstreichen. So erklärte erBaudirektor Raupp, „daß nicht nur im Interesse der Hochschule selbst, sondern auch unterganz allgemeinen Gesichtspunkten alles getan werden muß, um den Wiederaufbau so gutund so rasch, wie es die Verhältnisse irgend gestatten, zu vollenden. Einer dieser Ge-sichtspunkte ist wohl der, daß die Technische Hochschule jetzt wohl die einzige Einrich-tung sein wird, die überhaupt unserer Stadt noch eine besondere Note und eine weitrei-chende Bedeutung verleiht.“251

Ein Jahr nach der Währungsreform, im Jahr 1949 sah man den Zeitpunkt gekommen,beim hessischen Finanzministerium größere Summen für Aufbauzwecke anzufordern,und in zahlreichen Verhandlungen die Regierung zur Unterstützung des Wiederaufbauszu bewegen.252Bis dahin hatte die hessische Landesregierung etwa 1.500.000 RM zurVerfügung gestellt.253

Im Mai 1949 wandte sich der Rektor in einem Schreiben an die Hessische Landesre-gierung mit der Bitte um mehr Unterstützung für den Aufbau der Hochschule, da dasbisherige Zeitmaß nicht länger verantwortet werden könne.254Erstmals forderte er füreinen „Gesamtaufbau zu einem den heutigen Ansprüchen im Unterricht entsprechendenZustand eine Bausumme von schätzungsweise 30 Millionen DM“. Um Darmstadt kon-kurrenzfähig halten zu können, müsse das Ministerium ein Vierfaches von den bisherigenAufwendungen für die jährlichen Baumittel vorsehen und dem Baubüro ein Planungsbürozur Seite stellen. Wie die Summe konkret zustande kam, teilte der Rektor nicht mit. Je-doch sprach er von „Neubauplanung“ und erwähnte zudem, dass eine „Gesamtplanung inzwei Straßenvierteln von insgesamt etwa 200 × 400 m Ausdehnung notwendig werde.Erst im späteren Verlauf der Verhandlungen mit dem Kultusministerium legte die Hoch-schule offen, dass sie von den veranschlagten 30 Millionen DM knapp die Hälfte für eineErweiterung vorsah. Die Hochschulleitung machte dazu eine Aufstellung des „Nachhol-bedarfs“ der TH Darmstadt, der einen Neubauwert von rund 13,5 Millionen DM betrugund eine Fläche von 35.150 qm aufwies.255Dies legt nahe, dass die TH Darmstadt bereitsim Jahr 1949 konkrete Pläne zur baulichen Erweiterung verfolgte. Ihre Erweiterungsge- Die bauliche Entwicklung der TH Darmstadt nach 1945 85danken hielt sie jedoch zunächst zurück, denn zuerst musste die hessische Landesregie-rung von der Bedeutung einer solchen Investition überzeugt werden. Einen ersten Ver-such in diese Richtung startete die Hochschule Mitte Juni 1949. Professor NikolausScheubel führte Besprechungen mit Ministerpräsident Christian Stock und Finanzminis-ter Werner Hilpert mit dem Ziel, „die Herren auf die Wichtigkeit der Wissenschaft undForschung an den Hochschulen insbesondere an der einzigen Technischen HochschuleHessens aufmerksam zu machen“.256Als Unterstützung hatte Scheubel eine Abordnungdes Vorstands der Vereinigung von Freunden der Technischen Hochschule Darmstadt,bestehend aus vier Unternehmern – zwei Herren von der Darmstädter Firma Henschel,Wilhelm Köhler von der Maschinenfabrik Goebel ebenfalls aus Darmstadt, der zugleichauch Präsident der IHK war sowie ein Herr der Firma MAN –, mitgebracht.257Auch indieser Runde drängte man auf die Erhöhung der finanziellen Mittel, indem man die Re-gierung auf die Bedeutung des Wiederaufbaus der TH Darmstadt für Wirtschaft und Ex-port hinwies. Wie zuvor stellte man fest, dass für den Wiederaufbau 30 Millionen DMnotwendig seien. Ministerpräsident Stock ließ sich von Gesprächsführer Wilhelm Köhlerüberzeugen, eine höhere Summe für die Hochschule freizumachen. Finanzminister Hil-pert dagegen äußerte sich pessimistisch. Mit einer Denkschrift der Freunde der Techni-schen Hochschule Darmstadt vom 4. Juli 1949, in der erneut die Bedeutung der Ingeni-eure für die wirtschaftliche Entwicklung und damit der Rolle der einzigen TechnischenHochschule Hessens unterstrichen wurde,258konnte Köhler schließlich auch Hilpert da-von überzeugen, für die Forschungen besonders wichtiger Institute anhand eines Nach-tragsetats mindestens eine Summe in Höhe von 750.000 DM zusätzlich, quasi als Not-standsprogramm, zu gewähren. Die geforderten sechs Millionen DM jährlich bezeichneteder Finanzminister aufgrund der angespannten Notlage des Landes Hessen, fünf Univer-sitäten und die Hochschule finanzieren zu müssen, jedoch weiterhin als unmöglich.259

Etwa zur gleichen Zeit kamen Kultus- und Finanzministerium sowie die Abteilung fürden Wiederaufbau Hessens gemeinsam mit der TH Darmstadt zu dem Schluss, dass fürein planmäßiges Arbeiten am Wiederaufbau der zerstörten Hochschule eine Grundlagegeschaffen werden müsse. Es galt, die Zuständigkeiten aufzuteilen, und man griff, wie86 4. Erweiterung im „Wiederaufbau“ bei der Planung der Hauptgebäude Ende des 19. Jahrhunderts, auf die Einrichtung einerstaatlichen Baubehörde zurück. Zusammen mit dem Rektor entschied man, dass dieHochschule als Nutznießer, das Land Hessen als Bauherr und die Staatsbauverwaltungals Bauausführende zu gelten hätten.260Im Juli 1949 wurde dafür das Staatliche Hoch-schulbauamt gegründet. Dieses sollte nach „strengsten betriebswirtschaftlichen Gesichts-punkten“ die Grundlagen für eine Entscheidung über Art und Ausmaß des Wiederaufbausherbeiführen.261Die Aufgabe des Amtes bestand neben der Aufstellung eines Gesamtbe-bauungsplanes, aus der architektonischen Gestaltung der Einzelprojekte und der Durch-führung der Bauarbeiten.262

Die Entscheidung, wer Leiter des Amtes werden sollte, entwickelte sich zu einemPolitikum. So hatte das Kultusministerium Herbert Rimpl263für das Amt vorgesehen, je-doch machte sich innerhalb der Hochschule Widerstand gegen die Beauftragung eineraußenstehenden Person breit. Die Architekturprofessoren legten Einspruch gegen die Ent-scheidung ein, da sie befürchteten, Bauaufträge zu verlieren und dadurch „das Ansehender Fakultät für Architektur und damit der gesamten Hochschule“ beschädigt würde.264Sie schlugen stattdessen vor, den 1948 an die TH Darmstadt berufenen Architekturpro-fessor Theodor Pabst zum Leiter der Baubehörde zu machen.265Mit der Begründung, dassdiese Aufgabe nicht von einem Ordinarius nebenher zu erledigen wäre, sondern von ei-nem hauptamtlichen Architekten, wies der Rektor die Kritik der Architekturfakultät zu-rück.266In einer weiteren Besprechung zog die Hochschule schließlich den Münchner Die bauliche Entwicklung der TH Darmstadt nach 1945 87Architekten Christoph Miller als möglichen Kandidat in Erwägung. Professor Pabst, derMiller kannte, reiste noch am nächsten Tag nach München, um Miller davon zu überzeu-gen, bereits am 18. Juli 1948 mit der Aufgabe zu beginnen.267Pabst gelang es, Miller fürDarmstadt zu gewinnen, allerdings hatte das Ministerium parallel dazu bereits verfügt,dass Rimpl Leiter des Planungsamtes werden sollte. Schließlich erschienen beide Archi-tekten zur Aufnahme der Tätigkeit als Leiter des Planungsamtes. Die Personalangelegen-heit wurde letzten Endes aufgrund der Entnazifizierung im Sinne des Ministeriumsgetroffen: Da Rimpl vom Gesetz nicht betroffen war, konnte seine Einstellung sofort er-folgen. Für eine Einstellung Millers, der als Mitläufer eingestuft worden war, hätte eshingegen noch einer Verhandlung mit dem Regierungspräsidium bedurft. So wurde alserster Vorsitzender des Hochschulbauamtes Herbert Rimpl eingesetzt.268

Das Hochschulbauamt war in den nächsten Jahren für die Planung und die Organisa-tion des Wiederaufbaus der TH Darmstadt verantwortlich. Im Laufe der Jahre waren hier45 Architekten und Ingenieure mit Planung und Organisation der baulichen Entwicklungder TH Darmstadt tätig.269Dem Hochschulbauamt zur Seite gestellt wurde als Organ derTH Darmstadt eine Baukommission, die unter dem Vorsitz von Pinand aus den Professo-ren Klöppel, Stromberger und Vieweg bestand.270Damit war die organisatorische Grund-lage für den Wiederaufbau geschaffen. Wie die Baukommission selbst feststellte, musstensich die Vorgehensweise der beteiligten Gremien und besonders deren Zusammenarbeitallerdings im Laufe der nächsten Jahre noch etablieren.271

Die „Rimpl-Pläne“ als Grundlage für weitere Verhandlungen zur Erweiterung der TH Darmstadt

Rimpl begann sofort mit seiner Tätigkeit, der Koordination der Raumansprüche, indemer mit den einzelnen Dekanen über deren Wünsche sprach.272Doch bevor es um konkreteBaufragen gehen konnte, musste die Frage geklärt werden, wie sich die Erweiterungs-wünsche der Hochschule würden umsetzen lassen.273

88 4. Erweiterung im „Wiederaufbau“

Obwohl die TH Darmstadt keineswegs plante, den Standort der Hochschule in eineandere Stadt zu verlegen, wies der Senat Rimpl an, diesbezügliche Pläne auszuarbeiten,um einen „gewissen Druck auf die Stadt Darmstadt“ auszuüben. Auch die Verlegung inder Stadt lehnte der Senat von Beginn an ab, da „damit eine längere Zeit der Trennungder einzelnen Institute die Folge wäre, was sich bei anderen Hochschulen bereits als un-tragbar herausgestellt habe“. Stattdessen äußerte der Kleine Senat den Wunsch, das „Ge-sicht“ der Hochschule „möglichst etwas mehr nach dem Stadtzentrum“ zu ziehen. Dafürwollte man „mit allen Mitteln“ versuchen, in der Nähe der Hochschule weiteres Geländevon der Stadt zu bekommen.274Insbesondere das Gebiet um das Theater am Herrngartenund die Alexanderstraße wurde ins Auge gefasst. In den Pausen sollte zum Gang in andereInstitute die „10-Minuten-Grenze“ gewahrt werden.275Demnach stand für den Senat dieEntscheidung über ihren zukünftigen Standort fest. Trotzdem ließ sie von Rimpl mehrerePläne mit verschiedenen Möglichkeiten für einen Hochschulstandort ausarbeiten. Rimplselbst sprach sich angesichts der von ihm erstellten Anforderungsberechnungen dafür aus,für die Neubauten ein Gelände außerhalb der Hochschule in Betracht zu ziehen.276DasKultusministerium war nach dem Bericht des Planungsbüros der Meinung, dass erst nachdem erfolgten Wiederaufbau die Planung für die Neubauten beginnen könnte. Der Rektorverfolgte gleichwohl den Plan, das Kultusministerium davon zu überzeugen, dass „beivernünftiger Planung von Neubauten nicht abgesehen werden kann“. Er hielt weiterhinan einer Gesamtplanung unter der Bewilligung von 30 Millionen DM fest, um, wie ersagte, den Rückstand von 25 Jahren aufzuholen. Oberbaurat Holtz war ebenfalls der Mei-nung, dass man „den Weg suchen müsse, auf dem für die Hochschule das meiste heraus-zuschlagen sei“. Es gelang dem Rektor schließlich, Ministerialdirektor Viehweg davonzu überzeugen, für Wiederaufbau und Neubauten eine Summe von 30 bis 35 MillionenDM zu investieren.277

Die von Rimpl für das Hochschulbauamt ausgearbeiteten Neubauvarianten wurden inder Folgezeit häufig auch als „Rimpl-Pläne“ bezeichnet.278Sechs Varianten der Vergrö-ßerungsmöglichkeiten auf verschiedenen Geländen – darunter der Marstall (heutige Ma-terialprüfungsanstalt), das zerstörte Altstadtgelände zwischen Alexanderstraße und Land- Die bauliche Entwicklung der TH Darmstadt nach 1945 89graf-Georg-Straße, das Gelände um das Hessische Landesmuseum und das Theater, einGrundstück an der Holzhofallee, die Hindenburganlage, das Schloss sowie der ehemaligeFlugplatz, auch Lichtwiese genannt – und den damit verbundenen Kosten sind heute nochdokumentiert.279

Nach den ersten Besprechungen im Kleinen Senat blieben vier der Pläne im Rennen.Der erste Plan legte den Schwerpunkt auf das vorhandene Hochschulgelände. Er bestandaus einer Zentralisierung auf dem alten Gelände unter Hinzunahme von weiterem Ge-lände in nächster Nähe. So wurde vorgesehen, als Kernstück ein neues Verwaltungsge-bäude auf dem Platz vor dem Kleinen Haus in Form eines Hochhauses mit 14 Stockwer-ken zu errichten. Daneben sollte das Marstallgelände, Gelände neben Museum und The-ater, und ein Grundstück in der Holzhofallee einbezogen werden. Für Projekt I wurden46.700.000 DM veranschlagt, die Fläche betrug 4,15 ha.

Plan Ia sah eine Zentralisierung auf dem alten Hochschulgelände mit Bau eines Hoch-hauses unter Einbeziehung der Altstadt links und rechts der Alexanderstraße vor. DesWeiteren wurde für diese Variante das Marstallgebäude mit eingeplant. Plan Ib beinhal-tete ebenfalls ein Hochhausbau auf dem alten Gelände. Daneben sollte das Marstallge-bäude Verwendung finden, und es wurde die Verlegung der Fakultät für Bauingenieurs-wesen auf das Gelände Hindenburgstraße, dem ehemaligen Exerzierplatz und der Holz-hofallee, vorgesehen. Plan Ib wurde mit 46.606.000 DM veranschlagt, bei einer Flächevon 7 ha.

Im Rahmen des Planes II wurde geplant, zentrale Bereiche der Hochschule auf die amRande der Stadt gelegene Lichtwiese zu verlagern. Der Plan beinhaltete das alte Geländeohne Hochhaus. Daneben war eine Verlegung der Fakultäten für Bauingenieurswesen,Maschinenbau und Elektrotechnik auf das Gelände auf dem früheren Flugplatz vorgese-hen. Bei Kosten von 48.100.000 DM sollten 34,0 ha zur Verfügung stehen.

Innerhalb des Kleinen Senats wurden die verschiedenen Möglichkeiten diskutiert. DerRektor sprach sich, da in seinen Augen an die nächste Generation zu denken sei, für dieVerlegung auf das Lichtwiesengelände aus, was die größte Erweiterungsmöglichkeitdarstellte. Jedoch zeigte sich, auch wie bei den Senatsentscheidungen zuvor, dass die all-gemeine Stimmung unter den Professoren dazu tendierte, den alten Hochschulstandortbeizubehalten, da eine Trennung von Instituten, ein zwangsläufiges „geistiges Auseinan-derfallen“ der Fakultäten zur Folge hätte, was einem „Gedanke der Universitas“ wider-spreche. Senat und Baukommission entschieden sich schließlich für Plan Ia unter der90 4. Erweiterung im „Wiederaufbau“ Voraussetzung einer Erweiterungsmöglichkeit von mindestens 50 Prozent. Es wurde be-absichtigt, noch vor der mit dem Kultusministerium angesetzten Besprechung an die Stadtheranzutreten, um das Altstadtgelände zu gewinnen.280

Am 11. April 1950 fand eine Sitzung zwischen den Vertretern des Kultusministeri-ums, der Staatshochbauverwaltung, dem Finanzministerium, der Regierung und demBaudezernat Darmstadt, Vertretern des Oberbürgermeisters und des Baudirektors derStadt, Rimpl und Krochmeier vom Staatlichen Planungsbüro der TH statt, in der Rimplseine Pläne vorlegte. Sowohl das Finanzministerium als auch das Kultusministerium ten-dierten zur „großzügigen“ Lösung auf der Lichtwiese.281

Welche weiteren Gespräche zwischen April und Juli 1950 stattfanden, ist in den Aktennicht übermittelt, jedoch konnte die Hochschule die beteiligten Regierungsakteure vonihrer favorisierten Lösung, der Erweiterung der TH Darmstadt in der Stadt überzeugen.Denn im Juli 1950 zeigten plötzlich Vertreter der Stadt Darmstadt großes Interesse anNeubauten der TH Darmstadt auf dem Gelände der Altstadt, die während des Krieges fastvollständig zerstört worden war.282Der Regierungspräsident der Stadt Darmstadt bean-tragte im Dezember 1950 die Einleitung des Enteignungsverfahrens zugunsten der Hoch-schule. Ungefähr ein halbes Jahr später, im Mai 1951, stimmte auch die Stadtverordne-tenversammlung – diese war lange Zeit nicht über den Stand der Verhandlungen in Kennt-nis gesetzt worden – dem Antrag zu.283

Die Enteignung der Altstadt zugunsten der TH Darmstadt

Am 31. Mai 1951 wurden die Enteignungverfahren für das gesamte Gebiet der Altstadtförmlich eingeleitet.284Rechtliche Grundlage für die Verfahren zugunsten des LandesHessen bildete das Gesetz über den Aufbau der Städte und Dörfer des Landes Hessen,kurz HAG, vom 25. Oktober 1948. Aufgrund der engen Bebauung und der kompliziertenBesitzverhältnisse nahm das Verfahren mehrere Jahre in Anspruch.

Die bauliche Entwicklung der TH Darmstadt nach 1945 91Abbildung 4: „Darmstadt 1986 – Historische Stadtmitte vor der Zerstörung“

[Ausschnitt]; erstellt vom Künstler Christian Häussler, Maßstab 1:2.500 und 1:5.000285Das Gelände war ungefähr 4,5 ha groß und bestand aus insgesamt 184 Parzellen – wie inAbbildung 4 zu sehen ist.286Darunter befanden sich vor allem kleinere mit Privatwoh-nungen versehene Grundstücke, aber auch Handwerksbetriebe und größere Firmen, wieder Möbelhändler Lich, eine Essigfabrik sowie die Brauerei Anker und die Unionsbrau-erei. Viele der Eigentümer waren während des Krieges ums Leben gekommen, jüdische92 4. Erweiterung im „Wiederaufbau“ Eigentümer waren ins Ausland geflohen. Die Ermittlung von Erbengemeinschaftenwar dementsprechend kompliziert. Anwesende Eigentümer wiederum hatten vereinzeltbereits mit einem Wiederaufbau ihrer Häuser begonnen.287Nach dem Einsetzen der Ver-handlungen mit der TH Darmstadt war für das Gebiet eine Bausperre verhängt worden,was bei manchen Eigentümern zu einer „gewisse[n] Erbitterung“ führte und in derÖffentlichkeit „scharfe Kritik“ hervorrief.288Dementsprechend konfliktreich gestaltetensich die zahlreichen Enteignungsverfahren. Nur ein Teil der Eigentümer hatte sichzum Verkauf bereit erklärt. Im August 1951 wurde ein Sonderbeauftragter eingesetzt289,der den Rest nach Paragraf 12 des HAG im öffentlichen Interesse gegen angemes-sene Entschädigung zur Errichtung öffentlicher Bauten enteignete. Im November 1952waren von allen 184 Flurstücken 106 rechtskräftig enteignet, 46 in städtischem Eigen-tum, 13 Straßengelände und weitere 19 noch in Verhandlungen.290Auf welche Höhesich die Summe nach Abschluss des Verfahrens belief, lässt sich nicht mehr rekonstruie-ren.291

Die Enteignungen nahmen mehrere Jahre in Anspruch, was den Wiederaufbau bzw.die Errichtung von Neubauten der TH Darmstadt erheblich verzögerte. Das Verfahrenverlief nicht reibungslos, so kam es im Laufe der Zeit zwischen Stadt und Hochschule zuAuseinandersetzungen, beispielsweise um die Frage, wer die Trümmer in den enteignetenParzellen zu beseitigen hatte.292Des Weiteren führten im Vorfeld der Bauarbeiten unter-schiedliche Vorstellungen bei der Umsetzung der Neubauten zu Konflikten.293Besondersdie Bebauung der Landgraf-Georg-Straße mit den elektrotechnischen Instituten sorgte fürweitere Auseinandersetzungen zwischen Stadt und Hochschulbauamt.294

Die bauliche Entwicklung der TH Darmstadt nach 1945 93 Die Durchführung der Neubauprojekte im Rahmen der zwei „Vierjahrespläne“

Parallel zu den Enteignungen war der eigentliche Wiederaufbau der Hochschule weitervorangeschritten. Im Jahr 1955 waren alle Wiederaufbautätigkeiten, mit Ausnahme dersogenannten „Bombenlücke“ im Hauptgebäude, abgeschlossen. Bis zu diesem Zeitpunktwaren ungefähr 26,5 Millionen DM für den Wiederaufbau der TH Darmstadt verwendetworden.295Verantwortlich für die Umsetzung der Bauarbeiten war bis zum Jahr 1951Baudirektor Miller296, der entsprechende Maßnahmen einleitete, um die weitere Planung,der das Projekt Ia von Rimpl zugrunde lag297, durchzuführen.298Im Jahr 1951 wurdeFriedrich Holtz299mit der Leitung des Hochschulbauamtes betraut. In dieser Position warer bis 1963 für die Neubauprojekte verantwortlich.300

Zwischen 1955 und 1957 wurde die sogenannte „Bombenlücke“ im Hauptgebäude –der westliche Seitenflügel war direkt von einer Bombe getroffen und ausgebrannt –, durchein Stahlbetonskelett-Neubau, unter der Leitung des 1950 berufenen ArchitekturprofessorHeinrich Bartmann, ersetzt.301Im Jahr 1954, nach dem Abschluss der Enteignungen inder Altstadt, begannen die Planungen für die Neubauten der TH Darmstadt.302Für dieBebauung des Altstadtgeländes wurde im November 1953 ein Ideenwettbewerb ausgeru-fen, aus dem Theodor Pabst, seit 1948 Architekturprofessor der TH Darmstadt, als Ge-winner hervorging.303Es kam jedoch nicht zur baulichen Umsetzung seines Vorschlages,denn Oberregierungsbaudirektor Köhler vom Hochschulbauamt erarbeitete einen eigenenNeuentwurf.304Im Rahmen des Wettbewerbs wurde bekannt, dass das vorgesehene Alt-stadtgelände für den Ausbau der TH Darmstadt nicht ausreichen würde, weshalb weitereVerhandlungen mit der Stadt Darmstadt über nahe gelegene Geländeabschnitte begannen.94 4. Erweiterung im „Wiederaufbau“

Die weiteren Arbeiten des Hochschulbauamtes wurden im Rahmen von zwei „Vier-jahresplänen“ finanziert. Der erste dieser Pläne lief von 1955 bis ins Jahr 1958. In diesemZeitraum standen der Hochschule 20 Millionen DM zur Verfügung. Bis auf die Materi-alprüfungsanstalt, kurz MPA, für die kein Baugelände gefunden werden konnte, gelanges, alle geplanten Arbeiten fertig zu stellen.305Der zweite Vierjahresplan lief von 1959bis 1962. Im Rahmen dieser beiden Zeitabschnitte baute das Hochschulbauamt, wie inAbbildung 5 zu sehen ist, in dem Geländeabschnitt zwischen Alexanderstraße und Land-graf-Georg-Straße mehrere Gebäudekomplexe.

So entstanden zwischen 1955 und 1957 das Institut und die Versuchsanstalt für Massiv-bau (Nr. 27). Durchführender Architekt war Theo Pabst.306Direkt daran angeschlossenwurde unter der Leitung von Günther Koch zwischen 1957 und 1959 das Institut für Statikund Stahlhochbau (Nr. 28) gebaut.307Das Institut und die Hallen für Maschinenbau(Nr. 19 und 20) wurden von Gerhard Bartels, Günther Koch, Rolf Dreesen und H. See-mann zwischen 1954 und 1959 gebaut. Das Institut und die Versuchsanstalt für Wasser-bau und Wasserwirtschaft (Nr. 30) wurden von 1955 bis 1956 von Ernst Neufert erbaut.308Das mit der TH Darmstadt verbundene Deutsche Kunststoffinstitut (Nr. 4) wurde zwi-schen 1955 und 1957 errichtet. Zwar war der Bauherr in diesem Fall nicht das Hochschul-bauamt, sondern die Forschungsgesellschaft für Kunststoffe e.V., Planung und Baulei-tung übernahmen jedoch das Hochschulbauamt, genauer die Architekten Günther Kochund die Bauingenieure Schramm und Göbel. Ein Institut mit Hörsaal für die Fakultät fürElektrotechnik (Nr. 31–34) wurde von 1956 bis 1961 vom Hochschulbauamt nach Ent-würfen der Architekten Gerhard Bartels, Karl-Heinz Schelling und Rolf Dreesen errich-tet. Nachdem die TH Darmstadt Verhandlungen über das Gelände an der Schlossgarten-straße und Arheilgerstraße erfolgreich zu einem Abschluss bringen konnte, wurde von1959 bis 1963 das Institut für Kernphysik (Nr. 2a) dort errichtet.309

Die bauliche Entwicklung der TH Darmstadt nach 1945 95

Abbildung 5: Lageplan der TH Darmstadt Stand 31. Juli 1973; Maßstab 1:5.000310 Das Verwaltungsgebäude und weitere Neubauten in den 1960er und 1970er Jahren Auch nach Abschluss des zweiten Vierjahresplans waren nicht alle Bauprojekte vollzo-gen worden, und es folgten weitere Neubauten. Die ehemalige Materialprüfungsanstalt(MPA) der TH Darmstadt war 1944 komplett ausgebrannt. Lange Jahre hatte die Hoch-schule versucht, für deren Neuerrichtung westlich des Landesmuseums Gelände zu erhal-ten, die Stadt wehrte sich jedoch dagegen, da man eine weitere Bebauung des Herrngar-tens – während des Krieges war hier das Zintl-Institut der TH Darmstadt gegen den Wil-len der Stadt gebaut worden – befürchtete. Schließlich konnte man sich Ende der 1950erJahre auf das alte Marstallgelände abseits der TH Darmstadt in der Grafenstraße gelegen,einigen, das seit seiner Zerstörung im Jahr 1944 in Ruinen stand. Die neue MPA (Nr. 36)wurde letztendlich im Jahr 1963 fertig gestellt.311

In den 1960er Jahren wurden zudem Institute der TH Darmstadt im wiedererrichtetenDarmstädter Schloss untergebracht. Bereits im Jahr 1948 kam die Hochschulbibliothekins Schloss. Die Bibliothek hatte im Krieg rund 80.000 ihrer insgesamt 120.000 Bücher96 4. Erweiterung im „Wiederaufbau“ verloren, und man beschloss, diese mit der Landesbibliothek zusammenzulegen.312Mitder Vereinigung der beiden Bibliotheken fiel die Entscheidung, die neue Bibliothek imSchloss (Nr. 35), dem alten Sitz der Landesbibliothek, unterzubringen.313Das Schlossauch für weitere Hochschulinstitute und Einrichtungen zu verwenden, war bereits Anfang1950 im Gespräch. Damals hatte die TH Darmstadt jedoch beschlossen, auf einen weite-ren Ausbau des Schlosses für TH-Institute zu verzichten, da dies als ungünstig und teuerangesehen wurde.314Bereits im Jahr 1955 spielte die TH-Leitung erneut mit dem Gedan-ken, die Verwaltung mit Rektorat und die Fakultät für Kultur- und Staatswissenschaftenim Schloss unterzubringen.315Außerdem gab es den Gedanken, in der Schlosskirche eineHochschulkirche einzurichten.316Die Abriss- und Bauarbeiten am Schloss begannenschließlich im September 1958. Erst Anfang 1960 erfolgte die endgültige Entscheidungüber die künftige Bestimmung des Schlosses. Der Hochschule wurde das innere Alt-schloss ohne Glockenbau und Kirchenbau zugewiesen (Nr. 46). Das Hochschulbauamtbekam sodann den Auftrag zum Wiederaufbau für die Kultur- und Staatswissenschaften.Es beurteilte den Zustand der Bausubstanz als so angegriffen, dass zunächst erwogenwurde, die Ruine vollkommen abzureißen und anstelle des Schlosses einen modernenNeubau zu errichten. Diese Idee wurde jedoch zugunsten der Vorgehensweise, nicht alles,aber gezielt ausgewählte Teile des Gebäudes 1962 abzureißen, verworfen. In den Jahren1963/1964 schließlich wurde der eigentliche „Wiederaufbau“ des Schlosses durchge-führt, sodass im Juli 1964 das Richtfest stattfinden und 1966 die Gebäudeteile übergebenwerden konnten.

Obwohl schon zu Rimpls Zeiten über ein sechs- bis siebenstöckiges Hochhaus, imMittelpunkt des Komplexes gesprochen wurde, um der Hochschule „wieder ein Gesicht“ Die bauliche Entwicklung der TH Darmstadt nach 1945 97zu verleihen, sollte die Errichtung eines Verwaltungsgebäudes (Nr. 47) erst im Jahr 1967verwirklicht werden.317Als letzter Institutsneubau in der Stadt kam das Institut für Nach-richtentechnik (Nr. 48) zum Hochschulstandort in der Stadt hinzu, das von 1969 bis 1973nach einem Entwurf von Ernst Neufert gebaut wurde.

Noch während der letzten Baumaßnahmen wurden bereits Pläne für weitere Neubau-ten geschmiedet. Spätestens Anfang der 1960er Jahre war für die Beteiligten klar, dassausgedehnte Erweiterungen im Norden der Hochschule unmöglich waren, und die TH-Leitung entschied, an den Rand der Stadt auszuweichen. Durch Grundstückstausch er-warb die Hochschule die zuvor bereits in Aussicht gestellte Lichtwiese, auf der ab 1963als zweiter Standort die „Hochschule auf der grünen Wiese“ entstand.318

Abschließend lassen sich zum Wiederaufbau folgende Punkte festhalten: Er verlief inverschiedenen Phasen und war durch ein Zusammenwachsen von diversen Gremien ge-kennzeichnet. Die Entscheidung für den Wiederaufbau in der Stadt fiel weniger aus prag-matischen Gründen – wie gezeigt werden konnte, war bereits Rimpl klar, dass die Aus-weitungswünsche der Hochschule in der Stadtmitte nicht berücksichtigt werden könnten–, sondern insbesondere aus dem Grund, sich schneller am Standort vergrößern zu könnenund nicht bei null anfangen zu müssen. Anfang der 1960er Jahre wurde letztendlich dieTeilverlegung einiger Hochschulinstitute an den Stadtrand unausweichlich. Mit dieserEntwicklung stellte die TH Darmstadt keine Ausnahme dar. Auch andere TechnischenHochschulen verblieben zunächst an ihren alten Standorten und erwarben im Laufe der1950er Jahre zusätzliches Erweiterungsgebiet außerhalb der Stadtmitte. Aufgrund derlange andauernden Enteignungsvorgänge verzögerten sich die einzelnen Phasen in Darm-stadt im Vergleich zu den anderen Hochschulen jedoch merklich. So wurde in Aachenbereits 1954 außerhalb der Stadtmitte gebaut.319An der TH Braunschweig konnte damitbereits 1950 begonnen werden. Ein Verwaltungshochhaus wurde hier knapp zehn Jahrefrüher gebaut als an der TH Darmstadt.320

Die TH Darmstadt nutzte den Wiederaufbau, um sich innerhalb von 15 Jahren um dasDoppelte zu vergrößern. Wichtigstes Argument dabei war, dass es einen Nachholbedarfgutzumachen gäbe. Die Argumentation lehnte sich an die meist durch die Wissenschaftler98 4. Erweiterung im „Wiederaufbau“ selbst verbreitete These der „Wissenschaftsfeindlichkeit“ der Nationalsozialisten. Tat-sächlich stellt Melanie Hanel in ihrer Arbeit über die TH Darmstadt während des „DrittenReiches“ einen regelrechten „Bauboom“ zwischen den Jahren 1933–1945 fest. Wie be-richtet, bekam die Hochschule – unabhängig von der Entwicklung der Studierendenzah-len – zahlreiche Bauprojekte finanziert.321Aufgrund „kriegswichtiger“ Forschung erhieltsie auch während des laufenden Krieges, als Baugenehmigungen und Materialien nichtohne Weiteres erhältlich waren, Gebäude für mehrere Millionen RM. Die TH Darmstadtexpandierte sogar trotz Proteste der Stadtbevölkerung in den Herrngarten hinein und be-kam den ehemaligen Ballonplatz als Baugelände zugesprochen. Während diese Baupro-jekte sich stets nur wegen der „Kriegswichtigkeit“ durchführen ließen, argumentierte dieHochschulleitung nach 1945 mit den steigenden Studierendenzahlen.322Ein Blick auf dieStudierendenzahlen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zeigt, dass die Hochschulleitungdie Raumsituation wohl weit dramatischer geschildert hatte, als dies den Tatsachen ent-sprach: Bereits im Jahr 1920, als die im Zuge der Kriegsforschung bereitgestellten Erwei-terungsbauten noch nicht existierten, waren an der TH Darmstadt mehr als 3.000 Studie-rende eingeschrieben. Zu dem Zeitpunkt dagegen, als die großzügigen Erweiterungspläneder Hochschule entstanden, Mitte der 1950er Jahre, war die 3.000-Grenze kaum spürbarüberschritten.323

Auch wenn sich dies schwer nachweisen lässt, da kaum abgeschätzt werden kann,welche Vergrößerung angemessen gewesen wäre, nutzte die TH Darmstadt den in derNachkriegszeit verbreiteten Mythos der wissenschaftsfeindlichen Nationalsozialisten unddas Anwachsen der Studierendenzahlen dazu, sich auszuweiten. Mit der zerstörten Alt-stadt bestand die einmalige Chance, sich in der Stadtmitte zu vergrößern. Es folgte eineEntwicklung, an deren Ende die Erweiterung um rund das Doppelte des bisherigen Ge-ländes sowie nach einer erneuten Überprüfung des Raumbedarfs durch den Wissen-schaftsrat im Jahr 1960, die Aussicht auf weitere Vergrößerungsmöglichkeiten stand. Un-ter der Betrachtung der Ereignisse während der Jahre 1933 bis 1945 gelang es der THDarmstadt demnach gleich zweimal, vom Krieg zu profitieren.

Die bauliche Entwicklung der TH Darmstadt nach 1945 99

DIE GESCHLOSSENE HOCHSCHULE. SELBSTVER- STÄNDNIS UND HANDLUNGSMÖGLICHKEITEN VOR DER WIEDERERÖFFNUNG

Mit dem Eintreffen der Amerikaner in Darmstadt am 25. März 1945 endete auch für dieTH Darmstadt das „Dritte Reich“. Der Hochschule stand eine umfassende Neuverortungmit ungewissem Ausgang in einer sowohl staatlich als auch politisch-sozial und ökono-misch stark veränderten Umwelt bevor. Wie die anderen Hochschulen auch war die THDarmstadt 1945 mit einer sich neu formierenden hochschulpolitischen Landschaft kon-frontiert, in der sie sich zunächst orientieren musste. Als Folge der Besatzung Deutsch-lands kamen mit den Militärregierungen neue Akteure und damit zunächst unberechen-bare Faktoren ins Spiel.

Bis zur offiziellen Wiedereröffnung im Januar 1946 war die Hochschule „geschlos-sen“. Doch dieser Zeitabschnitt war nicht von Stillstand geprägt – ganz im Gegenteil: Erhatte eine besondere Dynamik. Hinter geschlossenen Türen trafen die anwesenden TH-Akteure wichtige Richtungsentscheidungen für den Erhalt und die langfristige Entwick-lung der Hochschule. Die Prozesse der Umgestaltung der wissenschaftlichen Arbeit undderen Verhältnis zum politischen Umfeld nach 1945 dauerten zwar längere Zeit an, je-doch hatten die wichtigsten Richtungsentscheidungen und Vorgänge der Ressourcenum-gestaltung ihren Ursprung zweifellos in den ersten Monaten nach Kriegsende. Es lohntsich also, diesen Zeitabschnitt besonders aufmerksam zu betrachten.

So unsicher und wenig konkret der Ausgang aus der Perspektive der Zeitgenossengewesen sein mag, die Umbruchszeit war nicht nur geprägt von Grenzen, sondern auchvon Chancen. Indem die Hochschulakteure geschlossen als Institution auftraten, ergabsich eine Reihe von Handlungsmöglichkeiten. Diese wurden von der Forschung bisherweitgehend vernachlässigt. Nicht selten werden das Kriegsende und die Nachkriegszeitstattdessen gleichgesetzt mit einer Zeit in Trümmern, was den fehlgeleiteten Eindruckvermittelt, dass Hochschulen und Universitäten gewissermaßen passive Akteure waren,bevor sie sich aufrappeln konnten und den Wiederaufbau in Angriff nahmen. Vielmehrgelang es den Darmstädter Wissenschaftlern durch verschiedene Strategien, sich aktiv ander Umgestaltung der Ressourcenkonstellation der TH Darmstadt zu beteiligen und weit-gehend selbstbestimmt vom „Dritten Reich“ in die Nachkriegszeit zu gehen.

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100 4. Erweiterung im „Wiederaufbau“

5. Chancen und Grenzen des Umbruchs. Die Umgestal- tung der Ressourcenkonstellation der TH Darmstadt

Für die Betrachtung der Technischen Hochschulen nach 1945 bieten sich insbesonderedie Überlegungen von Mitchell Ash zum Wandel und zur „Entnazifizierung“324vonWissenschaft an. Der Wiener Wissenschaftshistoriker Ash begreift wissenschaftlichenWandel in Zeiten politischer Systemwechsel als eine „Umgestaltung von Ressourcen-konstellationen“. Sein Ressourcenbegriff umfasst dabei kognitiv-konzeptionelle, appara-tiv-institutionelle, finanzielle und rhetorische Ressourcen.325Mit dem Einbeziehen vonrhetorischen Ressourcen geht der Ansatz damit auch auf die besondere Bedeutung dereigenen semantischen Neuverortung der Wissenschaftler nach 1945 ein, was angesichtsder neuen Erkenntnisse zur Selbstmobilisierung und Förderung von Kriegsforschungdurch die Nationalsozialisten von Bedeutung ist. Die Forschung hat für die von den Wis-senschaftlern bewusst oder unbewusst vorangetriebenen „professionellen, intellektuellenund disziplinären Umwidmungsprozesse, mit denen sich die Selbstmobilisierung derWissenschaften im ‚Dritten Reich‘ zu einer Ressource für ihre Ankunft im demokra-tischen Staat verwandelte“, den Begriff der „Vergangenheitspolitik“ gefunden.326InAnbetracht des verlorenen Krieges und ihrer Rolle während des Nationalsozialismuskonnten die Akteure der TH Darmstadt ihre Arbeiten nicht ohne Weiteres fortsetzen. Zumeinen brachten die neuen Rahmenbedingungen „verordnete Umbrüche“ mit sich.327DieAlliierten verboten militärische Forschungen. Für eine gewisse Übergangszeit war damit Die Umgestaltung der Ressourcenkonstellation der TH Darmstadt 101für einige Darmstädter Wissenschaftler das Einverständnis der Amerikaner zwingendeVoraussetzung für das Fortführen ihrer Forschungen. Da die eigene Arbeit während desNationalsozialismus – insbesondere in allen Bereichen, die durch eine Selbstmobilisie-rung geprägt waren – in der Nachkriegszeit nicht thematisiert werden konnte, standen dieDarmstädter wie überall nach dem Ende des „Dritten Reiches“ vor der Aufgabe, Konti-nuitäten herzustellen, die es ihnen ermöglichten, ihre Karrieren fortzusetzen. Darüber hin-aus konnten so die verfügbaren Apparate und Daten mithilfe kollegialer Netzwerke oderauch durch kurzfristige Verbindungen mit der jeweiligen Besatzungsmacht sowie mit denbetreffenden deutschen Behörden erhalten werden.328Diese von Ash als „KonstruierteKontinuitäten“ bezeichneten Bemühungen, wurden von der Forschung bislang kaum aufeinzelne Fallbeispiele angewendet. Einzige Ausnahme stellt diesbezüglich die Betrach-tung der „rhetorischen Ressourcen“ dar. Hier haben Stefan Krebs und Werner Tschacherfür das Fallbeispiel der Aachener RWTH zahlreiche Untersuchungen angestellt.329ZurIdentifizierung von rhetorischen Strategien der Wissenschaftler nach 1945 greifen sie un-ter anderem Impulse aus der Germanistik auf,330die speziell für den Systembruch 1945geeignet sind: die Rhetorik des Ausblendens, die Semantik der Sachlichkeit und das Über-schreiben.331

Ein Forschungsdesiderat stellt jedoch die Untersuchung einzelner Universitäten undTechnischen Hochschulen im Hinblick auf den Kontakt mit der zuständigen Militärregie-rung dar, ebenso unbeantwortet ist bislang die Frage, wie man sich nach dem Wegfallnationalsozialistischer Vorgaben hinsichtlich der Weisungen der Alliierten organi-sierte.332Diese Fragen werden im folgenden Kapitel behandelt. Dafür wird es zunächstum die Ereignisse und das Selbstverständnis der Hochschule nach dem Eintreffen der102 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs Alliierten gehen. In einem zweiten Schritt werden die Chancen und Grenzen des Prozes-ses der Auflösung und Neujustierung der Ressourcenkonstellation thematisiert. LeitendeFragestellung dabei ist die nach Konstruierten Kontinuitäten an der TH: Wie gelang esden Akteuren der TH Darmstadt bei der Umstellung von Kriegs- auf Friedensbetrieb, vor1945 verfügbare Ressourcen, wie Apparate, Personal und Hochschulgebäude, mithilfekollegialer Netzwerke und kurzfristigen, auch wissenschaftlichen Verbindungen mit derBesatzungsmacht und den betreffenden deutschen Behörden zu erhalten? Dies wirft wei-tere Fragen auf: Welche Mobilisierungs- und Karrierestrategien sowie rhetorische Strate-gien verwendeten die Darmstädter Wissenschaftler? Welche Chancen konnten durchHandlungsmöglichkeiten genutzt werden, wo gab es eventuell Grenzen? Zuletzt wird dieFrage behandelt, auf welcher Basis eine wissenschaftliche Zusammenarbeit mit der ame-rikanischen Militärregierung zustande kam. Auch dafür kann eine Annahme von Ash zu-rate gezogen werden, der konstatiert, dass Wissenschaft und Politik als Ressourcen fürei-nander zu verstehen sind.333Allerdings wird im Rahmen dieser Arbeit vornehmlich diePerspektive der TH Darmstadt, also der Wissenschaft, Eingang finden.

5.1Vom Einordnen in eine neue Hochschulumgebung

5.1.1Die Ankunft der Amerikaner. Verhaftungen von Darmstädter Professoren,Schließung und Besetzung von Teilen der Hochschule

Nur wenige Quellen geben Auskunft darüber, wie das Eintreffen der Amerikaner an derHochschule ablief. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, schrieb Professor Schlink im No-vember 1945 in einem Bericht über die ersten Nachkriegsmonate dass es keine „Störun-gen“ gegeben habe.334Der 25. März 1945 fiel in die vorlesungsfreie Zeit, und es ist davonauszugehen, dass nur wenige der noch verbliebenen Studierenden sich in der Stadt befan-den. Der Hochschulstandort in der Stadtmitte war zu großen Teilen zerstört, die Profes-soren waren stattdessen in umliegende Auslagerungsstellen verteilt.

Die TH Darmstadt war kurz vor Kriegsende angewiesen worden, sogenannte Läh-mungsaktionen in die Wege zu leiten, um zu verhindern, dass die Forschungsergebnisse 5.1 Vom Einordnen in eine neue Hochschulumgebung 103den anrückenden alliierten Soldaten in die Hände fielen.335Aus dem Bericht eines Assis-tenten über die Ereignisse im März 1945 in der Auslagerungsstelle des IPM im Odenwaldgeht hervor, dass kurz vor dem Eintreffen der Amerikaner alle „Geheimen Kommandosa-chen“ verbrannt wurden.336Inwieweit die Lähmungsaktionen von den einzelnen Institu-ten tatsächlich durchgeführt wurden, kann anhand der Quellenlage nicht festgestellt wer-den. Jedoch ist davon auszugehen, dass es ähnliche Vorbereitungen an allen Institutengegeben hat.

Wer sich zum Zeitpunkt der eintreffenden Alliierten an welchem Ort aufhielt, ist nichtzu ermitteln. Die Mitarbeiter der Ausweichstelle des IPM in Kempten, de Beauclair undHans-Joachim Dreyer, gerieten dort in französische Gefangenschaft.337Bekannt ist wei-ter, dass einige Institute für längere Zeit verwaist blieben. So hielt sich beispielsweise derLeiter der Materialprüfungsanstalt, August Thum, zum Kriegsende in der Schweiz auf.338

Die Ausweichstellen der TH-Institute, in denen auch während des Krieges die For-schungsarbeiten weiterliefen, wurden erst nach und nach wieder an den Hochschulstand-ort in der Stadtmitte zurückgeführt. Aus zahlreichen Anträgen auf Passagierscheine derDarmstädter Professoren geht hervor – die Amerikaner hatten zunächst aus Sicherheits-gründen die Bewegungsfreiheit innerhalb ihrer Besatzungszone eingeschränkt –, dass dieInstitutsleiter oder deren Mitarbeiter für die Abwicklung der Ausweichstellen einige Malezwischen Darmstadt und dem jeweiligen Standort pendelten.339

Die amerikanische Militärregierung zeigte – ob anderweitiger sicherheitspolitischerFragen, die größere Priorität genossen – zunächst wenig Interesse an den konkreten Hoch-schulangelegenheiten. Durch die im April 1945 in Kraft tretende Direktive JCS 1067 warder Lehrbetrieb an sämtlichen Bildungseinrichtungen der Besatzungszone bis auf Weite-res verboten.340Ein Antrag der TH Darmstadt, trotz Schließung akademische Prüfungen104 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs abhalten zu dürfen, blieb ohne Erfolg.341Wie aus diesem Antragsschreiben hervorgeht,hatte die Hochschulleitung zu diesem Zeitpunkt noch keinen Ansprechpartner aufseitender Amerikaner für Hochschulbelange ausmachen können. Den Antrag, der an die ameri-kanische Militärregierung adressiert war, übergab man daher zunächst dem gerade einge-setzten Regierungspräsident, Ludwig Bergsträsser.342Dieser war im April 1945 von derMilitärregierung aufgefordert worden, eine „Deutschen Regierung“ mit Sitz in Darmstadtzu errichten. In dieser Funktion war er in der Übergangszeit der wichtigste Ansprechpart-ner für die TH Darmstadt.343

Unterdessen machten Mitglieder alliierter Geheimdienste Darmstädter Professorenhabhaft, um sie über ihre Mitwirkung am Bau der V2-Rakete und damit über die Fort-schritte der deutschen Kriegsforschung zu befragen.344Zwischen dem 26. März 1945 unddem 8. April 1945 wurden zehn TH-Professoren abtransportiert.345Die Professoren Hue-ter, Buchhold und Busch (Elektrotechnik), Vieweg (Technische Physik), Rau (Experi-mentalphysik), Hübener (Maschinenbau), Klöppel (Bauingenieurwesen), Walther (Ma-thematik), Carl Wagner (Physikalische Chemie) sowie Scheubel (ehemaliges InstitutLuftschifffahrt und Flugtechnik) wurden im Laufe der ersten zwei Wochen nach Eintref-fen der Amerikaner in Darmstadt festgenommen und für Befragungen interniert. Derschnelle und gezielte Zugriff auf die Darmstädter Forschungsgruppe rund um die V2-Forschungen lässt die Annahme zu, dass die Amerikaner damit das Ziel verfolgten, deut-sche Rüstungstechnologie und Rüstungsforschung für die weitere Kriegsführung dienst-bar zu machen. Amerikaner und Briten hatten für diese Zwecke im Jahr 1944 in Londondas „Combined Intelligence Objective Subcommittee“, kurz CIOS, gegründet. Nebendem Sammeln von wissenschaftlich-technischen Informationen sowie der Sicherung und 5.1 Vom Einordnen in eine neue Hochschulumgebung 105Kontrolle von wissenschaftlichen Einrichtungen gehörte auch die Festnahme und Evaku-ierung ausgewählter Forscher, die im Vorfeld bereits als sogenannte „Targets“ ausge-wählt wurden, zu deren Aufgabenbereich.346

Ein Schreiben des Vertrauensrates vom 20. Juni 1945, adressiert an die Alliierte Mi-litärregierung, zeigt neben Einzelheiten der Festnahme der Professoren außerdem dasSelbstverständnis der Hochschule, die sich ohne größere Berührungsängste bereits imJuni 1945 nicht davor scheute, zwar im Namen der Familien der Verhafteten, aber trotz-dem sehr bestimmt, Forderungen an die Militärregierung zu stellen:

„Wir können uns sehr wohl vorstellen, dass die Gegenstände der Vernehmungeine völlige Isolierung der betreffenden Personen erfordern. Wir halten es aberals Vertreter der Technischen Hochschule Darmstadt für unsere Pflicht, auf die

Härte hinzuweisen, durch die unsere Kollegen durch die obigen Maßnahmenhinsichtlich des Verkehrs mit ihren Familien schlechter gestellt wurden als

Kriegsgefangene. Die Technische Hochschule Darmstadt würde es daher dank-bar begrüßen, wenn die Alliierten Streitkräfte unseren Kollegen gestatten wür-den, sobald als möglich mit ihren Familien in Verbindung zu treten. Es verstehtsich, dass nur wichtige Privatangelegenheiten Gegenstand des hiermit erbete-nen Verkehrs sein würden.“347

Konfrontiert mit der Tatsache, dass die Alliierten die TH Darmstadt mit Kriegsforschungin Verbindung brachten, hatten die Hochschulvertreter zunächst – wohl als Form des Kri-senmanagements – in einem ersten Entwurf für das Schreiben geleugnet, von der V2-Forschung gewusst zu haben.348

Die Professoren Jayme und Brecht hatten nicht an der V2 mitgeforscht, sie gehörtennicht zu den verhafteten Professoren. Es ist aber davon auszugehen, dass ihre Institutegleich mit den einrückenden Truppen von den Amerikanern gesichert wurden, denn siewurden auf der sogenannten „Black List“ der Forschungseinrichtungen geführt, das heißt106 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs sie wurden als „Ziele“ mit militärischer Bedeutung eingeschätzt und aus Sicherheitsgrün-den zunächst von speziellen Aufklärungseinheiten inspiziert, die gemeinsam mit den vor-rückenden Truppen tätig wurden.349Fälschlicherweise hielt man die Vierjahresplaninsti-tute der beiden für ein und dasselbe Institut, in den Berichten ist lediglich von einem„Institut für Cellulose Chemie“ die Rede. Sogleich mussten Jayme und Brecht über ihreForschungsergebnisse Auskunft geben. Die Befragungen fanden überwiegend in derHochschule statt, für ein Gespräch wurde Professor Jayme nach Wiesbaden gebracht.350

Die amerikanische Militärregierung besetzte nach ihrer Ankunft Teile unbeschädigterHochschulgebäude. In das Zintl-Institut kam zeitweise eine amerikanische zahnärztlicheEinrichtung, dann ein Medical Laboratory.351Im Fernmeldetechnischen Institut von Pro-fessor Busch richteten die Amerikaner ein Community Center mit Supermarkt undSchönheitssalon ein.352Außerdem beschlagnahmt wurden der Windkanal der Hochschulein Griesheim und das Hochschulstadion.353Daneben wurden auch zahlreiche Wohnungenvon Professoren und anderen Darmstädter Hochschulmitarbeitern beschlagnahmt.

5.1.2Vorbereitungen des Vertrauensausschusses für eine Wiedereröffnung der Hoch-schule. Handlungsmöglichkeiten wegen Sonderstatus

Allem Anschein nach mussten sich die Vertreter der Hochschule bis zum 30. August 1945gedulden, bis es zu einem ersten Treffen mit einem für hochschulpolitische Fragen zu-ständigen amerikanischen Offizier kam.354In der Regel setzten die Amerikaner für Be-lange von Universitäten und Hochschulen Universitätsoffiziere ein. Ihre Aufgabe bestandunter anderem in der Beaufsichtigung von Wiedereröffnungen, Entnazifizierung sowieder Auswahl und Zulassung der Studierenden. Aus den konkreten Hochschulangelegen-heiten hielt sich die amerikanische Militärregierung, teils aus Personalmangel, teils ausRespekt vor der deutschen Universität, weitgehend heraus.

5.1 Vom Einordnen in eine neue Hochschulumgebung 107

Prominentester Vertreter der amerikanischen Hochschuloffiziere war Edward YarnallHartshorne.355Bis zu seiner Ermordung am 28. August 1946 unter nicht geklärten Um-ständen auf der Autobahn Nürnberg–München war dieser als führender Universitätsoffi-zier in Bayern und Groß-Hessen tätig. Der Soziologe aus Harvard war ein Kenner desdeutschen Universitätssystems.356Hartshorne war der deutschen Universität weitgehendpositiv gegenüber eingestellt, er nahm bei den schnellen Wiedereröffnungen der Univer-sitäten und Hochschulen in der amerikanischen Besatzungszone eine bedeutende Rolleein.

Die Kontrolle über die TH Darmstadt jedoch übergab Hartshorne in die Hände derörtlichen Militärregierung. Per „working agreement“ wurde die TH Darmstadt in die Zu-ständigkeit von Leon P. Irvin übergeben.357Über den Professor für Romanistik der MiamiUniversity in Oxford/Ohio, Jahrgang 1896, ist wenig bekannt.358

Hartshorne konzentrierte sich mit seinem Engagement zunächst auf die weniger zer-störte und im Gegensatz zur Technischen Hochschule mit einer medizinischen Fakultätausgestattete Marburger Universität.359Ein weiterer möglicher Grund für die Vernachläs-sigung der TH Darmstadt durch Hartshorne könnte sein, dass die amerikanische Militär-regierung die Form der Technischen Hochschule jener der Universitäten als nicht gleich-rangig betrachtete. In den Quellen wurde die TH Darmstadt häufig fälschlicherweise als108 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs „High School“360oder auch einzelnes technisches Institut wahrgenommen.361ÄhnlicheErfahrungen machte auch die TH Aachen in der britischen Besatzungszone.362

Wahl eines Vertrauensrates und Planungen für die Wiedereröffnung

Insgesamt standen die zuständigen amerikanischen Besatzungsoffiziere, wie man an ih-rem vehementen Einsatz für die Wiedereröffnung der Universitäten sehen sollte, demdeutschen Hochschulwesen durchweg positiv gegenüber. Der in der Direktive JCS 1067vorgesehene Plan, die Universitäten und Hochschulen erst nach einer umfassenden, aufunbestimmte Zeit angelegten Entnazifizierung zu eröffnen, ließ sich nicht umsetzen.Nicht nur wurden sie für den demokratischen Wiederaufbau Deutschlands benötigt, denzahlreichen Studierenden, insbesondere den zurückkehrenden Wehrmachtssoldaten,sollte auch eine Perspektive geboten werden.363

Die Darmstädter Professoren versuchten ihrerseits, alles dafür zu tun, die Wiederer-öffnung und damit den Fortbestand der Hochschule zu sichern. Weil das Rektorat ver-waist war, wählten die Professoren am 28. April 1945, damit noch vor Kriegsende undohne Einwirkung der Besatzungsmacht, aus ihren Reihen drei Persönlichkeiten in einensogenannten Vertrauensausschuss. Die Wahl fiel auf Wilhelm Schlink (Mechanik), ErichReuleaux (Eisenbahnwesen) und Max Muss (Volkswirtschaftslehre), der später durch Al-win Walther (Mathematik) abgelöst wurde.364Von Walther abgesehen, waren sie älter als60 Jahre, deutlich vor 1933 berufen und keine Parteimitglieder; Schlink und Reuleauxhatten zudem vor dem „Dritten Reich“ schon als Rektoren amtiert. Die Militärregierungerkannte das Leitungsgremium de facto an. Der Vertrauensausschuss, auch Verwaltungs- 5.1 Vom Einordnen in eine neue Hochschulumgebung 109ausschuss genannt, nahm fortan die Wiedereröffnung in Angriff. So leitete er die Institutean, für den Erhalt und die Sicherstellung des Inventars und ihrer Aufgabenbereiche zusorgen.365Außerdem wurden verschiedene Referate gebildet: Professor Mehmel war zu-ständig für die Studierenden, Neufert für das Hochschulsportfeld, Detig für die Bewa-chung der Gebäude.366

Der zuständige amerikanische Oberst Irvin zeigte vom ersten Treffen mit dem Ver-waltungsausschuss Ende August 1945 an Interesse an einer Wiedereröffnung der Hoch-schule. Aufgrund der Ratschläge Irvins stellte die TH Darmstadt unmittelbar nach demGespräch einen ersten Antrag auf Wiedereröffnung bei der amerikanischen Militärregie-rung.367Nur wenige Tage später, vom 3. September 1945 bis zum 15. Oktober 1945,fanden mit Genehmigung von Irvin an der TH Darmstadt Vorkurse für Architekten undBauingenieure statt. Insgesamt 420 Besucher mit unterschiedlichsten Vorkenntnissennahmen daran teil.

Irvin zeigte nicht nur beim Thema der Wiedereröffnung großes Verständnis für dieBelange der TH Darmstadt. So half er der Hochschule außerdem bei der Verhinderungvon Wohnungsbeschlagnahmungen368und bemühte sich um eine Freigabe der durch an-dere amerikanische Einheiten besetzten Hochschulgebäude.369Die Zusammenarbeit mitOberst Irvin stellte sich für die Hochschule auch aus einem anderen Grund als besonderspositiv heraus: Aufgrund des „working agreement“ war er berechtigt, selbstständig überdie Vorgehensweise bei der Wiedereröffnung zu bestimmen und damit in der Lage, au-ßerhalb der engen Vorgaben Hartshornes zu agieren. Dies äußerte sich unter anderemdarin, dass die Einsetzung eines aus politisch tragbaren Persönlichkeiten bestehenden„Planungsausschusses“ an der TH Darmstadt nur auf dem Papier stattfand, obwohl sieursprünglich nach dem von Hartshorne am 12. Juli 1945 eingeführten offiziellen Fahr-plan („draft directive on opening universities“) als wichtigste Institution zur Vorberei-tung der Wiedereröffnungen verlangt wurde.370So wurde in der Sitzung des vorläufigenKleinen Senats am 17. Oktober 1945 ein Ausschuss aus Schlink, Reuleaux, Walther,110 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs Busch und Kohlschütter gebildet und später auch anerkannt, jedoch übernahm die Auf-gaben, die eigentlich dem Planungsausschuss zugeteilt waren, weiterhin der Vertrauens-ausschuss.371

Im Oktober besuchte Oberst Irvin die Räumlichkeiten der Hochschule und erklärte imZuge dieses Besuches den Verwaltungsbereich der Hochschule offiziell als wiedereröff-net, da die Aufräumarbeiten entscheidend fortgeschritten waren.372Obwohl die Hoch-schule damit bereits offiziell als wieder eröffnet galt – seit dem 5. November 1945 gingendarüber hinaus bereits Voranmeldungen der ersten Studierenden ein –, brauchte es für dieWiederaufnahme des Unterrichtsbetriebs einer weiteren Genehmigung der Militärregie-rung.373Ein weiterer Antrag zur Wiedereröffnung wurde am 13. November 1945 an dieamerikanische Militärregierung Darmstadt gestellt.374Ursprünglich für die Wiedereröff-nung vorgesehen wurde schließlich der 3. Dezember 1945. Den Termin musste man je-doch auf den 7. Januar verschieben, da Schwierigkeiten bei der Fertigstellung der Räumeauftraten, Heizungsfragen ungeklärt blieben und die Klosettanlagen unzureichend ange-legt waren.375Am 10. Januar 1945 ging schließlich die Genehmigung der amerikanischenMilitärregierung zur Eröffnung ein, der Unterricht begann noch am gleichen Tag in mitt-lerweile zwölf wiederhergestellten Lehrsälen.376Die offizielle Wiedereröffnungsfeierfand in kleinem Rahmen am 17. Januar 1946 in Anwesenheit der amerikanischen Mili-tärregierung statt.

5.1.3Der verhinderte Rektor Klöppel. Vom gescheiterten Versuch, den letzten NS-Rektor im Amt zu behalten

Ein besonders deutliches Zeichen für das Selbstverständnis als unbelastete Institution undwomöglich ebenfalls Folge der geringen Beobachtung der Hochschule durch Hartshorneist der Versuch des Vertrauensrates, den letzten NS-Rektor im Amt zu halten.377Letzter 5.1 Vom Einordnen in eine neue Hochschulumgebung 111NS-Rektor an der TH Darmstadt war der Professor für Statik- und Stahlbau, Kurt Klöp-pel. Er hatte Ende 1944 die Rektoratsgeschäfte vom Architekten Karl Lieser übernom-men, offiziell als Rektor der TH Darmstadt eingesetzt wurde er zum 1. Januar 1945.378Wie Melanie Hanel feststellt, war Klöppel kein NS-Aktivist, seine Rektoratsübernahmekann daher nicht als politisch motiviert gelten. Klöppel war jedoch Parteimitglied vom1. Mai 1937.379Aufgrund dieser Parteimitgliedschaft und seiner Rektoratszeit währenddes Nationalsozialismus, stand er als Rektoratskandidat nicht für einen personalpoliti-schen Neuanfang. Hinzu kam, dass er zu jenem Kreis von Professoren gehörte, die durchihre V2-Forschungen auf sich aufmerksam gemacht hatten und von den Amerikanern di-rekt nach ihrer Ankunft verhaftet worden waren. Das Darmstädter Rektorat war damitverwaist. Wie bereits geschildert, übernahm am 28. April 1945 ein aus drei Personen be-stehender Vertrauensausschuss die Leitung der Hochschule. Die beteiligten Hochschul-akteure wiesen diesem Gremium jedoch, wie aus einem Bericht von Wilhelm Schlinkvom November 1945 hervorgeht, zunächst nur Übergangscharakter zu. So berichteteSchlink, der Ausschuss sei zusammengetreten in „der Erwartung, dass der damalige Rek-tor später sein Amt wieder aufnehmen könne“.380

Als Professor Klöppel am 1. Juli 1945 von der Internierung durch die Alliierten zu-rückkam, bemühte sich der Vertrauensausschuss sogleich um seine Wiedereinsetzung alsRektor. So bescheinigte er Klöppel, dass dieser lediglich im Rahmen seines Berufungs-verfahrens in die Partei eingetreten sei und sich darüber hinaus nicht weiter politisch en-gagiert habe. Weiter habe Klöppel sich „in schwerer Zeit“ um die Hochschule „ganz be-sonders verdient gemacht“ und man bat, ihn „in Würdigung aller Umstände“ im Amte zubelassen.381Wie Melanie Hanel feststellt, wurde Klöppel nicht zuletzt deswegen Ende1944 zum Nachfolger von Rektor Lieser gemacht, da der Bauingenieur über beste Kon-112 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs takte zur Industrie verfügte. Die beteiligten Akteure hofften auf diese Weise, Vorteile fürden Wiederaufbau der im September 1944 stark zerstörten Hochschule zu erhalten.382Esliegt nahe, dass dieses Motiv auch in der Nachkriegszeit handlungsleitend für die Profes-soren war. In einer Zeit, in der es an Baumaterialien und Facharbeitern mangelte, hoffteman wohl, von Klöppels guten Kontakten profitieren zu können. Doch obwohl man festentschlossen war, den letzten NS-Rektor im Amte zu belassen, übten sich die beteiligtenHochschulakteure zunächst noch in Zurückhaltung. Ein weiteres Vorgehen vonseiten desVertrauensausschusses ist zumindest aus den überlieferten Akten nicht ersichtlich.Schließlich war es der für die Hochschule zuständige amerikanische UniversitätsoffizierIrvin, der die Frage der Rektoratsbesetzung wieder ansprach. Dieser erkundigte sich imRahmen der Lagebesprechung mit dem Vertrauensausschuss Ende August 1945 unter an-derem danach, wer Rektor und Prorektor an der TH Darmstadt sei. Was die Mitgliederdes Vertrauensausschusses genau auf diese Frage antworteten, wird aus dem Protokollder Sitzung nicht ersichtlich. Es ist lediglich vermerkt, dass man „entsprechende Aus-kunft“ gegeben habe.383Hinter dieser Formulierung steckte vermutlich die Absicht, dassweiterhin der Vertrauensausschuss als Hochschulleitung fungiere, man aber Klöppel zumRektor der TH Darmstadt machen wollte. Daneben hieß es außerdem, dass ein Prorektornoch nicht bestimmt sei. Offen sprach der Vertrauensausschuss über die Parteimitglied-schaft Klöppels, allerdings datierte man diese auf das Jahr 1938, also um ein Jahr nachhinten.384Während an anderen Universitäten und Hochschulen zu diesem Zeitpunkt be-reits belastete Dekane und Rektoren von ihren Ämtern zurücktraten – meist ohne Auffor-derung der entsprechenden Militärregierungen und mit „antifaschistischem“ Selbstver-ständnis385–, agierte die TH Darmstadt mit völlig entgegengesetztem Selbstverständnis.Darin bestärkt wurde sie zunächst von Oberst Irvin, für den die Parteimitgliedschaft Klöp-pels „grundsätzlich das Verbleiben im Amt nicht ausschlösse“.386Aufgrund des „workingagreement“ und der Zusammenarbeit mit Irvin schien der Plan, Klöppel im Amt zu halten,für einige Zeit sogar aufzugehen. Dies zeigt erneut, dass die TH Darmstadt zunächst an-dere Handlungsmöglichkeiten als andere Universitäten hatte.

5.1 Vom Einordnen in eine neue Hochschulumgebung 113

Im Herbst jedoch änderte sich das Vorgehen der Amerikaner bei der Entnazifizierung.Eine Parteimitgliedschaft war von nun an nicht nur Hinderungsgrund für eine Amtsüber-nahme, sondern auch für die weitere Beschäftigung als Professor. Dementsprechend än-derte auch der amerikanische Offizier Irvin seine Haltung gegenüber einem RektoratKlöppels. Bei einer Besprechung mit dem Vertrauensrat Mitte Oktober 1945 empfahl Ir-vin den anwesenden Hochschulangehörigen, Klöppel „trotz des allgemeinen Vertrauensseiner Kollegen“ nicht als Rektor vorzuschlagen. Laut Protokoll sagte er in diesem Zu-sammenhang: „It would be unwise.“387Tatsächlich wurde dann, wie bereits berichtet, beiden ersten Rektoratswahlen nach der Verfassung von 1926 Anfang November 1945 Pro-fessor Reuleaux, ehemaliges Mitglied des Vertrauensausschusses und dazu kein Partei-mitglied, zum ersten Nachkriegsrektor gewählt. Klöppel wurde am 25. Juni 1946 auf-grund des Befreiungsgesetzes entlassen. Bis zu seiner Spruchkammerverhandlung am1. August 1946, bei der er in die Kategorie der Mitläufer eingestuft worden war, unterlager einem Tätigkeits- und Beschäftigungsverbot.388Die TH Darmstadt konnte nicht nurKlöppel als Wunschkandidaten nicht durchsetzen, für Klöppel selbst wurde aufgrund derneuen Gesetzeslage nun die Rektoratszeit während des Nationalsozialismus zum Ver-hängnis.389Spätestens jetzt mussten die beteiligten Akteure erkennen, dass der politischeUmbruch gewisse Einschränkungen bei Entscheidungen wie der Rektoratswahl mit sichbrachte. Dass man diese erst im Oktober 1945 zur Kenntnis nahm und bis dahin an derBesetzung des Rektorats mit Klöppel festhielt, zeigt zum einen die lockere Handhabungdurch Irvin, zum anderen ist dies aber auch ein Hinweis für das vorherrschende Selbst-verständnis nach dem Nationalsozialismus: Offensichtlich ging man in Darmstadt davonaus, dass man über die politische Vergangenheit nach eigenen Maßstäben urteilenkönne.390Noch Jahre danach hatten die beteiligten Akteure die Verhinderung des Wun-schrektors Klöppel nicht vergessen: Kurze Zeit nachdem es wieder möglich wurde, Mit-114 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs läufer zu Rektoren zu wählen, machte man Klöppel im Jahr 1953, mit der Absicht, „dasihm zugefügte Unrecht wiedergutzumachen“,391zum Rektor der TH Darmstadt.392

5.2Die Umstellung von Kriegsforschung auf den Lehrbetrieb. Res- sourcenumverteilungen und Richtungsentscheidungen für den in- stitutionellen Neuanfang

Die Hochschulleitung veranlasste, um einen ungefähren Überblick zur voraussichtlichenzukünftigen Studierendenzahl zu erhalten, unter den Institutsvorstehern eine Umfrageüber die Anzahl ihrer eingeschriebenen Studierenden. In 13 der 17 eingegangenen über-lieferten Rückmeldungen berichteten die Institutsleiter, dass sie keine Angaben dazu ma-chen könnten.393Offiziell war der Hochschulbetrieb zwar auch während des Krieges fort-gesetzt worden, doch der Lehrbetrieb und ein direkter Kontakt zu den knapp 189 Studie-renden, so geht aus den Antworten hervor, fand während des letzten Semesters im Kriegnur begrenzt statt. Dazu beigetragen hatte nicht zuletzt die Tatsache, dass die Hochschul-mitarbeiter sich in großen Teilen mit Kriegsforschung statt mit Lehre beschäftigten. DasJahr 1945 stellte demnach eine deutliche Zäsur dar: Mit dem Ende des „Dritten Reiches“stand für die TH Darmstadt eine Umstellung von einem Kriegs- zu einem Friedensbetriebbevor.

Die TH Darmstadt stand 1945 vor drei Problemen: Angesichts der durch Zerstörungund Krieg und einer Neuordnung auf Landesebene hervorgerufenen finanziellen Eng-pässe wurde der Etat der Hochschule empfindlich gekürzt. Das neu entstandene LandGroß-Hessen, seit 1946 Hessen, hatte drei Universitäten und eine Technische Hochschulezu versorgen. Dazu kam, dass die von der TH Darmstadt im Krieg beschafften materiellen 5.2 Die Umstellung von Kriegsforschung auf den Lehrbetrieb 115und personellen Ressourcen angesichts der alliierten Verbote und Beschlagnahmungen inder Nachkriegszeit wegzufallen drohten. Das Ende des Krieges, das auch ein Ende derimmensen Finanzierung der Darmstädter Projekte bedeutete, stellte die Wissenschaftlervor ein weiteres Problem: Um die während des Krieges begonnenen Forschungsergeb-nisse weiter ausarbeiten zu können, fehlte es nicht nur an finanziellen Fördermitteln, dieWissenschaftler mussten die neuen amerikanischen und deutschen Regierungsvertreterzuallererst von der Bedeutung der eigenen Forschungen überzeugen.

Die Folgen der hessischen Sparmaßnahmen für die TH Darmstadt

Zwar stand eine Schließung der Hochschule zu keinem Zeitpunkt zur Debatte, jedoch ließRegierungspräsident Bergsträsser die TH Darmstadt, wie auch die Universität Gießen, imJuli 1945 im Unklaren darüber, „in welchem Umfang die Technische Hochschule weiter-geführt werden“ könne.394

Hatte die TH Darmstadt zuvor jährlich einen Staatszuschuss von rund 3 MillionenReichsmark erhalten, musste sie nun mit 1 Million RM auskommen, folglich nur nochmit rund 40 Prozent des bisherigen Betrages.395Die Hochschule bemühte sich daraufhin,durch Gehaltskürzungen Geld einzusparen. Für den zuständigen Finanzbeamten Ministe-rialrat Krapp ging dies jedoch noch nicht weit genug, in seinen Augen konnte nur das„Ausreissen starker Äste statt Beschneidung einzelner schwacher Zweige“ zum Ziel füh-ren. Die TH Darmstadt war demnach vor die Aufgabe gestellt, ihr Profil den Anforderun-gen anzupassen und sich einzuschränken.

Der Verwaltungsausschuss setzte im August 1945 als „Versuch, dem Verlangen derRegierung zu entsprechen und dadurch die sonst bedrohte Existenz der Hochschule zuretten“, einen Notetat für die Fortführung der TH Darmstadt fest. Vorgesehen war derAbbau ganzer Abteilungen, Lehrstühle und Institute, um Stellen einzusparen. Der Ver-waltungsausschuss plante, die Professuren für Röntgentechnik, Flugmeteorologie, Mine-ralogie, Staats- und Verwaltungsrecht, Arbeitskunde, Elektrizitätswirtschaft, Luftfahrtund Flugtechnik sowie Luftfahrzeugbau, abzuschaffen. Im Einzelnen lässt sich der Ent-scheidungsfindungsprozess nicht rekonstruieren, jedoch scheint der Verwaltungsrat imAugust 1945 die davon betroffenen Fächer vor vollendete Tatsachen gestellt zu haben.Die Frage, welche Fachbereiche und Institute von den Sparmaßnahmen betroffen seinwürden und welche aufrechterhalten werden sollten, sorgte für Spannungen innerhalb der116 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs Hochschule.396Die Wahl fiel schließlich zum einen auf Lehrstühle, deren weitere Zukunftohnehin ungewiss war, zum anderen wählte man für die Kürzung die Stellen jener Perso-nen aus, deren weiteres Schicksal aufgrund ihrer politischen Vergangenheit nicht abzu-schätzen war und die zudem nicht in der Lage waren, ihre Interessen zu verteidigen, dasie zu diesem Zeitpunkt physisch nicht anwesend waren.397Während die Beschneidungs-maßnahmen auf Professorenseite demnach eher gemäßigt ausfielen, entschied sich derVerwaltungsrat zu drastischen Kürzungen der Assistentenstellen.

Waren im Etat vor 1945 noch 132,5 Assistentenstellen vorhanden, kürzte man diesenun auf 42 Assistenten und 25 Hilfsassistenten. Als weitere Maßnahme wurden die Ober-ingenieure den Assistenten gleichgestellt. Außerdem wurde beschlossen, den Hilfsassis-tenten mit einer Monatsvergütung von 150 bis 200 RM in größerem Umfange wiedereinzuführen. Die Abteilung für Chemie beispielsweise hatte nun statt sechs Oberingeni-euren und 28 Assistenten insgesamt nur noch acht Assistenten zur Verfügung. Grundlagedes Vorgehens des Verwaltungsausschusses war, möglichst viele Professuren beizube-halten und, wie man es nannte, dadurch „sozusagen das Skelett der Hochschule zu si-chern“.398Geplant war, diese Basis später mit mehr Assistenten, Lehrmittelfonds und der-gleichen aufzufüllen.

5.2 Die Umstellung von Kriegsforschung auf den Lehrbetrieb 117 Anzahl vor 1945

Ausgaben vor

1945 in RM

Anzahl Nach- kriegsetat

Ausgaben

Nachkriegsetat in RM

Beamte57201.00035126.000ord. und a.o.

Professoren

44 und

11

653.00040 und 6547.000

Dozenten und

Assistenten

3 und

132,5

670.00042 und 25399296.000

Angestellte148475.00066,5219.000

Arbeiter und

Lehrlinge

57 und

47

97.00025 und 2543.000

Prüfungsvergütun-gen, Kolleggeld-garantien

Personalgesamt

54.000Personal ge-samt

35.000

Andere Ausga-ben400

Personalgesamt

21.000Personal ge-samt

12.000

Gesamt499,52.171.000260,51.278.000

Abbildung 6: Vergleich der Personalausgaben von vor 1945 und des ersten

Nachkriegsetats401

Im Rahmen der Besprechungen um den Notetat schlug der damalige Präsident derIndustrie- und Handelskammer, Wilhelm Köhler, der TH-Leitung vor, durch Finanzie-rung vonseiten der Industrie zusätzliche Geldmittel für die Hochschule freizumachen. Erregte an, einen Hilfsfonds durch die Industrie zu schaffen. Nachdem sich Professor Musskritisch gegen diese Form der Finanzierung geäußert hatte, beschlossen die anwesendenProfessoren stattdessen, die Gesellschaft der Freunde der TH Darmstadt zu nutzen, wel-cher ebenfalls Wilhelm Köhler als Vorsitzender vorstand.402

Neben den Etatkürzungen war die TH Darmstadt von weiteren hessischen Einspa-rungs-Entscheidungen betroffen. Nach einem Erlass des Kultusministeriums wurden derTH Darmstadt für das Hochschulinstitut für Leibesübungen keine staatlichen Zuschüssemehr bewilligt. Da keine anderweitige Finanzierungsmöglichkeit bestand, wurde dasInstitut, dessen Leiter Ernst Söllinger im Rahmen der Entnazifizierung ohnehin als ent-lassen galt, vorübergehend aufgelöst.403

118 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs

Des Weiteren forderte die Landesregierung die hessischen Hochschulen und Univer-sitäten dazu auf, Vorschläge zu machen, welche Institute zusammengelegt werden könn-ten, um durch systematische Zusammenarbeit von benachbarten Hochschulen sparen zukönnen.404Ende Dezember 1945 trafen sich Professoren der Universität Frankfurt undder Technischen TH Darmstadt, um über diese angeregte Zusammenarbeit zu sprechen.405Bei dieser Zusammenkunft wurde vorgeschlagen, die Meteorologie der beiden Institutio-nen zusammenzulegen. Geplant war eine gemeinsame Professur unter Besetzung durchProfessor Mügge, außerordentlicher Professor der TH Darmstadt, der außerdem auf einerBerufungsliste für das freistehende Ordinariat der Universität Frankfurt an erster Stellestand. Da die Universität Frankfurt noch nicht wiedereröffnet war, sah es zunächst so aus,dass Darmstadt das gemeinsame Institut beherbergen würde. Jedoch eröffnete Frankfurtnoch im Februar 1946 und Darmstadt konnte sich aufgrund des größeren Zerstörungsgra-des nicht durchsetzen. Die Darmstädter und Frankfurter Kollegen einigten sich schließ-lich darauf, das Institut unter der Leitung Mügges in Frankfurt zusammenzulegen.406Letztendlich dauerte die tatsächliche Personalunion nur einige Monate an, da Mügge imJahr 1948 komplett nach Frankfurt berufen wurde. Sein Darmstädter Lehrstuhl blieb ver-waist und das Studium der Meteorologie war in den 1950er Jahren zunächst nicht mehrmöglich.407

Personelle Umgestaltung. Anpassung des Lehrkörpers an Friedenszeiten durch Streichung von Assistentenstellen

Dass die extreme Kürzung der Assistentenstellen im ersten Nachkriegsetat nicht nur ausder Not heraus erfolgte, sondern insbesondere auch das Ergebnis eines während des Krie-ges für Rüstungsaufgaben und aufgrund von Kriegswichtigkeit angestiegenen Personal-bestands auf der Ebene der Assistenten und weiteren Hilfsangestellten war, zeigt sichinsbesondere in der Entwicklung des Instituts für Praktische Mathematik von AlwinWalther nach 1945.408Kein anderes Institut der TH Darmstadt war während des „Dritten 5.2 Die Umstellung von Kriegsforschung auf den Lehrbetrieb 119Reiches“ so stark angewachsen wie das IPM.409Beispielhaft ist hier der Fall des Assis-tenten Wilfried de Beauclair. Die Assistentenstelle, auf der de Beauclair saß, bekamWalther für seine kriegswichtigen Arbeiten auf Kosten des Betriebswirtschaftlichen Se-minars zugesprochen. Nach dem Ende des Krieges stand Walther vor der Aufgabe, diePersonalverhältnisse den veränderten Anforderungen anzupassen. Dieser Anpassung fielunter anderem de Beauclair zum Opfer, der nach Meinung Walthers „für die jetzt im Vor-dergrund stehenden ausserordentlich grossen Unterrichtsaufgaben nicht in erforderlichemMasse in Betracht“ kam und gekündigt wurde.410Ebenso musste sich Walther von derGruppe der für Berechnungen von V2-Flugbahnen eingestellten Rechner und Rechnerin-nen „wegen Verkleinerung und organisatorischer Umänderung des Instituts“ trennen.411

Die radikale Kürzung der Assistentenstellen nach 1945 sollte die Fakultäten bis in die1950er Jahre hinein beschäftigen, das Thema des Assistentenmangels war an derTH Darmstadt in dieser Zeit äußerst präsent.412Erst nach und nach gelang es, den Bedarfan Assistenten wieder zu decken. Zehn Jahre nach Kriegsende, im Studienjahr 1955/56,war der Stand der Assistentenzahlen wieder auf 124 gestiegen, damit annähernd der Standvor 1945 erneut erreicht.413Im Jahr 1959/60 waren es bereits 198 Assistentenstellen.414 Handlungsmöglichkeiten im Umbruch. Die Schließung des Instituts für Röntgen- physik

Im Herbst 1945 hatte sich mit der Bildung des Landes Groß-Hessens die Situation schonso weit entspannt, dass der beantragte Etat als vorübergehende Lösung definiert und be-schlossen wurde, die gestrichenen Stellen als „zurzeit nicht besetzt“ aufzuführen.415ZurEntspannung der Etatlage hatten allem Anschein nach auch die Entlassungen geführt,welche aufgrund der Entnazifizierung notwendig geworden waren.416

Trotzdem entschied sich die Fakultät für Mathematik und Physik, Anfang 1946 dasInstitut für Röntgenphysik, wie dies im Notetat vorgesehen worden war, zu schließen.120 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs Dies deutet darauf hin, dass man die Umbruchsituation nutzte, eine selbstbestimmte Neu-ausrichtung durchzuführen. Handlungsleitend war allem Anschein nach die Überzeu-gung, dass Stintzing und sein Institut für die Fakultät ohne Bedeutung waren und diemateriellen Ressourcen des Instituts an anderer Stelle besser eingesetzt werden könnten.So nutzte man die Entlassung des Institutsleiters Hugo Stintzing aus politischen Gründen– dieser war seit 1. Mai 1933 Parteimitglied und zudem Mitglied der SA, außerdem von1938 bis 1940 Dozentenbundführer417– um seine Professur für Röntgentechnik und Rönt-genphysik zu streichen und die Räumlichkeiten des Instituts der Technischen Physik vonProfessor Vieweg zuzusprechen, da dieses Institut vollständig zerstört worden war unddringend neuer Räume bedurfte.418Damit hatte die Fakultät Fakten geschaffen, bevorStintzings Entnazifizierungsverfahren überhaupt abgeschlossen worden war. Seine Rück-kehr war somit bereits Anfang 1946 ausgeschlossen. Stintzing gegenüber erklärte mandie Entscheidung für seine Entlassung und seine unwahrscheinliche Rückkehr mit „poli-tischen Gründen“.419Allerdings setzte man sich Ende der 1940er Jahre bei der Regierungfür Unterhaltszahlungen an Stintzing ein, was dagegen spricht, dass er tatsächlich auspolitischen Gründen ausschied.420Stattdessen spricht einiges dafür, dass man aus hoch-schulpolitischen und pragmatischen Gründen verhindern wollte, dass Stintzing zurückauf seinen Lehrstuhl kommen konnte. Dies ist auf verschiedene Ursachen zurückzufüh-ren. Zum einen auf die besonderen Umstände, unter denen Stintzing erst an die Hoch-schule kam: Seine Berufung im Jahr 1936 war von der TH Darmstadt nur widerwillighingenommen worden, da sonst die Planstelle gestrichen worden wäre.421Nun, in derNachkriegszeit, hatte man mit der Entnazifizierung die Möglichkeit, diese Entscheidungzu revidieren. Dass die TH Darmstadt sich dafür entschied, obwohl Stintzings Arbeit ander Hochschule vor 1945 nicht ohne Erfolg war – er konnte zahlreiche Mittel für Kriegs- 5.2 Die Umstellung von Kriegsforschung auf den Lehrbetrieb 121forschungsarbeiten vom Reichsforschungsrat einholen – lag womöglich auch an dem be-reits fortgeschrittenen Alter Stintzings, er war Jahrgang 1888, sowie seinen gesundheitli-chen Problemen.422

Besonders interessant an dem Vorgang ist zudem, dass seine Stelle nicht gestrichen,sondern der Fakultät für Chemie zugesprochen wurde.423Hier wurde nun eine außeror-dentliche Professur für chemische und physikalische Röntgenkunde eingerichtet undgleichzeitig mit Helmut Witte besetzt.424Dies zeigt, welche Handlungsmöglichkeiten dieNachkriegszeit, insbesondere durch die Entnazifizierung, mit sich brachte. Die TH Darm-stadt war in die Lage versetzt, sonst kaum mögliche Personalentscheidungen durchzufüh-ren und damit gewissermaßen ihre eigenen Ressourcen neu zu verteilen.

Die Eingliederung der drei Vierjahresplaninstitute in die TH Darmstadt nach 1945 An anderer Stelle wiederum gelang es der TH Darmstadt durch geschicktes strategischesVorgehen, materielle Ressourcen, die vom Reich für „kriegswichtige“ Arbeiten finanziertworden waren, in ihr Eigentum zu überführen.

Nach dem Ende des Krieges lösten die Alliierten das Reichsamt für Wirtschaftsausbauals Institution des Reiches auf. Damit eingeleitet war die Auflösung der dem Reichsamtfür Wirtschaftsausbau angegliederten drei Darmstädter Vierjahresplaninstitute. Die Insti-tute hatten im Laufe des „Dritten Reiches“ nicht nur einen Institutsneubau, zusätzlichesPersonal und Sachmittel bekommen. Sie hatten außerdem über einen jährlichen Etat vonjeweils rund 100.000 RM und leihweise über Instrumente und Geräte verfügt.425Die dreiInstitutsleiter bemühten sich in der Nachkriegszeit bei der amerikanischen Militärregie-rung um die Freigabe der Einrichtungen und um eine Folgefinanzierung mit dem Ziel, dieForschungsarbeiten der ehemaligen Vierjahresplaninstitute in anderer Form fortführen zukönnen. Wie aus dem Protokoll einer Besprechung hervorgeht, trafen sich Vieweg,Brecht und Jayme am 13. Juli 1945, um die letzten, vom Reichsamt für Wirtschaftsausbaueingegangenen Gelder untereinander aufzuteilen. Die Leiter der Institute hatten währenddes Krieges über verschiedene Konten verfügt, die Zahlungen des Reichsamtes für Wirt-schaftsausbau waren jedoch auf ein gemeinsames Konto, das als „Hilfsfonds“ deklariert122 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs war, eingegangen. Die drei Professoren beschlossen zunächst, die noch übrig gebliebenen36.000 RM im Verhältnis der Jahresetats aufzuteilen.426Bevor sie das Geld verwendenkonnten, wurde es durch das Gesetz Nr. 52 der Militärregierung vom September 1945gesperrt und unter amerikanische Kontrolle gestellt. In der Folgezeit bemühten sichBrecht, Vieweg und Jayme, die Konten freizubekommen. Im Juni 1946 konnten ersteZugriffe auf die Gelder erreicht werden, die Freigabe aller Konten zog sich jedoch bis insJahr 1948 hinein.427Erst dann ließen sich rückständige Rechnungen und ausstehendeGehälter auszahlen.428Nachdem diese Schritte erfolgt waren, bezeichneten die drei Pro-fessoren gegenüber offiziellen Stellen die Liquidation der Institute als abgeschlossen.Wie Brecht im Herbst 1946 mitteilte, war „das dem Reichsamt für Wirtschaftsausbauunterstellt gewesene Institut für Zellstoff- und Papiertechnik, Forschungsinstitut des Vier-jahresplans, […] mit Kriegsende aufgelöst worden und [verfügte,] nachdem in der Zwi-schenzeit seine Geschäfte abgewickelt wurden, über keine Mitglieder mehr“.429AuchVieweg berichtete im Jahr 1947 von der abgeschlossenen Liquidation seines Instituts.430

Doch während man die Vierjahresplaninstitute auf dem Papier für aufgelöst erklärte,bereitete man im Hintergrund die Überführung der übrig gebliebenen Ressourcen in diejeweiligen TH-Institute vor. Wie es scheint, war es die Strategie bei dieser Überführung,möglichst wenig Aufsehen zu erregen. So stellte Richard Vieweg gegenüber Ministerprä-sident Geiler heraus, dass eine Liquidation durch klare und saubere Einschnitte kaummöglich sei, da die Institute während des „Dritten Reiches“ an bereits existierende Insti-tute der TH Darmstadt angegliedert worden waren. Wegen Zerstörung der Unterlagenkönne man, so Vieweg, die Vierjahresplaninstitute von den hochschuleigenen nicht un-terscheiden. Vieweg war darüber hinaus der Meinung, dass sich dies nicht lohne, „da essich durchweg nicht um besonders grosse und wertvolle Geräte handelt und da zudemgesichert ist, dass sie sachgemäss und zum Nutzen der Allgemeinheit verwendet wer-den.“431Wie stark Vieweg mit dieser Behauptung untertrieben hatte, zeigt sich besondersbeim ehemaligen „Vierjahresplaninstitut für Zellstoff- und Papierchemie“ von Georg 5.2 Die Umstellung von Kriegsforschung auf den Lehrbetrieb 123Jayme. Im Jahr 1938 hatte das Institut einen durch das Reichsamt für Wirtschaftsausbaufinanzierten Neubau für etwa 1 Millionen RM, inklusive Bauplatz für weitere 25.000 RM,erhalten. Weiter gehörten zu dem Institut Spezialgeräte für chemische, technische undoptische Untersuchungen.432Während des „Dritten Reiches“ verfügte das Institut über30 Mitarbeiter.433Um diese Vermögenswerte für die TH Darmstadt erhalten zu können,wandten sich die Hochschulleitung, Professor Jayme sowie einzelne Mitarbeiter des ehe-maligen Vierjahresplaninstituts von Jayme ab Juli 1945 mit zahlreichen Anträgen zurWeiterführung an die neu geschaffene Regierung der Provinz Starkenburg, die Forstab-teilung der Deutschen Regierung, das Kultusministerium und Ministerpräsident Geiler.434Darin unterstrich man die Einzigartigkeit des Instituts und die dringende Notwendigkeit,es zu erhalten. Auch die Hochschule machte Jayme auf die Notwendigkeit der Weiter-führung aufmerksam.435

Während dieser Zeit arbeiteten einige Mitarbeiter zunächst auch ohne Bezahlung wei-ter. Später konnte die Bezahlung von sechs Angestellten des Instituts durch die Papierin-dustrie gesichert werden.436Im April 1947 sollte der Antrag der TH Darmstadt zur Ein-gliederung des ehemaligen Reichsinstituts für Zellstoff- und Papierchemie in die Hoch-schule Erfolg haben, das Kultusministerium hatte keine Bedenken und setzte sich beimFinanzministerium für die Etatisierung ein.437Bereits im Jahr 1947 waren auch die For-schungsarbeiten wieder genehmigt worden.438Die 1945 als „Vierjahresplaninstitut“ auf-gelöste Einrichtung wurde in der Nachkriegszeit mit dem Institut für Cellulosechemie mit124 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs Holzforschungsstelle vereinigt.439Die offizielle Verwaltungsüberstellung des Gebäudesund Geländes dauerte bis Ende der 1950er Jahre an.440

In allen diesen Anträgen und in der zum 50-jährigen Jubiläum im Jahr 1950 verfasstenInstitutschronik fiel der Begriff des „Vierjahresplaninstituts“ kein einziges Mal. Insbe-sondere die Hintergründe der baulichen Erweiterung, die das Institut als Einrichtung desVierjahresplanes erhielt, wurden verschwiegen, die genauen Entstehungszusammen-hänge zwischen der von den Nationalsozialisten geförderten Autarkieforschung dadurchverschleiert. So hieß es an einer Stelle, dass der „große Zustrom von Studierenden“ zudem geplanten Neubau geführt habe.441Zwar wurde nicht verschwiegen, dass die Mitteldafür vom Reichsamt für Wirtschaftsausbau kamen, was deren ursprünglicher Sinn undZweck war, blieb jedoch unausgesprochen. Der Neubau hatte eine Verdreifachung derursprünglichen Nutzfläche des Instituts mit sich gebracht, und noch im Jahr 1955 zähltees zu einem der „bestausgerüsteten Institute seiner Fachrichtung“.442

Auch die beiden anderen Vierjahresplaninstitute wurden in die TH Darmstadt über-führt, allerdings standen bei dieser Überführung weit weniger materielle Aspekte im Vor-dergrund. Beide Institutseinrichtungen waren beim Angriff auf Darmstadt im September1944 komplett zerstört worden. Im Gegensatz zur Cellulosechemie hatte das Institut fürKunststofftechnik einen weitaus kleineren Institutsbau erhalten, Brecht war völlig leerausgegangen.443Es ging demnach vielmehr um die Überführung einzelner Einrichtungs-gegenstände und des eingestellten Personals.

Viewegs ehemaliges Vierjahresplaninstitut für Kunststofftechnik wurde bereits imMärz 1946 durch einen Erlass Hartshornes nicht mehr als „Objekt von abwehrmäßigemBelang“ behandelt und gleichzeitig unter Aufsicht der hiesigen Militärregierung ge-stellt.444Die Hochschule betrachtete das Institut damit als freigegeben. Auch hier war die 5.2 Die Umstellung von Kriegsforschung auf den Lehrbetrieb 125Hochschulleitung aufgrund der Einmaligkeit der fachlichen Ausrichtung des Instituts unddes Stellenwertes für die TH Darmstadt unbedingt daran interessiert, es wieder aufzu-bauen und im Zuge dessen ebenfalls in die Hochschule einzugliedern.445Wie im Fall vonJaymes Institut lag ebenfalls im Jahr 1947 eine Genehmigung der Forschungsarbeitenvor.446Im Jahr 1951 entstand mit dem Institut für Kunststoffforschung eine Institution,die inhaltlich an die Forschungen des ehemaligen Vierjahresplaninstituts – Forschungenauf dem Gebiet des Kunststoff-Messwesens – anknüpfte.447

Über das weitere Schicksal des ehemaligen Vierjahresplaninstituts von Brecht ist imGegensatz zu den Instituten von Vieweg und Jayme wenig Konkretes bekannt. Auf einerAufstellung für die Militärregierung vom September 1945 gab Brecht an, dass von seinemInstitut Vermögen im Wert von 17.263,98 RM und Maschinen, über ganz Deutschlandverteilt, im Wert von 10.760 RM übrig geblieben seien.448Wie es scheint, dauerte dieLiquidation seines Vierjahresplaninstituts länger als die der Institute von Jayme undBrecht. Im Rahmen der Währungsunion bestand kurzzeitig die Gefahr, dass die noch vor-handenen Gelder völlig entwertet würden.449Danach ist unklar, inwieweit das ehemaligeVierjahresplaninstitut Brechts in die Nachkriegszeit hineinreichte.

Dies kann verschiedene Ursachen haben. Möglich wäre, dass Brecht durch die Zer-störung im Krieg mit Aufräumarbeiten stark eingespannt war und darum zunächst anderePrioritäten setzte.450Zum anderen kann dies auch an der überlieferten Dokumentierungder Abwicklung des ehemaligen Vierjahresplaninstituts für Zellstoff- und Papiertechnikgelegen haben, Brecht spricht hier jeweils von „seinem Institut“, ohne zwischen Hoch-schulinstitut und Vierjahresplaninstitut zu differenzieren.451Hinzu kam, dass Brecht imGegensatz zu Jayme und Vieweg einen anderen Weg wählte, die Situation zu lösen: Stattan staatliche Stellen wandte er sich nun überwiegend der Industrie als potenziellen Geld-geber zu.

126 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs

Da die Vierjahresplanbehörde gemeinsam mit dem Institut Brechts untergebrachtworden war, war auch hier alles zerstört. Es gelang Brecht in der Folgezeit, mit Unter-stützung der Industrie trotzdem seine Forschungsarbeiten aufrechtzuerhalten. Zusätzlichzu den im Hochschuletat vorgesehenen Mitarbeitern konnte er in nicht unerheblichemMaße Drittmittel für Personal eintreiben. Die Zellstofffabrik Waldhof finanzierte ihm abOktober 1945 drei Monate lang sechs Mitarbeiter und gab dem Institut außerdem einenGeldbetrag für die wichtigsten Bauarbeiten, wie ein Notdach für das Papiermaschinenge-bäude. Weiterhin stellte sie für die Anbringung des Daches einen Baufachmann zur Ver-fügung.452Auch andere fachverwandte Firmen unterstützten Brecht mit Materialien oderstellten die Arbeitskraft von Handwerkern zur Verfügung.453Im Gegenzug führte seinInstitut Untersuchungen für die einzelnen Firmen durch. Nachdem sich am 13. Februar1946 in Frankfurt der Verein der Zellstoff-, Holzstoff-, Papier- und Pappen-Fabrik vonGroß-Hessen gegründet hatte, bekam sein Institut regelmäßig größere Zuwendungen derPapierindustrie.454Auf diese Weise meisterte Brecht den Aufbau des Instituts und erhieltunabhängig vom Hochschuletat für den Betrieb fünf zusätzliche Mitarbeiter. Wofür diesefünf Mitarbeiter genau eingesetzt wurden, geht nicht aus den Quellen hervor.

Zwar hatten Darmstädter Institute schon immer mit der Industrie zusammengearbei-tet, jedoch zeigt die Entwicklung des Instituts von Brecht, dass angesichts der wegfallen-den Mittel für Kriegsforschung von Reichseinrichtungen die Geldmittel aus der Industrieeinen besonderen Stellenwert erhielten.

Unklar ist, inwieweit die so gewonnenen Drittmittel für Forschungen eingesetzt wur-den, die an Themen des ehemaligen Vierjahresplaninstituts anknüpften. Im Jahr 1947 lagim Gegensatz zu Jayme und Vieweg keine diesbezügliche Forschungsgenehmigung vor.Jedoch plante Brecht im Jahr 1948, sein „Institut“ anzumelden.455

Auch für die TH Darmstadt stellten die ehemaligen Vierjahresplaninstitute besondereForschungseinrichtungen dar, die es in der Nachkriegszeit zu erhalten galt. Als die hessi-sche Regierung im Juli 1947 kurzzeitig über die Gründung eines „Zentral-Kuratoriumszur Förderung von Wissenschaft und Forschung in der US-Zone“ nachdachte, äußerte dieTH Darmstadt großes Interesse an den Plänen und nannte die drei ehemaligen Vierjah-resplaninstitute als zu fördernde Vermögenswerte.456Obwohl sich die Hoffnung, dass die 5.2 Die Umstellung von Kriegsforschung auf den Lehrbetrieb 127hessische Landesregierung die drei ehemaligen Vierjahresplaninstitute in gleicher Weisefinanziell unterstützen würde wie zuvor das Reichsamt für Wirtschaftsausbau, nicht er-füllte, gelang es der TH Darmstadt, mit der Eingliederung der drei Institute bedeutendeRessourcen zu erhalten.

Die Abwicklung weiterer Kriegsforschungsprojekte

Anders entwickelte sich die Abwicklung des Brennstoffchemischen Instituts, das wäh-rend des Krieges unter der Leitung von Georg Adge entstand.

Auch hier bemühte sich die Hochschulleitung mit einem Antrag bei der Oberfinanz-direktion Hessen frühzeitig, das Institut in die Hochschule einzugliedern.457Zum Institutgehörten unter anderem eine elektrische Rechenmaschine, die im Jahr 1943 mit Mittelnder DFG finanziert worden war sowie andere Einrichtungsgegenstände im Wert von etwa33.000 RM und ein Geldbestand von 15.000 RM.458Das Institut war während des Kriegesder „Wehrmachtabwicklungsstelle“ beim Oberfinanzpräsidium unterstellt und kam imLaufe der Zeit für Arbeiten, unter anderem an der Verbrennungsbombe,459in den Besitzverschiedener Gegenstände, die vom Reichsamt für Wirtschaftsausbau, dem Reichsfor-schungsrat sowie der Braunkohleindustrie und der Wehrmacht finanziert worden wa-ren.460

Adge kam bei dem Luftangriff auf Darmstadt am 12. September 1944 ums Leben.Danach liefen die Arbeiten ausgelagert in Seeheim unter der Leitung der PrivatassistentinAdges, Helene Schürenberg, weiter.461Aufgrund dieser Konstellation – Schürenberg ver-trat die Ansicht, dass das Institut unabhängig von der TH Darmstadt existiere – waren dieBesitzverhältnisse des Instituts zum Kriegsende ungeklärt.462Diese Situation erschwerteeine unkomplizierte Überführung der Hinterlassenschaften des Instituts in die TH Darm-stadt, wie bei den drei Vierjahresplaninstituten.

Als ehemaliges Reichseigentum wurde auch das Brennstoffchemische Institut von derhessischen Materialbetreuungsstelle in Beschlag genommen. Sogleich meldeten sich128 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs erste Interessenten an den Einrichtungsgegenständen. Ohne dass die Hochschule dies ver-hindern konnte, sprach der Regierungspräsident in Darmstadt Teile des Instituts der che-motechnischen Fachschule, ebenfalls in Darmstadt, zu.463Die aus Adges Vortragstätig-keiten übrig gebliebenen Barmittel im Wert von 15.000 RM wurden seinen Kindern alsZuwendung zugesprochen.464Außerdem hatte allem Anschein nach Helene Schürenbergweitere Teile des Laboratoriums an die Firma Goldschmitt verpachtet.465Nachdem dieTH Darmstadt Einspruch dagegen eingelegt hatte, erwiderte Schürenberg, dass das Insti-tut zwar aus dem Chemischen Institut der TH Darmstadt hervorgegangen, der derzeitigeBestand jedoch ohne Inanspruchnahme von Hochschulmitteln erstellt worden sei.466Schürenberg war offensichtlich nicht zu einer Zusammenarbeit im Sinne der Hochschulebereit. Die Ursachen dafür sind auf eine Auseinandersetzung kurz vor Kriegsende zu-rückzuführen. Damals hatte der Abteilungsleiter Professor Kohlschütter aus ungeklärtenGründen die Forschungsstelle als von der Hochschule unabhängig erklärt und dem Insti-tut jede Bezugnahme in Briefköpfen und Ansprüche auf Kostenerstattungen untersagt.467

In der Nachkriegszeit wiederum, nur wenige Monate nach diesem Zwischenfall, ver-trat die Hochschulleitung die gegenteilige Überzeugung: Sie erklärte, dass die Brenn-stoffchemische Forschungsstelle „von jeher eine Abteilung des Instituts für ChemischeTechnologie der Technischen Hochschule gewesen und niemals eine selbstständigeDienststelle“ war.468Einen diesbezüglichen Anspruch der TH Darmstadt lehnte der Ober-bürgermeister jedoch ab.469Der Nachfolger Adges, Professor Schoenemann, versuchteüber mehrere Monate mit großem Einsatz die Einrichtungsgegenstände für das Institutfür Chemische Technologie freizubekommen. Er begründete dies unter anderem auch da-mit, dass „die Einrichtung für die Wiederaufnahme des Lehrbetriebes des Instituts fürChem. Technologie unentbehrlich“ sei.470Als weiteres Argument diente außerdem dieArbeit des Instituts für Chemische Technologie für die Field Information Agency, Tech-nical (FIAT), die, wie die Hochschulleitung in einem Antrag behauptete, ohne die be-schlagnahmte Einrichtung unmöglich sei.471Zwar wurde das alleinige Eigentumsrecht 5.2 Die Umstellung von Kriegsforschung auf den Lehrbetrieb 129der Hochschule nicht anerkannt, es konnte schließlich jedoch so etwas wie ein Kompro-miss gefunden werden: Während die TH Darmstadt die Einrichtung des Instituts zuge-sprochen bekam, wurden die noch vorhandenen Barmittel – einige waren wie berichtetan die Nachkommen Adges übergeben worden – der Chemotechnischen Fachschule zu-gesprochen.472

Auch der 1936 fertig gestellte Windkanal, den die TH Darmstadt nicht zuletzt denguten Verbindungen zu Sprenger verdankte473, war aus Reichsmitteln finanziert wordenund zählte damit nach 1945, ähnlich wie die drei Vierjahresplaninstitute, zunächst nichtzum TH-Eigentum. Die Windkanalwaage war im Jahr 1936 vom Luftfahrtministeriumzur Verfügung gestellt, das Grundstück war vom Reich finanziert und an das Land Hessenverpachtet worden.474Nachdem der Windkanal im März 1945 von der amerikanischenMilitärregierung beschlagnahmt worden war, war die TH Darmstadt berechtigterweisebesorgt um dessen Erhalt, deutschlandweit wurden diese Anlagen zur gleichen Zeit nichtselten abmontiert oder zerstört.475Der Verwaltungsausschuss bat darum den Oberbürger-meister der Stadt, für den Schutz des Windkanals vor Verkauf zu sorgen.476Im Jahr 1955wurde der Kanal freigegeben, danach konnte die Hochschule dafür einstehen, dass er, bisEnde der 1950er Jahre, in das Hochschuleigentum überführt wurde.477

Bei vielen Kriegsforschungsprojekten lässt sich deren genaue Abwicklung bezie-hungsweise Liquidation nicht rekonstruieren. Die Forschungsarbeiten wurden währenddes Krieges meist von den entsprechenden Wehrmachtsstellen und Reichsinstituten übersogenannte Verwahrkonten, die außerhalb des Hochschulhaushalts liefen, finanziert. DieKonten liefen auf den Namen des Institutsleiters. Ausschließlich der Institutsleiter ver-fügte nach eigenem Ermessen und im Sinne der Geldgeber über die Konten. Auch für dieamerikanische Militärregierung, die derartige Geldmittel nach Gesetz Nr. 52 beschlag-nahmte, wird es kaum möglich gewesen sein, diese Mittel vom eigentlichen Hochschu-leigentum zu unterscheiden. Nicht auszuschließen ist, dass die TH Darmstadt diese Tat-sache nutzen konnte, eine Sperrung der Gelder aufgrund des Gesetzes zu verhindern und130 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs diese so unbemerkt nach 1945 weiterzuverwenden.478So existierten im Jahr 1947 weiter-hin verschiedene Verwahrkonten – diese trugen Namen mit Abkürzungen für die Dienst-stellen im „Dritten Reich“, wie „V.P.“ [Versuchsanstalt Peenemünde], „T.V.A.“ [Tor-pedo-Versuchsanstalt], und „R.A.W.“ [Reichsamt für Wirtschaftsausbau] – mit aus denJahren 1944 und 1945 eingenommener Gelder von 30 Hochschulangehörigen, die nichtvon der Militärregierung gesperrt worden waren.479

Chancen der Umbruchszeit. Vorteile durch die Schließung der Universität Gießen Das Schicksal der Universität Gießen gestaltete sich nach 1945 weniger glücklich als dasder anderen hessischen Universitäten und der TH Darmstadt. Es fehlte ihr nicht nur anFürsprechern aufseiten der deutschen Zivilregierung, sie wurde, ähnlich wie dieTH Darmstadt, von Hartshorne vernachlässigt, was sich in ihrem Fall aber negativ aus-wirkte, da sie gleichzeitig außerhalb der Reichweite der Darmstädter Militärregierungstand. Bereits im Sommer 1945 dachte Regierungspräsident Bergsträsser über eineSchließung der Universität Gießen nach.480Die letztgültige Entscheidung für eineSchließung überließ Bergsträsser jedoch dem neu gegründeten Kultusministerium. Am29. März 1946 fanden sich Vertreter der vier hessischen Hochschulen, MinisterialratHoffmann sowie der Oberbürgermeister der Stadt Gießen Dönges, im Ministerium fürKultus und Unterricht in Wiesbaden ein. Im Rahmen dieser Sitzung gab MinisterialratHoffmann bekannt, dass die Großhessische Regierung sich genötigt sehe, die UniversitätGießen bis auf die landwirtschaftliche und veterinär-medizinische Fakultät abzubauen.481Dieser Abbau sei erforderlich, da der Nachwuchs für vier Hohe Schulen zu gering sei unddie Finanzlage des Staates Sparmaßnahmen erforderlich mache. Laut Protokoll über-raschte die geplante Maßnahme die Vertreter der Hochschulen sehr. Zwar übten sie Kritikan der Art, wie diese Entscheidung bekannt gegeben wurde, bis auf Gießens Rektor spra-chen sich jedoch alle anwesenden Rektoren für den sofortigen Abbau der Universität Gie-ßen aus. Dem Rektor der Universität Gießen, Professor Bechert, gelang es angesichtsdieser Gruppendynamik nicht, Gründe gegen eine Schließung vorzubringen und nachdem 5.2 Die Umstellung von Kriegsforschung auf den Lehrbetrieb 131kurz die Frage angerissen worden war, was mit den Gießener Studierenden und Profes-soren passieren würde, wurde zur weiteren Tagesordnung übergegangen.482Das Ergebniswar die vorübergehende Schließung der Universität Gießen.

Nicht auszuschließen ist, dass die anderen hessischen Rektoren hier nicht ganz unei-gennützig gehandelt haben. Aus Angst, Nachteile durch die angespannte finanzielle Situ-ation Hessens mit vier zu versorgenden Universitäten und einer TH zu erleiden, nahmman lieber die Schließung Gießens hin. Der Rektor der Universität Marburg hatte zwi-schenzeitlich für eine Zusammenführung der beiden Universitäten unter der Leitung Mar-burgs plädiert, was de facto einer Einverleibung Gießens gleichgekommen wäre.483Wieaus einer Aussage Reuleaux’ hervorgeht, erhoffte sich auch die TH Darmstadt Vorteilevon einer Schließung Gießens. Eine Eröffnung würde in den Augen von Reuleaux vielGeld kosten, „das man besser den anderen Hochschulen zur Verfügung stellen sollte“.484Auch Bergsträsser plante, die „Hinterlassenschaft der Universität Gießen nutzbringendfür Darmstadt anzuwenden“.485

Und tatsächlich bemühten sich einige Institute der TH Darmstadt, Bestände der Uni-versität Gießen zu übernehmen. Das Volkswirtschaftliche Seminar beantragte 1946 die„infolge der Auflösung der Universität Gießen verwaiste Bücherei des dortigen Institutsfür Wirtschaftswissenschaften“ zugewiesen zu bekommen.486Die eigene Bücherei warbei den Angriffen vom 11. September 1944 zerstört worden, nach eigenen Aussagen wardarum ein reguläres Studium nicht mehr möglich. Aufgrund der Weigerung durch dieGießener Bibliothek waren die Bemühungen nur mit mäßigem Erfolg gekrönt: Darmstadterhielt 17 Gießener Dubletten. Enttäuscht von der geringen Ausbeute und ohne jeglicheEmpathie für die Gießener Situation äußerten die Darmstädter dazu: „Zu grösseren Ab-gaben konnten sich die Giessener Vertreter trotz unserer ausserordentlichen Notlage nichtentschliessen“. Im Jahr 1949 richtete sich der Blick erneut auf die „reichhaltige“ GießenerBibliothek. „Es dürfte nicht zu bezweifeln sein, dass dieser umfangreiche und wertvolle132 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs Bestand eine viel ergiebigere Nutzung zulässt, ja, unter den heutigen Verhältnissen gera-dezu fordert, als sie in dem erheblich eingeschränkten Aufgabenkreis Giessens möglichist.“ Doch auch der neue Versuch blieb ohne den gewünschten Erfolg.

Neben dem Volkswirtschaftlichen Seminar bemühte sich auch die Fakultät für Archi-tektur darum, ehemalige Gießener Bestände zu erhalten. Bereits im August 1945 wurdenGespräche mit dem Regierungspräsidenten Bergsträsser darüber geführt.487Als diesenGesprächen keine Taten folgten, wandte sich Professor Schürer mit der Bitte um sofortigeUnterstützung eines Antrags beim Kultusministerium an den Rektor der TH Darmstadt,„ehe die Institute von Marburg und Frankfurt sich des Erbes von Giessen bemächtigen“.Der Rektor leitete den Antrag sogleich weiter und unterstrich die größere Zerstörung derTH Darmstadt im Vergleich zu Frankfurt und Marburg.488Dem Antrag wurde, nachdemSchürer ein weiteres Mal über den Rektor an die Bitte erinnert hatte, mit Erlass des Kul-tusministerium vom 9. Mai 1947 stattgegeben und das Kunsthistorische Institut der ehe-maligen Universität Gießen nach Darmstadt verlegt.489Als Folge des Erlasses kam es inGießen zu einer Protestversammlung.490Der Erlass wurde daraufhin erneut überprüft unddurch einen Leihvertrag offiziell besiegelt und von einem Verteilungsausschuss über-wacht und durchgeführt. Die TH Darmstadt bekam auf diese Weise ca. 1.330 kunsthisto-rische Bücher und ca. 5.000 Diapositive vorübergehend zur Verfügung gestellt.491

Auch das im Jahr 1944 zerstörte Institut für Mineralogie und Geologie stellte einenAntrag, Teile der Gießener Bestände zu erhalten. Da voraussichtlich die Wiederbeschaf-fung der für die Lehre und Forschung unbedingt benötigten Bücher, Apparate und Mo-delle in den nächsten fünf bis zehn Jahren aufgrund finanzieller Engpässe und Lieferungs-schwierigkeiten nicht möglich sein werde, fragte man an, „ob evtl. nicht benötigte Lehr-und Forschungsmittel, zusammen mit den zur Aufbewahrung vorgesehenen Schränkenund Regalen, der genannten Gießener Institute den entsprechenden Darmstädter Institu-ten, etwa als langfristige Leihgaben, überlassen werden könnten“.492Der Kultusminister 5.2 Die Umstellung von Kriegsforschung auf den Lehrbetrieb 133stimmte dem Antrag zu und forderte die Fakultät dazu auf, Kontakt mit Gießen aufzu-nehmen.493Welche Leihgaben auf diesem Wege an die TH Darmstadt kamen, ist nichtbekannt.

Die Bedeutung der Vereinigung von Freunden und der Industrie als Geldgeber in der Nachkriegszeit

Nach dem Ende des Krieges, insbesondere zu dem Zeitpunkt, als die deutsche For-schungsförderungslandschaft sich noch nicht wieder neu gegründet hatte, wuchs die Be-deutung der Industrie für die Finanzierung einzelner Institute und für den Wiederaufbauder TH Darmstadt. Auch an der TH Hannover nahm die „Hannoversche Hochschulge-meinschaft“ in der Nachkriegszeit eine zentrale Rolle bei der Rekrutierung zusätzlicherFinanzierungsmittel ein. Wie Frauke Steffens feststellt, erhielt sie die Funktion einer„Clearingstelle“, von der Industrie und Hochschule gleichermaßen profitierten.494Ähnli-ches gilt für die TH Darmstadt, wo die Gesellschaft der Freunde der TH Darmstadt denAusbau nicht nur mit enormen finanziellen Mitteln unterstützten – bis 1952 waren es365.000 DM, bis 1958 sogar insgesamt 2,3 Millionen DM –, Mitglieder der Vereinigungmachten sich außerdem beim Kultusministerium und der Stadt Darmstadt für die Aus-weitung des Wiederaufbauetats stark.495Besonders zu dem Zeitpunkt, als das Land Hes-sen noch keine großen Zuwendungen machen konnte, griff die TH-Leitung auf diese Kon-takte verstärkt zurück. Dies ermöglichte es der Hochschule unter anderem, trotz Rohstoff-mangels an Baumaterialien zu gelangen. So wurde Professor Klöppel vom Kleinen Senatbeauftragt, sich wegen Schwierigkeiten bei der Holzbeschaffung mit der Firma MAN inVerbindung zu setzen, um ein Notdach für das Hauptgebäude zu organisieren.496

Professor Brecht, Lehrstuhlinhaber für Papieringenieurswesen, gelang es besonderserfolgreich, lokale und dem Institut nahe stehende Industriebetriebe für die Finanzierungdes Wiederaufbaus und der Forschungsarbeiten seines Institutes zu gewinnen.497Sowurde er unter anderem von der Darmstädter Maschinenfabrik Göbel unterstützt.498Auch134 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs verschaffte er sich für das benötigte Dach des Papiermaschinengebäudes Hilfe aus derIndustrie, da die Hochschule untätig blieb.499

Brecht war besonders findig bei der Rekrutierung von Geld- und Materialspenden ausder Industrie, so kam ihm die Idee der Patenschaft von Firmen der Papierindustrie für dieEinrichtung einzelner Institutsräume. Diese durch Mittel der Industrie ermöglichtenRäume sollten im Anschluss den Name des Paten erhalten.500Inwieweit sich diese Ideedurchgesetzt hat, bleibt unklar, jedoch gelang es ihm mithilfe verschiedener Unternehmenin ganz Deutschland, den Wiederaufbau seines Institutes voranzutreiben, bevor andereMittel zur Verfügung standen.501Brecht machte dabei auch nicht davor halt, bei einerFeierlichkeit zur Rückerstattung der Papierfabrik Fleischer GmbH an ihre ehemaligenjüdischen Besitzer, die hochoffiziell unter Teilnahme von britischen Besatzungsmitglie-dern gefeiert wurde, dem Firmenbesitzer Hermann Fleischer die Versicherung abzuneh-men, dass auch seine Firma für monatlich etwa 300 DM Institutsrechnungen übernehmenwerde.502

Mithilfe dieser Zahlungen errichtete Brecht einen „Institutsaufbaufonds“503, aus demer neben Baurechnungen auch die Assistentengehälter beglich.504Zu seinen Spendernzählten unter anderem auch die G. Haindl’schen Papierfabriken Augsburg und die Pa-pierfabrik Scheufelen des Unternehmers Karl Erhard Scheufelen. Im Gegenzug bot er denSpendern regelmäßige Führungen durch das Institut zur Information über den Stand desWiederaufbaus. Außerdem gab er Vorträge und führte Forschungen für die Unternehmendurch. Auch bekamen einige der Spender den Ehrensenatorentitel verliehen.505

Umgang mit „verordneten Umbrüchen“ der Amerikaner. Missachtung von For- schungsverboten und „semantische Umbauten“

Nach 1945 weiter wissenschaftlich zu arbeiten, die Ergebnisse der Forschungsarbeitenwährend des Krieges mitzuteilen und im Kontakt mit der internationalen scientific com- munity zu stehen, hatte für die Professoren eine hohe Priorität. Da nur wenige wissen-schaftliche Publikationsmöglichkeiten existierten, gründete die TH Darmstadt kurzer-hand die Zeitschrift „Wissenschaftliche Veröffentlichungen“. Darin veröffentlichten 5.2 Die Umstellung von Kriegsforschung auf den Lehrbetrieb 135Darmstädter Lehrende über die Fächergrenzen hinweg die neuesten wissenschaftlichenErkenntnisse.506

Im Potsdamer Beschluss und später durch das Gesetz Nr. 25 vom 29. April 1946 ka-men die Alliierten überein, deutsche Forschung auf den Gebieten angewandte Kernphy-sik, Aerodynamik, Schiffsbau und Raketenantrieb zu verbieten sowie Kontrollen in derChemie, Rundfunktechnik und allen anderen militärisch nutzbaren Sektoren durchzufüh-ren. Das Verbot wirkte sich auf den Lehr- und Forschungsbetrieb der Hochschule aus. InKernphysik, Chemie, Elektrotechnik und Luftfahrtforschung waren Darmstädter Institutebetroffen. Hier lag die Entscheidung über die Fortführung der wissenschaftlichen Tätig-keit in den Händen der Amerikaner. Die Chemieprofessoren Kohlschütter, Brill und Wag-ner reichten daraufhin bei der amerikanischen Militärregierung einen Antrag ein, in demsie um Erlaubnis baten, ihre Forschungsarbeiten fortführen zu können. Sie begründetendies damit, dass ihre Untersuchungen unentbehrlich für den Wiederaufbau seien.507Derzuständige amerikanische Offizier vermutete jedoch, dass es den Professoren statt umeinen tatsächlichen Beitrag für den Wiederaufbau viel eher um das Fortführen der eigenenForschung ging: „Although the proposed research items are presented as contributing tothe problem of reconstruction building materials, they are probably long term investiga-tions not of immediate practical application. For example, ‚the X-Ray investigations ofcrystals with regard to chemical bond‘ have been carried on by Prof. Brill for nearly10 years“.508Aus diesem Grund, und da man nach einer solchen Ausnahme eine Flut vonweiteren Anträgen befürchtete, wurde das Anliegen der Darmstädter Professoren abge-lehnt.

Mehr Erfolg hatten diese Anträge, wenn die Darmstädter Professoren für die Ameri-kaner tätig wurden. Die Chance, eigene Forschungen weiterführen zu können, wenn diesefür die Alliierten in irgendeiner Form brauchbar waren, erkannten die Darmstädter Pro-fessoren recht schnell. Sie nutzten dies dazu, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Wowährend des Krieges noch die „Kriegswichtigkeit“ besonders hervorgehoben wordenwar, waren dies in der Nachkriegszeit nun die Schlagworte des Wiederaufbaus und desInteresses der Amerikaner. So begründete Walther, dass der Angestellte Dreyer für diewährend des Krieges begonnenen Arbeiten an einer Rechenmaschine in Zusammenarbeit136 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs mit der Firma Ott in Kempten „unbedingt erforderlich“ sei, da er von „einer USA-Dienst-stelle den Auftrag erhalten habe, einen Bericht zu liefern“.509Vor 1945 wurden dagegenderartige Anträge noch mit der „Kriegswichtigkeit“ der Arbeiten begründet. In diesemAustausch der Begründungszusammenhänge ist die diskursive Strategie des Überschrei-bens erkennbar. Mit dieser Strategie konnte zum einen die „nationalsozialistische Basis-semantik“ entsorgt und zum anderen Anschluss an das neue „semantische Basisinventar“der Nachkriegszeit gefunden werden.510

Auch auf den Bereich der Lehre wirkte sich das alliierte Forschungsverbot aus. DasStudium der Luftfahrt war, wie bereits berichtet, damit zunächst nicht möglich. Ähnlichwie bei der Liquidation der Kriegsforschungsprojekte ist auch die auf das Verbot der Al-liierten zurückzuführende Auflösung der ehemaligen Abteilung für Luftfahrt nur schwernachzuvollziehen. Fest steht, dass die der Abteilung zugehörigen Planstellen keinesfallsgestrichen wurden. Dazu bestand allem Anschein nach aus finanziellen Gründen keinAnlass mehr – wie berichtet, hatte sich die Etatlage recht schnell wieder entspannt. DerVerwaltungsausschuss beschloss stattdessen, „die Leute soweit es irgend möglich war,der Technischen Hochschule zu erhalten“ und setzte die insgesamt vierzehn Beschäftig-ten ihren Kenntnissen entsprechend in anderen Instituten ein.511Auch hier bestimmte derVerwaltungsausschuss als Hochschulleitungsgremium über die Aufteilung. Zwar hattedie TH Darmstadt auf diese Weise Personal erhalten können, die Aufteilung auf die ver-schiedenen Institute sollte später jedoch für Spannungen sorgen.512Selbst die zwei Luft-fahrt-Professoren Gustav Mesmer und Nikolaus Scheubel kamen nach 1945 in anderenFakultäten unter.513Unklar ist, ob das erhaltene Personal trotz des Forschungsverbotes 5.2 Die Umstellung von Kriegsforschung auf den Lehrbetrieb 137der Alliierten weiter Luftfahrtforschung betrieb. Die Umstände der Einrichtung des Lehr-stuhls von Gustav Mesmer zeigen sicherlich deutlich, dass man zumindest die Option aufeine Weiterführung offenhalten wollte.

Aus anderen Zusammenhängen zeigt sich, dass die Darmstädter nicht davor zurück-schreckten, Arbeiten vor den Amerikanern zu verheimlichen. Dies betraf insbesondereeine ganze Reihe junger Wissenschaftler, die während des Krieges in Peenemünde oderanderen Rüstungsbereichen gearbeitet hatten und deren Qualifikationsarbeiten zum Endedes Krieges noch nicht abgeschlossen waren. Bei laufenden Qualifikationsarbeiten ent-schied sich die Hochschule, das Verbot nicht zu berücksichtigen. So beschloss der KleineSenat im Februar 1946, dass die Forschungen zunächst in Angriff genommen werdensollten und „erst wenn die Arbeiten reif sind für Doktor-Arbeiten“, diese tatsächlich beider Militärregierung anzumelden.514Wie das folgende Beispiel zeigt, erwies sich die THDarmstadt bei der Durchführung von Promotionen mit militärischen Forschungsthemenals kreativ. In einem Interview mit Michael Neufeld berichtete Helmut Hölzer im Jahr1989, dass seine Doktorarbeit 1943 bei einem Luftangriff auf Peenemünde verbrannte.Ende 1945 gelang es Hölzer eine zweite Version fertig zu stellen.515Die Amerikaner je-doch verboten die Arbeit, da diese sich mit Raketentechnik befasste. Sein Doktorvater,Alwin Walther, empfahl daraufhin, zwei Versionen der Arbeit zu schreiben, eine überRechenmaschinenentwicklung, die andere über die Anwendung dieser Entwicklungen fürdie Steuerung von Kontrollsystemen und Raketen. Die zweite Ausarbeitung wollteWalther erst unter dem Tisch hervorholen, sobald der amerikanische Offizier die Prüfungverlassen habe.516Dass auch andere Institute sich in derartiger Weise gegen die Anord-nungen der Amerikaner widersetzten, ist nicht überliefert, jedoch ist davon auszugehen,dass dies kein Einzelfall war. Nicht unwahrscheinlich ist dies zum Beispiel im Bereichder Luftfahrtforschung. Darmstadt stellt diesbezüglich keine Ausnahme dar: Auch an an-deren Universitäten sind derartige Vorgehensweisen überliefert.517Hölzer konnte auf138 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs diese Weise im Februar 1946 seine Dissertation erfolgreich abschließen, nur drei Monatespäter ging er zur Fortführung seiner Forschungen nach Fort Bliss.518Dies zeigt nicht nur,wie sich die Darmstädter Wissenschaftler dem doppelten Verwendungszweck, der soge-nannten Dual-Use-Nutzung bedienten, um ihre Arbeiten fortsetzen zu können. Es unter-stützt gleichzeitig auch die Annahme von Mitchel Ash, dass die Amerikaner die deut-schen Wissenschaftler als „multivalent“ und damit „leicht transferierbares kulturelles Ka-pital“ betrachteten.519

5.3Wissenschaftliche Kontakte zur amerikanischen Militärregierung. Zwischen Abschöpfen und freiwilliger Zusammenarbeit

Es bleibt die Frage, auf welcher Basis eine wissenschaftliche Zusammenarbeit derTH Darmstadt mit der amerikanischen Militärregierung zustande kam.

Auf Empfehlung von Wernher von Braun wurden im Rahmen der Operation Overcastim Jahr 1945 zahlreiche deutsche Raketenforscher nach Amerika abgeworben, damitdiese ihre Arbeiten dort fortführen konnten. Der ehemalige wissenschaftliche Leiter derHeeresversuchsanstalt in Peenemünde, von Braun, griff bei der Rekrutierung der Wissen-schaftler auf Kontakte aus der Zeit vor 1945 zurück. So richtete er am 1. September 1945unter anderem auch an den Darmstädter Professor für Technische Physik, Richard Vie-weg, persönlich und eindringlich die Bitte, an dem von ihm geleiteten Forschungspro-gramm in Amerika teilzunehmen:

„Im Einvernehmen mit den amerikanischen Stellen haben wir vorgeschlagen,dass Sie den Aufbau und die Leitung des Meßwesens in den neu zu errichtenden

Prüffeldern in Amerika übernehmen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Siemich wissen lassen würden, ob Sie hiermit einverstanden wären. Ich würdemich über Ihre Zusage ausserordentlich freuen, da ich nach den langen Jahrenunserer Zusammenarbeit niemanden wüsste, der gerade für diese Aufgabe mehr

Erfahrungen und Eignung mitbringt als Sie. Wir wissen zur Zeit natürlich nochnicht in allen Einzelheiten, wie und in welcher Reihenfolge unsere Arbeiten in

5.3 Wissenschaftliche Kontakte zur amerikanischen Militärregierung 139Amerika wieder beginnen. Da wir zunächst vor der Aufgabe stehen, mittels ei-niger offenbar in sehr schlechtem technischen Zustand befindlicher nach Ame-rika verschiffter A4-Geräte eine Art Vorführungsschießen zu veranstalten, umweitere maßgebliche Leute für das Projekt zu gewinnen und sich hierdurch erstder neue Aufbau einer Versuchsanstalt ergeben kann, ist es im Augenblick un-möglich, einen in jeder Hinsicht ausgeschliffenen Organisationsplan für die Zu-kunft aufzustellen.“520

Vieweg war damit vor die Frage gestellt, ob er bereit wäre, Darmstadt und die TechnischeHochschule zu verlassen und zunächst ohne Familie und auf ungewisse Zeit nach Ame-rika zu gehen, um in einer Forschungseinrichtung mit völlig unbekannten Rahmenbedin-gungen zu arbeiten. Das Abwerben von deutschen Wissenschaftlern entwickelte sich inder Nachkriegszeit zu einer Art Wettkampf zwischen den alliierten Siegermächten. Be-sonders angespannt war die Situation diesbezüglich zwischen Amerika und der Sowjet-union, worin sich die ersten Vorboten des Kalten Krieges zeigten.521

Insbesondere bei Natur- und Technikwissenschaften konzentrierten sich die Militär-regierungen darauf, gleich nach ihrem Eintreffen die Fortsetzung der deutschen For-schung zu verhindern und Informationen über Programme und Waffen zu sammeln. Aufder Konferenz von Jalta im Februar 1945 waren die Alliierten übereingekommen, nachKriegsende jegliche deutsche Industrie, die aus militärischer Produktion bestand, zu eli-minieren und kontrollieren.522Ihre ersten Maßnahmen resultierten aus der Angst, wissen-schaftliches oder militärisches Potenzial könnte dem noch kämpfenden Japan behilflichwerden. Führende Atomwissenschaftler wurden im Zuge der ALSOS-Mission gefangengenommen und nach England gebracht. Auch auf dem Gebiet der Raketen-, Radar-, Tor-pedo- und Treibstoffforschung wurden die wichtigsten deutschen Wissenschaftler ausfin-140 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs dig gemacht und festgesetzt. Bald darauf standen ökonomische Interessen im Vorder-grund.523Die Alliierten führten ihre Bestandsaufnahme der wissenschaftlichen und tech-nologischen Ressourcen Nachkriegsdeutschlands insbesondere auch im Hinblick auf denStand der eigenen Forschung durch. Sie begannen mithilfe von eigens dafür gegründetenEinheiten, insbesondere mithilfe der Geheimdienste Combined Intelligence ObjectivesSub-Committee (CIOS), British Intelligence Objectives Sub-Committee (BIOS) undField Information Agency, Technical (FIAT), sich in kürzester Zeit einen Überblick überdie deutsche Forschungslandschaft zu verschaffen, die wichtigsten Vertreter aufzusuchenund deren Ergebnisse zu sammeln und zu protokollieren, um sie für eigene Zwecke nut-zen zu können.524

Wie Vieweg erhielten weitere Darmstädter die Möglichkeit, ihre Hochschullaufbahnin Deutschland zu unterbrechen bzw. aufzugeben und für Tätigkeiten im Bereich derKriegsforschung ins Ausland, mit deutlich besseren Arbeitsbedingungen, zu gehen. Nichtalle angefragten Wissenschaftler gingen auf die Angebote ein. Doch auch wer sich dage-gen entscheiden sollte und an der Hochschule verblieb, stand vor verschiedenen Koope-rationsmöglichkeiten. Eine Zusammenarbeit mit den Amerikanern – ob freiwillig odernicht – konnte auch hier vielfältige Formen annehmen.

Da das Vorgehen der Alliierten keine rechtliche Grundlage hatte – einen Friedensver-trag gab es nicht – werden diese Prozesse meist unter den Stichworten der „intellektuellenReparationen“ oder des „Technologietransfers“ als unerlaubte Plünderungen beschrie-ben.525Nicht unproblematisch ist aber die Tatsache, dass mit diesen Begriffen die Aspekteder unfreiwilligen Kooperation mit den Alliierten hervorgehoben werden. Denn insbe-sondere aus Hochschulsicht gilt: Die frühen wissenschaftlichen Kontakte und die Zusam-menarbeit mit den Alliierten konnten sich für die Wissenschaftler als vorteilhaft entwi-ckeln. Nicht zuletzt darum lohnt es sich, genauer hinzuschauen: Welche wissenschaftli-chen Kontakte gab es zwischen der TH Darmstadt und den Alliierten? Welche Institutekamen ins Visier der Alliierten? Wen versuchte man für eine Arbeit im Ausland zu ge-winnen? Soweit es möglich war – leider sind keine vollständigen Wort-Protokolle derBefragungen überliefert, sondern lediglich Zusammenfassungen in Form von „Reports“zu verschiedenen Fachgebieten – wird der Versuch unternommen, die Haltung der 5.3 Wissenschaftliche Kontakte zur amerikanischen Militärregierung 141Darmstädter Professoren gegenüber den Siegermächten herauszuarbeiten. Wie verhieltensich die Wissenschaftler den Amerikanern und anderen Alliierten, mit denen sie in Kon-takt kamen, gegenüber? Mit welchem Selbstverständnis traten sie ihnen entgegen? Nichtzuletzt die Frage, wie die Zusammenarbeit zustande kam, wird eine große Rolle spielen.Zur Beantwortung dieser Fragen wurden die verschiedenen Reports der Briten und Ame-rikaner sowie die FIAT-reviews ausgewertet.526Zur Untersuchung der Frage, inwieweitdie Darmstädter Forscher von sich aus auf Alliierte zutraten, wurden außerdem Darmstadtbetreffende OMGUS-Akten hinzugezogen.

5.3.1Die Darmstädter Peenemünde-Gruppe im Visier der Alliierten. Die Befragungender verhafteten Professoren

Insbesondere auf dem Gebiet der Raketenforschung begann ein Wettlauf zwischen denAlliierten um die Beschlagnahmung und den Transfer deutscher Wissenschaft und Tech-nologie.527Nach Michael Neufeld wurde die Gruppe der Peenemünde-Wissenschaftlernach 1945 zu einem „wichtigen Faktor der amerikanischen Nachkriegspolitik“.528DasWissen über den Bau von Raketen sollte zum einen beim Krieg gegen Japan eingesetztwerden, zum anderen die eigene Wissenschaft vorantreiben.

Die Technische Hochschule Darmstadt hatte im Vergleich zu anderen Hochschulendie größte Gruppe von Mitarbeitern in Peenemünde gestellt und kam nach 1945 dement-sprechend intensiv ins Visier der Alliierten.529Mit den Verhaftungen der Professoren Vie-weg, Walther, Wagner, Hueter, Busch, Buchhold, Rau und Klöppel standen acht von zehnmit V2-Forschungen in Verbindung.530Die Professoren wurden zu verschiedenen Zeit-punkten zwischen dem 26. März 1945 und dem 8. April 1945 von den Alliierten verhaftet.142 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs Ablauf, Ort und Verantwortliche der Internierungen sowie der Befragungen variiertenvon Professor zu Professor. Die Darmstädter wurden zeitweise in Augsburg, Heiligen-berg, Bad Kissingen und London festgehalten. Wie aus einem Bericht über die Befragun-gen von Walther an seinen ehemaligen Doktorvater Courant hervorgeht, konnte dieserder unfreiwilligen Internierung etwas abgewinnen. So schrieb er von „ausgezeichneterUnterkunft, Verpflegung und Spaziergangsmöglichkeiten“, bei denen er sich von jahre-langer Überanstrengung und einer Gehirnerschütterung weitgehend erholen konnte. Erhabe „das Ganze als einen längeren Urlaub betrachten können, als ich mir jemals sonstgenommen hatte“.531

Die Amerikaner und Briten verarbeiteten die Ergebnisse der Befragungen nachFachthemen geordnet in zahlreichen Reports. Bislang konnten fünf Reports identifiziertwerden, denen Befragungen der internierten Darmstädter Professoren zugrunde liegen.532Neben fachlichen Inhalten, so geht aus den Befragungen hervor, interessierten sie sichinsbesondere für die Organisation der deutschen Forschungslandschaft.533Die Frage nachdem Stand der deutschen Forschung auf den einzelnen Fachgebieten, tauchte in fast allen 5.3 Wissenschaftliche Kontakte zur amerikanischen Militärregierung 143Gesprächen auf.534Fritz Zwicky kam nach der Auswertung aller Gespräche mit V2-Ex-perten zu dem Schluss, dass „although an immense number of devices, jet propellants andauxiliary devices were in large scale production, the potential philosophical outlook inthe field of jet propulsion in the United States at the present seems to have achieved amore advanced stage than that reached by the Germans”.535Auch der Historiker MichaelNeufeld kam zu dem Ergebnis, dass die Deutschen entgegen der Erwartungen der Alli-ierten nur auf einigen Gebieten führend waren. Dies waren Raketen, Düsenflugzeuge,Unterseeboote und chemische Waffen. Führend waren die Alliierten auf den Gebieten desRadars, bei konventionellen Flugzeugen und Atomwaffen.536

Semantische Strategien der Darmstädter Wissenschaftler. Vom Mythos der unpoli- tischen Wissenschaft und der Wissenschaftsfeindlichkeit des Nationalsozialismus

Wie bereits Mark Walker bei der Auswertung der Befragungsprotokolle der deutschenAtomwissenschaftler herausfand, können die in der Nachkriegszeit von deutschen Wis-senschaftlern gemachten Aussagen über ihre Forschungen während des „Dritten Reiches“nicht als adäquate Beschreibungen der wissenschaftlichen Tätigkeit gesehen werden.Nicht selten lösten sie ihre Forschungsarbeiten aus dem konkreten Kontext, um derenmilitärische Ursprünge zu vertuschen.537Auch die Darmstädter Wissenschaftler nutztenverschiedene semantische Strategien um die eigene Rolle während des „Dritten Reiches“zu verschleiern. Obwohl keine Wortprotokolle überliefert sind und in den Reports teil-weise nur die Zusammenfassungen der Interviews sortiert nach Fachthemen wiedergege-ben werden, gibt es deutliche Hinweise auf Strategien der Wissenschaftler, sich und ihreForschungen vom Nationalsozialismus zu distanzieren, aus Angst vor dem eventuellenEnde ihrer Karrieren. Eindrücklichstes Zeichen dafür ist eine nebenbei, in ironischemTon, erwähnte Tatsache zu Walthers Person. Der gesprächsführende Brite notierte überWalther: „He carried to England with him as a ‚safeconduct‘ a photograph of himself and144 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs Professor Courant, arm in arm“.538Offensichtlich hatte Alwin Walther damit gerechnet,dass ein Foto von ihm und seinem jüdischen Doktorvater, der nach Amerika ausgewan-dert war, von Nutzen sein könnte und ein solches geistesgegenwärtig vor seiner Verhaf-tung eingesteckt, um es bei Bedarf den amerikanischen Offizieren zeigen zu können.

Auch an anderer Stelle sind Versuche der Darmstädter Wissenschaftler erkennbar,ihre Einbindung in den „industriell-wissenschaftlich-militärischen Komplex“ zu ver-harmlosen und eigenes Handeln auszublenden. Auf die Frage zur Organisation der deut-schen Forschung im Krieg gaben die Professoren Walther und Wagner vor, keinerleiAuskunft darüber geben zu können. Angesichts ihrer langjährigen Beteiligung an der V2-Forschung und weiterer Kriegsforschungsprojekte muss davon ausgegangen werden, dasssie bewusst keine Auskunft über ihre Forschungstätigkeiten gaben.

Der Verfasser des Berichtes bezeichnete ihr diesbezügliches Wissen als fragmenta-risch, stellte dies jedoch aufgrund des von Walther und Wagner erwähnten „FührerbefehlNo.1“ nicht weiter infrage.539Andererseits konnte Walther im Laufe des Gesprächs 17verschiedene Auftraggeber aufzählen, für die er während des Krieges Forschungsaufga-ben durchgeführt hatte.540Diese etwas gegensätzlichen Aussagen bezeugen, dass sichWalther in einem gewissen Zwiespalt befunden haben muss. Einerseits stellte er die Wis-senschaft als einen das NS-Regime nicht tragenden unpolitischen Bereich dar, anderer-seits wollte er seine erfolgreiche wissenschaftliche Tätigkeit nicht unerwähnt lassen. Dasbelegt auch, wie durch die semantische Strategie der „Teiltabuisierung“ oder des Aus-blendens, das Reden über die eigenen Forschungen während des „Dritten Reiches“ in derNachkriegszeit möglich war.541

Nicht selten sprachen die Darmstädter Wissenschaftler gegenüber den Alliierten auchvon einer Wissenschaftsfeindlichkeit der Nationalsozialisten sowie von den schwierigenBedingungen, unter denen sie als „unpolitische“ Wissenschaftler gearbeitet hätten. So gabVieweg über die Umstände seiner Forschungsarbeiten zu Protokoll: „all of these devel-opments met difficulties because of the anti-scientific attitude of the Nazis who talkedabout German hero worship and men of action“.542Professor Rau versicherte in einem 5.3 Wissenschaftliche Kontakte zur amerikanischen Militärregierung 145Interview, er habe trotz seiner Betätigung für die Kriegsforschung wie alle anderen Wis-senschaftler den Krieg von Anfang an als verloren betrachtet, gleichzeitig aber keineMöglichkeit gesehen, ihn verhindern zu können. Er sei außerdem davon ausgegangen,dass lediglich militärische Ziele angegriffen würden, hauptsächlich aus dem Grund, daman sie angewiesen hätte, die Rakete für einen Einschlag von 150 Quadratmetern zu kon-struieren.543Mit dieser semantischen Strategie präsentierte sich Rau den Alliierten alsnüchterner und sachlicher Wissenschaftler und demnach vermeintlich unpolitisch. Mitder Tatsache, dass die Wissenschaftler den Krieg nicht haben verhindern können, ver-schleierte er darüber hinaus eigene Handlungsmöglichkeiten und implizierte einen Miss-brauch der Wissenschaftler durch die Politik.

An dieser Stelle kann festgehalten werden, dass, obwohl die Interviewer mehr an fach-lichen Ergebnissen als an den politischen Verfehlungen einzelner Personen interessiertwaren – Mitgliedschaften oder Ähnliches wurden zu keinem Zeitpunkt angesprochen –,die Darmstädter Wissenschaftler immer wieder Stellung zu ihrer politischen Haltung nah-men. Aus diesen im Laufe der fachlichen Befragungen sukzessive eingestreuten State-ments der Professoren wird deutlich, dass man zunächst sehr unsicher darüber war, wiedie Alliierten auf die eigenen Kriegsforschungen reagieren würden. Um ein möglichesKarriereende zu verhindern, zeigte man sich quasi präventiv als unpolitischer und außer-halb des NS-Regimes agierender Wissenschaftler. Dazu gehörte außerdem, dass man dieeigenen Handlungsmöglichkeiten im „Dritten Reich“ verschleierte. Die Antworten zei-gen, wie die verschiedenen diskursiven Strategien den Wissenschaftlern die Möglichkeitgaben, ihre Rolle während des „Dritten Reiches“ und ihre Selbstmobilisierung auszublen-den und somit zu verhindern, dass diese ihren Weg in die Nachkriegszeit versperrten.

Unverkennbar scheinen diese Statements ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben.Richard Vieweg, der, wie berichtet, nicht nur als Wissenschaftler an der V2-Entwicklungbeteiligt und Leiter eines Vierjahresplaninstituts war, sondern während des „Dritten Rei-ches“ auch als Bevollmächtigter für Kunststoffe in Erscheinung trat, konnte anscheinendsehr erfolgreich dieses Bild von sich vertreten. Der Interviewer schrieb über ihn: „Prof.Vieweg proved to be an engineer physicist who has divided his time between teaching,devising test methods for material and the formulation of standards. He stated he had noconnection with governmental departments or with industry.”544

Es bleibt die Frage, wie viel die Wissenschaftler von ihren Forschungsergebnissenpreisgaben und wie nützlich die Informationen für die Alliierten tatsächlich waren. Auf-146 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs grund fehlender fachspezifischer Untersuchungen und der Quellenlage sind der Beant-wortung der beiden Fragen Grenzen gesetzt. Aus den Reports zu den Befragungen derPeenemündegruppe geht jedoch eindeutig hervor, dass die Darmstädter Wissenschaftlerimmer wieder auf die Tatsache verwiesen, dass sie unter den gegebenen Umständen nurwenig konkrete Aussagen machen könnten. Einige gaben an, dies nicht tun zu können, dasie die Projekte nicht selber durchgeführt hätten.545Dies ist nicht ganz von der Hand zuweisen, da, wie Melanie Hanel herausfand, die meisten der Berichte von den Mitarbeiternverfasst worden waren.546

In anderer Hinsicht blieben die Professoren jedoch nicht immer bei der Wahrheit: So-bald es dazu kam, nähere und konkretere Zahlen zu nennen, beteuerten einige der Profes-soren, dies nicht tun zu können, da ihre Unterlagen auf Befehl der SS und durch derenHand weitgehend zerstört worden seien. Der Hinweis darauf, dass es zu einem Material-verlust gekommen war, findet sich so gut wie in allen Gesprächen. Eine Zerstörung derUnterlagen durch die SS lässt sich anhand der überlieferten Quellen jedoch nicht nach-weisen, wohl aber die Tatsache, dass die Institutsmitarbeiter kurz vor dem Eintreffen derAmerikaner eigens die Unterlagen vernichteten.547Nicht auszuschließen ist, dass dieDarmstädter ihre Forschungsergebnisse aus den letzten Jahren lieber für sich behaltenwollten und ohnehin Vorkehrungen getroffen hatten, Brisantes zu zerstören und Wertvol-les vorübergehend versteckt zu halten.548Die durch die Auslagerungsstellen herbeige-führte unübersichtliche Situation kam dafür gelegen.549

Allem Anschein nach gab es für die Amerikaner keinen Grund, an den Angaben derWissenschaftler zu zweifeln, Zwicky vermerkte lediglich, dass einige der Informationenmit Vorsicht zu genießen seien, da viele der befragten Personen ihr Material nicht zurVerfügung gehabt hätten.550Später fanden die Amerikaner in einigen der über ganz 5.3 Wissenschaftliche Kontakte zur amerikanischen Militärregierung 147Deutschland verteilten Ausweichstellen Kopien der Forschungsberichte.551Ansonstennahm man es von amerikanischer Seite größtenteils hin, dass die Informationen Lückenund Fehler aufweisen konnten. Dies lässt die Vermutung zu, dass es den Alliierten zu-nächst um eine bloße Bestandsaufnahme der deutschen Forschung ging, die Reports soll-ten diesbezüglich eine erste Orientierung ermöglichen und für den Bedarfsfall die wich-tigsten Gesprächspartner auf deutscher Seite aufzeigen.

Nur da, wo das Interesse besonders groß war, hakten die amerikanischen Geheim-dienste nach. Dies passierte im Fall des von Professor Busch und seinen Mitarbeiternentwickelten Datensenders Messina II. Dieser erregte die Aufmerksamkeit der Amerika-ner, da er erstmals die Übertragung von elf Datenwerten in hoher Frequenz von der Ra-kete zum Boden ermöglichte. Technikexperte Thomas Lange bezeichnet die Erfindungals revolutionär.552Nachdem Professor Busch im Laufe seiner Befragungen behauptete,nichts Näheres dazu erzählen zu können, verpflichteten ihn die Amerikaner, dies nachseiner Rückkehr nachzuholen und mithilfe seiner Darmstädter Unterlagen und Assisten-ten einen schriftlichen Bericht einzureichen.553Doch auch dieser Versuch brachte keinewirklich ergiebigeren Ergebnisse: Auch in seinem schriftlichen Bericht wies Busch da-rauf hin, dass er allein auf seine Erinnerung zurückgreifen könne, da alle Materialien zer-stört worden seien.554So beschrieb Busch ausführlich die Funktionsweise der Maschine,nicht aber deren Konstruktion, sodass der Verfasser des Berichtes unter dem Punkt Ge-nerelles schreibt: „No details were known on size, weight, range, etc., of either MessinaI or II or any of the components.“555

5.3.2Abschöpfen von technischem Wissen durch die Geheimdienste. DarmstädterForschungen im Spiegel der FIAT-, CIOS- und BIOS-Reports

Neben diesen ersten Befragungen von Wissenschaftlern, die sich mit für die Alliiertenbesonders interessanten Fachgebieten beschäftigt hatten, verschafften sich die amerika-148 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs nischen und englischen Geheimdienste in den ersten Nachkriegsjahren Zugang zu weite-ren Forschungsergebnissen der Deutschen aus den Jahren 1939 bis 1945. Dabei gingendie einzelnen Nationen unterschiedlich vor. Amerikaner und Briten arbeiteten zunächstgemeinsam in der anglo-amerikanischen Organisation CIOS. Als diese im Juli 1945 auf-gelöst wurde, übernahmen die Arbeit die amerikanische FIAT sowie der britische BIOS.

Die Grundlage für das Vorgehen der Alliierten bildeten die Gesetze Nr. 25 und 29 desAlliierten Kontrollrates. Das am 29. April 1946 erlassene Gesetz Nr. 25 verbot militäri-sche Forschung und militärisch anwendbare Grundlagenforschung. Gleichzeitig kamendie Alliierten überein, Deutschland „reparation in kind for the destruction wrought by theGermans“ abzuverlangen.556Das Gesetz Nr. 29 erlaubte daher „any of the four powers inoccupation of Germany [...] may request in writing an authenticated copy of any book,paper, statement, record, account, writing or other document from the files of any Germanindustrial, business, or commercial enterprise“.557

Besonders die Amerikaner und Engländer benutzten diese Gesetzeslage nicht nur zurForschungskontrolle und der Verhinderung der Fortsetzung militärischer Forschungen,sondern auch, um den Stand der deutschen Forschung zu überprüfen und die Ergebnissenutzbar zu machen. Ihre Geheimdienste unternahmen insgesamt über 3.400 Reisen in denwestlichen Zonen zur systematischen Erfassung der deutschen Forschung. Dabei konfis-zierten sie 55 Tonnen Material und fertigten 29.000 Reports an.558

Auch die TH Darmstadt war Investigationsziel zahlreicher solcher Reisen zur Erfas-sung der deutschen Wissenschaftslandschaft durch die Alliierten.559Zwischen April 1945 5.3 Wissenschaftliche Kontakte zur amerikanischen Militärregierung 149und Oktober 1946 wurden mehrere Institute und einzelne Mitarbeiter der TH Darmstadtvon mindestens 16 alliierten Investigationsteams besucht.560Insbesondere die drei Leiterder Vierjahresplaninstitute Vieweg, Brecht und Jayme gerieten ins Visier der Untersu-chungen. Die Professoren Jayme und Brecht wurden von fünf verschiedenen Teams be-fragt, Vieweg von dreien. Auch die Materialprüfungsanstalt erregte die Aufmerksamkeitder Alliierten, sie wurde dreimal von verschiedenen Teams aufgesucht. Mit Klöppel,Neufert, Mehmel und Brill mussten weitere vier Professoren den britischen und amerika-nischen Investigationsteams Auskunft geben.561

Wie berichtet waren die Institute der Professoren Jayme und Brecht als „Black List-Targets“ bereits frühzeitig gesichert und die Institutsleiter befragt worden. Ziel der Befra-gungen war es „to obtain any information possible as to what research in these fields hasfound application in industry“.562Dieses Interesse an einer möglichen industriellen An-wendung sorgte dafür, dass die Allliierten insbesondere Jaymes Forschungen in den Blick150 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs nahmen, die Forschungen von Brecht wurden dagegen als nicht besonders vielverspre-chend eingestuft.563Obwohl die Ergebnisse Jaymes zu einem Großteil nicht über das Ver-suchsstadium hinausgingen, schien man geradezu begeistert über das, was Jayme zu er-zählen hatte. Dieser, so hieß es in einem Bericht, habe über „herausragende Entwicklun-gen“ gesprochen.564Jaymes Arbeiten auf dem Gebiet der Ersatzstoffforschung565, seineMethode zur Herstellung von Kunstseide566und Untersuchungen zu Pappeln567erregtendie Aufmerksamkeit. Diese besondere Beachtung Jaymes im Vergleich zu Brecht könnteauch darauf zurückgeführt werden, dass Jayme mit einem Mitglied des Investigations-teams aus seiner Zeit in Kanada – er hatte, bevor er 1936 an die TH Darmstadt kam, zehnJahre in Kanada gelebt und geforscht – bekannt war.568Dementsprechend authentischwurden seine Aussagen gewertet.569

Wie berichtet kam auch die Darmstädter Materialprüfungsanstalt ausgiebig und mehr-fach ins Visier der Alliierten. Diese hielt man für eine der am besten ausgestatteten Ein-richtungen in ganz Deutschland, jedoch mussten die antreffenden Investigationsteamsfeststellen, dass sie weitgehend zerstört worden war.570Dies galt für die Hochschule ins-gesamt, die Investigatoren trafen in vielen Fällen auf zerstörte Institutsanlagen, in denennoch nicht wieder gearbeitet wurde, bzw. erhielten die Information, dass die Arbeit in denAusweichstellen fortgeführt worden war.571Dies führte dazu, dass die Institute der THDarmstadt weitgehend von Material-Konfiszierungen verschont blieben. Die Darmstäd-ter Wissenschaftler hatten dadurch einen Grund weniger, den Befragungen feindselig zubegegnen. Im Gegenteil, einige von ihnen schienen regelrecht erfreut über das ihren For- 5.3 Wissenschaftliche Kontakte zur amerikanischen Militärregierung 151schungen entgegengebrachte Interesse. Statt Widerstand trafen die Amerikaner und Bri-ten mehrheitlich auf auskunftsfreudige Professoren.572Brecht und Jayme äußerten in ih-ren Befragungen sogar Interesse an einer Zusammenarbeit mit den Amerikanern.573Wieaus einer Aktennotiz von Walter Brecht hervorgeht, scheint bei diesen Äußerungen derWunsch, die eigenen Forschungsarbeiten fortführen und Anschluss an die scientific com- munities finden zu können, handlungsleitend gewesen zu sein. Als Brecht im Rahmeneiner Befragung gegenüber dem amerikanischen FIAT-Mitarbeiter Interesse einer wis-senschaftlichen Veröffentlichungsmöglichkeit äußerte, verwies dieser auf das interneMitteilungssystem der FIAT, bei dem Mikrofilmaufnahmen von Originalarbeiten ge-macht würden, die in Amerika an etwa 500 Stellen, wie Universitäts- und Hochschulin-stituten sowie Firmen, gegen eine Gebühr, „gewissermaßen als Abonnenten“, zugänglichgemacht würden. Weiter beteuerte er, dass das Recht der Autoren an ihren Arbeitendadurch nicht berührt würde. Brecht war daraufhin bereit, einige seiner gedruckten, abernoch unveröffentlichten Berichte zur Verfügung zu stellen. Als er jedoch nur wenige Tagespäter Besuch einer „englischen Dame in britischer Dienstuniform, die von einer engli-schen Charge begleitet war“, erhielt, die sämtliche seiner Institutsberichte zur Kopie-An-fertigung einforderte, war er wenig begeistert.574Gegen seinen Willen – der Rektor infor-mierte Brecht, dass ein Protest zwecklos sei, da es sich um vom Kontrollrat gebilligteReparationsleistungen handele – wurden alle 190 noch existierenden Berichte abtrans-portiert und verfilmt.575

Während Brecht sich allem Anschein nach gerne den Anweisungen der FIAT-Be-hörde widersetzt hätte, erklärten sich die Professoren Jayme und Klöppel 1946/47 frei-willig zu einer intensiveren Zusammenarbeit in Form eines mehrwöchigen Forschungs-aufenthalts in London einverstanden. Zu dem Zeitpunkt, als sie aufgrund ihrer Entnazifi-zierungsverfahren als entlassen galten, nutzten sie die Gelegenheit und nahmen die Ein-ladung der britischen Regierung an, bei Forschungsprojekten mitzuarbeiten.

152 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs

Wieder traf Jayme hier auf eine ihm bekannte Person, eine Schottin, die im Jahr 1938zwei Semester bei ihm in Darmstadt studiert hatte und ihn nach dessen Aussage freude-strahlend begrüßte. Letztendlich sollte sich die Reise für Jayme auch aus anderen Grün-den äußerst gewinnbringend entwickeln. Nicht nur konnte er seine Kontakte zur scientific community auf einem Kunstseide-Kongress auffrischen, es gelang ihm zudem, seine ei-gene Arbeit voranzubringen, wie er an den Rektor schrieb:

„Von jetzt ab bin ich jeden Tag ‚belegt‘ und der Kunstseide-Kongress Cour-tauldts will mich sogar einige Tage lang von hier entführen, vermutlich nach

Coventry. Meine Londoner Freunde haben mich schon öfters zu lunch eingela-den und es ist ihnen neulich sogar gelungen, mich für ein ‚weekenend‘ [sic]loszueisen. Im übrigen konnte ich mir wissenschaftliche Literatur der letzten

Jahre besorgen und einige Jahrgänge von Nature, Chemical Abstracts u.ä.durcharbeiten. Soweit hat sich also die Hoffnung, die ich an diese Reiseknüpfte, voll erfüllt. Zudem bin ich von einem Bekannten, dem ‚chief editor‘des Ind.Ing.Chemist gebeten worden, zwei Aufsätze über unsere letzten Arbei-ten beizusteuern, die wahrscheinlich sogar honoriert werden können. An Be-schäftigung fehlt es mir also nicht und das abendliche Skat musste letzthin starkgekürzt werden.“576

Professor Klöppel reiste im August 1946 – zu einem Zeitpunkt, zu dem er gerade auf-grund seiner Einstufung im Entnazifizierungsverfahren als entlassen galt – auf Anfrageder Briten nach London.577Bis September des gleichen Jahres hielt er sich für die Befra-gungen als „guest of British Government“ in der Beltane-School, einem ehemaligen In-ternat für Jungen, auf.578

5.3.3Abwerbung von Wissenschaftlern. Darmstädter Hochschulmitarbeiter im Dienstder Alliierten

Wie die Auswertung der Reports deutlich macht, gaben die Darmstädter Wissenschaftlerim Rahmen der Befragungen nur bedingt konkret anwendbare Informationen über ihre 5.3 Wissenschaftliche Kontakte zur amerikanischen Militärregierung 153Forschungen preis. Eine Mitarbeit von deutschen Wissenschaftlern, wie das Beispiel vonJaymes Besuch in London zeigt, stellte für die Alliierten und deren Ziel, von den deut-schen Ergebnissen zu profitieren, eine gute Alternative dar und wurde von Anfang anvorangetrieben. Insbesondere die Amerikaner begannen in einem noch nie dagewesenenAusmaß mit der Abwerbung von wissenschaftlichem Personal.

Auch hier stand die Darmstädter Peenemündegruppe im Zentrum des Interesses. Eineerste Einladung für die Mitarbeit in Amerika ging im September 1945 ein. Über die Elekt-romechanischen Werke G.m.b.H. forderte das War Department den Vertrauensausschussder TH Darmstadt dazu auf, die Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Raketen in denVereinigten Staaten „mit dem gleichen Arbeitskreis“ fortzusetzen.579Dafür sah man vor,zunächst für zwölf Monate die Professoren Theodor Buchhold, Richard Vieweg, CarlWagner, Alwin Walther und die Assistenten Haardt, Hartmann, Häussermann, Schlitt undThiel zu „verpflanzen“. Diese sollten im „Interesse des Ansehens der deutschen Wissen-schaft und Technik“ im Ausland tätig werden. Im Laufe der nächsten Monate gingenzahlreiche weitere solcher Einladungen bei Darmstädter Professoren ein.

Etliche Darmstädter Wissenschaftler finden sich zudem auf den für Backfire, Overcastund Paperclip zusammengestellten Rekrutierungslisten.580Im Rahmen des Project „Over-cast“ planten die Amerikaner seit Juli 1945, insgesamt 350 deutsche Wissenschaftler zurekrutieren, um beim fortdauernden Krieg gegen Japan zu helfen. Eine erste Gruppe vondeutschen Wissenschaftlern kam mit Wernher von Braun ins Land. Bis zum Ende desKrieges im August 1945 waren es jedoch erst etwa 120 Personen. Aufgrund der großenBedeutung der Raketentechnologien investierten die Amerikaner weiter in das Pro-gramm, das mittlerweile den Namen „Paperclip“ trug; bis 1952 sollten insgesamt 700deutsche Wissenschaftler nach Amerika überführt werden.581Diese arbeiteten in abge-schiedenen Forschungseinrichtungen in Fort Bliss, Texas, Fort Monmouth, New Jersey154 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs und White Sands, New Mexico, an der Weiterentwicklung der amerikanischen Raketen-technik. Seit 1951 fanden die Starts in Cape Canaveral/Florida statt.

Im Gegensatz zu den Amerikanern hielten sich die Briten insbesondere aus finanziel-len Gründen mit derartigen Rekrutierungen zurück. Sie führten stattdessen im Rahmender Operation „Backfire“ im Oktober 1945 mehrere V2-Teststarts in Cuxhaven durch. Ineinen Wettbewerb um die deutschen Fachkräfte – Darmstädter waren nach bisherigenErkenntnissen nicht davon betroffen – trat umso mehr die Sowjetunion, die unter demCodenamen Osoviakhim mehrere Tausend Wissenschaftler arbeiten ließ.582

Unter den Darmstädter Wissenschaftlern waren längst nicht alle dazu bereit, ihr Um-feld für eine Arbeit im Ausland zu verlassen. Während die Gründe verschiedener Naturwaren – meist lag dies an privaten Gegebenheiten –, stellte ein solches Angebot für vieledie rettende Alternative dar, um trotz Entlassung, Forschungsverboten und zerstörtemInstitut weiter wissenschaftlich tätig sein zu können.

Bei der Operation „Overcast“ waren mit Helmut Hölzer und Kurt Debus zweiDarmstädter vertreten.583Unter jenen Wissenschaftlern, die ab Herbst 1945 für For-schungsarbeiten nach Amerika gingen, waren nachweislich 20 Darmstädter Hochschul-mitarbeiter und Absolventen der TH.584Darunter befanden sich die beiden ordentlichenProfessoren für Chemie Carl Wagner und Rudolf Brill. Wagner ging 1945 mit Wernhervon Braun als wissenschaftlicher Berater der Research and Development Division nachFort Bliss. Von 1947 bis 1958 war er am Massachusetts Institute of Technology (MIT),zunächst als Gastprofessor, seit 1955 als Professor für Metallurgie. 1958 kehrte er zurücknach Deutschland, um als Nachfolger von Karl Friedrich Bonhoeffer Direktor des Göt-tinger Max-Planck-Instituts für physikalische Chemie zu werden. 1960 erhielt er eine Ho-norarprofessur an der Universität Göttingen.585Rudolf Brill blieb zunächst in Darmstadt,verließ jedoch im Mai 1947 die TH Darmstadt für eine Tätigkeit als wissenschaftlicher 5.3 Wissenschaftliche Kontakte zur amerikanischen Militärregierung 155Berater des Signal Corps in Fort Monmouth. Im Jahr 1948 wechselte er zum Forschungs-labor der Philipps Petroleum Co. in Bartlesville, 1950 wurde er Professor am Polytechni-schen Institut der Universität Brooklyn in New York, wo er 1958 das Amt des Direktorsübernahm. Im selben Jahr kehrte er zurück nach Deutschland, wo er zum Direktor desFritz-Haber-Instituts der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin und später Honorarprofessorfür Physikalische Chemie an der Freien Universität Berlin wurde.586

Der ordentliche Professor für Elektrotechnik Theodor Buchhold ging im Juni 1946nach Amerika, weil er „dort günstige Arbeitsmöglichkeiten geboten bekam“. Auch seinevorübergehende Tätigkeit in Fort Bliss endete in einem dauerhaften Aufenthalt in Ame-rika.587Buchhold wechselte später in die Industrie, zu General Electric nach New York.588Der ordentliche Professor für Luftfahrt Nikolaus Scheubel, bis 1945 Inhaber des Lehr-stuhls für Luftschifffahrt und Flugtechnik, nahm das Angebot der Amerikaner an undarbeitete von November 1945 bis Juni 1946 als Civilian Scientist für das US War Depart-ment der Air Force.589Ursprünglich wollte er bis zu einem Jahr in Amerika bleiben, erkam aber aufgrund einer Erkrankung schon eher zurück.590Auch der außerordentlicheProfessor für Physik Otto Scherzer entschied sich für eine Tätigkeit in Amerika. Von Mai1945 bis Ende Juni 1946 befand er sich zunächst in amerikanischer Kriegsgefangenschaft,von August 1946 bis April 1947 arbeitete er als wissenschaftlicher Berater der Süddeut-schen Laboratorien in Mosbach/Baden. Im Mai 1947 begab er sich für eine Tätigkeit beimSignal Corps Engineering Laboratory nach Fort Monmouth in Amerika.591Auch Scherzerkehrte an die TH Darmstadt zurück. Allem Anschein nach tat er dies nicht ganz freiwillig:Er gehörte laut Manfred Hermann zu den wenigen deutschen Wissenschaftlern, bei wel-chen vonseiten der Amerikaner kein Interesse einer Verlängerung der Zusammenarbeitbestand.592

Gustav Mesmer, vor 1945 Ordinarius für Luftfahrtzeugbau, danach für höhere Me-chanik und Festigkeitslehre, entschied sich im Jahr 1950 ebenfalls dafür, nach Amerikaüberzusiedeln. Dieser Entschluss beruhte nicht zuletzt auf dem alliierten Verbot, Luft-fahrtforschung zu betreiben. Zunächst nahm er eine einjährige Gastprofessur an der156 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs Washington University in St. Louis an. Er verlängerte den Aufenthalt bis 1959, wobei ervon 1957 bis 1958 für eine Gastprofessur an die TH Darmstadt zurückkehrte. Im Jahr1959 kam er endgültig wieder dorthin zurück.593Auch der Privatdozent für Physik, HeinzFischer, ging 1945 nach Amerika. Dort arbeitete er als Senior Scientist des Forschungs-zentrums der US-Airforce in Belmont, Massachusetts. Von 1962 bis 1964 war er außer-dem Honorarprofessor der Northeastern University in Boston, im Jahr 1962 kam er alsaußerordentlicher Professor für angewandte Physik an die TH Darmstadt zurück, wo er1964 zum persönlichen Ordinarius und 1966 zum ordentlichen Professor für Physik er-nannt wurde. Er lehrte bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1975 an der TH Darmstadt.594In Darmstadt arbeitete er im Rahmen militärischer Forschungsprojekte weiter mit denAmerikanern zusammen, was im Jahr 1969 von den Studierenden kritisiert wurde.595

Nach Amerika gingen außerdem die TH-Studenten Emil Hellebrand596und ErnstSteinhoff597sowie der Doktorand von Alwin Walther, Helmut Hölzer598. Gemeinsam mitHölzer wurde der von ihm kreierte analoge Computer nach Amerika gebracht und kamdort zehn Jahre lang in der Raketenforschung zum Einsatz.599Weiter entschieden sich füreine Abwanderung nach Amerika der Assistent der technischen Physik, Helmut Horn600, 5.3 Wissenschaftliche Kontakte zur amerikanischen Militärregierung 157die Assistenten der Elektrotechnik Werner Gengelbach, Walter Häussermann601und Hel-mut Schlitt602. Ebenfalls mit Paperclip in die USA ging Oberingenieur der ElektrotechnikKurt Debus603, außerdem Assistent des IPM Adolf Thiel604und MPA-Mitarbeiter JohannKlein605. Von El Paso/Texas in Amerika aus reichte Thiel im Jahr 1950 eine Dissertationüber Untersuchungen zu Raketen an der TH Darmstadt ein. Die Ergebnisse der Disserta-tion stammen aus Thiels Zeit in Peenemünde, wie er in seinem Vorwort schreibt, wardoch eine bereits verfasste Version der Arbeit im März 1945 durch Brand verloren ge-gangen.606Im Gegensatz zu den aufgezählten Personen wechselte Honorarprofessor fürFlugmeteorologie Walter Georgii nicht nach Amerika, sondern ging 1946 zunächst alsberatender Ingenieur des Arsenal de l’Aéronautique du Ministere de l’Air nach Paris.607Auch Friedrich Bornscheuer, Oberingenieur von Kurt Klöppel, der zeitweise für Arbeitennach Peenemünde versetzt worden war, entschloss sich, von 1946 bis 1949 für Raketen-technikarbeiten nach Frankreich zu gehen.608

Die Einladungen der Alliierten erfolgten unabhängig von der politischen Vergangen-heit der deutschen Wissenschaftler. Zwar kontrollierten die Amerikaner die politische158 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs Belastung der Beteiligten, NS-Mitgliedschaften und entsprechende Spruchkammerein-stufungen stellten jedoch letztlich keinen Hinderungsgrund dar.609Im Gegenteil, wie derFall Scherzer zeigt, ist nicht auszuschließen, dass die Amerikaner die Entnazifizierungbeschleunigten, um die gewünschten Wissenschaftler schneller bereit zu stellen.610Mit-chell Ash erklärt das Verhalten der Amerikaner, ohne Rücksicht auf die politische Ver-gangenheit Wissenschaftler zu transferieren, mit der Vorannahme einer „technokrati-schen Unschuld“, die dazu führte, dass Wissenschaftler als „beliebig verwendbaresmenschliches Kapital“ wie Ressourcen behandelt wurden.611Für die TH Darmstadt stell-ten die Abwerbungen der Professoren eine ernstzunehmende Gefahr dar. Die insgesamtsechs abgewanderten Professoren machten immerhin einen Anteil von etwa 11 Prozentdes Lehrkörpers aus.

5.3.4Die Mitarbeit der Darmstädter Professoren bei den FIAT-Reviews. FreiwilligeZusammenarbeit und Initiativen

Die Field Information Agency, Technical unternahm mit den sogenannten FIAT-Reviewsden Versuch, die Entwicklungen der deutschen Wissenschaft in den Kriegsjahren für alleForschungsbereiche in 86 Bänden von den jeweiligen Koryphäen des Fachs darstellen zulassen. Zwar ging die Initiative von amerikanischer Seite aus, die tatsächliche Umsetzungwurde jedoch weitestgehend in die Hände der Deutschen gelegt. Zunächst ermittelte dieFIAT für die einzelnen Forschungsbereiche die jeweils führenden deutschen Wissen-schaftler. Die ausgewählten Wissenschaftler verteilten anschließend die zu bearbeitendenKapitel an die scientific community nach ihren Spezialgebieten. Unter diesen 30 SeniorAuthors befanden sich auch zwei Darmstädter: Alwin Walther schrieb das Review zurAngewandten Mathematik612, der Meteorologieprofessor Ratje Mügge beaufsichtigte 5.3 Wissenschaftliche Kontakte zur amerikanischen Militärregierung 159„Meteorology and Physics of the Atmosphere“.613Weitere zwölf Darmstädter Professo-ren und Mitarbeiter wurden als Co-Autoren tätig und verfassten Teilkapitel für die Re-views.614Der Chemieprofessor Schöpf wurde in anderer Form, als wissenschaftlicher Be-rater, für die FIAT tätig.615Bis zu ihrer Auflösung 1947 verbrachte Schöpf neben seinerTätigkeit als Ordinarius an der TH Darmstadt zwei Tage die Woche in Frankfurt-Höchst,er erhielt dafür ein Gehalt von 100 RM.616

Die Mitarbeit an den FIAT-Reviews war mit Vorteilen für die Darmstädter Wissen-schaftler verbunden. Zum einen mit einem großen Maß an Prestige, denn wer bei derDokumentation angefragt wurde, zählte auf dem jeweiligen Wissenschaftsfeld zu dendeutschen Hauptakteuren. Zum anderen konnten durch die Arbeit für FIAT eigene Inte-ressen verfolgt werden. Professor Brill, dessen Antrag, im Bereich der Röntgenchemieforschen zu dürfen, unlängst abgelehnt worden war, konnte nun ebendiese Arbeiten fort-setzen. Ursprünglich galt Brill zu diesem Zeitpunkt im Rahmen seiner Entnazifizierungals entlassen, damit verbunden war die Auflage, dass er sein Institut sowie wissenschaft-liche Bibliotheken nicht betreten durfte. Zudem war, wie für alle anderen, seine Bewe-160 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs gungsfreiheit sehr stark eingeschränkt. Nachdem er im September 1946 mit einem Teil-kapitel der FIAT-Edition beauftragt worden war, waren alle diese Beschränkungen miteinem Mal aufgehoben.617Für die meisten der beteiligten Professoren lag ein weitererVorteil in der Möglichkeit zu publizieren, die bis dahin aufgrund der Forschungsverbotenur eingeschränkt gegeben war. So nutzte Georg Jayme seine Mitarbeit an den FIAT-Reviews dazu, eine weitere, eigenständig publizierte Ausgabe seiner Forschungsarbeitenauf den Markt zu bringen.618

Außerdem nachweisbar in den Quellen sind Versuche der Darmstädter Wissenschaft-ler, aus ihrer FIAT-Mitarbeit einen materiellen Vorteil herauszuschlagen. Im Zuge ihrerArbeit als Hauptautoren von Reviews für FIAT forderten die Professoren Walther undMügge für ihre Tätigkeiten Telefone an.619Überliefert ist, dass Professor Mügge für seineArbeit von der FIAT eine Schreibmaschine zur Verfügung gestellt bekam.620ProfessorSchöpf erhielt für seine Tätigkeit als Berater der FIAT auf deren Erlass von der StadtDarmstadt eine Extra-Ration an Heizmaterial.621

Es überrascht nicht, dass diese Vorteile schnell von den Darmstädter Wissenschaftlernals Möglichkeiten erkannt wurden und dementsprechende Reaktionen hervorriefen. Sosind in den OMGUS-Akten Anträge der Darmstädter Wissenschaftler enthalten, mit de-nen sie auf ihre Forschungen aufmerksam zu machen suchten. In den Unterlagen derFIAT im Institut für Zeitgeschichte in München befinden sich zahlreiche von Darmstäd-tern freiwillig und ohne Aufforderung eingesandte Manuskripte über verschiedene For-schungsthemen.622Professor Scheubel reichte beispielsweise folgende Titel ein: „Ist dasWindkraftwerk lebensfähig?“ und „Profilwiderstandsverminderung durch ‚eingezogene‘Strömungsprofile“. Diese weckten jedoch auf amerikanischer Seite kein Interesse. Scheu-bel bekam als Antwort, dass man für sein wissenschaftliches Material nicht zuständigsei.623

Zusammenfassung 161

ZUSAMMENFASSUNG

Der Nationalsozialismus hinterließ mehr als moralische Aufarbeitungsaufgaben. Er hin-terließ im sprichwörtlichen Sinne offene Rechnungen, aber auch materielle Ressourcen.Wie gezeigt werden konnte, gelang es der TH Darmstadt, Ressourcen, die man aufgrunddes Krieges und der Rüstungsforschung leihweise zur Verfügung gestellt bekommenhatte, auch für die Nachkriegszeit zu erhalten und ins Hochschuleigentum einzugliedern.Sowohl Personal- und Sachmittel als auch eigens für die Vierjahresplaninstitute errichteteGebäude konnten naht- und geräuschlos ins Eigentum der Hochschule übernommen wer-den. Notwendige Voraussetzung dafür waren diverse diskursive Strategien. So blendetendie Wissenschaftler beispielsweise in ihren Anträgen zur Übernahme der ehemaligenVierjahresplaninstitute gegenüber den zuständigen Regierungsstellen Begriffe wie dendes „Vierjahresplans“ aus, um die Gründungszusammenhänge der Institutionen währenddes „Dritten Reiches“ unerwähnt lassen zu können und eine Eingliederung der materiel-len Hinterlassenschaften in die TH Darmstadt zu ermöglichen. Meist hinter den Kulissen,ohne viel Aufsehen zu erregen, wurden in der Nachkriegszeit komplizierte Besitz- undArbeitsverhältnisse, die der Krieg mit einem weitreichenden „wissenschaftlich-militä-risch-industriellen Komplex“ hinterlassen hatte, geräuschlos aufgelöst. Die TechnischeHochschule Darmstadt, wie die meisten Technischen Hochschulen langjähriger Bestand-teil dieses Komplexes, war in den ersten Nachkriegsmonaten – parallel zu den Bestrebun-gen, den Unterrichtsbetrieb wieder aufzunehmen – intensiv mit der Abwicklung desKriegsforschungsbetriebes beschäftigt. Von Vorteil war der Wissensvorsprung gegen-über der amerikanischen Militärregierung, die die Einbindung der TH Darmstadt in dieKriegsforschung in ihrem vollen Ausmaß wohl nicht ganz zu überblicken vermochte. Umdie Bedeutung der eigenen Arbeiten gegenüber den zuständigen deutschen und amerika-nischen Regierungsstellen zu unterstreichen und gleichzeitig die frühere Einbindung indas nationalsozialistische Regime unerwähnt zu lassen, nutzte man die Strategie des Aus-blendens und des Überschreibens: In ihren Anträgen begründeten die Wissenschaftler dieForderung nach finanzieller Unterstützung von nun an mit dem Begriff des „Wiederauf-baus“ statt mit „Kriegswichtigkeit“. Die Erkenntnis, dass die Darmstädter Wissenschaft-ler nach 1945 den Scharnierbegriff der „Kriegswichtigkeit“ mit dem des „Wiederaufbaus“ersetzten, bestätigt nicht zuletzt die Ergebnisse von Melanie Hanel zur Einbindung derDarmstädter Arbeiten in die Kriegsforschung. Denn diese Form der Umetikettierung warkeinesfalls neu: Schon im „Dritten Reich“ hatten die Darmstädter diese diskursive Stra-tegie angewendet, um gefördert zu werden. So waren auch in dieser Zeit in den meistenFällen nicht die Forschungsthemen verändert, sondern lediglich die bisher durchgeführ-

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162 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs ten Arbeiten als „kriegswichtig“ bezeichnet.624Um weiter forschen zu können, schrecktendie Darmstädter außerdem nicht davor zurück, neben der Strategie der „semantischenUmbauten“ Verbote der Amerikaner schlichtweg zu missachten.

Wie die Entwicklung des Instituts von Walther Brecht zeigt, verstärkte sich in derNachkriegszeit die Zusammenarbeit mit der Industrie. Nachdem mit dem Ende des Krie-ges Forschungsgelder durch Institutionen des Reiches wegfielen, stellte sich die Stärkungder industriellen Beziehungen als Alternative dar.

Die Umstellung von einem Kriegs- auf einen Friedensbetrieb ging in Darmstadt mitder Entlassung zahlreicher Assistenten – ein Einschnitt, der nicht zuletzt aufgrund derEntnazifizierung möglich wurde – einher. Es gelang der TH Darmstadt, darüber hinausin dieser Phase fachliche Umstellungen vorzunehmen, wie beispielsweise mit der Schlie-ßung des Instituts für Röntgenphysik, die zu anderen Zeiten nicht möglich gewesen wä-ren. Das Verhalten der Akteure der TH Darmstadt nach der Schließung der UniversitätGießen zeigt schlaglichtartig die weniger schönen Seiten, wie in der Umbruchszeit eigeneInteressen verfolgt wurden. Besondere Handlungsmöglichkeiten erhielt die TH Darm-stadt allem Anschein nach aufgrund des unübersehbaren Interesses der Alliierten an denDarmstädter Forschungsergebnissen. Insbesondere die Peenemünde-Gruppe kam ver-stärkt ins Visier der Amerikaner. Dies versetzte die Darmstädter Wissenschaftler in dieLage, weiter forschen und damit verbundene eigene Interessen verfolgen zu können.Selbst die von der Forschung als „intellektuelle Reparationen“ negativ deklarierten Ab-schöpfungstätigkeiten der Alliierten scheinen an der TH Darmstadt weitgehend positivaufgenommen worden zu sein. Insbesondere bei der Mitarbeit an den FIAT-Reviews zeigtsich, dass die TH Darmstadt durch die vorübergehende Zusammenarbeit mit den Ameri-kanern eigene Ziele verfolgte. Das Darmstädter Beispiel unterstützt die These Ashs, derkonstatiert, dass sich Wissenschaftler „als durch aus willens und in der Lage [zeigten],sich und ihre Arbeit auf die verschiedensten politischen und institutionellen Umständeeinzustellen, solange die finanziellen und sonstigen Ressourcen, die lokale Autonomieund das Prestige ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit hinreichend gewährleistet“ waren.625Den vorwiegend ökonomischen Interessen der Amerikaner war es wiederum geschuldet,dass das ganze Ausmaß der Bedeutung der TH Darmstadt als Bestandteil des „militärisch-industriell-wissenschaftlichen Komplexes“ zu keinem Zeitpunkt kritisch thematisiertwerden musste. Gleichzeitig verdeutlicht dieses Interesse, entgegen der lange proklamier- Zusammenfassung 163ten Wissenschaftsfeindlichkeit der Nationalsozialisten, den tatsächlichen Stellenwert vonWissenschaft und Technologie im „Dritten Reich“.

Alles in allem war die Zeit des Umbruchs für die TH Darmstadt mit vielen Chancenund wenigen Grenzen verbunden. Die TH Darmstadt besaß, wie gezeigt werden konnte,aufgrund des „working agreement“ einen Sonderstatus, der ihr Handlungsmöglichkeiteneinbrachte. Es gelang ihr, bei der Umgestaltung der Ressourcenkonstellation in der Nach-kriegszeit aktiv mitzuwirken und dadurch eigene Interessen zu verfolgen. Jedoch stelltendiese Prozesse der Wissenschaftler, neue Arbeitszusammenhänge herzustellen, kein mü-heloses Anknüpfen an Vorheriges dar, sondern es war ein gewisser Aufwand notwendig;so spricht Ash auch von „recht beschwerlich konstruierten Kontinuitäten“.626Dies giltauch für das Beispiel der TH Darmstadt.

164 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs

VERGANGENHEITSPOLITIK UND ZUKUNFTS- MANAGEMENT. PERSONALPOLITIK DER TH DARMSTADT 1945–1960

Die Zeit der Zusammenbruchgesellschaft627wirkte sich in vielfältiger Weise auch aufHochschulen und Universitäten aus: Insbesondere die ersten Jahre nach dem politischenUmbruch waren gekennzeichnet von speziellen, sich mehrfach ändernden Lehrkörperver-hältnissen.628Hochschulpolitik bestand infolgedessen in dieser Zeit in ungewöhnlich ho-hem Maße aus Personalpolitik. Fluktuationsprozesse, ausgelöst durch die von den Alli-ierten eingeleitete Entnazifizierung, Wiedergutmachung und Rückkehr von während demNationalsozialismus vertriebenen Wissenschaftlern, aber auch durch die alliierten For-schungsverbote und Abwerbungen von deutschen Wissenschaftlern insbesondere nachAmerika sowie durch die Vertreibungen in den ehemaligen deutschen Ostgebieten undEntlassungen von deutschen Hochschullehren in Österreich beeinflussten den akademi-schen Arbeitsmarkt und damit die Zusammensetzung der Lehrkörper an Universitätenund Hochschulen Nachkriegsdeutschlands. Politisch und kriegsbedingt existierten unterden akademischen Vertretern unterschiedliche Teilgruppen, die sich auch als Fraktionengegenüberstehen konnten. Es folgten stufenweise verlaufende Ausschluss- und Reinteg-rationsprozesse, ein mit hohen politischen und moralischen Kosten ablaufender dynami-scher Vorgang, der signifikante Gewinner- und Verlierergruppen sowie politische Schief-lagen kannte. Auch an der TH Darmstadt existierten diese verschiedenen Schicksalsgrup-pen nebeneinander.

Der folgende Teilabschnitt widmet sich, aufgegliedert in drei Kapitel, der Entwick-lung des Darmstädter Lehrkörpers in der Nachkriegszeit, genauer wird es um die Entna- 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren 165zifizierung, Wiedergutmachung und Berufungspolitik der TH Darmstadt gehen. Da diesedrei Prozesse parallel abliefen und mitunter einander beeinflussten, ist es unausweichlich,die Teilaspekte zwar als einzelne Phänomene, jedoch gleichzeitig auch in Bezug zueinan-der darzustellen. Dies ist nicht zuletzt darum wichtig, da die hochschulpolitischen Ak-teure dieselben waren.

Zu keinem anderen Zeitpunkt der Hochschulgeschichte standen die für Personalpoli-tik der TH Darmstadt zuständigen Akteure vor einer solchen Herausforderung wie in derNachkriegszeit, in der vergangenheitspolitische und zukunftsorientierte Aspekte gleich-ermaßen zu berücksichtigen waren.629Die Personalpolitik stand in den ersten Nachkriegs-jahren unter dem Einfluss der vergangenen Jahre, dem Erbe des Nationalsozialismus.Gleichzeitig gehörte es zur Aufgabe der Hochschulleitung, wie sonst auch, den Lehrkör-per nach dem Weggang, Tod oder Entlassung von Darmstädter Professoren durch Beru-fungen von geeigneten Wissenschaftlern zu ergänzen. Zwar wurden Universitäten undHochschulen 1945 geleitet bzw. verwaltet, und der Begriff „Management“, wie er im Ti-tel auftaucht, gehörte bis in die 1970er Jahre nicht zum Vokabular der Hochschulorgani-sation, doch soll dadurch deutlich gemacht werden, dass die Hochschulleitung in dieserZeit mehr tat, als bloß zu verwalten.

166 5. Chancen und Grenzen des Umbruchs

6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren. Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt

Die beiden Botaniker Otto Stocker und Bruno Huber führten seit 1923 einen intensivenBriefwechsel.630Auch nach 1945, als Huber Leiter des Forstbotanischen Institutes derUniversität München war und Stocker infolge der Entnazifizierung sein Darmstädter Or-dinariat zwei Jahre niederlegen musste, standen sie in engem Kontakt. Dem freundschaft-lichen Briefwechsel der beiden verdanken wir die einzige überlieferte Äußerung einesDarmstädter Professors über Details der Entnazifizierung, denn Stocker hielt Huber, derihm als Entlastungszeuge zur Hilfe kam, unter anderem auch über sein Entnazifizierungs-verfahren auf dem Laufenden:

„Die Berufungsverhandlung hat volle 4 ½ Stunden gedauert, weil der Vorsit-zende und Kläger Wert darauf legten, in allen Punkten durch Vorlesung der

Gutachten und eidesstattliche Aussagen und die Vernehmung der Zeugen biszur letzten Klarheit durchzudringen. Die scharfgeschliffene Logik der Juristenhat mich sehr beeindruckt und ich habe es beinahe als ein Vergnügen empfun-den, in dieser geistigen Atmosphäre Rede und Antwort zu stehen. Daß die klare

Haltung der Hochschule bei den Vorsitzenden, den Klägern und den Beisitzernstarken Eindruck machte, wird dich wohl auch befriedigen. Ich bin nun vorläu-fig noch „Wanderer zwischen zwei Welten“. Die Aufhebung der Restriktionendurch die Militärregierung wird voraussichtlich 3–4 Wochen dauern. Bis dahinbesorge ich die Samenernte weiter, wozu sonst auch niemand da wäre; dieser

Sommer war mit seiner 100 % „Freilandarbeit“ körperlich für mich sehr erhol-sam, hat aber nun auch starke Energien für die Wiederaufnahme der wissen-schaftlichen Tätigkeit gespeichert.“631

Die Aussagen Stockers sind nicht nur wegen der Einblicke auf seine persönliche Gefühls-lage interessant, sondern sie lassen darüber hinaus auch Rückschlüsse auf die Atmosphäre 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren 167und die Praktiken der Entnazifizierung allgemein zu. Ob Stocker seiner Verhandlung tat-sächlich derart gelassen beiwohnte, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Auchseine Befürwortung einer besonders gründlichen Diskussion ist wohl nur hinsichtlich desfür Stocker befriedigenden Ausgangs seines Verfahrens zu verstehen.632Von besonderemInteresse sind an dieser Stelle seine Worte zur Rolle der TH Darmstadt im Verfahren. Mehrnebenbei erwähnt Stocker die Tatsache, dass die Hochschule mit ihrer „klaren Haltung“spürbar Eindruck bei der Spruchkammer hinterlassen habe. Vor diesem Hintergrund stelltsich die Frage nach der Bedeutung der Rolle der TH Darmstadt in den Entnazifizierungs-verfahren der Professoren. Wie schaltete sich die Hochschulleitung in die Verfahren ein undwelche Auswirkungen hatte dies auf deren Ablauf? Wo waren möglicherweise die Grenzenbezüglich ihres Einsatzes für die einzelnen Hochschulmitarbeiter?

Die Entnazifizierung gehört zu den am stärksten erforschten Themen der Universitä-ten in der Nachkriegszeit.633Im Bereich der Technischen Hochschulen ist die Anzahl derFallstudien jedoch bereits übersichtlicher.634Auch das Hochschulwesen ganzer Besat-168 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren zungszonen wurde bereits untersucht.635Ebenso stand die Entnazifizierung einzelner Fä-cher bereits im Fokus der Forschung.636Trotz dieser großen Anzahl an Fallstudien, sostellte Sylvia Paletschek im Jahr 2002 fest, gehen die meisten von ihnen über kurze Über-blicksdarstellungen nicht hinaus.637Abgesehen von der Arbeit Silke Seemanns zur Ent-nazifizierung der Freiburger Universität trifft dieses Urteil auch heute noch zu. Von ver-allgemeinerbaren Aussagen ist die Forschung bis heute weit entfernt. Gleiches gilt für dieAnwendung methodischer Ansätze: Zwar liegen mit dem Sammelband von Bernd Weis-brod zur akademischen Vergangenheitspolitik und mit der Darstellung von Mitchell Ashzur Entnazifizierung von Wissenschaftlern bereits Ansätze dafür vor, eine Anwendungblieb bislang jedoch aus.638Die Frage, wie eine Institution auf die Entnazifizierung ihrer 6.1 Rahmenbedingungen der Entnazifizierung 169Mitarbeiter einwirkte, ist bisher von der Forschung nicht untersucht worden. Dies giltgleichermaßen für Unternehmen, Hochschulen und andere Einrichtungen. Auch eineAnalyse der Reintegration, also des konkreten Umgangs von Hochschulen und Universi-täten mit entnazifizierten Professoren, bleibt in den meisten Einzelfalluntersuchungen un-berücksichtigt, da meist die Zeit nach dem Abschluss der Entnazifizierungsverfahren aus-geklammert bleibt. Bei genauerem Hinsehen überrascht dies umso mehr, da Universitätenund Hochschulen über verschiedene Handlungsmöglichkeiten verfügten und zwischenden einzelnen Personen genau differenzierten.

Zur TH Darmstadt existieren keine Vorarbeiten, daher stützt sich dieses Kapitel vor-wiegend auf Quellen, insbesondere die Personal- und die Entnazifizierungsakten der Pro-fessoren. Zur genauen Untersuchung der Position der TH Darmstadt werden außerdemdie Akten des Kultusministeriums sowie des Rektorates zur Rate gezogen. Die Untersu-chungsgruppe besteht aus den zum Ende des Krieges amtierenden 50 außerordentlichenund ordentlichen Professoren. Der akademische Nachwuchs muss an dieser Stelle ausge-klammert bleiben, da nur wenige verlässliche Angaben vorliegen, wer zu welchem Zeit-punkt entlassen wurde und gegebenenfalls an die Hochschule zurückkehren konnte. ImUnterschied zur üblichen Darstellung der Entnazifizierung an Hochschulen und Univer-sitäten wird an dieser Stelle auf eine nach Fakultäten aufgegliederte Untersuchung ver-zichtet, da dadurch die spezifische Perspektive der Hochschulleitung verloren ginge.Vielmehr wird nach einem einführenden Abschnitt zur Entnazifizierung in den westlichenBesatzungszonen, eine chronologische Vorgehensweise, unterteilt durch Zäsuren, ver-folgt. Ziel dieses Kapitels soll es nicht sein, in den Verfahren angebrachte Aussagen überdas „Dritte Reich“ zu verifizieren, oder Darstellung der einzelnen Verfahren aneinander-zureihen, sondern das Verhalten der Hochschule in den Fokus zu nehmen. Im Vorder-grund steht dabei die Frage nach den semantischen Strategien sowie der Organisation derEntnazifizierung durch die Akteure der TH Darmstadt.

6.1Rahmenbedingungen. Die Entnazifizierung der Hochschulen in der amerikanischen Besatzungszone

Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 einigten sich die Alliierten unter anderemauf das gemeinsame Ziel, die nationalsozialistische Ideologie zu beseitigen. Damit legtensie noch vor Kriegsende den Grundstein für eine politische „Säuberung“ der deutschenGesellschaft. Um dieses Ziel umzusetzen, brachten sie mit Beginn der Besatzungszeit inihren Zonen ein völlig neues und bislang einzigartiges Verfahren in Gang, welches heute

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170 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren gemeinhin als Entnazifizierung bezeichnet wird.639Mithilfe von personellem Austauschsollten die Repräsentanten des NS-Regimes ausgeschaltet und in den Schlüsselstellen po-litisch zuverlässiges Personal installiert werden.640Über Art und Umfang, damit insbe-sondere die Fragen, wer als politisch belastet galt und wie mit belasteten Personen umzu-gehen war, bestanden von Anfang an Differenzen, je nach Zone fiel das Vorgehen derAlliierten trotz Bemühungen des Kontrollrates um Einheitlichkeit sehr verschieden aus.Im Zentrum standen in allen vier Zonen ehemalige Mitglieder der NSDAP sowie anderernationalsozialistischer Organisationen, insbesondere der SS und SA. Allein der mit einersolchen Anzahl von Personen verbundene organisatorische Aufwand – bei der Konferenzim Juli 1945 in Potsdam waren sich die Alliierten darüber einig, dass es nach solchenMitgliedern zu unterscheiden galt, die sich mehr als nominell, d. h. aktiv für den Natio-nalsozialismus einsetzten641– machte eine gründliche und systematische Vorgehensweiseschon bald unmöglich und führte zu einer nicht übersehbaren Diskrepanz zwischen demAnspruch der Alliierten und der Wirklichkeit.642Die Alliierten veränderten im Laufe derZeit ihre Vorgehensweise mehrfach. Aufgrund der sich verändernden Gesetzeslage ergabsich vielerorts ein Auf und Ab von Entlassungswellen. Nicht zuletzt darum hat es sich inder Forschung als sinnvoll erwiesen, die Entnazifizierung in verschiedene Phasen einzu-teilen.

In der amerikanischen Besatzungszone lässt sich die Entnazifizierung in vier Phasengliedern. Vom Beginn der Besatzungszeit bis zum Juli 1945 hatten die Amerikaner keineeinheitlich geregelte Grundlage für ihr Vorgehen. Die meisten Entscheidungen erfolgten 6.1 Rahmenbedingungen der Entnazifizierung 171daher aufgrund von freiem Ermessen der zuständigen Offiziere und waren abhängig vonpersönlichen Absprachen. Dies führte dazu, dass in vielen Bereichen Fehlentscheidungengetroffen wurden, die später gegebenenfalls nochmals korrigiert werden mussten. Geradein der Anfangszeit der Besatzung, als zudem das Personal der Amerikaner oftmals wech-selte, führte dies aufgrund der willkürlichen Behandlung zu Verunsicherung und Verär-gerung aufseiten der Deutschen. Infolge des Drucks der amerikanischen Öffentlichkeit,die forderte, alle für den Nationalsozialismus Verantwortlichen zur Rechenschaft zu zie-hen, erfolgte am 7. Juli 1945 der Erlass einer ersten Direktive zur einheitlicheren Rege-lung der Entnazifizierung. Aufgrund der Direktive mussten alle in SchlüsselpositionenBeschäftigten einen Fragebogen ausfüllen. Dieser bestand aus 131 Einzelfragen, die einengenauen Einblick in Lebenslauf und politische Vergangenheit erlaubten und politisch Be-lastete identifizieren sollten. Als politisch belastet galten Mitglieder der NSDAP vor dem1. Mai 1937, SS- und SA-Mitglieder sowie leitende Beamte. Besonders im öffentlichenDienst verlief der Zugriff scharf, und es kam zu einer ersten Entlassungswelle ohne Rück-sicht auf Personalersatz- und Rechtsansprüche der betroffenen Personen.

Mit dem „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ (kurz Be-freiungsgesetz) vom 5. März 1946 änderten sich die Rahmenbedingungen der Entnazifi-zierung erneut. Damit reagierten die Amerikaner auf die immer größer werdende Kritikder deutschen Bevölkerung am schematischen Vorgehen und der bisherigen rigorosenEntlassungspraktik. Die Durchführung der Entnazifizierung wurde nun in deutscheHände übergeben. Unter Aufsicht der amerikanischen Militärregierung baute man mitenormem Verwaltungsaufwand ein weitgespanntes Netz von regionalen Laiengerichtenauf. Alle Personen über 18 Jahre hatten sich diesen sogenannten Spruchkammern zu stel-len. Anhand eines neuen Fragebogens, dem sogenannten Meldebogen, führten die öffent-lichen Kläger der jeweiligen Spruchkammern eine Grobsortierung durch. Wer keine Mit-gliedschaften vorzuweisen hatte, galt als „vom Gesetz nicht betroffen“ (mit n.b. abge-kürzt). Der Rest wurde je nach Aussagekraft der Mitgliedschaften – hier insbesondere derfrühe Eintritt in Parteiorganisationen und die Übernahme von politischen Ämtern – in dieKategorien Haupttäter, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete eingestuft.643172 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren

Im Rahmen des Kalten Krieges verlor die Entnazifizierung immer mehr an Bedeu-tung. Nach einer deutlichen Wende ihrer Besatzungs- und Bildungspolitik im Jahr 1947stiegen die Amerikaner zum Oktober 1948 weitgehend aus dem Verfahren aus.644Auchunter den Deutschen fanden sich nur noch wenige Befürworter des Verfahrens, und dasEnde der Entnazifizierung wurde eingeleitet: zunächst mit dem Abbau des weitverzweig-ten Spruchkammernetzes, erste Gesetzesentwürfe folgten. Der gesetzliche Abschluss derEntnazifizierung begann zunächst in den einzelnen Bundesländern. In Hessen mit einemersten Abschlussgesetz der Entnazifizierung im Jahr 1949. Zwei Jahre später folgte aufBundesebene das „Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 desGrundgesetzes fallenden Personen“ im Mai 1951 und schließlich ein letztes Abschluss-gesetz von 1954.645Mit dem Artikel 131 wurde die Versorgung von Angehörigen desöffentlichen Dienstes, die infolge von Wehrdienst, Vertreibung oder Entnazifizierungihre Stellung verloren hatten, geregelt und damit die letzte Phase der Entnazifizierung,die sich durch eine sukzessive Wiedereingliederung der entlassenen Personen eingelei-tet.646Nicht nur das Vorgehen, auch die Vehemenz und die Bedeutung der Entnazifizie-rung variierten in den einzelnen Zonen.647Die Amerikaner legten die Entnazifizierungder Deutschen als einen Grundpfeiler ihrer Besatzungspolitik an, in keiner anderen Be-satzungszone erlangte die Entnazifizierung eine derartig grundlegende Bedeutung. ImGegensatz zur Praxis der anderen Besatzungsmächte zeichnete sich dies durch eine kon-sequentere Überprüfung der Gesamtgesellschaft aus; nur hier gab es eine Meldepflicht 6.1 Rahmenbedingungen der Entnazifizierung 173und somit die Möglichkeit, die komplette Gesellschaft zu überprüfen, da sie eng gekop-pelt wurde an die Ausgabe von Lebensmittelkarten.

Überprüfung der Hochschulen und Universitäten

In allen Zonen widmete man der Überprüfung des Bildungssektors, und damit auch derHochschulprofessoren, besondere Aufmerksamkeit. Insbesondere die Amerikaner, dienicht zuletzt der Bildung einen hohen Stellenwert beim demokratischen Aufbau beima-ßen, bemühten sich um eine besonders gründliche „Säuberung“ der Hochschulen undUniversitäten. Gemäß der Direktive JCS 1067 vom April 1945 verboten die Amerikanerbis auf Weiteres den Lehrbetrieb an sämtlichen Bildungseinrichtungen ihrer Besatzungs-zone.648Sie planten zunächst vor der Wiedereröffnung aller in ihrer Besatzungszone be-findlichen Universitäten und Hochschulen jeden einzelnen Professor genau zu überprüfenund nur politisch Unbedenkliche für die Lehre erneut zuzulassen. Dies hätte eine Schlie-ßung der Bildungseinrichtungen für mehrere Jahre zur Folge gehabt – die Amerikanerrechneten mit mindestens zwei Jahren Bearbeitungszeit –, was angesichts des Mangelsan Ärzten, Juristen, Verwaltungsbeamten usw. nicht riskiert werden konnte. In der Direk-tive war daher vorgesehen, dass Ausnahmen dort zu machen seien, wo es dem Zweck derBesatzung unmittelbar nützlich war.649Letztendlich kam es in der amerikanischen, wieauch in allen anderen Besatzungszonen, aus pragmatischen Gründen zu schnellen Wie-dereröffnungen der Universitäten und Hochschulen, d. h. bevor die politische „Säube-rung“ abgeschlossen war.

174 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren

Mit der Überprüfung der Universitäten und Hochschulen waren in der amerikanischenZone vornehmlich Offiziere mit akademischem Hintergrund betraut. Erster Universitäts-offizier und damit Hauptverantwortlicher für die Wiedereröffnungen und die anfänglicheDurchführung der Entnazifizierung der Universitäten war bis zu seinem plötzlichen TodeEdward Hartshorne. Er war es, der die Grundlagen für die Entnazifizierung des akademi-schen Betriebs in der amerikanischen Besatzungszone legte. Zwar bemühte sich Harts-horne durch den Erlass von Direktiven – so war seit Ende Oktober 1945 überall ein Pla-nungskomitee einzurichten – ein für die Hochschulen gültiges Entnazifizierungsverfah-ren zu entwickeln, jedoch stellte sich eine einheitliche Durchführung in der gesamtenZone nicht ein. Das heißt, zwischen einzelnen Hochschulen in der amerikanischen Besat-zungszone konnte es deutliche Unterschiede geben. So ist für die Universität Marburgnachgewiesen, dass bei der Überprüfung des Hochschulpersonals ein zusätzlicher Frage-bogen eingesetzt wurde, der neben den allgemeinen Fragen zu Mitgliedschaften von denProfessoren eine Darstellung der eigenen Stellung zum Nationalsozialismus unter Nen-nung von drei Zeugen und einen Aufsatz über „Die soziale und politische Verantwortungder deutschen Hochschule“ verlangte.650

Der amerikanische Historiker und Hartshorne-Kenner James F. Tent nennt neben denunterschiedlichen Zerstörungsgraden der Hochschulgebäude folgende Ursachen für dieunterschiedliche Durchführung der Entnazifizierung an Universitäten und Hochschulender amerikanischen Zone:

„The reasons for the difference were often subtile and involved such factors asthe personalities of the acting rectors, the composition of the UPCs [University

Planning Committees] and screening committees, the experience and assertive-ness of the American university officer, the degree of cooperation of Land ed-ucation ministries, and, sometimes, the sheer timing of the denazification ef-fort.“651

Wie aus seinen Tagebuchaufzeichnungen hervorgeht, war Hartshorne über diese Ent-wicklungen unzufrieden. Er vermutete, dass die Entnazifizierung der Hochschulen in deramerikanischen Zone milder verlief als in den anderen Besatzungszonen.652Diese An- 6.1 Rahmenbedingungen der Entnazifizierung 175nahme Hartshornes wird durch die bisherigen Forschungsergebnisse jedoch nicht bestä-tigt. So spricht Silke Seemann von einer „laisser-faire“-Haltung der Franzosen bei derEntnazifizierung der Universitäten, da es zu keinem umfassenden Berufsverbot währendder laufenden Entnazifizierungsverfahren von Professoren kam und die politische Über-prüfung vergleichsweise zügig beendet wurde.653Auch Wolfgang Fassnacht kommt zudem Ergebnis, dass die Entnazifizierung der Universitäten in der französischen Zonescheiterte.654Wie aus weiteren Untersuchungen hervorgeht, blieben die Universitätenwährend des Verfahrens weitgehend eigenständig in ihren Entscheidungen über Entlas-sungen. Zudem gab es auch hier zwischen den einzelnen Universitäten große Unter-schiede: Im Fall der Tübinger Universität wurden die zwei zuständigen Spruchkammernsogar von den Professoren gebildet, demnach urteilten hier Kollegen über Kollegen.655Dass es zu Unterschieden in der Vorgehensweise kam, gilt auch für die britische Zone,über die bislang weit weniger bekannt ist.

Dass den Amerikanern dagegen die Entnazifizierung der Universitäten und Hoch-schulen ein besonderes Anliegen war, zeigt ihr Vorgehen im Herbst 1946. Als die Entna-zifizierung mit dem Befreiungsgesetz bereits in deutsche Hände übergegangen war,unternahmen sie einen weiteren Versuch, den sogenannten „second purge“, die Universi-täten und Hochschulen gründlich und effektiv zu überprüfen.656Nun mussten alle Hoch-schulen und Universitäten regelmäßig Listen mit allen angestellten Personen, darunterLehrpersonal gleichermaßen wie Putzfrauen und Gartenhilfen, einreichen. Die Listenwurden anschließend von einem allein für die Hochschulen zuständigen Ausschuss derMilitärregierung kontrolliert. Bis dahin war die Entnazifizierung der Hochschulen in deramerikanischen Besatzungszone im Gegensatz zu der britischen Besatzungszone nichtdurch eigens eingerichtete Unterausschüsse durchgeführt worden.

Obwohl die Entnazifizierung bereits mit dem Befreiungsgesetz vom März 1946 indeutsche Hände übergegangen war, behielt die amerikanische Militärregierung bei derEntnazifizierung der Hochschulen und Universitäten bis Ende der 1940er Jahre die Kon-trolle. Das weitgehende Ende der Entnazifizierung leitete wie überall letztlich Artikel 131GG im Jahr 1951 ein. Danach blieb es den einzelnen Universitäten und Hochschulenüberlassen, entlassene Hochschullehrer wieder in ihr Amt einzusetzen bzw. ihnen Ruhe-standsvergütungen zukommen zu lassen.

176 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren

6.2Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt

6.2.1April–Herbst 1945: Personelle Kontinuität statt Selbstentnazifizierung

Für Hochschulen und Universitäten galt, wie für die amerikanische Zone insgesamt, wäh-rend der ersten Phase der Entnazifizierung, dass die zuständigen amerikanischen Offi-ziere nach eigenem Ermessen vorgingen. Dies führte dazu, dass in vielen Bereichen Fehl-entscheidungen getroffen wurden, die später gegebenenfalls nochmals korrigiert werdenmussten. Gerade in der Anfangszeit der Besatzung, als zudem das Personal der Amerika-ner oftmals wechselte, führte dies aufgrund der willkürlichen Behandlung zu einer enor-men Verunsicherung und Verärgerung aufseiten der Deutschen. Nicht zuletzt aus sicher-heitspolitischen Gründen, verfolgten die Amerikaner nach ihrer Ankunft in Darmstadtzunächst andere Prioritäten als die Angelegenheiten der TH Darmstadt.657An der THDarmstadt herrschte zunächst Unsicherheit über die Verfahrensweise bei der politischenÜberprüfung.658So gab es, wie in Kapitel 5.1.2 erläutert, in den ersten Nachkriegsmona-ten keine Ansprechpartner auf amerikanischer Seite, die über die ausschlaggebenden Kri-terien hätten aufklären können. Erst am 30. August 1945 fand ein erstes Treffen des Ver-waltungsrates der TH Darmstadt mit Oberst Irvin statt, der aufgrund des „working agree-ments“ für die Hochschule und deren Entnazifizierung zuständig war.659In dem Gesprächging es auch um nähere Einzelheiten der politischen Überprüfung der Professoren. Soerkundigte sich die TH Darmstadt bei Irvin nach Richtlinien bezüglich der Folgen vonMitgliedschaften in NS-Organisationen. Wenig spezifisch erläuterte Irvin, dass mit wei-teren Verschärfungen nicht zu rechnen sei und erwähnte das Jahr „1937“ als ausschlag-gebendes Kriterium. Eine systematische politische Überprüfung wurde zu diesem Zeit-punkt nicht angestrebt, über konkrete Fälle nicht gesprochen. Dies zeigt, dass Irvin zu-nächst ohne Vorgaben handeln konnte und wie großzügig er davon Gebrauch machte. DieNotwendigkeit für Entlassungen von Darmstädter Professoren sah er allem Anscheinnach zunächst nicht. Stattdessen sagte er der TH Darmstadt zu, bei Zweifelsfällen denVertrauensausschuss oder die betreffende Person anzuhören.

Infolge dieser besonderen Rahmenbedingungen kam es bis zum Herbst 1945 an derTH Darmstadt zu keinen Entlassungen von politisch belasteten Professoren. Selbst Par-teimitglieder, die vor 1937 in die Partei eingetreten waren und langjährige NS-Rektoren, 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 177wie beispielsweise Karl Lieser, blieben weiterhin im Amt.660Bis zum Herbst 1945 spieltedas Thema der politischen Überprüfung kaum eine Rolle an der TH Darmstadt, esherrschte diesbezüglich geradezu eine entspannte Atmosphäre.661Im Gegensatz zu ande-ren Universitäten und Hochschulen sahen die Akteure der TH Darmstadt keine Notwen-digkeit dafür, eine Selbstentnazifizierung in Gang zu bringen.662Selbst die während des„Dritten Reiches“ eingesetzten Dekane, unter ihnen Parteimitglieder und Mitglieder an-derer NS-Organisationen, blieben an der TH Darmstadt weiter im Amt. Wie in Kapitel5.1.3 ausgeführt, bemühte sich der Vertrauensausschuss sogar um die Bestätigung desinzwischen verhafteten letzten NS-Rektors Klöppels, der zudem Parteimitglied von 1937war. Die einzige spürbare Folge für ehemalige Parteimitglieder an der TH Darmstadt warzu diesem Zeitpunkt die Pflicht zu einem erhöhten Arbeitseinsatz beim Wiederaufbau derstark zerstörten Hochschulgebäude.663

Im Juli 1945 führten die Amerikaner zur politischen Überprüfung einen 131 Fragenumfassenden Bogen ein. Diesen hatten auch die Darmstädter Hochschulmitarbeiter aus-zufüllen. Aufgrund ihrer Angaben wurden im Vorfeld der im Herbst 1945 durchgeführtenVorkurse erste Personen beanstandet. So wurde den Professoren Buchhold, Geil, Hübenerund Schmieden eine Beteiligung daran untersagt, auch Personal des Kraftwerks wurdebeanstandet.664Als Reaktion auf dieses systematische Vorgehen der Amerikaner vertratdie Hochschulleitung in der Folgezeit gegenüber Oberst Irvin umso mehr das Selbstbildeiner in Takt gebliebenen Institution, die keinerlei „Säuberung“ bedarf. Mit dem Hinweisdarauf, dass die Professoren auf Vorschlag der Hochschule berufen worden seien, und178 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren dass dabei ausschließlich wissenschaftliche Leistung, Charakter, persönlicher Ruf undkollegiale Einstellung maßgebend gewesen seien, versuchte der Vertrauensrat die Ame-rikaner zu überzeugen, dass „die Hochschule als ganzes dem Nazieinfluß überhaupt nichtso unterworfen gewesen sei“.665Die TH Darmstadt versäumte es nicht, Irvin darauf hin-zuweisen, dass eine Entnazifizierung die Eröffnung der Hochschule in Gefahr brachteund unterstrich immer wieder ihre gesellschaftspolitische Bedeutung.666Irvin unterstütztealle die Wiedereröffnung betreffenden Angelegenheiten der TH Darmstadt. Er „hörteernsthaft zu“ und sprach, wo es ihm möglich war, sein Vorgehen im Vertrauen mit derTH Darmstadt ab.667Als der Vertrauensrat weiter darauf hinwies, dass mit dem Ausfalldes beanstandeten Kraftwerkpersonals die Heizung der TH Darmstadt nicht möglich sei,gab Irvin zu erkennen, „dass das Verfahren durchaus nicht einwandfrei sei, man müssees aber erst einmal durchführen“.668Die guten Beziehungen zum Universitätsoffizier er-mutigten die TH-Leitung, im Oktober 1945 Irvin Vorschläge zur Vorgehensweise bei derpolitischen Überprüfung zu machen. Da „die Beurteilung der politischen Zuverlässigkeitbei vielen Einrichtungen, z. B. den Universitäten, eine schwierige Sache ist“, schlug manvor, die einzelnen Personen vor endgültigen Entscheidungen anzuhören. Denkbar für einesolche Aufgabe waren in den Augen der TH Darmstadt unabhängige Fachberater, dieüber Kenntnisse der Verhältnisse an den deutschen Universitäten verfügten, womöglichaus der Geistlichkeit.669

6.2.2Herbst 1945–Juni 1946: Erste Entlassene und deren unerlaubte Weiterbeschäfti-gung

Mithilfe der in den Fragebogen gemachten Angaben entschied die Militärregierung imHerbst 1945, wer aufgrund seiner politischen Vergangenheit entlassen werden sollte. Vorder Durchführung der Entlassungen kam der Vertrauensrat der Hochschule mit dem zu-ständigen Oberst Irvin zusammen und besprach die Liste der zu entlassenden Professoren.Der Vertrauensrat betonte Oberst Irvin gegenüber, dass bei keinem der zu entlassendenProfessoren „irgendwelche Aktivität für die Partei oder auch Hinneigung zu ihr vorliege“ 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 179und machte den Vorschlag, die Professoren „zunächst wirken zu lassen, sie zu beobachtenund die Entscheidung um ein halbes Jahr – oder auch weniger – hinauszuschieben“. DerVorschlag fand jedoch keinen Anklang.670

Die erste Entlassung eines ordentlichen Professors traf den langjährigen NS-Rektorund Architekten Karl Lieser, der am 7. September 1945 mit Wirkung vom 1. April 1945aus „politischen Gründen“ ausschied.671Obwohl er vordergründig wegen seiner politi-schen Belastung – Lieser war Parteimitglied von 1933, außerdem Mitglied der SA von1934 bis 1935, Mitglied des NSKK von 1938 bis 1941, Dozentenbunds- sowie Gaudo-zentenbundführer und Rektor der TH zwischen 1937 und 1944672– entlassen wurde, gabes in seinem Fall neben den politischen auch andere Gründe: Die TH Darmstadt hatte mitdem Architekten Ernst Neufert Berufungsverhandlungen geführt und zu diesem Zeit-punkt bereits entschieden, da kein Lehrstuhl frei war, ihm den Lehrstuhl von Lieser an-bieten zu wollen.673Dies erklärt, warum Lieser als einziger Darmstädter Professor bereitsAnfang September 1945 entlassen wurde. Eine erste, umfassendere Entlassungswelle, dieHochschulmitarbeiter aller Hierarchieebenen tangierte, unter ihnen elf außerordentlicheund ordentliche Professoren, erfolgte mit Wirkung vom 31. Oktober 1945. Von einer Ent-lassung aus politischen Gründen betroffen waren die Professoren Ankel, Buchhold, Geil,Hübener, Neuhaus, Reinhold, Schmieden, Stintzing, Stocker, Thum und Voigt. Sie allewaren Parteimitglieder gewesen bzw. galten aufgrund anderer NS-Mitgliedschaften undHochschulämtern als politisch belastet.674

Für die betroffenen Professoren war mit der Kündigung nicht nur ein Ende der Lehr-und Forschungstätigkeit ohne jeglichen Anspruch auf Versorgung verbunden, schon derZutritt zu ihren Instituten und deren Zweigstellen war ihnen nun untersagt, jeglichesHochschuleigentum musste zurückgegeben werden.675Für die Hochschule bedeutete diesauf unabsehbare Zeit den Verlust von Lehrkräften. Aufgrund der zentralen Bedeutung der180 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren Professoren für die Zukunft der Hochschule entschied der Kleine Senat, die betroffenenPersonen bis zum Abschluss ihres Entnazifizierungsverfahrens nicht als Entlassene, son-dern als Suspendierte zu betrachten.676Für acht der entlassenen Professoren findet sichein Nachweis für deren Beschäftigung als „technische Hilfskräfte“ mit unterschiedlichenAufgaben unter Zahlung eines Hilfskraftgehalts von 300 RM.677Einzig die ProfessorenList und Lieser wurden nicht als Hilfskräfte eingestellt, was darauf zurückgeführt werdenkann, dass vonseiten der TH-Leitung kein besonderes Interesse an einer weiteren Zusam-menarbeit bestand. Beide hatten während des „Dritten Reiches“ mithilfe von Parteipolitikihre Karriere an der TH Darmstadt vorangetrieben und waren nun unerwünscht.678Im Fallvon Lieser spielte sicher eine Rolle, dass sein Lehrstuhl bereits vergeben war. List war zudem Zeitpunkt vorübergehend interniert.

Die anderen zu entlassenden Professoren wurden auf den im Rahmen der Entnazifi-zierung monatlich abzugebenden Personallisten ohne akademische Titel als „Hilfskräfte“angeführt. Dies stellte einen nicht unerheblichen Verstoß gegen die Vorgaben der Ame-rikaner dar. Es wirft ein deutliches Licht auf das Selbstverständnis der Hochschule undihre Haltung gegenüber einer umfassenden Entnazifizierung. Wieder scheint die fürDarmstadt geltende Sonderbehandlung eine bedeutende Rolle gespielt zu haben.679

6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 181

Gleichzeitig stimmte sich die TH Darmstadt intern über das weitere Vorgehen bezüg-lich der belasteten Professoren ab. Seit sich Entlassungen nicht mehr vermeiden ließen,hatte die Hochschulleitung die jeweiligen Institute dazu aufgerufen, Einspruchsanträgevorzubereiten und einzureichen. Dabei gab sie genaue Anweisungen darüber, wie derEinspruch begründet werden sollte. Dies war zum einen die Wichtigkeit des Lehrstuhlsund Notwendigkeit seiner Besetzung, die technische Qualifikation der betreffenden Per-son und die Unmöglichkeit, einen geeigneten Ersatz zu finden sowie die Feststellung,dass die betreffende Person „niemals mehr als ein nomineller Nazi“ war. Zur Unterstüt-zung der Stellungnahmen wurde nahegelegt, diesbezügliche Zeugenaussagen, Bescheini-gungen und sonstige Beweise zu sammeln.680Auch für die Anfertigung der bestelltenEntlastungszeugnisse, die im Volksmund alsbald „Persilscheine“681hießen – gab es kon-krete Hinweise von der Hochschulleitung.682Nicht nur gibt dies schlaglichtartige Einbli-cke in die Anfertigung von Persilscheinen, auffällig ist an dieser Stelle auch die zentraleRolle, welche die TH Darmstadt bei der Entnazifizierung der Professoren einnahm. Of-fensichtlich wurden die betroffenen Professoren beraten und mit wertvollen Tipps ausge-stattet. Darüber hinaus übernahm die TH Darmstadt die Rolle einer zentralen Verwalterinder einzelnen Verfahren. Dies zeigt auch die Aufforderung des zu Beginn des Kapitelsbereits zitierten Botanikers Stocker an seinen Kollegen Huber, ihm einen Persilschein zuschreiben. Stocker bat Huber den Persilschein „an den in den nächsten Tagen zu wählen-den Rektor der Technischen Hochschule zu senden und dabei dem Rektor auch Mitteilungvon Deiner Unbescholtenheit in politischer Hinsicht zu machen“.683

Parallel dazu legte die TH Darmstadt im Falle einiger ausgewählter Professoren Ein-spruch gegen die Entlassungen ein. Diese als „Appeal“ bezeichneten Vorgänge warenkein Automatismus, d. h. nicht für alle Professoren setzte sich die TH gleichermaßen ein.Dass man sich mit unterschiedlicher Vehemenz engagierte, zeigt insbesondere der Zeit-punkt, zu dem man den Appeal stellte: Für die Professoren Geil, Buchhold und Schmie-den entschied die TH-Leitung bereits im Oktober 1945, damit sogar noch vor dem In-krafttreten der Entlassungen – durch Irvin hatte man wie berichtet bereits Einsicht in die182 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren Liste der von Entlassung betroffenen Professoren erhalten –, Einspruch einzulegen.684Beiden Professoren Ankel, Reinhold und Thum verzögerte sich dieser Einspruch um einigeMonate.685Während es eindeutige Hinweise darauf gibt, dass diese Appeals durch dieLeitung der TH Darmstadt organisiert wurden, gab es zwei Professoren, denen dieseGunst nicht zuteilwurde. Weder bei Professor Neuhaus, noch bei Professor Stocker wurdedie TH Darmstadt hier aktiv. Als sich Professor Neuhaus verwundert über diese Tatsachebei der Hochschulleitung diesbezüglich informierte, bekam er vom Dekan der Chemiedie Nachricht, dass die TH Darmstadt zwar einen Appeal für ihn einlegen wolle, es könnejedoch „nicht Aufgabe der Hochschule sein, alle zur Entlastung nötigen Gutachten her-einzuholen“. Obwohl die TH-Leitung bei Buchhold, Schmieden, Ankel, Reinhold undThum die Anträge mit initiiert hatte, wies der Dekan Neuhaus darauf hin, dass es „jedemeinzelnen Herrn überlassen bleiben [müsse]“, Gutachten sowie andere notwendige Beila-gen einzureichen.686Im Gegensatz zu den bereits erwähnten Personen zeigte sich dieHochschule demnach nicht bereit, aktiv für Neuhaus einzutreten. Welche Gründe dazuführten sind nicht überliefert. Nicht auszuschließen ist, dass die von Neuhaus und Stockervertretenen Fächer Mineralogie und Botanik geringere Priorität besaßen.687

6.2.3Juni 1946–1951: Die Spruchkammerverfahren der Darmstädter Professoren.Strategien des Beschweigens und der Selbstdarstellung als „Anti-Nazi-Hoch-schule“

Das Befreiungsgesetz vom März 1946 brachte zunächst keine Zäsur für die Entnazifizie-rung der Darmstädter Professoren. Zwar mussten diese – wie alle in der amerikanischenBesatzungszone gemeldeten über 18-Jährigen – nun auch den neuen Meldebogen ausfül-len. Was die Beschäftigungsverhältnisse anbelangte, blieb zunächst jedoch alles beim Al-ten: Die zu entlassenden Professoren waren weiterhin als gewöhnliche Hilfskräfte an der 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 183Hochschule beschäftigt. Im Juni 1946 sollte sich diese Situation jedoch schlagartig än-dern. Zu diesem Zeitpunkt erfuhr der amerikanische Universitätsoffizier Hartshorne erst-mals von den Verstößen gegen die Entnazifizierungsvorschriften an der TH Darmstadt.688Unklar ist, auf welchem Wege Hartshorne Kenntnis davon erhielt. Laut einem Berichtder Amerikaner kam es dazu, nachdem im April und Mai des Jahres 1946 eine Studie zurEntnazifizierung der Hochschulen in der amerikanischen Besatzungszone durchgeführtworden war. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass es nur an der TH Darmstadt „seriousviolations of denazification directives“ gegeben hätte.689Der zu diesem Zeitpunkt im Amtbefindliche Rektor Professor Reuleaux hatte für die folgenreiche Entdeckung eine andereErklärung. Er vermutete, dass eine „deutsche Stelle“ Anzeige erstattet hatte.690Auch eindritter Weg wäre denkbar: Möglicherweise hatte die Überprüfung der Meldebogen derProfessoren dazu geführt. Auf die Frage „Ist Ihre Beschäftigung von der amerikanischenMilitärregierung schriftlich genehmigt?“ antworteten mindestens fünf der zehn als Hilfs-kräfte angestellten Professoren mit „ja“.691Auch wenn die Aufdeckung unklar blieb, ein„Schuldiger“ für die Verstöße an der TH Darmstadt war schnell gefunden: Die amerika-nische Militärregierung sah es als erwiesen an, dass es sich bei den Anstellungen derehemaligen Professoren als Hilfskräfte um „überlegte Verschleierung“ handelte, undRektor Reuleaux als für die Durchführung der Entnazifizierung Verantwortlicher in sei-184 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren nem Amt nicht länger haltbar sei.692Um „das Vertrauensverhältnis zwischen Militärre-gierung und Techn. Hochschule wieder herzustellen“ forderte der hessische Kultusminis-ter Schramm Reuleaux auf, von seinem Amt zurückzutreten.693Am 8. Juli 1946 tratProfessor Reuleaux daraufhin zurück.694Der Vorfall wurde nicht öffentlich gemacht.Stattdessen gab man nach außen zu verstehen, Reuleaux habe sein Amt „aus Gesund-heitsgründen“ niedergelegt.695Der bisherige Prorektor, Richard Vieweg, übernahm imJuli 1946 die Vertretung, als Prorektor in Vertretung wurde Professor Mesmer bestimmt.

Als für Professor Reuleaux neben seinem Amt als Rektor auch eine gewisse Zeit seineZukunft als Professor „in der Schwebe“ stand, bemühte sich Reuleaux um Schadensbe-grenzung.696Zwar hatte man ihm vonseiten des Kultusministeriums im Zuge seines frei-willigen Rücktrittes eine „Ehrenerklärung“ zugesagt, der Vorfall wurde nichtsdestotrotzaktenkundig.697Es gelang ihm jedoch nicht zu beweisen, dass der für Darmstadt zustän-dige Offizier Irvin die Weiterbeschäftigungen der Professoren gebilligt hätte.698Auf dieHilfe des Kleinen Senats konnte er dabei nicht zählen. Dieser hatte zwar das Vorgehenvon Reuleaux noch im Juni 1946 gebilligt und ihm sein „volles, uneingeschränktes Ver-trauen“ ausgesprochen. Immerhin hatte nicht Reuleaux allein verfügt, dass die Professo-ren als Hilfskräfte eingesetzt bleiben sollten, sondern der Kleine Senat hatte in gemein-samer Abstimmung darüber entschieden. Als Reuleaux jedoch darum bat, ihm eine Ab-schrift des Sitzungsprotokolls auszuhändigen, beschloss man, seinem Ansuchen nichtnachzukommen.699Gewissermaßen als „Bauernopfer“ musste Reuleaux seinen Kopf hin-halten. Zunächst hatte es den Anschein, dass Reuleaux diesen unrühmlichen Abgang 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 185nicht ohne Weiteres hinnehmen würde. Als es darum ging, wer den Bericht über das zu-rückliegende Rektoratsjahr halten sollte, bestand er darauf, diese Aufgabe zu überneh-men. Erst mithilfe von mehreren Gesprächen konnte die neue Hochschulleitung ihn davonüberzeugen, seinen Antrag auf persönliche Erstattung des Berichts zurückzuziehen. Vie-weg übernahm die Aufgabe, und der Schein eines regulären Amtswechsels konnte nachaußen aufrechterhalten bleiben.700Auf welche Weise man es vermochte, Reuleaux zu be-sänftigen, ist nicht überliefert. Im Januar 1947 war dieser wieder im Amt. Im Jahr 1966ehrte die TH Darmstadt Professor Reuleaux anlässlich der zwanzigsten Wiederkehr derWiedereröffnung der Hochschule für sein Engagement als erster Nachkriegsrektor mitder Plakette der TH Darmstadt.701Angesichts der Ereignisse rund um das Niederlegendes Rektoratsamtes und der Tatsache, dass der Senat Reuleaux mehr oder weniger hatfallen lassen, liegt die Vermutung nahe, dass es sich dabei insbesondere auch um diesymbolische Würdigung und damit ideelle Wiederherstellung seiner Person handelte.702 Verzögertes Einsetzen der ersten Entlassungswelle im Juni 1946 und „second purge“ an der TH Darmstadt

Nicht nur mussten die als Hilfskräfte eingestellten Professoren nun tatsächlich entlassenwerden, zudem wurde der gesamte Lehrkörper erneut überprüft. Ende Juni/Anfang Juli1946, noch bevor die ersten Spruchkammerverfahren begonnen hatten, wurde der Kreisder entlassenen Professoren um Kurt Klöppel, Hans Busch, Rudolf Brill und Alfred Meh-mel erweitert.703Die vier Professoren waren im Oktober 1945 von den Amerikanern nochnicht als politisch belastete eingestuft worden, unter anderem, da sie einige Angaben überMitgliedschaften und Ämter auf den ersten Fragebögen weggelassen hatten.704Damitsetzte die erste Entlassungswelle an der TH Darmstadt verzögert, nun aber unausweich-lich und umfangreicher im Juni 1946 ein.

186 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren

Unzufrieden über den Stand der politischen Überprüfung der Hochschulen und Uni-versitäten in ihrer Zone, starteten die Amerikaner im Oktober 1946 unabhängig von derEinführung des Befreiungsgesetzes einen weiteren Versuch der besonders gründlichenEntnazifizierung des akademischen Bereichs. Dieser „second purge“ veränderte abermalsdie Rahmenbedingungen der Entnazifizierung für die TH Darmstadt. So stellte man ineiner Sitzung des Kleinen Senats im Oktober 1946 fest, dass nun die Meldebögen in „be-merkenswert gewissenhafter Weise“ überprüft würden, was sich darin äußerte, dass fort-laufend Rückfragen gestellt und selbst geringfügige Ungenauigkeiten in den von derHochschule eingereichten Personallisten entdeckt wurden.705Erstmals musste die THDarmstadt eine Liste aller angestellten Personen einreichen, darunter Lehrpersonalgleichermaßen wie Putzfrauen und Gartenhilfen.706Monatlich war nun eine „Übersichtüber den Stand der Beamten und Beschäftigten“ mit Angaben zu allen Hochschulmitar-beitern abzugeben.707

Auch bei dieser zonenweiten Aktion erhielt die TH Darmstadt eine Sonderbehand-lung. Rektor und Prorektor der TH hielten sich durch einen „glücklichen Zufall“ just injenem Moment in Wiesbaden auf, als die Amerikaner die Durchführung der Aktion beimKultusministerium bekanntgaben.708Nicht nur konnte die TH Darmstadt durch mündli-che Rücksprache einen Aufschub der endgültigen Entscheidungen der Militärregierungerreichen, sie erhielt vertrauliche Kenntnis über die Namen der beanstandeten Personenund hatte zwei Tage Zeit, zu den einzelnen Anklagepunkten Stellung zu beziehen.709DesWeiteren erhielt die TH Darmstadt bereits im Vorfeld vom zuständigen amerikanischenOffizier Vaughn DeLong – Irvin war im Mai 1946 nach Stuttgart versetzt worden710– dievertrauliche Zusage, dass keine „Opfer fallen müssten“.711

Insgesamt wurden aufgrund der politischen Vergangenheit Bedenken gegenüber56 Beschäftigten der TH Darmstadt geäußert, darunter neun Professoren und drei Assis- 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 187tenten, die Lehrveranstaltungen von bereits entlassenen Professoren vertraten.712In einereilig berufenen Sondersitzung des Kleinen Senats besprach man die weitere Vorgehens-weise. Der Senat diskutierte über die einzelnen Persönlichkeiten und fasste Beschlüsse,wie man für das beanstandete Personal, abhängig von dessen Bedeutung für die THDarmstadt und politischer Vergangenheit, bei den Amerikanern eintreten würde. Die andie Amerikaner übermittelten Stellungnahmen der TH Darmstadt zu den einzelnen Hoch-schulmitarbeitern – dabei wurde, je nach Empfehlungsstufe unterschieden zwischen drin-gend empfohlen, warm empfohlen, empfohlen und keine Stellungnahme713– hatten einenicht unerhebliche Bedeutung. Offizier DeLong hatte dem Rektor zu verstehen gegeben,dass bei solchen Personen, bei denen keine Stellungnahme erfolge, mit einer Ablehnungdurch die Amerikaner und als Folge mit der endgültigen Entlassung zu rechnen sei, andenen auch spätere Spruchkammerentscheide nichts mehr ändern würden. Aus den Be-schlüssen geht hervor, dass der Senat seine Entscheidung in erster Linie davon abhängigmachte, wie wichtig die Person für die Hochschule war. Die politische Vergangenheitspielte nur an zweiter Stelle eine Rolle. An erster Stelle stand das Lehrpersonal und damitdie ordentlichen und außerordentlichen Professoren sowie deren amtierenden Vertretun-gen.714

Im Zuge des „second purge“ geriet die TH Darmstadt erneut in Erklärungsnot. MitteOktober 1946 entdeckten die Amerikaner Diskrepanzen bei den Mitgliedschaften in NS-Organisationen zwischen den Angaben der einzelnen Hochschulmitarbeitern auf ihrenMeldebogen und den vom Rektor gemachten Angaben zum Gesamtlehrkörper in den mo-natlich abzugebenden Listen.715Wieder musste die TH Darmstadt Stellung dazu bezie-hen, warum sie die Vorgaben bei der Entnazifizierung nicht ordnungsgemäß umgesetzt188 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren hatte. Die amerikanische Militärregierung forderte den Rektor auf, die Listen „nach bes-tem Wissen und Glauben“ sowie „richtig und vollständig“ zu korrigieren und nachzu-reichen.716Der amtierende Rektor Vieweg bemühte sich um Schadensbegrenzung. Inmehreren Stellungnahmen zu den Diskrepanzen versuchte er zu belegen, dass es sich umVerfahrensfehler der Hochschule und nicht um Versuche der Unterschlagung von Mit-gliedschaften gehandelt habe. Für die vom Rektor eingereichten Listen hätten nur dieFragebögen von 1945 zur Verfügung gestanden, „wo die Frage der NS-Gliederungen undihrer Bewertung zum Teil noch unklar waren“. Man habe daher zum Beispiel die Frageder fördernden Mitgliedschaft in der SS sowie des NS-Studentenbunds und die „nachge-wiesene zwangsmäßige Zugehörigkeit zum „Hochschulsturm der SA“ als „gering belas-tend“ nicht aufgenommen.717Offensichtlich hatte man vonseiten der TH Darmstadt,obwohl die Bogen der Amerikaner kaum falsch zu verstehen waren, bei einigen der An-gaben nach eigenem Ermessen geurteilt, wie die Belastung einzustufen war und eigen-mächtig entschieden, Mitgliedschaften wegzulassen, sofern man diese für nicht bedeu-tend hielt. Dies zeigt, dass man offensichtlich, wie der überwiegende Teil der deutschenBevölkerung auch, der Meinung war, dass nur die Deutschen selber über die politischeVergangenheit wirklich urteilen konnten. Gegenüber den Amerikanern begründete Vie-weg die Unstimmigkeiten mit „schwierigen Personalverhältnissen“ und der „knappen fürdie komplizierte Durcharbeitung der Listen zur Verfügung stehenden Zeit“ und versi-cherte wiederholt, dass „jede gewollte Unrichtigkeit bei der Hochschulleitung ausge-schlossen ist“.718

Trotz der im Raum stehenden Falschangaben kam es, wie es scheint, nicht zu einemZerwürfnis zwischen den zuständigen amerikanischen Offizieren und der TH Darmstadt.Offizier DeLong gab der Hochschulleitung kurz darauf erneut in „entgegenkommenderWeise“ über eine weitere Liste mit 69 beanstandeten Hochschulmitarbeitern vertraulicheKenntnis. Und dies sogar noch bevor sie der Minister für politische Befreiung zu Gesichtbekam.719Durch den zeitlichen Vorschub war man in die Lage gebracht, den Betroffenenvertraulich Kenntnis zu geben und Vorbereitungen zu treffen.

6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 189 Die Rolle der TH Darmstadt in den Spruchkammerverfahren der Professoren

Möglicherweise hatten die Darmstädter Professoren, wie viele andere Deutsche auch,nicht damit gerechnet, dass die Amerikaner mithilfe des sogenannten „Berlin DocumentCenters“, kurz BDC, einem in Berlin von den Amerikanern eingerichteten Sammellageraus beschlagnahmten Dokumenten wie beispielsweise der nahezu komplett überliefertenNSDAP-Mitgliederkartei, durchaus in der Lage waren, die Angaben auf den Meldebögenzu kontrollieren. Das Überprüfen dieser Angaben stellte den ersten Schritt des standardi-sierten Vorgehens der eingerichteten Spruchkammern dar. Mittels Arbeitsblättern holtesich der öffentliche Kläger als Vorsitzender der Spruchkammer Auskünfte vom letztenArbeitgeber, dem Finanzamt und der Polizei ein und überprüfte die Angaben zu Mitglied-schaften anhand des BDC. Danach entschied er in einer Klageschrift über die Einstufungdes Betroffenen. Dieser konnte danach, meist vertreten durch einen Rechtsbeistand,Gegenbeweise einreichen. Das Neue an den Spruchkammerverfahren war, dass die Be-lastungen durch Mitgliedschaften als „äußere Merkmale“ angesehen wurden. Um demSchematismus zu entgehen, sollte laut Artikel 2 des Gesetzes die Entscheidung nun „ingerechter Abwägung der individuellen Verantwortlichkeit und der tatsächlichen Gesamt-haltung“ fallen.720In einer mündlichen oder schriftlichen Verhandlung wurde dann einendgültiger Spruch als politisches Zeugnis ausgestellt. Dieser war je nach Einstufung mitverschiedenen Strafen, den sogenannten Sühnemaßnahmen verbunden. Mitläufer muss-ten mit einer Geldstrafe rechnen, Hauptschuldige mit bis zu 10 Jahren Arbeitslager. Be-klagter und auch Kläger hatten danach das Recht zur Berufung vor einer Berufungskam-mer, auch die Militärregierung konnte das Urteil beanstanden.

Das erste Spruchkammerverfahren eines Darmstädter Professors fand im August 1946statt.721An der TH Darmstadt existierten zum Zeitpunkt des Kriegsendes 50 Lehr-stühle.722Insgesamt 22 der 50 Professoren, das entspricht 40 Prozent, waren nach Aus-wertung ihrer Meldebogen vom Gesetz „nicht betroffen“.723Bei 26 Professoren kam es190 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren aufgrund von Mitgliedschaften in der NSDAP und/oder einer bzw. mehrerer ihrer Glie-derungen zu einer Verhandlung vor einer Spruchkammer.724Die Verfahren vor den bei-den zwei Instanzen, den Spruch- und den Berufungskammern der Darmstädter Professo- 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 191ren fanden zwischen dem 1. August 1946 und dem 3. November 1949 statt. Letzte offeneVerfahren wurden mit dem hessischen Abschlussgesetz vom 30. November 1949 been-det, welches vorsah, dass Verfahren mit Einstufungen in die Gruppen IV und V nichtmehr durchgeführt werden sollten.725

Die Darmstädter Professoren mussten, wie alle Deutschen über 18 Jahren, persönlichvor den Spruchkammern antreten. Jedoch, so geht aus den Akten hervor, nahm die THDarmstadt auf unterschiedliche Art und Weise, wie zuvor auch, Einfluss auf die Verfah-ren. Handlungsleitend war für die TH Darmstadt insbesondere der Wunsch, die Verfahrenvon für die Durchführung der Lehre wichtigen Professoren schnell abzuwickeln. Insbe-sondere die Regelung, dass Hochschullehrer erst nach einem abgeschlossenen Spruch-kammerverfahren wieder ihre Ämter ausführen durften, brachte die TH Darmstadt inSchwierigkeiten. Einerseits nahm die Arbeit der Spruchkammern einige Zeit in Anspruch,andererseits gingen nicht wenige Professoren in Berufung, oder das Ministerium für po-litische Befreiung erkannte die Urteile nicht an.

Einwirken auf die an der Entnazifizierung beteiligten Akteure

Das Ministerium für politische Bildung bemühte sich in Hessen, externe Einflussnahmeauf die Spruchkammern zu unterbinden. So sollten Vorsitzende und Kläger der Spruch-kammern keinen privaten Kontakt zu Betroffenen ihrer oder anderer Kammern pflegen.726In den Akten der TH Darmstadt lassen sich jedoch zahlreiche Hinweise darauf finden,dass die Hochschulleitung Kontakte zu den beteiligten Behörden nutzte, um die Entnazi-fizierung der Professoren zu beeinflussen. Rektor Vieweg führte noch vor der erstenSpruchkammerverhandlung eines Darmstädter Professors mit dem Vorsitzenden derSpruchkammer, Herrn Peters, eine Besprechung über die Behandlung von Hochschulan-gehörigen.727Auch von einem Ministerialrat des Ministeriums für politische Befreiunggab es Informationen und Tipps. So warnte dieser die Hochschule, „grundsätzlich mitzweifelhaften Hochschulfällen anzufangen“.728Auch nachdem die Verfahren begonnenhatten, stand die TH in Kontakt mit den zuständigen Akteuren.729

Obwohl mit den Spruchkammern nun die deutschen Behörden für die Entnazifizie-rung zuständig waren, kontrollierte weiter auch die amerikanische Militärregierung die192 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren Beschäftigungsverhältnisse an der TH Darmstadt. Auf den monatlich abzugebenden Per-sonallisten beanstandete sie auch weiterhin in regelmäßigen Abständen Hochschulmitar-beiter. Die vertrauliche und enge Zusammenarbeit mit Offizier DeLong stellte sich auchbei den laufenden Spruchkammerverfahren als besonders wertvoll heraus. Die TH Darm-stadt war in der Lage, Einzelfälle mit ihm zu besprechen und bewirkte so, dass einigeProfessoren bis zur Spruchkammerverhandlung im Dienst bleiben konnten, statt wie dasGesetz verlangte, für diese Zeit ihrem Dienst nicht nachkommen zu dürfen.730Die ur-sprünglich für die Beschäftigung von Professoren ohne Spruchkammerzeugnis offiziellzu beantragenden Sondergenehmigungen konnte die TH Darmstadt neben dem offiziellenAntragsweg auch über andere Kontakte erwirken: Als Professor Reuleaux anlässlich derLandesausstellung „Hessische Wirtschaft“ Ende Oktober 1946 auf den Leiter der ameri-kanischen Militärregierung Hessen James R. Newman traf, nutzte er die Gelegenheit, fürdie Professoren Wilhelm Schorn, Otto Krischer, Karl Kunz und Matthias Meier einemündlich erteilte Sondergenehmigung und damit einen Aufschub der Entlassung bis zuihren Spruchkammerverfahren zu erhalten.731

Für die Professoren Detig, Jayme, Punga, Scheubel, Stromberger und Witte erhielt dieTH Darmstadt offizielle Genehmigungen für Beschäftigungen ohne rechtsgültigesSpruchkammerzeugnis.732Des Weiteren ließen sich Lehrstuhlausfälle mithilfe einer vomKultusministerium für 60 Tage ausgestellten Sondergenehmigung für im Zuge des Wie-deraufbaus besonders wichtige Wissenschaftler vermeiden. Eine solche Genehmigung,die teilweise mehrmals verlängert wurde, erhielten die Professoren Geil, Reinhold undSchmieden.733Im November 1946 konnten weitere neun Entlassungen verhindert wer-den.734

Der wohl eindrücklichste Versuch von Einflussnahme auf die Spruchkammern durchdie Hochschulleitung ereignete sich im Juni 1946. Nachdem die Professoren Brill, Busch,Klöppel und Mehmel nicht weiter im Amt gehalten werden konnten, wandte sich dieTH Darmstadt an die Spruchkammer Darmstadt mit der Bitte um beschleunigte Behand-lung.735Dem Schreiben beigelegt war eine Tabelle zur politischen Belastung der betroffe-nen Professoren, der man eine Spalte mit entlastenden Gesichtspunkten, insbesondere 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 193dem nachdrücklichen Hinweis, dass die Professoren bereits von der amerikanischen Mi-litärregierung in ihrem Amt bestätigt worden seien, beifügte. Direkte Zusammenhängezwischen dieser Einflussnahme der TH Darmstadt und der Entscheidung der Spruchkam-mer lassen sich anhand des Aktenmaterials nicht nachweisen. Jedoch zeichneten sich diedem Schreiben folgenden Verfahren von Busch und Mehmel durch eine Besonderheitaus: Beide wurden eingestellt, die Professoren nachträglich als „vom Gesetz nicht betrof-fen“ eingestuft, was sonst in keinem anderen Fall vorkam. Insbesondere im Fall von Pro-fessor Mehmel, der vom Öffentlichen Kläger als Militarist eingestuft worden war, ist die-ser Ausgang mehr als erstaunlich.736

Obwohl in regelmäßigen Abständen von den Amerikanern Listen mit beanstandetemLehrpersonal eingingen, allein im Oktober 1946 dreimal, im November 1946 zweimal737und Anfang 1947 ein weiteres Mal738, gelang es der TH Darmstadt auf diese Weise, wei-tere Ausfälle von Professoren während des laufenden Semesters zu verhindern. Dabeischeint die der Hochschule zugewandte Haltung der zuständigen amerikanischen Offi-ziere zentral gewesen zu sein. Trotz zonenweiter Vorgaben trafen die für Darmstadt ein-geteilten Offiziere Einzelfallentscheidungen in Eigenregie. Zwar sahen die Vorgaben deramerikanischen Militärregierung eine strikte Durchführung der Entlassungen vor, die Of-fiziere vor Ort konnten sich allem Anschein nach aufgrund der kritischen Lage der Hoch-schulen jedoch nicht dazu durchringen, diese auch tatsächlich in jedem Fall durchzufüh-ren. Wie aus einer Aussage des für Darmstadt zuständigen Universitätsoffiziers hervor-geht, war dabei die Bedeutung der Universitäten und Hochschulen handlungsleitend. Sosagte DeLong gegenüber der TH Darmstadt, dass er statt eines rigorosen Durchgreifens„von allen Härten bei Anwendung des schärferen Maßstabes im Hinblick auf die Univer-sitäten und Hochschulen im Vergleich zu Beschäftigten in anderen Betrieben“ absehenwolle.739

Die Bedeutung der Arbeitsblatteinträge

Diese Unterstützung durch die Leitung der TH Darmstadt wurde keinesfalls allen Profes-soren zuteil. Die Hochschulleitung verhielt sich anders gegenüber Personen, an deren194 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren Weiterbeschäftigung aus verschiedenen Gründen kein Interesse bestand. Dies wird be-sonders deutlich bei einem Vergleich der von der Hochschulleitung auszufüllendenArbeitsblätter, in denen der letzte Arbeitgeber eine Stellungnahme über die Person und de-ren parteipolitisches Verhalten abgab. Im Falle der Professoren war der amtierende Rek-tor dafür zuständig. Dieser bestimmte jedoch nicht alleine über den Inhalt der Stellung-nahme, in der Regel einigten sich die dem Kleinen Senat angehörigen Professoren beijedem einzelnen Fall auf eine Formulierung. Bei den Professoren Lieser, List und Stint-zing kam der Kleine Senat überein, dass der Rektor sich auf dem Arbeitsblatt lediglich„kühl und sachlich“ äußern solle.740Im Falle der Professoren Lieser und List ist dies er-neut auf ihr Verhalten an der TH Darmstadt während des Nationalsozialismus zurückzu-führen.741Im Fall von Professor Stintzing hatte sich das Blatt erst spät zu seinen Unguns-ten gewendet: Stintzing war zunächst noch als Hilfskraft eingestellt worden, es bestandalso innerhalb der TH Darmstadt Interesse, ihn als Professor zu halten. Jedoch ändertesich diese Haltung der TH Darmstadt grundlegend, als Stintzing von den Amerikanernaus politischen Gründen Anfang 1946 kurzzeitig interniert wurde.742Die TH Darmstadtholte während seiner Inhaftierung Institutsgegenstände aus seiner Wohnung, der Vertragals Hilfskraft wurde im Gegensatz zu jenen Verträgen der anderen zehn Professoren, dieals Hilfskräfte tätig waren, bereits im Mai 1946 gekündigt.743Offensichtlich wollte mannicht um jeden Preis für eine umstrittene Persönlichkeit eintreten. Für die Drehung um180 Grad könnte außerdem eine Rolle gespielt haben, dass Stintzings Institut zu diesemZeitpunkt bereits zugunsten des Instituts für Technische Physik aufgelöst worden war.744Eine Rückberufung, so teilte die Hochschule Stintzing im Mai 1946 mit, sei in seinemFall „angesichts der politischen Belastung“ völlig ausgeschlossen.745

Das Ergebnis waren verzögerte Verhandlungen, ihre Verfahren waren erst 1948 bzw.1949 abgeschlossen, und für alle drei eine Einstufung als „Mitläufer“.746Welche Bedeu-tung der Unterstützung durch die Hochschulleitung zukam, ist unter anderem daran er-sichtlich, dass Professor List, der mehrfach versuchte, sein Spruchkammerverfahren zubeschleunigen, mit seinen Gesuchen gar nicht erst bis zu den entscheidenden Akteurenvordringen konnte.747

6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 195

Wer dagegen in der Gunst der Hochschule stand, konnte mit der vollen Unterstützungrechnen. Hier galt, dass die Hochschulleitung sich „fortlaufend um eine Beschleunigunggerade für Angehörige des Lehrkörpers“ bemühte.748So gelang es der TH Darmstadt inbeständiger Fürsprache, für einen Großteil der Professoren beschleunigte Verfahrendurchzusetzen, und bis 1947 waren alle von der Hochschule aktiv begleiteten Verfahrendurchgeführt worden. Wie weit die TH Darmstadt in Einzelfällen bereit war zu gehen,zeigt der Fall von Professor Buchhold. Buchhold war der Einladung der Amerikanernachgekommen und im Herbst 1945 zu Forschungsarbeiten nach USA gegangen.749Alser vor der Entscheidung stand, seinen Aufenthalt dort zu verlängern, machte er diese unteranderem vom Ausgang seines Spruchkammerverfahrens abhängig. Dies hatte zur Folge,dass die TH Darmstadt alles dafür tat, eine beschleunigte Durchführung des Verfahrenszu erreichen. De facto organisierte sie in seiner Abwesenheit die mit dem Verfahren zu-sammenhängenden Aufgaben wie der Organisation von Zeugen und führte sogar die Ver-handlung für Buchhold.750

Von besonderer Bedeutung für die Beurteilung des Betroffenen war die Einschätzungder Person auf diesen Arbeitsblättern durch den letzten Arbeitgeber. Für die Hochschul-leitung eröffnete dies die Möglichkeit, nicht nur die einzelnen Professoren durch positiveBescheinigungen zu unterstützen, sondern gleichzeitig das eigene Bild im Nationalsozi-alismus zu prägen. Dazu einigten sich Senat und Fakultäten gemeinsam auf verschiedenesemantische Strategien zur Entlastung und Distanzierung vom NS-Regime. Dies führtedazu, dass die Angaben sich in Form und Inhalt der Argumentationslinie sehr ähneln.

Jede einzelne Beschreibung wurde so gewählt, dass das Gesamtbild der Hochschuleals unpolitische Lehrstätte erhalten blieb. So wurde bei während des „Dritten Reiches“berufenen Personen stets betont, dass es sich um rein wissenschaftliche Entscheidungengehandelt habe. Oftmals fiel die Formel, dass Parteimitgliedschaften rein formal gewesenseien und in der Hochschule bekannt war, dass der Betreffende eigentlich oppositionellzum Regime eingestellt war. Um das Gesamtbild der TH Darmstadt nicht zu beschädigen,wurde selbst bei politischen Amtsträgern, wie den Dozentenbundsführern oder NS-Rek-toren, die positive Einflussnahme der Person auf die Entwicklung der Hochschule betontund der rein wissenschaftliche Charakter der Ämter hervorgehoben. Dadurch gelang esnicht nur, insgesamt eine Distanz zum NS zu erzeugen, sondern in einem weiteren Schrittdie Opferrolle und scheinbare Gegnerposition der TH Darmstadt zu betonen. So lautete196 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren die Beurteilung von Ankel, Parteimitglied vom Mai 1937 und ehemaliger Dozentenbund-führer, dass er „nach übereinstimmendem Urteil aller, die an der Hochschule mit ihm zutun hatten, kein Gesinnungs-Nazi“ war. Er sei vielmehr, „nach seiner ganzen Einstellung“– darunter zählte die Hochschule „Freundschaft mit politisch Verfolgten“, „Kritik an po-litischen Misständen“ und seine Eigenschaft als „wissenschaftlicher Lehrer sauberer Prä-gung“ – als Nazigegner angesehen worden.751

Selbst bei jenen Fällen, deren allzu bereitwillige Kooperation mit dem NS sich nichtleugnen ließ – dies betraf neben den bereits genannten Lieser, List und Stintzing auchOtto Scherzer –, wurde auf dem Arbeitsblatt zwar offiziell von einer nationalsozialisti-schen Betätigung gesprochen, jedoch wurde gleichzeitig stets beteuert, dass diese keinenEinfluss auf das Verhalten an der TH Darmstadt hatte. So hieß es zu Stintzing, dass er„als überzeugter Nationalsozialist“ bekannt war, sich aber während seiner Tätigkeit alsDozentenführer von 1938 bis 1940 nur von „sachlichen Gesichtspunkten“ habe leiten las-sen und „eine einseitige Parteiwirtschaft offen abgelehnt“ habe.752Der langjährige NS-Rektor Karl Lieser wurde wie folgt beschrieben:

„Karl Lieser war unstreitig ein Bekenner des Nationalsozialismus und hat als

Dozent an der Hochschule in den Jahren, als der Nationalsozialismus an die

Macht kam, sich auch aktivistisch betätigt. Später war sein Verhalten anders,insbesondere als er von 1937 bis 1944 als Rektor der Hochschule eingesetztwar. Er hat der Hochschule sogar manche nationalsozialistische Massnahmeerspart.“753

Zwar wurde nicht abgestritten, dass Lieser sich nationalsozialistisch betätigte, jedochnicht bezogen auf seine hochschulpolitische Arbeit. Hier wurde ihm im Gegenteil fürseine Amtsführung bezeugt, dass er sie nicht im parteipolitischen Sinne ausgeführt habensoll. Der Eintrag der Hochschule auf dem Arbeitsblatt von Professor List kann als derkritischste bezeichnet werden:

„Dr. jur. List ist ein schwer zu beurteilender Fall. Er hatte im Dozentenbundverschiedene massgebliche Ämter inne und es ist bekannt, dass er in einem Fallversucht hat, einen Herren des Lehrkörpers aus rein weltanschaulichen Gründenmit unklaren Mitteln an der Erlangung der Dozentur zu hindern. Er hat nicht

6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 197versucht, sich im Kreise seiner Kollegen grösseres Vertrauen zu erwerben undwird von vielen als Nutzniesser angesehen.“754

Dass List auch an der Hochschule nach parteipolitischen Gesichtspunkten seine Ämterausführte, wurde offen angesprochen, jedoch die Ämter und sein Einfluss nicht konkreti-siert. Nicht im Unklaren ließ man jedoch, dass er von den Kollegen als „Nutzniesser“angesehen wurde. Im Falle von Professor Scherzer wurde zwar offen von seiner „natio-nalsozialistischen Weltanschauung“ gesprochen, diese sei jedoch ohne Wirkung auf seinwissenschaftliches Handeln gewesen, welches als „objektiv“ bezeichnet wurde.755DasMotiv der „objektiv betriebenen Wissenschaft“, welche eine Hinwendung zum National-sozialismus gewissermaßen von vornherein ausschloss, findet sich in zahlreichen der Ar-beitsblatteinträge.756Diese Strategie war nicht allein für die TH Darmstadt gültig, wie dieeinschlägigen Darstellungen zu Wissenschaften im Nationalsozialismus zeigen. Insbe-sondere die Berufung auf Grundlagenforschung war weit verbreitet.757Auf diese Weiseließ sich, bei zwischen nationalsozialistischen Einstellungen politisch Belasteter und de-ren Einfluss an der TH Darmstadt explizit unterscheiden, ohne die Unwahrheit zu vertre-ten, und gleichzeitig das Bild einer vom NS ferngebliebenen Hochschule konstruieren.Darüber hinaus nutzte man die Arbeitsblätter auch dafür, besonders regimekritisches Ver-halten von Personen auch auf die TH Darmstadt zu übertragen.758

198 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren Persilscheine und mündliche Zeugenaussagen von Darmstädter Professoren

Als ein grundsätzliches Problem der Spruchkammern stellte sich die weitere Verfahrens-weise heraus: Sie wich von der Tradition der Rechtsprechung insoweit ab, als es nach derKlageschrift am Angeklagten lag, Beweise für seine Unschuld zu erbringen und nicht inder umgekehrten Form, dass dem Angeklagten eine Schuld nachgewiesen werdenmusste.759Es handelte sich also um eine umgekehrte Beweisführung. Dies löste eine Flutvon bestellten Persilscheinen aus. Wie beschrieben, hatte die TH Darmstadt seit Herbst1945 im Rahmen der sogenannten „Appeals“ die Persilscheine für die Professoren ge-sammelt. Demnach wanderten diese zunächst über den Schreibtisch des Rektors der THDarmstadt und dann erst zur Spruchkammer. Im Fall des abwesenden Professors Buch-hold übernahm die TH Darmstadt sogar, wie bereits erwähnt, eine noch wichtigere Rolle:sie sammelte nicht nur die Persilscheine, sondern kümmerte sich um die Vorbereitungdes Verfahrens insgesamt.

Alle im Rahmen der Appeals von der TH Darmstadt angefertigten Unterlagen lagenden Spruchkammern vor. Jedem Professor stand es frei, sich um weitere Persilscheine zubemühen. Auch diese wurden durch die TH Darmstadt, wo sie beglaubigt wurden, an diezuständige Spruchkammer weitergereicht.

Aus den 23 zugänglichen Entnazifizierungsverfahren ließ sich eine Anzahl von min-destens 261 vorhandenen Persilscheinen auszählen.760Im Schnitt kamen auf jeden Pro-fessoren zehn Persilscheine, jedoch unterschied sich die Anzahl der für die einzelnen Pro-fessoren eingereichten Persilscheine erheblich. Deren Spannbreite reicht von einerHöchstzahl im Verfahren von Professor Thum mit insgesamt 33 Persilscheinen bis hin zuder wohl niedrigsten Anzahl an Persilscheinen bei Schorn und Schmieden mit jeweils 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 199drei.761Die Quantität der Scheine gleichwohl lässt in den wenigsten Fällen Rückschlüsseüber den Ausgang des Verfahrens zu. Bei der Analyse der Persilscheine mutet mitunterrecht bizarr an, was von den Zeitgenossen als entlastend definiert wurde. So stellte beispiels-weise Garteninspektor Wilhelm Kesselring dem bereits mehrfach genannten Botaniker OttoStocker als Beweis für dessen judenfreundliche Haltung folgenden Persilschein aus:„Herr Schauspieler Hugo Kohn, auch Kessler genannt, ein eifriges Mitglied derHottonia, zugleich ein ausgezeichneter Kenner von Amphibien und Wasser-pflanzen, besuchte mich häufig im Botanischen Garten, da er auch ein grosserKakteenfreund war. Eines Tages brachte er mir verschiedene Kakteen, die eraus Lima (Peru) von seinem Bruder, Prof. der dortigen Universität, erhaltenhatte. Herr Hugo Kohn erklärte mir, es tue ihm leid, das wertvolle Material ver-derben zu lassen, weil er wohl demnächst in ein Konzentrationslager nach Hol-land verbracht würde, da er Jude sei. Ich dankte ihm für die schönen Kakten[sic], versprach ihm, sie zu pflegen, und bat ihn, nach seinen Pflanzen zuschauen, solange er es noch könne. Herr Kohn sagte mir, er bringe mich damitin Gefahr, da der Verkehr mit Juden verboten sei. Diesen Vorgang erzählte ichHerrn Prof. Dr. Stocker, als dieser bald darauf zu mir kam, wobei ich unter-strich, dass Herr Kohn ein Jude sei. Der Zufall wollte, dass Herr Kohn geradekam, um sich zu verabschieden. Ich stellte Herrn Kohn und Prof. Dr. Stockervor. Dieser reichte ihm die Hand, obwohl er wusste, dass er ein Jude war, dankteihm für das schöne Geschenk, wünschte ihm alles Gute für die Zukunft. Gewissein klarer Beweis dafür, dass Prof. Dr. Stocker kein Antisemit war, nichts vonder Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten wissen wollte.“762

Um eine dem Nationalsozialismus fernstehende Haltung zu belegen, wurde in dem Fallalso eine einzelne Begegnung und ein Handschlag als ausreichend betrachtet. Diese Artder Argumentation stellte keine Ausnahme dar.

Interessant ist auch die Betrachtung der von Darmstädter Professoren gegenseitig aus-gestellten Persilscheine, da sie Rückschlüsse auf die Beziehungen der Hochschulmitglie-der untereinander geben. Insgesamt stellten sie sich 52 Persilscheine aus. Auch hier gibtes große Differenzen. Nicht jeder konnte unter den Kollegen Personen finden, die für ihnaussagten. Je nachdem wie gut der Einzelne innerhalb der Hochschule vernetzt war,konnte er besonders viele Persilscheine von Professorenkollegen aufweisen. Deutlich we-niger Persilscheine von Kollegen konnten solche Professoren vorweisen, die erst im spä-teren Verlauf des „Dritten Reiches“ an die Hochschule kamen, und über deren politischeBetätigung man zwischen den Jahren 1933 bis 1937 nicht viel wusste. Bei den Persil-200 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren scheinen, die Darmstädter Professoren füreinander ausstellten, gleichen sich in der Ge-samtauswertung die Argumentationsmuster. Fast in jedem zweiten Persilschein betontendie Kollegen, dass man trotz Mitgliedschaften aufgrund von offenen Gesprächen von dereigentlichen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus wusste. Konflikte mit der Partei wur-den dabei in der nachträglichen Interpretation grundsätzlich zu Widerstandshandlungenstilisiert. Zur Entlastung angeführt wurden oftmals einzelne Alltagshandlungen wie dieVerweigerung des Hitlergrußes oder die Tatsache, dass der Betroffene das Parteiabzei-chen nicht getragen habe. Die Professoren beschrieben sich außerdem als anständig, ge-recht und tolerant und hoben in vielen Fällen die Unvereinbarkeit von Politik und Wis-senschaft hervor. So heißt es immer wieder, dass der Betroffene nur formales Parteimit-glied war und innerlich vielmehr ein Gegner des Regimes; teilweise sogar, um von „innenheraus“ Widerstand zu leisten. Um trotz Mitgliedschaften in NS-Organisationen eine po-litische Belastung widerlegen zu können, zielte eine weitere, häufig angewandte Entlas-tungsstrategie darauf ab, für die Aufnahme Gründe wie Druck, Zwang oder Automatis-mus anzuführen.763Auffällig ist, dass die ehemaligen NS-Rektoren die meisten Persil-scheine von ihren Kollegen erhielten. Thum liegt mit sieben Persilscheinen an der Spitze,gefolgt von Lieser mit sechs, Klöppel und Hübener mit jeweils fünf und zuletzt Buschmit vier.764Selbst Lieser, dessen Aufstieg mithilfe der Partei nicht verheimlicht wurde,bezeugten die Darmstädter Professoren, dass er sein Amt später stets im Sinne der Hoch-schule ausgeführt habe.765Dass gerade für die Rektoren viele Persilscheine erstellt wur-den, ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass sie aufgrund des Amtes mit den meistenKollegen zu tun hatten. Außerdem zeigt sich darin besonders eindrücklich der vorherr-schende Korpsgeist. Darüber hinaus war es für das Ziel der Hochschulleitung, dieTH Darmstadt als Ganzes vom Nationalsozialismus freizusprechen, nicht unerheblicheben auch die Rektoren, welche zwischen 1933 und 1945 mit Hochschulpolitik betrautwaren, zu entlasten. Gerade hier hätte sich eine besondere politische Belastung negativauf die Gesamtsituation ausgewirkt und womöglich den Anschein einer besonders re-gimetreuen Hochschule erweckt, was um jeden Preis vermieden werden sollte. Auch liegtdie Vermutung nahe, dass die Professoren verhindern wollten, dass die Übernahme vonakademischen Ämtern während des „Dritten Reiches“ in der Entnazifizierung zu höheren 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 201Einstufungen führte; laut Gesetz sollten ehemalige NS-Rektoren in Gruppe II fallen.Auch die Betroffenen selber versuchten, so gut es ging, dagegen anzukämpfen: Busch,Klöppel und Hübener verfassten seitenlange Dossiers über ihre Amtsausführung und po-litische Einstellungen.766Alle drei betonten in ihren Stellungnahmen insbesondere, dasssie nicht gegen den Willen der Professoren der TH Darmstadt eingesetzt worden seien.So bezeichnete sich Klöppel als „nicht aufoktroyierter Rektor“.767Diese Formulierungging in gleichem Wortlaut in die Persilscheine seiner Kollegen ein.768Busch schrieb überseine Einsetzung als Rektor: „Ich bin Rektor geworden nicht als Vertrauensmann der Par-tei, sondern als Vertrauensmann der Professoren, die alle Gegner der Partei waren.“ SeineKollegen hätten ihn nicht aus politischen Gründen ernannt, so Busch, sondern weil sieder Überzeugung gewesen seien, dass er „gewillt und fähig war, den Kampf gegen diePartei fortzusetzen“. Weiter betonte er, dass es seiner Amtsführung zu verdanken sei,„dass der Lehrkörper der Hochschule von vereinzelten nach meiner Amtszeit erfolgtenErnennungen abgesehen, im Gegensatz zu fast allen anderen deutsche Hochschulen vonnationalsozialistischen Einflüssen im wesentlichen frei geblieben ist“.769Diese Stellung-nahmen bestätigten ihm die Professoren Schlink, Rau und Reuleaux.770Der ehemaligeNS-Rektor Hübener nutzte gleich den Meldebogen, um über die in seinen Augen „unpo-litische“ Amtsführung zu berichten.771

Die Professoren wussten durchaus für sich zu nutzten, dass die Spruchkammermit-glieder über wenige bis keine Kenntnisse des akademischen Bereichs verfügten. So hieltder Anwalt von Professor Brill dem öffentlichen Kläger vor, seine in den Augen des An-walts nicht gerechtfertigte Einstufung sei „wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass erum den Gang eines Berufungsverfahrens an einer deutschen Hochschule gänzlich falscheVorstellungen besitzt“.772Der Wissensvorsprung war von nicht zu unterschätzender Be-deutung. Wie der Fall von Professor Hübener zeigt, bot er den Professoren die Möglich-202 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren keit, in überzeugender Weise die Vorgänge umzudeuten. Hübener war nicht nur durchsein Rektorat vom 1. September 1934 bis zum 31. August 1937 politisch belastet, bis zumKriegsende war er außerdem Prorektor der Hochschule. Weiter war er seit 1933 fördern-des Mitglied der SS, seit 1937 Parteimitglied und Mitglied des NS-Dozentenbundes. Dar-über hinaus war er durch das Amt des Abwehrbeauftragten belastet, welches er seit 1936bis zum Ende des „Dritten Reiches“ durchgehend vertreten hatte.773Die Rolle von Ab-wehrbeauftragten an Hochschulen und Universitäten – mehrheitlich waren Abwehrbeauf-tragte in der Industrie präsent –, ist bislang von der Forschung nicht genauer ins Blickfeldgenommen worden.774In der Industrie waren sie als „Hilfsorgan der Geheimen Staatspo-lizei“ tätig. Sie waren verpflichtet, alle „staatsgefaehrlichen Bestrebungen“ wie Sabotageund Geheimnisverrat innerhalb ihres Aufsichtsbereiches sofort der Gestapo mitzuteilenund vorbeugend dagegen vorzugehen.775In der Industrie waren sie insbesondere auch fürdie Beaufsichtigung der Fremd- und Zwangsarbeiter zuständig.776Derartige Einzelheitenzum Amt und Hübeners Rolle wurden jedoch von der Spruchkammer zu keinem Zeit-punkt thematisiert. Die Spruchkammer hielt eine nähere Durchleuchtung offenbar nichtfür notwendig. Worauf dieses Versäumnis zurückzuführen ist, lässt sich nicht rekonstru-ieren. Zwar gehörte Hübener zu jenen Personen, über die eine „Special Investigation“stattfand, doch wurde dabei das Amt des Abwehrbeauftragten nicht konkreter hinterfragt.Die Spruchkammer griff bei ihrer Entscheidung damit lediglich auf die Aussagen derDarmstädter Hochschulangehörigen zurück, die mittels zahlreicher Persilscheine die Tä-tigkeit Hübeners als Abwehrbeauftragter zu seinen Gunsten umdeuteten.777

6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 203

Unterstützt wurden die Professoren in ihren Entnazifizierungsverfahren außerdemvon den Studierenden. Diese setzten sich ganz im Sinne einer Notgemeinschaft mit ihrenProfessoren für die Erhaltung der Hochschule ein und forderten eine Wiedereinsetzungihrer entlassenen Lehrer.778Es finden sich in den Entnazifizierungsunterlagen der Profes-soren dementsprechend häufig Persilscheine und allgemeine Schreiben von Studierendenan die zuständigen Stellen. Besonders häufig wurde den Lehrenden bescheinigt, dassdiese keine politische Propaganda in ihren Lehrveranstaltungen ausgeübt und weiterhinjüdische Autoren zitiert hätten. So sagte ein Student und späterer Assistent von Luftfahrt-professor Scheubel, dieser sei für seine „scharfe Kritik“ bekannt gewesen und habe „Leis-tungen anderer Völker oder Juden“ anerkannt.779Besonderes Gewicht hatten Persil-scheine ausländischer Studierender und Untergebener. Anständiges und korrektes Ver-halten Ausländern gegenüber sollte offensichtlich eine der NS-Ideologie ferne Positionbeweisen. Professor Klöppel bekam gleich von einer ganzen Gruppe bulgarischer Studie-renden „Hilfsbereitschaft“ und „menschliches Entgegenkommen“ Ausländern gegenüberbescheinigt.780Für Professor Reinhold setzte sich eine Gruppe von 84 ausländischen Stu-dierenden ein.781Auch die an der TH Darmstadt beschäftigten chinesischen Assistentensagten nach 1945 mehrfach für ihre Vorgesetzten aus. Klöppel war laut Tji-sui Duan ein„korrekter Mensch edelster Gesinnung“782, Djing-Tschang Djin beschrieb Klöppel als„freundlich und hilfsbereit“ und betonte, dass er niemals den Hitlergruß verwendethabe.783Auch für Professor Kohlschütter liegen gleichlautende Persilscheine von Duanund dem Assistenten Lo Hsi-Ping vor.784Auch der Allgemeine Studentenausschuss setztesich für einzelne Professoren ein, so unter anderem für Professor Reinhold, Busch, Brill,Klöppel, und Mehmel.785

Eine noch gewichtigere Rolle spielte in der Entnazifizierung der Professoren dieGruppe der sogenannten „Mischlings-Studenten“. Diese traten ebenfalls mithilfe von Per-204 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren silscheinen für ihre Professoren ein.786Ihnen war das Studium während des „Dritten Rei-ches“ nur nach ausdrücklicher Prüfung und Befürwortung des Rektors und einer anschlie-ßenden Zulassung durch das REM möglich gewesen. Ihr Zugang zum Studium war damitreglementiert und abhängig von Einzelfallentscheidungen, jedoch war ihnen, im Gegen-satz zu den von den Nationalsozialisten seit 1938 nicht mehr zugelassenen „Volljuden“,das Studium zu keinem Zeitpunkt komplett verboten.

In den Persilscheinen werteten die „Mischlings-Studenten“ die Befürwortung als Wi-derstandshandlungen gegen den nationalsozialistischen Staat – wohl aus Dankbarkeit denProfessoren gegenüber.787Da die gesetzlichen Vorgaben jedoch niemals ein Studium aus-schlossen, überschätzten sie das Risiko und die möglichen Folgen für die Wissenschaft-ler, die ihnen halfen. Diese hatten lediglich Handlungsspielräume, die ihnen die Gesetzeboten, genutzt, und brachten sich im Gegensatz zu der Wahrnehmung der „Mischlinge“nicht in persönliche Gefahr, wenn sie „Mischlingen“ bei der Zulassung halfen. Dass sichdie Hochschullehrer im Nationalsozialismus für ihre Studienzulassung oder den Verbleiban der Hochschule verwendeten, war gleichwohl nicht selbstverständlich. Jedoch mussdavon ausgegangen werden, dass die Wissenschaftler sich insbesondere für die Förderungvon Begabten einsetzten. Mitgefühl für die Situation der Studierenden oder gar die Ab-lehnung der NS-Judenpolitik waren wohl nicht die entscheidenden Motive für die Unter-stützung von „Mischlingen“.788

Neben den Persilscheinen, die Professoren sich gegenseitig ausstellten, jenen der Stu-dierenden und Untergebenen, stammte der restliche Teil von internationalen Kollegen,Familienangehörigen oder integren Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Schreibenvon Pfarrern, Widerstandskämpfern oder jüdischen Personen zeigten besondere Wirk-samkeit. Die Darmstädter Professoren konnten, wie ihre Kollegen überall, besonders vonihren internationalen und gesellschaftlich relevanten Kontaktkreisen profitieren. In nichtwenigen Entnazifizierungsakten finden sich Persilscheine von international anerkanntenWissenschaftlern. So schrieb der bekannte Mechaniker Stephen P. Timoshenko (1878–1972), zu diesem Zeitpunkt emeritierter Professor der Stanford University Kalifornien, 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 205einen Persilschein für Thum.789Kohlschütter bekam einen Persilschein von Walter Feit-knecht (1900–1975), zu diesem Zeitpunkt Chemieprofessor der Universität Bern.790DerZoologe Wulf Emmo Ankel konnte einen Persilschein, ausgestellt von zwölf dänischenWissenschaftlern, vorweisen, welche er während des Krieges in Dänemark kennengelernthatte und die ihm nun bezeugten, dass sie ihn als liberalen und demokratischen Menschenerfahren konnten.791Häufig bezog man sich bei dieser Art der Persilscheine rein auf wis-senschaftliche Belange, insbesondere zielten die Autoren darauf ab, die internationaleBedeutung des Betreffenden für die Wissenschaft zu bezeugen. Dies zeigt der folgendefür den Darmstädter Biologen Ankel ausgestellte Persilschein seines Fachkollegen Kühn,der den wissenschaftlichen Verlust bei einem Ausscheiden Ankels aus dem Dienst fol-gendermaßen bezeugte:

„Ueber seine politische Betätigung steht mir ein Urteil nicht zu. Ich bin erstaunt,daß er der Partei beigetreten ist, da ich früher seine ausgesprochen linksgerich-teten Anschauungen kannte. Ueber seine wissenschaftlichen Leistungen fühleich mich verpflichtet, einige Worte zu sagen, für den Fall, daß sein Wert als

Forscher und Lehrer bei der Beurteilung seines Falles auch mitzählt. Ankel hatauf verschiedenen Gebieten der Morphologie, Histologie, Entwicklungsge-schichte und Oekologie zahlreiche sehr gute Arbeiten geliefert. Die von ihmzum ersten Male eingehend erforschten Entwicklungsvorgänge der atypischen

Spermien der Prosobranchier sind sehr bedeutungsvoll für allgemeine Fragender sexuellen Differenzierung der Keimzellen. Seine Untersuchungen über die

Fortpflanzungs- und Ernährungsbiologie der Schnecken zeigen den Blick desechten Naturforschers, dessen Probleme nicht aus Büchern oder vereinzelten

Laboratoriumsexperimenten, sondern in der freien Natur entstehen. Die dortauftauchenden Fragen werden dann mit dem strengen Anspruch des Experi-mentalforschers und mit allen rechnerischen Feinheiten in Angriff genom-men.“792

Weiter lässt sich hier die semantische Strategie der Versachlichung belegen. Der sachli-che Ton, die Nennung von wissenschaftlichen Begriffen, die den Spruchkammern allerWahrscheinlichkeit nach nicht bekannt waren, inszenierten nicht zuletzt eine Nüchtern-heit und damit die vermeintliche Wertneutralität sowie die Immunität des Wissenschaft-lers gegen politische Vereinnahmung.793

206 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren

Viele Darmstädter Professoren ließen sich von Persönlichkeiten des öffentlichen Le-bens ihre Bedeutung für den Wiederaufbau bescheinigen. Bei dieser Art der Persilscheinespielten Informationen zum politischen Verhalten der betreffenden Personen während des„Dritten Reiches“ keinerlei Rolle, vielmehr zielten sie darauf ab, die Bedeutung der Pro-fessoren für die Hochschule und Wissenschaft zu untermauern.794Wie es scheint, hattendie wenigsten der Darmstädter Professoren Probleme, von wichtigen PersönlichkeitenPersilscheine einzuholen. Einzig bei den Professoren Stintzing und List fällt der Kreis derPersilscheinschreiber etwas aus dem Rahmen. Neben Schorn und Jayme waren dies dieeinzigen beiden Professoren, die keinen Persilschein von Darmstädter Kollegen einreich-ten und darum auf Personen ihres privaten Umfeldes, wie Nachbarn und Verwandte zu-rückgriffen. Stintzing scheute sogar nicht davor zurück, sich ein Entlastungszeugnis vomehemaligen Gaudozentenbundführer Heinrich Guthmann über seine Tätigkeit als Dozen-tenbundsführer ausstellen zu lassen.795Welche nicht zu unterschätzende Wirkung die Per-silscheine hatten, zeigt die Beurteilung des Mathematikprofessors Curt Schmieden. Die-ser wurde aufgrund seiner Mitgliedschaften – er war Parteimitglied von 1937, außerdemMitglied des NSKK seit 1933 im Rang des Scharführers – vom öffentlichen Kläger inGruppe II der Belasteten eingestuft.796Nach der Überprüfung der eingegangenen Persil-scheine kam der öffentliche Kläger jedoch zu dem Schluss, dass er lediglich als Mitläufer,also Gruppe IV anzusehen sei.797

Eine ähnliche Wirkung hatten die Auftritte der Darmstädter Professoren bei mündli-chen Spruchkammerverhandlungen.798Die rhetorisch gewandten Professoren hinterlie-ßen bei den Spruchkammern, die häufig mit dem akademischen Bereich eher fernstehen-den Personen besetzt worden waren, einen nicht zu unterschätzenden Eindruck. AllemAnschein nach wirkten die Entlastungsstrategien der Professoren besonders glaubwürdig 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 207auf die Spruchkammern.799Dies zeigte sich unter anderem dadurch, dass mündliche Aus-sagen und solche aus Persilscheinen häufig wortwörtlich in den ergangenen Spruch ein-gingen. In Einzelfällen zeigte sich dies auch besonders direkt, wie beispielsweise im Ver-fahren von Professor Brill, als die Spruchkammer die Darmstädter Professoren als „ein-wandfreie und auch als objektive Männer zu wertende Zeugen“ bezeichnet.800

Dass sich Wissenschaftler in ihren Entnazifizierungsverfahren nur allzu gerne auf ihreunpolitische Haltung beriefen, ist von der Forschung unter dem Stichwort des „Mythosvon der unpolitischen Wissenschaft“ mittlerweile anhand zahlreicher Fallbeispiele doku-mentiert worden.801Der TH Darmstadt gelang es darüber hinaus, in den einzelnen Ver-fahren der Professoren den Mythos einer Anti-Nazi-Hochschule zu kreieren. Insbeson-dere Professor Alwin Walther – er tritt von allen Professoren am häufigsten bei Entnazi-fizierungsverfahren der Darmstädter Professoren auf – äußerte sich in Verfahren vonEinzelpersonen stets positiv über die TH Darmstadt insgesamt. So bestätigte er im Ver-fahren von Professor Neuhaus nicht nur ihm eine unpolitische Berufung, sondern gab zuProtokoll: „Wie bei allen Berufungen an der Technischen Hochschule Darmstadt wurdenseitens der Hochschule nur die fachlichen, persönlichen und didaktischen Qualitäten desKandidaten berücksichtigt, hingegen nicht die Frage, ob er der Partei angehörte odernicht.“802Ebenso äußerte er sich im Verfahren von Professor Thum über dessen Amts-führung als Rektor: „Die Hochschule wurde damals wegen ihrer unabhängigen, dem NSabgeneigten Stellung stark angefeindet.“803Häufig wurde die TH Darmstadt im Vergleichzu anderen Universitäten und Hochschulen als Ausnahmefall beschrieben. So bezeugteein Mitarbeiter des Studentenwerks im Verfahren von Professor Hübener: „Die Hoch-schule in Darmstadt [hat] sich weder von der Lehrerseite noch vonseiten der Studenten-führung in das Fahrwasser bringen lassen, das heute an anderen Hochschulen und Uni-versitäten so gebrandmarkt wird.“804Ebenfalls im Verfahren von Hübener sagte Professor208 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren Vieweg zur 100-Jahr-Feier: „Im Gegensatz zu anderen Universitäten und Hochschulenwar diese Feier keine nationalsozialistische Propagandaaktion, sondern ein Volksfest, beidem die Verbundenheit der TH mit der Stadt und dem Verein deutscher Ingenieure zumAusdruck kam.“805Auch Hübener selber sprach von einer Ausnahmesituation an derTH Darmstadt: „Die Technische Hochschule Darmstadt hat geradezu eine Ausnahmestel-lung eingenommen im Gegensatz zu manchen anderen Hochschulen, wo verdienten älte-ren Kollegen wegen ihrer Nichtparteizugehörigkeit erhebliche Schwierigkeiten gemachtwurden.“806

Erfolgreiche Berufungen durch Nachweis von vermeintlichen Widerstandshand- lungen

Obwohl die Spruchkammern meist zu einem viel milderen Urteil kamen als die Einstu-fungen des öffentlichen Klägers anhand der Mitgliedschaften, waren viele der Professo-ren mit ihren Spruchkammerurteilen nicht zufrieden. Von der Möglichkeit, Berufung ein-zulegen, machten insgesamt 13 Darmstädter Professoren Gebrauch.807

Um trotz formeller Mitgliedschaft oder Anwartschaft in einer NS-Organisation odereines anderen äußeren Umstandes als Entlasteter eingestuft werden zu können, mussteder Betroffene laut Artikel 13 des Befreiungsgesetzes einen Nachweis des „aktiven Wi-derstandes“ erbringen. Laut dem Gesetz war ein solcher Widerstand dann erwiesen, wenneine Person sich „nicht nur passiv verhalten, sondern nach dem Maß seiner Kräfte aktivWiderstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft geleistet und dadurchNachteile erlitten hat“.808Der Botanikprofessor Stocker war in die Gruppe III der Min-derbelasteten eingestuft worden, die höchste Einstufung eines Darmstädter Professors.Die restlichen elf Professoren forderten eine Überprüfung ihres Spruchkammerentschei-des, da sie sich nicht der Gruppe der Mitläufer zugehörig fühlten. Wie sehr die Hoch-schulprofessoren eine Einstufung als Mitläufer als ungerechtfertigte Stigmatisierungempfanden, zeigt die Vehemenz, mit denen einige von ihnen diese Berufung einforderten– Detig und Hübener gingen jeweils dreimal in Berufung und nahmen damit in Kauf, dassihre Verfahren bis Ende Juli bzw. Anfang November 1949 offen blieben.809Wie für Pro-fessor Thum, war für einige der als Mitläufer eingestuften Professoren der Gedanke „un- 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 209erträglich mit verdienten Mitläufern auf einer Stufe zu stehen“.810Insgesamt fünf Profes-soren konnten die Berufungskammern überzeugen, dass sie aktiven Widerstand geleistethatten. Sie wurden in die Gruppe V der Entlasteten eingestuft.811Was als Widerstands-handlungen angesehen wurde und was nicht, war Auslegungssache der Berufungskam-mer. Im Fall der Professoren Ankel und Brill sahen es die Berufungskammern als erwie-sen an, dass diese ihr Amt als Dozentenbundführer zum aktiven Widerstand genutzt hät-ten.812Ankel und Brill wurden trotz Parteimitgliedschaften in die Gruppe der Entlasteteneingestuft. Im Fall von Professor Brill legte die Militärregierung Einspruch gegen dieseEntscheidung ein, zog diesen aber wieder zurück, nicht zuletzt vermutlich, da Brill imRahmen des sogenannten Paperclip-Programmes in die USA übersiedelte.813

Im Fall von Otto Stocker führte der vermeintliche Nachweis von aktivem Widerstandsogar dazu, dass er von der Gruppe III der Minderbelasteten in die Gruppe V der Entlas-teten eingestuft wurde. Als Minderbelasteter unterlag Stocker einer Bewährungsfrist vonzwei Jahren, d. h. er hätte nur in „gewöhnlicher Arbeit“ beschäftigt werden dürfen, dasWahlrecht verloren, zudem wäre ihm jegliche politische Tätigkeit verboten gewesen under hätte einen relativ hohen Sühnebeitrag von 3.500 DM zu zahlen gehabt.814Insbeson-dere Stockers Weigerung, auf Anweisung des Reichstatthalters Rektor der TH Darmstadtzu werden, wertete die Berufungskammer als „Zerschlagung der Absicht des Reichsstatt-halters Sprenger, die Technische Hochschule Darmstadt zu nazifizieren“. Dadurch habeStocker „die T.H. Darmstadt im Gegensatz zu fast allen anderen deutschen Universitätenund Hochschulen bis zum Jahr 1937 vor einem nazistischen Rektor bewahrt und damit210 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren die Voraussetzung für ihre innere und äußere Freiheit geschaffen“.815Diese etwas wider-sprüchliche Begründung führte zu Stockers Entlastung vor der Berufungskammer. BeiProfessor Busch wurde das Verfahren sogar nachträglich vollkommen eingestellt, da dieBerufungskammer zu dem Ergebnis kam, Busch sei „nicht vom Gesetz betroffenen“.816Dieses besonders milde Urteil ist nicht zuletzt deswegen so besonders, da Busch unteranderem förderndes Mitglied der SS sowie Mitglied des NS-Dozentenbunds und von1933 bis 1934 Rektor der TH Darmstadt war. Bei den restlichen Professoren sahen sichdie Berufungskammern nicht dazu veranlasst, die vorherigen Urteile aufzuheben.817

Nicht nur die Professoren selber konnten Berufung einlegen, auch das Ministeriumfür politische Befreiung besaß dieses Recht. Bei insgesamt acht Darmstädter Professorenbeanstandete das Ministerium die Spruchkammerurteile als zu mild und ordnete eine er-neute Überprüfung an.818Dies führte jedoch in keinem Fall zu einer schlechteren Einstu-fung, im Gegenteil: Die Professoren Thum, Mehmel, Scherzer und Reinhold konnten dievon Staats wegen durchgeführte Verhandlung vor zweiter Instanz sogar dazu nutzen, ihreEinstufungen durch Nachweis von aktivem Widerstand zu verbessern. Sie galten danachals entlastet, Professor Mehmel sogar, wie Busch nachträglich, als „vom Gesetz nichtbetroffen“. Selten wurden die milden Urteile von der Bevölkerung kritisch aufgefasst.Einzige Ausnahme diesbezüglich ist die Entnazifizierung von Professor Mehmel. Meh-mel war zeitweise als Hauptschuldiger angeklagt, bis er letztendlich als „nicht betroffen“eingestuft wurde. Wie berichtet hatte sich die TH Darmstadt hier besonders engagiertgezeigt.819Während die meisten Entnazifizierungen der Darmstädter Professoren ohneöffentliches Interesse stattfanden – lediglich die Einstufung des Architekturprofessorsund langjährigen NS-Rektors Lieser als Mitläufer wurde in einer kleinen Pressemeldungpublik gemacht820–, fand einzig die Entnazifizierung von Professor Mehmel gewisseAufmerksamkeit durch die Presse: In zwei Zeitungsartikeln wurde die Einstufung Meh- 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 211mels als Mitläufer als zu mild kritisiert.821Trotz dieser Kritik kam es zu einer bemerkens-werten Wendung in der Entnazifizierung Mehmels. Die Berufungskammer sah es nunsogar als erwiesen an, dass Mehmel gänzlich vom Gesetz „nicht betroffen“ war.822Nurvier Monate nachdem das Verfahren Mehmels von einem gewissen Medienecho begleitetworden war, scheint das Interesse der Öffentlichkeit deutlich gesunken zu sein. Dass dieseneue Wendung zu keinem weiteren Skandal führte, kam der TH Darmstadt sehr entgegen.Denn negative Schlagzeilen lagen nicht im Interesse der Beteiligten. Dies ist womöglicheine Erklärung dafür, dass sich die Professoren der TH Darmstadt untereinander beson-ders solidarisch zeigten. Wie dieses Eintreten füreinander auch die TH insgesamt schüt-zen sollte, zeigt der folgende Fall: Als unaufgefordert eine Zeugin bei der Spruchkammerauftrat und Professor Stromberger belastete – sie erklärte, er habe seine Professur nurwegen politischer Tätigkeit erhalten823–, fasste dies der Dekan als „schwerwiegende An-klage, die sich auch gegen die Hochschule richtet“ auf, und widerlegte im Namen der THDarmstadt die Aussagen der Frau.824Insbesondere bei den Verfahren vor den Berufungs-kammern, wo für eine Entlastung aktiver Widerstand nachgewiesen werden musste, kamder TH Darmstadt zugute, dass die Kammern keinesfalls Zeit und Personal für eine ge-nauere Überprüfung aufwenden konnten. Weil hier die Vorsitzenden zudem Juristen seinmussten, begegnete man sich sozial auf Augenhöhe. Inwieweit sich die betroffenen Pro-fessoren durch die als Widerstand angeführten Begebenheiten tatsächlich in Gefahrbrachten oder lediglich im Rahmen ihrer Möglichkeiten handelten, wurde zu keinem Zeit-punkt erörtert.

Zwar musste jeder Professor formal auf sich gestellt ein Entnazifizierungsverfahrenüber sich ergehen lassen, und das Ergebnis der Verfahren war von vielen einzelnen Fak-212 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren toren abhängig – persönliches Engagement, professioneller Rechtsbeistand825, individu-elles Auftreten, eigenes Netzwerk und Einfallsreichtum826–, jedoch lassen sich bei derAuswertung aller Darmstädter Verfahren eindeutig Hinweise dafür erbringen, dass es derTH Darmstadt gelang, positiv auf die Verfahren einzuwirken. Nicht zuletzt die Tatsache,dass die Berufungskammern es in mehr als zehn Fällen als erwiesen sahen, dass Profes-soren in ihrem Amt aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus ausgeübt hätten,zeigt dies.

Die Darmstädter Hochschulangehörigen traten nicht als Belastungszeugen in den Ver-fahren auf. Für jene Professoren, für die ein Interesse bestand, dass sie an die TH Darm-stadt zurückkehren sollten, setzten sie sich besonders ein, beim Rest, äußerte man sich imRahmen der Verfahren stets neutral, bzw. trat erst gar nicht auf. Selbst in der Verhandlungvon Professor Lieser fanden sich Professoren – mit der einzigen Ausnahme von ProfessorGruber –, die sich positiv zu seiner Person äußerten. Lediglich in einem einzigen Verfah-ren kam die TH Darmstadt mit ihrem Bestreben, vor den Spruch- und Berufungskammernvon sich das Bild einer vom NS nicht betroffenen Hochschule zu zeichnen, an ihre Gren-zen. Im Verfahren von Professor Brill kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Profes-sor Brill und dem ehemaligen Assistenten Heinz Krebs. Brill hatte den Assistenten Krebsim Zuge der Personaleinsparungen am Zintl-Institut – die Assistentenstellen wurden von14 auf drei gekürzt827– im Jahr 1946 gekündigt. Krebs behauptete daraufhin, Brill habeihn entlassen, da er keinen Persilschein für Brill schreiben wollte.828Dies hatte wiederumzur Folge, dass Brill Krebs wegen Beamtenbeleidigung anzeigte.829Infolge der Ausei-nandersetzungen ermittelte die Kriminalpolizei. Sie befragte Assistenten und KollegenBrills zu dessen Beziehungen zum SD und zur Gestapo. Einige der Befragten äußertensich durchaus kritisch über die Verhältnisse am Institut. Obwohl der Untersuchungsbe-amte zu dem Schluss kam, dass Brill während des Nationalsozialismus „als politisch äus-serst zuverlässig galt“, hatten die Ermittlungen keinerlei Auswirkungen auf das Ergebnisseiner Entnazifizierung.830Auch wenn hier ein völlig anderes Bild von der Atmosphäre 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 213eines Instituts während des „Dritten Reiches“ an der TH Darmstadt durchdrang, waren eswohl vor allen Dingen die umstrittenen Motive des Assistenten Krebs, die dazu führten,dass die Ermittlungen ins Leere liefen. Bezeichnend ist insbesondere, dass die Ereignissevon einem entlassenen Assistenten angestoßen wurden, also gewissermaßen von außenins Rollen kamen. Letztlich ausschlaggebend für das Fallenlassen der Ermittlungen wardas Gutachten des Chemieprofessors Carl Wagner. Dieser kam Brill zur Hilfe und ver-fasste eine vernichtende Stellungnahme über Krebs’ Eignung als Hochschullehrer.831

6.2.41951–1970er Jahre: Gezielte Integration der Darmstädter „131er“

Wie berichtet wurde der gesetzliche Abschluss der Entnazifizierung in Hessen 1949 ein-geleitet.832Mit dem „Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131des Grundgesetzes fallenden Personen“ vom Mai 1951 wurde die Versorgung von Ange-hörigen des öffentlichen Dienstes, die infolge von Wehrdienst, Vertreibung oder Entna-zifizierung ihre Stellung verloren hatten, geregelt. Dieser Personenkreis ging als die so-genannten „131er“ in die Geschichte ein.833Auf Artikel 131 folgte de facto nicht nur dasEnde der Entnazifizierung, es begann letztlich eine Revision der als falsch betrachtetenalliierten Maßnahmen.834Auch die Darmstädter Professoren standen, wie erläutert, einerpolitischen Überprüfung ablehnend gegenüber. Nicht zuletzt dies führte dazu, dass sie,trotz ganz unterschiedlicher politischer Vergangenheiten, den Spruchkammern gegenüberals geschlossene Gruppe auftraten. Selbst zwischen politisch weniger belasteten und ihreneher umstritteneren Kollegen bestand angesichts der für alle Professoren spürbaren Ge-fahr der Verletzung ihrer traditionellen Beamtenrechte – sowohl durch die Entnazifizie-rung als auch durch die hessischen Beamtengesetze – eine Solidaritätsgemeinschaft. Sokehrten die meisten der Darmstädter Professoren zwar bereits 1946/47 auf Wunsch ihrerFakultäten wieder auf ihre Lehrstühle zurück, trotzdem stellte die Entnazifizierung auchfür sie eine persönliche Zäsur dar: Durch die Entlassung aus politischen Gründen hatten214 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren sie ihren Status als „Beamter auf Lebenszeit“ verloren und galten aufgrund der hessischenGesetzeslage als „Beamte auf Widerruf“.835Erst mit dem gesetzlichen Abschluss der Ent-nazifizierung bestand die Möglichkeit, ihren ehemaligen Status zurückzuerlangen: Im Juli1951 wurden die Professoren Brecht, Neuhaus, Detig, Jayme, Klöppel, Kohlschütter,Mehmel, Reinhold, Scheubel, Schmieden, Schorn und Stromberger wieder zu „Beamtenauf Lebenszeit“ ernannt.836

Im Sinne eines Erhalts des Status quo, bzw. Rückerhalts des Status quos ante, vertei-digte die durchaus heterogene Gemeinschaft der Professoren, deren politische Vergan-genheit nicht unterschiedlicher sein konnte, sich als Ganzes. Dass man nach außen hin alsSolidaritätsgemeinschaft auftrat, schloss jedoch keinesfalls aus, dass die TH Darmstadtnach innen genau differenzierte: Nicht bei allen Professoren, bei denen nach 1951 durchArtikel 131 eine Wiedereinstellung möglich war, beantragte man diese. Auch bei der Al-tersversorgung behielt sich die Fakultät die Entscheidung vor, welchen ehemaligen Kol-legen die Emeritierung zustand und welchen nicht. Für eine weitere Gruppe – Personen,die seit 1945 noch nicht wieder eingestellt worden waren – hatte der Abschluss der Ent-nazifizierung, insbesondere das Gesetz zum Artikel 131 noch existenziellere Bedeutung.Von den 50 ursprünglich im Jahr 1945 zum Lehrkörper der TH Darmstadt zählendenaußerordentlichen und ordentlichen Professoren waren im Jahr 1951 weiterhin sieben,das entspricht einem Anteil von 14 Prozent des Lehrkörpers zum Kriegsende, aus politi-schen Gründen entlassen und nicht wieder auf ihre Lehrstühle zurückgekehrt. Dies warendie Professoren Eberhard, Geil, Hübener, Lieser, List, Stintzing und Voigt. Sie alle zähl-ten zur Gruppe der sogenannten „131er“. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass diesePersonengruppe keineswegs als homogen zu bezeichnen ist. Zum einen unterschiedensich die Gründe, warum sie weiterhin als entlassen galten sehr stark, damit auch zumanderen die Haltung der TH Darmstadt ihrer erneuten Verwendung gegenüber. Der THDarmstadt standen bei der Reintegration dieser ehemals entlassenen Professoren ver-schiedene Handlungsmöglichkeiten zur Auswahl. Für welche man sich entschied, hingmit unterschiedlichen Motiven zusammen, welche es im folgenden Abschnitt zu untersu-chen gilt. Diese Untersuchung lohnt sich nicht zuletzt deshalb, weil sich hier Rück-schlüsse darauf ziehen lassen, was die TH Darmstadt als politisches Fehlverhalten wäh-rend des Nationalsozialismus wertete, welches in ihren Augen eine Rückkehr in den Kreisder Professorenschaft nicht zuließ. Hier zeigte sich besonders, wie wichtig der Korpsgeistunter den Professoren war. Nur wer trotz seiner Entlassung weiterhin auf den Rückhalt 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 215seiner Kollegen zählen konnte, d. h. dass Fakultäten sich darum bemühten, die Lehrstühleihrer Kollegen freizuhalten, konnte auch gegen äußere Widerstände an die TH Darmstadtzurückkehren.

Solidarität mit Grenzen. Verhinderung einer Rückkehr durch die Fakultät, aber Einsatz für eine finanzielle Versorgung von Professor Stintzing

Wie wichtig der Rückhalt in der Professorenschaft war, zeigte sich im Fall des Extraor-dinarius für Röntgenphysik. Hugo Stintzing gehörte seit dem Jahr 1936 zum Lehrkörperder TH Darmstadt, 1943 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt. Zum Zeit-punkt seiner Entlassung war er damit erst vergleichsweise kurz ein Mitglied derDarmstädter Professorenschaft. Hinzu kam, dass sein Eintritt in die TH Darmstadt nichtauf „normalem“ Wege stattgefunden hatte: Stintzing war aufgrund landespolitischerSparmaßnahmen des Gauleiters Sprenger von der Universität Gießen an die TH Darm-stadt versetzt worden.837Die Darmstädter hatten nur deswegen dieser Maßnahme zuge-stimmt, da Sprenger das Fortbestehen der Professur für Röntgenphysik – der vorherigeInhaber der Professur, Paul Knipping, war 1935 plötzlich bei einem Motorradunfall umsLeben gekommen – von der Berufung Stintzings abhängig machte.838ParteipolitischeGründe waren damit zwar nicht für die Besetzung des Lehrstuhls verantwortlich, gleich-wohl stand Stintzing dem Nationalsozialismus alles andere als fern. Er war zum 1. Mai1933 in die NSDAP eingetreten und betätigte sich als Schulungsleiter im Range einesBlockleiters. Ebenfalls 1933 war er in die SA eingetreten, wo er bis zum Rottenführeraufstieg.839Im Jahr 1938 machte ihn die TH Darmstadt zum Dozentenbundführer.840Auf-grund seiner politischen Vergangenheit wurde er im Oktober 1945 entlassen. Währendseiner Entlassung traf die Fakultät für Mathematik und Physik eine für Stintzings Zukunftsehr folgenreiche Entscheidung: Sein Institut wurde nach Entscheidung des Senats demDirektor des Instituts für Technische Physik, Richard Vieweg, zur Verfügung gestellt.841Indem der Lehrstuhl für Röntgenphysik gleichzeitig der Fakultät für Chemie zugespro-chen wurde, stand bereits 1946 fest, dass Stintzing nicht wieder in sein Amt zurückkehrenkonnte. Als nach Abschluss seines Entnazifizierungsverfahren – er wurde 1948 in dieGruppe der Mitläufer eingestuft – seine Rückberufung theoretisch wieder möglich ge-worden war, berief sich die Fakultät dann auch kommentarlos darauf, dass er aufgrund216 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren der veränderte Sachlage nicht wieder an die TH Darmstadt zurückkehren könne.842Zurgleichen Zeit teilte die Fakultät dem Rektor mit, dass er in „einwandfreier Weise seinenLehrstuhl vertreten und wesentliche wissenschaftliche Erfolge“ habe verzeichnen kön-nen.843Statt eines Antrages auf Wiedereinstellung in sein vorheriges Amt als außeror-dentlicher Professor für Röntgenphysik stellte der Rektor dann beim Kultusministeriumeinen Antrag, ihm mit „möglichsten Wohlwollen“ eine Altersversorgung zu gewähren. Indem Antrag betonte er, dass die Hochschule es „als eine bittere Ungerechtigkeit empfin-den, wenn diesem Mann die Sicherung seines Lebensabends genommen würde, da er sichin den Jahren seiner Tätigkeit erhebliche Verdienste um die Wissenschaft und Hochschuleerworben hat“.844Obwohl man an der TH Darmstadt für Stintzing keine Verwendungmehr hatte, wollten seine Kollegen ihm offensichtlich eine würdevolle Verabschiedungaus dem Amt ermöglichen. Dies kann als Anzeichen darauf gewertet werden, dass er nichtaufgrund seines politischen Verhaltens während des „Dritten Reiches“ ausgeschiedenwar. Jede darüber hinaus gehende Zusammenarbeit mit Stintzing war jedoch für dieTH Darmstadt ausgeschlossen. So wehrte der Kleine Senat im Jahr 1952 Versuche Stint-zings ab, seine „ideellen Beziehungen“ zur Hochschule wieder aufzunehmen.845Stint-zing, der sich eigenen Angaben zufolge nach 1945 ein privates Röntgeninstitut aufgebauthatte, hatte um Fördermittel von den Freunden der TH Darmstadt gebeten. Der Senatreagierte darauf regelrecht alarmiert und legte sogleich fest, dass man ihn zwar unterstüt-zen wolle, er damit aber nicht als Hochschulmitglied zu betrachten sei. Ob Stintzing fi-nanzielle Unterstützung erhalten hat, geht aus den Unterlagen nicht hervor.846

Im Jahr 1954 stellte die Fakultät für Mathematik und Physik einen ersten Antrag,Stintzing zu emeritieren.847Es sollte jedoch bis 1958 dauern – das Ministerium gewährteje nach Etat pro Jahr nur eine gewisse Anzahl dieser Anträge – bis Stintzing die Rechts-stellung als entpflichteter Hochschullehrer zuerkannt wurde. Als Folge dessen wurdeStintzing nach seiner Entlassung im Oktober 1945 erstmals im Vorlesungsverzeichnis desJahres 1958/59 namentlich als Emeritus der TH Darmstadt genannt. Lehrveranstaltungenhielt er nicht wieder.848

6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 217 Widerstand der Amerikaner gegen die Rückberufung des Architekturprofessor Rudolf Geils und späte Wiederverwendung in anderer Arbeit

Der TH Darmstadt waren in ihrem Interesse, Professoren zurückzuberufen, Grenzen ge-setzt. So verhinderte die amerikanische Militärregierung die Bemühungen der Fakultätfür Architektur, den im Oktober 1945 aus seinem Amt entlassenen Rudolf Geil zurück-zuberufen. Geil war im November 1946 zum Mitläufer eingestuft worden. Das Ministe-rium für politische Befreiung forderte jedoch eine Überprüfung des Verfahrens, da es dasUrteil für zu milde hielt. Im Gegensatz zum Fall Stintzings wartete die Fakultät bis zumletzten Moment damit ab, Maßnahmen zu ergreifen, die eine Rückkehr Geils verhindernkönnten. Erst als die Militärregierung Ende 1947 seine Wiedereinstellung kategorischausschloss, beschloss der Kleine Senat, einen Nachfolger zu suchen, und eine Berufungs-kommission trat zusammen.849Im November 1948 kam Theodor Pabst aus München, so-dass Geil nach seiner Entnazifizierung nicht wieder auf seinen Lehrstuhl für Hochbau-konstruktion zurückkehren konnte. Warum die Amerikaner sich so vehement gegen GeilsWiedereinsetzung stark machten, ist in den Akten nicht überliefert.850Dass die Verzöge-rung des Verfahrens jedoch gegen den Willen der Fakultät und der Hochschule zustandekam, zeigten die folgenden Bemühungen, Geil als Hochschullehrer zu halten, zur Notauch über „Umwege“. Da in der Fakultät für Architektur keine Stellen zu besetzen waren,bekam Geil ab 1950 einen Lehrauftrag für Gestaltungsfragen bei Ingenieurbauten in derFakultät für Bauingenieurwesen.851Zwar war er erst 1940 an die TH Darmstadt berufenworden, trotzdem spürte die Fakultät für Architektur Geil gegenüber eine „moralischenVerpflichtung“.852Im Gegensatz zu Stintzing konnte Geil also auf den Rückhalt seinerKollegen zählen. Dies lag unter anderem daran, dass Geils Verbindungen zur TH Darm-stadt weiter zurückreichten: Er hatte bereits in Darmstadt bei Karl Roth studiert, konnteim Jahr 1940 als Wunschkandidat berufen werden und hatte einen Fürsprecher in KarlGruber. Dementsprechend engagiert fiel der Einsatz für eine Rückberufung Geils auf einOrdinariat aus. Dafür waren jedoch erst einige Jahre später die Voraussetzungen gegeben.Im Juni 1954 schlug die Fakultät für Architektur vor, mit der Unterstützung der Fakultätfür Bauingenieurwesen, Geil zum außerordentlichen Professor für „Technischen Ausbau“218 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren und „Baustoffkunde“ an der Fakultät für Architektur zu ernennen.853Dieser Antrag schei-terte jedoch aus hochschulpolitischen Gründen. Zunächst waren andere, dringlichereLehrstühle zu besetzen, außerdem stellte der Senat sich quer, der Fakultät für Architektureinen weiteren Lehrstuhl zuzubilligen.854Daraufhin bemühte sich die Fakultät für Bauin-genieurwesen für Geil einen neuen Lehrstuhl zu schaffen und beantragte eine auf ihnzugeschnittene k.w.-Professur.855Nachdem ein solcher Antrag ebenfalls scheiterte, ver-suchte ein Jahr später nun wieder die Fakultät für Architektur für Geil einen Lehrstuhleinzurichten. Im Juni 1955 beantragte die Fakultät ein Extraordinariat „Technischen Aus-bau und Baustoffkunde“. Um sicherzugehen, dass Geil tatsächlich den Lehrstuhl einneh-men könne, plante die Fakultät Geil „unico loco“ vorzuschlagen. Der Rektor lehnte je-doch ab, auf die Nennung weiterer Kandidaten zu verzichten856, sodass die Fakultät fürArchitektur schließlich im Juli 1955 eine Dreierliste mit Geil an erster Stelle vorlegte.857Aus Etatgründen wurden jedoch in den folgenden Jahren keine Extraordinariate bewilligt.Damit war erneut eine Rückberufung Geils gescheitert. Der Kleine Senat räumte Geildaraufhin einen Vorrang auf das nächste bewilligte Extraordinariat ein, was jedoch biszum Jahr 1958 dauern sollte.858Im Jahr 1962 wurde das Extraordinariat für „TechnischenAusbau und Baustoffkunde“ in eine ordentliche Professur umgewandelt. Damit hatteGeil, 17 Jahre nach seiner Entlassung im Zuge seiner Entnazifizierung, seine vorherigeRechtstellung als ordentlicher Professor der TH Darmstadt erneut inne. Er verstarb zehnTage nachdem er die Urkunde in der Hand halten konnte.

Verlust der Emeritierung. Aktives Eintreten für Friedrich Hübener und passives Hinnehmen bei Heinz Voigt

Wie gezielt die TH Darmstadt die Integration der einzelnen Professoren steuerte, zeigtdie unterschiedliche Verhaltensweise der TH Darmstadt in den Personalangelegenheitender Professoren Hübener und Voigt. Beide waren seit Oktober 1945 aus politischen Grün-den entlassen worden und erreichten während ihrer Entlassung das 65. Lebensjahr. DieseSituation machte ihre Emeritierung schier unmöglich, da zuvor eine Wiedereinsetzung 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 219ins Amt erfolgen musste.859Im Fall von Friedrich Hübener, seit 1930 ordentlicher Pro-fessor für Maschinenbau, setzte sich die TH Darmstadt in der Folgezeit vehement fürdessen Wiederberufung ein. Bei dem ebenfalls 1930 an die TH Darmstadt berufenen Or-dinarius für Wärmetechnik, Heinz Voigt, engagierte sie sich nicht.

Wie aus den Akten hervorgeht, stellten sich die früheren Kollegen in einer einzigarti-gen Aktion geschlossen hinter Hübener. Zum einen hielten sie seinen Lehrstuhl insgesamtsieben Jahre frei, zum anderen bemühten sie sich besonders engagiert für seine Wieder-einsetzung ins Amt. So beantragte im Jahr 1949 der Rektor der TH Darmstadt, unterstütztdurch die Fakultät für Maschinenbau und alle Darmstädter Professoren, die zwischen1934 und 1937 Abteilungsleiter gewesen waren, die Wiedereinstellung Hübeners.860Daer seinerzeit in der Hauptsache wegen seines zwischen September 1934 und August 1937ausgeführten Rektorates entlassen worden war, versuchte die Hochschule, durch Erläute-rungen über seine Amtszeit, die Unbedenklichkeit Hübeners unter Beweis zu stellen. Soverfassten die ehemaligen Abteilungsleiter Brecht, Busch, Graf, Gruber, Schmieden,Schöpf und Walther ein gemeinsames Schreiben über seine Amtsführung.861Darin hießes, Hübener habe als „treuer Hüter des wissenschaftlichen Hochschulgeistes“ die THDarmstadt vor unsachlichen Eingriffen bewahrt. Weiter hieß es: „Die unterzeichnetenProfessoren empfinden es als besonders schmerzlich, dass ein Mann schwere Nachteileerlitten hat und noch erleidet dafür, dass er von der Hochschule als ausgesprochener Op-positionsrektor gegen den Nationalsozialismus vorgeschlagen worden ist und sein Amtim Geiste dieser Opposition geführt hat. Wenn die Hochschule unter dem Nationalsozia-lismus wissenschaftliches Ansehen und wissenschaftlichen Geist bewahren konnte, sodankt sie das nicht zuletzt der Tatsache, dass in entscheidenden Jahren an ihrer SpitzeRektor Hübener stand.“ In den Augen der Professoren hatte Hübener sich also mit derÜbernahme des Rektorates und des Prorektorates während des „Dritten Reiches“ beson-ders für die TH Darmstadt verdient gemacht, und man war der Meinung, dass ihm darausin der Nachkriegszeit kein Nachteil entstehen sollte.

Da Hübener jedoch als Mitläufer eingestuft worden war, bedurfte es für seine Wie-dereinstellung einer Ausnahmegenehmigung durch den Minister für politische Befreiung.Dafür war wiederum die Bestätigung des Kultusministeriums notwendig, dass Hübenerfür die Lehre in dem betreffenden Fach unbedingt erforderlich sei. Das Kultusministeriumwollte diese Bestätigung jedoch nicht unterzeichnen, nicht wegen politischer Bedenken,220 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren sondern da Hübener bereits 66 Jahre alt war.862Auch das LPA, das dem Antrag ebenfallszustimmen musste, hatte „starke Bedenken“ gegen eine Wiedereinstellung Hübeners, dadieser von der amerikanischen Militärregierung aus politischen Gründen entlassen wor-den war. Außerdem befürchtete man, damit einen Präzedenzfall für andere Professorenzu schaffen.863Kultusminister Stein zeigte letztlich Verständnis für das Anliegen derTH Darmstadt und war bereit, Hübener auf eine andere Art zu seiner Emeritierung zuverhelfen864: Hübener wurde im Jahr 1950 ein Lehrauftrag über die vollständigen Dienst-geschäfte seines ehemaligen Lehrstuhls erteilt865und im Jahr 1952 schließlich untergleichzeitiger Berufung in das Beamtenverhältnis in den Ruhestand versetzt und damitemeritiert.866

Der Vergleich des Eintretens für Hübener mit dem Verhalten der TH Darmstadt indem sehr ähnlichen Fall von Professor Voigt zeigt, wie wichtig die Solidarität der Profes-soren für die Betroffenen war. Nachdem Voigt zum Mitläufer eingestuft worden war,stellte die Fakultät für Maschinenbau zwar auch für ihn im November 1948 einen Antragauf Wiedereinstellung, die amerikanische Militärregierung lehnte diesen jedoch ab.867Warum Voigt – dieser war Mitglied der SA von 1933 und Parteimitglied von 1937, wasin anderen Fällen kein Problem darstellte – abgelehnt wurde, ist unklar. Allem Anscheinnach, ging die Entscheidung unmittelbar auf den Universitätsoffizier zurück.868Die TH-Leitung bescheinigte Voigt „in seinem Amt als Professor keine aktivistische Haltung ein-genommen“ zu haben.869Da Voigt aus politischen Gründen entlassen war, standen ihmmit dem Erreichen der Altersgrenze Ruhestandsgelder nicht zu, lediglich Unterhaltkonnte Voigt beziehen. Aufgrund dessen wurde, wie berichtet, eine Neuberufung Voigtsnotwendig. Diese lehnte jedoch das hessische Kabinett ab, da die Militärregierung ihn für 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 221die Lehre nicht zulassen wollte.870Damit eine Emeritierung nicht scheitern würde, batVoigt den Rektor, die Neubesetzung seines Lehrstuhles nicht voranzutreiben.871Im Ge-gensatz zum Fall Hübeners wollte die Fakultät jedoch nicht für Voigts volle Wiederher-stellung in Kauf nehmen, den Lehrstuhl freizuhalten. Sie hatte in Kurt Jaroschek bereitseinen möglichen Nachfolger gefunden. Seine Berufung erfolgte am 15. März 1951.872Dadie Neubesetzung seines ehemaligen Lehrstuhls seine Wiederberufung und damit auchdie Emeritierung unmöglich machte, fühlte sich Voigt „ideell und materiell so benachtei-ligt“, dass es in seinen Augen einer „Bestrafung“ gleichkam.873Insbesondere vor seinenFachkollegen schämte er sich eigenen Aussagen nach so sehr für den Makel einer Nichte-meritierung, dass er es vermied, ihnen über den Weg zu laufen.874Eine im Oktober 1951von Voigt eingereichte Anfechtungsklage gegen die Pensionierung wies das Kultusmi-nisterium zurück. Voigt sah sich insbesondere im Vergleich zu Hübener sehr zurückge-setzt: „Ich empfinde die Versagung der Emeritierung gerade wegen der in mir naheste-henden Kreisen bekannt gewordenen Emeritierung meines Herrn Kollegen Hübener alseine ganz außerordentliche Zurücksetzung und Diffamierung meiner Person, die ich lei-der immer wieder bei Veranstaltungen in der Fachwelt zu spüren bekomme. [...] Ich brau-che nicht zu erwähnen, daß ich ebenso wie die Meinen unter diesen Verhältnissen unsag-bar leide.“875Gleichwohl der Rektor Voigt gegenüber versicherte, dass man so viel un-ternehme, „dass wir dem Wiesbadener Ministerium schon lästig fallen“, setzte sich dieTH Darmstadt gegenüber der amerikanischen Militärregierung, die letztendlich für dasScheitern verantwortlich war, nicht für Voigt ein.876Obwohl der Rektor Voigt im Rahmender Entnazifizierung keine übermäßige politische Betätigung an der Hochschule beschei-nigt hatte, sah man keinen Grund, alle Hebel in Bewegung zu setzen. Offensichtlichwollte die TH Darmstadt, da die Militärregierung Voigt für streitbar hielt, nicht riskieren,dagegen zu sprechen. Erst als allein das Kultusministerium für die Entscheidung zustän-dig war, setzte sich die Hochschule wieder für Voigt ein. So berief man ihn zwar imGegensatz zu Professor Hübener nicht wieder auf seinen Lehrstuhl zurück, jedoch er-langte er mit Urkunde vom 11. November 1954 – nicht zuletzt hatte dies der Ausgang desFalles von Hübener möglich gemacht – den Status eines emeritierten Professors. Damit222 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren verbunden war auch, dass er von diesem Zeitpunkt an wieder im Vorlesungsverzeichnisauftauchte. Voigt ließ es sich dann auch tatsächlich nicht nehmen, nach fast zehnjährigererzwungener Pause seit dem Sommersemester 1955 auch wieder eine Veranstaltung proSemester anzubieten.877

Integration ohne Lehrstuhl. Das Beispiel von Professor Eberhard

Ebenfalls unter den „Artikel 131“ fiel der ehemalige außerordentliche Professor für Phar-mazeutische Chemie August Eberhard. Dieser vertrat seit 1920 das Fach Pharmazie inder Fakultät für Chemie, bevor es im Jahr 1939 an der TH Darmstadt eingestellt wurde.Eberhard blieb trotz dieser Streichung weiterhin Hochschulprofessor und Mitglied derTH Darmstadt, bis 1945 bot er einzelne Veranstaltungen an.878Mit seiner Entlassung auspolitischen Gründen am 31. Oktober 1945 schied Eberhard aus dem Lehrkörper aus. Dasein Fachgebiet an der TH Darmstadt bereits seit Längerem nicht mehr existierte, war mitder Entlassung im Gegensatz zu seinen Kollegen von vornherein das definitive EndeEberhards an der TH Darmstadt besiegelt. Im Jahr 1950 wurde er unter Berufung in dasBeamtenverhältnis „auf Widerruf“ Oberapotheker der klinischen Anstalten Gießen.879Obwohl er nach 1945 eine anderweitige Tätigkeit antrat, zählte Eberhard als ehemaligerHochschulprofessor zur Gruppe der „131er“ und wurde im Juni 1958 an der TH Darm-stadt emeritiert. Damit verbunden war, dass er ab diesem Zeitpunkt wieder im Personal-und Vorlesungsverzeichnis stand und zu seiner Überraschung sogar wieder zu Fakultäts-sitzungen eingeladen wurde.880

Ausschluss von Karl Lieser und Friedrich List aus dem Lehrkörper wegen NS- Engagements

Nur zwei Professoren wurden nach 1945 bewusst nicht wieder in den Lehrkörper aufge-nommen: die nun schon mehrfach genannten Professoren Lieser und List. Sie tauchten,obwohl sie später eine Emeritierung erhalten sollten, nach 1945 zu keinem Zeitpunkt wie-der im Vorlesungsverzeichnis auf, waren also demnach nicht wieder in den Lehrkörperder TH Darmstadt aufgenommen worden. Bei beiden ist dies auf ihre Rolle während des 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 223„Dritten Reiches“ zurückzuführen.881List und Lieser konnten durch politisches Engage-ment für den Nationalsozialismus ihre Stellungen an der TH Darmstadt verbessern. Liesergelang mithilfe der Partei und der Protektion durch Gauleiter Sprenger eine Blitzkarrierevom Privatdozenten zum Rektor der Hochschule, List schaffte es immerhin bis zum or-dentlichen Professor. Um ihre Karrieren voranzutreiben, ignorierten sowohl List als auchLieser etablierte akademische Formen, denn beide wandten sich als nationalsozialistischeNachwuchskräfte gezielt gegen die etablierten Ordinarien. Beide verfassten im Jahr 1933Denkschriften über ihre Fakultäten, aufgrund der Lieser’schen Denkschrift kam es sogarzu Entlassungen von Professoren. Während sich, wie bereits beschrieben, DarmstädterProfessoren bereit fanden, über Liesers Amtszeit als Rektor positiv in seinem Entnazifi-zierungsverfahren auszusagen, trat im Verfahren von List kein einziger Darmstädter Pro-fessor auf, weder mit dem Verfassen von Persilscheinen noch als Zeuge in der mündli-chen Verhandlung. Doch auch wenn die TH Darmstadt vor der Spruchkammer in denFällen List und Lieser unterschiedlich auftrat, schloss sie aufgrund ihres Verhaltens wäh-rend des Nationalsozialismus für beide eine Rückkehr an die Hochschule aus. Ihnenwurde unkollegiales Verhalten während des Nationalsozialismus vorgehalten, das in derNachkriegszeit als einzig wirklich relevantes Kriterium nationalsozialistischer Gesinnunggalt. Dahinter stand eine Strategie der vergangenheitspolitischen Selbstplatzierung.882Das Darmstädter Beispiel stellt hier keine Ausnahme dar, vielmehr lässt sich dieses Vor-gehen, ob bewusst oder unbewusst, einordnen in die akademische Vergangenheitspolitikim Nachkriegsdeutschland insgesamt.883Die Tendenz, einige wenige „echte Nationalso-zialisten“ unter den Professoren gewissermaßen als schwarze Schafe zu definieren, exis-tierte in Darmstadt wie überall. Auch die Kriterien, wer dazu zählte, ähnelten sich oft. Sostellte Oliver Schael in seiner Studie über die Grenzen der akademischen Vergangenheits-politik fest: Wessen Aufstieg statt auf fachlicher Qualifikation nur auf nationalsozialisti-scher Gesinnung und Parteiunterstützung basierte, konnte in der Nachkriegszeit nicht mitKollegialität rechnen, auch nicht, wenn er sonst „anständig“ geblieben war. Als „unan-ständig“ zählten darüber hinaus jene Personen, die gegen ungeschriebene Standesregelnverstoßen hatten – dazu zählten insbesondere Denunziationen – und deren Verhalten vonfehlenden menschlichen Qualitäten geprägt war.884

224 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren

Lieser wurde am 7. September 1945 als erster Darmstädter Professor aus politischenGründen entlassen. Sein Lehrstuhl war zu diesem Zeitpunkt bereits neu vergeben. Schonim Juli 1945, als die einmalige Chance bestanden hatte, den weltbekannten ArchitektenErnst Neufert an die TH Darmstadt zu berufen, war Liesers Zukunft an der Hochschulebesiegelt worden. Da zu diesem Zeitpunkt jedoch kein Lehrstuhl zur Verfügung stand,beschloss man kurzerhand, Neufert auf den Lehrstuhl von Lieser zu berufen, da dieser„voraussichtlich frei werden würde“.885Lieser schied damit aus dem Lehrkörper aus.Nach seiner Einstufung als Mitläufer im Jahr 1948 unternahm er keinen Versuch, dieFakultät dazu zu bringen, seine Wiederernennung beim Ministerium zu beantragen.Wieso Lieser dies unterließ, geht aus den Akten nicht hervor. Möglicherweise hatte erkein Interesse, an die TH Darmstadt zurückzukehren – er erhielt eine Pension und betä-tigte sich als selbstständiger Architekt886–, oder er war sich darüber im Klaren, dass einsolcher Antrag von seinen ehemaligen Kollegen höchstwahrscheinlich abgelehnt werdenwürde. Auch die Fakultät stellte keinen Antrag auf Wiedereinsetzung Liesers. Erst im Juli1952 nahm Lieser den Kontakt zur TH Darmstadt wieder auf, als er die Hochschule dar-über informierte, dass er seine Ansprüche als „131er“ geltend machen wolle.887Lieserging es jedoch weiterhin nicht darum, seinen alten Lehrstuhl zurückzuerhalten, mit demAntrag wollte er vielmehr eine Grundlage für seine spätere Emeritierung schaffen.888ImDezember 1952 erkannte das Ministerium Lieser als „131er“ an, jedoch war nach Para-graph 7 des Artikels 131 vor der Berechnung seiner Versorgungsbezüge und der Frage,ob ihm eine Emeritierung zustehe, zu klären, ob seine Ernennung oder Beförderung vor1945 beamtenrechtlichen Vorschriften widersprochen hatte, bzw. wegen enger Verbin-dung zum Nationalsozialismus vorgenommen worden war.889Mit dieser Frage beschäf-tigte sich die TH Darmstadt zum ersten Mal im Jahr 1955 nach einem erneuten AntragLiesers im Jahr 1954.890Die Fakultät für Architektur sah es aufgrund seiner Verbindungzum damaligen Gauleiter und Reichstatthalter Sprenger als erwiesen an, dass Liesers Er-nennung zum außerordentlichen Professor im Februar 1937 und zum ordentlichen Pro-fessor im Februar 1938 als dessen Vertrauensmann erfolgte. Grundlage für diese Ent-scheidung war ein Gutachten, das der Architekturprofessor Karl Gruber auf Anfrage des 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 225Dekans der Fakultät schrieb.891Damit ruhte die Angelegenheit für drei Jahre. Im Jahr1958 bemühte sich Lieser, zunächst auf informellem Weg über Professor Klöppel, spätermit einem offiziellen Antrag beim Verwaltungsdirektor, erneut um die Klärung derFrage.892Sowohl der Rektor der TH Darmstadt als auch Verwaltungsdirektor Völger unddie Fakultät für Architektur legten gegenüber dem Kultusministerium Stellungnahmen zuLiesers TH-Karriere ab, die teilweise sehr unterschiedlich ausfielen. Der seit 1957 amtie-rende Rektor Curt Schmieden, erst 1937 an die TH Darmstadt berufen, war nun geneigt,dem Antrag Liesers zuzustimmen.893Die Fakultät für Architektur, der mit den Professo-ren Schorn, Gruber und Geibel weiterhin Professoren angehörten, die Liesers Karrierewährend des „Dritten Reiches“ miterlebt hatten, blieb jedoch bei ihrer früheren Stellung-nahme. Sie teilte dem Rektor mit, dass „zweifellos die Berufung von Herrn Prof. Dr.-Ing.Karl Lieser zum ao. Professor und zum o. Professor in enger Verbindung zum National-sozialismus, sogar unter Druck von dieser Seite, erfolgt ist“.894Verwaltungsdirektor Völ-ger schloss sich der Stellungnahme der Fakultät an.895Da mithilfe der Akten und anhandder Stellungnahmen kein eindeutiges Urteil möglich war, ließ das Kultusministerium denAntrag Liesers zunächst offen.896Dieser zeigte sich außerordentlich beharrlich und for-226 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren derte in regelmäßigen Abständen die Klärung seines Status und beantragte die Berech-nung seiner Versorgungsbezüge.897Zweimal, im Jahr 1961 und 1970, drohte Lieser derTH Darmstadt auch mit rechtlichen Schritten.898Zwischenzeitlich war man bundesweitzu einer kulanteren Handhabung zugunsten der betroffenen Hochschulbeamten überge-gangen. Der auch in Liesers Fall entscheidende Paragraph 7 sollte nur noch zur Anwen-dung kommen, wenn die enge Verbindung zum Nationalsozialismus „ausschließlichesoder überwiegendes Motiv der Ernennung oder Beförderung“ war.899Trotz dieser Ent-wicklungen hielt die Darmstädter Fakultät für Architektur auch im Jahr 1961 unter DekanGuther an ihrer bisherigen Stellungnahme zu Lieser fest.900Der Direktor des Landesper-sonalamtes dagegen entschied im August 1962, „allerdings unter Zurückstellung erhebli-cher Bedenken“, dass Liesers Karriere nicht allein auf seine Verbindung zum National-sozialismus zurückgeführt werden könne.901Damit war zwar Liesers umstrittener Statusgeklärt, der Berechnung seiner Versorgungsbezüge stand nun nichts mehr im Wege, aberüber die Frage der Emeritierung hatte weiter allein die Fakultät für Architektur zu ent-scheiden. Auch hier konnte Lieser von der schrittweise erfolgten Lockerung der Gesetz-gebung profitieren. Durch einen Erlass des Kultusministeriums aus dem Jahr 1958 war esmöglich, nicht wiederverwendeten Hochschullehrern, die unter Artikel 131 fielen, Eme-ritierungsbezüge zu gewähren, ohne dass diese damit gleichzeitig den Status eines ent-pflichteten Hochschullehrers zurückerhielten, und damit wieder in den Lehrkörper derFakultät aufgenommen werden mussten.902Mit Erreichen seines 68. Lebensjahrs bean-tragte Lieser erstmals seine Emeritierung bei der Hochschulleitung der TH Darmstadt.903In stichwortartigen Ausführungen berichtete er seine Sichtweise der Ereignisse währenddes Nationalsozialismus. Auch hier konnte Lieser von der vorangeschrittenen Zeit profi-tieren. Rund drei Jahrzehnte nach dem Ende des „Dritten Reiches“ war der Kreis jenerKollegen, die noch über die Verhältnisse hätten berichten können, sehr überschaubar, deramtierende Rektor Dietrich Schultz war Jahrgang 1928 und erst im Jahr 1962 an die THDarmstadt berufen worden.

6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 227

Lieser nutzte die Gunst der Stunde und präsentierte eine sehr geschönte Version seinerKarriere. Zum einen erklärte er, nur aufgrund fachlicher Qualifikationen berufen wordenzu sein und behauptete, Gauleiter Sprenger erst 1934 im Zuge seiner Ernennung zumKanzler kennengelernt zu haben. Auch seine Ernennung zum Rektor gab er nicht ganzder Wahrheit entsprechend wieder: Lieser behauptete, ohne Einfluss der Partei, stattdes-sen von seinen Kollegen gewählt worden zu sein.904

Die Fakultät hielt zunächst weiterhin an ihrem bisherigen Standpunkt fest und lehnteeine Emeritierung Liesers ab.905Im Juli 1970 schließlich, nachdem Lieser einen weiterenAntrag geschrieben hatte und die Fakultät über die Möglichkeit einer Emeritierung ohneZugehörigkeit zum Lehrkörper informiert worden war, resignierte sie infolge der gezeig-ten Beharrlichkeit. Sie legte die Entscheidung in die Hände der Verwaltung der TH Darm-stadt und des Kultusministeriums.906Auf diese Weise erhielt Lieser nach einem fast30-jährigen Verhandlungsprozess, an dem im Laufe der Zeit die verschiedensten Perso-nen beteiligt gewesen waren – die letzten Zeitzeugen in der Fakultät waren mittlerweileverstorben907–, schließlich im Jahr 1971 ruhegehaltsfähige Dienstbezüge in Höhe derEmeritierungsbezüge. Gleichzeitig wurde Lieser mitgeteilt, dass ihm damit nicht dieRechtstellung eines entpflichteten Hochschullehrers des Landes Hessen zuerkanntwurde.908

Nicht nur war Lieser außerordentlich beharrlich und wurde allem Anschein nach sehrgut rechtlich beraten, ausschlaggebend war wohl die Tatsache, dass das Kultusministe-rium sich aufgrund der Aktenlage und der vorangeschrittenen Zeit letztlich einzig undallein auf Liesers Auskünfte bezog. Lieser nutzte die Gunst der Stunde, in persönlichenUnterredungen mit dem Referenten und durch eine schriftliche Darstellung, seine Inter-pretation der Vergangenheit in die Akten eingehen zu lassen, die ihm von den beteiligten228 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren Verwaltungsbeamten, trotz der aktenkundig gewordenen widersprüchlichen Lage, offen-sichtlich geglaubt wurde.909Noch am gleichen Tag, an dem Lieser dem Kultusministe-rium ein Schriftstück „Mitteilung aus der Erinnerung über die Denkschrift“ zukommenließ, in dem er seine Interpretation der Ereignisse aus dem Jahr 1933 kundtat, sah dasKultusministerium keine Gründe, Lieser die Emeritierung nicht zuzugestehen.910

In seiner schriftlichen Darstellung legte er seine Sichtweise auf die Entstehung undseine Beteiligung an der Denkschrift nieder, die den übermittelten Quellen teilweise wi-dersprach und seine Beteiligung an den Wirkungen der Denkschrift erheblich minimierte.So stellte er gleich zu Beginn fest, dass die Denkschrift nicht den Namen „Lieser’scheDenkschrift“ verdiene, da er nur von studentischer Seite um Mitwirkung gebeten wordensei und auch an anderen Fakultäten ähnliche Schriften verfasst worden seien. Der Grundseiner Beteiligung an der Denkschrift sei lediglich der Versuch gewesen „eine Besserungder Lehre“ zu erwirken, insbesondere was die Überalterung des Lehrkörpers und Fehlbe-rufungen von pädagogisch nicht fähigen Professoren anging. Als Beweise für seine Dar-stellung führte Lieser völlig zusammenhangslos Passagen eines im Rahmen seiner Ent-nazifizierung von Walther ausgestellten Persilscheins an.911Da dies in Walthers Aussage„mit keinem Wort erwähnt“ sei, behauptete Lieser schließlich sogar: „Unmittelbar nach-teilige Folgen für irgendwelche Personen haben sich aus der Denkschrift nicht ergeben,insbesondere keine Entlassungen“.912Lieser leugnete demnach, dass infolge der Denk-schrift überhaupt Professoren entlassen worden waren, was de facto gelogen war.913Erbehauptete, dass erst „viel später“ und „als Folge einer alle Hochschulen erfassenden‚Säuberung‘ innerhalb fast aller Abteilungen“ Professoren entlassen worden seien. Dieshabe jedoch, so Lieser, nicht die Fakultät für Architektur betroffen – was erneut nicht den 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 229Tatsachen entsprach. Nicht zuletzt aufgrund dieser unwahren Darstellung gestand ihmdas Kultusministerium im April 1971 das Recht auf Emeritierung zu. Wie sich nach sei-nem Tod herausstellen sollte, hatte Lieser sogar, aufgrund eines Versehens der ausfüh-renden Behörde weiterhin Anpassungszuschläge sowie einen Erhöhungszuschlag erhal-ten, der ihm ursprünglich nicht zugestanden hätte, wodurch sein Ruhegehalt sogar nochhöher ausfiel, als die ihm ehemals ausgezahlten Dienstbezüge.914

Der Umgang der TH Darmstadt mit Friedrich List nach 1945

Auch wenn List, Jahrgang 1887, einer anderen Generation als Lieser entstammte, zudemsein Studium und zumindest Teile seiner akademischen Ausbildung nicht an der THDarmstadt durchlaufen hatte,915zeigt der Verlauf seiner Karriere an der TH Darmstadtdeutliche Gemeinsamkeiten mit dem von Karl Lieser. Bereits während seines Studiumsarbeitete List als Bibliothekar, diese Funktion übte er seit 1924 auch an der TechnischenHochschule aus. Hier erhielt er 1926 eine Lehrbefugnis für Bibliothekswissenschaftenund Bibliotheksrecht und habilitierte sich 1931.916Obwohl List im Jahr 1933 bereits46 Jahre alt war und an der TH Darmstadt mit Bibliothekswissenschaften ein sehr rand-ständiges Gebiet vertrat,917gelang es ihm im Verlauf des „Dritten Reichs“, seine Karriereenorm voranzutreiben. Im Jahr 1943 war List am Ziel angekommen: Er wurde ordentli-cher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, Verkehrsrecht und Recht der Technikan der TH Darmstadt. Nicht nur hatte er es damit vermocht, in eine Planstelle einzurü-cken, er erschloss sich mit dem Recht der Technik zudem ein neues, prominenteres Wir-kungsfeld auf dem Gebiet der Lehre.918

Ähnlich wie Liesers war Lists Karriere an der TH Darmstadt von einem spürbar nati-onalsozialistischen Engagement begleitet. Wie Lieser engagierte er sich nach 1933 in der„Nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft“, deren Ziel es war, die Hochschule vonpolitisch missliebigen Professoren zu befreien und „im nationalsozialistischen Sinn“ um-zugestalten. Ebenso wie Lieser war auch List an einer Denkschrift über seine Abteilung,die Abteilung für Kultur- und Staatswissenschaften, beteiligt.919Auch die Mitgliedschaf-ten in NS-Organisationen weisen Ähnlichkeiten auf. List gehörte der NSDAP seit 1. Mai230 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren 1933 an, seit 1934 war er Blockleiter, bekleidete von 1934 bis 1937 das Amt des Stell-vertretenden Führers der Dozentenschaft hinter Lieser, und von 1941 bis 1943 war er NS-Dozentenbundführer. Im Gegensatz zu Lieser, der sich in seinem späteren Amt als Rektorweitgehend den akademischen Traditionen verpflichtet fühlte, wirkte sich Lists parteipo-litisches Engagement darüber hinaus auch auf sein Verhalten an der TH Darmstadt aus.Als Dozentenbundführer äußerte er sich negativ in Gutachten über die AltordinarienBusch, Thum, Hübener und Vieweg.920List schreckte außerdem auch als Einziger derDarmstädter Professoren vor einer Zusammenarbeit mit dem Sicherheitsdienst der SSnicht zurück.921Dieses Engagement führte nicht nur dazu, dass sich die TH Darmstadtaus der Entnazifizierung von Professor List vollkommen heraushielt, darüber hinauszeigte sie kein Interesse daran, ihn nach 1945 wieder in sein Amt einzusetzen.

Genau wie Lieser stellte List zu keinem Zeitpunkt einen Antrag, auf seinen Lehrstuhlzurückberufen zu werden. In der Nachkriegszeit hielt er sich zunächst von der Hochschulefern, er ließ sich krankmelden.922Infolgedessen kam es zu einer verzögerten Abgabe sei-nes Fragebogens – die anderen Professoren reichten diesen im Juli ein, List erst im De-zember 1945 –, was zur Folge hatte, dass List erst im Februar 1946 und damit im Ver-gleich zu den anderen spät entlassen wurde. Nach seiner Entlassung betätigte sich Listfreiwillig als niederer Büroangestellter bei der Firma Josef Horuh und Co. in Darm-stadt.923Er erhielt keinerlei Unterhaltszahlungen. Eigenen Aussagen zufolge brachte ihndies in wirtschaftliche Not, und er bat die TH Darmstadt um finanzielle Hilfe.924DieTH Darmstadt kam diesem Antrag nicht nach. Erst nach seinem beendeten Spruchkam-merverfahren im Jahr 1949 erhielt List einen Unterhaltsbeitrag von zunächst 268,44 DM,später aufgrund des Entschädigungsgesetzes die vollen Bezüge von 561,25 DM.925Nachseiner Entnazifizierung stellte die Fakultät keinen Antrag auf Wiederernennung Lists.Auch List selber versuchte erst gar nicht wieder auf seinen Lehrstuhl zurückzukehren; erhatte im Gegensatz zum verhältnismäßig jungen Lieser 1949 schon das 62. Lebensjahrerreicht. Über seinen Anwalt bemühte sich List stattdessen darum, die vollen Ansprüche 6.2 Die Entnazifizierung der Professoren der TH Darmstadt 231auf Altersversorgung geltend zu machen.926Im Oktober 1952 wurde List als „131er“ an-erkannt. Da ihm jedoch eine Emeritierung weiterhin verwehrt blieb, begann List – ähnlichvehement wie sein Leidensgenosse Lieser, nur mit anderen Mitteln – um eine Besserstel-lung seiner Versorgung zu kämpfen. Im Unterschied zu Lieser scheute er dabei nicht da-vor zurück, auch in die Öffentlichkeit zu gehen. List schloss sich einer medienwirksamenOrganisation an, die sich für die Interessen der nicht wieder eingestellten „131er“-Profes-soren einsetzte, dem von Herbert Grabert gegründeten „Verband nicht-amtierender (amts-verdrängter) Hochschullehrer“ (VNAH).927Gemeinsam mit einer Gruppe von 20 anderenHochschullehrern reichte List im Jahr 1953 beim Bundesverfassungsgericht in KarlsruheKlage ein. Es ist davon auszugehen, dass ein solches Vorgehen bei seinen DarmstädterKollegen auf Unmut stieß und nicht zu einer Beschleunigung seiner Bemühungen führte.Nachdem die Angelegenheit einige Jahre geruht hatte, bemühte sich List ab 1956 mitUnterstützung durch seinen Frankfurter Kollegen Professor Giese und einem ehemaligenSchüler, bei der TH Darmstadt und dem Ministerium in Wiesbaden die Umwandlungseiner Pensionierung in eine Emeritierung zu erwirken.928Um seine Chancen zu erhöhen,zeigte er sich sogar bereit, auf das Recht, Vorlesungen zu halten, verzichten zu wollen.929Wiederholt beschäftigte sich die Fakultät für Staats- und Kulturwissenschaften mit seinenAnträgen, sah sich jedoch außerstande, dazu positiv Stellung zu nehmen.930Die Fakultätbegründete dies damit, dass seine Wiedereinstellung zu Unfrieden und Schwierigkeiteninnerhalb des Lehrkörpers führen würde:

„Herr Prof. List hat sich in den Jahren nach 1933 durch sein aktives Eintretenfür den Nationalsozialismus im Kreise seiner Kollegen in einem solchen Maßemissliebig gemacht, dass seine Emeritierung, d. h. seine Wiederaufnahme inden Kreis der Kollegen und in den Verband seiner Fakultät, von den Professo-ren der Technischen Hochschule Darmstadt abgelehnt wird.“931

232 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren List reichte daraufhin Widerspruch gegen die Entscheidung ein und erhob schließlich imJahr 1962 Anklage vor dem Verwaltungsgericht Darmstadt.932Diese Situation eines be-vorstehenden Verfahrens und was eventuell dazu führen könnte, über die Gründe, wes-halb Lists Antrag abgewehrt wurde – de facto also über Ereignisse an der TH Darmstadtwährend des „Dritten Reiches“ – vor Gericht aussagen zu müssen, missfiel den Professo-ren. Die Fakultät entschied, „damit diejenigen Kollegen, die dann belastende Aussagenzu machen hätten, Angriffe und ähnliche Schwierigkeiten erspart bleiben“, erst dann aus-zusagen, wenn ein „ungünstiger Verlauf des Verfahrens drohe“.933Bevor die Klage je-doch weitere, unangenehme Kreise ziehen konnte, entschied sich die Fakultät nun einzu-lenken und machte von der Möglichkeit Gebrauch, List die Emeritenbezüge zu gewähren,ohne dass sich damit sein Status bezüglich der TH Darmstadt veränderte.934Im Gegensatzzu Lieser, der wesentlich jünger war als List, konnte der Jurist jedoch nur noch drei Jahre,bis zu seinem Tod im Jahr 1965, davon profitieren.

6.3Bilanz der Entnazifizierung der Darmstädter Professoren

Die TH Darmstadt hatte es vermocht, die Entnazifizierung der Professoren in ihrem Sinnezu beeinflussen. Ergebnis dessen war, dass der Großteil der entlassenen Professoren be-reits 1946, spätestens jedoch 1947/1948 wieder auf seine Lehrstühle zurückkehrenkonnte. Mithilfe von Ausnahmegenehmigungen konnten darüber hinaus trotz der striktenhessischen Hochschulpolitik auch als Mitläufer eingestufte Professoren an der TH Darm-stadt eingestellt bleiben.935Damit gelang es, Lehrstuhlausfälle auf ein Minimum zu redu-zieren. Weiteres Ergebnis waren trotz formaler Belastungen besonders milde Spruchkam-merurteile, dazu eine verhältnismäßig große Anzahl von geglückten Berufungsverfahren,in denen den Darmstädter Professoren sogar aktiver Widerstand bescheinigt wurde.

6.3 Bilanz der Entnazifizierung der Darmstädter Professoren 233 Belastungs- kategorie

Einstufung durch den

öffentlichen Kläger in der Klageschrift

Spruch- kammerurteile

1. Instanz

Berufungs- kammerurteile

2. Instanz

I Hauptschuldige1––

II Belastete5––

III Minderbelastete721

IV Mitläufer122112

V Entlastete1310

Vom Gesetz nichtbetroffen

222224

Offenes Ende122

Unbekannt1–1

Summe505050

Abbildung 7: Einstufungen der Darmstädter Professoren936

Wie Abbildung 7 zeigt, wurde aufgrund der formalen Belastungen die Hälfte der vomGesetz betroffenen Professoren vom öffentlichen Kläger in den Klageschriften in GruppeIII, II in einem Fall sogar in die der Hauptschuldigen, Gruppe I, eingeteilt. Trotzdem gingkeiner aus dem Verfahren mit einer Einstufung höher als die Gruppe der Mitläufer her-aus.937Auch die restlichen 14 Spruchkammerverfahren führten zu besseren Einstufungen:bei sechs Professoren von Gruppe III zu Gruppe IV, bei fünf Professoren von Gruppe IIzu Gruppe IV, bei einem Professor von Gruppe IV zu Gruppe V. Besonders drastisch wardie Differenz bei Professor Mehmel, der als Hauptschuldiger angeklagt wurde, in seinemVerfahren jedoch als Mitläufer eingestuft wurde und später sogar als „vom Gesetz nichtbetroffen“ galt.

Es liegt die Vermutung nahe, dass die Hochschullehrer von ihrem Status als Ordina-rien der TH Darmstadt im Gegensatz zum Rest der Bevölkerung bei der politischen Über-prüfung in hohem Maße profitierten. Zwar waren Assistenten und Privatdozenten nichtTeil dieser Untersuchung, jedoch kann angenommen werden, dass das Engagement derTH Darmstadt sich in besonderem Maße nur auf die Professoren bezog, da die Besetzungder Lehrstühle als vordringlichstes Ziel galt. Auch wenn die Spruchkammerverfahren für234 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren die knapp 60 Prozent der „vom Gesetz betroffenen“ Professoren keinesfalls spurlos undohne Anstrengungen an ihnen vorübergingen und in diesem Sinne für den einzelnen einepersönliche Zäsur darstellen konnten, vermochte es die TH Darmstadt nach außen, weiterreichende Folgen für sich als Institution abzuwenden.938Unter Einsatz aller zur Verfü-gung stehender Ressourcen, was mit nicht unbeträchtlichen Anstrengungen für die Lei-tung verbunden war, setzte sich die TH Darmstadt für ausgewählte Professoren in derenEntnazifizierungsverfahren ein. Die Hochschulleitung nutzte darüber hinaus den von denAlliierten initiierten Prozess der politischen Überprüfung des Lehrkörpers, jeden einzel-nen Hochschullehrer vor einer Wiederaufnahme in den Lehrkörper nach eigenen Krite-rien – hier waren insbesondere fachliche und charakterliche Eigenschaften ausschlagge-bend – zu überprüfen und wie in Kapitel 6.2.4 beschrieben, gegebenenfalls unter anderenBedingungen als dem Status quo ante wieder aufzunehmen.939Die von der TH Darmstadtvorgenommene Prüfung der Frage, wer wieder in die Hochschule aufgenommen werdensollte, hing – wie gezeigt werden konnte – nicht allein vom Ausgang der Entnazifizierungab. Oliver Schael spricht in diesem Zusammenhang von einer „Türsteher-Funktion“ deramtierenden Professoren.940Vermutlich ging es der TH Darmstadt neben einer erneutenAuswahl von geeignetem Personal insbesondere auch darum, zu verhindern, dass überdie politische Überprüfung das Recht auf Selbstergänzung durch Einwirkungen von au-ßen geschmälert wurde. Es galt dem Kultusministerium gegenüber Interpretationshoheitüber die Vergangenheit zu erhalten, um weiter selbstbestimmt entscheiden zu können.Dabei ließ man sich jedoch nicht in die Karten schauen: Als das Kultusministerium dieHochschule per Erlass dazu aufforderte, Berufungen zu nennen, die aus „nationalsozia-listischen Gründen“ erfolgt waren, antwortete die TH Darmstadt „derartige Fälle vonVerstössen gegen das Beamtenrecht“ seien nicht bekannt.941Parallel dazu bearbeiteteman die Fälle List und Lieser auf eigene Art und Weise.

Die Untersuchung der Entnazifizierung der Darmstädter Professoren macht die Hete-rogenität sichtbar, die im Lehrkörper 1945 herrschte. Wie Abbildung 8 zeigt, gab es unterden Ordinarien verschiedene Teilgruppen. Neben den 21 von der Entnazifizierung nicht 6.3 Bilanz der Entnazifizierung der Darmstädter Professoren 235Betroffenen, durchgängig tätigen und weiter auf Lebenszeit eingestellten Professoren,waren die 29 „vom Gesetz betroffenen“ Professoren aufgeteilt in sechs Teilgruppen. Zwi-schen diesen Gruppen war das Wissen um die politische Vergangenheit der einzelnenPersonen stets vorhanden und konnte gegebenenfalls eingesetzt werden. Dieses von Her-mann Lübbe mit „nicht-symmetrischer“ Diskretion beschriebene Phänomen blieb an derHochschule bestehen, solange sich unter den Hochschulmitarbeitern Personen befanden,die das Wissen weitergeben konnten.942

Ausschluss aus der TH Darmstadt, Lehrstuhl verloren, Gewährung Emeritenbe- züge ohne Änderung des Status als entlassener Professor, Status als „131er“

Karl Lieser (1901), o. Professor für Architektur (nicht im Vorlesungsverzeichnis)

Friedrich List (1887), o. Professor für Staats- und Verwaltungsrecht (nicht im Vorle-sungsverzeichnis)

Lehrstuhl verloren, Recht Emeritus wiedererlangt, Status als „131er“

August Eberhard (1887), o. Professor für Pharmazeutik (seit 1958 im Vorlesungsver-zeichnis)

Hugo Stintzing (1888), o. Professor für Röntgenphysik (seit 58/59 im Vorlesungsver-zeichnis)

Heinz Voigt (1885), o. Professor für Wärmetechnik (seit 1955 im Vorlesungsverzeich-nis, gab auch wieder Veranstaltungen)

Wiederverwendung auf einem anderen Lehrstuhl, Status als „131er“

Rudolf Geil (1899), ehemals o. Professor für Architektur; ab 1950 LA für Bauingeni-eurwesen; ab 1954 LA auch für Architektur; ab 1958 a.o. Professor für Architektur,neu geschaffenes Extraordinariat, 1962 Ernennung zum o. Prof. für Architektur

Rückberufung auf den ehemaligen Lehrstuhl als Beamter auf Lebenszeit

Hans Busch (1884), o. Professor für Elektrotechnik

Rückberufung als Beamte auf Widerruf, seit 1951 auf Lebenszeit

Wulf Ankel (1897), o. Professor für Zoologie

Walter Brecht (1900), o. Professor für Papierfabrikation

Wilhelm Detig (1890), o. Professor für Wasserbau

Friedrich Hübener (1882), o. Professor für Maschinenbau

Georg Jayme (1899), o. Professor für Cellulosechemie

Kurt Klöppel (1901), o. Professor für Statik

Hans Wolfgang Kohlschütter (1902), o. Professor für anorg. u. analyt. Chemie

Alfred Mehmel (1896), o. Professor für Maschinenbau

Matthias Meier (1880), o. Professor für Philosophie, Pädagogik und Psychologie

236 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren Alfred Neuhaus (1903), a.o. Professor für Mineralogie

Erwin Albin Franklin Punga (1879), o. Professor für Elektrotechnik

Friedrich Reinhold (1895), o. Professor für Straßenbau

Franz Nikolaus Scheubel (1899), o. Professor für Luftfahrt; ab 1946 für MaschinenbauOtto Scherzer (1909), a.o. Professor für Theoretische Physik

Curt Schmieden (1905), o. Professor für Mathematik

Wilhelm Schorn (1895), o. Professor für org. Chemie

Otto Stocker (1888), a.o. Professor für Botanik

Carl Stromberger (1901), o. Professor für Maschinenbau

August Thum (1881), o. Professor für Werkstoffkunde

Auswanderung unter offener/ohne Entnazifizierung

Theodor Buchhold (1900), o. Professor für Elektrotechnik (offene Entnazifizierung)

Rudolf Brill (1899), o. Professor für anorg. u. phys. Chemie (abgeschlossene Entnazi-fizierung, Abreise nach Amerika, bevor mit Annex A wieder beschäftigt werdendurfte)

Carl Wagner (1901), o. Professor für phys. Chemie (keine Entnazifizierung)

Abbildung 8: Verschiedene Teilgruppen der Darmstädter Professoren

Die Emeritierungen der Professoren List und Lieser zeigen die Grenzen des Phänomens.Nicht zuletzt bei Lieser, der als Jahrgang 1901 nach 1945 eine zweite Karriere außerhalbder Hochschule aufbauen konnte, zahlte sich dies sprichwörtlich aus. Neben List und Lie-ser kannte dieser Prozess an der TH Darmstadt weitere „stille Gewinner“, politisch durch-aus belastete Personen, die keinerlei Schwierigkeiten hatten, wieder Anschluss an denLehrkörper zu finden.943

Wie sind nun die Darmstädter Ergebnisse einzuordnen? Aufgrund fehlender Ver-gleichsmöglichkeiten muss eine abschließende Beantwortung dieser Frage noch auf sichwarten lassen. Jedoch können einige grundsätzliche Feststellungen getroffen werden. ZuRecht gilt die amerikanische Entnazifizierung als besonders umfassend. Jedoch zeigt dasDarmstädter Beispiel, dass es zu großen Differenzen zwischen den allgemeinen Vorgabenund der Durchführung der jeweiligen Offiziere vor Ort kommen konnte. Die harten Maß-stäbe der politischen Überprüfung wurden, nicht zuletzt wegen des aktiven Eintretens derHochschulleitung nicht auf Professoren angewandt. De facto gab es an der TH Darmstadtbezogen auf die Professoren nur eine Entnazifizierungswelle. Auch die Rolle der THDarmstadt in den Spruchkammerverfahren der Professoren ist nicht zu unterschätzen. Sieließ sich von den Spruchkammern nicht nur ihre Rehabilitation, sondern ihre Gegner- 6.3 Bilanz der Entnazifizierung der Darmstädter Professoren 237schaft zum Nationalsozialismus erfolgreich unter Beweis stellen. Verantwortlich war ne-ben der besonderen Rolle der TH Darmstadt auch die spezielle Ausrichtung der Spruch-kammern. Schon die Fragebögen waren nicht so konzipiert, dass sie die Eigenheiten derTechnischen Hochschule im „Dritten Reich“ und deren Rolle im „militärisch-industriell-wissenschaftlichen“ Komplex auch nur ansatzweise hätten wiedergeben können. Das En-gagement der Professoren für die Kriegsforschung spielte zu keinem Zeitpunkt eineRolle.

Die Vermutung liegt nahe, dass auch andere Bildungsinstitutionen Einfluss auf dieEntnazifizierung ihrer Mitglieder zu nehmen suchten. Bislang existiert keine vergleich-bare Studie, welche die Hochschulleitung als Akteur und deren Verhalten in der Entnazi-fizierung ihrer Mitglieder untersucht. Lediglich Silke Seemann beschreibt in ihrer Dis-sertation zur Freiburger Universität Handlungsmöglichkeiten der Universität im Rahmender Entnazifizierung.944Es gibt mehrere Gründe, die dafür sprechen, dass die Verhaltens-weisen der Akteure der TH Darmstadt besonders stark ausgeprägt waren. Zum einen liegtdie Vermutung nahe, dass in Darmstadt aus mehreren Gründen der Korpsgeist unter denProfessoren besonders groß war. Während des Krieges kam es im Rahmen der For-schungsarbeiten für Peenemünde zu einer bislang nie dagewesenen und vermutlich auchdanach nicht wieder eingetretenen Interdisziplinarität. Im Rahmen der Kriegsforschungarbeiteten Professoren tagtäglich über Fakultätsgrenzen zusammen.945Des Weiteren kanndie besonders große Zerstörung der Darmstädter TH dazu geführt haben, dass aus Angstvor einer Schließung der Hochschule die Professoren umso näher zusammenrückten undsich für ihren Erhalt einsetzten. Die Darmstädter Besonderheit in der Nachkriegszeit kannauch mit der Darmstädter Besonderheit während des „Dritten Reiches“ in Verbindunggebracht werden: Melanie Hanel hat für die Jahre 1933–1945 zum einen eine besondersgroße Einigkeit unter den Professoren und zum anderen eine Gruppe von Ordinarien alsLeitungsgruppe identifiziert, die besonders großen Einfluss auf den Kurs der TH Darm-stadt hatte.946Im Rahmen der Entnazifizierung sind deutliche Tendenzen zu spüren, dassjener Personenkreis auch die Interpretationshoheit nach 1945 für sich beanspruchte undgegenseitig für sich sorgte, damit ihre politische Vergangenheit zu keinem Nachteilführte, wie der eindringliche Einsatz für Professor Hübener zeigte.

238 6. Aktives Eintreten der Hochschule für ausgewählte Professoren

7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergut- machung. Der Umgang mit NS-Verfolgten an der TH Darmstadt

Während des „Dritten Reiches“ entließ die TH Darmstadt insgesamt 39 Hochschulmitar-beiter aufgrund von NS-Gesetzen. Weitere Personengruppen – Studierende, Absolventenund Träger akademischer Ehrentitel – wurden aus politischen oder „rassischen“ Gründendiskriminiert und ausgegrenzt.947

Von sich aus stellte die TH Darmstadt zwischen 1945 und 1960 zu keinem Zeitpunktdie Frage, wie mit dieser Vergangenheit umzugehen war – zu groß war die Scheu, durchThematisierung des eigenen Handelns in der Vergangenheit eventuell negative Folgen fürdie Zukunft in Kauf nehmen zu müssen. In der Nachkriegszeit ließ sich jedoch nicht ver-meiden, dass diese Frage von außen an die TH Darmstadt herangetragen wurde. Auchwenn nach 1945 zu keinem Zeitpunkt über die aktive Rolle oder Handlungsspielräumeder TH Darmstadt während des Nationalsozialismus gesprochen wurde, erforderten dieverschiedenen Maßnahmen der amerikanischen Militärregierung sowie der deutschen Zi-vilregierung zumindest teilweise eine Auseinandersetzung mit den Vorgängen währenddes „Dritten Reiches“. Die TH Darmstadt musste sich infolge dieser Maßnahmen mitAnträgen während des „Dritten Reiches“ vertriebener Personen auseinandersetzen, dieauf unterschiedliche Art und Weise Entschädigung für das geschehene Unrecht forderten.Diese Auseinandersetzung mit den teilweise nur wenige Jahre zurückliegenden Vorgän-gen erfolgte in den Formen einer sehr zeittypischen „Vergangenheitspolitik“: In Darm-stadt entwickelte sich, wie andernorts, aus einer aufgezwungenen Auseinandersetzungheraus ein Handeln, das aus den Komponenten des Beschweigens, der erneuten Ableh-nung und einer gezielten Integration bestand.948Geprägt wurden diese Reaktionen in be-sonderem Maße von jenen Professoren, die selbst vor oder während des „Dritten Reiches“an die TH Darmstadt berufen worden waren und auch im Nationalsozialismus ihre aka- 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung 239demischen Karrieren hatten fortsetzen können. Jene in diesem Kapitel als „Stammordi-narien“ bezeichnete Professorengruppe war, wie in Kapitel 6 beschrieben, zu großen Tei-len über die Zäsur 1945 hinweg in ihren Ämtern verblieben und gestaltete nun in nichtunerheblichem Maße den Umgang der TH Darmstadt mit von nationalsozialistischer Ver-folgung betroffenen ehemaligen Kollegen.

Eine Darstellung zu den während des „Dritten Reiches“ vertriebenen DarmstädterHochschulmitarbeitern stößt aufgrund der unvollständigen Aktenlage nach wie vor anGrenzen. Nicht für alle von der TH Darmstadt vertriebenen Personen liegt eine Personal-akte vor, die vorhandenen beginnen erst im Jahr 1945.949Einige Details ließen sich mit-hilfe von Nachlässen klären, andere über Entschädigungsakten, die im WiesbadenerHauptstaatsarchiv liegen. Außerdem konnten anhand der Akten der Society of the Pro-tection of Science and Learning (SPSL, Oxford) die Emigrantenschicksale weitgehendrekonstruiert werden. Die Ergiebigkeit des Materials war jedoch von Fall zu Fall sehrverschieden, sodass das Wissen über die Personen sich im Einzelnen sehr unterscheidet.Was die Forschungslage betrifft, so existiert bei keinem anderen Thema bezüglich derGeschichte der TH Darmstadt eine vergleichbare Anzahl an Vorarbeiten.950Für die vor-liegende Arbeit sind die Ergebnisse von Melanie Hanel besonders wertvoll, da hier erst-mals eine systematische Untersuchung unter Einbeziehung der Assistenten unternommenwurde.951

Auch für andere Universitäten und Hochschulen ist das Schicksal der von nationalso-zialistischer Verfolgung betroffenen Personengruppen mittlerweile aufgearbeitet.952Ins-240 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung besondere auf dem Gebiet der Doktorgradentziehungen gab es in den letzten zehn Jahreneinen ernormen Zuwachs an Publikationen.953

Der Umgang von Universitäten und Hochschulen mit Vertreibungen und Titelentzü-gen in der Nachkriegszeit wird dagegen in den wenigsten Fällen gleichwertig in die Stu-dien miteinbezogen.954

Hinsichtlich des Umgangs mit während des Nationalsozialismus geschädigten Perso-nen in der Nachkriegszeit hat sich die Forschung auf den Begriff der „Wiedergutma-chung“ geeinigt. Darunter ist die Gesamtheit der Maßnahmen und Verfahren gefasst, diedas Land und die Hochschule zugunsten der Opfer des NS-Staates durchführten.955ImRahmen dieser Arbeit wird Wiedergutmachung auf zwei Ebenen verstanden: Zum einen,als vonseiten der Hochschule ergriffene Maßnahmen zugunsten der Betroffenen, zum an-deren als finanzielle Entschädigung im Rahmen von juristischen Wiedergutmachungs-verfahren. Das folgende Kapitel untersucht beide Aspekte getrennt voneinander. DieseVorgehensweise erlaubt es, die Handlungsmöglichkeiten der TH Darmstadt genauer zu 7.1 Ausgrenzung und Vertreibung an der TH Darmstadt 241differenzieren. Dies ist insbesondere deswegen wichtig, da die Entlassungen einige Be-sonderheiten aufwiesen: Vertreibungen aus „rassischen“ Gründen stellten nicht die Mehr-heit dar, mehr als die Hälfte der Entlassenen fiel hochschulpolitischen Intrigen zum Op-fer. Diese Entlassungsumstände wirkten sich auf das Verhalten der TH Darmstadt in derNachkriegszeit aus. Nicht selten waren Personen, welche die Hochschule während des„Dritten Reiches“ anhand von NS-Gesetzen entließ, auch nach 1945 unerwünscht. Infol-gedessen wird an dieser Stelle darauf verzichtet, den Begriff der „Rehabilitierung“, derin der Regel mit der Wiederherstellung der alten Rechtsverhältnisse gleichgesetzt wird,zu verwenden.956Die von der Hochschulleitung vorgenommenen Maßnahmen – von derNeuberechnung der Ruhegehälter der Betroffenen oder ihrer Angehörigen, über die Wie-deraufnahme in das Vorlesungsverzeichnis bis hin zur Rückgabe des ehemaligen Amtesund damit der Rückberufung in den aktiven Hochschuldienst oder der Rückgabe des Ti-tels – werden stattdessen als „akademische Wiedergutmachung“ bezeichnet. Einige derBetroffenen traten zwar durchaus mit dem Wunsch der „Rehabilitierung“ an dieTH Darmstadt heran, jedoch nahmen die konkreten Vorstellungen, wie diese umgesetztwerden sollten, verschiedene Formen an, je nachdem wie sich deren weiteres Schicksalnach der Vertreibung gestaltet hatte. Abgekoppelt von der „akademischen“ Wiedergut-machung wird die juristische Wiedergutmachung betrachtet. Dabei geht es nicht so sehrum eine Rekonstruktion einzelner Wiedergutmachungsverfahren, sondern vielmehr umdie Frage, wie die TH Darmstadt innerhalb dieser Verfahren für die betroffenen Personeneintrat. Beiden Abschnitten wird eine detaillierte Beschreibung der Vertreibungen vonder TH Darmstadt während des Nationalsozialismus vorangestellt. Dies ist unumgäng-lich, da die Hintergründe der Entlassungen wie erwähnt in hohem Maße das Verhaltender TH Darmstadt in der Nachkriegszeit beeinflussten. Da eine Wiedergutmachung – so-wohl die „akademische“ als auch die juristische – nur auf Initiative der Betroffenen selbstzustande kam, werden in einem abschließenden Abschnitt auch Fälle ausgebliebener Ver-fahren thematisiert.

7.1.Ausgrenzung und Vertreibung. Von nationalsozialistischer Verfol- gung betroffene TH-Angehörige

Mit Beginn des „Dritten Reiches“ fanden an der TH Darmstadt, wie an anderen Hoch-schulen auch, gezielte Akte der Diskreditierung und Degradierung jener Hochschulmit-242 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung glieder und Studierenden statt, die von der nationalsozialistischen Ideologie ausgegrenztwurden oder ihr vermeintlich feindlich gesinnt waren. Sowohl der Lehrkörper als auchdie Studierendenschaft wurden mittels verschiedener Gesetze im nationalsozialistischenSinne „gesäubert“. Politisch und „rassisch“ Missliebigen blieb darüber hinaus der Zugangzu den Universitäten und Hochschulen weitgehend versperrt.

Wie Melanie Hanel in ihrer Dissertation feststellt, fiel ein „signifikanter Anteil“ derwährend des „Dritten Reiches“ von der TH Darmstadt entlassenen Personen hochschul-politischen Auseinandersetzungen und Intrigen zum Opfer.957Hanel fand heraus, dass dieHochschulleitung nicht nur die Gesetzesvorhaben bei politisch und „rassisch“ missliebi-gen Mitarbeitern umsetzte, sondern die NS-Gesetze zudem in einigen Fällen nutzte, umsich Personen zu entledigen, die als fachlich ungeeignet angesehen wurden, sich aufgrundihres Engagements für den Nationalsozialismus unbeliebt gemacht hatten oder im Kolle-gium als unfähig oder missliebig galten. Anwendung fanden bei allen während des „Drit-ten Reiches“ erfolgten Entlassungen von der TH Darmstadt das „Gesetz zur Wiederher-stellung des Berufsbeamtentums“, kurz „Berufsbeamtengesetz“ (BBG), die Reichsha-bilitationsordnung (RHO) von 1939 sowie die sogenannte „Ruhestandsversetzung alsnationale Tat“.

„Ruhestandsversetzung als nationale Tat“

Vier Professoren, der Ordinarius für Kunstgeschichte Paul Hartmann (geb. 1869), derHonorarprofessor, zuvor Ordinarius der Fakultät für Elektrotechnik Johann Adolf Sengel(1869), der Ordinarius für Mathematik Jakob Horn (1867) sowie der Ordinarius für Geo-logie Alexander Willibald Steuer (1867) wurden aus Altersgründen im Rahmen der„Emeritierung als nationale Tat“ in den Ruhestand versetzt.958Unklar ist dabei, von wemdie Initiative für diese Ruhestandsversetzungen ausging. Die Frage stellt sich insbeson-dere deswegen, da es weitere Professoren im gleichen Alter gab. Nicht auszuschließenist, dass jüngere Kollegen, die sich Hoffnung auf die Stellen machten, gezielt die Hebelin Bewegung setzten.

Entlassungen aus „rassischen“ Gründen

An der TH Darmstadt schieden während des „Dritten Reiches“ insgesamt 15 Personenaus „rassischen“ Gründen aus. Insgesamt vier Ordinarien wurden von der TH Darmstadtals „Nichtarier“ entlassen. Dies waren der außerordentliche Professor für Theoretische 7.1 Ausgrenzung und Vertreibung an der TH Darmstadt 243Physik Hans Baerwald, der Professor für Gerbereichemie Edmund Stiasny, der Ordina-rius für chemische Technologie Ernst Berl sowie der persönliche Ordinarius für Rechts-wissenschaft, Arbeitsrecht und Steuerrecht Erich Aron.959Außerdem betroffen waren diebeiden Privatdozenten Paul Leser (Völkerkunde und Lehrbeauftragter am Mainzer Insti-tut) und Walter Schwarz (Botanik), der sich seit seiner Flucht nach Palästina MichaelEvenari nannte.960Ebenfalls aus „rassischen“ Gründen erfolgte die Entlassung von ErnstBerliner. Er war Leiter des Frankfurter Forschungsinstituts für Getreidechemie und hieltseit 1927 Vorlesungen über Getreidechemie an der TH Darmstadt.961Als „Mischling Ers-ten Grades“ musste er Anfang 1934 seine Lehrtätigkeit an der TH Darmstadt einstellen.962

Weiterhin wurden fünf jüdische Assistenten entlassen: am Physikalischen InstitutKurt Lion963, an der Materialprüfungsanstalt Arno Tuteur, außerdem Fritz Curtis, Assis-tent der Abteilung für Architektur sowie die Hilfsassistenten Stephan Gradsztein undKlaus Federn.964Nach dem Erlass der sogenannten „Nürnberger Gesetze“ im Jahr 1935schieden weitere Hochschulmitarbeiter der TH Darmstadt aus, die mit einer jüdischenFrau verheiratet waren und infolge der Gesetze als „jüdisch versippt“ galten. Dies betrafden Privatdozenten für Physik Gerhard Herzberg, der einer Entlassung zuvorkam und sichim Jahr 1935 von der TH Darmstadt beurlauben ließ.965Werner Guembel, Mitarbeiter amGeologisch-Mineralogischen Institut, wurde im August 1936 wegen seiner „nichtari-schen“ Frau von der TH Darmstadt entlassen.966Vermutlich aus politischen Gründen undaufgrund seiner „nichtarischen“ Frau schied der Privatdozent für Geologie Hans Jüngstim Jahr 1939 aus.967

Entlassungen aufgrund hochschulpolitischer Intrigen

Neben den 15 aus „rassischen“ Gründen von der TH Darmstadt entlassenen Hochschul-angehörigen sowie den vier „Ruhestandsversetzungen als nationale Tat“ schieden weitere244 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung 20 Personen infolge hochschulpolitischer Auseinandersetzungen sowie der Schließungdes Pädagogischen Instituts in Mainz aus.

Insbesondere an der Abteilung für Architektur sorgten hochschulpolitische Intrigenfür Entlassungen von Professoren. Die Denkschrift, die der Assistent Karl Lieser zusam-men mit dem Studenten Friedrich Fraikin über die Abteilung für Architektur anfertigte,sollte im Sommer 1933 die Entlassung der Architekturprofessoren Josef Plenk und Lud-wig Wagner zur Folge haben.968Beide wurden als fachlich untragbar dargestellt, darauf-hin aufgrund § 6 des BBG, d. h. zur „Vereinfachung der Verwaltung“, entlassen und inschlechter dotierte Stellen eingesetzt. Wagner kam an die Staatsschule für Kunst undHandwerk in Mainz, Plenk an die Kunstgewerbeschule in Offenbach.969Möglicherweisewar die Denkschrift für weitere Rücktritte verantwortlich: Unter nicht geklärten Umstän-den wurden 1933/34 Paul Meißner, Heinrich Walbe und Augusto Varnesi „auf eigenesNachsuchen“ in den Ruhestand versetzt. Paul Meißner waren in der Denkschrift „jüdischeVerhaltensweisen“ nachgesagt worden.970Außerdem griffen ihn die Studierenden an, daer sich als Dekan der Architektur weigerte, eine Hakenkreuzfahne zu hissen.971Er tratinfolgedessen von seinem Amt als Abteilungsvorstand zurück. Von seinem Amt als Pro-fessor wurde er zunächst beurlaubt und im August 1933 schließlich „auf eigenes Nach-suchen“ in den Ruhestand versetzt.972

Auch der Entlassung des außerplanmäßigen Professors für Eisenbetonbau, AdolfKleinlogel, gingen hochschulpolitische Auseinandersetzungen voraus: Kleinlogel wurdein einem Artikel der Zeitung „Der Stürmer“, der für erhebliches Aufsehen sorgte, als „ju-denfreundlich“ bezeichnet. Hinzu kam, dass zu diesem Zeitpunkt das fachliche AnsehenKleinlogels unter seinen Kollegen aufgrund einer Plagiatsaffäre bereits geschwächt war.Schon 1925 hatte es derartige Vorwürfe gegen ihn gegeben, damals hatte man Kleinlogelfür drei Semester die Venia Legendi entzogen. Fortan herrschte zwischen ihm und seinenKollegen ein eher angespanntes Verhältnis.973Dies führte dazu, dass die Abteilung trotzHandlungsmöglichkeiten – die Vorwürfe in dem Artikel gegen seine Person waren zum 7.1 Ausgrenzung und Vertreibung an der TH Darmstadt 245Teil unrichtig – Kleinlogels Entfernung mit Paragraph 18, d. h. „im Interesse der Univer-sität“ nicht nur unbeteiligt zusah, sondern diese aufgrund des öffentlichen Aufsehenswohl auch als gerechtfertigt empfand.974

Die Ruhestandsversetzung des jüdischen Ordinarius Ernst Berl zog am Institut fürChemie weitere Entlassungen nach sich. Sie führte zu einer Auseinandersetzung zwi-schen Studierenden und Assistenten Berls, bei denen sich der Professor einiger Beliebt-heit erfreute, und zwei seiner Kollegen, die allem Anschein nach seiner Entfernung freu-dig entgegensahen. Die Professoren Wöhler und Jonas vertraten in fachlichen und orga-nisatorischen Abteilungsfragen andere Ansichten als Berl, was in der Vergangenheitimmer wieder zu Konflikten geführt hatte. Als Berl angesichts der drohenden Entlassungaus „rassischen“ Gründen im April 1933 um Ruhestandsversetzung bat, setzten sich dieStudierenden in einer einzigartigen Aktion für den Verbleib ihres Professors ein.975Ihnenzuliebe nahm er trotz seiner Beurlaubung weiterhin Prüfungen ab. Seine Kollegen, derpersönliche Ordinarius für Cellulosechemie, Karl Jonas sowie Lothar Wöhler, Direktordes Instituts für anorganische Chemie, versuchten dagegen, Berls weiteres Wirken an derHochschule zu unterbinden.976Dies veranlasste die Studierenden wiederum dazu, ihrer-seits die Gelegenheit zu nutzen und die beiden Professoren anzugreifen. FachschaftsleiterJung und Mitarbeiter verfassten im Juli 1933 eine 19-seitige Schrift über die Zustände amInstitut für Chemie.977Darin beschrieben sie Professor Wöhler als „unsozial“ und „mitjüdischer Konfession“ geboren, seine Entlassung verlangten sie insbesondere, weil Wöh-ler sich „weder in fachlicher noch in menschlicher Beziehung das Vertrauen der Studie-246 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung renden erwerben konnte“.978In einer Abstimmung der Chemiestudenten sprachen sich 72dafür aus, dass Wöhler mir sofortiger Wirkung „im Sinne des Gesetzes zur Wiederher-stellung des Beamtentums“ in den Ruhestand versetzt werden solle.979Diesem Anliegenwar Wöhler selbst zuvorgekommen, der 62-Jährige hatte beim Rektorat um seine Emeri-tierung aus gesundheitlichen Gründen gebeten.980Zu seinem Entschluss könnte nebendem Votum der Fachschaft, welches Wöhler mitgeteilt worden war, außerdem – wie dieStudierenden in ihrem Bericht über das Institut bereits festgestellt hatten – die Tatsachegeführt haben, dass er aufgrund der NS-Gesetzgebung als „Nichtarier“ galt.981ProfessorJonas warfen die Verfasser des Berichts aus dem Jahr 1933 zwar vor, dass er Berls Rück-kehr verhindern wolle, ansonsten blieben ihre Äußerungen auf Jonas bezogen jedoch zu-nächst fast neutral, sie beschrieben ihn als durchschnittlich.982Dies sollte sich jedoch imJahr 1934 ändern, nun forderten die Studierenden beim Ministerium mit Unterstützungder Papierindustrie die Ruhestandsversetzung Jonas, da dieser seine Lehrtätigkeit unzu-länglich ausführe und die zur Verfügung stehende wissenschaftliche Ausstattung nichtzweckgemäß nutze.983Die Eingabe der Studierenden hatte Erfolg, Jonas wurde im Jahr1934 aufgrund § 6 des BBG in den Ruhestand versetzt.984Im Fall von Ernst Berl gelanges den Studierenden allerdings nicht, eine Rückkehr zu erwirken: Im Oktober 1933 er-folgte seine Ruhestandsversetzung nach § 3 des BBG.985

Allem Anschein nach bediente sich die TH Darmstadt auch der NS-Gesetzgebung,um Privatdozenten loszuwerden, welche für eine Technische Hochschule randständigeGebiete vertraten. So schied der Privatdozent für Pharmakologie und Physiologie UlrichHintzelmann 1941 anhand der neuen RHO von 1939 aus. Ulrich Hintzelmann war seit1929 an der Abteilung für Chemie der TH Darmstadt tätig.986Bis zum Studienjahr1938/39 hielt er Vorlesungen auf dem Fachgebiet der Pharmazie. Im Jahr 1939 wurde das 7.1 Ausgrenzung und Vertreibung an der TH Darmstadt 247Studium der Pharmazie an der TH Darmstadt abgeschafft, Hintzelmann gab weiter Ver-anstaltungen und strebte eine „Dozentur neuer Ordnung“ an.987Die Abteilung sah jedochfür sein Fachgebiet keine Notwendigkeit mehr und verhinderte ein Verbleiben Hintzel-manns an der TH Darmstadt.988Ähnlich verlief der Fall eines Privatdozenten der Abtei-lung für Kultur- und Staatswissenschaften. Karl Fritzler war seit 1921 Privatdozent fürrussische Geschichte, er erteilte darüber hinaus auch Unterricht in russischer Sprache.989Im September 1939 erlosch seine Lehrbefugnis. Auch im Falle des Privatdozenten fürTechnische Physik Georg Reutlinger, war es die Abteilung, die dafür sorgte, dass es fürihn keine Zukunft an der TH Darmstadt gab. Reutlinger war bereits im Jahr 1932 alsAssistent ausgeschieden, danach weiter als Privatdozent mit Lehrauftrag an derTH Darmstadt tätig. Nach dem Ausscheiden des Ordinarius Zeissig aufgrund der „Ruhe-standsversetzung als nationale Tat“ hatte sich Reutlinger um dessen Nachfolge bemüht,was jedoch an der Haltung der Abteilung scheiterte. Melanie Hanel vermutet im Falle derPrivatdozenten Reutlinger und Fritzler, dass die TH Darmstadt die beiden neben fachli-chen auch aus anderen Gründen entließ: Beide waren über die Maße nationalsozialistischengagiert. Da sich dieses Engagement nicht nur auf Parteimitgliedschaften – Fritzler warseit 1931 Mitglied der NSDAP, Reutlinger seit 1933 – sondern insbesondere auch auf dashochschulpolitische Auftreten übertrug, liegt die Vermutung nahe, dass die Professorenin beiden eine potenzielle Gefahr sah und sie loswerden wollten.990

Bei drei weiteren Entlassungen sind die Umstände nicht ganz geklärt, auch hier könn-ten fachliche Gründen zumindest eine Rolle gespielt haben. Gertrud von Petzold vertratseit 1929 unentgeltlich ein Lektorat der englischen Sprache.991Die Veranstaltung wurde1933 gestrichen. Nicht auszuschließen ist, dass von Petzold aus religiösen Gründen ent-lassen wurde. Die in Großbritannien geborene von Petzold war Anfang des 20. Jahrhun-derts als Pfarrerin der Free Christian Church in Leicester tätig gewesen.992Weiterhin ohnenähere Angabe von Gründen, bekam der nichtplanmäßige außerordentliche Professor derAbteilung für Kultur- und Staatswissenschaften Friedrich Noack 1940 die Lehrbefugnis248 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung entzogen. Noack war seit 1920 Privatdozent für Musikwissenschaft, Redekunst und Ge-sang an der TH Darmstadt. Auch bei ihm bleibt unklar, wieso er entlassen wurde, ver-mutlich spielten politische Gründen mit hinein.993

Erwin Bramesfeld, der Leiter des Psychotechnischen Instituts, welches an den Ma-schinenbau angeschlossen war, schied 1939 aus der TH Darmstadt aus. Mit seinem Weg-gang wurde das Institut aufgelöst, was ebenfalls darauf hinweist, dass er aus fachlichenGründen entlassen wurde. Möglich ist außerdem, wie Melanie Hanel bemerkt, dass er ausfreiem Willen in die Industrie wechselte, da es ihm nicht gelang, seine Stellung an derTH Darmstadt zu verbessern.994Unter Anwendung des § 6 BBG wurde an der MPA derRegierungsbaurat Karl Rothert in den dauernden Ruhestand versetzt. Melanie Hanel gehtbei diesem Fall davon aus, dass es sich tatsächlich um eine Verwaltungsmaßnahme han-delte, da Rothert bereits 1930 in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden war, alssein Amt infolge von Umstrukturierungsmaßnahmen wegfiel.995

Entlassungen aufgrund der Schließung des Pädagogischen Instituts

Das Pädagogische Institut in Mainz war der TH Darmstadt angeschlossen. Es war 1925zur Ausbildung von Volksschullehrern gegründet worden. Die Zusammensetzung derMainzer Dozenten war aufgrund der besonderen Natur des Instituts gemischt: Es lehrtenhier, neben Professoren der TH Darmstadt, vor allem auch Hochschullehrer der anderenhessischen Universitäten.996Die meisten Darmstädter Dozenten führten ihre Tätigkeit amMainzer Institut neben jener an der Abteilung für Kultur- und Staatswissenschaften derTH Darmstadt aus, nur die Planstelle von Hugo Dingler war ausschließlich für Mainzeingerichtet. Im Jahr 1934 wurde das Pädagogische Institut in Mainz von der hessischenRegierung aufgelöst, die Schließung war bereits 1932 als Sparmaßnahme beschlossenworden.997Unter Anwendung des BGG wurden sieben Darmstädter Hochschullehrer indirekter Folge der Schließung in den Ruhestand versetzt. Dies waren Erich Feldmann,Hugo Dingler, Maria Dorer, Matthias Meier, Heinrich Matthes, Paul Leser, Peter Vogel.Der Ordinarius für Philosophie, Hugo Dingler, wurde im März 1934 nach § 6 des BBGin den Ruhestand versetzt.998Seine Entlassung war zum einen die direkte Folge der 7.1 Ausgrenzung und Vertreibung an der TH Darmstadt 249Schließung des Instituts, zum anderen liegt die Vermutung nahe, dass Dingler außerdemals politisch missliebig ausschied. Dinglers Frau war in erster Ehe mit dem jüdischenPhilosophen Theodor Lessing verheiratet gewesen. Außerdem wurde Dingler aufgrundseines Buches von 1919 „Die Kultur der Juden“ im Juli 1933 angegriffen. Vermutlichkonnte Dingler deswegen nicht auf den Rückhalt seiner Kollegen zählen, eine Beschwer-deschrift von Maria Dorer über die Rolle Dinglers im Rahmen ihrer Entlassung wurdevom Rektor direkt an das Ministerium weitergeleitet.999

Der zweite Ordinarius für Philosophie, Matthias Meier, wurde ebenfalls 1933 nach§ 6 BBG in den Ruhestand versetzt. Meier wehrte sich jedoch gegen seine Ruhestands-versetzung und hatte damit Erfolg: Nur fünf Monate später wurde diese wieder zurück-genommen, und er blieb einer der wenigen Philosophieprofessoren an Technischen Hoch-schulen während des „Dritten Reiches“.1000Der Einspruch Meiers war nicht zuletztdeswegen erfolgreich, weil er im Gegensatz zu Dingler auf die Unterstützung der THDarmstadt zählen konnte.1001Auch Maria Dorer verlor ihre Stellung als Assistentin amPädagogischen Institut in Mainz, sie blieb aber weiterhin als Privatdozentin für Psycho-logie und Pädagogik an der TH Darmstadt. Dorer wurde im Juni 1933 mit sofortiger Wir-kung beurlaubt und ohne Angabe von Gründen entlassen.1002Mithilfe des Rektorats holtesie sich beim Ministerium die Erlaubnis ein, in Darmstadt weiter lesen zu dürfen, erreichteaußerdem eine dreimonatige Kündigungsfrist und die Auszahlung der Hälfte ihrer einge-gangenen Vorlesungsgebühren.1003Ihr Antrag weiter in Mainz lesen zu dürfen, wurdegleichwohl vom Ministerium abgelehnt.1004

Wie im Fall von Professor Meier und Maria Dorer endete bei zwei weiteren Hoch-schullehrern des Pädagogischen Instituts, Heinrich Matthes und Peter Vogel, mit derSchließung des Instituts nicht deren Angestelltenverhältnis mit der TH Darmstadt. Seit1925 gehörte Heinrich Matthes als Privatdozent, ab 1927 als Studienrat dem Pädagogi-schen Institut in Mainz an.1005Matthes war Jahrgang 1868 und befand sich bereits seit1932 im einstweiligen Ruhestand, mit der Schließung des Pädagogischen Instituts wurde250 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung er nach § 6 BBG in den dauernden Ruhestand versetzt.1006Matthes hielt in Darmstadt biseinschließlich Wintersemester 1937/38 Vorlesungen auf dem Gebiet der Religionspäda-gogik, danach schied er auch hier aus.1007Peter Vogel, Direktor am Pädagogischen Insti-tut Mainz wurde 1934 in den Ruhestand versetzt.1008Sein Lehrauftrag an der TH Darm-stadt blieb nach der Auflösung des Instituts bestehen, erst als Vogel wegen des Erreichensder Altersgrenze bzw. auf eigenen Wunsch aus dem Lehrkörper ausschied, wurde1937/38 sein Lehrauftrag nicht erneuert.1009Mit der Auflösung des Pädagogischen Insti-tuts wurde außerdem der seit 1925 amtierende Direktor des Instituts, Erich Feldmann,beurlaubt und Anfang 1934 zunächst mit § 4, dann mit § 6 in den Ruhestand versetzt.1010 Aberkennung von akademischen Titeln und Ehrentiteln. Doktorgradentziehungen, Löschung von Ehrensenatoren- und Ehrendoktorwürden

Zwischen 1939 und 1941 wurden an der TH Darmstadt vier Promotionstitel entzogen.Diese Depromotionen waren eine Folge der Aberkennung der Staatsbürgerschaft der Be-troffenen während ihrer Emigration.1011Betroffen waren der Chemiker Friedrich Bendersowie die drei Elektrotechniker Otto Böhm, Franz László und Beni Herzfeld.1012Dr.-Ing.Otto Moritz Böhm (geb. 1884, Promotion 1916) und Dr.-Ing. Franz László (geb. 1894,Promotion 1924) wurden 1940 depromoviert. Im Jahr 1941 folgte Dr.-Ing. Beni Herzfeld(geb. 1880, Promotion 1903). Wie Melanie Hanel feststellt, übernahm die TH Darmstadtkeine aktive Rolle bei dem Entzug der Doktorgrade.1013Anders scheint es bei der Lö-schung von Ehrensenatoren- und Ehrendoktorwürden auszusehen. Für die meisten Uni-versitäten und Hochschulen lassen sich nur wenige Einzelfälle von Aberkennungen vonEhrentiteln nachweisen, nicht zuletzt, da diese Ehrentitel weit weniger häufig verliehenwurden. An der TH Darmstadt sind fünf Fälle nachweisbar, wo aus politischen und „ras-sischen“ Gründen nach 1933 Titelträger aus der Liste gelöscht wurden. Aufgrund derAktenlage lassen sich jedoch weder die genauen Umstände, die zur Löschung führten, 7.1 Ausgrenzung und Vertreibung an der TH Darmstadt 251noch deren Auswirkungen rekonstruieren. Da jedoch der Entzug von akademischen Eh-rentiteln erst nach und nach staatlich reglementiert wurde, ist es wahrscheinlich, dass dieTH Darmstadt Löschungen auch aus eigener Initiative vornahm.1014

Die Ehrenbürgerwürde verlieh die TH Darmstadt erstmals im Studienjahr 1921/22, ab1924 wurden sie als Ehrensenatoren bezeichnet.1015Das Recht, Kandidaten vorzuschla-gen, lag bei den Abteilungen. Die Ehrenträger erhielten eine Urkunde, wurden zu Hoch-schulveranstaltungen eingeladen und seit dem Jahr 1923 zu ihren Lebzeiten im Vorle-sungsverzeichnis abgedruckt.1016Nach 1933 wurden mindestens drei Ehrensenatoren so-wie zwei Ehrendoktoren aus der Liste gestrichen.1017Im Jahr 1933 erging dies so aus„rassischen“ Gründen Karl Mayer. Dieser hatte im Studienjahr 1927/28 den Titel einesEhrensenators aufgrund einer Stiftung von 10.000 RM für das Stadion der TH Darmstadterhalten.1018Mayer stammte aus einer jüdischen Unternehmerfamilie, er ging 1933 insExil. Der Offenbacher Lederfabrikant Robert von Hirsch hatte den Titel eines Ehrenbür-gers der TH Darmstadt im Studienjahr 1921/22 erhalten.1019Sein Name wurde ebenfallsim Jahr 1933 von der Liste der Ehrensenatoren gestrichen, vermutlich da er Jude war.Jakob Otto Nohl hatte anlässlich der Einweihung der Otto-Berndt-Halle den Titel einesEhrensenators verliehen bekommen und erschien seit 1925/26 in der Liste der Titelträ-252 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung ger.1020Mit dem Jahr 1935/36 verschwand sein Name aus der Liste. Die Gründe dafürlassen sich mithilfe der Aktenlage nicht eindeutig zuordnen. Gegen Nohl war im Zugeder Wirtschaftskrise im Jahr 1931 als Aufsichtsratsmitglied der Darmstädter Volksbankein Verfahren wegen Untreue geführt worden, das allem Anschein nach 1933 wegen einerRegressklage weitere Folgen nach sich zog.1021Ob gegebenenfalls im Zuge dieses Ver-fahrens oder aus anderen, womöglich „rassischen“ Gründen seine Titel aberkannt wur-den, lässt sich nicht genau klären.1022Im Jahr 1938 wurde Nohl wegen Abwerbung vonArbeitskräften zu neun Jahren Gefängnishaft verurteilt. Wenn er zu diesem Zeitpunktnicht bereits aus der Liste gelöscht gewesen wäre, hätte er spätestens an dieser Stelle seineEhrentitel verloren.1023Nicht auszuschließen ist die Möglichkeit, dass die GerichtsurteileNohls infolge „rassischer“ oder politischer Verfolgung zustande kamen, da die National-sozialisten bekanntermaßen solche Mittel anwandten, um sich an Unternehmen von Ver-folgtengruppen zu bereichern.1024Ebenfalls ungeklärt sind die Umstände der Aberken-nung des Ehrendoktors von Reichsbahndirektor Gustav Hammer. Hammer, seit 1925 Eh-rendoktor der TH Darmstadt, hatte im Jahr 1937 im Zuge einer Gefängnisstrafe seinebürgerlichen Ehrenrechte und damit auch den Ehrendoktor der TH Darmstadt aberkanntbekommen.1025Bei der Aberkennung des Ehrendoktors von Hans Gottstein, später HansGottstein-Glynn, müssen dagegen „rassische“ Gründe ursächlich gewesen sein; der VaterLeo Gottsteins war zum evangelischen Glauben konvertierter Jude und damit nach denNS-Gesetzen „Nichtarier“. Der Generaldirektor der Papier- und Zellstoffwerke A.G.Feldmühle hatte den Titel im Studienjahr 1931/32 verliehen bekommen und wurde imLaufe des „Dritten Reiches“ aus der Liste der Titelträger gelöscht. Hans Gottstein hattebis 1936 den Vorstandsvorsitz der Feldmühlen AG inne, emigrierte jedoch noch vor Aus-bruch des Krieges nach Großbritannien.1026

7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 253

7.2Die Macht der Darmstädter Stammordinarien bei der „akademi- schen“ und juristischen Wiedergutmachung

Die Gesetzgebung der Alliierten und der späteren Bundesrepublik sah vor allem einerechtliche „Wiedergutmachung“, also finanzielle Ausgleichszahlungen vor. Während des„Dritten Reiches“ Vertriebene bzw. deren Nachfahren konnten diese Zahlungen beantra-gen. Die „akademische Wiedergutmachung“, also inwieweit eine Rückkehr ins Amt,Wiederaufnahme ins Vorlesungsverzeichnis, Zuerkennung der Venia Legendi oder derakademischen Ehrentitel erfolgten, lag (neben der eigenen Bereitschaft der Betroffenen)vor allen Dingen im Ermessensspielraum der jeweiligen Hochschule.1027Damit waren inder Nachkriegszeit nicht selten gerade jene Professoren an der Entscheidung einer Wie-dergutmachung beteiligt, die während des „Dritten Reiches“ den Amtsvertreibungen ihrerKollegen zugesehen, sie womöglich mitinitiiert oder davon profitiert hatten und ihre ei-gene Karriere während des Nationalsozialismus weiterverfolgen konnten. Den Stammor-dinarien kam eine nicht unerhebliche Macht zu, welche sich auf verschiedenen Ebenenauswirken konnte. Zum einen erhielten sie von Gesetzes wegen in den juristischen Wie-dergutmachungsverfahren die verantwortungsvolle Position eines Gutachters und damiterheblichen Einfluss auf den Ausgang der Verfahren zuerkannt. Ihre Aufgabe war es, eineEinschätzung darüber abzugeben, wann und ob der Betroffene in eine außerordentlicheoder ordentliche Professur gelangt wäre, also welchen Verlauf die „akademische Lauf-bahn des Geschädigten ohne die Schädigung voraussichtlich genommen hätte“.1028Zumanderen entschieden sie, wer und auf welche Art und Weise wieder zum Lehrkörper derTH Darmstadt gehören sollte.

7.2.1Die „akademische“ Wiedergutmachung an der TH Darmstadt. Zwischen Wie-dereinstellung und erneuter Ablehnung

Die TH Darmstadt unternahm zu keinem Zeitpunkt Anstrengungen die während des„Dritten Reiches“ aus ihren Ämtern vertriebenen Hochschullehrer systematisch zu ermit-teln und nach 1945 zu kontaktieren, geschweige denn Entlassungen durch Rückberufun-gen rückgängig zu machen. Ursachen für dieses Verhalten gab es gleich mehrere: Wäh-rend die britische Militärregierung eine gezielte Rückberufungspolitik betrieb, hielten254 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung sich die Amerikaner auf diesem Gebiet eher zurück.1029Zwar gab auch die amerikanischeMilitärregierung einen ersten Anstoß für eine Auseinandersetzung mit ehemaligen Hoch-schulmitgliedern, die während des „Dritten Reiches“ aufgrund nationalsozialistischer Ge-setzesvorlagen ausgeschlossen wurden, indem sie von der TH Darmstadt im Zuge derWiedereröffnung eine Liste der von der TH Darmstadt aus „politischen oder rassischenGründen“ seit 1932/33 vertriebenen Personen verlangte, weitere Schritte sind allem An-schein nach aber nicht erfolgt. Der Verwaltungsausschuss nannte den Amerikanern ge-genüber auf dem eingereichten Antwortbogen sieben Professoren, die die Militärregie-rung ohne weitere Kommentare stehen ließ.1030

Auch das hessische Kultusministerium hielt sich mit Aufforderungen zu systemati-schen Rückberufungen zurück. Es lehnte im Gegenteil einen generellen Anspruch aufRückkehr ab, da sich die Ereignisse während des „Dritten Reiches“ nicht immer einwand-frei klären ließen und man befürchtete, dass sich Personen unberechtigterweise Vorteileverschaffen könnten.1031Mehrere Versuche des Ministeriums, die betroffene Personen-gruppe zu identifizieren scheiterten. Über Zeitungen des Landes hatte das hessische Kul-tusministerium die aus dem Amt vertriebenen Hochschullehrer dazu aufgefordert, sichvon Februar bis März 1946 – man gab den Betroffenen also nur einen Monat Zeit – zumelden.1032Nachdem insgesamt 62 Meldungen eingegangen waren, darunter mit Fried-rich Noack und Lothar Wöhler auch zwei von ehemaligen Darmstädter Hochschulleh- 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 255rern,1033erklärte das Ministerium die Aktion für „im wesentlichen abgeschlossen“.1034Lediglich in 14 Fällen sah das Kultusministerium Handlungsbedarf.1035Parallel dazu riefdas Ministerium die Hochschule dazu auf, eine Liste mit den bekannten Fällen zu über-mitteln.1036Auch wenn dies nicht in der Intention des Ministeriums gelegen haben mag,nutzte die Hochschulleitung die Gelegenheit, dem Ministerium eine sehr eigentümlicheListe zu präsentieren: Neben den aus „rassischen“ Gründen entlassenen Professoren HansBaerwald, Ernst Berl und Edmund Stiasny, gegen deren Rehabilitierung „nichts einzu-wenden“ sei, nannte man drei Privatdozenten, an deren Rückkehr man „nicht interessiert“sei und deren erneute Anwesenheit an der TH Darmstadt sogar mit „unerwünscht“ kom-mentiert wurde. Dies waren die Privatdozenten Karl Fritzler und Georg Reutlinger, dielaut Angaben des Rektors während des „Dritten Reiches“ aus „mangelnder wissenschaft-licher Betätigung“ entlassen worden waren sowie der Privatdozent Ulrich Hintzelmann,bei dem die Gründe für die Entlassung mit „unbekannt“ angegeben wurden.1037Versehenwurde die Liste mit der Anmerkung, dass man wegen Kriegszerstörungen Einzelheitennicht mehr feststellen könne.1038Im Juni 1948 übergab die TH Darmstadt eine weitereListe mit während des Nationalsozialismus vertriebenen Hochschullehrern an das Kul-tusministerium.1039Nach den gescheiterten Versuchen, die Betroffenen ausfindig zu ma-chen, bemühte sich das Ministerium, durch verschiedene Anreize, die Hochschulen undUniversitäten zum Handeln zu bewegen. Unter anderem tätigte es Aufrufe, vom Natio-nalsozialismus verfolgte „wissenschaftlich taugliche Persönlichkeiten“ bei Personalfra-gen zu berücksichtigen und machte auf die Möglichkeit, Gastprofessuren einzurichten,aufmerksam.1040Darüber hinaus überließ das Ministerium es den Hochschulen und Uni-versitäten, aktiv zu werden.

Für die TH Darmstadt bedeutete dies, dass weder vonseiten der Militärregierung nochvonseiten des Kultusministeriums weiterführende Eingriffe befürchtet werden mussten.256 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung Die Hochschule blieb nicht zuletzt deswegen selbstbestimmt, da nur sie über das Wissender vergangenen Ereignisse verfügte, auf das die Militärregierung und das Kultusminis-terium angewiesen waren. Durch gezieltes Einsetzen dieses Wissens ließen sich nun dieeigenen Interessen steuern. Deutlich sichtbar wird dies unter anderem an der Tatsache,dass man, je nach Empfängeradresse, auf den Listen zu den aus dem Amt vertriebenenHochschullehrern unterschiedliche Personen aufzählte. Den Amerikanern gegenüber prä-sentierte der Rektor lediglich die Namen jener entlassenen Hochschullehrer, deren Rück-berufung erwünscht war. Erwähnt wurde nicht, dass die Hochschule sich der NS-Gesetzebedient hatte, um unerwünschte Dozenten unproblematisch entfernen zu können, die nun,auch nach 1945, weiterhin als „unerwünscht“ galten.

Dies zeigt eindrücklich die Haltung der TH Darmstadt gegenüber während des Nati-onalsozialismus entlassener Kollegen: An einem generellen Anspruch auf Rückkehr warder TH Darmstadt nicht gelegen, weder aus moralischen noch aus pragmatischen Moti-ven. Obwohl es im Rahmen der Entnazifizierung zu personellen Engpässen kam, betrach-tete es die TH Darmstadt nicht als Alternative, diese Lücken mit während dem National-sozialismus aus dem Amt vertriebenen Hochschullehrern zu schließen. Stattdessenwurden Wissenschaftler berufen, mit denen man sich viel eher solidarisch zeigte, Stellenumgewidmet oder gestrichen. Es lag also an den Betroffenen selbst, tätig zu werden. Jenachdem, wohin und wie sich die Schicksale der einzelnen Personen nach ihrer Vertreibungvon der Technischen Hochschule entwickelt hatten, war die Motivation zur erneuten Kon-taktaufnahme mit der ehemaligen Wirkungsstätte in Darmstadt unterschiedlich groß.

Missglückte Rückkehr des außerordentlichen Professors Hans Baerwald

Die TH Darmstadt führte in der Nachkriegszeit mit dem aus „rassischen“ Gründen 1933entlassenen außerordentlichen Professor für Theoretische Physik Hans Baerwald Ver-handlungen über dessen Rückkehr. Dies war die einzige geplante Rückberufung einesemigrierten Professors, welche jedoch durch den plötzlichen Tod Baerwalds noch im Exilnicht zustande kam. Nach Aussage des Rektors empfand die TH Darmstadt seine Rück-berufung als „die Erfüllung einer Pflicht der Wiedergutmachung“.1041Die Initiative fürdie Rückberufung ging jedoch von Baerwald selbst aus.

Seine wissenschaftliche Karriere hatte durch die Vertreibung erheblichen Schaden er-litten. Mehrere Versuche, nach seiner Entlassung im Jahr 1933 in der Wissenschaft tätigwerden zu können, scheiterten. Trotz der Unterstützung durch eine Gruppe deutscherPhysiker, darunter der Darmstädter Hans Rau, Mitarbeiter vom Physikalischen Institut 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 257der Universität Würzburg sowie Professor Heinrich Freiherr Rausch von Traubenberg1042von der Universität Kiel, fand sich keine derartige Möglichkeit für Baerwald.1043Auf An-regung des Physikers Max Born bemühte sich Baerwald über den Academic AssistantCouncil (AAC) um die Möglichkeit, in einem physikalischen Labor einer britischen Uni-versität experimentell arbeiten zu können.1044Obwohl Baerwald seine Bereitschaft dazuäußerte, auch unentgeltlich tätig zu sein – er verfügte über eine Pension von 250 RM –scheiterte der Versuch, einen Platz in einem Labor an einer britischen Universität zu fin-den, einerseits aus Etatgründen und weil es andererseits für britische Kollegen zu wenigeStellen gab, insbesondere aber auch wegen seines Alters.1045Neben der Suche über dieAAC befand sich Baerwald auch in den Listen der „Notgemeinschaft Deutscher Wissen-schaftler im Ausland“, kurz NDW in Zürich, bekam gelegentlich Angebote, wovon je-doch keines zu einer Anstellung führte.1046Im Jahr 1935 schien es für einen kurzen Au-genblick so, dass Baerwald erneut an der TH Darmstadt unterkommen könnte: Das Kul-tusministerium stimmte zu, dass Baerwald auf Widerruf eine unbezahlte Stelle am Phy-sikalischen Institut der TH Darmstadt übernehmen könne.1047Kurz nachdem Baerwalddie Arbeit begonnen hatte, musste er aus gesundheitlichen Gründen abbrechen, zwischen1935 und 1936 war Baerwald krankheitsbedingt nicht arbeitsfähig.1048Während derReichspogromnacht im Jahr 1938 wurde Baerwald in Darmstadt verhaftet und anschlie-ßend für einen Monat im KZ Buchenwald interniert. Nachdem er sich zur Emigrationverpflichtet hatte, wurde seiner Entlassung zugestimmt.1049Baerwald floh nach Großbri-tannien, wo sich Tochter und Sohn bereits aufhielten. Seiner Frau blieb jedoch die Ein-reise verwehrt, sie blieb in Darmstadt. Im Mai 1939 erreichte Baerwald Großbritannien,wo er zunächst bei Freunden in Newcastle unterkommen konnte.1050Seine Suche nacheiner Möglichkeit des beruflichen Fortkommens fand nur ein Jahr später eine jähe Unter-258 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung brechung: Baerwald wurde am 25. Juni 1940 von den Briten interniert. Infolge des aus-gebrochenen Krieges brachten ihn diese aufgrund seiner deutschen Staatsbürgerschaft imHutchinson Internment Camp in Douglas auf der Isle auf Man unter.1051Baerwald littunter der Situation, er fühlte sich nutzlos eingesperrt in dem Land, das ihm Zuflucht vorden Nationalsozialisten gegeben hatte.1052Freunde und Unterstützer setzten sich für Baer-wald ein,1053sodass dieser am 5. November 1940 freigelassen wurde.1054Von 1941 bis1944 war Baerwald, mittlerweile 61 Jahre alt, als kommissarischer Lehrbeauftragter anschottischen und walisischen Universitäten tätig.1055Nachdem er achteinhalb Jahre nichtmehr als Hochschullehrer gearbeitet hatte, fühlte Baerwald sich mit dieser Tätigkeit un-wohl, insbesondere die Sprachbarriere machte ihm Schwierigkeiten.1056Dies führte dazu,dass er seine Anstellungen häufig wechselte und im Jahr 1944 weder die SPSL noch an-dere Institutionen für Baerwald eine Anstellung finden konnten, sodass sich seine Le-benssituation in Großbritannien enorm verschlechterte.1057

Das Kriegsende brachte für Baerwald nun die Möglichkeit einer Rückberufung an dieTH Darmstadt, die er spätestens seit Mai 1945 anstrebte.1058So habe er nach eigenenAussagen nur „beschränkt an den hiesigen [d. h. britischen] Universitäten wirken kön-nen“ und bat am 30. Januar 1946 in einem Brief aus dem schottischen Exil die TH Darm-stadt, ihn in seine alte Stellung als außerordentlichen Professor der Physik wiederaufzu- 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 259nehmen.1059Nicht unbedeutend für diesen Wunsch war die Tatsache, dass seine Frau ihmdamals nicht ins Exil folgen konnte, sondern in Darmstadt geblieben war.1060Wenngleichnach Aussagen des amtierenden Rektors die im Jahr 1930 eigens für Baerwald geschaf-fene außerordentliche Professur für Theoretische Physik mit seinem Ausscheiden 1933weggefallen sei und mit Otto Scherzer ein jüngerer Vertreter der theoretischen Physik1936 berufen worden war, befürwortete die Hochschule in ihrem Antrag an das Ministe-rium „auf das Wärmste die Rückberufung Baerwalds“. Obwohl Scherzer sich zu diesemZeitpunkt in Kriegsgefangenschaft befand und seine Rückkehr an die Hochschule wegender sich verkomplizierenden Entnazifizierungsbestimmungen zeitweise unwahrschein-lich wurde, sah sich die TH Darmstadt in der Pflicht, Scherzer den Lehrstuhl freizuhalten.Baerwald gegenüber äußerte der Rektor, dass man ihm zwar seine alte Position nicht an-bieten könne, jedoch sei eine „weitere Ausgestaltung des physikalischen Unterrichts ander Technischen Hochschule Darmstadt durchaus erwünscht“.1061In welcher Form dieangestrebte Rückberufung also tatsächlich umgesetzt worden wäre, bleibt damit unklar.Baerwald erhielt vom Ministerium eine Bescheinigung, dass die TH Darmstadt bereit sei,ihn nach der Rückreise nach Deutschland „für eine Verwendung in Vorschlag zu brin-gen“.1062Dass die TH Darmstadt Baerwald gegenüber ein großes Entgegenkommenzeigte, steht außer Zweifel, jedoch, und das ist für die Besetzung von Lehrstühlen eherungewöhnlich, scheint der Rektor die wohlgemeinte Einladung an Baerwald ausgespro-chen zu haben ohne vorherige Rücksprache mit der Fakultät. Erst im Nachhinein„stimmte die Fakultät erfreut den Maßnahmen des Herrn Rektors zu.“1063Wie berichtet,verstarb Baerwald plötzlich und noch im Exil. Die Umstände seines Todes sorgten fürreichliche Spekulationen. So wurde sein tragischer Tod in der Presse in Verbindung mitder Verweigerung einer Ausreisegenehmigung durch die britische Militärregierung ge-stellt. Weil das englische Kriegsministerium die Ausreise nicht erlaubte, habe Baerwaldeinen Schlaganfall erlitten und sei noch mit der betreffenden Nachricht in seiner Handvor dem Haus gestorben.1064

260 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung Unterstützung der Anträge für eine Altersversorgung von Hinterbliebenen

Als die TH Darmstadt von Baerwalds Tod erfuhr, ergriff die Leitung der Hochschule dieInitiative, der Witwe in der schwierigen Situation beizustehen. Der Rektor sprach ihr ge-genüber sein tiefes Bedauern darüber aus, dass „die Technische Hochschule Darmstadtnun nicht mehr in der Lage ist, einen Teil des dem Verstorbenen zugefügten Unrechteswiedergutzumachen“.1065Der Kleine Senat beschloss sogleich, die Frage der Ansprücheder Witwe zu klären.1066Die Hochschule setzte sich dafür ein, dass die Witwe Baerwalds„in den vollen Genuß der Wiedergutmachungsmöglichkeit“, sprich Witwenbezüge einesverstorbenen Hochschulprofessors, gelange.1067In diesem besonderen Fall hatte die THDarmstadt die Initiative für die Klärung der Altersversorgung der Witwe als Form derWiedergutmachung von sich aus angestrebt, sonst lag es in der Hand der Betroffenenselbst, initiativ zu werden. Nicht selten brachte diese Situation die Antragstellerinnen ineine existenzielle Notlage. Insbesondere in den ersten Nachkriegsmonaten waren sie aufdie schnelle Fürsprache der TH Darmstadt angewiesen, da eine gesetzliche Regelung die-ser Angelegenheit noch nicht bestand. Zwei Anträge von Angehörigen sind in den Aktender TH Darmstadt überliefert, welche die TH Darmstadt stets wohlwollend unter-stützte.1068Als sich im Dezember 1945 die Tochter des im Zuge der Denkschrift entlas-senen und nach Mainz versetzten Architekturprofessors Ludwig Wagner wegen der Wit-wenpension ihrer Mutter an die TH Darmstadt wandte, befürworteten sowohl der Dekander Fakultät für Architektur als auch der Rektor der TH den Antrag.1069Auch den Antragder Witwe des 1944 in Frankreich gefallenen Geologen Hans Jüngst unterstützte die THDarmstadt mit einer Stellungnahme zu dessen Entlassung während des „Dritten Reiches“.Der Verwaltungsausschuss bestätigte der Witwe im September 1945, dass Jüngst auf Ver-anlassung des REM 1939 aus der TH Darmstadt ausscheiden musste. Zwar habe die Per-sönlichkeit Jüngst „gewisse Ecken und Kanten“ aufgewiesen, jedoch müsse „in diesemFall früheres Unrecht unbedingt wieder gutgemacht werden“.1070

7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 261 Die Wiederverleihung der Venia Legendi an die nichtplanmäßigen Professoren Kleinlogel und Noack

Ebenso schnell reintegrierte die TH Darmstadt zwei während des „Dritten Reiches“ ent-lassene und in Deutschland verbliebene außerplanmäßige Professoren. Sie nahmen keineLehrstühle und damit finanzielle Ressourcen in Anspruch und bekamen ihre ehemaligenStellungen wieder zugestanden. Auch wenn Eisenbetonfachmann Kleinlogel bereits imSemester 1946/47 wieder als außerplanmäßiger Professor Veranstaltungen gab und insPersonal- und Vorlesungsverzeichnis aufgenommen wurde,1071verlief der Weg bis zurWiederverleihung seiner Venia Legendi nicht ohne Reibungen. Kleinlogel brachte sichmit einem Brief im Juli 1945 bei der Leitung der TH Darmstadt in Erinnerung und for-derte die Zurücknahme des seinerzeitigen Entzugs der Lehrbefugnis, welchen er als „gro-bes Unrecht“ bezeichnete. Zwar wolle er sich „selbstverständlich der Hochschule in kei-ner Weise irgendwie aufdrängen“, lege aber Wert darauf „in allen Ehren wieder in denVerband der Hochschule wieder aufgenommen“ zu werden.1072Allem Anschein nach wardem Schreiben ein Gespräch zwischen Kleinlogel und der Fakultät vorausgegangen, indem man sich bereits über die Wiederaufnahme von Vorlesungen durch Kleinlogel einiggeworden war. Gleichwohl reagierte die Leitung der TH Darmstadt auf das SchreibenKleinlogels zunächst mit Vorbehalten. Die Hochschule hatte zwischenzeitlich erfahren,dass Kleinlogel sich in eigener Sache auch an die Deutsche Regierung Starkenburg ge-wandt hatte und befürchtete nun, dass er mit deren Unterstützung unter Umständen gegenden Willen der Fakultät seine Lehrbefugnis an der TH Darmstadt wiedererlangenwollte.1073Ein solches Verhalten erzeugte deutliches Unbehagen aufseiten der Hoch-schule, die Kleinlogel sogleich mit dem Vorwurf konfrontierte, er wolle die Regierungfür seine Zwecke instrumentalisieren.1074Darin wird deutlich: Die TH Darmstadt wollteauch angesichts der Wiedergutmachung von im Namen des Nationalsozialismus erwirk-ten Entlassungen nicht auf ihr Recht der Selbstergänzung verzichten, jede Einmischungvon außen wurde diesbezüglich als Gefahr gesehen. Doch Kleinlogel ließ sich von diesenVorbehalten nicht einschüchtern und stellte gegenüber der Hochschulleitung mit deutli-chen Worten klar, dass er der Regierung gegenüber lediglich einen „zusammenfassendenBericht“ über die für ihn sehr nachteiligen Vorgänge abgeliefert habe, worin er sein „gu-tes Recht“ sah.1075Um weiteren Missverständnissen vorzubeugen, schickte er der262 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung TH Darmstadt einen Durchschlag seiner Eingabe bei der Deutschen Regierung und be-merkte, dass die Wiedererteilung der Venia Legendi für ihn allein vonseiten der Hoch-schule erfolgen könne.1076Die TH Darmstadt betrachtete gleichwohl die Frage der Wie-dererteilung als „politische Frage“, bezeichnete sich von nun an als nicht zuständig undlegte – trotz vorheriger Vorbehalte – die Entscheidung in der Angelegenheit vollständigin die Hände der Landesregierung.1077Diese plante zunächst eine lückenlose Aufklärungdes Falles. Sie beauftragte Ministerialrat Hoffmann, „die Angelegenheit amtlich aufzu-klären“. Dieser forderte die 1936 anwesenden Professoren der TH Darmstadt auf, Details,welche zur Entlassung Kleinlogels beitrugen, darunter auch das damalige Ehrengerichts-verfahren gegen Kleinlogel, zu benennen.1078Unter anderem mussten sie sich auch derunangenehmen Frage stellen, welche Rolle die „Judenfrage“ bei der Entlassung gespielthabe.1079Auch wenn dies keine Konsequenzen für die TH Darmstadt oder die betreffen-den Professoren nach sich zog, war dies ein erstaunliches Vorgehen. Es ist der einzigeFall, in dem es tatsächlich den Versuch gab, die beteiligten Akteure und deren Rolle beider Vertreibung aus dem Amt zu rekonstruieren. Das Ministerium beschloss im Januar1946, die Entscheidung des REM zu widerrufen und Kleinlogel seine Lehrbefugnis wie-der zuzugestehen.1080Mit einer Sonderbehandlung vonseiten der TH Darmstadt konnteKleinlogel jedoch nicht rechnen, auch er wurde im Zuge der Entnazifizierung politischüberprüft. Nachdem Kleinlogel seit dem Sommersemester 1946 wieder Veranstaltungenan der TH Darmstadt anbot, wies ihn deren Rektor im April 1947 darauf hin, dass fürseine Tätigkeit keine schriftliche Genehmigung der Militärregierung oder eine Spruch-kammerentscheidung vorliege.1081Kleinlogel hatte sich als Wiedergutmachungsfall für„stillschweigend genehmigt“ betrachtet und war angesichts dieser Anweisung derartüberrascht, dass er sofort seine angekündigten Veranstaltungen absagte.1082Der Rektorwar nun seinerseits darum bemüht, Kleinlogel zu versichern, dass es sich um „die Erfül-lung formaler Bestimmungen, aber nicht um einen Zweifel an der Legitimität“ von Klein-logels Beschäftigung an der Hochschule handele.1083Für das kurz darauf folgendeSpruchkammerverfahren bestätigte der Rektor der TH Darmstadt Kleinlogel, dass dieser 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 263sich an der TH Darmstadt nicht „nazistisch“ betätigt habe und auf Erlass des REM 1936entlassen wurde.1084

Kleinlogel, der von 1935 bis 1945 Mitglied des NS-Dozentenbunds (NSDDB) war,wurde zu seiner Bestürzung zunächst der Gruppe der Mitläufer zugeteilt.1085In zweiterInstanz galt Kleinlogel kurz darauf als „vom Gesetz nicht betroffen“.1086Dieser Zwi-schenfall und insbesondere die voreilige Reaktion Kleinlogels zeigt, dass mit der Wie-derherstellung der Venia Legendi nach 1945 die Beziehung zwischen der TH Darmstadtund Kleinlogel keinesfalls in gemäßigten Bahnen ablief, sie blieb zweifellos ein speziellesVerhältnis.

Auch Musikwissenschaftler Friedrich Noack, bis zu seiner Entlassung von der THDarmstadt im Jahr 1940 außerplanmäßiger Professor der Abteilung für Kultur- undStaatswissenschaften, gab spätestens im Wintersemester 1946/47 wieder in dieser Eigen-schaft Veranstaltungen.1087Mit Erlass vom 22. November 1945 wurde Noack gemäß ei-ner Verfügung des Regierungspräsidenten Hessen wieder als Dozent an der TH Darm-stadt zugelassen.1088Infolgedessen trennte sich die TH Darmstadt von Professor WilhelmBorngässer, der nach der Entlassung Noacks dessen Unterricht mit einem bezahlten Lehr-auftrag übernommen hatte.1089Wann und auf welchem Wege die Löschung seiner VeniaLegendi rückgängig gemacht wurde, bleibt unklar, da eine Personalakte von Noack selbstfür die Zeit nach 1945 nicht überliefert ist und auch seine Wiesbadener Personalnebenaktedarüber keine Rückschlüsse zulässt.1090

Zwar zählten Kleinlogel und Noack zu den einzigen Hochschullehrern, die nach ihrenEntlassungen in gleicher Position wieder an der TH Darmstadt zurückkehrten, allerdingsgibt es Anzeichen dafür, dass sie nicht zu den gleichen Bedingungen wie vor ihrer Ent-lassung tätig wurden. Sowohl Kleinlogel als auch Noack erhielten zunächst für ihre Lehr-veranstaltungen keinen besoldeten Lehrauftrag, als Vergütung mussten sie demnach mitden Unterrichtsgeldern vorliebnehmen. Noack selbst wies das hessische Kultusministe-264 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung rium im Rahmen seines Wiedergutmachungsverfahrens darauf hin, dass er vor seiner Ent-lassung einen besonderen Lehrauftrag besessen hatte.1091Kurze Zeit später entschied derKleine Senat der TH Darmstadt, dass Noack einen Lehrauftrag erhalten solle, ob und wiedieser besoldet wurde lässt sich jedoch nicht feststellen.1092

Ablehnung einer Rückberufung des ehemaligen Architekturprofessors Josef Plenk Anders sah das Verhalten der Hochschule aus, wenn es sich um Lehrstühle handelte, dieneu besetzt waren, wie der Fall des persönlichen Ordinarius für freies Zeichnen und Ma-len Josef Plenk zeigt. Der infolge der Lieser’schen Denkschrift entlassene Plenk meldeteim Oktober 1945 über einen Anwalt Ansprüche auf seine alte Position beim Ministeriumund der TH Darmstadt an.1093Da der Lehrstuhl bereits wieder mit Professor Geibel besetztworden war, sah die Hochschule keine Möglichkeit, Plenk zurückzuberufen.1094Die Fa-kultät für Architektur bestätigte Plenk zwar, dass er aufgrund der Denkschrift gemeinsammit Professor Wagner entlassen worden war, wegen des veränderten fachlichen Profilsder Architektur an der TH Darmstadt sowie der nicht vorhandenen finanziellen Ressour-cen sah sie sich jedoch – auch längerfristig – außerstande, Plenk wieder in ihre Reihenaufzunehmen.1095Auch in seinem Fall hieß das de facto, dass der Hochschule das Rechtauf Selbstbestimmung vor einer moralischen Pflicht der Wiedergutmachung stand. Mög-lich wäre zudem, dass die Professoren der Fakultät für Architektur kein Interesse daranhatten, Plenk erneut als aktiven Hochschullehrer in ihre Reihen aufzunehmen. DerartigeSchlüsse lassen einzelne Äußerungen von Darmstädter Professoren im Entnazifizierungs-verfahren von Karl Lieser zu. So geht aus der Spruchkammerverhandlung hervor, dassdie Stellungnahmen Liesers über die Architekten Wagner und Plenk von 1933 durchausgeteilt wurden und Plenk möglicherweise darum auch nach 1945 als Hochschullehrer inDarmstadt nicht erwünscht war. Während das standhafte Festhalten Liesers an seinen Äu-ßerungen, angesichts der Notwendigkeit sich in seinem Entnazifizierungsverfahren zurechtfertigen, nicht sonderlich überraschend ist,1096verwundert es umso mehr, warum ihmProfessoren der Fakultät für Architektur und Professor Alwin Walther in dieser Hinsicht 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 265zustimmten.1097Walther bezeichnete die Denkschrift im Spruchkammerverfahren gar als„reinigendes Gewitter“.1098Vor dem Hintergrund dieser nahezu allgemein vertretenenHaltung der Professoren – lediglich Gruber, der neben Plenk, Wagner und Meißner eben-falls angegriffen worden war, äußerte sich in der Nachkriegszeit kritisch über die Behaup-tungen in der Denkschrift1099– ist die Ablehnung der Wiederaufnahme Plenks in denLehrkörper der TH Darmstadt zu verstehen.

Im Jahr 1950 unternahm Plenk einen erneuten Versuch: Er forderte die Wiederverlei-hung seiner Venia Legendi als „ideelle Wiedergutmachung“ über das Kultusministeriumein.1100Die Fakultät erklärte sich zwar im Juni 1950 einstimmig damit einverstanden,Plenk die Venia Legendi wiederzuverleihen,1101sie unterließ es jedoch, konkrete Schrittezu unternehmen, um die Aberkennung wieder rückgängig zu machen, obwohl Rektor undSenat wiederholt von Plenk zu einer offiziellen Benachrichtigung aufgefordert wur-den.1102Erst vier Jahre später, nachdem Plenks juristisches Wiedergutmachungsverfahrenabgeschlossen war, fand Ende 1954 im Kleinen Senat erneut eine Abstimmung zur Wie-derverleihung der Venia Legendi statt.1103Im März 1955 erhielt Plenk von der TH Darm-stadt die Bestätigung, dass seine Venia Legendi wieder gültig sei.1104Nicht auszuschlie-ßen ist, dass die TH Darmstadt mit der Wiederverleihung der Venia Legendi abgewartethatte, bis mit Plenks Status als Emeritus ausgeschlossen werden konnte, dass er erneut alsaktiver Hochschullehrer tätig werden würde. Erstmals im Personal- und Vorlesungsver-zeichnis als „von den amtlichen Pflichten entbundener Professor“ stand Plenk damit imJahr 1955/56, Veranstaltungen gab er keine mehr.1105

266 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung Die Rückkehr von Klaus Federn an die TH Darmstadt

Der 1933 als Hilfsassistent entlassene Klaus Federn gehörte zu einem der ersten Habili-tanden der TH Darmstadt in der Nachkriegszeit. Nach seiner Tätigkeit als Hilfsassistentwar Federn einige Jahre Privatassistent von Professor Thum, die einzige Möglichkeit,Federn als „Mischling ersten Grades“ noch zu beschäftigen. Federn promovierte beiThum im Jahr 1939 und wechselte anschließend in die Industrie. Im März 1947, nur zweiJahre nach Ende des Krieges, reichte Federn seine Habilitationsschrift über elektrischeFeinwuchtmaschinen bei der Fakultät für Mathematik und Physik der TH Darmstadtein.1106Die Arbeit war ein Ergebnis seiner mehrjährigen praktischen Tätigkeit bei derMaschinenfabrik Schenck in Darmstadt, wo er nach seiner Entlassung durch die THDarmstadt ab 1939 als Ingenieur, zeitweise in u.k.-Stellung, tätig war.1107Obwohl Federnaufgrund seiner „nichtarischen“ Herkunft 1939 dazu gezwungen wurde, seine wissen-schaftliche Tätigkeit an der TH Darmstadt aufzugeben, war es ihm gelungen, seine For-schungsarbeiten auch im Rahmen der industriellen Tätigkeit erfolgreich weiter fortzufüh-ren. In der Nachkriegszeit resultierte diese erfolgreiche Tätigkeit in Federns Ernennungzum Leiter der Abteilung „Prüfwesen“; im Jahr 1947 erhielt er einen Ruf an die TH Dres-den, auch die Alliierten zeigten reges Interesse an seinen Arbeiten.1108Am 18. Juni 1947verlieh ihm die Fakultät für Mathematik und Physik der TH Darmstadt, ohne dass eineneue Dozentenordnung erlassen worden war1109, die Venia Legendi für „Technische Me-chanik“.1110Wie aus dem Antrag der Fakultät hervorgeht, war der Kontakt zwischen Fa-kultät und Federn nach seiner Entlassung auch während des Krieges zu keinem Zeitpunktabgebrochen.1111Im Vorfeld der Verleihung der Venia Legendi an Federn waren die Pro-fessoren der TH Darmstadt übereingekommen, grundsätzlich bei Ernennungen auf den 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 267„eindeutigen Nachweis selbstständiger wissenschaftlicher Arbeit“ zu bestehen.1112Auchbei während des „Dritten Reiches“ aus dem Amt vertriebenen Hochschulmitarbeiternsollten nach 1945 Wiederernennungen zu keinem Zeitpunkt ein automatisierter Akt derWiedergutmachung von nationalsozialistischem Unrecht werden, trotz angespannter per-soneller Lage wurden wissenschaftliche Standards stets eingehalten. Diese Motive unter-strich die Hochschule gegenüber dem Kultusministerium ganz bewusst: „Es sei erwähnt,daß F. zu den rassisch Benachteiligten gehört, daß aber seine Leistungen so ausgezeichnetsind, daß seine Zulassung als Privatdozent nicht durch die Tatsache der Benachteiligungveranlasst wird“.1113Auch wenn diese Vorgehensweise im Fall von Federn – der als„Nichtarier“ unter besonders widrigen Umständen sein Studium und seine Promotion ander TH Darmstadt mit Bestnoten absolviert hatte, dessen wissenschaftliche Arbeiten An-erkennung fanden und der seine Forschungen auch während des Krieges erfolgreich undin u.k.-Stellung weiterführen konnte – zu keiner Benachteiligung führte, stellte das Vor-gehen für die meisten von nationalsozialistischer Verfolgung betroffenen Wissenschaftlereine erneute Diskriminierung dar. Den wenigsten war es wie Federn gelungen, trotz desTatbestands der Verfolgung ihre wissenschaftliche Karriere ohne Unterbrechungen vo-ranzutreiben, sodass sie den Standards für eine Wiederernennung erneut standhaltenkonnten und nicht ein zweites Mal diskriminiert wurden.

Aus dem Amt vertriebene Hochschulmitarbeiter, die nicht wie Federn ihre wissen-schaftlichen Forschungen fortsetzen konnten, oder deren Fachgebiete nicht mehr mit demProfil der TH Darmstadt entsprachen bzw. durch Neuberufungen bereits wieder vertretenwaren, wurden damit benachteiligt. Dass einige Wissenschaftler unter den Bedingungenvon Flucht und Vertreibung dazu keine Möglichkeit hatten, blieb unberücksichtigt.

7.2.2Die Rolle der TH Darmstadt in der juristischen Wiedergutmachung.

Wiedergutmachungsverfahren vertriebener Hochschulmitarbeiter

Der Alliierte Kontrollrat setzte mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 1 am 20. September 1945eine Anzahl von NS-Gesetzen außer Kraft, darunter das Gesetz zur Wiederherstellungdes Berufsbeamtentums vom 7. April 1933. Damit war der Startpunkt gesetzt für die ju-ristische Auseinandersetzung mit aus dem Amt vertriebenen Hochschullehrern. Im Laufeder 1950er Jahre traten weitere Gesetze in Kraft, welche die Rahmenbedingungen einerzum Teil recht komplizierten Verfahrensweise der juristischen Wiedergutmachung schu-268 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung fen. Zunächst wurde die Wiedergutmachung übergangsweise auf Landesebene geregelt.In Hessen wurden am 19. September 1947 die „Richtlinien für die Wiedergutmachungnationalsozialistischen Unrechts“ erlassen, die im Jahr 1949 vom „Gesetz zur Wiedergut-machung nationalsozialistischen Unrechts“ abgelöst wurden.1114

Im Jahr 1951 sorgte ein erstes Bundesgesetz für eine einheitlichere Handhabung. Das„Wiedergutmachungsgesetz für die Angehörigen des öffentlichen Dienstes“ (BWGöD)betraf jedoch zunächst nur die Wiedergutmachung von Personen, die aus ihrem Amt imöffentlichen Dienst entlassen worden waren.1115Es wurde am 11. Mai 1951 verkündet,nicht ganz zufällig zeitgleich mit der Verkündung des Gesetzes zur Regelung der Rechts-verhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen.1116Im Zuge vonspäter erfolgten Novellierungen wurde der Kreis der Anspruchsberechtigten sukzessiveerweitert. Erst zehn Monate später, am 18. März 1952, trat das BWGöD (Ausland) inKraft, das eine Wiedergutmachung von Emigranten vorsah, ohne dass diese nachDeutschland zurückkehren mussten.1117Doch auch damit war die finanzielle Sicherungder Emigranten noch nicht abschließend möglich gemacht. Erst ab dem Jahr 1954 wurdeder Transfer von Ruhegehältern und Emeritenbezügen ins Ausland gesetzlich gere-gelt.1118Hochschullehrer, welche zum Zeitpunkt ihrer Entlassung keine Anstellung alsStaatsbeamte innehatten, fielen unter das Bundesergänzungsgesetz (BErgG) aus dem Jahr1953, das im Jahr 1956 vom Bundesentschädigungsgesetz (BEG) abgelöst wurde.

Nach § 1 des BWGöD waren jene Personen des öffentlichen Dienstes entschädigungs-berechtigt, die „in ihrem Dienst- oder Arbeitsverhältnis oder in ihrer Versorgung durchnationalsozialistische Verfolgungs- oder Unterdrückungsmaßnahmen wegen ihrer politi-schen Überzeugung oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauunggeschädigt worden sind“.1119Nachträglich ausgeschlossen von Wiedergutmachungsleis-tungen wurden Personen, welche im Verlauf des „Dritten Reiches“ nationalsozialistische 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 269Zugeständnisse in Form von Beitritten zu NS-Organisationen vollzogen hatten. Einzu-reichen war der Antrag auf Wiedergutmachung bei der ehemaligen obersten Dienstbe-hörde, im Falle der Hochschullehrer damit beim Kultusministerium. Dabei spielten An-tragsfristen eine nicht unerhebliche Rolle; zunächst war die Frist auf sechs Monate nachInkrafttreten des Gesetzes angelegt. Dieser sehr eng bemessene Zeitraum wurde jedochdurch mehrere Änderungsgesetze verlängert.1120Die Höhe der Entschädigung richtetesich nach der angenommenen akademischen Laufbahn, dafür war entscheidend „welchenVerlauf die akademische Laufbahn des Geschädigten ohne die Schädigung voraussicht-lich genommen hätte“.1121Diese äußerst spekulative Frage wurde in Form von Gutachtender ehemaligen Kollegen abgehandelt. Die juristischen Wiedergutmachungsverfahren be-rücksichtigten neben dem Faktor Entlassung aus dem Amt, dem „Schaden in beruflichenoder wirtschaftlichen Fortkommen“ außerdem „Schaden an Leben, Körper, Gesundheit,Freiheit, Eigentum, Vermögen“, was insbesondere für die aus „rassischen“ Gründen ver-triebenen Darmstädter Hochschullehrer relevant war.1122Für 16 der insgesamt 39 Hoch-schulangehörigen, die anhand von NS-Gesetzen zwischen 1933 und 1941 von der THDarmstadt entlassen worden waren, lässt sich ein juristisches Wiedergutmachungsverfah-ren nachweisen bzw. Anzeichen dafür, dass die Betroffenen oder deren Nachfahren einsolches führen wollten.1123

Wiedergutmachungsverfahren der entlassenen Ordinarien

Eine juristische Wiedergutmachung des 1933 entlassenen Ordinarius für Chemie, Ed-mund Stiasny, scheiterte an der erst später berücksichtigten besonderen Situation ins Exilgeflohener Personen. Stiasny war im Jahr 1933 nach Schweden geflohen, wo er Leiter270 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung des Gerbereichemischen Instituts der Universität Helsingborg wurde.1124Im Jahr 1938nahm er die schwedische Staatsbürgerschaft an und wurde aus Deutschland ausgebürgert,seine bis dahin erfolgten Ruhestandszahlungen eingestellt.1125Im Jahr 1949 beantragteStiasny die Zahlung des Ruhegehalts nach Schweden.1126Dem Antrag Stiasnys wurde zudiesem Zeitpunkt nicht stattgegeben, da die landesgesetzlichen Vorgaben eine Entschä-digung lediglich für deutsche Staatsbürger vorsahen. Man wies Stiasny darauf hin, dass,sobald mit dem neuen Bundesgesetz die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffenseien, ein weiterer Antrag Sinn machen würde. Stiasny hat jedoch keinen solchen Antraggestellt.1127Ob der bis zu seinem Tod 1965 in Schweden lebende Chemiker sich bewusstdagegen entschied oder er über die veränderte Gesetzeslage nicht informiert war und esdeswegen versäumte, einen Antrag zu stellen, geht aus den Akten nicht hervor. Die THDarmstadt, die in Kontakt mit ihm stand, machte ihn jedenfalls nicht auf seine Möglich-keiten aufmerksam.

Der weltweit anerkannte Gerbereichemiker Stiasny hatte in Schweden mittlerweileebenfalls fast 15 Jahre gearbeitet. Die schwedische Regierung honorierte seine Arbeit mitdem „Swedish Order of the North Star“. Letztendlich waren es die schwedischen Gerbe-reichemiker, die für sein Ruhegehalt aufkamen.1128

Wie in Abschnitt 7.2.1 beschrieben, setzte sich die TH Darmstadt für eine angemes-sene Altersversorgung der Witwe des 1946 verstorbenen ehemaligen Professors Baer-wald ein, sodass Ella Baerwald ab September 1946 die vollen gesetzlichen Ruhebezügeangewiesen bekam.1129Doch damit waren die während des „Dritten Reiches“ gekürztenZahlungen noch nicht beglichen. Ella Baerwald hatte nur bis Ende April 1940 Ruhegehalterhalten, danach bekam sie lediglich ein Witwengeld von knapp 230 RM, welches imJahr 1942 erneut auf 150 RM gekürzt worden war.1130Vor der eigentlichen Wiedergut-machung bekam die Witwe fürs Überleben ab Dezember 1948 zunächst von der Landes-regierung eine Beihilfe von 50 DM im Monat zugesprochen.1131Im Rahmen eines Wie-dergutmachungsverfahrens wurden im Jahr 1952 schließlich ihre Witwenbezüge neu fest- 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 271gesetzt und für die versäumten Bezüge eine einmalige Nachzahlung erbracht.1132Bis 1957wurde die Erbengemeinschaft Baerwald nach und nach außerdem für Baerwalds Schadenan Freiheit, Eigentum und Vermögen sowie wirtschaftlichem Fortkommen entschädigt.1133

Auch die Erben des 1943 in Theresienstadt umgekommenen persönlichen Ordinariusfür Rechtswissenschaften Erich Aron stellten einen Wiedergutmachungsantrag.1134DieTH Darmstadt wurde im Zuge der Wiedergutmachung, die vom Landesamt für die Wie-dergutmachung Stuttgart durchgeführt wurde, aufgefordert, eine Berechnung über die er-folgte Besoldung Arons nach dessen Entlassung aufzustellen. Erneut sah sich dieTH Darmstadt wegen der Kriegseinwirkungen nicht in der Lage, festzustellen in welcherHöhe und bis zu welchem Zeitpunkt an den Verstorbenen Bezüge gezahlt worden wa-ren.1135Selbst festzustellen, wie Aron in den Haushaltsplänen der Jahre vor seiner Entlas-sung geführt wurde, so der Verwaltungsdirektor, sei quasi unmöglich, da Aron zunächstals Honorarprofessor, später als Ordinarius mit Lehrauftrag tätig war, ein Lehrstuhl nachInformationen der TH Darmstadt sich an der Fakultät für Kultur- und Staatswissenschaf-ten jedoch nicht belegen ließ. Trotzdem nahm es der Verwaltungsdirektor in anderer Hin-sicht besonders genau, er stellte sogar infrage, ob Aron tatsächlich aufgrund des BGGentlassen worden sei.1136Der Berufsschaden ließ sich damit nur annähernd ermitteln, einentsprechender Wiedergutmachungsbescheid erging erst im Jahr 1964.1137

Die bewusste Entscheidung Gerhard Herzbergs gegen ein juristisches Wiedergut- machungsverfahren

Dass ins Ausland geflohene, aus „rassischen“ Gründen entlassene Wissenschaftler teilsbewusst keinen Antrag auf Wiedergutmachung stellten, zeigt der Fall von Gerhard Herz-berg. Dieser war schon zu seiner Darmstädter Zeit ein anerkannter Physiker, bereits inden 1930er Jahren, kurz nachdem er die Venia Legendi verliehen bekommen hatte,konnte er eine beachtliche Publikationsliste vorweisen und hatte sich einen Namen in der scientific community gemacht.1138Doch auch für ihn fand sich erst nach längerem Suchen272 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung eine Anstellung, die er bereit war anzunehmen. Herzberg, der bis 1935 an der TH Darm-stadt tätig war, bemühte sich seit 1933 um Alternativen im europäischen Ausland. Dabeikonnte er auf seine Kontakte nach Großbritannien zur Universität Bristol zurückgreifen,wo er zwischen 1929 und 1930 gearbeitet hatte.1139Unter anderem Professor Tyndall undder Darmstädter Professor Rau unterstützten ihn mit Empfehlungen beim AAC.1140Aufder weltweiten Suche nach einem neuen akademischen Posten nahm Herzberg auch mitdem Züricher Büro der „Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaftler im Ausland“ Kon-takt auf.1141Herzberg bekam unter anderem Angebote aus China, Indien, Neuseeland,Ecuador und Burma.1142Auch aus Russland kam ein Angebot: J. Frenkel vom LeningradInstitute of Chemical Physics versuchte Herzberg zu gewinnen, dieser lehnte jedoch ausorganisatorischen Gründen ab.1143Obwohl er sich bewusst war, dass er in seiner Situationnicht wählerisch sein konnte, war es sein Wunsch, in einem gut ausgestatteten For-schungszentrum tätig zu werden.1144Seine Suche nach einer derartigen Anstellung in ei-nem Forschungslaboratorium in Großbritannien und Amerika blieb ohne Erfolg.1145Übereinen persönlichen Kontakt eröffnete sich für Herzberg schließlich die Möglichkeit, alsGastprofessor nach Kanada zu gehen. Herzberg hatte in Darmstadt mehrere Jahre mit demKanadier John Spinks zusammengewohnt, dieser stellte den Kontakt zum Präsidenten derUniversität von Saskatchewan in Saskatoon, Walter Murray, her.1146Im Februar 1935bekam Herzberg eine Einladung von Murray als Gastprofessor.1147Am 20. September1935 begann er in Kanada zu unterrichten. Finanziert wurden die ersten zwei Jahre seinerTätigkeit von der Carnegie Corporation, welche vertriebene Wissenschaftler förderte.1148Nachdem es zunächst einige Startschwierigkeiten gegeben hatte – die Organisation einesVisums hatte Probleme bereitet, und so war zunächst nur eine temporäre Beschäftigungmöglich – konnte Herzberg die Universität von sich überzeugen, und nur wenige Monatenach seiner Ankunft bot man ihm statt der Gastprofessur eine permanente Anstellung alsplanmäßiger Professor an.1149Bis September 1945 blieb Herzberg an der Universität vonSaskatchewan. Während dieser Zeit veröffentlichte er über 30 Aufsätze in Fachzeitschrif- 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 273ten und drei Bücher über Atomphysik. Während des Krieges forschte Herzberg unter an-derem für das National Research Council of Canada. Ein Angebot des Yerkes Obser-vatory der Universität Chicago, ein Institut für Spektroskopie aufzubauen, konnte Herz-berg dagegen im Jahr 1943 wegen der Kriegsbestimmungen als deutscher Ausländer nichtannehmen.1150Nach Kriegsende wurde Herzberg im September 1945 Professor für Spekt-roskopie an der Universität Chicago. Drei Jahre später kehrte Herzberg nach Kanada zu-rück, wo er Direktor der physikalischen Abteilung der National Research Council inOttawa wurde und seine Forschungen erfolgreich fortsetzte. Im Jahr 1971 erhielt er fürseine Arbeiten zur Molekül-Spektroskopie den Nobelpreis.

Laut seinem Biografen Boris Stoicheff war Herzberg über den Verlauf seiner Karrierenach seiner Vertreibung von der TH Darmstadt derart erfreut, dass er Hitler regelrechtdankbar war, dass dieser ihn zur Flucht ins Ausland gezwungen hatte.1151Möglich istauch, dass ihn die mit der Wiedergutmachung verbundene zeitaufwendige und damit an-strengende Verfahrensweise davon abhielt, eine solche anzustreben. Wie problematischWiedergutmachungsverfahren ablaufen konnten, erlebte Herzberg in seinem direktenUmfeld: Sein Schwiegervater, vor seiner Vertreibung Unternehmer in Nürnberg, war imZuge seiner Wiedergutmachung nach Deutschland zurückgekehrt. Dort starb er währenddes laufenden Prozesses im Jahr 1957, ohne dass ein erfolgreiches Ende in Sicht war.1152Ob es sich bei den 23 anderen Personen, für die es keine Nachweise eines Wiedergutma-chungsverfahrens gibt, ebenfalls um bewusste Entscheidungen gegen den Antrag handelt,bleibt unklar.1153

Die problematische Frage des Streitwertes bei der Wiedergutmachung von Assis- tenten. Die Fälle Arno Tuteur und Kurt Lion

Vor seiner Entlassung von der TH Darmstadt war Arno Tuteur drei Jahre Hilfsassistentund fünf Jahre Assistent der MPA. Auch er suchte nach seiner Entlassung von derTH Darmstadt mithilfe der AAC nach einer wissenschaftlichen Tätigkeit im Ausland.1154274 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung Lediglich ein Angebot zur Arbeit für die Bergbauindustrie in Südamerika ist in den Aktenüberliefert, welches Tuteur jedoch aus Sprachgründen ablehnte.1155Zwischen 1933 und1935 blieb er in Deutschland, wo er in verschiedenen Stellungen in untergeordneter Tä-tigkeit beschäftigt war, unter anderem mit der Anfertigung von Passbildern und anderenphotografischen Arbeiten. Im Frühjahr 1935 stellte ihn die Firma Herz & Co. in Siegburgals Chemiker ein.1156Im Oktober 1935 wurde er in Worms verhaftet und in verschiedenenGefängnissen eingesperrt, bevor man ihn im November 1935 ins KZ Dachau brachte.1157Im März 1936 wurde er aus der Internierung unter der Voraussetzung freigelassen, dasser emigrierte. Mithilfe von Verwandten, die für ein Visum in die USA gebürgt hatten,emigrierte er am 24. Juni 1936 nach Amerika.1158Dort arbeitete er für verschiedene Un-ternehmen als Chemiker, teilweise unter sehr schwierigen Bedingungen.1159Erst im Jahr1939 gelang es ihm, eine Stelle zu finden, die seinen Kenntnissen und Fertigkeiten ent-sprach, Tuteur wurde Chefchemiker bei der Duquesne Smelting Corporation in Pitts-burgh.1160Im Jahr 1949 wurde er zum Direktor in der chemischen Abteilung der Spectro-chemical Laboratories Inc. befördert.1161

Mitte der 1950er Jahre beantragte Tuteur seine Wiedergutmachung. Das Verfahrendrehte sich um die schwer zu klärende Frage, ob er durch seine achtjährige Assistenzzeitzum Zeitpunkt seiner Entlassung als Staatsbeamter zu gelten hatte. Aufgrund der unein-deutigen Sachlage zog es sich bis ins Jahr 1961. Tuteur beantragte eine Wiedergutma-chung als Beamter. Er war davon überzeugt, dass ihm ohne die Vertreibung aus dem Amtein Aufstieg an der TH Darmstadt bis zum außerordentlichen oder ordentlichen Professorzugestanden hätte.1162Die Entschädigungsbehörde stand seiner Anerkennung als Beamterzunächst offen gegenüber und stellte ihm – dies geht aus einem vorläufigen Wiedergut-machungsbescheid hervor – eine Wiedergutmachung als Oberingenieur in Aussicht.1163Daraufhin meldete die TH Darmstadt in Person des Verwaltungsdirektors Bedenken 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 275an.1164Nach Meinung des Verwaltungsdirektors konnte eine planmäßige Anstellung an-hand der Assistentenordnung von 1924 nicht nachgewiesen werden, vielmehr stand Tu-teur als Assistent in einem „öffentlich rechtlichen Dienstverhältnis zum Staat, ohne je-doch planmäßiger Staatsbeamter oder Anwärter zu sein“.1165Erst später holte sich derVerwaltungsdirektor auch die Meinung der Darmstädter Professoren ein. Der amtierendeDekan des Maschinenbaus sah sich jedoch nicht in der Lage festzustellen, ob für Tuteurdie Möglichkeit einer Ernennung zum Oberassistenten bestanden hätte, und fügte ledig-lich an, dass „der derzeitige Leiter des heute gegenüber der damaligen Zeit wesentlichvergrößerten chemischen Labors nicht als Ober-Assistent tätig ist“.1166Der Verwaltungs-direktor verzichtete darauf, ein Gutachten des damaligen Leiters der MPA, ProfessorThum, einzuholen, da sich dieser zu diesem Zeitpunkt im Ausland aufhielt.1167Stattdes-sen beschloss man in Rücksprache mit dem Kultusministerium, bei der Universität Gie-ßen um eine Stellungnahme zum Status Tuteurs zu bitten. Diese teilte die Meinung desDarmstädter Verwaltungsdirektors, dass Assistenten nicht als Beamten anzusehenseien.1168Auch die Darmstädter Fakultät steuerte erneut eine Stellungnahme bei, die be-tonte, dass es den Gepflogenheiten an der TH widersprechen würde, eine Assistententä-tigkeit als Beginn der Professorenlaufbahn zu betrachten.1169Daraufhin entschied die Ent-schädigungsbehörde mit Wiedergutmachungsbescheid vom 22. Dezember 1958, dass Tu-teur zwar als sogenannter Altassistent – er war mehr als vier Jahre als Assistent an derTH Darmstadt beschäftigt –, zum 1. April 1939 in das Beamtenverhältnis befördert wor-den wäre, aufgrund seiner Tätigkeit an der Materialprüfungsanstalt jedoch eine bessereRechtstellung als die des Oberingenieurs nicht hätte erreichen können.1170Obwohl dieFakultät Tuteur nicht mit einem positiven Gutachten über den theoretischen Verlauf sei-ner wissenschaftlichen Karriere ausgeholfen hatte, konnte er mit seinem Antrag damitzumindest einen Teilerfolg erstreiten.

Dass eine andere Haltung der Fakultät, insbesondere ein Gutachten von ProfessorThum, nicht unbedingt zu einem anderen Ergebnis geführt hätte, zeigt der Fall des 1933276 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung entlassenen Assistenten Kurt Lion. Dieser hatte sich nach seiner Entlassung von derTH Darmstadt in ganz Europa auf die Suche nach einer neuen Anstellung begeben, erreiste unter anderem nach Holland, England und Frankreich.1171Unterstützung bei seinerSuche fand er durch Gerhard Herzberg.1172Jedoch bekam Lion keine Angebote, die erannehmen wollte.1173Der Elektrotechniker ging zunächst nach Kassel und gründete danneine kleine Radioreparaturwerkstatt in Frankfurt, aus der sich ein technisches For-schungslabor entwickelte.1174Im Jahr 1935 floh Lion in die Türkei, wo er an der Univer-sität Istanbul am Institut für Radiologie und Biophysik als Assistent tätig war. Seine Be-schäftigung dort war auf zwei Jahre begrenzt. Im Jahr 1937 reiste Lion auf der Suchenach einer möglichen Beschäftigung für drei Monate in die USA, kam zurück und nahmschließlich das Angebot von Friedrich Dessauer an, mit ihm in die Schweiz zu gehen.1175Dort hatte der ebenfalls emigrierte Physiker Friedrich Dessauer (1881–1963) einen Rufals Professor erhalten. Lion blieb bis März 1941 als Assistent an der Universität Freiburgi. Ü. am Institut für experimentelle Physik.1176Gemeinsam mit Frau und Sohn siedelteLion im März 1941 von Freiburg i. Ü. über Frankreich, Spanien und Portugal mit einemder letzten Schiffe nach New York über. Im Juni 1941 begann er seine Tätigkeit am re-nommierten MIT in Massachusetts zunächst in der Position eines Assistenten, 1943 alsInstructor, 1944 als Assistant Professor, im Jahr 1945 wurde er zum Associate Professorernannt, was der Position eines außerordentlichen Professors entspricht.1177

In seinem Wiedergutmachungsverfahren stellte sich, ähnlich wie bei Tuteur, die Fragedes Streitwertes als problematisch dar. Anders war in seinem Fall jedoch, dass nicht derVerwaltungsdirektor die Stellungnahme verfasste, sondern die Professoren der ehemali- 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 277gen Fakultät Tuteurs Gutachten einreichten.1178Professor Walther stellte Lion ein durch-weg positives Gutachten aus.1179Walther war davon überzeugt, dass Lion nach einer Ha-bilitation, voraussichtlich 1936/37, zum außerplanmäßigen. Professor ernannt wordenwäre (1942/43) und spätestens 1949 einen Ruf als ordentlicher Professor erhaltenhätte.1180Trotz der positiven Gutachten bekam Lion zunächst mit Wiedergutmachungs-bescheid vom 14. Juni 1960 wie Tuteur eine Entschädigung als wissenschaftlicher Assis-tent mit Beamtenverhältnis ab dem Jahr 1939 zugesprochen.1181Auch hier sah es die Ent-schädigungskammer nicht als erwiesen an, dass Lion mit seiner Tätigkeit als AssistentProfessor geworden wäre. Wie bei Tuteur wurde erst eine Habilitation als Voraussetzungeiner Hochschullehrerlaufbahn angesehen. Lion, der mittlerweile am MIT zum Professorernannt worden war, vertrat die Ansicht, dass Vollassistenten den akademischen Nach-wuchs sichern sollten und wehrte sich gegen diese Rechtsauffassung.1182Er legte Beru-fung gegen seinen Wiedergutmachungsbescheid ein. Dabei erhielt er Unterstützung vomebenfalls von der TH Darmstadt vertriebenen Gerhard Herzberg, der ihm bescheinigte,dass er ohne die Vertreibung von der TH Darmstadt Lehrstuhlinhaber geworden wäre.1183Das Verfahren wurde schließlich mit einem Vergleich beendet, in dem Lion zwar nichtdie Ruhegehaltsbezüge als ordentlicher Professor, zumindest aber jene als Wissenschaft-licher Rat zuerkannt bekam.1184Auch hier sollte es bis 1963 dauern, bis der Verwaltungs-direktor die Schadenssumme errechnet hatte, da er sich zunächst dagegen sträubte, dieBerechnung als Wissenschaftlicher Rat anzuerkennen, da ein solches Amt zur betreffen-278 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung den Zeit noch nicht existiert hatte.1185Komplettiert wurde das Wiedergutmachungsver-fahren Ende 1962, als Lion Entschädigungszahlungen für den im Zuge der Flucht erlitte-nen Schaden an Vermögen und die Auswanderungskosten erhielt.1186Die in Teilen er-folgreiche Berufung Lions blieb Arno Tuteur nicht unbekannt. Dieser beantragte Endedes Jahres 1961 ebenfalls, als Wissenschaftlicher Rat entschädigt zu werden. Dies wurdejedoch abgelehnt, da er mit der bereits ergangenen rechtsgültigen Wiedergutmachungkeine weiteren Ansprüche geltend machen könne.1187

Wiedergutmachungsverfahren Privatdozenten Paul Leser, Michael Evenari (zuvor Walter Schwarz) und der Erbengemeinschaft Hans Jüngst

Paul Leser war zum Zeitpunkt seiner Entlassung als nichtbeamteter Privatdozent an derTH Darmstadt tätig. Im Februar 1936 floh er zunächst über Dänemark nach Schweden.Dort lehrte er fünf Jahre an einer Universität. Im Jahr 1942 brach er von Gotenburg überBarcelona in die USA auf.1188Nachdem er zwischenzeitlich für die United States Armytätig war – er kämpfte als amerikanischer Soldat in Nordafrika und Italien1189– undAssociate Professor für Ethnologie der New School for Social Research in New Yorkwurde, lehrte er an mehreren Universitäten Anthropologie, bis er 1952 in Hartford,Connecticut, auf eine Professur für Anthropologie berufen wurde.1190

Im Gegensatz zu Tuteur und Lion erkannte die Entschädigungsbehörde aufgrund derHabilitation seine Stellung als wissenschaftlicher Nachwuchs uneingeschränkt an. Nach-dem Leser einen Antrag auf ein juristisches Wiedergutmachungsverfahren gestellt hatte,wurde die TH Darmstadt für die Berechnung seiner Wiedergutmachungsansprüche auf-gefordert, ein Urteil über den voraussichtlichen Verlauf seiner akademischen Karriereabzugeben. Unter den Darmstädter Professoren hatte man jedoch im Jahr 1956 Schwie-rigkeiten damit, nähere Informationen über Leser ausfindig zu machen. 23 Jahre nachdessen Vertreibung von der Hochschule konnten die in Darmstadt verbliebenen Profes-soren den Namen Lesers nicht mehr zuordnen.1191Nach seiner Habilitation an derTH Darmstadt im Jahr 1929 und der fast vierjährigen Vorlesungstätigkeit war Leser im 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 279Zuge seiner Vertreibung wahrscheinlich nicht zuletzt deswegen nicht mehr präsent, dadas von ihm vertretene Fach der Völkerkunde an der TH Darmstadt mit seiner Entlassungaufgegeben worden war. Dies führte dazu, dass sich die Fakultät für Staats- und Kultus-wissenschaften weigerte, ein Gutachten über Leser anzufertigen. Damit fiel die Bearbei-tung des Vorgangs wieder auf den Verwaltungsdirektor der TH Darmstadt zurück, wel-cher dem Kultusministerium unter Verweis auf die schwierige Aktenlage hin mitteilte,dass man nicht in der Lage sei, eine Stellungnahme zu Leser abzugeben. Zwar sei davonauszugehen, dass er als Privatdozent aufgrund seiner wissenschaftlichen Tätigkeit inLehre und Forschung damit hätte rechnen können, „über kurz oder lang“ auf einen Lehr-stuhl berufen zu werden, jedoch könnten Angaben, in welcher Zeit eine Berufung erfolgtwäre, nicht gemacht werden, da dafür „eine solche Fülle an Voraussetzungen vorliegenmüssen“, dass eine „annähernde Prognose“ nicht gegeben werden könne.1192Nach dieserWeigerung der Fakultät und des Verwaltungsdirektors, ein konkretes Gutachten zuschreiben, holte sich die Entschädigungskammer allem Anschein nach von anderer SeiteStellungnahmen ein, die durchweg positiv ausfielen.1193Leser wurde mit Wiedergutma-chungsbescheid aus dem Jahr 1957, rückdatiert zum 1. April 1940, zum ordentlichen Pro-fessor ernannt und bekam 1962 seine Emeritenbezüge bewilligt.

Doch auch danach war es der Verwaltungsdirektor der TH Darmstadt, der für eineVerzögerung der Auszahlung um drei Jahre sorgte, da sich seiner Ansicht nach über dieFestsetzung der Kapitalentschädigung eines Privatdozenten nicht eindeutig entscheidenließ.1194Dass die Verhandlungen letztendlich im Sinne Lesers ausgingen, lag keinesfallsan der TH Darmstadt, sondern vielmehr am langen Atem Lesers, seiner guten juristischenBeratung und nicht zuletzt an der Tatsache, dass Leser innerhalb der scientific community alles andere als ein Unbekannter war. Er war Schüler von Fritz Graebner, der als Begrün-der der kulturhistorischen Methode in der Ethnologie gilt. Die Habilitationsschrift Leserserlangte internationale Anerkennung. Leser konnte nicht zuletzt deswegen auch im Aus-land seine wissenschaftliche Tätigkeit erfolgreich weiterführen. Im Jahr 1969 wurde erzum Ehrenmitglied der Berliner Anthropologischen Gesellschaft ernannt.1195Leser kamim Laufe der Verhandlungen nach Deutschland, ob er neben seinen Besuchen bei derEntschädigungsbehörde auch die TH Darmstadt besuchte, ist nicht bekannt. An die TH280 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung Darmstadt kam Leser, nicht zuletzt weil mit seiner Entlassung das Fach Völkerkundeeingestellt worden war, nicht wieder zurück. Grundsätzlich war er einer Rückkehr nachDeutschland gegenüber jedoch aufgeschlossen; im Jahr 1958 wirkte er als Gastprofessoran der Universität zu Köln, 1966/67 unterrichtete er in Wien. Offenbar war Leser füreinen Lehrstuhl am völkerkundlichen Seminar in Frankfurt im Gespräch. Im Dezember1957 hielt er dort einen Vortrag, jedoch wurde ihm direkt danach mitgeteilt, dass er sichnicht zu große Hoffnung machen solle.1196Sein weiteres Wiedergutmachungsverfahrenzog sich bis ins Jahr 1968.1197Leser stammte aus einer wohlhabenden Frankfurter Fami-lie. Im Zuge seiner Flucht war er gezwungen gewesen, einen Teil des Eigentums unterdem Preis zu versteigern, was übrig geblieben war, hatte die Gestapo beschlagnahmt.1198Die Verfahren zogen sich unter anderem deswegen so in die Länge, da die Entschädi-gungskammer für die betroffenen Gegenstände Nachweise verlangte, Leser jedoch nichtüber alle Abgaben Dokumente vorweisen konnte. Infolgedessen bekam er nur einenBruchteil seiner Antragsforderungen zugesprochen.1199

Im November 1953 reichte auch der ehemalige Privatdozent Michael Evenari (zuvorWalter Schwarz) einen Antrag auf Wiedergutmachung für Schäden an Eigentum und Ver-mögen und im beruflichen Fortkommen ein. Dieser war nach seiner Entlassung von derTH Darmstadt nach Palästina geflüchtet. An der Hebräischen Universität Jerusalemwurde er als Assistent tätig, ab 1951 als ordentlicher Professor. Von 1953 bis 1959 warer Vizepräsident der Universität.1200Auch er nahm am Krieg teil, in der jüdischen Brigadeder Engländer. Am Ende des Krieges war er unter anderem in Holland stationiert, betratauch wieder deutschen Boden.1201

Evenari beantragte finanzielle Entschädigung unter der Annahme, dass er im Jahr1935 außerordentlicher und im Jahr 1939 ordentlicher Professor geworden wäre.1202Er-neut hielt sich die Fakultät, in diesem Fall die Fakultät für Chemie, wegen fehlender Un- 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 281terlagen mit Äußerungen zu Evenaris voraussichtlicher Karriere zurück.1203Stattdessenäußerten sich Friedrich Oehlkers, der bis 1931 Ordinarius der TH Darmstadt war, undBruno Huber, bis 1934 Extraordinarius für Botanik in Darmstadt, über Evenari. Die bei-den ehemaligen Vorgesetzten von Evenari kamen zu sehr verschiedenen Stellungnahmen.Während Oehlkers Evenari als durchschnittlichen Assistenten bezeichnete und sich wei-gerte, eine Prognose zu seiner möglichen Berufung abzugeben,1204zweifelte Huber nichtdaran, dass Evenari „unter politisch normalen Verhältnissen auch in Deutschland nachwenigen Jahren einen ordentlichen Lehrstuhl erreicht hätte“, voraussichtlich sechs Jahrenach seiner Habilitation.1205Mit Wiedergutmachungsbescheid vom 25. November 1957wurde Evenari schließlich nachträglich zum Jahr 1940 zum außerordentlichen und 1945zum ordentlichen Professor ernannt.1206Wenig später bekam er außerdem eine finanzielleEntschädigung wegen Schaden im beruflichen Fortkommen zugesprochen.1207Im No-vember 1960 wurde Evenari außerdem per Vergleich für seine bei der Flucht zurückge-lassenen Möbel entschädigt.1208

Ebenfalls als Privatdozent von der TH Darmstadt entlassen, allerdings erst im Jahr1939 und unter anderen Bedingungen, wurde der Geologe Hans Jüngst. Er war von 1925bis 1929 Assistent, seit 1929 Privatdozent für Geologie und Paläontologie und Assistentvon Professor Steuer.1209Als Steuer in den Ruhestand versetzt wurde, bemühte sichJüngst darum, dessen Nachfolge anzutreten, aus politischen Gründen wurde er jedochabgelehnt.1210Seine Ernennung zum außerplanmäßigen Professor wurde zweimal vom282 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung REM abgelehnt.1211Gleichwohl konnte Jüngst mithilfe eines von der TH Darmstadt ge-währten Dozentenstipendiums bis zu dessen Kündigung im Jahr 1939 weiterforschen,unter anderem auch für den Vierjahresplan.1212Im Februar 1940 wurde Jüngst als „Tech-nischer Verwaltungsrat“ von der Wehrmacht eingezogen, er starb 1944 in Frankreich.1213Wie beschrieben hatte seine Frau in der Nachkriegszeit mit Unterstützung der TH Darm-stadt Unterhaltsbeihilfe erhalten.1214Damit war jedoch für die Erbengemeinschaft nochnicht abschließend die Frage der finanziellen Entschädigung für den Schaden im berufli-chen Fortkommen geklärt. Die Witwe beantragte eine finanzielle Entschädigung unterder Gewährung seiner Rechtsstellung als ordentlicher Professor.1215Professor Waltherunterstützte ihren Antrag. Nach Ansicht von Walther war Jüngst während des „DrittenReiches“ benachteiligt worden und nach seiner Überzeugung „sollte alles geschehen, umwenigstens der Witwe und den Kindern äußerliche Wiedergutmachung zu gewähren“.1216Das Wiedergutmachungsverfahren endete mit einem Vergleich vom 16. Januar 1957,nach welchem die Witwe Bezüge erhielt, bemessen nach dem Ruhegehalt ihres verstor-benen Ehemannes, das er verdient hätte, wenn er seit dem 1. April 1939 ein Amt derDiätenordnung für außerplanmäßige Professoren, Dozenten und wissenschaftliche Assis-tenten an der TH Darmstadt bis zu seinem Tode am 28. August 1944 bekleidet hätte.1217Damit wurde Jüngst wie Leser und Evenari zwar der Status als wissenschaftlicher Nach-wuchs zuerkannt, im Gegensatz zu den beiden wurde jedoch eine Berufung als Professornicht zur Grundlage gemacht, sondern lediglich seine Ernennung zum Diätendozent undzum außerplanmäßigen Professor.

Josef Plenk. Die komplizierte Verfahrensweise der juristischen Wiedergutmachung Der im Zuge der Denkschrift 1933 nach Offenbach versetzte ehemalige ordentliche Ar-chitekturprofessor Plenk bemühte sich in der Nachkriegszeit nicht nur um seine Rückbe-rufung an die TH Darmstadt,1218sondern strebte seit 1945 auch eine materielle Entschä-digung durch juristische Wiedergutmachung an. Sein Verfahren war durch einige Höhenund Tiefen gekennzeichnet, in denen sich besonders eindrücklich die aufgrund der sich 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 283stetig verändernden Gesetzeslage komplizierten Methoden der juristischen Wiedergut-machung zeigten.

Im Oktober 1945 ging ein erster Antrag auf Wiedergutmachung Plenks an die DeutscheRegierung des Landes Hessen.1219Der Regierungspräsident Darmstadt und später dasKultusministerium in Wiesbaden sahen es als erwiesen an, dass Plenk aus politischenGründen 1933 in den Ruhestand versetzt worden war. Plenk erhielt daraufhin das Ruhe-gehalt eines etatmäßigen Professors nach den für die TH Darmstadt und die UniversitätGießen geltenden Bestimmungen von 1920 zuerkannt.1220Nur knapp ein Jahr später solltediese Entscheidung vom Regierungspräsidium in Wiesbaden, das nach dem Entschädi-gungsgesetz vom 10. August 1949 die zuständige Fachbehörde wurde, rückgängig ge-macht werden. Das Ruhegehalt Plenks wurde im Juni 1950 von 1.000 DM auf 300 DMgekürzt.1221Daraufhin erhob Plenk Einspruch gegen die Entscheidung, bezeichnete dasneu berechnete Ruhegehalt als „Nazi-Pension“, worin er „entweder irrige Rechtsanwen-dung oder schlechtes Recht“ sah, und forderte seine volle Wiedergutmachung.1222Er be-antragte Berufswiedereinstellung, entweder durch ein gleiches oder ähnliches Lehramt aneiner Hochschule, seine Emeritierung oder eine Einstellung in eine gleichrangige Beam-tenstelle.1223Diesen Antrag lehnte der Regierungspräsident in Wiesbaden im Jahr 1950ab. Er sah es nicht als erwiesen an, dass es sich in Plenks Fall um eine politische Verfol-gung gehandelt habe, da dieser gleichzeitig versetzt worden war.1224Weiter wurde Plenkvorgehalten, dass er mehreren NS-Organisationen beigetreten war, insbesondere seineSA-Mitgliedschaft im Jahr 1933 sorgte für Vorbehalte. Mit diesem Eintritt habe Plenk,so der Berichterstatter des Regierungspräsidenten Wiesbaden, „nachträglich alles das ge-billigt, was von der SA getan worden war“.1225Auch als Kultusministerium und Regie-rungspräsidium Darmstadt auf Insistieren Plenks im Jahr 1951 und noch mal im Jahr 1952eine Überprüfung des Antrags anordneten, kam der Regierungspräsident in Wiesbaden284 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung zum gleichen Urteil.1226Im Jahr 1952 ging die Angelegenheit in die Zuständigkeit derWiedergutmachungskammer am Amtsgericht Wiesbaden über, wo man ebenfalls zu kei-nem anderen Urteil kam.1227Plenk legte erneut Einspruch ein, da hinreichend bekannt sei,dass § 6 auch gegen Gegner des NS-Systems „kräftig angewandt worden ist“.1228Die TH-Professoren Thum und Gruber bestätigten Plenk zwischenzeitlich durch eidesstattlicheGutachten, dass sein Ausscheiden in Zusammenhang mit der Lieser’schen Denkschriftstand und damit politische Motive zugrunde lagen.1229Nach einer öffentlichen Verhand-lung der 3. Entschädigungskammer des Landgerichts in Wiesbaden vom 14. September1954 bekam Plenk schließlich Recht und mit Urteilsverkündung vom 21. September 1954rückwirkend zum 1. April 1950 die Bezüge eines planmäßigen außerordentlichen Profes-sors zugesprochen.1230

Wiedergutmachung des Gießener Professors Erich Stern an der TH Darmstadt als Folge der besonderen Rechtsnatur des Pädagogischen Instituts in Mainz

Im Rahmen einiger Wiedergutmachungsverfahren spielte die besondere Stellung des Pä-dagogischen Instituts in Mainz zur TH Darmstadt eine zentrale Rolle.1231So beschäftigtedie Klärung der Rechtsnatur des PI die verschiedenen Wiedergutmachungsbehörden.1232Auch die Ministerien in Hessen und Rheinland-Pfalz waren sich zunächst nicht einig, werdie Wiedergutmachungspflicht bei vom PI während des Nationalsozialismus entlassenenPersonen besitze.1233Dies hatte unter anderem recht bizarre Folgen für die Abwicklungder ehemaligen Angestellten des PI. So kam es zu einer Wiedergutmachung des GießenerProfessors Erich Stern über die TH Darmstadt. Stern hatte seit dem Jahr 1920 die VeniaLegendi bei der philosophischen Fakultät für das Fach der experimentellen Psychologieund Pädagogik der Universität Gießen. Ab 1922 hatte er einen Lehrauftrag inne, von 1924an war er außerplanmäßiger Professor. Im Jahr 1927 wurde er unter Beurlaubung von 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 285seiner Stelle an der Universität Gießen an das Institut in Mainz berufen, wo er Leiter desInstituts für Psychologie, Jugendkunde und Heilpädagogik wurde und einen dauerhaftenLehrauftrag an der TH Darmstadt wahrnahm. Als Jude wurde er nach eigener Aussageaus dem Jahr 1933 dazu veranlasst, seinen Ruhestand zu beantragen. Stern floh 1933 nachFrankreich, wo er untergetaucht überlebte. 1950 wurde er am Centre de la RechercheScientifique in Paris zum Attaché de Recherche ernannt und war an einer kinderpsychi-atrischen Universitätsklinik tätig.1234Nach seiner Flucht nach Frankreich erhielt er ab1934 keine Ruhegehaltsbezüge mehr.1235Stern wurde als Angestellter des PI entlassen,damit war er zum Zeitpunkt seiner Entlassung beim hessischen Staat angestellt und vonder Kasse der TH Darmstadt besoldet.1236Obwohl er Professor der Universität Gießenwar, wurde Erich Stern aus diesem Grund von der Entschädigungsbehörde Darmstadt alsBediensteter der Technischen Hochschule Darmstadt entschädigt.1237Damit einher gingjedoch nicht seine Zugehörigkeit zum Darmstädter Lehrkörper, er tauchte nicht im Vor-lesungs- und Personalverzeichnis der TH Darmstadt auf. Die Historikerin Sybille Gers-tengarbe zählt Stern zu den Vertriebenen der Universität Gießen.1238

Abgelehnte Wiedergutmachungsanträge

Karl Rothert stellte im März 1950 einen Antrag auf Wiedergutmachung.1239Die zustän-dige Entschädigungsbehörde, der Regierungspräsident Wiesbaden, lehnte den Antrag je-doch ab, da Rothert nicht unter Beweis stellen konnte, dass seine Entlassung wegen seinerpolitischen Überzeugung oder aus „Gründen der Rasse, Religion oder Weltanschauung“286 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung erfolgt war. Zu dem ablehnenden Bescheid vermerkte die Entschädigungsbehörde: „Nichtjedes nationalsozialistische Unrecht begründet einen Wiedergutmachungsanspruch, son-dern nur dasjenige, auf das die vorgenannten Merkmale zutreffen.“ Rothert hatte sichbereits seit 1930 im einstweiligen Ruhestand befunden und war im Jahr 1933 mit § 6 inden dauernden Ruhestand versetzt worden. Offensichtlich sah der mittlerweile 71-jährigeRothert keinen Sinn darin, sein Anliegen weiter zu verfolgen. Die TH Darmstadt wurdezu keinem Zeitpunkt des Verfahrens um eine Äußerung zu dem Vorfall gebeten.

Der Inhaber und Leiter des Forschungsinstitutes für Getreidechemie Ernst Berliner,dessen Venia Legendi an der TH Darmstadt während des „Dritten Reiches“ erloschenwar, stellte im September 1951 gemeinsam mit seiner Frau Helene Martha Berliner einenAntrag auf Wiedergutmachung.1240Nach dem Ende seiner Vorlesungstätigkeit an derTH Darmstadt blieb er zunächst weiterhin Inhaber und Leiter eines von ihm neu gegrün-deten Instituts für Getreidechemie in Eberstadt. Als „Mischling ersten Grades“ bekam erab 1935 auch in der freien Wirtschaft Probleme und überschrieb daraufhin seiner Fraudas Institut, die fortan die Geschäfte weiterführte. Beide wurden im Mai 1944 von derGestapo verhaftet und wegen des Verdachts der Zersetzung der Wehrkraft für sechs Wo-chen im Gefängnis festgehalten.1241

Zum Zeitpunkt seiner Entlassung Anfang 1934 war er unbezahlter Privatdozent an derTH Darmstadt, darum fiel er nicht unter das BWGöD, sondern wurde nach dem BEGentschädigt. Dies war für ihn mit einigen Nachteilen verbunden. Zum einen, da die An-erkennung seines Antrags viel längere Zeit in Anspruch nahm, zum anderen, weil seineTätigkeit für die TH Darmstadt keinerlei Berücksichtigung fand. Ein erster Antrag aufWiedergutmachung Berliners wurde wegen Fristversäumung abgelehnt.1242Auch als erin Berufung ging, lehnte die Entschädigungskammer den Antrag ab. Erst nachdem imJahr 1957 weitere Novellierungen der gesetzlichen Vorgaben in Kraft traten und damitauch die Fristenregelung gelockert wurde, kam eine Wende in das Wiedergutmachungs-verfahren des Gerbereichemikers. Berliner selbst konnte die späte materielle Entschädi-gung jedoch nicht mehr miterleben, er starb am 28. Oktober 1957. Mit einem Vergleichwurde seine Tochter – auch seine Frau war bereits verstorben – am 16. Dezember 1957für den erlittenen Schaden im beruflichen Fortkommen entschädigt.1243Die Wiedergut-machung betraf nur die Belange des von der TH unabhängigen Instituts Berliners, dieLöschung seiner Venia Legendi wurde nicht rückgängig gemacht.

7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 287

Erwin Bramesfeld war seit 1921 als Assistent, Lehrbeauftragter, Privatdozent und au-ßerplanmäßiger Professor an der TH Darmstadt beschäftigt. Im Jahr 1939 schied Brames-feld aus eigenem Entschluss aus der Hochschule aus. In der Nachkriegszeit gab Brames-feld an, diesen Schritt getan zu haben, da er wegen seiner ablehnenden Einstellunggegenüber dem Nationalsozialismus in seiner weiteren Tätigkeit als Hochschullehrer„nachweislich entscheidend behindert“ worden war.1244Melanie Hanel schließt nicht aus,dass eine Berufung Bramesfelds aus politischen Gründen vom REM abgelehnt wurde, sieweist aber auch darauf hin, dass es hochschulpolitische Ursachen dafür gegeben habenkönnte, dass das REM die Schaffung einer planmäßigen außerordentlichen Professur fürPsychotechnik nicht für „erforderlich“ hielt.1245In der Nachkriegszeit, kurz vor seinem65. Geburtstag, beantragte er die Zuerkennung eines Ruhegehaltes unter der Berücksich-tigung, dass seine Ernennung zum planmäßigen Professor bereits 1938 von der Techni-schen Hochschule vorgesehen worden sei.1246Die Wiedergutmachungsbehörde erklärteden Antrag für gegenstandslos, da er „mit Rücksicht auf sein Arbeitseinkommen seit sei-nem Ausscheiden aus dem Hochschuldienst finanziell nicht geschädigt sei“.1247Auch einweiterer Antrag Bramesfelds wurde von der Entschädigungsbehörde im März 1959 ab-gelehnt, da Bramesfeld sich nicht an die gemäß BWGöD gesetzte Frist gehalten hatte.1248Bramesfeld legte Einspruch gegen das Urteil ein, doch auch dieser wurde abgelehnt.1249Die TH Darmstadt wurde zu keinem Zeitpunkt überhaupt zu Bramesfeld befragt. Auchder ehemalige außerplanmäßige Professor für Musikwissenschaft, Redekunst und Ge-sang, Friedrich Noack, scheiterte mit seinem Wiedergutmachungsantrag. Noack war seit1920 als Privatdozent, seit 1927 als außerplanmäßiger Professor an der TH Darmstadtbeschäftigt.1250Noacks Tätigkeit beschränkte sich jedoch nicht auf die TH Darmstadt, sowar er gleichzeitig Dozent am Peter-Cornelius-Konservatorium in Mainz, ordentlicherProfessor an der Pädagogischen Akademie Frankfurt, Mitarbeiter des Hoch’schen Kon-servatoriums in Frankfurt sowie von 1938 bis 1945 Dozent der Musikhochschule Mann-heim, außerdem noch freiberuflicher Chorleiter.1251Seinen Antrag auf Wiedergutma-chung stellte er für die 1934 erfolgte Entlassung als außerordentlicher Professor von derPädagogischen Akademie Frankfurt, da dies seine einzige Anstellung als Beamter288 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung war.1252Die TH Darmstadt spielte demnach keine Rolle in seinem Verfahren. Zwar wurdeim Zuge der Verfahren nach Akten über seine Person gefragt, die jedoch nach Aussageder Hochschulleitung nicht vorhanden waren.1253Der Antrag Noacks wurde sowohl vomRegierungspräsidenten Darmstadt im Jahr 1952 als auch vom Landgericht Darmstadt imJahr 1955 abgelehnt, da nach Ansicht der Entschädigungsbehörden keine „nationalsozia-listischen Verfolgungs- oder Unterdrückungsmaßnahmen wegen der politischen Über-zeugung oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung“ festge-stellt werden konnten.1254Nach 1945 blieb Noack eine Anstellung als Beamter verwehrt.Im Oktober 1945 wurde er Angestellter der Landesmusikschule Darmstadt, ab 1952 alsDirektor der Schule, seit April 1947 war er außerdem für die Staatliche Hochschule fürMusik mit einem Lehrauftrag tätig, ab Juni 1949 als vollbeschäftigte, jedoch nichtbeam-tete Lehrkraft.1255Die Bemühungen Noacks bis zu seinem Tod 1958 und seiner Frau bisins Jahr 1970, seine Wiedergutmachung als Beamter zu erreichen und ein dementspre-chendes Ruhegehalt zu erhalten, blieben ohne Erfolg.1256Der Antrag auf Wiedergutma-chung von Erich Feldmann, dem ehemaligen Direktor des PI in Mainz, wurde von derEntschädigungsbehörde abgelehnt, da dieser seit 1937 Mitglied der NSDAP war.1257Feldmann legte Berufung ein, aufgrund derer eine Vereinbarung zwischen Feldmann unddem Land Nordrhein-Westfalen zustande kam. Damit versicherte er, jegliche Wiedergut-machungsansprüche mit der Zahlung von 5.000 DM als abgefunden zu betrachten.1258

Akademische Grenzen der juristischen Wiedergutmachung. Die TH Darmstadt im Verfahren von Maria Dorer

Auch Maria Dorer, die 1933 mit der Schließung des Pädagogischen Instituts (PI) als As-sistentin entlassen wurde, beantragte eine juristische Wiedergutmachung. Dorer war amPädagogischen Institut entlassen worden, hatte aber während des „Dritten Reiches“ un-unterbrochen an der TH Darmstadt gelehrt. Die konkreten Umstände ihrer Beschäftigungnach 1933 lassen sich anhand der Aktenlage nicht eindeutig klären, insbesondere die Hal- 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 289tung der TH Darmstadt lässt einige Fragen offen. Einerseits unterstützte sie Dorer nach1933 – Melanie Hanel vermutet, dass die Hochschule Dorer, welche ledig war, aus „Mit-gefühl“ ein Auskommen verschaffen wollte,1259sie legte ihr andererseits aber auch nahe,sich mit ihrem Fachgebiet an eine Universität umzuhabilitieren.1260Der BeharrlichkeitDorers und ihrem persönlichem Geschick war es zu verdanken, dass sie immer wiederfinanzielle Beihilfen der DFG und des RFR erhielt. Wie erfolgreich Dorer damit war,zeigt sich daran, dass es ihr schließlich sogar gelang, im Jahr 1939 die Ernennung zur„Dozentin neuer Ordnung“ durchzusetzen, obwohl die TH Darmstadt dies nicht aus-drücklich beantragte.1261Nicht unerheblich dazu beigetragen haben könnte die Ausrich-tung ihrer Forschungen: Sie beschäftigte sich ab 1935 vermehrt mit Forschungen auf demGebiet der Psychiatrie und der Medizin; diese wurden von der DFG gefördert. Ab 1937arbeitete Dorer zudem für das Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene der UniversitätFrankfurt am Main.1262Dorer absolvierte neben ihrer Tätigkeit an der TH Darmstadt zwi-schen 1940 und 1944 ein komplettes Medizinstudium an der Universität Marburg.

Nicht zuletzt da sie während des gesamten „Dritten Reiches“ an der TH Darmstadtbeschäftigt war, gestaltete sich ihr Verfahren besonders kompliziert. Hinzu kam, dass, imGegensatz zu den anderen Hochschulmitarbeitern, Dorer nicht bloß eine finanzielle Ent-schädigung anstrebte, sie erhob im Rahmen des Verfahrens Ansprüche auf eine bessereAnstellung an der TH Darmstadt.1263Die Frage, wie sich für die mittlerweile zur außer-planmäßigen Professorin ernannte Dorer die wissenschaftliche Karriere ohne die Entlas-sung vom PI weiter gestaltet hätte, war für Hochschule und Ministerium aus zwei Grün-den kaum zu beantworten: Zum einen standen die durchgehend männlichen Akteure derFrage einer Karriere von weiblichen Hochschullehrern skeptisch gegenüber, zum anderenwar Dorer an der TH Darmstadt auch während des „Dritten Reiches“ ununterbrochenangestellt geblieben. Hinzu kamen die verschiedenen Bedingungen an einer TechnischenHochschule und an einem Pädagogischen Institut. Dorer dagegen, deren Aufstiegsmög-lichkeiten als Frau, die zudem ein eher randständiges Fachgebiet an der TH Darmstadtvertrat, spürbar eingeschränkt waren, scheint sich mit ihrem Wiedergutmachungsverfah-ren eine Ernennung als ordentliche Professorin an der TH Darmstadt erhofft zu haben.290 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung

Bereits ihre Ernennung zur außerplanmäßigen Professorin – in der Regel wurden Pri-vatdozenten nach sechs bis sieben Jahren Lehrtätigkeit dazu ernannt – entwickelte sichzu einem Politikum. Im Jahr 1945, sie war zu diesem Zeitpunkt seit mehr als zehn Jahrenhabilitiert, beantragte Professor Muss zum ersten Mal ihre Ernennung zur apl. Professo-rin.1264Der Kleine Senat lehnte die Ernennung zu diesem Zeitpunkt jedoch ab und be-schloss erneut darüber zu entscheiden, sobald weitere Veröffentlichungen Dorers vorlie-gen würden.1265Zwei Jahre später war es Ministerialrat Hoffmann vom Kultusministe-rium – Dorer war mit der Familie Hoffmann befreundet1266–, der im Februar 1947 erneutDorers Ernennung zur außerplanmäßigen Professorin forderte.1267Die Fakultät stand derFrage aufgeschlossen gegenüber, jedoch bestand der Kleine Senat auf einer genauen Prü-fung durch einen Ausschuss.1268Dieses Vorgehen stand in keinem Vergleich zu den Er-nennungen von männlichen Kollegen, und Professor Muss gab zu bedenken, dass es sich„nicht um eine Besetzung eines Lehrstuhles, sondern um die übliche Verleihung des Pro-fessortitels nach langer, erfolgreicher Lehrtätigkeit“ handele.1269Zwar standen die Ordi-narien nun mehrheitlich der Frage positiv gegenüber, jedoch herrschte wie während derJahre vor 1945 Uneinigkeit darüber, ob „an der TH Darmstadt nicht der rechte Platz fürsie sei“.1270Obwohl die Fakultät mehrheitlich positiv dem Antrag gegenüberstand, war-tete man bis zu dem Zeitpunkt ab, den Antrag dem Senat erneut vorzulegen, zu dem Dorerdas Manuskript ihrer neusten Publikation einreichte und man die Bedingung für den An-trag erfüllt sah.1271Die Ernennung Dorers zur apl. Professorin erfolgte kurze Zeit spätermit Urkunde vom 3. November 1949.

Einen Antrag auf juristische Wiedergutmachung stellte Dorer fünf Jahre später, imOktober 1954.1272Warum Dorer den Entschluss, einen solchen Antrag zu stellen, verhält- 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 291nismäßig spät fasste, geht aus den Akten nicht hervor.1273Möglich wäre jedoch, dass siesich zu diesem Zeitpunkt erneut über ihre geringe Aufstiegschance an der TH Darmstadtbewusst geworden war. Dorer machte Schaden in ihrem beruflichen Fortkommen geltend,da sie, wie sie angab, aufgrund ihrer politischen Überzeugung, ihres Glaubens und ihrerWeltanschauung an der Erlangung eines Ordinariats gehindert worden war.1274So schriebsie in dem Antrag: „Meine Hochschullehrerlaufbahn, die mich über ein Extraordinariatzur Übertragung eines Ordinariates hätte führen können, wurde bereits im Entstehen un-terbrochen und damit auch die spätere Versorgung als Hochschullehrer von vornhereinunmöglich gemacht.“1275Weder das Kultusministerium noch der Regierungspräsident alszuständige Entschädigungsbehörde wollten jedoch den Antrag anerkennen. Da DorersVorlesungstätigkeit an der TH Darmstadt nicht beeinträchtigt und sie 1939 zur „Dozentinneuer Ordnung“ ernannt worden war, zweifelte man daran, dass in ihrem Fall der Tatbe-stand einer Verfolgung vorlag.1276Der zuständige Ministerialbeamte bemerkte dazu: „Ichdarf Ihnen sagen, daß bei der Entschädigungsbehörde noch kein Fall zur Entscheidungstand, in dem ein Privatdozent aufgrund der Reichshabilitationsordnung von 1939 zumDozenten neuer Ordnung ernannt wurde, wenn dieser als politisch unzuverlässig odermißliebig betrachtet wurde.“1277

Nun legte Dorer Gutachten von Marburger Kollegen und Ministerialrat Hoffmannvor, um ihre Haltung und die daraus resultierende Behinderung ihrer wissenschaftlichenKarriere durch den Nationalsozialismus zu untermauern.1278Auch ein ehemaliger Studentbescheinigte Dorer, dass diese in ihrer Vorlesung über Nietzsche aus ihrer katholisch-christlichen Haltung keinen Hehl gemacht habe.1279Im Jahr 1958 änderte sie ihren Antragauf Wiedergutmachung. Nachdem sie von Vertretern der Wiedergutmachungsbehördeempfohlen bekommen hatte, dass dies „leichter durchzubringen“ sei, forderte Dorer nunstatt einer Ernennung zur ordentlichen Professorin die zur außerordentlichen Professo-292 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung rin.1280Nun lieferte sie neue Details zu den Vorgängen ihrer Entlassung: Hugo Dinglersei der Initiator ihrer Entlassung gewesen, da sie aufgrund ihrer politischen und weltan-schaulichen Haltung nicht tragbar gewesen sei für den führenden akademisch-pädagogi-schen Bereich. Dass sie als praktizierende Katholikin aus politischen Gründen entlassenworden sei, bestätigten ihr neben der Witwe von Hugo Dingler, Martha Dingler1281, einProfessor aus Marburg1282sowie ihre ehemaligen Darmstädter Assistenten Heydecker1283und Fritz Huhle1284.

Die Verhandlungen sollten noch drei weitere Jahre in Anspruch nehmen, bis ihr Wie-dergutmachungsverfahren am 23. Oktober 1961 mit einem Vergleich endete. Eigentüm-licherweise führte Dorer die Verhandlungen nicht selbst oder engagierte einen Anwalt,sie übertrug per Vollmacht dem Verwaltungsdirektor der TH Darmstadt die Vertretungder Verfahrensführung.1285Später, so geht aus den Akten hervor, übernahm der Dekander Fakultät für Kultur- und Staatswissenschaften eine Vertreterrolle in ihrem Verfahren.Wie gut es die jeweiligen Berater mit ihr meinten, bleibt fraglich, da der Verwaltungsdi-rektor in vielerlei Hinsicht die Interessen des Kultusministeriums vertrat und die Fakultätkein sonderliches Interesse daran zeigte, Dorer zur Professorin zu ernennen. Dekan undMinisterium waren sich darin einig: Zweifellos wurde sie geschädigt, doch „die Frage, obsie ohne die Verfolgung auf einen Lehrstuhl an der TH in Darmstadt berufen wordenwäre, muß wohl verneint werden“.1286Anders würde dies jedoch nach Meinung ihrerselbstgewählten Vertreter für ein Pädagogisches Institut aussehen. Dass es Dorer nichtum eine Anstellung an einem Pädagogischen Institut ging, sondern vielmehr um eineZukunft an der TH Darmstadt, zeigt, dass sie es ablehnte, als Professorin an einem PI ent-schädigt zu werden, sondern stattdessen entschied, als Dozentin mit dem Titel einer au-ßerplanmäßigen Professorin an der TH Darmstadt zu bleiben.1287Sie begründete dies da-mit, dass das PI ein Institut der TH Darmstadt war und ihr demnach eine Wiedergutma-chung als Professorin inklusive des Rechts auf Emeritierung am Ort der Schädigung, derTH Darmstadt zustünde.1288Die Fakultät wollte unter allen Umständen verhindern, dass 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 293Dorer auf diesem Wege und damit ohne Berufung Professorin werden könnte. Wie esscheint, schlossen sich angesichts dieser Tatsachen Ministerium und Dekan zusammen,um eine Ernennung Dorers verhindern zu können, und setzten alles daran, das Verfahrenin einem Vergleich zu lösen.1289Dieser Plan sollte aufgehen: Dorer bekam per Vergleichdie Besoldung einer ordentlichen Professorin an einem Pädagogischen Institut zugespro-chen, als wäre sie zum 1. April 1938 zur außerplanmäßigen Professorin und zum 1. April1944 zur ordentlichen Professorin an einem PI ernannt worden. Sie durfte die Amtsbe-zeichnung „ordentliche Professorin“ führen, im Vorlesungsverzeichnis wurde sie nun als„außerplanmäßige Professorin“ mit der Anmerkung „o. Prof. an einem PädagogischenInstitut“ bezeichnet.1290Was Dorer nicht klar gewesen sein dürfte, war die Tatsache, dasssie mit dem Vergleich gleichzeitig auf alle weiteren Ansprüche und damit auch auf dievon ihr gewünschte Emeritierung verzichtete.1291Ohne dass Dorer dies zur Kenntnisnahm, zielte die Formulierung des Vergleichs lediglich auf eine rein finanzielle Wieder-gutmachung ab, ihr Status an der TH Darmstadt blieb unverändert.1292Ministerium undFakultät waren sich der Problematik durchaus bewusst und vereinbarten, „Frau Koll. Do-rer nicht über die Einzelheiten“ zu unterrichten.1293Während der Dekan Pleyer dem Mi-nisterium im Nachgang für die gute Zusammenarbeit dankte,1294war in den Augen Dorersdas Verfahren alles andere als zufriedenstellend ausgegangen. Zu ihrer Unzufriedenheiterhielt sie nicht einmal eine Ernennungsurkunde zur Professorin.1295Bis zuletzt versuchtesie ihre Ernennung zur außerordentlichen Professorin und ihre Emeritierung durchzuset-zen.1296

Akademische Grenzen der juristischen Wiedergutmachung. Die TH Darmstadt im Verfahren des ehemaligen Ordinarius für Chemie Karl Jonas

Im Rahmen des Wiedergutmachungsverfahrens von Karl Jonas kam es zu einer außerge-wöhnlichen Begebenheit: Die TH Darmstadt geriet mit Jonas derart in Konflikt, dass sie294 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung sich beim Kultusministerium dafür aussprach, ihm seine juristische Wiedergutmachungabzuerkennen. Dies ist für die TH Darmstadt – womöglich auch darüber hinaus – eineinzigartiger Vorgang. In keinem anderen Fall hatte die TH Darmstadt sich gegen einejuristische Wiedergutmachung generell ausgesprochen, da rein finanzielle Entschädigun-gen außerhalb der TH Darmstadt angesiedelt waren. Gründe für diese harten Mittel imUmgang mit Jonas vonseiten der TH Darmstadt waren einerseits die besonderen Zusam-menhänge bei seiner Entlassung 1934 – Karl Jonas’ Entlassung erfolgte im Zusammen-hang der hochschulpolitischen Intrige im Rahmen der Auseinandersetzung um die Ent-lassung von Professor Berl – und andererseits die Art, wie Jonas der TH Darmstadt nach1945 entgegentrat. Sein Auftreten verletzte die ungeschriebenen Verhaltensregeln derHochschule, sodass eine interne Regelung ausgeschlossen war.

Der 1934 im Zuge der Auseinandersetzungen um Berls Entlassung in den Ruhestandversetzte Chemieprofessor Jonas arbeitete nach seiner Entlassung freiberuflich als Bera-ter, Gutachter und Erfinder im eigenen cellulosechemischen und technologischen Labo-ratorium. Im Jahr 1939 siedelte er nach Bad Landeck in Schlesien über, wo er im Juli1944 zur Wehrmacht eingezogen wurde.1297Nach 1945 wurde er eigenen Aussagen zu-folge in Polen für die Plankommission zwangsverpflichtet und als Spezialist festgehalten,1955 ging Jonas zurück nach Deutschland.1298Im Jahr 1950 stellte er einen ersten Antragauf Wiedergutmachung für Schaden an Eigentum und Vermögen (er gab an, im Zugeseiner Auswanderung nach Polen sein Haus unter großen Verlusten verkauft zu haben),der jedoch abgelehnt wurde.1299Nach seiner Rückkehr aus Polen im Jahr 1955 – Jonashatte damit eine Entnazifizierung nicht durchlaufen – stellte er im Mai 1955 einen weite-ren Antrag auf Wiedergutmachung.1300Im Gegensatz zu den meisten anderen Antrags-stellern richtete Jonas ganz bewusst seine Forderungen nicht nur an das Kultusministe-rium als zuständige Behörde, sondern wandte sich zur gleichen Zeit mit einem Brief andie TH Darmstadt. Darin erwähnte er eine „Verschleierung der hintergründigen Motive“bei seiner Entlassung und forderte als Form der ideellen Wiedergutmachung, ins Perso-nalverzeichnis aufgenommen zu werden.1301Nicht nur der Ton des Schreibens, auch derInhalt verstieß in nicht unerheblicher Art und Weise gegen die vergangenheitspolitischenUmgangsformen der TH Darmstadt. Das offene Ansprechen eines Versagens vonseitender Hochschule kam einem Affront gleich, der Hochschulleitung und Professoren in Auf- 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 295ruhr versetzte. Sofort begann die Leitung der Hochschule mit einer internen Befragungsämtlicher Professoren, die etwas zur Angelegenheit sagen konnten. Die Professoren re-agierten mehrheitlich mit Unbehagen auf die Ermittlungen: Hübener und Busch wolltennur unter Vorbehalt aussagen, ein weiterer Professor war zwar dazu bereit, zog es jedochvor, anonym zu bleiben.1302Die Gründe für das Unbehagen sind ohne Zweifel im Zusam-menhang mit der Entlassung Jonas’ zu suchen. So äußerte sich der anonyme Professorüber die Hintergründe der Entlassung: „Die Unzufriedenheit von Studierenden mit derFührung des Lehrstuhls durch Herrn Prof. Jonas, insbesondere der Vorwurf einer zu ge-ringen wissenschaftlichen Betreuung, bediente sich in häßlicher Weise der damals mög-lichen politischen mittel [sic!], um die Entfernung des Prof. Jonas aus dem Dienst derHochschule zu erwirken“.1303Diese internen Ergebnisse wurden jedoch zunächst nicht andas Kultusministerium weitergegeben, der Verwaltungsdirektor teilte stattdessen demRegierungspräsidium in Darmstadt mit, dass eine Äußerung über die politische Verfol-gung von Jonas nicht möglich sei, da die Personalakte vernichtet worden sei. Gleichzeitigberichtete der Verwaltungsdirektor, dass aufgrund der akademischen Gepflogenheitenund der Tatsache, dass der Nachfolger von Jonas, Professor Jayme, 1937 zum ordentli-chen Professor ernannt worden war, mit einer Ernennung Jonas zum ordentlichen Profes-sor hätte gerechnet werden können.1304Dies zeigt, dass die TH Darmstadt Informationenüber Jonas zunächst zurückhielt, da man offensichtlich die näheren Hintergründe nichtzutage treten lassen wollte; stattdessen nahm man lieber in Kauf, dass Jonas eine juristi-sche Wiedergutmachung zugesprochen kam.

Ausgerechnet der ehemalige NS-Dozentenbundführer, Professor Friedrich List, kamJonas zur Hilfe und versicherte per eidesstattlicher Erklärung, dass Jonas Entlassung po-litisch begründet gewesen sei.1305Wie diese Aussage zustande kam ist unklar, es ist davonauszugehen, dass List Jonas einen persönlichen Gefallen damit tat und nicht in Absprachemit der TH Darmstadt handelte. List selber gehörte zu diesem Zeitpunkt zu den soge-nannten „131ern“, er war aus politischen Gründen im Zuge seiner Entnazifizierung ent-296 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung lassen, gehörte damit dem Lehrkörper also nicht mehr an und kehrte auch später nichtwieder an die TH Darmstadt zurück.1306

Das Kultusministerium sprach der Erklärung von List zwar einige Bedeutung zu, warsich aufgrund dessen Entlassung wohl einer gewissen Problematik bewusst und fordertedie TH Darmstadt nochmals „im eigenen Interesse“ dazu auf, die Gründe für das Aus-scheiden Jonas’ herauszufinden.1307Auch jetzt waren nicht alle Professoren zu einer of-fenen Berichterstattung bereit.1308Einzige Ausnahme war Professor Busch. Dieser be-tonte, dass ihm nicht bekannt sei, dass politische Gründe zur Entlassung geführt hätten.Stattdessen hätten die Industrie und die Studierenden sich damals ohne Wissen der Hoch-schule über die Partei an das Ministerium gewandt, da sie Jonas vorwarfen, kostspieligeEinrichtungen in seinem Institut nicht zu verwenden und seiner Unterrichtspflicht zu laxnachzukommen. Ohne Anhörung der Hochschule sei damals die Entlassung Jonas umge-setzt worden. Deutlich wird hier, wie Busch mit seiner Aussage jede Verantwortung au-ßerhalb der Zuständigkeiten der damaligen Hochschulleitung sah. In diesem Sinne gab erweiter zu Protokoll, dass die TH Darmstadt die Vorgehensweise zwar missbilligt habe,es jedoch nicht für richtig gehalten habe, sich hier einzuschalten, „weil die einzige ihr zurVerfügung stehende Möglichkeit, der Antrag auf Einleitung des Disziplinarverfahrensgewesen wäre, was nach Lage der Dinge wenig Zweck gehabt hätte“.1309Seine Angabenwurden von Oberregierungsrat Wilhelm Köhler, zu dem Zeitpunkt Kanzler der Universi-tät Gießen, der die damalige Angelegenheit als Hochschulreferent bearbeitet hatte, bestä-tigt.1310Jonas wiederum sah in den Aussagen den Beweis, „daß meine in keinem Rechts-staat ohne vorausgegangenes Disziplinarverfahren denkbare Entfernung aus dem Amt aufGrund einer als Ruhestandsversetzung getarnten nazistischen Willkürmaßnahme erfolgtist.“1311Weiter betonte er, dass die „Einschaltung der Studierenden“ nur Mittel zumZweck für seine indirekten Gegenspieler, bestehend aus Partei und den Angehörigen desLehrkörpers, gewesen sei. Angesichts der Haltung der TH Darmstadt zeigte sich Jonas, 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 297der alles andere als bereit dazu war, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen, an-griffslustig:

„Wenn ich mich auch im vorgenannten Schreiben nur sehr zurückhaltend überdie damals gegen mich gerichteten Machenschaften geäußert habe und nur dassichtbare Geschehen geschildert habe, wäre ich doch, falls das wider Erwartennotwendig werden sollte, in der Lage, zum Beispiel den Zeugen Busch und

Köhler Gedächtnisstützen zu geben in Bezug auf gewisse zwischen meinen in-dustriellen Gegenspielern, denen die Arbeitsrichtung des mir damals unterstell-ten Instituts für Cellulosechemie nicht genehm war, der Partei und Angehörigendes Lehrkörpers der T.H.D. damals bestehende Querverbindungen und sie da-ran zu erinnern, daß die ‚Einschaltung der Studentenschaft‘ nichts anderes warals Mittel zum Zweck meiner Entfernung aus dem Amt.“1312

In Bezug auf seinen Antrag auf juristische Wiedergutmachung indes kam das Kultusmi-nisterium zu dem Schluss, dass die entscheidenden Gründe sich nicht mehr feststellenließen und stellte rechtliche Bedenken zurück.1313Nicht zuletzt der Zeitpunkt, zu dem dasfachliche Versagen Jonas festgestellt worden sein sollte, und die Tatsache, dass kein Dis-ziplinarverfahren eingeleitet worden war, führten zu dieser Entscheidung.1314Mit Wie-dergutmachungsbescheid vom 15. Januar 1957 wurde Jonas rückwirkend zum 1. April1937 zum ordentlichen Professor ernannt und bekam Emeritenbezüge ab dem Jahr 1955zugesprochen.1315Nach Abschluss der juristischen Wiedergutmachung setzte sich Jonaserneut mit der TH Darmstadt in Verbindung und erneuerte seine Forderung, ins Personal-verzeichnis aufgenommen zu werden, wenn nötig auch auf dem Klageweg.1316Die Fa-kultät lehnte den Antrag nach Abstimmung ab.1317Auch die Hochschulleitung blieb aufdem Standpunkt, dass es keine politischen Gründe waren, die zur Entlassung geführt hät-ten und es „der Hochschule nicht zugemutet werden [könne], Herrn Professor Jonas dievollen akademischen Rechte zu gewähren.“1318Der Rektor war, wie eingangs berichtet,angesichts der Verhaltensweise von Karl Jonas sogar dazu bereit, das Kultusministeriumeinzuschalten und dafür zu sorgen, die juristische Wiedergutmachung annullieren zu las-298 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung sen.1319Die zuvor gesammelten Informationen über Jonas’ Verhalten bei Berls Entlas-sung dienten nun als Druckmittel gegenüber Jonas. Erst nachdem Jonas in einer Bespre-chung mit dem Rektor, dem Dekan der Fakultät sowie dem Rechtsrat zusicherte, keinenGebrauch von „akademischen Rechten“ zu machen, nahm der Rektor seine Drohung zu-rück.1320Im Rahmen der Besprechung hatte die TH Darmstadt vermutlich die gesammel-ten Informationen zur Rolle von Jonas bei der Vertreibung von Berl auf den Tisch gelegt,was zuvor beschwiegen worden war.1321Nach dem Treffen zog es Jonas vor, die Angele-genheit auf sich beruhen zu lassen. Die TH Darmstadt beließ ihm daraufhin seine finan-zielle Entschädigung durch die juristische Wiedergutmachung. Angesichts der Tatsache,dass verhindert werden konnte, Jonas wieder in den Kreis der TH Darmstadt aufnehmenzu müssen, dankte die Fakultät dem Rektor dafür, das „nach menschlichem Ermessen“der Fall abgeschlossen werden konnte.1322

7.2.3Der Umgang der TH Darmstadt mit den Betroffenen. Beschweigen, Vergessen,Verdrängen

Insbesondere zwischen den aus „rassischen“ Gründen ins Exil geflohenen ehemaligenDarmstädter Kollegen und der TH Darmstadt gestaltete sich die Beziehung nach 1945problematisch. Aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgung blieb den Betroffenenmeist keine andere Möglichkeit, als ihr Heimatland zu verlassen. Wenn dies nicht mög-lich war, konnte es tragische Folgen haben, wie im Fall von Professor Erich Aron. Dieserwar zum Zeitpunkt seiner Entlassung bereits 75 Jahre alt und hatte keine andere Möglich-keit, als in Deutschland zu bleiben. Nach seiner Entlassung siedelte Aron von Darmstadtnach Stuttgart über. Im April 1943 wurde er von dort ins Konzentrationslager Theresien-stadt deportiert, wo Aron am 8. Mai 1943 starb.1323Den anderen aus „rassischen“ Grün-den entlassenen Hochschulmitarbeitern gelang die Flucht ins Ausland, wobei sich insbe-sondere das berufliche Fortkommen, also das Anknüpfen an die bislang verfolgte Karri- 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 299ere, in vielen Fällen äußerst problematisch gestaltete. Wie berichtet gelang Arno Tuteur,Paul Leser, Kurt Lion und Ernst Berl die Flucht in die USA. Hans Baerwald ging insbritische Exil, Stiasny nach Schweden. Michael Evenari konnte nach Palästina fliehen.Stephan Gradsztein floh 1933 in die Niederlande. Werner Guembel ging 1939 nachFrankreich.

Ob es den zur Emigration gezwungenen ehemaligen Darmstädter Hochschulmitarbei-tern gelang, im Ausland erneut Fuß zu fassen, hing nicht zuletzt von ihren Forschungsge-bieten und den Rahmenbedingungen vor Ort ab. Gradsztein, der nach seiner Entlassungvon der TH Darmstadt zunächst beim „Naturforscher“, eine monatlich erscheinende na-turwissenschaftliche Fachzeitschrift, beschäftigt war,1324arbeitete nach seiner Flucht fürPhilips in Eindhoven. Die deutsche Besatzung überlebte Gradsztein dank der Familie sei-ner Frau, die ihn für vier Jahre in einem kleinen Dorf versteckt hielt. Nach dem Kriegsetzte Gradsztein seine Tätigkeit bei Philips fort.1325Werner Guembel, der von 1934 bis1936 nebenberuflich an der TH Darmstadt für Professor Wagner tätig war, arbeitete von1937 bis 1939 für ein Kölner Unternehmen, bevor er in Frankreich als Ingenieur Arbeitan den Pariser Laboratoires du Bâtiment et des Travaux publics fand.1326Welchen Karri-ere-Bruch die Vertreibung von der TH Darmstadt erzeugen konnte, zeigt insbesonderedas Schicksal von Frederick, genannt Fritz Curtis. Es war für Curtis, der in Darmstadtnoch im März 1933 die Venia Legendi erhalten hatte, in England nur begrenzt möglich,seine akademische Karriere fortzusetzen.1327Die Suche von Ernst Berl nach einer wis-senschaftlichen Tätigkeit verlief dagegen problemloser. Durch Vermittlung von Fritz Ha-300 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung ber erhielt der 1933 aus „rassischen“ Gründen entlassene Ordinarius für Chemie, Profes-sor Berl, einen Ruf an das Carnegie-Institut of Technology in Pittsburgh.1328Berl wurdeLeiter eines neuen Instituts, dem Research Laboratory of Applied Chemistry, das sichsehr erfolgreich entwickelte.1329Daneben publizierte Berl sehr rege in Fachzeitschrif-ten.1330

Hilfe bei der Suche nach Beschäftigung im Ausland fanden die ehemaligen Darmstäd-ter Hochschulmitarbeiter unter anderem bei der SPSL und der NWD.1331In seltenen Fäl-len halfen ihnen auch Darmstädter Professoren. Besonders engagiert scheint sich HansRau für seine ehemaligen Mitarbeiter und Kollegen eingesetzt zu haben.1332Gleiches tatProfessor Thum für seinen ehemaligen Mitarbeiter der Materialprüfungsanstalt Arno Tu-teur.1333Gerhard Herzberg setzte sich für Gradsztein und Lion ein.1334Mit ihrer Fluchtins Ausland brach der Kontakt zur TH Darmstadt in der Regel ab.

Was die Beziehungen der Betroffenen zu ihren ehemaligen Kollegen und Arbeitge-bern in der Nachkriegszeit anbelangt, kommt Michael Schüring in seiner Studie zur KWGzu dem Schluss: „Je weiter sich die beiden Perspektiven verschoben, je weiter sich auf-grund von Emigration auch in geografischer Hinsicht die Standorte der ehemaligen Kol-legen voneinander entfernten, desto schwieriger wurde die Verständigung“.1335In Darm-stadt wie überall folgte in der Nachkriegszeit aus Scheu vor der Vergangenheit das Be- 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 301schweigen konkreter Ereignisse. Neben den durch Krieg und Zerstörung entstandenenSchwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme – dazu zählten unter anderem ein generellesZuzugsverbot, die Unsicherheit der weiteren Entwicklung Deutschlands, gegebenenfallsder Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft – existierten Vorbehalte auf beiden Seiten.Ins Exil geflohenen Wissenschaftlern fiel die Entscheidung, sich mit den in Deutschlandverbliebenen Kollegen in Verbindung zu setzen, äußerst schwer, da diese nicht selten ander eigenen Verfolgung beteiligt gewesen waren und jedenfalls in der NS-Zeit ihre eige-nen wissenschaftlichen Karrieren vorantreiben konnten. Bei der Rückkehr ins Land derTäter schwang immer auch die Unsicherheit darüber mit, welche politische Haltung dasGegenüber vertreten hatte. Aufseiten der in Deutschland verbliebenen Personen herrschtenicht selten kollegialer Neid und Missgunst darüber, dass Exilanten im Ausland scheinbarbessere Verhältnisse hatten, da sie keinen Krieg erlebt hätten. Außerdem waren die we-nigsten bereit, sich der Vergangenheit zu stellen. Aufgrund dieser Vorbehalte war manviel eher geneigt, sich der Gruppe der heimatvertriebenen Professoren anzunehmen,Emigranten wurden oftmals als zweitrangig behandelt. Nicht selten gab es außerdem wei-terhin bestehende Vorbehalte gegen Juden. Insgesamt war die „innere“ Emigration inDeutschland akzeptierter als die Emigration.1336Dies war unter anderem eine Folge derNS-Propaganda und der vorherrschenden Meinung, selbst Opfer zu sein, einer Haltung,die das Bewusstsein den Verfolgten gegenüber, versagt zu haben, nicht selten überla-gerte.1337

Trotz allem fühlten sich einige der ins Ausland geflohenen Darmstädter Hochschul-lehrer auch nach ihrer Vertreibung aus dem Amt weiterhin mit der TH Darmstadt verbun-den. So versicherte Edmund Stiasny, der bis zu seinem Tode 1965 freundschaftliche Be-ziehungen zu seinen ehemaligen Kollegen in Darmstadt unterhielt, noch 1956 anlässlicheines Besuches, er habe hier „die glücklichste Zeit seines Lebens verbracht“.1338Zwei ausdem Amt vertriebene Darmstädter Hochschulmitarbeiter ließen es sich nicht nehmen,Carepakete an ihre ehemaligen Kollegen zu senden. Als Ernst Berl von der großflächigenZerstörung Darmstadts Kenntnis erhielt, war dies für ihn mit gemischten Gefühlen ver-bunden.1339Trotzdem war er angesichts der dramatischen Situation in Darmstadt sogar302 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung bereit, die Anfeindungen seines ehemaligen Kollegen Wöhler zu vergessen und auch ihmCarepakete zuzusenden.1340Auch Gerhard Herzberg, der sich nach seiner Vertreibungvon der TH Darmstadt in Kanada eine Zukunft aufbauen konnte, kam dem Appell derAlliierten nach, Hilfspakete gen Deutschland zu schicken. Er tat dies wie Berl mit sehrgemischten Gefühlen, da er Vorbehalte in Bezug auf die politische Einstellung der Emp-fänger hatte.1341Selbst ein erster kurzer Besuch der alten Heimat im Jahr 1950 fiel demPhysiker Gerhard Herzberg schwer: Als er bei einer Europareise auch nach Darmstadtkam, quälte ihn die Angst, ehemaligen Nationalsozialisten über den Weg zu laufen.1342Im Gegensatz dazu nahmen andere, während des „Dritten Reiches“ von der TH Darm-stadt entlassene Hochschulangehörige zu keinem Zeitpunkt wieder Kontakt zur Hoch-schule auf.1343Dies kann auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden. Viele Be-troffene starben während des Krieges oder kurz darauf.1344Weiter kann festgehalten wer-den, dass der Kontakt mit der TH Darmstadt für die während des Nationalsozialismus ausihren Ämtern Vertriebenen mit gewissen, unausgesprochenen Regeln einherging:Schweigen und Anpassen. Ein nicht unerheblicher Preis, den womöglich nicht alle deraus dem Amt vertriebenen Darmstädter Hochschulmitarbeiter bereit waren zu zahlen.Wie berichtet, beschäftigte sich die TH Darmstadt jedoch nur dann mit von nationalsozi-alistischer Verfolgung betroffenen Personen, wenn diese die Initiative ergriffen. Auch beiden in Deutschland verbliebenen, unter Anwendung von NS-Gesetzen vertriebenenHochschulmitarbeitern galt: Wer dies nicht tat oder tun konnte, geriet an der TH Darm-stadt in der Nachkriegszeit in Vergessenheit.

Bei den von der TH Darmstadt im Rahmen hochschulpolitischer Intrigen entlassenenPersonen kommen weitere mögliche Gründe hinzu, warum diese in der Nachkriegszeitnicht wieder an die TH Darmstadt herantraten: Zum einen, wie der Fall Jonas zeigt, führ- 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 303ten die besonderen Umstände der Entlassung dazu, dass sie auch nach 1945 an der Hoch-schule nicht erwünscht waren und darum möglicherweise erst gar keine Versuche, eine„akademische“ Wiedergutmachung anzustreben, unternommen haben. Zum anderen wares den im Rahmen von Hochschulintrigen als an der TH Darmstadt unerwünscht ausge-schiedenen Personen teilweise an anderer Stelle gelungen, ungehindert ihre Karrierenfortzusetzen. Sie hatten sich dabei nicht selten auf verschiedene Art und Weise mit demNationalsozialismus eingelassen, was nach 1945 einer Wiedereinstellung im Wege stand.So widmete sich Erich Feldmann nach seiner Entlassung von der TH Darmstadt voll undganz seiner bereits 1929 aufgenommenen Tätigkeit als Privatdozent der Universität Bonn.Im Jahr 1939 wurde er in Bonn zum „Dozenten neuer Ordnung“ ernannt, ab 1940 war eraußerplanmäßiger Professor.1345Erich Feldmann galt in Bonn trotz seiner Entlassung ausdem Hessischen Staatsdienst als „politisch zuverlässig“.1346Nicht nur spezialisierte ersich nun zunehmend auf das Thema der Wehrerziehung, er betätigte sich unter anderemauch als SA-Schulungsreferent, hielt Vorträge über Wehrpolitik an der Landesgruppen-luftschutzschule und wurde Mitglied von SA, NSDAP und NSDDB.1347Außerdem be-kleidete er in der SA das Amt eines Luftschutzleiters und wurde zum SA-Sturmführerernannt.1348Zwar verwehrte das REM Feldmann im Jahr 1936 aufgrund der Entlassungin Hessen eine Ernennung zum außerordentlichen Professor,1349seiner Ernennung zum„Dozenten neuer Ordnung“ im Jahr 1939 jedoch wurde zugestimmt. Im Jahr 1945 wurdeFeldmann aus politischen Gründen entlassen: Nachdem er in der Entnazifizierung als„entlastet“ eingestuft wurde, konnte er 1949 wieder in sein Amt zurückkehren.1350DerPhilosophieprofessor Hugo Dingler siedelte nach seiner Entlassung in den SüdenDeutschlands über, wo er Lehraufträge an der Universität München übernahm.1351Ab1936 war er zudem für das SS-Ahnenerbe tätig.1352Hugo Dingler wurde 1933 Mitglied304 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung der SS, außerdem des NSDDB, trotz Antrag wurde er in die Partei wohl aufgrund seinerehemaligen Freimaurerlogenzugehörigkeit erst im Jahr 1940 auf persönliche AnweisungHitlers aufgenommen.1353Weiterhin wechselte der ehemalige Ordinarius für ChemieWöhler in die Industrie. Er arbeitete als Sachverständiger der Sprengstoffchemie und alsSpezialist der Initialzündung für die Kriegsindustrie in Stuttgart.1354Georg Reutlinger be-tätigte sich nach seiner Entlassung von der TH Darmstadt als selbstständiger Berater aufdem Gebiet der Physik unter anderem für die Firma Heymann.1355Karl Fritzler war nachseiner Entlassung von der TH Darmstadt im Jahr 1938 weiter an der Universität Frankfurtals Lektor für russische Sprache beschäftigt. Seit 1941 hielt er sich jedoch in der Ukraineauf, wo er als Berater für Sprache und Landeskunde tätig wurde und darüber hinaus aneinem ukrainischen Wörterbuch arbeitete.1356Der aufgrund der Lieser’schen Denkschriftentlassene Plenk trat im Dezember 1933 in die SA ein, wo er allerdings über den Rangeines SA-Mannes nicht hinauskam.1357

Verdrängte Auseinandersetzung mit aberkannten akademischen Ehrentiteln

Die TH Darmstadt wurde in der Nachkriegszeit mit weiteren konkreten Verfolgungsvor-gängen während des Nationalsozialismus konfrontiert. Zwar war sie gezwungen, zu denAnfragen der Militärregierung, des Kultusministeriums oder auch der Betroffenen selbstStellung zu beziehen, nicht immer ging sie jedoch auf diese Aufforderungen ein, sondernreagierte mit Verdrängen.

Im Jahr 1946 richtete das Großhessische Staatsministerium eine Anfrage an die Hoch-schulen und Universitäten Großhessens bezüglich der während des „Dritten Reiches“ ver-liehenen und aberkannten akademischen Ehrentitel. Statt die Frage zu beantworten, stelltedie TH Darmstadt gegenüber dem Ministerium fest, dass „Professoren-Titel“ nicht ver-liehen und zu Ehrendoktoren „hauptsächlich Ausländer“ ernannt worden seien. Die Fragenach den Aberkennungen ließ man kurzerhand offen, der Senat beschloss, die Problema-tik in Rücksprache mit dem Ministerium persönlich zu klären.1358Ob es zu einer solchenRücksprache kam und was das Ergebnis davon war, ist in den Akten nicht überliefert.Allem Anschein nach blieben weitere Schritte aus. Anfang 1947 entschieden die süddeut-schen Rektoren gemeinsam, dass es nicht in ihrer Verantwortung liege, bei solchen Ab- 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 305erkennungen aktiv zu werden: „Die Entziehung von akademischen Titeln und Würdenwährend der nationalsozialistischen Herrschaft lässt sich nur aufgrund der Initiative derBetroffenen wiedergutmachen“.1359Damit entledigte man sich jeder Verantwortung, ini-tiativ werden zu müssen. Für die TH Darmstadt war das Thema damit erledigt, bis sichim Jahr 1949 tatsächlich ein Betroffener meldete. Generalkonsul Karl Mayer, der nachBuenos Aires geflohen war, bat die TH Darmstadt um Auskunft über die 1933 erfolgteLöschung der Auszeichnung als Ehrensenator.1360Der Kleine Senat beauftragte ProfessorHueter, dem der Vorgang bekannt war, mit einer Stellungnahme.1361Dieser kam, ohne esgenauer zu begründen, zu dem Ergebnis, dass die TH Darmstadt davon Abstand nehmensollte, Mayer den Titel wieder zuzuerkennen, woraufhin man die Angelegenheit auf sichberuhen ließ.1362Auch als zwei Jahre später, im Januar 1951, Oberbürgermeister Engelvon der TH Darmstadt die Klärung der Angelegenheit verlangte, führte dies zu keinemanderen Ergebnis. Wie es aussieht, schreckte die TH Darmstadt davor zurück, Karl Mayerwieder in den Kreis der Ehrensenatoren aufzunehmen, da sich der Direktor der Che-miefabrik Merck, Karl Merck sowie der Bankdirektor Hans Bochow „sehr ungünstig zurPerson“ Mayer geäußert hatten. Merck und Bochow betonten, dass „bei Wiederernen-nung verschiedene Herren ihren Austritt aus dem Kreis der Ehrensenatoren erklären wer-den“. Die beiden Unternehmer behaupteten, gegen Mayer hätten „Vorwürfe kriminellerArt“ bereits vor 1933 vorgelegen. Wegen seiner Emigration sei ein eingeleitetes Kon-kursverfahren aber zu keinem Abschluss gekommen.1363Die ablehnende Haltung der bei-den mit der Hochschule verbundenen Unternehmer beeinflusste in nicht unerheblichemMaße das Verhalten der TH Darmstadt. Zwar unternahm der Kleine Senat noch einenletzten Versuch, die Frage zu beantworten, ob und mit welcher Begründung Mayer dieEhrensenatorwürde aberkannt worden war, da jedoch, nach Informationen der TH Darm-stadt, erneut ein Konkursverfahren gegen Mayer aufgenommen werden sollte, beschlossman, zunächst den Ausgang des Verfahrens abzuwarten.1364Eine definitive Klärung bliebjedoch aus. Offensichtlich sah die TH Darmstadt keinen Grund dazu, den Dingen weiternachzugehen. Da Mayer keine weiteren Versuche einer Klärung unternahm, blieb die306 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung während des „Dritten Reiches“ erfolgte Aberkennung bestehen, Mayer erhielt seinen Eh-rensenatorentitel nicht zurück. Statt zu prüfen, ob die Entziehung an das Strafurteil einesordentlichen Gerichtes oder eines Sondergerichtes gekoppelt gewesen war, dem Entzugwomöglich spezifisch nationalsozialistische Motive zugrunde lagen oder nach demRechtsverständnis von vor 1933 bzw. nach 1945 ebenfalls ausgesprochen worden wäre,hielt sich die TH Darmstadt offensichtlich aus Angst vor der Reaktion der DarmstädterUnternehmer zurück. Diese Verbindungen besaßen demnach Priorität vor dem Recht ei-nes Einzelnen auf Wiedergutmachung. Die tatsächlichen Umstände der Aberkennung las-sen sich bis heute nicht aufklären. Es spricht alles dafür, dass sowohl das Konkursverfah-ren und damit auch sein Titelentzug darauf beruhten, dass Mayer Jude war. Zwar lässtsich in den Akten des Darmstädter Amtsgerichts ein Konkursverfahren der im Besitz derFamilie Mayer befindlichen Firma, der offenen Handelsgesellschaft Gebrüder Trier, eineEisengroßhandlung mit Filialen in Darmstadt, Düsseldorf und München, nachweisen, je-doch ist dieses allem Anschein nach erst im April 1933 eröffnet worden.1365Mayer, derzwischenzeitlich nach Persien geflohen war – er war Generalkonsul von Persien – undspäter in Buenos Aires ansässig wurde,1366und seine Familie verloren infolge des Ver-fahrens die Firma. Nicht auszuschließen ist, dass es sich, statt wie von der TH Darmstadtangenommen, nicht um ein Konkursverfahren, sondern um gezielte Maßnahmen zur Ent-eignung jüdischer Unternehmer handelte; insbesondere die Tatsache, dass die Firma zum1. Mai 1933 den Besitzer wechselte, weist auf eine Arisierung hin.1367Für die Nachkriegs-zeit dagegen lässt sich, entgegen der Informationen der TH Darmstadt, kein laufendesKonkursverfahren nachweisen. Das Verfahren war bereits 1940 abgeschlossen und 1944für beendet erklärt worden.1368Vielmehr bekam Mayer in einem Wiedergutmachungsver-fahren durch einen Vergleich von der Firma Rieg, dem Nachfolgeunternehmen der Ge-brüder Trier AG, eine Rückerstattungssumme von 250.000 RM zugesprochen, da man esals erwiesen ansah, dass Mayer als Jude enteignet worden war.1369Dass die beiden vonder TH Darmstadt konsultierten Darmstädter Unternehmer sich gegen Mayer ausspra-chen, könnte nicht zuletzt damit im Zusammenhang stehen, dass ihnen die VertreibungMayers als Unternehmer sowie aus dem IHK-Vorstand nicht ungelegen kam.1370

7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 307

Im Fall von Karl Mayer kam es also trotz seiner Nachfrage nicht zu einer Wiederauf-nahme in die Liste der Ehrensenatoren. Anders sah es bei dem 1935 aus der Liste entfern-ten Jakob Otto Nohl aus. Als die TH Darmstadt im Jahr 1951/52 erstmals wieder eineListe der Ehrensenatoren im Vorlesungs- und Personalverzeichnis abdruckte, war NohlsName darunter.1371Wie und auf wessen Initiative er nun wieder genannt wurde, geht ausden Akten nicht hervor. Anscheinend war dies selbst den beteiligten Zeitgenossen nichtganz klar: Im Zuge der Auseinandersetzungen um den Fall Mayer bemerkte der Senat amRande, dass Nohls Name wieder in der Liste aufgenommen wurde, und beschloss zu prü-fen, unter welchen Umständen dies geschehen war.1372Offensichtlich hatten sich die Ver-fasser der Liste keinerlei Gedanken darüber gemacht, wer genau zum Kreis der Ehrense-natoren gehörte und wessen Titel womöglich zu Unrecht während des Nationalsozialis-mus gelöscht worden war. Dass Nohls Name wieder genannt wurde, kann in diesem Zu-sammenhang demnach auch nicht als bewusste Wiederverleihung des Titels gewertetwerden. Gleichwohl wurde sein Name kein zweites Mal gelöscht, wohl nicht zuletzt, daNohls Firma für Wasserversorgungsanlagen am Wiederaufbau und Ausbau der TH Darm-stadt beteiligt war.1373

Der dritte Fall, die Aberkennung des Ehrensenatortitels aus „rassischen“ Gründen vonRobert von Hirsch zeigt, wie sehr die TH Darmstadt das Thema verdrängte, anstatt denFall Mayer zum Anlass zu nehmen, sich mit der Frage generell auseinanderzusetzen. VonHirsch, der bis zu seinem Tod im Jahr 1977 in Basel lebte, wurde nicht wieder in die Listeaufgenommen. Er selbst wird unter Umständen nicht gewusst haben, dass ihm sein Titelentzogen und auch nach 1945 nicht wieder zurückgegeben wurde.1374

Noch unübersichtlicher gestaltete sich die Entwicklung bei den Ehrendoktoren. DieListe der Ehrendoktoren wurde erstmals in der Geschichte der TH Darmstadt ab 1953/54in den Vorlesungsverzeichnissen abgedruckt.1375Wessen Name also vor 1945 aus politi-schen oder „rassischen“ Gründen entfernt wurde, lässt sich nicht eindeutig feststellen, da308 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung es zuvor keine Liste gab. Die zwei während des „Dritten Reiches“ aberkannten Ehren-promotionen waren in den ersten Vorlesungsverzeichnissen zunächst nicht genannt. Erstauf Umwegen wurden sie wieder in die Liste aufgenommen.

Einzig in einem Fall ging die Wiederaufnahme auf die Initiative eines TH-Professorszurück: Im Fall von Hans Gottstein-Glynn bemerkte Professor Brecht, dass der auf seinenAntrag im Jahr 1931 verliehene Ehrentitel an Hans Gottstein nicht im Vorlesungsver-zeichnis als Ehrendoktor der TH Darmstadt genannt wurde. Daraufhin setzte er sich imJahr 1956 dafür ein, dass Gottstein in das Vorlesungsverzeichnis aufgenommen und zuden Hochschulveranstaltungen eingeladen werden sollte.1376Zwar wurde Gottstein vonnun an wieder in der Liste aufgeführt, eine Benachrichtigung Gottsteins sowie Einladun-gen zu den Hochschulveranstaltungen lassen sich in den Akten jedoch nicht nachweisen.Unter Umständen wusste Gottstein damit weder von der Aberkennung noch von der form-losen Wiederaufnahme in den Kreis der Ehrendoktoren.

Im Fall von Gustav Hammer brachte die fehlende Auseinandersetzung der TH Darm-stadt mit der Frage der Aberkennungen den Betreffenden beinahe erneut in Schwierigkei-ten mit dem Gesetz. Wie berichtet, hatte Hammer im Jahr 1937 im Rahmen eines Ge-richtsverfahrens seine Ehrenbürgerrechte verloren. Die Aberkennung erfolgte nach § 33des Strafgesetzbuches und war demnach mit dem dauernden Verlust des akademischenGrades verbunden.1377Hammer, der sich als Opfer des NS-Staates verstand, fühlte sichin der Nachkriegszeit allem Anschein nach nicht mehr dazu verpflichtet, die im Jahr 1937ergangenen Auflagen des Gerichts weiter einzuhalten und führte erneut seinen Ehrendok-tortitel.1378Daraufhin erkundigte sich der Berliner Polizeipräsident bei der TH Darmstadt,ob man Hammer den Titel erneut verliehen habe.1379Woher er den Verdacht hatte, gehtaus den Akten nicht hervor. Wie in den anderen Fällen auch, erklärten Fakultät und Rek-torat, dass über die Ehrenpromotion keine Unterlagen auffindbar seien.1380Die General-staatsanwaltschaft Berlin sah es damit als erwiesen an, dass Hammer keine Berechtigungdazu hatte, den Titel zu tragen und leitete wegen „unbefugter Führung eines akademi-schen Grades“ ein Ermittlungsverfahren gegen ihn ein.1381Kurze Zeit später gelang esGustav Hammer, mit den Originalkopien die Titelverleihung nachzuweisen. Daraufhin 7.2 Die Macht der Darmstädter Stammordinarien 309wurde die TH Darmstadt erneut von der Staatsanwaltschaft aufgefordert, Stellung zurFrage zu nehmen.1382Angesichts der neuen Erkenntnislage stellte nun auch die TH Darm-stadt fest, dass Hammer die Ehrenpromotion 1925 verliehen bekommen hatte. Den Irr-tum, der Hammer in große Bedrängnis gebracht hatte, begründete man wie so oft mit denZerstörungen während des Krieges.1383Angesichts der brenzligen Situation, in die Ham-mer aufgrund der unzureichenden Bearbeitung der Anfrage gebracht worden war, ent-schuldigte sich die TH Darmstadt bei diesem. Er wurde daraufhin nicht nur im Jahr1958/59 wieder in der Liste der Ehrendoktoren genannt, allem Anschein nach lud manihn nun auch wieder zu akademischen Feiern an der TH Darmstadt ein.1384

Die Auswertung dieser fünf Fälle ergibt, dass die TH Darmstadt beim Umgang mitder Aberkennung von akademischen Ehrentiteln zu keinem Zeitpunkt in dem Bewusst-sein vorging, erfahrenes Unrecht wiedergutzumachen. Vielmehr hatte das von Verdrän-gen geprägte Vorgehen der TH Darmstadt den formellen Charakter reiner Verwaltungs-tätigkeiten. Nicht zuletzt die Tatsache, dass die Hochschule bis 1951 komplett daraufverzichtete, Ehrentitel im Vorlesungs- und Personalverzeichnis abzudrucken, zeigt, wiewenig die TH Darmstadt dazu bereit war, sich mit personalpolitischen Themen auseinan-derzusetzen. Ebenso sah man wegen der „noch nicht geklärten allgemeinen Entwicklungder Hochschule“ in der ersten Nachkriegszeit zunächst von Ehrenpromotionen oder Se-natorentitelverleihungen ab.1385Vermutlich wollte die TH Darmstadt in Zeiten, wo diepolitische Vergangenheit im Rahmen der Entnazifizierung von einem auf den anderenTag zu Entlassungen und zum Schaden an der öffentlichen Reputation führen konnte,kein Risiko eingehen. Damit stand sie nicht allein da: Auf einer Hochschulkonferenz hat-ten die Rektoren gemeinsam beschlossen, sich mit der Verleihung dieser Titel zunächstzurückzuhalten.1386Erste Anträge, wie der der Fakultät für Maschinenbau im Oktober1948, Herrn Adolf Messer den Dr. Ing. eh. zu verleihen, lehnte der Senat ab, da dieser alsMitläufer eingestuft war.1387Ab 1948 wurde diese Selbstbeschränkung aufgehoben undEhrensenatoren- sowie Ehrendoktortitel wieder verliehen, nicht zuletzt vor dem Hinter-grund der Aktivitäten anderer Universitäten und Hochschulen. Nachdem etliche Institu-310 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung tionen sich dazu entschlossen hatten, Otto Hahn mit einer Ehrendoktorwürde zu würdi-gen, beeilte sich die TH Darmstadt dem gleichzukommen: Die erste Ehrendoktorwürdein der Nachkriegszeit ging 1948 an den Atomphysiker.1388Auch würdigte die TH Darm-stadt, unter anderem auf Initiative von Alwin Walther und der Fakultät für Mathematik,im Jahr 1955 den emigrierten Göttinger Mathematiker Courant mit einem Ehrendokto-rat.1389Spätestens mit dem Artikel 131 verlor die TH Darmstadt ihre Hemmungen, auchPersonen mit durchaus fragwürdiger Vergangenheit akademische Ehrentitel zu verleihen,wie beispielsweise dem im IG-Farbenprozess angeklagten Heinrich Hörlein im Jahr1952.1390

Vergessene Doktorgradentziehungen

Bei jenen Depromotionen, die als Folge des Staatsbürgerschaftsverlusts ausgesprochenworden waren, galt in der Nachkriegszeit bei den Universitäten und Hochschulen derGrundsatz, den Titel bei diesbezüglichen Anträgen zurückzugeben. Einen solchen Antraggab es jedoch im Fall der TH Darmstadt von keiner der vier betroffenen Personen. Es istdavon auszugehen, dass diese bei ihrer Flucht ins Ausland nicht über den Verlust desTitels informiert worden waren. Da auch die TH Darmstadt nach 1945 von sich aus nichtinitiativ geworden ist, wurden die Depromotionen lange Zeit nicht zurückgenommen. Mitdieser Problematik steht die TU Darmstadt nicht alleine dar.1391In ganz Deutschland 7.3 Bilanz der Wiedergutmachung an der TH Darmstadt 311haben sich Universitäten und Hochschulen erst in den letzten Jahren mit den Depromoti-onen auseinandergesetzt. Nachdem Forschungsprojekte die weiterhin gültigen Depromo-tionen aufgedeckt haben, setzte ein Bewusstwerdungsprozess ein. Nunmehr hoben zahl-reiche Universitäten das nationalsozialistische Unrecht in offiziellen Festakten auf undgaben akademische Titel und Ehrentitel zurück.1392Die TU Darmstadt folgte diesen Bei-spielen und rehabilitierte im Rahmen des öffentlich verkündeten Abschlusses des Projek-tes „TH Darmstadt und Nationalsozialismus“ am 20. Januar 2015 die betroffenen Perso-nen.1393

7.3Bilanz der Wiedergutmachung an der TH Darmstadt

Wie aus der Beschreibung der verschiedenen Wiedergutmachungsverfahren hervorgeht,entwickelten sich die Fälle höchst unterschiedlich. Die einzelnen Verfolgungsgeschichtenwaren, wie in Abschnitt 7.1 gezeigt, von einer außerordentlichen Individualität geprägt,dementsprechend vielfältig gestaltete sich die Beziehung oder Nichtbeziehung der ver-schiedenen Betroffenengruppen nach 1945 zur TH Darmstadt. Nicht alle Vertriebenenbeantragten eine Wiedergutmachung oder wandten sich nach 1945 in anderer Form wie-312 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung der an die TH Darmstadt. Insgesamt 23 der während des „Dritten Reiches“ aus ihren Äm-tern vertriebenen Personen stellten keinen Wiedergutmachungsantrag.1394Von den 39bislang ermittelten Betroffenen verstarben noch während des „Dritten Reiches“ 11 Per-sonen, damit rund 28 Prozent.1395Es ist davon auszugehen, dass die Hinterbliebenen nichtin jedem Fall über die Entlassungsumstände von der TH Darmstadt informiert waren unddarum keinen Antrag stellten.

Wenn ein Antrag gestellt wurde, entschieden die Entschädigungskammern sehr un-terschiedlich. In Zahlen bedeutete dies, dass von den insgesamt 16 von ehemaligenDarmstädter Hochschulangehörigen angestrebten Wiedergutmachungsverfahren 12 alssolche anerkannt wurden. Vier wurden dagegen aus unterschiedlichen Gründen abge-lehnt, im Fall von Karl Rothert wurde die Entlassung durch die TH Darmstadt gar nichterst behandelt.1396Mit dem Verfahren von Erich Stern kam aufgrund der Situation desPädagogischen Instituts in Mainz ein 17. Wiedergutmachungsverfahren hinzu.

Grundsätzlich ist feststellbar, dass die TH Darmstadt nicht in allen Verhandlungendazu bereit war, Gutachten über die voraussichtliche Entwicklung der Karriere der Be-troffenen zu schreiben. Ob dieses Verhalten tatsächlich immer auf die schwierige Akten-lage zurückzuführen ist – das Beispiel Jonas zeigt, wie das Wissen über die Vergangen-heit eingesetzt wurde –, oder andere Ursachen hat, insbesondere die Scheu, über die na-tionalsozialistische Vergangenheit zu sprechen, lässt sich nicht beantworten. Fest steht,dass diese Haltung meist zu Nachteilen für die Antragsteller führte, da sich das Verfahrenverzögerte und der Verwaltungsdirektor viel stärker in Aktion trat. Dieser widmete sichder Angelegenheit jedoch meist aus einer verwaltungrechtlichen Perspektive, denn er warnicht zuletzt eingestellt, um die Position des Kultusministeriums an der TH Darmstadt zuvertreten. Insbesondere bei den Verfahren von Dorer und Jonas treten ganz deutlich dieGrenzen zwischen der juristischen und der akademischen Wiedergutmachung zutage.Während die TH Darmstadt in der Regel der juristischen Wiedergutmachung neutral ge- 7.3 Bilanz der Wiedergutmachung an der TH Darmstadt 313genüberstand, trat sie bei Dorer und Jonas, wo in ihren Augen eine deutliche Grenze über-schritten wurde, vollkommen anders in Aktion.

In Bezug auf die „akademische“ Wiedergutmachung an der TH Darmstadt lässt sichfesthalten, dass mit Noack und Kleinlogel lediglich zwei außerplanmäßige Professorenwieder in ihre ehemaligen Ämter eingesetzt wurden. Jedoch waren sie im Vergleich zuihren vormaligen Konditionen benachteiligt, da sei keine bezahlten Lehraufträge mehrerhielten. Dagegen verhinderten die Hochschulleitung und die Fakultät für Architektur,dass der ehemalige außerordentliche Professor Plenk in sein Amt zurückkehren konnte,da man an seiner Lehrtätigkeit allem Anschein nach kein Interesse hatte. Die Habilitationund Anstellung von Klaus Federn als Privatdozent, die Hochschulleitung und Fakultätausdrücklich nicht als Akt der Wiedergutmachung verstanden haben wollten, zeigt, wel-che Kriterien die TH Darmstadt an die Wiederaufnahme in den Lehrkörper knüpfte. Dieeinzige von der TH Darmstadt unterstützte Rückberufung eines sich in Großbritannienaufhaltenden Extraordinarius scheiterte am Tod von Hans Baerwald. Der HistorikerClaus-Dieter Krohn geht davon aus, dass in fast allen Disziplinen nur 10 bis 15 Prozentder Vertriebenen an ihre ehemaligen Hochschulen und Universitäten zurückkehrten.1397Unklar ist allerdings, ob er in diese Zahl auch betroffene Assistenten und Privatdozentenmit einberechnete. So oder so, mit lediglich drei an die Hochschule zurückgekehrten Per-sonen aus der Gruppe der während des Nationalsozialismus aus ihren Ämtern Vertriebe-nen, dies entspricht einem Anteil von 7,7 Prozent, liegt die TH Darmstadt deutlich unterdem Schnitt.

Bei der Rückgabe der während des „Dritten Reiches“ aberkannten akademischen Eh-rentitel zeichnete sich das Verhalten der TH Darmstadt durch Verdrängen aus. Nur wennein Betroffener direkt auf die Hochschulleitung zukam, war diese bereit, sich mit demTitelentzug zu beschäftigten. Wie der Fall von Karl Mayer zeigt, war sie selbst in diesenFällen keinesfalls immer dazu bereit, den Titelentzug auch rückgängig zu machen. Wäh-rend Jakob Otto Nohl im Jahr 1951/52 offiziell wieder in der Liste der Ehrensenatorenaufgenommen wurde, lehnte man eine Wiederverleihung des Titels an Mayer ab. Robertvon Hirsch, der ebenfalls den Titel des Ehrensenators während des „Dritten Reiches“ ent-zogen bekommen hatte, stelle keinen Antrag und wurde dementsprechend von derTH Darmstadt in der Nachkriegszeit nicht berücksichtigt. Dagegen wurden alle drei ent-zogenen Ehrendoktortitel zurückgegeben. Im Fall von Hans Gottstein-Glynn passierte314 7. Beschweigen und ausgewählte Akte der Wiedergutmachung dies sogar auf Initiative von Walter Brecht. Bei Gustav Hammer hätte der durch Verdrän-gen charakterisierte Umgang der TH Darmstadt um ein Haar dazu geführt, dass Hammererneut benachteiligt worden wäre. Er erhielt den Titel schließlich im Jahr 1958/59 zurück.Vollkommen verdrängt, gerieten die vier von Depromotion betroffenen Personen späterin Vergessenheit.1398

7.3 Bilanz der Wiedergutmachung an der TH Darmstadt 315

8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt zwischen Hoch- schule und Landesregierung

In der Nacht vom 16. zum 17. August 1946 wurden auf Veranlassung der amerikanischenMilitärregierung die Särge der preußischen Könige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II.sowie des früheren Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und seiner Frau im Morgen-grauen nach Marburg in die Elisabethenkirche gebracht. Wenige Tage später fand in An-wesenheit einer kleinen Gruppe bestehend aus Mitgliedern der Hohenzollernfamilie, derdeutschen Zivilregierung und sechs amerikanischen Offizieren, unter Ausschluss der Öf-fentlichkeit, eine kleine Begräbnisfeier statt.1399Seit der Auffindung der vier Särge hattendie Amerikaner aufgrund der politischen Brisanz ihre Überführung vorsichtig geplant undunter Geheimhaltung durchgeführt, selbst Anwohner blieben unwissend.1400Erst nach derdurchgeführten Aktion konnte die Marburger Bevölkerung darüber in der Zeitung lesen.Von nun an kam es zu anonymen nächtlichen Kranzniederlegungen an den Grabstätten.Ministerpräsident Stock reagierte auf diese Niederlegungen empört, sofort vermutete erdahinter Aktionen der Universität. In Verbindung mit dem bereits erwähnten Professo-renstreit über die Entnazifizierung ließ sich Stock auf einer SPD-Kreistagsversammlungim Februar 1946 dazu hinreißen, nicht nur anzukündigen, dass sich Marburg unter Um-ständen von den Särgen „trennen müsste“, sondern mit seiner Bemerkung, „daß wir zuvielHochschulen in dem kleinen Land Hessen haben“, auch eine Drohung in Richtung derMarburger Universität auszusprechen.1401Selbst die nationale und internationale Pressegriff den Vorfall auf, die Universität Marburg und die drei anderen hessischen Hochschu-len waren in helle Aufregung versetzt.

Der Vorfall stellte den Ausgangspunkt einer über mehrere Jahre andauernden Ausei-nandersetzung zwischen der hessischen Regierung und den Hochschulen und Universitä-ten Hessens dar. Wie die Reaktion Stocks auf die Marburger Ereignisse zeigt, wähnte die316 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt hessische Landesregierung in den Universitäten eine reaktionäre Gefahr für die neue De-mokratie. Zwischen den regierenden Politikern der in Hessen stark vertretenen Arbeiter-parteien, deren Biografien nach 1933 nicht selten durch Vertreibung und KZ geprägt wor-den waren, und den größtenteils im Amt verbliebenen Hochschulprofessoren, die sich aufverschiedenste Arten mit dem NS-System identifiziert hatten, herrschte ein angespanntesVerhältnis. Angesichts der unüberwindbaren Konfliktsituation an der Universität Mar-burg zog auch der seit 1947 im Amt befindliche Kultusminister Erwin Stein Konsequen-zen, welche er in einer seiner ersten Reden vor dem Landtag im März 1947 ankündigte:„Die Abgeschlossenheit von der Welt und die schwere Last der Zeitumstände haben wohldas Blickfeld der beteiligten Professoren etwas verengt. [...] Aus diesen Gründen ist einegewisse Auflockerung des Lehrkörpers mindestens durch die Hinzunahme neuer Kräfte[...] vonnöten.“1402In der Vorstellung Steins sollten nun in erster Linie entschiedene Geg-ner des Nationalsozialismus sowie Emigranten für Lehrstühle berücksichtigt werden. Da-mit brach er in den Augen der Hochschulen und Universitäten gleich mehrere Tabus:Nicht nur sprach er unverwunden von einem Versagen der Universitäten während des„Dritten Reiches“, er kündigte eine personelle Erneuerung und Demokratisierung derakademischen Strukturen an. Die Universitäten müssten nach seinem Empfinden stärkervonseiten des Staates gesteuert werden. Während die Rede Steins im Landtag mit starkemBeifall aufgenommen wurde, war man auf Hochschulseite alarmiert.1403

Stein beließ es nicht bei diesen Äußerungen. Dass er es mit dem Wunsch, die Verhält-nisse an den Universitäten und Hochschulen zu verändern, ernst meinte, zeigte sich imRahmen der sogenannten „Brill-Affäre“, die den Höhepunkt des Konfliktes zwischenwissenschaftlichen und politischen Akteuren in Hessen darstellte.1404Gegen den Willender Universität Frankfurt ernannte Kultusminister Stein den Juristen, ehemaligen KZ-In-sassen und Chef der hessischen Staatskanzlei Hermann Brill am 27. April 1948 zum Ho-norarprofessor für „Öffentliches Recht“ an der Universität Frankfurt.1405In der Folge ent-brannte um das Vorschlagsrecht von Professoren zwischen Hochschulen und Ministerium 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt 317eine Debatte, die sich zu einem politischen Skandal ausweitete, zu dem beide Seiten re-gelmäßig Stellung in der Presse nahmen. Für die hessischen Rektoren bedeuteten die Re-gierungseingriffe in die Personalstruktur im Namen der Demokratisierung einen Angriffauf das althergebrachte akademische Recht der Selbstergänzung. Sie waren sich einigdarüber, dass das Vorschlagsrecht der Universitäten gewahrt werden müsse, und drücktendies in deutlichen Worten aus: „Es gehört nicht zu den Aufgaben des Staates – wenn ernicht totalitär ist –, auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Forschung die Dinge in dieHand zu nehmen. Er fährt selber besser, wenn für die Hochschulen ein eigener Raumgelassen wird“.1406Unverkennbar drehte sich die Berufungspolitik nach 1945 mehr alsnur um die Frage, wer zukünftig zum Lehrkörper gehörte. Nach dem Ende des „DrittenReiches“ handelten Universitäten und Hochschulen mit der Landesregierung die Mitwir-kungsrechte an Berufungsverfahren neu aus.1407Die Erfahrungen des Nationalsozialis-mus wurden von beiden Seiten nach 1945 als Argumente angebracht, um bei Berufungs-verfahren mehr Einflussnahme zu erstreiten.

Auch für die Technische Hochschule Darmstadt bildete dieser Aushandlungsprozessden Hintergrund, vor dem sie ihre Berufungen durchführte. Das folgende Kapitel widmetsich der Frage, wie sich diese Konstellation auf die Berufungsverfahren an der TH Darm-stadt zwischen 1945 und 1960 auswirkte.

Die Historisierung von Berufungen stellt bis heute ein Forschungsdesiderat dar.1408Während die Frage der Berufungen zur Zeit des Nationalsozialismus unter dem Aspekt318 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt der Politisierung der Hochschulen mittlerweile mehrfach in Form von Einzelbeiträgenaufgegriffen wurde, existieren für die Zeit nach 1945 keinerlei Darstellungen, die sich mitBerufungsverfahren beschäftigen.1409Eine Einordnung der Darmstädter Befunde mussdaher ausbleiben, bis weitere Ergebnisse vorliegen.

Diese defizitäre Forschungslage ist nicht zuletzt der grundsätzlichen Quellenproble-matik geschuldet: So muss immer davon ausgegangen werden, dass grundlegende Perso-nalentscheidungen – wie zu anderen Zeiten auch – in informellen Gesprächen beschlos-sen wurden, und sich ein Großteil dieser Absprachen nicht in den Akten wiederfindenlässt. Für die Nachkriegszeit kommt im Darmstädter Fall hinzu, dass in den wenigstenFällen Berufungsakten überliefert wurden. So existieren zwar zu neu berufenen Profes-soren Personalakten im Darmstädter Universitätsarchiv, nicht in allen Akten sind jedochdie Berufungsberichte enthalten, noch seltener finden sich in der Überlieferung die Aktender Berufungskommissionen.1410Für die leitende Fragestellung dieser Arbeit stellte diesjedoch kein Hindernis dar, da sich die Lücken meist über die im Bestand des Kultusmi-nisteriums Nr. 504 des Hauptstaatsarchivs in Wiesbaden befindlichen sogenannten „Per-sonalnebenakten“, in denen die gesamte Korrespondenz zwischen TH Darmstadt undKultusministerium und meist auch die Berufungsberichte enthalten ist, schließen ließen.Im Falle von Berufungen ab Mitte der 1950er Jahre existieren sogar weitere Überliefe-rungen der Berufungsverhandlungen zwischen Ministerium und Rektorat bzw. den be-treffenden Professoren. Dadurch konnten neben dem Ausgang der Verfahren auch dieUmstände, also der Prozess der Berufung selber, ins Blickfeld genommen werden, wasbesonders angesichts der angespannten personalpolitischen Situation der Nachkriegszeit 8.1 Berufungsverfahren vor 1945 319– zu keiner Zeit in der Hochschulgeschichte Darmstadts war die Personalpolitik derarti-gen Rahmenbedingungen ausgesetzt – ein interessantes Unterfangen darstellt. An derTH Darmstadt wurden zwischen 1945 und 1960 insgesamt 62 außerordentliche und or-dentliche Professoren berufen, die den Untersuchungsgegenstand des folgenden Kapitelsbilden.1411Auf jede einzelne dieser Berufungen einzugehen, ist im Rahmen dieser Arbeitnicht möglich. Vielmehr wird es darum gehen, die Besonderheiten der Berufungsverfah-ren nach dem Ende des „Dritten Reiches“ herauszuarbeiten.1412Die Berufungsumständezwischen 1945 und 1960 änderten sich aufgrund der rechtlichen Vorgaben der hessischenLandesregierung mehrfach. Die Berufungsverfahren zeichneten sich damit durch ver-schiedene Charakteristika aus, anhand derer der Betrachtungszeitraum 1945 bis 1960 ineinzelne Zeitabschnitte eingeteilt wird. Doch zunächst sollen grundlegende Fragen zurvorangegangenen Berufungspraxis geklärt werden. Um die besondere Situation der Be-rufungen an der TH Darmstadt zwischen 1945 und 1960 herausarbeiten zu können, wirdsich ein erster Teil des Kapitels zunächst mit Berufungen vor 1945 beschäftigen. Mit derFrage der Berufungen war für die Hochschule in der Nachkriegszeit viel mehr als nur dieSuche nach Hochschulpersonal verbunden. Die Leitung der TH wurde vor die Aufgabegestellt, den Unterricht trotz zahlreicher Ausfälle aufrechtzuerhalten, und gleichzeitig imSinne der fachlichen Traditionen Personalentscheidungen zu treffen. Nach der bisherigenAuswertung der Berufungsverfahren aus den Jahren 1945 bis 1960 wird deutlich, dassbesonders zu Beginn des Betrachtungszeitraums Lehrstühle über mehrere Jahre verwaistblieben. Diese krisenhafte Situation für die Hochschulleitung wird in einem weiterenTeilkapitel betrachtet werden. Danach folgt eine Beschreibung der Berufungsverfahren,aufgeteilt in vier Zeitabschnitte, unter Berücksichtigung der sie jeweils charakterisieren-den Merkmale.

8.1Berufungsverfahren vor 1945

Traditionellerweise bestand der zentrale Auswahlakteur bei Berufungen an den Hoch-schulen und Universitäten aus der Gruppe der Ordinarien. Im Falle eines zu besetzendenLehrstuhles holte die jeweilige Fakultät Gutachten über mögliche Kandidaten innerhalbder scientific community ein. Bis zum Hochschulrahmengesetz im Jahr 1972 gab es keine320 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt Stellenausschreibungen und damit auch nicht die Möglichkeit der Bewerbung aus eigenerInitiative. Von Hausberufungen sahen Universitäten und Hochschulen in der Regel ab.

Die eingeholten Vorschläge wurden von einer eigens ins Leben gerufenen Berufungs-kommission diskutiert, welche nach einer Auswahl schließlich dem Senat einen Dreier-vorschlag vorlegte. Gab der Senat die Dreierliste frei, reichte der Rektor die Liste beimMinisterium ein. Die TH Darmstadt besaß das Vorschlagsrecht, das Ministerium wiede-rum konnte aus den drei genannten Wissenschaftlern auswählen. Das Ministerium tratanschließend in Rücksprache mit dem Rektorat mit dem Erstgenannten in Verhandlung.Soweit sich beide Seiten an diesen durch „Gewohnheitsrecht“ aufrechterhaltenen Ablaufhielten, verliefen Berufungsverhandlungen konfliktfrei, Neubesetzungen fanden letztenEndes in gegenseitigem Einvernehmen statt. Dies zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass eseiner Festschreibung des konkreten Verfahrensablaufs in den Verfassungen derTH Darmstadt aus den Jahren 1926 oder 1933 nicht bedurfte.1413Ein Abweichen vomgängigen Gewohnheitsrecht führte sogleich zu heftigen Protesten, wie die sogenannte„Goldstein-Affäre“ zeigt.1414Die hessische Landesregierung ernannte, gegen den Willender TH Darmstadt und ohne Vorschläge der Fakultät für Kultur- und Staatswissenschaf-ten einzuholen, im Jahr 1925 Julius Goldstein zum Extraordinarius für Philosophie. Ob-wohl Goldstein seit 1902 Privatdozent der TH Darmstadt war, sorgte seine Ernennungnicht nur wegen der Verfahrensweise für Aufruhr an der TH Darmstadt, sondern insbe-sondere auch, da Goldstein aktiv für die Republik eintrat und Jude war.1415

Für die Weimarer Zeit hat Anna Lux in ihrer Untersuchung zu den Leipziger Germa-nisten herausgefunden, dass die neu berufenen Professoren männlich, von bürgerlicherHerkunft und protestantischer Konfession waren, ein national-konservatives Weltbildvertraten und im Durchschnitt 42 Jahre alt waren. Ein Berufungsverfahren dauerte in derRegel sechs Monate.1416

Zwar hatten die Nationalsozialisten kein kohärentes wissenschaftliches Programm,sie machten dennoch Wissenschaftspolitik. Für den Bereich der Hochschulen und Uni-versitäten bedeutete dies, dass Entscheidungs- und Kontrollinstanzen in die akademische 8.1 Berufungsverfahren vor 1945 321Personalpolitik zwischengeschaltet wurden, um für politisch zuverlässige Hochschulleh-rer an Universitäten und Hochschulen zu sorgen. Bei Berufungsverhandlungen kam dasREM als zentrale bildungs- und hochschulpolitische Instanz hinzu, außerdem prüfte diePartei über den NS-Dozentenbundführer die politische Zuverlässigkeit der Kandidaten.Nun bildeten unter anderem die „Nürnberger Rassengesetze“ die Basis für alle Personal-entscheidungen.

Für die Berufungspolitik der TH Darmstadt zwischen 1933 und 1945 stellt MelanieHanel fest, dass das traditionelle Vorschlagsrecht der TH Darmstadt trotz dieser Rahmen-bedingungen weitgehend erhalten blieb.1417Insbesondere da sich die beteiligten Akteureinnerhalb der Hochschule einig waren, zudem zum Reichsstatthalter und Gauleiter Spren-ger ein gutes Verhältnis bestand – Sprenger stand der TH Darmstadt insbesondere auf-grund ihrer Rolle in kriegswichtigen Forschungsvorhaben positiv gegenüber und unter-stützte die Wissenschaftler in ihren Angelegenheiten –, blieben politische Berufungen dieAusnahme. Der Großteil der insgesamt 37 zwischen 1933 und 1945 erfolgten Berufungenvon außerordentlichen und ordentlichen Professoren verlief selbstbestimmt, abgesehenvon den „rassischen“ und politischen Begrenzungen der Nationalsozialisten bildeten wei-ter fachliche Qualifikation und Arbeitserfahrung in führenden Industrieunternehmen dieausschlaggebenden Kriterien für Berufungen. Es kam zu keinen Berufungen von Partei-aktivisten ohne ausreichende fachliche Qualifikation. Dass politische Faktoren keineübermäßig große Rolle bei Berufungen gespielt haben, zeigt Hanel anhand der NS-Mit-gliedschaften der Neuberufenen und der Tatsache, dass in den Akten kaum Hinweise aufKonflikte mit den politischen Instanzen nachgewiesen werden können.1418Anders als diebeteiligten Professoren in der Nachkriegszeit dies teilweise betonten, stand die TH Darm-stadt nicht im Dauerkonflikt mit den politischen Behörden, Einflussversuche der politi-schen Akteure auf die Berufungsentscheidungen blieben die Ausnahme.1419

322 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt

8.2Vertretungen und Vakanzen. Anforderungen an die Personalpoli- tik in der Nachkriegszeit

Ein Blick in die Vorlesungsverzeichnisse der Nachkriegszeit zeigt sogleich: Bis Anfangder 1950er Jahre gehörten Personallücken zum Hochschulalltag. Viele Lehrstühle bliebenüber mehrere Monate, manche sogar mehrere Jahre vakant. Der Platzhalter für Personen-namen, die zum Zeitpunkt der Drucklegung noch nicht bekannt waren, der Vermerk„NN.“, fand äußerst häufig Verwendung.1420Es ließ sich trotzdem aufgrund der sich stän-dig verändernden Personalverhältnisse nicht vermeiden, dass ein Vorlesungsverzeichnisunmittelbar nach der Drucklegung bereits nicht mehr den aktuellen Stand des Lehrkörperswiedergab und Veranstaltungen ausfallen mussten, da Lehrstuhlinhaber plötzlich mittenim Semester im Zuge der Entnazifizierung als entlassen galten oder nach Amerika ab-wanderten. In den ersten beiden Semestern nach der Wiedereröffnung verzichtete mankomplett auf den Druck von Vorlesungsverzeichnissen – Papiermangel war sicher einweiterer Grund hierfür –, ein erstes gedrucktes Verzeichnis lag im Wintersemester1946/47 vor.1421

Während des ersten Nachkriegssemesters galten im Zuge der Entnazifizierung vo-rübergehend 14 von 53 und damit 26 Prozent der Professoren als entlassen.1422Wie inKapitel 6.2.2 beschrieben, konnte ein Teil von ihnen zunächst als technische Hilfskräfte,später durch Sondergenehmigungen und den guten Kontakt zum zuständigen Militäroffi-zier Irvin, weiter beschäftigt werden. Im Wintersemester 1946/47 war ein Höhepunkt er-reicht. Von den insgesamt 53 planmäßig tätigen außerordentlichen und ordentlichen Pro-fessoren galten 17 als entlassen, das entsprach einem Anteil von 32 Prozent.1423Um den 8.2 Vertretungen und Vakanzen 323Lehrbetrieb trotz Vakanzen aufrechterhalten zu können, erstellte die Leitung der Hoch-schule Vertretungspläne.1424In der Regel setzte man für ausgefallene Institutsleiter einenOrdinarius der gleichen Fakultät als Vertretung ein.1425Wie lange die betroffenen Profes-soren für die TH Darmstadt ausfielen, variierte stark und war in den wenigsten Fällenabsehbar. Der Zeitraum konnte wie im Fall von Professor Klöppel wenige Wochen, wieim Fall von Professor Hübener bis zu fünf bzw. sogar sieben Jahre dauern.1426ProfessorMehmel und Professor Schmieden waren je ein Jahr lang abwesend, die Professoren An-kel, Reinhold, Neuhaus, Stocker und Thum jeweils zwischen zwei bis drei Jahren. Scheu-bel, Klöppel und Busch kehrten bereits nach wenigen Monaten zurück.

Vakanzen durch Abwanderungen von Darmstädter Professoren in die USA

Neben der Entnazifizierung zeichnete sich die Nachkriegszeit personalpolitisch für dieTH Darmstadt, wie die anderen Hochschulen auch, durch eine weitere Besonderheit aus:Im Laufe der Nachkriegszeit verließen einige Ordinarien die TH Darmstadt freiwillig, umihre Forschungsarbeiten für die Amerikaner weiterzuführen. Zwischen 1945 und 1950entschieden sich mit Rudolf Brill, Carl Wagner, Gustav Mesmer, Theodor Buchhold, OttoScherzer sowie Nikolaus Scheubel sechs Professoren dafür, der Einladung in die USA zufolgen, das entspricht ungefähr einem Anteil des Lehrkörpers von elf Prozent.1427Vielenutzten die Gelegenheit zu einem Zeitpunkt, als ihr weiteres Fortkommen an der THDarmstadt aufgrund der Entnazifizierung und der Forschungsbeschränkungen der Alli-ierten nicht abzusehen war. Theodor Buchhold, seit 1934 Ordinarius für Elektrotechnikan der TH Darmstadt, bekam im Herbst 1945 ein Angebot des US War Department, wel-ches er zunächst ablehnte.1428Sowohl die Abteilung für Elektrotechnik als auch die Hoch-324 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt schule befürchteten, den anerkannten Fachvertreter zu verlieren, und setzten sich für sei-nen Verbleib an der TH Darmstadt ein.1429Da Buchhold, so Professor Busch, auf seinemFachgebiet großes Ansehen genieße, würde sein Ausscheiden „für die Abteilung Elekt-rotechnik und damit für die ganze Hochschule einen unersetzlichen Verlust bedeuten“.1430Als jedoch nach mehreren Monaten des Wartens trotz vehementen Einsatzes der TH-Lei-tung noch immer kein Spruchkammerverfahren in die Wege geleitet werden konnte undBuchhold weiterhin als entlassen galt, entschied er sich im Juni 1946 nach Amerika zugehen, da er dort „günstigere Arbeitsmöglichkeiten geboten bekam“.1431Unter den TH-Professoren erhielt eine nicht unerhebliche Anzahl solche Einladungen ins Ausland.1432Die vermehrte Abwanderung von Professoren hätte für die TH Darmstadt weitreichendeFolgen gehabt. Wie bedrohlich für die TH Darmstadt die Abwerbungsversuche waren,zeigt das Ausmaß, in welchem die Hochschulleitung sich bemühte, dem Abgang gegen-zusteuern, zum Beispiel durch gezielte Versuche, Einfluss auf die Situation der Professo-ren in Darmstadt zu nehmen. So forderte der Rektor das Ministerium dazu auf, für bessereLebensbedingungen der Professoren zu sorgen, insbesondere in Fragen der Wohnung undErnährung.1433Darüber hinaus bemühten sich Hochschulleitung und Fakultäten alles da-für zu tun, die Rückkehr der einzelnen Professoren möglich zu machen. Im Fall von Buch-hold unternahm die Hochschule sogar während seiner Abwesenheit den Versuch, seineEntnazifizierung zu beschleunigen.1434

Grundsätzlich bekamen die Professoren von den Amerikanern zunächst auf ein Jahrbefristete Verträge. Um sie auf lange Sicht nicht als Lehrkörpermitglieder zu verlieren,galten sie für die Dauer der Abwesenheit als beurlaubt, und die TH Darmstadt hielt dieLehrstühle frei. Letztendlich kamen jedoch nur zwei, Professor Scherzer und ProfessorScheubel, tatsächlich wieder an die TH Darmstadt zurück.1435Da Berufungskommissio-nen erst tätig wurden, wenn eine Rückkehr aussichtslos erschien, führte dies, wie bei 8.2 Vertretungen und Vakanzen 325Elektrotechniker Buchhold, zu einer Verlängerung der Vakanz. So hatte Buchhold dieTH im Januar 1947 darüber in Kenntnis gesetzt, dass er einen Vertrag für weitere fünfJahre in Amerika unterzeichnet habe, erst im Juli 1947 wurde eine Berufungskommissiontätig, im April 1948 Ludwig Lebrecht als Nachfolger für Buchhold berufen.1436Wie je-doch der Fall von Professor Brill zeigt, verlor die TH Darmstadt, nachdem mit Wagnerund Buchhold zwei Professoren nicht zurückkehrten, bei der Freihaltung von Lehrstühlendie Geduld. Auch der Chemieprofessor und Leiter des Zintl-Institus Rudolf Brill war zueinem Zeitpunkt nach Amerika gegangen, als er in Darmstadt aufgrund seines Entnazifi-zierungsverfahrens als Hochschullehrer noch nicht wieder zugelassen worden war. Alsdas Kultusministerium grünes Licht für seine Wiederverwendung an der TH Darmstadtgab, machte Brill jedoch keine Anstalten zurückzukehren, sondern forderte für seine Ent-scheidung mehr Zeit.1437Diese Haltung Brills sorgte für Unmut aufseiten der Fakultät undder Hochschulleitung. Die Fakultät für Chemie stellte Brill nun ein Ultimatum, gleichzei-tig begann eine Berufungskommission mit der Arbeit. Als diese Maßnahmen nicht halfen,setzte die Hochschulleitung das Ministerium in Kenntnis und bat den „Fall zu been-den“.1438Das Ministerium handelte im Sinne der TH Darmstadt, löste sogleich die beste-hende Beurlaubung Brills auf und lehnte einen weiteren Antrag ab. Der Wunsch Brills,sich eine Rückkehr an die TH Darmstadt offenzuhalten, war damit ausgeschlossen.1439

Die durch Abwanderungen und Entnazifizierung entstandenen Rahmenbedingungenführten dazu, dass der Zeitpunkt, Berufungsverhandlungen zu beginnen, erheblich verzö-gert wurde. Die Nachkriegszeit stellt diesbezüglich eine Ausnahmesituation dar. Obwohlder Rektor sich aus Sorge über negative Auswirkungen auf die „Substanz der Hoch-schule“ verpflichtet fühlte, die Fakultäten daran zu erinnern, Neuberufungen in Gang zusetzen, verhinderten kurzfristige Bedürfnisse und die professorale Verbundenheit meistden zügigen Beginn von Neuberufungen.1440Über diese wurde erst nachgedacht, wennkeine Möglichkeit mehr gesehen wurde, den ehemaligen Kollegen zurückzuholen bzw.wenn dies erst gar nicht erwünscht war. Bis geklärt werden konnte, ob und wann die326 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt betreffende Person zurückkehren würde, vergingen jedoch teilweise mehrere Jahre, indenen die Lehrstühle anderweitig vertreten werden mussten. Doch nicht für alle Hoch-schullehrer, schon gar nicht durchgängig, konnte eine Vertretung auf die Beine gestelltwerden und viele Veranstaltungen fielen infolgedessen zum Leidwesen der Studierendenaus.

Vertretungen für Veranstaltungen. Einsatz von Assistenten und zwangsweise eva- kuierten Ordinarien der Universität Halle

Als Vertretungen für die Veranstaltungen kamen neben Institutskollegen vermehrt Assis-tenten sowie auswärtige Professoren mit Lehrauftrag zum Einsatz. Die Möglichkeit, Eme-riti wieder zu reinstallieren, wurde in Darmstadt nur im Fall des mittlerweile 74-jährigenGeodäsieprofessors Hohenner genutzt.1441Als „ein besonderes Glück“ bezeichnete derRektor der TH Darmstadt die Möglichkeit, für Lehrstuhlvertretungen Ordinarien der Uni-versitäten Jena, Halle und Leipzig, die im Juni 1945 von den Amerikanern kurz vor derÜbergabe der Gebiete an die Sowjetunion nach Hessen gebracht wurden, verwenden zukönnen.1442Dieser Transport ging als „Abderhalden-Transport“ in die Geschichte ein, be-nannt nach Emil Abderhalden, der als Leiter der Gruppe fungiert haben soll.1443In derNachkriegszeit wurden drei evakuierte Professoren, der Physiker Adolf Smekal1444, der 8.2 Vertretungen und Vakanzen 327Botaniker Camill Montfort1445und Chemie-Professor Theodor Lieser1446aus Halle, fürdie Technische Hochschule Darmstadt als Lehrstuhlvertretungen tätig.1447Eingesetztwurden die ehemaligen Ordinarien mit Lehraufträgen, teilweise über bis zu 15 Semester-wochenstunden.1448Zwar drückten die jeweiligen Fakultäten gegenüber dem Ministeriumihre Freude darüber aus, den betroffenen Wissenschaftlern in ihrer Not „angemesseneWirkungsmöglichkeiten“ eröffnen zu können, jedoch ging es den TH-Professoren nichtzuletzt darum, die Lehrstühle für ihre entlassenen Darmstädter Kollegen freihalten zukönnen; an die Möglichkeit, die evakuierten Professoren zu berufen, dachte zunächst nie-mand.1449Allem Anschein nach waren derartige Vertretungen sogar vom hessischen Fi-nanzministerium erwünscht: Dieses erklärte gegenüber der Hochschulleitung, Berufungs-vorschläge seien zurückzuziehen, wenn die Lehrtätigkeit durch einen zwangsevakuiertenHochschullehrer kommissarisch ausgeübt werden könne.1450In der Tat gelang es derTH Darmstadt auf diese Weise, mit geringem finanziellen Aufwand Lehrstühle so langedurch qualifiziertes Personal zu besetzen, bis die ehemaligen Kollegen zurückgekehrt wa-ren.

Dass die TH Darmstadt kein Interesse an einer langfristigen Übernahme hatte, zeigtinsbesondere das Beispiel von Professor Smekal. Dieser erhielt als Vertretung der Theo-retischen Physik der TH Darmstadt – Otto Scherzer befand sich in Kriegsgefangenschaft– im Januar 1946 einen Lehrauftrag. Er musste jedoch im Juni 1946 schon wieder wegenseiner politischen Vergangenheit entlassen werden.1451Nachdem Scherzer sich für eine328 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt Tätigkeit in Amerika entschieden hatte und nicht abzusehen war, ob er zurückkehrenwürde, sah es kurz so aus, als ob sich für Smekal auch längerfristig eine Zukunft an derTH Darmstadt eröffnen würde.1452Doch als im Jahr 1949/50 nach dem Ende des fünfjäh-rigen Verbots erneut Atomphysik in die Lehre aufgenommen werden konnte, kehrte derehemalige Lehrstuhlinhaber Scherzer an die TH Darmstadt zurück. Sofort trennte diesesich von Smekal. Nachdem dieser mehrere Jahre einen Lehrstuhl vertreten hatte, gehörteer von einem auf den anderen Augenblick nicht mehr dem Lehrkörper der TH Darmstadtan. Für Smekal stellte dies einen herben Schlag dar: „Wenn hervorgehoben wurde, daßich seit dem 28. Februar 1949 dem Lehrkörper nicht mehr angehörte, so besagt das mehrals eine rein fiskalische Grenzziehung, indem dadurch meine auf Verlangen der Fakultätauch weiterhin ausgeübten akademischen Verpflichtungen als unqualifiziert bezeichnetsind. Diese Nichtanerkennung der Kontinuität meiner akademischen Tätigkeit kann spä-ter mit erheblichen Nachteilen für mich verbunden sein. Es ist mir unbegreiflich, wenndie Hochschulen solche Vorgänge hinnehmen oder gar billigen sollten. Besonders unver-ständlich aber scheint es mir, in solcher Weise einem Flüchtlingsschicksal zu begeg-nen.“1453Smekal musste nicht lange auf eine Anerkennung seiner Leistungen warten, ererhielt noch im selben Jahr einen Ruf an die Universität Graz. Auch Montfort und Lieserblieben nicht in Darmstadt, beide erhielten einen Ruf an die Universität Frankfurt.1454

Neben dem Einsatz der evakuierten Professoren, der auf eher unrühmliche Art undWeise endete, setzte die TH Darmstadt nicht selten auch nichthabilitierte Assistenten fürdie Lehrveranstaltungsvertretungen von Professoren ein. So war für die Führung derLehrstuhlgeschäfte des im Institut für elektrische Anlagen und Netze und für elektrischeBahnen frei gewordenen Ordinariats von Buchhold offiziell sein Kollege Professor Hue-ter vorgesehen. Die Veranstaltungen hielt für mehr als drei Jahre jedoch der AssistentAugust-Wilhelm Kron, der kurzzeitig außerdem die Vorlesungen des erkrankten Pungavertrat.1455Neben Kron wurden weiter die Assistenten Karl Schack, Hans Zetsche, KarlHeinz Ivo, Hans Fürst, der außerplanmäßige Professor Otto Krischer, Oberingenieur 8.2 Vertretungen und Vakanzen 329Hans Sigwart, Dr.-Ing. Hans von Stosch, Dr.-Ing. Cord Petersen, Dr. phil. Josef AdolfSchmoll gen. Eisenwerth vertretungsweise in der Lehre eingesetzt.1456Sie erhielten dafürnach einer Entscheidung des Kleinen Senats keine besoldeten Lehraufträge, sondern eineniedriger ausfallende Pauschalsumme – für Vorlesungen 50 RM, für Übungen 100 RM –aus den eingegangenen Kolleggeldern.1457Man war der Überzeugung, dass auch in prob-lematischen Zeiten die Habilitation als „eindeutiger Nachweis einer selbstständigenwissenschaftlichen Arbeit“ für Lehraufträge Voraussetzung bleiben sollte, obwohl die Ver-tretungen für die Assistenten mit einem sehr hohen Zeitaufwand verbunden waren, wäh-rend sie ihre eigenen Arbeiten vernachlässigten.1458Zwar zahlte sich für Assistent Krondie Tätigkeit zumindest darin aus, dass er eine zusätzliche Zuteilung von Kohlen, Holzund Strom bekam – diese Erhöhungen bekamen normalerweise nur Professoren –, jedochverzögerte sich seine eigene Qualifikation um etliche Jahre.1459Nachdem Professor Leb-recht 1948 berufen worden war, wurden seine Stunden eingeschränkt. Im September 1948wurde Kron nach neunjähriger Assistententätigkeit in eine Planstelle als Oberingenieurin der Fakultät für Elektrotechnik eingesetzt. Nach weiteren fünf Jahren promovierteKron und wechselte kurz darauf in die Industrie.1460Wie Kron wurden, wie berichtet,viele andere Hochschulmitarbeiter auf Assistenten-Ebene mehrere Jahre in der Lehre ein-gesetzt, jedoch schaffte es keiner von ihnen auf die Berufungslisten. Lediglich in einemFall gab es zumindest eine Diskussion darüber. Assistent Hans von Stosch, der seit derWegberufung Montforts die Vertretung von Botanikprofessor Stocker übernommenhatte, war zunächst im Gespräch für dessen Nachfolge, die Fakultät sah jedoch von einerErnennung ab.1461Trotz dieser Rahmenbedingungen waren die wenigsten Assistenten –womöglich da sie sich mehr davon für ihre wissenschaftliche Karriere erhofften – abge-neigt, eine Vertretung zu übernehmen. Einzig Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth lehntedie ihm von der Fakultät für Architektur 1949 angebotene Vertretung des verstorbenenSchürer kurzerhand ab, da er es vorzog, sich zunächst als Assistent zu habilitieren, um alsDozent einen besoldeten Lehrauftrag erhalten zu können.1462

330 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt

8.3Berufungen in der Nachkriegszeit

8.3.11945–1946: Berufungen ohne Verfahren

In den ersten beiden Nachkriegsjahren wurden fünf Lehrstühle neu besetzt. Zwischen1945 und 1946 kamen die Architekten Ernst Neufert und Jakob Hubert Pinand an die THDarmstadt. Außerdem wurden mit Nikolaus Scheubel und Gustav Mesmer zweiDarmstädter Professoren der mit Kriegsende geschlossenen Luftfahrtabteilung auf Lehr-stühle der Fakultät für Maschinenbau berufen. Des Weiteren wurde der Chemiker KarlSchoenemann offiziell zum ordentlichen Professor für chemische Technologie ernannt;er war seit 1943 kommissarischer Leiter des Instituts für chemische Technologie, seineBerufung aber war bis zum Ende des „Dritten Reiches“ noch nicht vollzogen.

Die erste Berufung Nachkriegsdeutschlands: Ernst Neufert

Die wohl außergewöhnlichste Neubesetzung war die Berufung von Ernst Neufert. Dieseerfolgte bereits im September 1945 und stellte damit womöglich die erste Neuberufungin Deutschland nach dem Krieg überhaupt dar.1463

Erste Gespräche zwischen Ernst Neufert und der Fakultät für Architektur der THDarmstadt über eine mögliche Berufung fanden bereits im Juli 1945 statt, damit zu einemZeitpunkt, als die TH Darmstadt wie alle anderen Hochschulen und Universitäten deramerikanischen Zone als geschlossen galt. Auf Regierungsseite war nach dem politischenZusammenbruch erst allmählich mit einem Aufbau von Verwaltungsstrukturen begonnenworden, ein Kultusministerium existierte zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht. Die Beru-fung lief zunächst über das neu eingerichtete Regierungspräsidium in Darmstadt. Hierwar Ludwig Bergsträsser seit dem 14. April 1945 auf Erlass der amerikanischen Militär-regierung tätig.1464Neben dem außerordentlich frühen Zeitpunkt zeichnete sich auch dasZustandekommen der Berufung Neuferts durch Besonderheiten aus. So war es nicht dieFakultät1465für Architektur, die Neufert ins Gespräch brachte – einen Lehrstuhl hatte sie 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 331zu dem Zeitpunkt auch gar nicht zu vergeben –, Neufert selbst kam auf der Suche nacheinem neuen Tätigkeitsfeld auf die Hochschule zu.1466Begleitet wurde er von dem fürden Wiederaufbau der Stadt Frankfurt zuständigen Architekten Ernst Balser.1467Beidetauchten am 10. Juli 1945 unangekündigt in der Fakultät auf und konfrontierten den De-kan Karl Gruber buchstäblich auf dem Flur mit der Idee einer Berufung Neuferts an dieTH Darmstadt. Sie berichteten, im Auftrag des Frankfurter Oberbürgermeisters Blaum zuhandeln, der „größtes Interesse“ an einer Berufung Neuferts im Rhein-Main Bezirk habe,um von dessen führender Stellung im Baunormungswesen zu profitieren. Gruber weigertesich, „Berufungen [...] auf dem Korridor aus[zu]machen“, und reagierte auf den Vor-schlag von außen zunächst mit Ablehnung.1468Bald äußerte auch die Darmstädter Regie-rung ihr Interesse an einer Berufung Neuferts an die TH Darmstadt, auch sie sah darineinen Vorteil für die Region.1469Erst als Ministerialrat Hoffmann versicherte, dass Neu-fert unter keinen Umständen ohne Zustimmung der TH Darmstadt berufen werden solle,erklärte sich Gruber bereit, die Angelegenheit zumindest zu prüfen. Es folgten zahlreicheBesprechungen zwischen der Hochschulleitung, Gruber und den Architekturprofessoren.Schließlich einigten sich alle Beteiligten, dass eine Berufung der „in der Architekten-schaft sehr bekannten Persönlichkeit“ Neuferts von Vorteil für die TH Darmstadt sei, und332 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt die eigentlichen Berufungsverhandlungen konnten beginnen.1470Auch für das Problemdes fehlenden Lehrstuhls konnte eine Lösung gefunden werden: In den Blick kam nundie Lieser’sche Professur, die „voraussichtlich frei werden“ würde.1471Die BerufungNeuferts war damit weitgehend entschieden, gleichwohl legte der VertrauensausschussWert darauf, „der Deutschen Regierung außer Neufert mindestens noch einen weiterengeeigneten Architekten zu nennen“, um ein „normales Berufungsverfahren“ zu gewähr-leisten.1472Dieser Aufforderung kam die Fakultät zwar nach – sie nannte mit dem ehema-ligen Professor der TH Breslau Heyer Hans August Soeder1473einen zweiten Namen –unterließ es jedoch nicht, darauf hinzuweisen, dass die „Berufungsangelegenheit Neufert[...] sich nicht in der Weise entwickelt, wie man sonst in normalen Zeiten einen frei ge-wordenen Lehrstuhl besetzte. Herr Neufert ist unter Empfehlung der Stadt Frankfurt undder Landesregierung an die Abteilung herangetreten, ohne daß für das von ihm zu vertre-tende Lehrgebiet ein Lehrstuhl bis jetzt bestanden hätte“.1474Obwohl die Fakultät für Ar-chitektur zu Berufungsverhandlungen nun bereit war, vollkommen überzeugt waren dieArchitekturprofessoren nicht. Da Neuferts Themenschwerpunkte sich nicht mit den bis-her vertretenen Themengebieten Liesers deckten, befürchtete man einen Mehraufwandfür die anderen Lehrstühle.1475Auch die Persönlichkeit und das grundverschiedene Auf-treten des allseits bekannten und gefeierten Neufert sorgten für Unbehagen unter den Kol-legen: „Über eines müssen wir uns allerdings klar sein. Was wir von Neufert wissen, liegtauf dem Gebiete der Bauwissenschaft; er ist ein mitten im modernen technischen Lebenstehender und stark organisatorisch begabter Kopf und ein anderer Menschentyp, als diebisher an der Abteilung vertretenen Persönlichkeiten“.1476Tatsächlich wünschte Neufert„in Anbetracht seiner privaten wissenschaftlichen und bauwirtschaftlichen Tätigkeit“ nurmit einer geringen Stundenanzahl an der TH Darmstadt beschäftigt zu werden. Weder fürHochschule noch für Fakultät war dies für die Berufung auf ein Ordinariat ausreichend,und man schlug der Deutschen Regierung vor, Neufert eine Honorarprofessur anzubie-ten.1477Aus Angst, Neufert könnte in eine andere Region abwandern, traf der Vorschlag 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 333bei der Regierung nicht auf Gegenliebe. Angesichts der Eile und der Bedeutung Neufertsentschied man sich für eine äußerst unorthodoxe Vorgehensweise: Noch am Tag derGründung Groß-Hessens übertrug die neue Landesregierung Neufert ein halbes Ordina-riat.1478Gleichzeitig forderte sie die Hochschule auf, einen Vorschlag für die Besetzungder zweiten Hälfte zu machen.1479Doch auch für die Besetzung der zweiten Hälfte – sogeht aus den Akten hervor – brachte die Landesregierung und nicht die Fakultät einenKandidaten in Spiel.1480Es handelte sich um Jakob Hubert Pinand, der während des „Drit-ten Reiches“ aus seinem Amt entlassen worden war und bei der Landesregierung Ansprü-che auf Wiederanstellung geltend machte.1481Der Fakultät für Architektur war es dem-nach nicht gelungen, die Berufung Neuferts abzuwehren, und ihr wurde nun auch eineweitere Personalentscheidung von außen aufgezwungen. Auch diesmal schrieb sie derForm halber zumindest einen Berufungsbericht, ließ darin jedoch keinen Zweifel an ihrerHaltung gegenüber der Berufung Pinands: „Ohne den Hinweis seitens der Deutschen Re-gierung hätte die Hochschule nicht daran gedacht, Prof. Pinand zur Berufung vorzuschla-gen, kann ihn aber auch andererseits nicht als direkt ungeeignet ablehnen“.1482

334 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt

Obwohl Neufert de facto per Vertrag mit der Großhessischen Regierung bereits imSeptember 1945 an die TH Darmstadt berufen worden war, sah es kurz so aus, dass seinetatsächliche Einsetzung ins Amt, die unorthodoxe Teilung eines Ordinariats und die Be-setzung der zweiten Hälfte mit Pinand, an den neu gegründeten Ministerien scheiternkönnten. Bis zum Ende des Jahres 1945 entstanden in der Regierung des parteilosen KarlGeiler zehn Referate, darunter ein solches für Hochschulwesen.1483Nachdem seit dem16. Oktober 1945 mit dem Aufbau des Ministeriums für Kultus und Unterricht begonnenworden war, und am 1. November 1945 als erster Minister für Kultus und UnterrichtFranz Böhm ins Amt trat, gingen auch die Verwaltungsangelegenheiten der TH Darm-stadt von Darmstadt nach Wiesbaden über. Auch die Angelegenheit Neufert wurde nunin Wiesbaden geregelt. Kultusministerium, Finanzministerium und Ministerpräsident wa-ren sich bei der Berufungsfrage jedoch uneins. Während das Kultusministerium mit Hin-weis auf die Aufgabe des Staates Architekten auszubilden, beantragte, beide Professorenzu berufen,1484weigerten sich der Ministerpräsident und das Finanzministerium, zweiProfessoren auf jeweils ein halbes Ordinariat zu berufen.1485Danach vergingen mehrereMonate, in denen sich die Ministerien in Wiesbaden offenbar darauf einigten, für die Un-terbringung von Neufert und Pinand neben dem Lieser’schen Lehrstuhl ein weiteres plan-mäßiges Ordinariat an der Architekturfakultät einzurichten. Damit waren auch für dieFakultät alle Einwände gegen die Berufung Neuferts ausgeräumt – immerhin kam sie aufdiese Weise zu einer weiteren Planstelle –, und schließlich wurden sowohl Pinand alsauch Neufert mit Urkunde vom 17. April 1946 rückwirkend zum 1. Januar 1946 auf jeein volles Ordinariat für Baukunst berufen.

Erfolgreicher Erhalt von Ressourcen: Die Berufungen der ehemaligen Luftfahrt- professoren Scheubel und Mesmer auf Maschinenbaulehrstühle

Ebenfalls außergewöhnlich waren die Berufungen von Nikolaus Scheubel und GustavMesmer an die Fakultät für Maschinenbau. Beide hatten vor 1945 Lehrstühle in der Ab-teilung für Luftfahrt innegehabt. Nachdem die Luftfahrtforschung 1945 von den Alliier- 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 335ten verboten worden war und beide Darmstädter Luftfahrtlehrstühle damit wegfielen, be-schloss die TH Darmstadt Scheubel und Mesmer kurzerhand zu Professoren an der Fa-kultät für Maschinenbau zu ernennen. So wurde Nikolaus Scheubel, seit 1933 Professorfür Luftfahrt und Flugtechnik, am 14. Dezember 1946 das Ordinariat für Strömungslehreund hydraulische Maschinen übertragen.1486Die Initiative dafür kam von der Hochschul-leitung. Sie forderte die Fakultät für Maschinenbau im August 1945 dazu auf, zu prüfen,ob Scheubel die nach dem Tod von Wilhelm Wagenbach im März 1945 freistehende Pro-fessur für Maschinenbau V übernehmen könne.1487Scheubel sei „selbstverständlich“ keinFachmann für hydraulische Maschinen, der Vertrauensrat bat die Fakultät darum in Er-wägung zu ziehen, „ob dieses Gebiet an unserer Hochschule in der gegenwärtigen Notzeitvielleicht ganz entbehrt werden kann oder ob Professor Scheubel in einem gewissen Um-fange die Grundlagen übernehmen soll“.1488Man erhoffte sich mit dieser Personalent-scheidung vonseiten der Hochschulleitung insbesondere den Erhalt des Windkanals fürUnterrichtszwecke, nicht zuletzt, um trotz des Forschungsverbots, zumindest die Res-sourcen der Luftfahrtforschung an der TH Darmstadt erhalten zu können.1489

Die Fakultät für Maschinenbau war offensichtlich dazu bereit, den Lehrstuhl an diefachlichen Schwerpunkte Scheubels anzupassen, sie bot ihn Scheubel sogleich an.1490MitHinweis auf die „politischen Ereignisse, die bei diesem Stande der Angelegenheit eintra-ten und vollkommen geänderte Verhältnisse herbeiführten“, zog die Fakultät ihren imJahr 1944 vorgelegten Berufungsvorschlag zurück – Scheubel selbst war damals Mitgliedder Berufungskommission gewesen – und brachte im September 1945 den ehemaligenLuftfahrtprofessor als einzigen Kandidaten für die Neubesetzung des Lehrstuhls Maschi-nenbau V beim Darmstädter Regierungspräsidium in Vorschlag.1491Zum gleichen Zeit-punkt entschied sich Scheubel dafür, auf Einladung der amerikanischen Militärregierungseine Forschungsarbeiten in den USA weiterzuführen. Seine Ernennung war damit vor-erst noch nicht möglich.1492Der Verwaltungsausschuss setzte sich auch in Scheubels Ab-wesenheit beim Darmstädter Regierungspräsidium und später beim Wiesbadener Kultus-336 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt ministerium dafür ein, dass der Lehrstuhl bis zu seiner Rückkehr frei gehalten wurde.1493Nach Scheubels Rückkehr legte der Rektor einen neuen Antrag der Fakultät, Scheubelden Lehrstuhl für Maschinenbau V unter Belassung seiner bisherigen Bezüge zu übertra-gen, dem nun dafür zuständigen Ministerium in Wiesbaden vor. Gegenüber dem neu ge-gründeten Kultusministerium begründete man nun die Berufung Scheubels mit einer not-wendigen fachlichen Umwidmung des Lehrstuhls.1494Die Wahl Scheubels begründetedie Fakultät damit, dass die „Gewähr für die Verwirklichung der Hoffnungen, die sich andiese zukünftige Entfaltung des Lehrstuhls knüpfen, nur durch die Besetzung mit einembesonders geeignet erscheinenden Mann“ geschaffen werden könne. Man sehe, so hießes weiter in der Erklärung der Fakultät, aufgrund des „Zusammentreffens von Um-ständen“, dass Scheubel, der „in seiner hiesigen Lehr- und Forschungstätigkeit dieStrömungslehre besonders gepflegt und sich großen wissenschaftlichen Ruf erworbenhat“, davon ab, eine Dreierliste vorzulegen. Weiter fügte man an, dass Scheubels Be-rufung „sofort und ohne zusätzliche finanzielle Belastung vorgenommen werdenkönnte“.1495

Am 15. November 1946, mitten in den Berufungsverhandlungen, wurde Scheubelplötzlich aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Die TH Darmstadt hatte es versäumt,eine offizielle Zulassungsgenehmigung der amerikanischen Militärregierung für Scheu-bel einzuholen; allem Anschein nach war sie nach Scheubels Aufenthalt in den USA da-von ausgegangen, dass dies nicht notwendig sei.1496Aus den Akten geht nicht hervor,wann und auf welcher Grundlage die Entlassung Scheubels zurückgenommen wurde,spätestens mit seiner am 14. Dezember 1946 erfolgten Berufung war sie obsolet.1497

8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 337

Ganz ähnlich und doch in der Verfahrensweise grundsätzlich anders verfuhr dieTH Darmstadt mit dem zweiten, nach dem Krieg gestrichenen Lehrstuhl der ehemaligenAbteilung für Luftfahrt. Der 1940 auf den Lehrstuhl für Luftfahrzeugbau berufene GustavMesmer kam ebenfalls nach der Auflösung der Luftfahrtabteilung 1945 in der Fakultätfür Maschinenbau unter. Der einzige Unterschied zu Scheubel war der, dass die BerufungMesmers nicht amtlich, sondern quasi unter der Hand, an den Amerikanern vorbei, durch-geführt wurde. Obwohl auch der Lehrstuhl Mesmers mit dem Forschungsverbot gestri-chen worden war, galt Mesmer nach 1945 zu keinem Zeitpunkt als entlassen. Stattdessenwurde er fortan im Vorlesungsverzeichnis als Professor für höhere Mechanik und Festig-keitslehre in der Fakultät für Maschinenbau aufgeführt.1498Nach eigenen Angaben wid-mete Mesmer sich seit der Schließung des Luftfahrtinstitutes seinen „ursprünglichen wis-senschaftlichen Arbeiten (mathem. Mechanik)“.1499In der Lehre vertrat er nun statt Luft-fahrzeugbau Veranstaltungen zu Spannungszuständen.1500Dies scheint zunächst nichtweiter verwunderlich, doch es existieren keinerlei Unterlagen über die Neuberufung Mes-mers und, viel wichtiger, einen solchen Lehrstuhl hatte es vor 1945 zu keinem Zeitpunktgegeben. Dies lässt die Vermutung zu, dass die TH Darmstadt in Absprache mit der deut-schen Zivilregierung, gewissermaßen an den Amerikanern vorbei, Mesmers alten Lehr-stuhl unter einem anderen Namen fortführte. Dass man auf diese Weise trotz Forschungs-verbots für eine Kontinuität der Luftfahrtforschung an der TH Darmstadt sorgen wollte,lässt nicht nur die Tatsache vermuten, dass, im Gegensatz zur Ernennung Scheubels, kei-nerlei Quellen existieren. Scheubel selber sagte im Jahr 1951 gegenüber Mesmer, dessenLehrstuhl sei „der einzige uns verbliebene Luftfahrtlehrstuhl, den wir nachher aus damalsverständlichen Gründen umgetauft haben“.1501Scheubel hatte sich mit diesen Worten auseinem bestimmten Grund an Mesmer gewandt: Der Plan, mit der WeiterbeschäftigungMesmers für eine Kontinuität zu sorgen, ging für die Fakultät nicht auf. Mesmer blieboffensichtlich seinem ursprünglichen Forschungsgebiet des Luftfahrtzeugbaus zu starkverbunden, als dass er sich mit den bestehenden Auflagen auf dem neuen Lehrstuhl hättearrangieren können, und er nahm aufgrund der besseren Forschungsmöglichkeiten imSeptember 1950 die Einladung auf eine einjährige Gastprofessur der Washington Univer-338 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt sity, St. Louis, in der School of Engineering an.1502Wie sonst auch, hielt ihm dieTH Darmstadt den Lehrstuhl frei. Im April 1951 beantragte Mesmer, ihn für ein zweitesStudienjahr zu beurlauben.1503Für die TH Darmstadt jedoch war seine Anwesenheit ge-nau zu diesem Zeitpunkt aus planungsstrategischen Gründen essenziell – unter anderemda nun der Bau und Betrieb von Segelflugzeugen freigegeben wurde und sich die hessi-sche Regierung darum bemühte, die Prüfstelle für Luftfahrgeräte nach Darmstadt zu ho-len. Professor Scheubel bat im Auftrag der Fakultät Mesmer darum, seine Entscheidungzu überdenken und vorzeitig zurückzukehren.1504Auch die Studierenden, so Scheubel,würden „nach einer Luftfahrtvorlesung schreien“, da sie wüssten, dass derartige Vorle-sungen an anderen Hochschulen schon gehalten würden.1505Mesmer ließ sich trotz diesereindringlichen Bitte nicht überzeugen und verlängerte die Gastprofessur für ein zweitesJahr. Die Fakultät beauftragte in seiner Abwesenheit Hans Fingado mit der Vertretungdes Lehrstuhls.1506Ein weiteres Jahr später, im April 1952, entschied sich Mesmer, end-gültig in Amerika zu bleiben und ließ sich aus dem hessischen Staatsdienst entlassen.Damit war in diesem Fall der ursprünglich Plan, Mesmer für ein leichteres Anknüpfen andie Darmstädter Luftfahrttradition an der TH Darmstadt zu halten, missglückt. Im Gegen-satz zu anderen nach Amerika ausgewanderten Kollegen, bei denen nicht selten der Vor-wurf im Raum stand, die TH im Stich gelassen zu haben, riss aber der Kontakt zwischenMesmer und der TH Darmstadt nicht ab.1507

8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 339 Die Berufung des Chemikers Karl Schoenemann über die politische Zäsur hinweg Auch die Berufung des Chemikers Schoenemann Mitte 1946 zeichnete sich durch beson-dere Umstände aus. Bei der Neubesetzung des Lehrstuhls für Chemische Technologiehandelte es sich um eine Berufung über die Zäsur 1945 hinweg. Berufungsverhandlungenhatten 1942 noch zu Zeiten des REM eingesetzt, die letztendliche Berufung KarlSchoenemanns erfolgte mit Urkunde vom 16. Mai 1946.1508Er erhielt im November 1943einen nach Stunden bezahlten Lehrauftrag und bekam vertretungsweise die Leitung desInstituts übertragen.1509Im Dezember 1944 unterzeichneten Schoenemann und der am-tierende Regierungsdirektor eine Vereinbarung, nach der Schoenemann den Lehrstuhl fürChemische Technologie als außerordentlicher Professur mit entsprechendem Gehaltübertragen bekam, und außerdem zum Direktor des Instituts, das er zuvor kommissarischgeleitet hatte, ernannt wurde.1510Die eigentliche Ernennung zum Professor wurde jedochnoch nicht vollzogen. Schoenemann begründete dies in der Nachkriegszeit mit denKriegswirren.1511Nicht auszuschließen ist jedoch, dass Schoenemann bis Kriegsende zu-gleich seinem früheren Arbeitgeber, der I.G. Farben „für dringliche Aufgaben“ zur Ver-fügung stehen musste.1512Nach 1945 rollte das neue Kultusministerium die Berufungs-verhandlungen erneut auf. Damit einher ging eine Verschlechterung der mit dem REMausgehandelten Berufungsbedingungen. Aufgrund dessen weigerte sich Schoenemann imJahr 1946, seine Lehrtätigkeit auszuführen.1513Auch nachdem das Kultusministerium An-fang 1948 ihm damit drohte, ihn aus dem Staatsdienst zu entlassen, trat er seinen Lehr-dienst nicht an. Erst als man ihm im Mai 1948 mit der Gehaltsstufe entgegenkam, willigteer ein und begann seinen Dienst an der TH Darmstadt.1514

Berufungsverfahren im Vakuum der „Zusammenbruchgesellschaft“: Abweichun- gen von der traditionellen Vorgehensweise

Die fünf Neubesetzungen zeichneten sich durch sehr ungewöhnliche Umstände aus. DieVerhandlungen fanden teilweise über die politische Zäsur, teilweise parallel zu einer sich340 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt konstituierenden staatlichen Hochschulverwaltung statt. Die erste hessische Regierungunter Ministerpräsident Geiler hielt sich als eine von den Amerikanern eingesetzte, nichtdemokratisch legitimierte Regierung, die zudem der Militärregierung weitgehend verant-wortlich war, mit weitreichenden Beschlüssen zurück. Auch die Kultusminister in dieserZeit – Böhm wurde schon im Februar 1946 von den Amerikanern als ungeeignet entlas-sen, weil er den amerikanischen Forderungen nach Veränderung nicht nachkam; FranzSchramm (CDU) übernahm zwischen 1946 und 1947 das Amt – waren keine prägendenFiguren, ihr Einfluss blieb gering.1515Bezogen auf Berufungsfragen herrschte in diesenJahren ein gewisses Vakuum. Weder war es aufgrund der Ereignisse während des „Drit-ten Reiches“ möglich zur Tagesordnung zurückzukehren, noch hatten sich neue Vorge-hensweisen durchgesetzt.

Infolgedessen ging keiner Neubesetzung in dieser Zeit ein reguläres Berufungsver-fahren voraus. Statt wie sonst, nach dem Freiwerden des Lehrstuhls eine Kommissioneinzuberufen und Fachgutachten der scientific community einzuholen, um einen Nachfol-ger zu finden, mit der Eignung, die Tradition des Faches zu vertreten, handelte es sichvielmehr um pragmatische Entscheidungen einzelner Akteure, die das Vakuum fürschnelle und unbürokratische Berufungen nutzen konnten. In den Akten finden sich Hin-weise darauf, dass es neben diesen fünf tatsächlich erfolgten Berufungen nach dem Endedes „Dritten Reiches“ weitere Berufungsbemühungen vonseiten der TH Darmstadt gab,die jedoch nicht erfolgreich zu Ende gebracht werden konnten.1516Die Jahre 1945/1946zeichneten sich darüber hinaus durch eine weitere Besonderheit aus: Wurden potenzielleKandidaten für Lehrstuhlberufungen bislang vordergründig über das Einholen von Gut-achten durch die Berufungskommissionen innerhalb der Fachkollegenschaft identifiziert,kam es in der ersten Nachkriegszeit zu „Initiativbewerbungen“ von amtslosen Akademi-kern. Insbesondere wenn bekannt war, dass ein Lehrstuhl frei war, wandten sich dieseohne Empfehlung durch einen Fachkollegen mit ihren Bewerbungen an die TH Darm-stadt. Dass diese bis dahin nicht akzeptierte Praxis gerade jetzt in gehäufter Form auftrat,lässt sich erklären mit der großen Zahl von Hochschullehrern, die im Zuge der „Zusam-menbruchgesellschaft“ und den damit verbundenen Flüchtlingsströmen, ohne Amt en- 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 341deten, und für die es bis dahin von politischer Seite noch keine Unterstützung gab.1517Eingegangene Bewerbungen von Professoren wurden von den Empfängern im KleinenSenat eingebracht und anschließend diskutiert. In seiner Sitzung vom 20. Februar 1946beispielsweise beschäftigte sich der Kleine Senat mit der Bewerbung von Dr.-Ing. Eber-hard Schapitz. Für diesen bestand nach Meinung des Kleinen Senats keine Verwendungs-möglichkeit, und man riet ihm, sich an seine „Mutterhochschule Stuttgart“ zu wenden.1518Wie viele derartige Bewerbungen eingingen, ist auf Grundlage der Akten nicht zu klä-ren.1519Grundsätzlich führten sie nicht dazu, dass die TH Darmstadt sich ernsthaft mitder Möglichkeit der Berufung beschäftigte. In drei Fällen jedoch kam es – mit einemdeutlichen zeitlichen Abstand – zur Berufung von Personen, die sich zuvor beworbenhatten.1520Ebenso wies die TH Darmstadt weitere Personalvorschläge für Berufungenvon außen stets ab. Dies war beispielsweise der Fall, als das Finanzministerium die Be-rufung eines Kandidaten aus finanziellen Gründen wünschte, da dieser unterbringungs-berechtigt war.1521Auch von anderer Seite trat man an die TH Darmstadt mit derartigenVersuchen heran: Die Universität Gießen, die als einzige Universität in der amerikani-schen Besatzungszone zunächst nicht wieder eröffnet werden konnte, versuchte ihre Pro-fessoren unterzubringen, was ebenfalls nicht zum gewünschten Erfolg führte.1522

8.3.21947–1951: Berufungen im Konflikt mit der Landesregierung

Während in den Jahren 1945/46 Berufungen weitgehend ohne Verfahren durchgeführtworden waren, änderte sich dies Anfang 1947 nach dem schrittweise erfolgten Aufbauder amerikanischen Militär- und der deutschen Zivilregierung. Erstmals nach dem Endedes Nationalsozialismus existierte wieder ein geregelter Verfahrensablauf, der die einzel-nen Prozesse und die Mitwirkung der verschiedenen Akteure, zu denen nun auch die ame-342 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt rikanische Militärregierung zählte, genau festhielt. Vorgesehen war, dass der Hochschul-referent nach Eingang der Berufungsliste, in Rücksprache mit dem Kultusminister demamerikanischen Universitätsoffizier einen Kandidaten vorschlug. In gemeinsamer Be-sprechung sollte anschließend eine Auswahl getroffen, die politische Unbedenklichkeitfestgestellt und mit den Verhandlungen begonnen werden. Danach sollte der Namen demHessischen Kabinett unterbreitet werden, das den Vorschlag annehmen oder ablehnenkonnte.1523Doch kaum war diese Verfahrensweise angedacht, wurde sie schon wiederhinfällig. Die hessische Hochschulpolitik, damit auch die Rahmenbedingungen für Beru-fungen an der TH Darmstadt, unterlag mit dem Antritt der ersten gewählten Landesregie-rung starken Veränderungen. Nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher hochschulpoliti-scher Positionen innerhalb der Landesregierung entwickelte sich die folgende Zeit äußerstkonflikt- und spannungsgeladen.

Nach den ersten Wahlen im Dezember 1946 übernahm Anfang 1947 in Hessen einegroße Koalition aus SPD und CDU die Regierungsgeschäfte. Erwin Stein von der CDUtrat seinen Dienst als neuer Kultusminister im Kabinett von Ministerpräsident ChristianStock (SPD) an. Mit Stein war erstmals ein Kultusminister im Amt, der eine eigenstän-dige Bildungs- und Kulturpolitik verfolgte.1524Stein widmete sich zwar vorwiegend derSchulpolitik, im Hochschulbereich trat er jedoch mit nicht weniger großem Eifer für eineDemokratisierung und Öffnung der Universitäten ein.1525Doch für seine Pläne fand er imhessischen Kabinett nur begrenzt Unterstützung. Das Kabinett plante, einen anderen Wegzu gehen: Es wandte seine Energie vielmehr dem Abbau der Privilegien von Hochschul-lehrern zu. Zu einer Umgestaltung des Beamtenrechts hatten auch die Amerikaner aufge-rufen.1526Obwohl sie sich aus den Hochschulgeschäften in der Regel weitgehend heraus-hielten, sollte ihre kritische Haltung gegenüber dem deutschen Beamtentum, welches sieals Teil des nationalsozialistischen Herrschaftsapparates sahen, zu tiefgreifenden Verän-derungen auch für die Professoren an der TH Darmstadt führen.1527Diese Umgestaltung 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 343förderten die Amerikaner, indem sie Druck für den Erlass neuer Beamtengesetze ausüb-ten. Gleichzeitig installierten sie zur „Durchführung einer wirklichen Demokratisierungim Bereich des öffentlichen Dienstes“ ein Personalamt, das hessische Landespersonalamt(LPA), dessen erster Direktor in Personalunion Justizminister August Zinn wurde.1528Ge-meinsam mit dem Hessischen Kabinett beschloss das LPA, das am 12. November 1946in Kraft getretene Hessische Beamtengesetz auch auf Hochschullehrer anzuwenden. Da-mit schaffte Hessen als einziges Bundesland de facto die Emeritierung von Hochschul-professoren ab. Weiter senkte man das Ruhestandsalter für Hochschulprofessoren von 68auf 65 Jahre und führte eine fünfjährige Bewährungszeit ein. Damit wurden Professorenzunächst auf Widerruf, erst mit Ablauf der Bewährungszeit auf Lebenszeit berufen. Trotzvehementen Einsatzes gegen diese Bestimmungen, die in seinen Augen die Konkurrenz-fähigkeit der hessischen Universitäten einschränkten, konnte Kultusminister Stein ihreDurchführung nicht verhindern.1529

Einigkeit zwischen den Ministern bestand lediglich in der Frage der politischen Be-lastung von Hochschullehrern. Zwischen 1947 und 1949 erließ das hessische Kabinettverschiedene Erlasse mit dem Ziel, politisch bedenkliche Personen von den Hochschulenfernzuhalten. Bereits seit Beginn der Spruchkammerverfahren war man darum bemüht,die „Mitläuferfrage“ an den Hochschulen und Universitäten, wie die Problematik häufigvon den Zeitgenossen bezeichnet wurde, zu lösen. Ein Kabinettsbeschluss vom 27. Feb-ruar 1947 sollte die Anzahl von Mitläufern an hessischen Hochschulen einschränken, imJuli 1949 wurde deren Beschäftigung vorübergehend komplett verboten.1530Einzige Aus-nahme war die Berufung nach einer Sondergenehmigung des Ministerpräsidenten und desMinisters für politische Befreiung. Mit dem Wissen, dass Kultusminister Stein in wesent-lichen Fragen eine andere Hochschulpolitik verfolgte, beschloss das Kabinett, sich grö-ßeren Einfluss auf Personalentscheidungen zu verschaffen. Im September 1947 ordnetees an, dass bei Neuberufungen von nun an die Dreiervorschläge der Fakultäten vom Kul-tusminister direkt an das Kabinett zu leiten waren, und erst nach einer vom Kabinett ge-troffenen Auswahl mit Verhandlungen durch den Kultusminister begonnen werdenkonnte. Damit wurde also nicht, wie zuvor, nur ein bereits ausgewählter Kandidat dem344 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt Kabinett vorgelegt, sondern diesem die gesamte Dreierliste zur Diskussion gestellt.1531Auch dieser Beschluss sorgte für ein deutliches Abweichen von den traditionellen Beru-fungspraktiken. Die Situation in Hessen war einzigartig in der Nachkriegszeit, kein ande-res Bundesland entschloss sich zu derart drastischen Eingriffen. Selbst dem amerikani-schen Universitätsoffizier gingen diese Regelungen in manchen Teilen zu weit.1532Markus Bernhardt erklärt die besondere Situation in Hessen mit der Beziehung der zustän-digen politischen Akteure untereinander, hier insbesondere die Frontstellung des Kabi-netts zu Kultusminister Stein. Darüber hinaus hatte das „sozialistische Element“, so Bern-hardt, unter dem neuen Ministerpräsident Stock einen Auftrieb erhalten.1533Insbesonderedie Kabinettsmitglieder standen den Hochschullehrern argwöhnisch gegenüber. Danebenwerden mindestens für das Finanzministerium auch ressortbezogene Gründe, mit denBestimmungen verbundenen Einsparungen, eine Rolle gespielt haben.

Berufungsverfahren an der TH Darmstadt zwischen 1947 und 1951

Die zwischen 1947 und 1951 insgesamt 16 Neuberufungen fanden für die TH Darmstadtdamit unter erschwerten Bedingungen statt. Die Dauer der Verhandlungen zeigt, dass diesnicht ohne Folgen blieb: Bis auf zwei Neubesetzungen dauerten alle Verfahren mindes-tens zwei Jahre, im Schnitt brauchte man für eine Neubesetzung in dieser Zeit sogar dreiJahre. Mit sechs Jahren dauerten die Berufung von Wilhelm Jost für den nach Amerikagewechselten Chemieprofessor Carl Wagner und die von Kurt Jaroschek für den emeri-tierten Wilhelm Voigt am längsten. Diese überlangen Berufungsverhandlungen sind deut-liche Zeichen dafür, dass es infolge der Spannungen zwischen Kultusministerium undTH Darmstadt zu Abweichungen in den Verfahren kam.

Auch ohne die hessischen Sonderregelungen stand die TH Darmstadt vor kaum zubewältigen Problemen: Wie in Kapitel 8.2 gezeigt, brachte die Nachkriegszeit unvorher-sehbare Vakanzen. Nur sechs der 16 bis 1951 durchgeführten Berufungen an dieTH Darmstadt – das entspricht 37,5 Prozent – erfolgten auf eine regulär zustande gekom-mene Vakanz.1534Die restlichen Lehrstühle wurden als Folge der politischen Zäsur und 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 345damit nicht regulär frei.1535Wie bereits Anna Lux in ihrer Studie zu den Berufungsver-fahren der Leipziger Germanisten feststellen konnte, war ein reguläres Zustandekommender Vakanz die Grundvoraussetzung dafür, dass ein Nachfolgeverfahren geplant und be-rechenbar ablief.1536Auch die Entnazifizierungsbestimmungen, insbesondere die Spruch-kammerverfahren, verkomplizierten Neuberufungen an die TH Darmstadt, da der verwal-tungsorganisatorische Aufwand größer war als sonst. So verlangte das Kultusministeriumab 1946/47 bei Neubesetzungen mit der Einreichung der Berufungsliste für alle genann-ten Kandidaten Angaben zu deren politischer Vergangenheit. Professor Gruber sprach imHinblick darauf von „Fragebogenkalamität“.1537Zudem wies die hessische Regierung an-fangs Listen mit politisch belasteten Kandidaten zurück. Umso entsetzter waren die THDarmstadt und die anderen hessischen Hochschulen über die hochschulpolitischen Maß-nahmen der Landesregierung. Angesichts der bereits bestehenden schwierigen personal-politischen Rahmenbedingungen wünschte man sich von der Regierung Hilfsangebotestatt zusätzlicher Erschwernisse. Stattdessen musste man nun feststellen, das die hessi-sche Landesregierung mit ihren Erlassen die Berufungsverfahren komplizierter machte.Die Vertreter der hessischen Hochschulen sahen sich damit „vor einer Krise“.1538Ge-meinsam protestierten die Rektoren der vier Hochschulen gegen die eingeführten Son-derregelungen. Sie legten dem Ministerium zahlreiche Memoranden vor, in welchen sieauf die Gefahr hinwiesen, dass Hessens Hochschulen insbesondere durch die Gleichstel-lung von Professoren mit Beamten wettbewerbsunfähig gemacht würden.1539

Kommissarische Ernennungen als Übergangslösung

Angesichts dieser speziellen Konstellation kam es allem Anschein nach im Verlauf derersten Berufungen, die parallel zu den Spruchkammerverfahren geführt wurden, zwi-346 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt schen Kultusministerium, TH Darmstadt und der Militärregierung zu einer Art Interes-sengemeinschaft. Während LPA und Kabinett darauf drängten, politisch unbelastetenHochschullehrern den Vortritt zu lassen,1540nutzten die Vertreter der amerikanischen Mi-litärregierung ihr Mitspracherecht bei Personalfragen an der TH Darmstadt nicht.1541Auch das Kultusministerium kam der TH Darmstadt bei der politischen Vergangenheitder Neuberufenen entgegen, indem es sich bereit zeigte, Berufungsverhandlungen mitPersonen zu führen, deren Spruchkammerverfahren noch nicht abgeschlossen, bzw. nochgar nicht aufgenommen waren. Dies führte in den Jahren 1947/48 dazu, dass Kandidatenin Darmstadt zunächst mit kommissarischen Lehrstuhlvertretungen beauftragt wurden,ihre offizielle Ernennung jedoch erst Monate später erfolgen konnte. Während diese War-tezeit für die Kandidaten ein gewisses Risiko mit sich brachte, konnte die TH Darmstadtvon der Situation profitieren: Bei kommissarischen Lehrstuhlvertretungen waren keineweiteren Personalvorschläge notwendig und so gelang es ihr, ohne die sonst verlangteDreierliste, Wunschkandidaten unterzubringen. Besonders eindrücklich zeigt dies die Be-rufung von Otto Krischer. Dieser war seit 1928 als Assistent, später als Oberingenieur amWärmetechnischen Institut der TH beschäftigt. Die Abteilung für Maschinenbau bean-tragte während des „Dritten Reiches“ mehrere Male ein Extraordinariat für Krischer, wasde facto einer Hausberufung gleichkam.1542Zwar wurde der beantragte Lehrstuhl im Juli1944 eingerichtet, jedoch lehnte das REM den Berufungsvorschlag der Abteilung ab, dadieser lediglich Krischers Namen enthielt und man einen Dreiervorschlag verlangte.1543Eine letzte, im März 1945 vorgelegte Liste, die neben Krischer auch einen zweiten Na-men enthielt, kam wegen des Kriegsendes nicht mehr zu einem Abschluss. Doch auchdiese Liste stellte de facto eine Einerliste dar, denn dem neben Krischer genannten Wil-helm Raiß vom VDI wurde mitgeteilt, dass seine Nennung auf der Liste nur pro formaerfolgt und das eigentliche Ziel die Berufung Krischers sei.1544Nach der politischen Zäsur 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 347bestand nun für die Fakultät und Krischer die Möglichkeit, die Verhandlungen vonNeuem zu beginnen, da die neue Regierung über die vorherigen Versuche nicht im Bildewar.1545Die Fakultät ließ keine Zeit verstreichen und legte im Dezember 1945 dem neugebildeten Kultusministerium für die Besetzung des Lehrstuhls erneut eine Liste vor, aufder lediglich Krischers Name, als „bestgeeignetste Kraft“ genannt wurde.1546Krischerwurde durch Erlass vom 21. Dezember 1945 zunächst mit der kommissarischen Vertre-tung der 1944 eingerichteten außerordentlichen Professur für Heizungs- und Trocknungs-technik beauftragt.1547Die offizielle Ernennung zum planmäßigen Professor ließ jedochwegen der politischen Überprüfung Krischers weitere zwei Jahre auf sich warten. Kri-scher, weiterhin als Oberingenieur besoldet, der mit dem Lehrstuhl für Wärmetechnik desentlassenen Professor Voigt ein zweites Ordinariat vertrat, wurde angesichts der Verzö-gerung ungeduldig. Er empfand den Zustand als Kränkung und drohte der Hochschullei-tung damit, seine Lehrtätigkeit einzustellen.1548Der Grund für die Verzögerung war seinSpruchkammerverfahren. Krischer war als Mitglied der SA von 1933 bis 1935, Mitglieddes NS-Dozentenbunds von 1941 bis 1945 und Vertreter der nichtplanmäßigen Dozentenin der Abteilung Maschinenbau für den Dozentenbund von der Spruchkammer im März1947 in die Gruppe der Mitläufer eingestuft worden. Er stand kurzzeitig sogar auf derListe der zu entlassenden Hochschulangehörigen.1549Krischer legte Berufung gegen dasUrteil ein und hatte Erfolg damit: Die Berufungskammer sah es nicht nur als erwiesen an,dass er als unbelastet zu betrachten, sondern darüber hinaus aufgrund seiner „antifaschis-tischen Haltung“ vom Gesetz „nicht betroffen“ sei.1550Krischer hatte letzten Endes sogardavon profitieren können, dass seine Ernennung während des „Dritten Reiches“ am REMgescheitert war. Nun kam ihm der Vorfall bei seiner Entlastung zugute, die Berufungs-kammer führte die Nichtberufung Krischers statt auf die Problematik der Einerliste, auf348 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt politische Gründe zurück.1551Seiner Berufung stand nun nichts mehr im Wege, im De-zember 1947 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt.1552

Auch der Berufung von Karl Marguerre ging zunächst eine kommissarische Ernen-nung voraus, da für diese eine abgeschlossene politische Überprüfung keine Vorausset-zung war. Nach der Emeritierung von Wilhelm Schlink trat Marguerre bereits im Oktober1947 als kommissarischer Vertreter des Mechaniklehrstuhls seinen Dienst in Darmstadtan.1553Auch hier hatte die Kommission auf ihrem Berufungsvorschlag lediglich den Na-men Marguerres genannt.1554Sie begründete dies mit der günstigen Sachlage, gleichzeitigbeide Mechaniklehrstühle besetzen zu können.1555Marguerre war nach seiner Tätigkeitals Assistent der TH Karlsruhe von 1935 bis 1945 Sachbearbeiter für Statik und Elasto-technik der DVL, erst als Gruppen- und Fortbildungsleiter, seit 1943 als Professor imReichsdienst und damit unmittelbar dem Reichsluftfahrtministerium unterstellt. Im Jahr1947, zum Zeitpunkt des Berufungsvorschlags, war Marguerre mit Forschungen für dasLuftfahrtforschungsinstitut ONERA in Paris beschäftigt und hatte noch keine politischeÜberprüfung durchlaufen. Die Berufungskommission war damit nicht in der Lage, zumBerufungsbericht ein Spruchkammerzeugnis Marguerres vorzulegen. Um keine Zeit zuverlieren, bemühte sie sich, in ihrem Vorschlag auch seine politische Unbedenklichkeitunter Beweis zu stellen.1556Dafür betonten die Verfasser des Berichts neben seiner fach-lichen Qualifikation seine „menschlichen und charakterlichen Eigenschaften“. Weiterhieß es in dem Berufungsbericht, Marguerre sei „kein einseitiger Fachgelehrter, sonderneine allseitig geistig interessierte, besonders auch musikalisch hoch befähigte Persönlich-keit“.1557Wenn auch die musikalischen Neigungen Marguerres keineswegs aus der Luftgegriffen waren – er gründete und leitete für mehrere Jahre das TH-Orchester – ist dasHervorheben gerade dieser Eigenschaften zu jenem Zeitpunkt einerseits eine Besonder- 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 349heit, anderseits jedoch nicht verwunderlich. Es kann als Versuch der Kommission gedeu-tet werden, durch das Hervorheben kreativ-musischer Interessen Marguerres als unpoli-tische Persönlichkeit darzustellen. Besonders erwähnt wurden außerdem SchwierigkeitenMarguerres während des „Dritten Reiches“ und Handlungen, die eine gegnerische Hal-tung zum Regime zeigten.1558Seine Bedeutung als Wissenschaftler und seine Karrierewährend des Nationalsozialismus blieben dagegen unerwähnt.1559Während diese Aussa-gen offensichtlich für Kultusminister Stein ausreichten, um Marguerre als politisch unbe-denklich einzustufen und für die Lehre an der TH Darmstadt zuzulassen, kam die Spruch-kammer Darmstadt zunächst zu einem anderen Urteil. Als Mitglied der SA im Rang einesRottenführers stufte diese Marguerre als Mitläufer ein, was seine in Aussicht gestellteBerufung an die TH Darmstadt kurzzeitig unmöglich machte. Marguerre legte Einspruchgegen die Entscheidung ein und wurde im Juli 1948 von der Berufungskammer als Ent-lasteter eingestuft.1560Damit war sein Entnazifizierungsverfahren abgeschlossen, und imMai 1949 wurde er mit Wirkung vom 1. Januar 1949 offiziell als Professor an die THDarmstadt berufen.

Im Gegensatz zu Marguerres Berufung an die TH Darmstadt scheiterte die Besetzungdes zweiten Mechaniklehrstuhls mit dem Wunschkandidaten Karl Klotter, da dieser denRuf ablehnte. Dieser war von der gleichen Berufungskommission mit einer Einerlistevorgeschlagen worden.1561Klotter war kein Unbekannter in Darmstadt, bereits im Jahr1937 hatte er an zweiter Stelle eines Berufungsvorschlages der TH Darmstadt für dieNachfolge des Mathematikprofessors Jakob Horn gestanden.1562Kurz nach dem Ende desKrieges war es Klotter selbst, der sich mit dem Wunsch nach Südhessen überzusiedeln,350 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt in Darmstadt nach einer Beschäftigungsmöglichkeit erkundigte.1563Die TH Darmstadtwies ihn zunächst mit dem Hinweis darauf zurück, dass Professor Blaess, obwohl dieserzu diesem Zeitpunkt bereits 70 Jahre alt war, weiter seine Lehrtätigkeit ausführen könne,man versprach Klotter jedoch zu gegebener Zeit auf ihn zurückzukommen.1564Als ihn dieTH Darmstadt wenig später, im Januar 1947, schließlich „unico loco“ für die Nachfolgevon Professor Blaess vorschlug, war es nun Klotter, der Darmstadt eine Absage erteilte.Er hatte zwischenzeitlich einen Ruf an die TH Karlsruhe angenommen.1565Damit war dieBerufung Klotters erneut gescheitert.1566

Ende 1946 hatte sich ein weiterer ehemaliger Mechanikprofessor, Karl Karas, bis1945 Professor der TH Prag, mit Interesse einer Berufung an die TH Darmstadt gewandt.Im Oktober 1947 schlug das Kultusministerium der TH Darmstadt seine Berufung alsNachfolger von Blaess vor.1567Der Kleine Senat jedoch lehnte diesen Vorschlag ab, daer keine Möglichkeit einer Beschäftigung Karas’ sah.1568Warum der Senat Karas ab-lehnte, obwohl weiterhin nach einem Nachfolger für Mechanik-Professor Blaess gesuchtwurde, ist unklar. Nicht unwahrscheinlich ist, dass man sowohl in Eigeninitiative erfolgteBewerbungen und Vorschläge des Ministeriums aus Prinzip abwehrte, um am Vor-schlagsrecht festzuhalten. Hinzu kam, dass Blaess zu diesem Zeitpunkt pensioniert, stattemeritiert worden wäre. Erst nachdem das Ministerium die zum 1. April 1949 erfolgteInruhestandsversetzung Blaess’ gegen den Willen der Fakultät durchsetzte,1569legte dieBerufungskommission nach einer zweijährigen Pause eine Liste mit drei Namen vor. DieVerzögerung begründete man damit – obwohl das Kultusministerium, welches selbst Ka-ras vorschlug, es besser wusste –, dass die „Fühlungnahme“ mit anderen möglichen Kan-didaten „z.T. leider wieder ohne Erfolg“ abgelaufen sei.1570Auf dem ersten Listenplatznannte die TH Darmstadt nun keinen anderen als den zweimal abgelehnten Karl Karas, 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 351der sich zwischenzeitlich mit kleineren Lehraufträgen über Wasser gehalten hatte.1571Keine zwei Monate später, im Juni 1949, beauftragte das Ministerium ihn mit der kom-missarischen Lehrstuhlführung, am 17. August 1949 erfolgte seine offizielle Beru-fung.1572

Diese Fallbeispiele zeigen, dass es der TH Darmstadt mit der Möglichkeit einer kom-missarischen Ernennung in den ersten Monaten gelang – wenn auch mit einer gewissenVerzögerung –, Wege zu finden, die eigenen Interessen bei Lehrstuhlbesetzungen durch-zusetzen. Ausschlagend für die Verzögerungen war zu diesem Zeitpunkt nicht der Kon-flikt mit dem Kultusministerium um ein Vorschlagsrecht, sondern vielmehr die Entnazi-fizierungsbestimmungen. Wie die Berufungsverhandlungen der Jahre 1947/48 zeigen, be-rücksichtigte Wiesbaden die Personalwünsche der TH Darmstadt und man fand trotz derRahmenbedingungen durch die Möglichkeit kommissarischer Ernennungen Wege, dieWunschkandidaten der Fakultäten für die TH Darmstadt zu gewinnen.

Der Konflikt mit dem Kultusministerium um das Vorschlagsrecht bei Berufungen und die Auswirkungen der eingeschränkten Möglichkeiten, Mitläufer zu berufen

Die Haltung des Kultusministeriums sollte sich jedoch angesichts der in der folgendenZeit von der TH Darmstadt vorgelegten Berufungsvorschläge grundlegend ändern. Ausder Gesamtschau der 16 zwischen 1947 und 1951 erfolgten Neuberufungen geht hervor,dass die TH Darmstadt – meist mit dem Hinweis darauf, dass die Suche nach geeignetenPersönlichkeiten für den betreffenden Lehrstuhl sich äußerst schwierig gestaltet habe –von den geforderten Dreierlisten abwich.1573In jenen wenigen Fällen, in denen die Kom-missionen keine Einzelvorschläge vorlegten, erbaten sie nicht selten, falls die Verhand-lungen mit dem Erstgenannten nicht zum Ziele führen sollten, die Liste zurück.

Wie aus dem Berufungsvorschlag für den Lehrstuhl des nach Amerika ausgewander-ten Theodor Buchhold hervorgeht, ging das Einreichen von Vorschlagslisten mit wenigerals drei Kandidaten auf strategische Entscheidungen des Kleinen Senats zurück. Nach-dem die Berufungskommission im Sommer 1947 eine Dreierliste mit Ludwig Lebrechtan erster, Oberreichsbahnrat Ernst Kilb an zweiter und Hans Graner an dritter Stelle ein-352 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt gereicht hatte, beschloss der Kleine Senat, Kilb zu streichen, „da dieser Parteimitgliedwar und kein Spruchkammerbescheid vorliegt, so daß seine Nennung zwecklos, wohl so-gar von Nachteil gewesen wäre“. Daraufhin reichte die Fakultät einen Zweiervorschlagmit Lebrecht und Graner ein. Sie erbat jedoch bei Nichtzustandekommen der BerufungLebrechts die Liste zurück. Begründet wurde dies damit, dass Lebrecht im Gegensatz zuGraner mehreren Mitgliedern der Fakultät „persönlich bekannt“ sei.1574Das Abweichender TH von den traditionellen Dreierlisten zog im Laufe der Zeit immer mehr den Ärgerdes Kultusministeriums auf sich, da man sich um das Auswahlrecht gebracht sah. DasMinisterium seinerseits stellte nun zunehmend die Empfehlungen der TH Darmstadt in-frage, um die eigene Machtstellung zu demonstrieren.

Dass sich einzelne Vorschlagslisten und Berufungsverhandlungen zu einem Ort fürdas Ausfechten eines Stellvertreterkonflikts um das Vorschlagsrecht bei Berufungen ent-wickelten, zeigen insbesondere die Ereignisse rund um die Neubesetzung des Lehrstuhlsfür Elektromaschinenbau des in den Ruhestand versetzten Franklin Punga. Anfang März1951 hatte die Berufungskommission einen Dreiervorschlag eingereicht, mit dem Chefe-lektriker der AEG, Werner Krämer, an erster Stelle, an zweiter Stelle Erwin Kübler, ehe-maliger Ordinarius der TH Breslau, der nun Mitarbeiter der Siemens-Schuckert-Werkewar, und an dritter Stelle Eugen Wiedemann, Chefkonstrukteur bei Brown Boveri.1575Derzuständige Ministerialbeamte zweifelte jedoch daran, dass es sich um eine „echte Dreier-liste“ handelte. Er ging vielmehr davon aus, dass es sich um eine Zweierliste handelte,„in der optisch ein dritter Name angeführt wurde“, insbesondere da die Kommission umRückgabe der Liste im Falle einer Nichtberufung der ersten beiden Vorgeschlagenenbat.1576Statt die Liste zurückzureichen, trat das Ministerium kurzerhand mit dem Dritt-genannten Wiedemann in Verhandlung.1577Daraufhin zog die Fakultät die Nennung Wie-demanns zurück. Dieser sei „von interessierter Seite der Industrie initiativ genannt“ wor-den und man habe, um die Besetzung des Lehrstuhls schnell durchführen zu können, dieListe eingereicht, ohne dessen Eignung für den Lehrstuhl vorher zu prüfen. Diese Prü-fung, so die Kommission habe nun jedoch ergeben, dass Wiedemann für den Lehrstuhl 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 353fachlich nicht geeignet sei. Der Dekan der Fakultät machte sich weiter für den Erstge-nannten Krämer stark, an dessen charakterlicher Eignung kein Zweifel bestehe, da ermehreren Personen seit 1936 bekannt war, könne man vorbehaltlos für ihn eintreten.1578Für das Ministerium war damit bestätigt, dass es sich nicht um einen „echten Dreiervor-schlag“ gehandelte hatte, und man verlangte eine neue Vorschlagsliste. Statt neue Namenzu nennen, hielt die Kommission weiter an ihren beiden Wunschkandidaten Krämer undKübler fest. Wiedemann tauchte auf der neu eingereichten Liste nicht wieder auf, wasman nun ordnungsgemäß begründete. Das Ministerium wiederum weigerte sich dieseneue Liste anzuerkennen, da sie – offensichtlich war die TH Darmstadt vorgewarnt wor-den – älteren Datums als das Aufforderungsschreiben des Ministeriums war.1579Dieseweitere Abweichung führte beim Ministerium dazu, die zweite Liste komplett zu ignorie-ren. Das Ministerium besorgte sich nun eigene Gutachten über Krämer, Kübler und Wie-demann. Dafür wählte es den Schweizer Professor Dünner aus, der, wie zu erwarten, denDrittgenannten Wiedemann – dieser war bei Brown Boverie in Baden in der Schweizbeschäftigt – empfahl, zu den beiden anderen dagegen nichts sagen konnte.1580Aufgrunddieses Gutachtens benachrichtigte der Ministerialbeamte Viehweg den Rektor der THDarmstadt, dass er nun beabsichtige, Wiedemann zu berufen.1581Die Fakultät protestiertevehement gegen dieses Vorgehen. Der erste Berufungsvorschlag hatte in ihren Augenkeine Gültigkeit mehr, mit Wiedemann würde das Ministerium damit eine nicht vorge-schlagene Person berufen, was in den Augen der Fakultät eine „Verletzung des ihr zu-stehenden Vorschlagsrechtes“ darstellte.1582Das Ministerium verwies jedoch auf ihrRecht, „aus besonderen Gründen eine nicht vorgeschlagene Person“ berufen zu kön-nen.1583Es betonte weiter, dass die Fakultät Wiedemann in ihrem ersten Berufungsvor-schlag als „hervorragenden Fachmann“ bezeichnet hatte. Mit Verweis auf das Gutachtenvon Dünner, der diesen ebenfalls als geeigneten Kandidaten für den Lehrstuhl und „sehrtüchtig und von bestem Charakter“ bezeichnete, forderte das Ministerium eine erneuteStellungnahme der Fakultät zu Wiedemann.1584Die Fakultät blieb bei ihrer Aussage, dassWiedemann in fachlicher Hinsicht nicht ihre Anforderungen erfülle, und sprach dem vom354 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt Ministerium beauftragten Gutachter die notwendigen Fachkenntnisse ab.1585Offensicht-lich hatte die Fakultät zwischenzeitlich mit Wiedemann das Gespräch gesucht. Dieser sei,so erklärte man nun, gar nicht mehr bereit, ein Ordinariat anzunehmen. Man wolle nunversuchen, ihn als Honorarprofessor zu gewinnen.1586Während dieses ganzen Prozesseshatte die politische Vergangenheit des Wunschkandidaten der TH Darmstadt, Krämer,Parteimitglied von 1931, keine Rolle gespielt, nicht zuletzt, da dieser vom Entnazifizie-rungsausschuss Hamm in die Gruppe der Entlasteten eingestuft worden war.1587Die erstePriorität des Ministeriums war in diesem Fall demnach nicht die politische Vergangenheitder Kandidaten, sondern vielmehr die Einhaltung eines ordnungsgemäßen Dreier-vorschlags und damit ihres Auswahlrechts. Im Jahr 1952 stellte die frühe Parteimitglied-schaft für das Kultusministerium keinen Hinderungsgrund dafür dar, in Berufungs-verhandlungen mit Krämer zu treten. Die Berufungsverhandlungen kamen zu einemerfolgreichen Abschluss, jedoch wollten nun das LPA und das hessische Kabinett einerErnennung Krämers wegen seiner Parteimitgliedschaft von 1931 nicht zustimmen.1588Infolgedessen nahm die Fakultät nochmals Stellung zu Krämer. Wissenschaftlich sei die-ser ein „hervorragender Fachmann und [eine] schöpferische Persönlichkeit“, der auf sei-nem Arbeitsgebiet wesentliche Erfolge und mehr als 100 Patente hervorgebracht habe.Seinen frühen Eintritt in die Partei erklärte man mit den Verhältnissen in Braunschweig.Dort sei, so die Fakultät, die „Machtergreifung“ zwei Jahre früher als im Reich erfolgtund daher nicht anders zu bewerten als ein Parteieintritt im Reich 1933. Aufgrund dereingeholten Informationen zu Krämers politischer Einstellung trete die Fakultät „vorbe-haltlos“ für ihn ein.1589Neben diesen Entlastungsschreiben der Fakultät für Krämer führtenicht zuletzt die mit dem neu zusammengetretenen Kabinett erfolgte Wende zur Ernen-nung Krämers am 29. Januar 1952, der schließlich mit Urkunde vom 11. Februar 1952zum ordentlichen Professor ernannt wurde.

Auch die Berufung von Theodor Pabst auf den Lehrstuhl für Hochbaukonstruktionen,den bis 1945 Rudolf Geil innehatte, spiegelt die besonderen Umstände von Berufungenwider, die mit den im Rahmen der politischen Überprüfung für die TH-Kommissionen zu 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 355erfüllenden Voraussetzungen und des Grundkonfliktes zwischen Hochschule und Kultus-ministerium herbeigeführt wurden. Nachdem sich Ende 1947 herauskristallisierte, dassProfessor Geil nicht wieder auf seinen Lehrstuhl zurückkehren konnte, legte eine Beru-fungskommission im April 1948 dem Kleinen Senat eine erste Vorschlagsliste mit dreiNamen vor. Wunschkandidat der Kommission war Theodor Pabst. Dieser war jedochMitläufer, was dazu führte, dass der Senat die Liste in dieser Form nicht für sinnvoll hielt.Die Fakultät, die in Pabst den fachlich besten Kandidaten sah, fand eine sehr unkonven-tionelle Weise, diese Bedenken zu berücksichtigen: Auf der dem Ministerium eingereich-ten Liste verzichtete sie auf die sonst üblichen Listenplätze „erste, zweite und dritteStelle“ und nannte in ungeordneter Reihenfolge die zu Berufenden, Pabst an letzter Stelle.Gleichzeitig erklärte sie, dass Pabst zwar aufgrund seiner Parteimitgliedschaft an dritterStelle genannt worden sei, dies entspreche jedoch nicht „der Ansicht der Fakultät, die beiihren Erwägungen allein von der Eignung und vom fachlichen Können ausgeht“, undfügte zuletzt an: „Es wäre im Interesse der Hochschule zu begrüssen, wenn Herr Pabstauf den Lehrstuhl berufen würde“.1590Das Ministerium akzeptierte den Vorschlag in die-ser Form nicht und verlangte weitere Ausführungen. In der Erwartung, dass sich „diesachlich und politisch unzweckmässige Form der Behandlung von Mitläufern in abseh-barer Zeit“ ändern werde und „die Regierung einsehen wird, dass auch ein Mitläufer zuVerwaltungsgeschäften der Hochschule herangezogen werden kann“, beschloss der Senatnun, Pabst an erste Stelle zu setzen.1591Tatsächlich akzeptierte das Kultusministeriumschließlich die Liste und hatte keine Einwände gegen eine Berufung Pabsts. Nachdemsich auch das Kabinett der Auswahl angeschlossen hatte, trat Pabst am 4. November 1948kommissarisch seinen Dienst an der TH Darmstadt an.1592Das LPA sah sich jedoch we-gen des zwischenzeitlich erlassenen „Mitläuferverbots“ nicht in der Lage, dem Antragzuzustimmen.1593Da Pabst jedoch bereits vom Kabinett ausgewählt worden war und zu-dem ein Angebot aus München erhalten hatte, wurde er schließlich doch mit Urkundevom 17. Juni 1949 berufen.

Wie aus der Haltung des Kleinen Senats hervorgeht, hatte das seit 1947 einge-schränkte und im Juli 1949 vom hessischen Kabinett beschlossene vollständige Beru-fungsverbot von Mitläufern nur begrenzte Wirksamkeit. Während das Kultusministeriumletztendlich doch die Wunschkandidaten Pabst und Krämer berief, entschied es bei derNachfolge des Architekturprofessors Tiedemann anders. Die Fakultät reichte über den356 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt Rektor der TH Darmstadt im Juli 1949 eine erste Berufungsliste für die Architekturpro-fessur beim Ministerium ein.1594Wie üblich baten Rektor und Fakultät, mit dem an ersterStelle genannten Dietrich Brandi, einem ehemaligen Hochschullehrer der TH Prag, zudiesem Zeitpunkt selbstständiger Architekt in Göttingen, in Berufungsverhandlungen zutreten. Alle drei Genannten waren als entlastet eingestuft worden, im Gegensatz zu denan zweiter und dritter Stelle gesetzten Architekten Heinrich Bartmann und Paul Krusche,war Brandi jedoch Mitglied der Partei von 1937, der SA von 1933 und des Dozentenbundsvon 1940 gewesen. Wie aus einer internen Korrespondenz hervorgeht, bevorzugte derKultusminister aus fachlichen Gründen Heinrich Bartmann.1595Der Fakultät gegenüberbegründete er die Ablehnung des Erstgenannten jedoch mit dessen politischer Vergan-genheit und gab die Liste zurück. Statt eine neue Liste aufzustellen, ließ der Berufungs-ausschuss Brandi an erster Stelle stehen und bemühte sich, die politische Unbedenklich-keit durch neue Anfügungen zu beweisen.1596Der Kultusminister setzte sich unbeein-druckt davon über die Liste hinweg und nahm, „obwohl sich die Technische HochschuleDarmstadt energisch für den an erster Stelle genannten“ Brandi einsetzte, mit dem anzweiter Stelle Genannten Verhandlungen auf, die zu einem positiven Abschluss und derBerufung Bartmanns mit Urkunde vom 26. April 1950 führten. Das Vorgehen hätte fürdie Fakultät Grund genug sein können, weiter dagegen zu protestieren, doch wie aus denAkten hervorgeht, konnte man sich zwischenzeitlich mit dem Kultusminister über einen„modus procedendi“ einig werden.1597Ob dabei das Kultusministerium die Gründe fürdie Bevorzugung Bartmanns offenlegte, ist zu bezweifeln. Das Vorgehen bei der Ableh-nung des Kommissionsvorschlags zeigt nicht zuletzt, dass das Ministerium nicht davorzurückschreckte, die politische Vergangenheit der Kandidaten für die eigenen Interessenzu instrumentalisieren.

Absagen von Wunschkandidaten wegen der hessischen Gesetzeslage

Weitere Schwierigkeiten entstanden der TH Darmstadt dadurch, dass die Situation inHessen viele potenzielle Kandidaten abschreckte. Kein anderes Bundesland hatte wieHessen die Emeritierung von Professoren abgeschafft, und so gab es nicht selten Wunsch- 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 357kandidaten der Fakultäten, die eine Berufung an die TH Darmstadt aus diesen Gründenablehnten. Oftmals erfolgten die Absagen erst nach mehreren Jahren Berufungsverhand-lungen, bei einigen Lehrstühlen kamen gleich mehrere Vorschlagslisten nicht zustande.So wie bei der Suche nach einem möglichen Nachfolger für Carl Wagner. Nachdem derProfessor für physikalische Chemie 1945 nach Amerika übergesiedelt war und sich Ende1946 entschlossen hatte, endgültig dort zu bleiben, leitete die Fakultät die Suche nachseinem Nachfolger ein. Sechs Monate später reichte die Berufungskommission eine ersteListe mit Georg-Maria Schwab als einzigem Vorschlag ein.1598Schwab war bis 1933 au-ßerordentlicher Professor der Universität München gewesen, während des „Dritten Rei-ches“ aus „rassischen“ Gründen verfolgt worden und schließlich nach Griechenland ge-flohen. In Piräus wurde er Leiter der Forschungsabteilung für anorganische, physikalischeund katalytische Chemie am Institut „Nikolaos Kanellopoulos“, später erhielt er einenRuf an die TH Athen.1599Die Berufungsverhandlungen mit Schwab liefen wegen der Ent-fernung äußerst schleppend. Ursprünglich sollte seine Berufung im Rahmen des IKIA-Kongresses 1947 abgeschlossen werden, doch Schwab kam wegen Passschwierigkeitennicht nach Deutschland.1600Ein vorheriger Besuch der zukünftigen Arbeitsstelle war fürSchwab jedoch die Voraussetzung für eine Berufung, denn wie vielen der aus dem Amtvertriebenen Hochschullehrer fiel ihm die Entscheidung, nach Deutschland zurückzukeh-ren, nicht einfach. Als sich dies nicht verwirklichen ließ, beschloss er im September 1947,vorerst den Ruf der TH Darmstadt abzulehnen.1601Innerhalb der folgenden zwei Jahrefanden keine weiteren Verhandlungen statt. Anzeichen dafür, dass die Berufungskom-mission andere Kandidaten in die engere Auswahl nahm, gehen aus den Akten nicht her-vor. Auf Einladung der Hochschule hielt Schwab im Sommersemester 1949 am Zintl-Institut Gastvorlesungen. Zur gleichen Zeit reichte die Fakultät einen nächsten Beru-fungsvorschlag beim Ministerium ein. Wieder nannte man Georg-Maria Schwab an ersterStelle, Wilhelm Jost von der Universität Marburg an zweiter und Gustav Kortüm von derUniversität Tübingen an dritter Stelle.1602Nach einem Jahr weiterer Verhandlungen ent-schied sich Schwab, einen Ruf an die Universität München anzunehmen, da er dort bes-sere Voraussetzungen gegeben sah. Schwab ging nicht aus den Berufungsverhandlungenheraus, ohne für die TH Darmstadt ein gutes Wort beim Kultusminister einzulegen. Er358 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt legte diesem ans Herz, dem Institut „in allen Fragen, insbesondere Berufungsfragen, alleerdenkliche Sorgfalt und Pflege zuteil werden zu lassen, denn noch ist es ein unschätzba-res Aktivum für Deutschland und für Hessen“. Er schloss mit der Hoffnung, „dass dielangen Verhandlungen über meine Berufung an dieses Institut nicht ganz vergeblich ge-wesen sein mögen, indem sie, wie ich hoffe, den Hessischen Finanzbehörden klargemachthaben, unter welchen Bedingungen eine würdige Neubesetzung des Lehrstuhl Carl Wag-ners möglich wäre“.1603Erst im Februar 1951 konnte mit Wilhelm Jost nach insgesamtsechs Jahren ein Nachfolger für Wagner gefunden werden.1604

Auch bei der Besetzung des ehemaligen Lehrstuhls für Elektrotechnik von WaldemarPetersen lehnte der Wunschkandidat der Fakultät eine Berufung nach Darmstadt ab. EineBerufungsliste mit Walter Wolman an erster Stelle hatte sie im März 1947 eingereicht.1605Statt nach Darmstadt nahm Wolman einen Ruf an die TH Stuttgart an. Einen neuen Be-rufungsvorschlag legte die Kommission erst nach zwei Jahren vor und verwies darauf,dass es aufgrund der Erlasse der hessischen Regierung „völlig aussichtslos erschien, Per-sönlichkeiten von Rang für Darmstadt zu gewinnen“.1606Professor Gundlach wurdeschließlich, drei Jahre nach dem Tod von Waldemar Petersen im Oktober 1949 an dieTH Darmstadt berufen. Dass die Berufung insgesamt drei Jahre in Anspruch nahm, lagnicht zuletzt an der Weigerung der Fakultät für Elektrotechnik, unter den in Hessen ge-gebenen Bedingungen Berufungen durchzuführen. So teilte der Dekan KultusministerStein im Zuge einer weiteren Berufungsangelegenheit im September 1947 mit, dasser sich gezwungen sehe, „die Angelegenheit der Berufung des Nachfolgers für denLehrstuhl Elektromaschinenbau bis auf weiteres ruhen zu lassen, solange ich annehmenmuss, dass dem zu berufenden Herren die obengenannten Bedingungen gestellt wer-den“.1607

Auch bei der Suche nach einem Nachfolger für Hans Rau, Professor für Experimen-talphysik, scheiterten gleich mehrere Vorschlagslisten der TH Darmstadt, weil die Kan-didaten sich kurz vor einer erfolgreichen Beendigung der Berufungsverhandlungen fürandere Universitäten entschieden. So lehnte Helmuth Kuhlenkampff aufgrund der abge- 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 359schafften Emeritierung im Jahr 1949 einen Ruf an die TH Darmstadt ab.1608Es folgtenBerufungsverhandlungen mit Hermann Dänzer, die Berufungsurkunde war bereits ver-schickt, da entschied sich dieser doch noch gegen Darmstadt und für Frankfurt.1609Nach-dem mit Hans König nur noch ein Name auf der Liste übrig blieb, dieser darüber hinausals Mitläufer eingestuft wurde, forderte das Ministerium eine neue Liste.1610Ein weiteresJahr verstrich, bevor die Berufungskommission eine Dreierliste – mit König an ersterStelle – einreichen konnte.1611

Mehrfach sah sich die Hochschulleitung dazu veranlasst, die Landesregierung auf diekritischen Folgen der Beamtengesetze hinzuweisen. Anders als in geisteswissenschaftli-chen Disziplinen benötige man als TH, so der Rektor, bei Neuberufungen vorwiegendWissenschaftler, die sich nicht nur wissenschaftlich einen Namen gemacht hatten unddamit entsprechende Stellungen innehatten, sondern gleichzeitig auch in der Industrie Er-fahrungen vorweisen konnten. „Männer solcher Art werden aber einem Ruf nach Hessenkeine Folge leisten, wenn die personellen Bedingungen für Hochschullehrer hier fühlbarschlechter sind als in den übrigen deutschen Ländern.“ Dies würde, so die Hochschullei-tung, „der davon betroffenen Hochschulabteilung auf mindestens 20 Jahre schaden“. DieTH Darmstadt forderte, Lehrstühle müssten „mit den besten Männern besetzt werden,wenn Darmstadt gegen die Technischen Hochschulen der anderen Länder überhaupt wett-bewerbsfähig bleiben soll und wenn die hessische Technische Hochschule in dem vonder hessischen Industrie geforderten Masse an der technischen Entwicklung mitarbeitensoll“.1612

Weniger die Frage der politischen Vergangenheit als vielmehr die hessischen Beam-tengesetze sorgten zwischen 1947 und 1951 für Konflikte zwischen dem Kultusministe-rium und der TH Darmstadt. Während Kultusminister Stein noch zu seinem Amtsantritt1947 besonderen Wert auf die Berufung politisch Unbelasteter Wert gelegt hatte, scheintsich diese Haltung im Laufe der Zeit relativiert zu haben. Aus den Akten lassen sich fürdiese veränderte Haltung des Ministeriums mehrere Gründe finden. Zum einen gibt esHinweise darauf, dass man der Meinung war, bei ingenieurstechnischen und naturwissen-schaftlichen Fächern spiele die politische Vergangenheit weniger eine Rolle. So war dasKultusministerium bei der Suche nach einem Nachfolger für den in die USA ausgewan-derten Carl Wagner dazu bereit, den als Mitläufer eingestuften Wilhelm Jost in Betracht360 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt zu ziehen, und bezeichnete Physikalische Chemie als „ein so unpolitisches Fach“.1613Zum anderen scheinen die Eingaben der TH Darmstadt eine gewisse Wirkung gezeigt zuhaben. Wie aus einem Brief des im Oktober 1949 amtierenden Rektors Mehmel hervor-geht, hatte dieser trotz des Verbots, Mitläufer zu berufen, von Ministerpräsident Stockdie Zusicherung erhalten, dass „Mitläufer, wenn wir [die TH Darmstadt] sie ernstlich alsOrdinarius haben wollen, sie auch kriegen […] sollen“, da auch das Kultusministeriumnicht wünsche, „dass die Technische Hochschule Darmstadt gegenüber anderen Hoch-schulen zurückfiele“.1614

Tatsächlich gelang es der TH Darmstadt weiterhin, Berufungsverhandlungen mit Mit-läufern zu führen, wie das Beispiel der Neubesetzung des Lehrstuhls für AnorganischeChemie zeigt. So kam es zwar aufgrund der Einstufung des Erstgenannten zum Mitläuferzu einer Verzögerung, dennoch wurde der Wunschkandidat der TH Darmstadt berufen.Eine erste Liste der Berufungskommission mit vier Namen – an erster Stelle Ulrich Hof-mann, gefolgt von Josef Goubeau und an dritter Stelle Robert Juza sowie HellmuthStamm – reichte das Ministerium aufgrund der politischen Vergangenheit der Kandidatenzurück.1615Gleichzeitig forderte es die Kommission dazu auf, eine neue Dreierliste „mitpolitisch einwandfreien Persönlichkeiten“ aufzustellen. Stattdessen ließ die Fakultät einpaar Monate verstreichen, bis sie im August 1950 erneut die gleiche Liste einreichte.1616In einem Begleitschreiben nahm der Dekan der Fakultät nun explizit zur politischen Ver-gangenheit und der Einstufung Hofmanns als Mitläufer Stellung. Außerdem fügte er an:„Nach sorgfältiger Abwägung aller Gesichtspunkte hat die Fakultät für Chemie [...] ein-stimmig beschlossen, an ihrem Grundsatz, Berufungsvorschläge ausschliesslich aufGrund fachlicher Überlegungen auszuarbeiten, festzuhalten. Sie verfolgt damit einerRichtlinie, die sie auch während des 3. Reiches eingehalten hat und die ihr gerade wäh- 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 361rend des 3. Reiches die Möglichkeit gab, ihren Lehrkörper von nationalsozialistischenAnsprüchen freizuhalten.“1617Mit dem Hinweis darauf, dass man während des „DrittenReiches“ keine parteipolitischen Berufungen vorgenommen habe, forderten die Akteureder TH Darmstadt das Recht, auch in der Nachkriegszeit ohne Rücksicht auf politischeFaktoren berufen zu können.1618Tatsächlich zeigte sich der Ministerialdirektor nach demerneuten Antrag der Fakultät kooperativer, die politische Vergangenheit Hofmanns be-zeichnete er nun als „für die meisten Hochschullehrer normal; besondere erschwerendeMomente“ seien nicht vorhanden.1619Berufungsverhandlungen wurden aufgenommenund kamen 1951 zu einem erfolgreichen Ende.1620

Wie eingangs erwähnt, trat die Landesregierung nicht immer als geschlossene Einheitauf, das Kultusministerium auf der einen, LPA und Kabinett auf der anderen, vertratennicht selten andere Ansichten. Die beschriebenen Neuberufungen zeigten, dass Verzöge-rungen bei Berufungen mehrheitlich auf die Vorbehalte des LPA und des hessischen Ka-binetts zurückgingen. Die Beteiligung von LPA und hessischem Kabinett an Berufungenwar dann auch von Anfang an der größte Kritikpunkt der Darmstädter Hochschulleitung.So kritisierte der Rektor bereits im Jahr 1948, dass es bei Berufungsverhandlungen keineklaren und einfachen Zuständigkeitsregeln gebe. An dem Prozess seien mehr Instanzenals erforderlich beteiligt, manche von ihnen, so bemerkte er mit klarem Seitenhieb aufdas Kabinett und das LPA, zudem „dazu fachlich nicht geeignet“.1621Die Beteiligung desKabinetts bei Berufungsfragen würde „die Richtigkeit gefährden“ und zudem „die Hoch-schulen mit bedeutsamen Kräften des Öffentlichen Lebens in heikle Auseinanderset-zungen bringen“.1622Angesichts der wiederholten Abweisung von politisch belastetenKandidaten durch das LPA und das Kabinett bemerkte Rektor Mehmel: „Ich habe denEindruck, dass manchmal die kleineren Fähnchenträger katholischer sind als derPapst.“1623

362 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt Die Einführung der Politischen Wissenschaften an der TH Darmstadt 1948 und die Berufung Eugen Kogons 1951

Obwohl sich das Kultusministerium angesichts der bestehenden Probleme, geeigneteWissenschaftler für die TH Darmstadt gewinnen zu können, bezüglich der politischenVergangenheit mehrheitlich kooperativ zeigte und damit die 1947 vertretene Haltung re-lativierte, hielt es in anderen Bereichen an der ursprünglichen Linie fest, für eine Demo-kratisierung der Universitäten und Hochschulen zu sorgen. Als Schritt auf dem Weg dort-hin verfolgte sie die Einführung der Politischen Wissenschaft: „Die hessische Regierungwill alles tun, um die Kluft zwischen Politik und Geist zu verkleinern. Sie hat des-halb beschlossen, an den Universitäten Frankfurt und Marburg und an der TechnischenHochschule Darmstadt Lehrstühle für Wissenschaftliche Politik zu errichten.“1624Diesteilte der hessische Ministerpräsident Christian Stock am 28. April 1948 anlässlich der100-Jahr-Feier der Revolution von 1848 in Frankfurt öffentlich mit. Die Besetzung desLehrstuhls in Darmstadt entwickelte sich zu einem Kräftemessen zwischen Hochschuleund Kultusministerium. Nachdem am 20. November 1948 der Lehrstuhl etatmäßig ein-gerichtet worden war, vergingen drei Jahre bis zur Besetzung mit Eugen Kogon im Jahr1951. Angesichts der besonderen Umstände, unter denen dieser Lehrstuhl eingerichtetwurde, lohnt sich eine nähere Betrachtung der Berufungsverhandlungen.1625

Ende 1948 forderte das Kultusministerium die TH Darmstadt erstmals dazu auf, eineVorschlagsliste einzureichen. In der Aufforderung machte Stein deutlich, dass bei derBesetzung des Lehrstuhls, da es sich um eine Erstbesetzung handelte, in den Augen desMinisteriums das Vorschlagsrecht der Hochschule nur begrenzt Gültigkeit besaß.1626

Der Senat der TH Darmstadt gliederte den neuen Lehrstuhl der Fakultät für Staats-und Kulturwissenschaften an und forderte diese auf, gemeinsam mit den technischen Fa-kultäten einen Berufungsausschuss zu bilden.1627Zwar waren sofort erste Namen im Spiel– als Kandidaten für Darmstadt wurden laut Senatsprotokoll unter anderem WilhelmMeyer, Eugen Kogon und Ludwig Bergsträsser gehandelt1628–, die Berufungskommis-sion benötigte für die Aufstellung einer Vorschlagsliste jedoch Zeit. Das Kultusministe-rium forderte daraufhin Mitte Februar 1949 einen beschleunigten Berufungsvorschlag 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 363ein.1629Aus Angst, das Ministerium könne von sich aus Persönlichkeiten bestimmen, hieltes nun der Kleine Senat für angemessen, sofort Berufungsvorschläge einzureichen.1630Die Berufungskommission jedoch tat sich schwer, eine Liste einzureichen, „ohne dass diesachlichen und persönlichen Voraussetzungen gründlich überprüft werden“, und machteden Vorschlag, das Gebiet Politik zunächst durch einen oder mehrere Lehraufträge ver-treten zu lassen, um mehr Zeit zu finden, die Suche „mit der erforderlichen Sorgfalt“durchzuführen.1631Der Wunsch, besonders sorgfältig auszuwählen, hing nicht zuletzt mitden Vorbehalten zusammen, die man gegenüber dem Fach vertrat. Da die Politikwissen-schaft als Fach in Deutschland erst im Entstehen war, bestand in Darmstadt wie überallUneinigkeit darüber, aus welchem der angrenzenden Fachbereiche mögliche Kandidatenrekrutiert werden könnten. Die TH Darmstadt stand der „reinen Politik“ zunächst ableh-nend gegenüber und plante die Besetzung des Lehrstuhls mit einem Vertreter der NeuerenGeschichte. Auf diese Weise wollte sie den Lehrauftrag für Geschichte einsparen, der inder Fakultät für Kultur- und Staatswissenschaften vorgesehen war.1632Dem Ministeriumgegenüber erwähnte die Kommission ihre Pläne mit keinem Wort, sondern versuchte Zeitzu gewinnen, indem sie kurz über die bereits erfolgten Schritte berichtete und den Vor-schlag machte, das Gebiet Politik zunächst durch einen oder mehrere Lehraufträge ver-treten zu lassen.1633Doch das Ministerium forderte weiter bis zum 1. April 1949 eine ersteBerufungsliste ein.1634Nun begab sich die Kommission ernsthaft auf die Suche und batwie üblich in den Berufungsverfahren mehrere Kollegen um Kandidatenvorschläge.1635Die angefragten Kollegen brachten verschiedene Namen ins Spiel.1636Einige der genann-ten Herren schieden schon im Vorfeld aufgrund ihrer politischen Vergangenheit aus,364 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt zumindest für diesen Lehrstuhl, dessen war sich die TH Darmstadt bewusst, konnte keinMitläufer vorgeschlagen werden.1637

Obwohl die Landesregierung die Hochschulen aufgefordert hatte, Vorschlagslisten zuerstellen, machte sie sich parallel dazu eigene Gedanken über geeignete Kandidaten. NachÜberlegungen des Ministeriums vom Juni 1949 sollten Eugen Kogon für Frankfurt,Meyer für Marburg und Bergsträsser für Darmstadt vorgesehen werden.1638Der Chef derhessischen Staatskanzlei und SPD-Mitglied, Hermann Brill, hegte jedoch parteipolitischeBedenken gegen diese Vorschläge und schlug stattdessen Ernst Fraenkel für Frankfurtvor, und versuchte für Darmstadt Fritz Eberhard ins Spiel zu bringen.1639Ministerpräsi-dent Stock wiederum wünschte die Berufung seines Parteifreundes Ludwig Bergsträsseran die TH Darmstadt.1640Gegen die Ernennung Bergsträssers sprachen sich jedoch Kul-tusminister Stein1641und das LPA aus.1642

Letztendlich schlug das Kultusministerium der TH Darmstadt am 1. Juli 1949 „in Er-mangelung eines Vorschlages“ den auf dem Berufungsvorschlag der Universität Marburggenannten Ludwig Freund vor, zu diesem Zeitpunkt Professor für Political Science amRoosevelt-College der Universität Chicago.1643Dieses Vorgehen sorgte für Empörungaufseiten der TH Darmstadt, der Kleine Senat verwahrte sich „grundsätzlich gegen eineNennung seitens des Ministeriums“. Doch nicht nur das sorgte für Unmut unter den TH-Professoren, „die Berufung eines emigrierten jüdischen Professors an eine TechnischeHochschule als einziger Vertreter dieses Fachgebietes“ würde nach Ansicht des Senatszu Schwierigkeiten führen.1644Die offenkundige Ablehnung eines jüdischen Professorsfür das Fach der politischen Wissenschaft zeigt, dass auch nach 1945 antisemitische Vor-behalte unter den Darmstädter Professoren bestanden. In den Augen der TH Darmstadtwar es weiter unmöglich, für das neue Fach „ausgerechnet“ einen emigrierten Wissen-schaftler zu berufen. Offensichtlich hatte dieser Vorschlag nun die Kommission wach- 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 365gerüttelt. Zwar bestand man wegen der „ausserordentlich prekären Frage“ weiterhin aufeiner genauen Prüfung, jedoch wurde nun erstmals eine engere Auswahl vorgenommen:dies waren der Historiker Karl Erdmann, Gewerkschaftsführer Viktor Agartz und der Alf-red-Weber-Schüler Hans von Eckhardt.1645Da es jedoch im Kleinen Senat weiterhin Wi-derstände gegen das Fach gab, beschloss man – wohl um eine definitive Entscheidunghinauszuzögern –, dem Ministerium die Liste als „Zwischenbescheid“ und mit der Mit-teilung vorzulegen, dass man die erforderlichen Unterlagen nachreiche und bis zur end-gültigen Berufung Freund für ein halbes oder ein Jahr mit einer Gastprofessur beauftragenwolle.1646Eine solche Liste reichte man schließlich am 18. Juli 1949 mit Karl Erdmannan erster, Hans von Eckhardt an zweiter und Viktor Agartz an dritter Stelle ein. Gleich-zeitig bot man an, den vom Kultusministerium vorgeschlagenen Freund für eine Gastpro-fessur in Darmstadt gewinnen zu wollen.1647

Das Kultusministerium seinerseits ging auf die Liste der Hochschule nicht ein. Esbehauptete stattdessen, der Berufungsvorschlag der Fakultät würde „ungebührlich langeZeit auf sich warten“ lassen und teilte in einem Telefonat vom 31. August 1949 mit, dasses nun beabsichtige, Bergsträsser zu berufen.1648Zu dieser Entscheidung war es allemAnschein nach aufgrund einer Beschwerde Bergsträssers gekommen, woraufhin sich derKultusminister „aus koalitionspolitischen Gründen“ zu Zugeständnissen gezwungen sahund Berufungsverhandlungen mit Bergsträsser aufnahm.1649Die Fakultät für Kultur- undStaatswissenschaften sah sich „mit Rücksicht auf die grundsätzliche Bedeutung der An-gelegenheit“ zu einer vierseitigen Stellungnahme veranlasst.1650Darin hieß es unter an-derem: „Wem an der politischen Erziehung des deutschen Volkes etwas gelegen ist, derwird es nur bedauern, wenn ein Lehrstuhl für politische Wissenschaften [Wissenschaftli-che Politik] auf einer solchen Grundlage ins Leben gerufen wird.“1651Der Rektor derTH Darmstadt leitete diese Beschwerde mit der Anmerkung, dass eine Rechtsgrundlage,wonach das Kultusministerium befugt sei, die Erstbesetzung eines neu geschaffenenLehrstuhls von sich aus ohne Zuziehung der Hochschule vorzunehmen, den hessischen366 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt Hochschulen unbekannt sei.1652Im Laufe von Besprechungen mit MinisterpräsidentStock und Kultusminister Stein am 17. und 27. September 1949 gelang es der Hoch-schule, den Vorschlag Bergsträsser durch eine „eingehende Besprechung der persönli-chen Qualitäten des Herrn Prof. Bergsträsser“ abzuwehren. Neben grundsätzlichen Be-denken gegen ein Vorschlagsrecht der Ministerien trug der Rektor auch Vorbehalte per-sönlicher Art gegen Bergsträsser vor. Zum einen hielt man ihn für zu alt und befürchtete,dass er als Bundestagsabgeordneter keine Zeit haben würde, sich dem Lehrstuhl in erfor-derlicher Weise zu widmen. Zum anderen betrachtete man die Arbeit Bergsträssers an derTH Darmstadt zunehmend kritisch.1653Weiter problematisierte die Hochschulleitung dasaufoktroyierte Errichten der Lehrstühle und die damit verbundene Möglichkeit, die poli-tische Meinung der Studierenden beeinflussen zu wollen. Dabei kam die Studentenschaftzu Hilfe; diese verfasste Mitte September 1949 eine Stellungnahme zu der Errichtungpolitischer Lehrstühle für das Rektorat. Darin verwies sie darauf, dass „das Interesse andiesen Dingen nicht durch Massnahmen geweckt würde, die auch nur den Anschein einesZwanges haben könnten“. Weiter wiesen die Studierenden angesichts der Ereignisse wäh-rend des „Dritten Reiches“ darauf hin, dass alle politischen Pflichtvorlesungen mit Prü-fungszwang abgelehnt würden, und parteipolitische Erwägungen von studentischer Seitenicht erwünscht seien: „Es darf daher auf keinen Fall vorkommen, dass die neuen politi-schen Lehrstühle aus parteipolitischen Erwägungen heraus besetzt werden. Die deutscheStudentenschaft will sich eine eigene freie politische Meinung bilden – frei von jeglichemZwang und dem ‚Muss‘, das unser Vaterland in seine jetzige traurige Lage gebrachthat.“1654Das Kultusministerium verzichtete daraufhin auf die Berufung Bergsträssers.1655Zwar hatte die Kommission mit ihrer Liste vom Juni 1949 bereits einen Vorschlag ge-macht, jedoch stand die Hochschulleitung einer Berufung Erdmanns kritisch gegenüber,da man bezweifelte, dass dieser über die „nötige Erfahrung in der wissenschaftlichen 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 367Lehrtätigkeit“ verfüge, und bat um einen neuen Vorschlag.1656Die Suche nach einem ge-eigneten Kandidaten ging damit in eine nächste Runde. Nachdem eine neue Liste auf sichwarten ließ, machte das Ministerium, das an einer raschen Besetzung der drei hessischenLehrstühle interessiert war, Druck und Kultusminister Erwin Stein schlug nun vor, EugenKogon nach Darmstadt zu berufen.1657Der Kleine Senat hielt Kogon für eine „objektive,parteipolitisch ungebundene Persönlichkeit“ und nahm seine Nennung durchweg positivauf. Daneben fiel Kogons „lebendige und sprühende Vortragsweise“ positiv ins Gewicht;Kogon, so stellten die Darmstädter Professoren fest, könne „ein wertvolles Bindegliedzwischen Hochschule und Öffentlichkeit“ werden.1658Obwohl man angesichts der „star-ken Inanspruchnahme in mehreren Schaffensbreichen“ befürchtete, Kogon würde nichtseine volle Kraft in die Hochschultätigkeit einbringen, stimmte der Kleine Senat der Be-rufung Kogons einstimmig zu, und die TH Darmstadt reichte am 18. Januar 1951 beimKultusministerium eine Vorschlagsliste mit Kogon an erster Stelle ein.1659Einwände sei-tens der Regierung gab es natürlich keine, und am 2. Mai 1951 erfolgte die offizielleBerufung Kogons an die TH Darmstadt.

Die dreijährige Auseinandersetzung des Lehrstuhls spiegelt angesichts der themati-schen Brisanz besonders eindrücklich die unterschwellig vorhandenen Konflikte über dasVorschlagsrecht bei Lehrstuhlbesetzungen wider. Zwar muss die enorme zeitliche Ver-zögerung der Besetzung des Darmstädter Lehrstuhls auch im Kontext der fachlichen Be-sonderheiten und des Wunsches der Landesregierung bewertet werden, die drei hessi-schen Lehrstühle gleichzeitig und unter Berücksichtigung von Parteigesichtspunkten zubesetzen,1660den Kernpunkt des Konflikts stellte jedoch erneut die Frage des Vorschlags-rechts dar.

Die Sonderregelungen blieben in Hessen bis ins Jahr 1950 bestehen. Erst mit dem„Gesetz über die besonderen Rechtsverhältnisse der Lehrer wissenschaftlicher Hochschu-368 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt len“ vom 10. November 1950 war die Emeritierung von Professoren wieder möglich. ImDezember 1950 entspannte sich mit den erfolgten Neuwahlen und dem Ende der GroßenKoalition die Lage für die Hochschulen zusätzlich. Die SPD war nun stärkste Kraft imLandtag. Georg August Zinn von der SPD wurde neuer Ministerpräsident, auf ErwinStein folgte Ludwig Metzger (SPD) als neuer Kultusminister.1661Im Bereich der Hoch-schulpolitik gehörte zu einer der ersten Amtshandlungen – nur fünf Tage nach dem erstenZusammentreten des Kabinetts – die Aufhebung der Bestimmung vom September 1947.Es war dem Kultusminister nun wieder gestattet, Verhandlungen mit den Hochschulenaufzunehmen, ohne vorher den Ministerpräsidenten oder die Landesregierung zu unter-richten.1662Im Zuge der ersten Abschlussgesetze zur Entnazifizierung in Hessen Anfangder 1950er Jahre verlor auch das LPA an Einfluss auf die Berufungsverfahren.1663MitArtikel 131 war ab 1951 auch die Berufung von Mitläufern möglich.

8.3.31952–1953: Systematisch hinausgezögerte Wiederbesetzungen

In den Jahren 1952 und 1953 wurden acht Professoren an die TH Darmstadt berufen.Sechs dieser Neubesetzungen erfolgten auf Lehrstühle, deren Inhaber im Jahr 1949 gegenihren Willen pensioniert statt emeritiert worden waren. Diese Anhäufung von drei Jahreandauernden Berufungsverhandlungen, lässt den Schluss zu, dass die betroffenen Fakul-täten und die Hochschulleitung wegen der Vorgaben der hessischen Landesregierung,Hochschullehrer statt zu emeritieren, bereits mit 65 Jahren zu pensionieren, Neubeset-zungen bewusst verzögerten. Die hessischen Sonderregelungen scheinen nicht nur Hoch-schullehrer davor abgeschreckt zu haben, sich an die TH Darmstadt berufen zu lassen, siewirkten sich auch auf die Bereitschaft der TH Darmstadt aus, durch Pensionierung frei-gewordene Lehrstühle zügig neu zu besetzen. Aus Loyalität den pensionierten Kollegengegenüber, führten die amtierenden Darmstädter Professoren keine Neubesetzungendurch, ehe nicht alles für deren Recht auf Emeritierung versucht worden war.

8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 369

Wie in Kapitel 8.3.2 erläutert, sahen das hessische Kabinett und das LPA in der Son-derstellung der Hochschullehrer unter den Beamten „ein traditionsgebundenes, starresFesthalten an nunmehr überholtem Rechtsgut“.1664Obwohl Kultusminister Stein dieEmeritierung als „wohlerworbenes Recht“ der Professoren grundsätzlich anerkannte, un-terlag er mit seiner Position dem restlichen Kabinett.

An der TH Darmstadt waren insgesamt 14 Professoren von der Pensionierung betrof-fen, da sie zum Zeitpunkt, als diese in Hessen durchgeführt wurde, das 65. Lebensjahrerreichten.1665Ursprünglich war es üblich, dass die betreffenden Personen von sich ausum eine Versetzung in den Ruhestand baten. Nicht selten kam es vor, dass über 70-jährigeProfessoren im aktiven Dienst blieben. Nachdem Hessen die Emeritierung abgeschaffthatte, war jedoch keiner der betroffenen Darmstädter Professoren bereit, einen derartigenAntrag einzureichen. Daraufhin beschloss das hessische Kabinett im Januar 1949, ohneden betreffenden Professoren die Wahl zu lassen, alle über der Altersgrenze von 65 inden Ruhestand zu versetzen. Dies betraf zu diesem Zeitpunkt an der TH Darmstadt dieProfessoren Blaess, Schlink, Punga, Meier, Thum, Rau, Hübener, Reuleaux, Tiedemann,Wagner und Busch.1666Sieben Professoren beschlossen, dagegen Einspruch einzulegen,da sie im Rahmen ihrer Berufungen eine Emeritierung zugesagt bekommen hatten.1667

Die TH Darmstadt und die anderen hessischen Universitäten betrachteten die Aufhe-bung der Emeritierung durch das Hessische Beamtengesetz als nicht rechtmäßig und er-warteten eine baldige Änderung der Gesetzeslage.1668Infolgedessen unterließen es dieDarmstädter Fakultäten, statt wie bei einer Entpflichtung vorgesehen, im Falle einer be-vorstehenden Entpflichtung spätestens zum Ablauf des Semesters Berufungsvorschlägevorzulegen.1669Auch die kontinuierlichen Aufforderungen des Kultusministeriums, Lis-ten einzureichen, halfen nichts.1670Mit Verweis auf Schwierigkeiten bei der Suche nach370 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt einem geeigneten Nachfolger dauerte es oft Monate, nicht selten mehrere Jahre, bis diejeweiligen Kommissionen erste Vorschlagslisten vorlegten.1671Auch wenn schwerlichnachgewiesen werden kann, dass die TH Darmstadt zügiger Kandidatenlisten hätte auf-stellen können, liegt die Vermutung nahe, dass man jene Lehrstühle, die aufgrund vonPensionierungen frei wurden, bewusst und mit dem Ziel, für die ehemaligen Kollegeneinzutreten, frei hielt. Dies wird auch durch einen Vergleich mit den einzigen zwei Neu-besetzungen im Zeitraum 1952/53 deutlich, deren Amtsinhaber nicht von der Pensionie-rung betroffen waren. Die Professoren Vieweg und Neuhaus traten aus eigenem Wunschwegen Wegberufungen aus dem Dienst der TH Darmstadt aus, Vieweg wurde 1951 Prä-sident der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Berlin, der MineralogieprofessorNeuhaus bekam einen Ruf nach Bonn. Hier konnten innerhalb von weniger als einem JahrNachfolger gefunden werden.1672

Nicht zuletzt der außergewöhnliche Fall von Professor Hübener lässt ohne Frage er-kennen, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Eintreten der Kolle-gen für seine Emeritierung und der Neubesetzung des Lehrstuhls gab. Hübener galt imUnterschied zu seinen Altersgenossen zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung aufgrundseines Entnazifizierungsverfahren als entlassen. Wie bereits erwähnt, führte dies in sei-nem Fall zu der besonderen Situation, dass er zunächst erneut berufen werden musste, umemeritiert bzw. pensioniert werden zu können.1673Die TH Darmstadt betrachtete es als„ausserordentlich hart und ungerecht“, dass Hübener damit nicht emeritiert werdenkonnte, und Fakultät und Hochschulleitung beantragten mehrfach, Hübener erneut aufseinen Lehrstuhl zu berufen.1674Während das Kultusministerium dazu bereit war, Hübe-ner im April 1951 zu berufen – zwischenzeitlich hatte es ihm die vollständigen Dienstge-schäfte seines ehemaligen Lehrstuhls übertragen1675–, weigerten sich LPA und das hes- 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 371sische Kabinett, dem Antrag zuzustimmen.1676Der lange Atem der Fakultät und des Rek-tors sollte sich tatsächlich letztlich auszahlen. Die neue Regierung lenkte schließlich einund beschloss am 10. Januar 1952 die Wiederernennung Hübeners mit Wirkung vom 1.März 1952. Nur einen Monat später erfolgte Hübeners Entbindung von den amtlichenPflichten mit vollen Emeritierungsbezügen.

Zwar hatte Hübener über lange Strecken seinen Lehrstuhl selbst vertreten und damitden Fortgang der Lehrstuhlgeschäfte in Teilen gewährleistet, auf dem Papier war derLehrstuhl für Fördertechnik und Lasthebemaschinen jedoch seit seiner Entlassung 1945unbesetzt. Obwohl die TH Darmstadt dem Kultusministerium versicherte, dass man mit„rastlosen Bemühungen“ alles für die Wiederbesetzung des Lehrstuhls unternehme, je-doch kein geeigneter Nachfolger gefunden werden könne,1677sollte es aufgrund der be-sonderen Umstände acht Jahre dauern, bis eine erste Berufungsliste für seine Nachfolgevorlag.1678Erst Ende 1953 folgte Kurt Mayer auf das Maschinenbauordinariat.

Kultusminister Stein, der wie berichtet, die Pensionierung von Professoren ebenfallsnicht guthieß, und sein Nachfolger Ludwig Metzger unterstützten die TH Darmstadt inihrem Anliegen, den ehemaligen Kollegen zu ihrer Emeritierung zu verhelfen. In Abspra-che mit dem Kultusministerium versorgten die betroffenen Fakultäten ihre Kollegen mitLehraufträgen, die so dotiert waren, dass die Vergütung die Differenz zu den Bezügenvor der Entpflichtung ausglich.1679Die Professoren bekamen neben den Lehraufträgen,die bis zur Neubesetzung immer wieder verlängert wurden, außerdem die kommissari-sche Wahrnehmung der Lehrstühle übertragen.1680Bis auf das fehlende Unterrichtsgeldwaren sie damit finanziell weitgehend ihren emeritierten Kollegen gleichgestellt. Aufdiese Weise verfuhr die TH Darmstadt mit allen Professoren, die zu diesem Zeitpunkt dieAltersgrenze erreichten und von dem Erlass des hessischen Kabinetts betroffen waren.1681Für die Ausgleichszahlungen an die pensionierten Professoren verwendete man die Gel-der aus den weiterhin „unbesetzten“ Lehrstühlen und, wie es scheint, ließen sich die Fa-kultäten nicht zuletzt aus Solidarität mit den betroffenen Kollegen mit Neubesetzungenvon Lehrstühlen Zeit. Da die Berufungsbedingungen ohnehin schwierig waren, fehlte esnicht an Begründungsmöglichkeiten. So beteuerte die Fakultät für Bauingenieurwesen372 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt gegenüber dem Kultusministerium seit 1948, dass Berufungsvorschläge für den pensio-nierten Reuleaux aus den verschiedensten Gründen nicht abschließend möglich gewesenseien, um eine weitere Verlängerung seines Lehrauftrages begründen zu können.1682ImApril 1950 jedoch legte das Rechnungsprüfungsamt Darmstadt ein Veto gegen diese Ver-fahrensweise der TH Darmstadt ein, und forderte bereits ausgezahlte Gehaltszahlungenin Höhe des Unterschiedsbetrages von Ruhegehalt und bisherigen Dienstbezügen zurück.Damit wurde das Arrangement der TH Darmstadt unmöglich gemacht.1683Im selben Mo-nat noch entschloss sich Professor Reuleaux, Klage beim Verwaltungsgericht Darmstadtgegen seine Inruhestandsversetzung einzureichen. Diese blieb jedoch ohne Wirkung, dadas Ministerium eine grundsätzliche Neuregelung der Ruhestandsregelung von Hoch-schullehrern in Aussicht stellte.1684Zu einer solchen Neuregelung kam es im November1950. Mit Wirkung vom 1. April 1950 trat das „Gesetz über die besonderen Rechtsver-hältnisse der Lehrer an den wissenschaftlichen Hochschulen vom 10. November 1950“in Kraft. Nun wurden auch in Hessen Professoren wieder emeritiert und nicht pensioniert.Auch die Altersgrenze setzte man wieder auf 68 Jahre fest. Da die Professoren Busch undWilhelm Wagner dieses Alter noch nicht erreicht hatten, beantragten die Fakultäten fürElektrotechnik und Chemie, beide wieder in ihre Ämter zurückzuberufen, wohl um denKollegen die Unterrichtsgelder auszahlen zu können.1685Auch die Hochschulleitungsetzte sich für die Anträge ein. Letztlich, so die TH-Leitung, müsse eine solche Lösungja auch im Sinne des Kultusministeriums sein, da dadurch „die Zahl der z. Zt. unbesetztenLehrstühle, deren verhältnismässig hohe Anzahl in der letzten Zeit in der Öffentlichkeitverschiedentlich, u. a. auch vom Herrn Kultusminister selbst, als ein Missstand bezeich-net wurde“, wieder als besetzt erscheinen würden.1686Das Kultusministerium lehnte dieAnträge ab, da eine Reaktivierung nicht vorgesehen war.1687Wagner und Busch durftenihre Lehrstühle wie bisher kommissarisch betreuen, mussten aber weiterhin auf die Un-terrichtsgelder verzichten. Ebenso lehnte das Finanzministerium einen Antrag derTH Darmstadt ab, den Professoren die Differenz zwischen den Kolleggeldeinnahmen undden ihnen früher zustehenden Unterrichtsgeldgarantien auszuzahlen.1688Es gelang derTH Darmstadt demnach also nicht, eine völlige Gleichstellung der ehemals pensionierten, 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 373nun emeritierten Professoren mit den restlichen Kollegen herzustellen. Dies machte sichspäter im Fall von Geologieprofessor Wilhelm Wagner auf geradezu absurde Art undWeise erneut bemerkbar: Im Jahr 1954 beantragte die TH Darmstadt eine Ehrung seiner50-jährigen Dienstzeit. Diese Ehrung verweigerte ihm jedoch das Ministerium aufgrundder Ruhestandsversetzung im Jahr 1949. Das Ministerium sah sich lediglich dazu in derLage, Wagner für sein im Jahr 1949 erreichtes 40-jähriges Jubiläum1689nachträglich eineEhrengabe von 100 DM zu überreichen.1690Trotzdem war es der TH Darmstadt gelungen,mit Wissen und Unterstützung des Kultusministers die Vorgaben von Kabinett und LPAzu umgehen. Obwohl damit ausgerechnet vonseiten des Kultusministeriums auch dieVerzögerung von Neuberufungen in Kauf genommen wurde, hatten sich die Wogen imKonflikt um das Vorschlagsrecht keinesfalls geglättet. Denn sobald von der TH Darm-stadt erst einmal Berufungslisten vorlagen, ging es, ähnlich wie in Phase 2, erneut umSicherstellung und Demonstration von Mitwirkungsrechten.1691Das Kultusministeriumnahm in den Jahren 1952/53 gegenüber der TH Darmstadt demnach eine etwas eigentüm-liche Doppelrolle ein.

8.3.41954–1960: Normalisierung der Berufungsverfahren?

Es stellt sich die Frage, wie die Berufungsverhandlungen abliefen, nachdem die Entnazi-fizierungsverfahren beendet waren und die neue Landesregierung die umstrittenen hessi-schen Sonderregelungen rückgängig gemacht hatte. Wichtigster Anhaltspunkt ist diesbe-züglich wie zuvor die Dauer der Verfahren. Hier lässt sich für die insgesamt 34 Neube-rufungen zwischen 1954 und 1960 feststellen, dass sie weniger Zeit in Anspruch nahmenals in der Phase zuvor. Im Schnitt dauerte eine Neubesetzung nun zwischen 12 und374 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt 14 Monaten, bei 14 Neubesetzungen dauerte das Verfahren sogar unter einem Jahr.Ausschlaggebend war dafür in erster Linie die Wiederherstellung der Handlungsmöglich-keiten des Kultusministeriums, da nun das Kabinett nicht mehr angehört werden musste.Zudem wurde mit dem Ende der Entnazifizierungsverfahren der Einfluss des LPA zu-rückgenommen. Dies hatte für die Berufungsverhandlungen zwischen Kultusministeriumund TH Darmstadt spürbare Folgen: Zwar mussten bis Ende der 1950er Jahre bei derBerufung auch Parteimitgliedschaften und das Spruchkammerergebnis angegeben wer-den, jedoch wurden nach 1954 keine Listen mehr deswegen zurückgereicht.1692Währenddie politische Vergangenheit nach 1954 nicht mehr für Konflikte zwischen Kultusminis-terium und TH Darmstadt sorgte, stellten die Berufungsverhandlungen in dieser Zeit auseinem anderen Grund eine Herausforderung dar: Zwischen 1954 und 1960 wurden nichtweniger als 34 Professoren an die TH Darmstadt berufen. Für einen Zeitraum von nursechs Jahren war diese Anzahl beachtlich, niemals zuvor fanden in so kurzem Zeitraumderart viele Berufungen an die TH Darmstadt statt. Diese Situation brachte – insbesonderewegen des Wirtschaftswachstums – neue Hindernisse mit sich, angesehene Wissenschaft-ler zu berufen, die auch Industrie-Erfahrung hatten.

Die besonders hohe Zahl der Neuberufenen lässt sich, neben den regulär zustandegekommenen personellen Grundbewegungen infolge von Wegberufungen, Tod oderEmeritierung der Lehrstuhlinhaber, auf die große Anzahl im Rahmen von Fächererwei-terungen und höheren Studierendenzahlen neu eingerichteter Lehrstühle zurückführen.Wie Abbildung 9 zeigt, hing die große Zahl der Neuberufungen auch mit im Studienjahr1953/54 weiterhin unbesetzten Lehrstühlen zusammen, die erst nach 1954 allmählich ab-gebaut werden konnte. Allein 12 der Neuberufungen – damit mehr als ein Drittel – er-folgten auf neu eingerichtete Lehrstühle.1693

8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 375FakultätGesamtzahlder Lehr-stühle

1953/54

Davon unbe-setzte Lehr-stühle

1953/54

Gesamtzahlder Lehr-stühle

1960/61

Davon un-besetzte

Lehrstühle

1960/61

Architektur819–

Bauingenieurwesen6172

Maschinenbau9412–

Elektrotechnik5–7–

Chemie145142

Mathematik und

Physik

9110–

Kultur- und Staats-wissenschaften

527–

Gesamtzahl5614664

Abbildung 9: Unbesetzte Lehrstühle im Jahr 1953/54 und 1960/61 im Vergleich1694Für die hohe Zahl neu eingerichteter Lehrstühle wiederum gab es gleich mehrere Gründe:Durch den Wegfall der Forschungsverbote im Jahr 1955 konnten die Ordinariate für Luft-fahrt und Kernphysik reaktiviert werden. Außerdem wurden aufgrund der erhöhten Stu-dierendenzahl für die Fächer Wärmekraft- und Wärmearbeitsmaschinen, organische Che-mie und Betriebswirtschaftslehre drei Parallellehrstühle eingerichtet.1695Weitere dreiLehrstühle gingen auf Maßnahmen des Bundes zur Integrierung der „131er“ an derTH Darmstadt zurück. Neben diesen vom Bund finanziell getragenen Maßnahmen zurUnterbringung von 1945 entlassenen Hochschullehrern, die zur Einrichtung von Lehr-stühlen an der TH Darmstadt führten, entstanden weitere Lehrstühle – wie zu anderenZeiten auch –, da fachliche Weiterentwicklungen die Errichtung neuer Lehrstühle erfor-derten. Die Fakultät für Elektrotechnik gründete als erste in Deutschland einen Lehrstuhlfür Regelungstechnik, der 1957 mit Winfried Oppelt besetzt werden konnte. In der Fa-kultät für Maschinenbau wurde, auf Initiative und mit finanzieller Unterstützung der In-dustrie, ein Lehrstuhl für Druckmaschinen und Druckverfahren eingerichtet und mitWolfram Eschenbach besetzt. Weiter konnte 1960 der im Jahr 1951 eingerichtete Lehr-stuhl und seit 1957 mit einem Lehrauftrag versehene Lehrstuhl für Silikatchemie mitErich Wölfel besetzt werden. Ein weiterer Lehrstuhl wurde eigens für den während derEntnazifizierung entlassenen Professor Rudolf Geil 1958 an der Fakultät für Architekturerrichtet.

376 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt Maßnahmen des Bundes zur Unterbringung von „131ern“ an der TH Darmstadt

Der Bund sah sich insbesondere gegenüber den vielen nach 1945 in den Ostgebieten ent-lassenen Hochschullehrern in der Pflicht und bemühte sich um deren bevorzugte Anstel-lung an den Hochschulen.1696Die Maßnahmen des Bundes zur Unterbringung der soge-nannten „131er“ blieben nicht ohne Folgen für die TH Darmstadt. Im Zuge dieserAnstrengungen wurde auch an der TH Darmstadt ein für „amtsverdrängte“ Professorenzuständiger Vetreter eingeführt. Dieser hatte die Aufgabe, sich bei geplanten Berufungs-vorschlägen für die Nennung von „amtsverdrängten“ Fachvertretern einzusetzen. An derTH Darmstadt übernahm das Amt der 1949 berufene Professor für Mechanik, Karl Karas,der bis 1945 an der TH Prag gelehrt hatte.1697Wie genau die Zusammenarbeit zwischenKaras und den Fakultäten aussah, geht aus den Akten nicht hervor. Jedoch ist sein Ein-fluss auf die Berufungskommissionen eher gering einzuschätzen. In den Berufungsvor-schlägen wurde in der Regel lediglich formelhaft darauf hingewiesen, dass man die ver-schiedenen vom Bund übermittelten Listen der „Amtsverdrängten“ berücksichtigt habe,jedoch keiner der aufgelisteten Wissenschaftler den Ansprüchen der TH Darmstadt ge-nüge.1698Diese fachbezogenen Argumente konnte das Kultusministerium schlecht über-prüfen, es bestand jedoch zumindest formell bei allen Berufungen auf der Berücksichti-gung der „Amtsverdrängten“. Nachdem alle Aufforderungen, bei Lehrstuhlbesetzungenvermehrt auf amtsverdrängte Hochschullehrer zurückzugreifen, nicht zum gewünschtenErgebnis geführt hatten, bildete Artikel 131 des Grundgesetzes den Ausgangspunkt fürweitere Maßnahmen des Bundes. Eine im April 1951 eingerichtete Bundesausgleichstelle(BAST) regelte als eine dem Bundesministerium des Innern angegliederte Stelle auch dieVerhältnisse der betroffenen Hochschullehrer. Während diese Stelle als Anlaufstelle fürBetroffene fungierte, setzte sich für die Integration von 1945 aus dem Staatsdienst entlas-senen Professoren an den Hochschulen und Universitäten als effektivstes Instrument diesogenannte k.w.-Professur durch. Sie war personengebunden, das heißt, sie wurde füreine ausgewählte Person eingerichtet und sollte nach deren Amtszeit gestrichen werden, 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 377daher wurde sie als „künftig wegfallend“ bezeichnet. Da diese Stellen unabhängig vonden bereits vorhandenen Lehrstellen eingerichtet und vom Bund finanziert wurden, zeig-ten sich die Hochschulen und Universitäten nun weitaus kooperativer. Auch die Einfüh-rung von Pflichtanteilen, die die einzelnen Länder zu erfüllen hatten – Hessen hatte einensolchen von 20 Prozent –, führten zum gewünschten Erfolg.1699Grundsätzlich hatten Uni-versitäten und Hochschulen die Möglichkeit, k.w.-Stellen bei ihren Landesregierungenzu beantragen.1700Die TH Darmstadt beantragte bis 1960 insgesamt sechs solcher Lehr-stühle.1701Drei Anträge wurden bewilligt und die entsprechenden Lehrstühle eingerichtet.Der im Jahr 1950 gestrichene Lehrstuhl für Meteorologie wurde im Jahr 1954 als soge-nannte k.w.-Professur erneut eingerichtet und mit Harald Koschmieder besetzt. Im Jahr1955 bekamen Hellmuth Rössler eine k.w.-Professur für Neuere Geschichte sowie OttoKirschmer eine k.w.-Professur für Wasserbau und Hydromechanik übertragen. Statt wievorgesehen, fielen die Lehrstühle nicht mit dem Ausscheiden der Amtsinhaber weg, alledrei wurden zur Freude der TH Darmstadt in etatmäßig vorgesehene Planstellen umge-wandelt.1702

Ebenfalls mit dem Ziel der Unterbringung von „131ern“ ermöglichten Bund und Län-der die Emeritierung von Professoren, die nach 1945 nicht wieder in den Staatsdiensteingetreten waren, an anderen Universitäten und Hochschulen als ihren letzten Wirkungs-stätten. Auf Antrag der Fakultät für Architektur emeritierte die TH Darmstadt auf dieseWeise im November 1958 den Architekten Heyer Hans August Soeder.1703Zeitgleich mitSoeder emeritierte die Fakultät auch den ehemaligen Architekturprofessor der TH Dan-378 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt zig, Hermann Phlebs.1704Im Jahr 1956 wurde außerdem Ludwig Schiller von der Fakultätfür Mathematik und Physik der Status eines emeritierten Hochschullehrers der TH Darm-stadt zuerkannt.1705Auch der aus politischen Gründen 1945 von der Universität Berlinentlassene Historiker Wilhelm Schüßler wurde im Jahr 1959 auf diese Weise an derTH Darmstadt emeritiert.1706Als Einziger von den vier Fällen war Schüßler nicht nur vonda an im Vorlesungsverzeichnis aufgeführt, er bot darüber hinaus tatsächlich auch Ver-anstaltungen an der Fakultät für Staats- und Kulturwissenschaften an.1707Dass die Beset-zungen der k.w.-Lehrstühle anderen Standards folgten, als Besetzungen planmäßigerStellen, zeigt die Berufung von Hellmuth Rössler.1708Wie alle reichsdeutschen Professo-ren war Rössler 1945 von der Universität Wien entlassen worden und seitdem ohne Amt.Sein Interesse an einem neuen Lehrstuhl war im Jahr 1949 dementsprechend sehr hochund deutlich spürbar. Rössler zeigte besonderes Engagement bei den Berufungsverhand-lungen, nicht nur fragte er kontinuierlich bei der Fakultät für Kultur- und Staatswissen-schaften nach dem Stand der Dinge, er setzte sich darüber hinaus eigenständig mit demhessischen Kultusministerium in Verbindung und führte Gespräche über die Möglichkeiteiner Berufung nach Darmstadt.1709Doch die Berufung auf den Lehrstuhl für Wissen-schaftliche Politik scheiterte an seiner politischen Vergangenheit: Rössler war als Mit-glied der SA seit 1933 und Parteimitglied seit 1940 zunächst in die Gruppe der Mitläufer,später als Entlasteter eingestuft worden.1710Dennoch verfolgte er weiter den Plan, an die 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 379TH Darmstadt berufen zu werden. So führte er mit dem Kultusministerium einen Brief-wechsel über die Einrichtung eines historischen Ordinariats an der TH Darmstadt. Diesscheiterte zunächst aus Mangel an Mitteln. Nachdem er als sogenannter „131er“ einge-stuft worden war, schlug Rössler, der bestens über die k.w.-Professuren im Bilde war,zunächst dem Kultusministerium1711und später der Fakultät die Einrichtung eines Ordi-nariats für Geschichte vor und brachte sich mithilfe der personengebundenen Einrichtungund Besetzung geschickt als einzigen Kandidaten ins Gespräch.1712Seine Idee einer k.w.-Professur kam sowohl der Fakultät, wo Geschichte bisher mit einer Diätendozentur ver-treten war, als auch dem Ministerium, das die Möglichkeit nutzen konnte, diese nun inein vom Bund finanziertes Ordinariat umzuwandeln, sehr gelegen. Im Juli 1954 über-nahm Hellmuth Rössler die kommissarische Vertretung des neu eingerichteten Extraor-dinariats, im April 1955 erfolgte seine Ernennung zum Professor.1713

Finanzielle Grenzen bei Neuberufungen

Die enorm hohe Anzahl der ausstehenden Neubesetzungen an der TH Darmstadt im Zeit-raum zwischen 1954 und 1960 brachte deutlich spürbar auch finanzielle Schwierigkeitenmit sich. Aus der Gesamtschau der Unterlagen zu den Berufungen ergibt sich das Bild,dass das Kultusministerium auf Druck des Finanzministeriums dazu geneigt war, jeneKandidaten der Liste zu bevorzugen, die aufgrund ihres Alters, der Positionen und An-sprüche geringere Ausgaben nach sich ziehen würden. Nicht immer waren dies die erst-genannten Wunschkandidaten der TH Darmstadt. Wie aus den die Vorschlagslisten kom-mentierenden Notizen der Ministerialbeamten hervorgeht, tendierte das Ministeriumhäufig – unabhängig von der Listenreihenfolge der TH-Vorschläge – zu den jüngerenKandidaten. So berief das Kultusministerium auf den infolge der Emeritierung von Pro-fessor Stocker frei gewordenen Lehrstuhl für Zoologie den mit Abstand jüngsten, zweit-genannten Kandidaten Hubert Ziegler.1714Ähnlich ging es bei der Wiederbesetzung des380 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt Ordinariats für Geologie und technische Gesteinskunde vor. Nach der Emeritierung vonWilhelm Wagner hatte die Fakultät eine Liste mit Privatdozent Georg Knetsch von derUniversität Köln an erster Stelle, gefolgt vom Frankfurter Privatdozenten Gerhard Solleund an dritter Stelle Ernst Ackermann von der Universität Göttingen eingereicht.1715Auchhier entschied sich das Ministerium für den Zweitgenannten, den Frankfurter Privatdo-zenten Gerhard Solle. Nicht nur, da dieser jünger war, sondern auch, da man annahm, denan erster Stelle genannten Knetsch – dieser war stärker mit wissenschaftlichen Veröffent-lichungen hervorgetreten und weitgehend im Ausland tätig –, werde man unter den gege-benen Bedingungen nicht für Darmstadt gewinnen können.1716Bei dem mit dem Wegfallder Forschungsverbote an der TH Darmstadt Mitte der 1950er Jahre reaktivierten Ordi-nariat für Technische Kernphysik beschloss das Kultusministerium aus den gleichenGründen den Letztplatzierten zu berufen. Die Kommission der TH Darmstadt hatte imJuni 1956 einen Vorschlag mit Wilhelm Walcher, Ordinarius für Physik und Direktor desPhysikalischen Instituts der Universität Marburg, an erster, Otto Haxel, Ordinarius derUniversität Heidelberg an zweiter und Peter Brix, Privatdozent und Oberassistent amPhysikalischen Institut der Universität Heidelberg, an dritter Stelle eingereicht.1717Ange-sichts der Tatsache, dass sowohl das Institut von Walcher als auch das von Haxel besserausgestattet waren als in Darmstadt, nahm das Kultusministerium sogleich mit Brix, deraußerdem mit Abstand der Jüngste auf der Vorschlagsliste war, Berufungsverhandlungenauf.1718Da man wohl bereits mit der Empörung der Fakultät über die damit nicht ein-gehaltene Listenreihenfolge rechnete, äußerte der bearbeitende Ministerialbeamte Beden-ken gegen die Berufung des Drittgenannten,1719woraufhin die Leiterin der Hochschul-abteilung Helene von Bila ihrem Mitarbeiter mitteilte: Der „Minister hat indessen dasWahlrecht im Rahmen der Vorschlagsliste – zumindest das Wahlrecht!!!“1720Während indiesem Fall die Entscheidung des Ministeriums kein Insistieren der Fakultät für Mathe-matik und Physik zur Folge hatte, blieben derartige Reaktionen in anderen Fällen, wiebeispielsweise bei der Besetzung des Geologieordinariats, bei der der Wunschkandidatunberücksichtigt blieb, in der Tat nicht aus.1721

8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 381

Das Finanzministerium legte darüber hinaus auf weitere Faktoren wert. Bei der Be-setzung des Lehrstuhls für Geodäsie zeigte es angesichts einer möglichen Wiedereinfüh-rung des kostenintensiven geodätischen Vollstudiums besonders reges Interesse an derAuswahl der Kandidaten. Nach Eingang der Vorschlagsliste der Fakultät drängte der Re-gierungsdirektor des Finanzministeriums das Kultusministerium dazu, Gutachten bei derDeutschen Geodätischen Kommission anzufordern, um Informationen über die Wünscheder vorgeschlagenen Persönlichkeiten einzuholen.1722Aufgrund dieser Gutachten ent-schied man sich schließlich gegen den Erstgenannten, der die Wiedereinführung einesVollstudiums für Geodäsie in Darmstadt anstrebte, und stattdessen für den Zweitplatzier-ten wegen dessen „bescheidenen und ruhigen Charakters“.1723

Doch selbst wenn das Kultusministerium mit Wunschkandidaten der TH Darmstadtin Verhandlungen trat, entschieden sich nicht wenige der vorgeschlagenen Kandidatenaufgrund der höheren Gehälter für Beschäftigungen in der freien Wirtschaft. So stellteder Rektor der TH Darmstadt bereits 1952 fest: „Eine ausserordentliche, ja sogar eineordentliche planmässige Professur erscheint vielen hervorragenden Fachvertretern nichtmehr als lohnendes Berufsziel. Wissenschaftlich befähigte Persönlichkeiten wenden sichvorzeitig der freien Wirtschaft zu und können nachträglich nicht mehr für die Hochschulezurückgewonnen werden.“1724Diese Erkenntnis sollte sich in den folgenden Jahren ineinigen Fällen bewahrheiten. Nicht selten kam es außerdem vor, dass Berufungsverhand-lungen bereits mehrere Monate andauerten, bis die Kandidaten sich zuletzt doch dagegenentschieden, ihre Positionen in der Industrie aufzugeben, wie im Rahmen der Neubeset-zung der nach dem plötzlichen Tod von Professor Reinhold im Jahr 1955 frei gewordenenProfessur für Straßen- und Stadtbauwesen. Das Ministerium verhandelte mit dem Erstge-nannten, der jedoch eine wesentlich besser bezahlte Position in der Industrie innehatteund sich schließlich nach fast einem Jahr Berufungsverhandlungen dazu entschied, denRuf an die TH Darmstadt abzulehnen.1725Dies zeigt, wie es angesichts des Wirtschafts-wachstums und der steigenden Gehälter für die TH Darmstadt schwieriger wurde, Per-sönlichkeiten aus der Industrie zu gewinnen.

Aufgrund der Fülle an ausstehenden Neubesetzungen ging das Finanzministeriumdazu über, von der TH Darmstadt Stellungnahmen über die Bedeutung der jeweiligenLehrstühle einzuholen, um absehen zu können, wann „für deren Vertretung nur besonders382 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt qualifizierte Hochschullehrer in Betracht kamen, die also erfahrungsgemäß nur unter Zu-billigung überdurchschnittlicher Bezüge gewonnen werden könne“.1726Trotzdem kam esselbst bei für die TH Darmstadt zentralen Lehrstuhlbesetzungen, wie dem Ordinariat fürWerkstoffkunde, zu ähnlichen Problemen. Nachdem der weltweit anerkannte AugustThum 1951 emeritiert worden war, bemühte sich die Fakultät für Maschinenbau, einengeeigneten Nachfolger zu finden. Wunschkandidat für den Lehrstuhl war Herbert Buch-holz, Geschäftsführer der Gesellschaft für Stahl- und Röhrenforschung in Huckingen beiDuisburg. An zweiter Stelle nannte die Kommission den Geschäftsführer der Forschungs-gesellschaft Blechverarbeitung in Düsseldorf, Heinrich Wiegand. An dritter Stelle führteman zwei Wissenschaftler an, zum einen Professor Hans Bühler vom Institut für Metall-forschung von der Universität des Saarlandes und zum anderen Wilhelm Ruttmann, wis-senschaftlicher Mitarbeiter der Farbwerke Bayer in Leverkusen.1727Da jedoch nach Be-rechnungen des Finanzministeriums für die Besetzung der vakanten Ordinariate lediglich8.883 DM zur Verfügung standen, erwiesen sich die Verhandlungen mit Buchholz, derfür seine Industrietätigkeit ein Jahresgrundgehalt von 30.000 DM bezog, als problema-tisch.1728Ministerialbeamtin von Bila notierte zu dem Vorgang: „Es ist unmöglich, Wis-senschaftler von Ruf allein mit diesen zur Verfügung stehenden Mitteln für die TH Darm-stadt zu gewinnen, [...].“1729Obwohl das Finanzministerium während der mehr als einJahr dauernden Berufungsverhandlungen bereit war, Buchholz entgegenzukommen,lehnte er im Mai 1953 den Ruf ab.1730Kurze Zeit später kamen Verhandlungen mit demZweitgenannten, Heinrich Wiegand zu einem positiven Abschluss.

Auch die Suche nach einer geeigneten Persönlichkeit für die Weiterführung der an derTH Darmstadt traditionsreichen Luftfahrtforschung gestaltete sich über mehrere Jahre äu-ßerst problematisch, bis durch einen Zufall im Oktober 1954 die Besetzung mit GüntherBock – bis 1945 Direktor der DVL, auch in der Nachkriegszeit zählte er zu den führendendeutschen Luftfahrtwissenschaftlern – gelang.1731Mit der Suche nach Kandidaten hattedie TH Darmstadt in Erwartung der Aufhebung des Forschungsverbotes bereits Anfangder 1950er Jahre begonnen. Als besonders schwierig stellte sich dabei heraus, dass sichnahezu zeitgleich zu den Darmstädter Bemühungen auch die anderen Universitäten undHochschulen auf die Suche nach einer geeigneten Persönlichkeit begaben. Hinzu kam, 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 383dass führende Luftfahrtwissenschaftler infolge des Forschungsverbotes meist ins Auslandabgewandert waren. Da seit Mesmers Weggang in die USA die Luftfahrtforschung an derTH Darmstadt zu stagnieren drohte, seit 1951 jedoch bereits wieder im Bereich des Se-gelflugs geforscht und gelehrt werden konnte, hatte die Fakultät für Maschinenbau, umden Anschluss an die anderen Hochschulen und Universitäten nicht zu verlieren, im Som-mer 1951 Hans Fingado mit der kommissarischen Wahrnehmung des Ordinariats für Hö-here Mechanik und Festigkeitslehre beauftragt.1732Im Mai 1953 reichte die Berufungs-kommission eine erste Vorschlagsliste für die geplante Umwandlung in ein Ordinariat fürLuftfahrtforschung ein. An erster Stelle nannte die Kommission Herbert Wagner, früheran der TH Danzig und Berlin, gefolgt von Hans Fingado, dem kommissarischen Vertreterdes Lehrstuhls, und an dritter Stelle Friedrich Fecher, Abteilungsleiter bei der BadischenAnilin- und Sodafabrik sowie August Quick, Abteilungsleiter der Société Voisin inFrankreich.1733Während die Fakultät den Lehrstuhl für Luftfahrtforschung mit einem an-erkannten Wissenschaftler besetzen wollte, bezweifelte das Kultusministerium, dass diesim Darmstädter Rahmen möglich sei.1734Eine Neuberufung auf den Lehrstuhl für Luft-fahrtforschung war demnach mit weit mehr als „nur“ einer Personalentscheidung verbun-den. Im Zuge der Besetzung mussten sich Kultusministerium, Finanzministerium undTH Darmstadt im Kontext des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Bun-desverkehrsministerium initiierten Schwerpunktprogramms damit auseinandersetzen,wie die Luftfahrtforschung an der TH Darmstadt nach 1945 weitergeführt werden sollte.Um ihren Standpunkt deutlich zu machen, hatte die Fakultät für Maschinenbau bereits1952 ein Memorandum über die „Luftfahrttechnik an der T.H. Darmstadt“ an das Kultus-ministerium gesandt.1735Darin verzichtete die TH Darmstadt auf die Einrichtung eineseigenen Instituts für Luftfahrt und plante stattdessen die Anknüpfung eines einzelnen384 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt Lehrstuhls an die Fakultät für Maschinenbau, welcher, mit Hinweis auf den im Gegensatzzum Rest der Republik erhaltenen Windkanal und die langjährige Darmstädter Tradition,mit einem führenden Wissenschaftler besetzt werden sollte. Obwohl nun auch das Kul-tusministerium bereit war, mit den Wunschkandidaten der TH Darmstadt Berufungsver-handlungen zu führen, sollte sich schnell zeigen, dass sich die Bedenken des Kultusmi-nisteriums unter diesen Voraussetzungen bewahrheiten sollten. Herbert Wagner lehnteden Ruf ab, da er seine Stellung in Amerika nicht aufgeben wollte.1736Ebenso lehnten deran zweiter Stelle genannte Hans Fingado und der an vierter Stelle genannte Fecher einenRuf nach Darmstadt aufgrund der geringen Personal- und Sachmittel ab.1737Nach diesenAbsagen forderte das Ministerium Ende Juli 1954 eine neue Vorschlagsliste von derTH Darmstadt.1738Genau zu diesem Zeitpunkt hielt sich Günther Bock, der nur wenigeTage zuvor mit seiner Familie von Pirna/DDR nach Westberlin geflohen war, im Rhein-Main-Gebiet auf.1739Bock war im Mai 1945 in Berlin-Adlershof verhaftet und zum zent-ralen Aero-Hydrodynamischen Institut (ZAGI) bei Moskau gebracht worden. Seit Augusthielt sich Bock mit seiner Familie in einem Notaufnahmelager in Gießen auf. Zur gleichenZeit stand er im Kontakt mit der TH Darmstadt wegen einer möglichen Berufung. Bockwar „sehr interessiert“ an einer Berufung nach Darmstadt, da hier einer der wenigen er-haltenen Windkanäle im Nachkriegsdeutschland vorhanden war und damit optimale For-schungsbedingungen gegeben waren.1740Dass er im Jahr 1937 an der TH Darmstadt pro-moviert hatte, wird nicht zuletzt eine Rolle dabei gespielt haben, dass sich Bock ausge-rechnet für Darmstadt entschied.1741Die TH Darmstadt erweiterte kurzerhand die bereitseingereichte Liste um Bocks Namen und bat um seine Berufung.1742Angesichts der Mög-lichkeit, mit Bock einen hervorragenden und international anerkannten Fachmann beru-fen zu können, waren sich auch das hessische Kultus- und Finanzministerium schnelleinig, und Bock wurde noch im September 1954, weniger als zwei Monate nach seinemplötzlichen Auftauchen, mit der kommissarischen Wahrnehmung der Lehrstuhlgeschäfte 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 385beauftragt.1743Bei keiner Berufung zwischen 1945 und 1960 erfolgte der Abschluss derVerhandlungen derart schnell und nahezu unproblematisch wie bei Günther Bock.1744

Die Rolle der Rektoren bei Berufungen

Wie die beschriebenen Fälle zeigen, war Wiesbaden bei Berufungen bereit, für Lehr-stühle, die von zentraler Bedeutung für das Profil der TH Darmstadt und darüber hinausauch der Entwicklung des Landes Hessens zuträglich waren, größere Mittel zur Verfü-gung zu stellen. In Gesprächen mit den Ministerien verhandelte der amtierende Rektorüber die verschiedenen „Dringlichkeitsstufen“ der Lehrstühle.1745Wie aus einer Notiz desKultusministeriums hervorgeht, konnte man beim Finanzministerium „eher Zustimmungfinden, wenn gleichzeitig bei weniger entscheidenden Fachgebieten durch RückstufungEntgegenkommen gezeigt wird“.1746Diese Rückstufungen, die der Rektor nicht seltenohne das Wissen der betroffenen Fakultäten beschloss, führten zu Spannungen innerhalbder Hochschule. So meldete die TH Darmstadt für das Jahr 1954 in „besonders wichtigen“Fachdisziplinen sechs neue Planstellen an. Gleichzeitig hatte der Rektor entschieden, dasneu zu besetzende Ordinariat für Geologie in ein Extraordinariat zurückzustufen. Offen-sichtlich hatte der Rektor die Fakultät darüber nicht informiert, denn als diese im Rahmender Berufungsverhandlungen des Kultusministeriums mit Gerhard Solle davon erfuhr, er-hob sie sogleich empört Einspruch beim Ministerium gegen die Entscheidung. Dort wun-derte man sich über die Empörung der Fakultät, da die Rückstufung mit der Hochschul-leitung abgesprochen worden war.1747Auf die Kritik der Fakultät für Chemie, dass sichdas Ministerium nicht an die Listenreihenfolge des Vorschlags gehalten hatte und somitder Wunschkandidaten übergangen worden war, stellte das Kultusministerium klar, dasses sich dabei nicht um eine „ungewöhnliche Maßnahme“ gehandelt habe. Es wies darüberhinaus die dahinterstehende Erwartung ab, dass „grundsätzlich Rückfragen im Falle des386 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt Abweichens von der Reihenfolge an die Hochschule zu richten seien“. Das Ministeriumnahm die Reaktion der Fakultät zum Anlass, die TH Darmstadt explizit schriftlich darumzu bitten, „in Zukunft bei der Vorlage von Berufungsvorschlägen die zusätzlich aufge-nommene Bitte, mit dem an 1. Stelle Genannten in Berufungsverhandlungen einzutreten“,zu unterlassen, da es dem Wesen des Dreiervorschlags entspreche, dem Ministeriumkeine Bindung aufzuerlegen. Man sei sich auch ohne zusätzliche Erwähnung darüber imKlaren, dass die Fakultät in der Regel auf die Berufung der Erstgenannten Wert lege.1748Für den Fall der Neubesetzung der Geologie schließlich, wurde der Zweitgenannte aus-gewählt. Der Fakultät blieb zumindest die Rückstufung des Ordinariats erspart. Sollemachte seine Berufung auf ein Ordinariat zur Bedingung und hatte damit Erfolg – erwurde mit Urkunde vom 9. Juli 1954 zum ordentlichen Professor der TH Darmstadt er-nannt.1749

Ebenso erging es dem Institut für Zoologie. Nach der Wegberufung von Wulf Ankelim Jahr 1951 an die Universität Gießen blieb das Ordinariat zunächst längere Zeit unbe-setzt, eine Streichung der Planstelle stand im Raum. Die Fakultät, die darüber nicht infor-miert wurde, legte einen Berufungsvorschlag vor. Zur gleichen Zeit stand der amtierendeRektor Kohlschütter mit dem Kultusministerium wegen Bewilligungen von neuen Plan-stellen im Gespräch. Dabei äußerte er unter anderem, dass er der Auffassung sei, manmüsse versuchen, das Institut für Zoologie „so klein wie es gerade eben noch möglich“sei zu halten.1750Das Kultusministerium plante infolgedessen, die Zoologie durch einenLehrauftrag oder eine Diätendozentur vertreten zu lassen.1751Die Fakultät für Chemielegte daraufhin ein Memorandum und mehrere Gutachten über die Bedeutung der Zoolo-gie an der TH Darmstadt vor.1752Auch der Rektor befürwortete den Antrag, das Ministe-rium lenkte schließlich ein und kurze Zeit später wurde Wolfgang Luther als Extraordi-narius für Zoologie an die TH Darmstadt berufen.

Anders endete die geplante Neubesetzung des Extraordinariats für Meteorologie.Nach der Berufung von Ratje Mügge an die Universität Frankfurt reichte die Berufungs-kommission im Juli 1950 einen Berufungsvorschlag ein.1753An erster Stelle stand HaraldKoschmieder, zu diesem Zeitpunkt Lehrbeauftragter der TU Berlin, an zweiter Stelle 8.3 Berufungen in der Nachkriegszeit 387Christian Junge, Assistent der Universität Frankfurt, und Hans Israel, der zu diesem Zeit-punkt in Buchau am Federsee eine Forschungsstelle leitete. In der Zwischenzeit jedochhatte der Rektor, um „den gegenwärtigen Bedürfnissen auf Schaffung anderer Lehr-stühle“ zu entsprechen, der Streichung des Lehrstuhls zugestimmt. Die Wiederbesetzungdes Extraordinariats war damit nicht möglich und das Kultusministerium sandte die Listezurück.1754Die Fakultät, die an dieser Entscheidung nicht beteiligt worden war, bean-tragte umgehend die Wiedereinrichtung des Extraordinariats beim Kultusministerium.1755Erst im Jahr 1954, im Zuge der Wiederbelebung der Luftfahrtforschung, wurde das Ext-raordinariat reaktiviert. Obwohl der Berufungsvorschlag der Kommission mittlerweilefast vier Jahre zurücklag, nahm sich das Kultusministerium diesen als Vorlage für diefolgenden Berufungsverhandlungen und berief den an zweiter Stelle genannten Junge inder Annahme, dass dieser für „die Bedürfnisse der Meteorologie an der T.H. Darmstadt“ausreiche.1756Junge war jedoch zwischenzeitlich für das Cambridge Research Center derAir Force tätig geworden und lehnte den Ruf ab.1757Derweil setzte sich die TH Darmstadtverstärkt für die Berufung Koschmieders ein, den das Kultusministerium zunächst wegenseiner fortgeschrittenen Karriere und den damit verbundenen Folgekosten nicht berufenwollte.1758Unterstützung bekam die Fakultät daraufhin von außerhalb. Ein Bekannter Ko-schmieders, der Theologe Helmut Gollwitzer, schaltete sich ein und sprach sich beimMinisterium ebenfalls für dessen Berufung aus.1759Nicht zuletzt, da Koschmieder unterdie Gruppe der sogenannten „131er“ fiel und für ihn ein k.w.-Lehrstuhl eingerichtet wer-den konnte, für den der Bund aufkam, stimmte das hessische Finanzministerium der Be-rufung schließlich doch zu, und Koschmieder nahm im April 1954, zunächst kommissa-risch, die Leitung der Lehrstuhlgeschäfte auf.

Rückkehr zur Normalität?

Was ist zusammenfassend zu sagen über Besetzungsfragen als Grundkonflikt zwischenKultusministerium und TH Darmstadt in der Zeit von 1945 bis 1960? Lange Zeit basierte388 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt der Verfahrensablauf von Berufungen auf einem zwischen Kultusministerium und Hoch-schulen abgestimmten Gewohnheitsrecht. In den Jahren 1945/46 kam es zu Berufungenohne Verfahren, da die TH Darmstadt über die politische Zäsur hinweg Bestand hatte,während die Landesregierung auf der anderen Seite neu aufgebaut wurde.

Spätestens ab 1947 sorgten jedoch die besonderen Umstände der Nachkriegszeit fürKonflikte im Verfahrensablauf. Zum einen kamen mit dem hessischen Kabinett und demLPA – die amerikanische Militärregierung hielt sich aus den Berufungsangelegenheitenheraus – neue Akteure ins Spiel, die Mitwirkungsrechte bei Berufungen einforderten unddas bestehende Gleichgewicht zwischen Vorschlagsrecht der Hochschulen und Auswahl-recht des Kultusministeriums durcheinanderbrachten. Die TH Darmstadt legte in dieserZeit bei der Besetzung von Lehrstühlen vermehrt Vorschlagslisten mit nur einem Kandi-daten vor. Diese Tendenz lässt sich auf verschiedene Ursachen zurückführen. Es ist davonauszugehen, dass es sich dabei um eine Reaktion auf die ausgeweiteten Befugnisse desKabinetts bei der Auswahl der Kandidaten handelte. Für die TH Darmstadt wuchs durchdas Mitwirken des Kabinetts, das sich zudem statt nach fachlichen Faktoren, nach derpolitischen Belastung richtete, das Risiko, dass der Zweit- oder Drittgenannte berufenwurde. Dass diese ebenfalls von den Berufungskommissionen vorgeschlagen waren,reichte den Fakultäten offensichtlich nicht mehr aus. Darum ging die TH Darmstadt dazuüber, Listen mit nur einem Vorschlag einzureichen, oder die Listen zurückzuverlangen,falls die Berufungsverhandlungen mit dem Erstgenannten nicht glücken sollten. Dies wie-derum sorgte für Ärger aufseiten des Kultusministeriums, da damit die Auswahlmöglich-keit verloren ging. In diesem Spannungsfeld dauerten Berufungen um einiges länger alssonst. Die Rahmenbedingungen wirkten sich nicht förderlich auf die Bereitschaft derTH Darmstadt aus, vermehrt auf politisch unbelastete Wissenschaftler zurückzugreifen.Um sich das Vorschlagsrecht von Berufungskandidaten nicht durch Einwirkungen vonaußen einschränken zu lassen, wurden Berufungen bewusst verzögert eingeleitet und, wieerläutert, vermehrt „unico-loco“-Listen vorgelegt. Auch Mitte der 1950er Jahre, langenachdem die hessischen Sonderregelungen im Jahr 1950, spätestens mit Artikel 131, au-ßer Kraft gesetzt wurden, war wegen der knappen finanziellen Möglichkeiten bei Beru-fungen eine Rückkehr zum Gewohnheitsrecht nicht möglich. Es ist kein Zufall, dass es inder Nachkriegszeit erstmals in der Hochschulgeschichte dazu kam, dass der Ablauf vonBerufungsverfahren in der Verfassung der TH Darmstadt festgeschrieben wurde.1760

8.4 Die politische Vergangenheit der Neuberufenen 389

8.4Die politische Vergangenheit der Neuberufenen

Wie gezeigt werden konnte, entwickelte sich bei der Besetzung von Lehrstühlen im Rah-men des Grundkonfliktes zwischen der hessischen Landesregierung und der TH Darm-stadt die politische Vergangenheit der potenziellen Kandidaten mehr zu einem „Mittelzum Zweck“ als zu einem um seiner selbst willen beachteten Faktor. Während das Kul-tusministerium nicht davor zurückschreckte, die politische Vergangenheit von Kandida-ten zu instrumentalisieren, um die eigenen Mitwirkungsrechte bei Berufungen zu unter-mauern, führte die angespannte Situation aufgrund der Erlasse des hessischen Kabinettsund des hessischen Beamtengesetzes dazu, dass die TH Darmstadt noch vehementer Ein-griffe von außen abwehrte und lieber Besetzungen verzögerte, als Eingriffe von außen zuakzeptieren. Sie tat dies nicht zuletzt mit dem Argument, dass es während des National-sozialismus an der TH Darmstadt nicht zu parteipolitischen Berufungen gekommen sei,und man sich damit das Recht erwirkt habe, auch in der Nachkriegszeit zu allererst nachfachlicher Qualifikation zu berufen.

Im Rahmen des Spannungsfeldes zwischen Kabinett, Kultusministerium und Hoch-schulen musste auch Kultusminister Stein erkennen, dass die angedachten, personalpoli-tischen Weichenstellungen sich nicht umsetzen ließen. Während Stein noch im Jahr 1947gegenüber Ministerpräsident Stock die Erfolge bei der Beschränkung von Mitläufer-Be-rufungen rühmte – nach seinen Angaben waren von ca. 200 hessischen Lehrstühle zudiesem Zeitpunkt 93 mit Nichtbetroffenen, 62 mit Entlasteten und nur 23 mit Mitläufernbesetzt1761–, musste er im Jahr 1949 erkennen, dass eine andere Entwicklung eingesetzthatte. So stellte Stein gegenüber Stock fest, „daß die Fakultäten der wissenschaftlichenHochschulen des Landes nicht mehr imstande sind, der Regierung politisch und wissen-schaftlich erstrangige Gelehrte vorzuschlagen“. Sie täten dies nicht, so Stein, aus „Vor-liebe für politisch Belastete […], sondern weil politisch unbelastete Gelehrte es vorzie-hen, nicht erst in Verhandlung mit Hessen zu treten, […].“1762Auch dem LPA gegenüberäußerte sich Stein besorgt darüber, dass in Hessen mehr Mitläufer als anderswo berufen390 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt worden seien, da andere Länder schneller und wirkungsvoller Berufungsverhandlungenführen würden.1763Wie diese Aussagen Steins zeigten, sah er in der Haltung des LPA unddes hessischen Kabinetts die Gründe für diese Entwicklung. Dies muss nicht zuletzt vordem Hintergrund der Einschränkung seiner Befugnisse durch die beiden Institutionen imBereich der Berufungen gesehen werden.

Doch wie sind die Aussagen Steins in Bezug auf die TH Darmstadt zu bewerten?Wurden tatsächlich zwischen 1945 und 1960 vermehrt politisch Belastete berufen, weildiese an anderer Stelle abgelehnt wurden, und trotz der „hessischen“ Bedingungen bereitwaren, nach Darmstadt zu kommen? Angesichts der fehlenden Vergleichsmöglichkeitaufgrund des Forschungsdefizits zu Berufungen nach 1945 muss die Frage, inwieweit andie TH Darmstadt besonders viele belastete Personen berufen wurden, offenbleiben. Feststeht aber, dass manch interessanter Kandidat eine Berufung nach Darmstadt wegen derhessischen Gesetzeslage ablehnte. Wie bereits erläutert, zeigt die Haltung der an derTH Darmstadt für Berufungen zuständigen Akteure jedoch, dass die Maßnahmen des Ka-binetts nicht dazu führten, politisch Unbelastete besonders zu berücksichtigen. Die Rück-sichtnahme auf politische Faktoren wurde als ein Faktor der Einflussnahme von außenauf die Mitwirkungsrechte der TH Darmstadt bei Berufungen gedeutet. Aufgrund desvorherrschenden Spannungsfeldes sah sich die TH Darmstadt zu keinem Zeitpunkt dazuveranlasst, aus eigenen moralischen Erwägungen heraus die politische Belastung zumausschlaggebenden Moment für Personalentscheidungen werden zu lassen.

Bleibt die Frage, wie die politische Vergangenheit der an die TH Darmstadt berufenenWissenschaftler einzuordnen ist. In der Zeit 1945 bis 1960 kamen 62 neue ordentlicheund außerordentliche Professoren an die TH Darmstadt. Es ist wenig überraschend, dasssich darunter Personen mit sehr unterschiedlichen politischen Vergangenheiten befanden.Die mögliche Spannbreite in den politischen Hintergründen der Wissenschaftler zeigenzwei Berufungen: Im Mai 1951 wurde der Widerstandskämpfer und ehemalige KZ-In-sasse Eugen Kogon auf den Lehrstuhl für Wissenschaftliche Politik berufen, genau einJahr später, im Mai 1952, wurde mit Karl Küpfmüller – wissentlich – ein ehemaliger SS-Obersturmbannführer zum Ordinarius für Elektrotechnik der TH Darmstadt ernannt.

Tatsächlich befanden sich bis 1951 keine Mitläufer unter den Neuberufungen.1764Diesist jedoch nicht nur darauf zurückzuführen, dass die berufenen Personen tatsächlich un- 8.4 Die politische Vergangenheit der Neuberufenen 391belastet waren. Wie in Kapitel 8.3.1 beschrieben, fanden die Berufungen 1945/46 untersehr besonderen Bedingungen statt. In dieser Zeit hatte die amerikanische Militärregie-rung sich noch nicht auf einen einheitlichen Umgang mit politischer Belastung geeinigt.Die Professoren Mesmer, Scheubel, Neufert, Pinand und Schoenemann wurden noch vorder Einführung der Spruchkammerverfahren berufen. Während Mesmer, Pinand undSchoenemann später auch für die Spruchkammern keine Anhaltspunkte für eine politi-sche Belastung aufwiesen – sie waren keinen NS-Organisationen beigetreten und wurdenin erster Instanz als „vom Gesetz nicht betroffen“ eingestuft –, sah dies im Fall von Scheu-bel durch seine Parteimitgliedschaft von 1937 und im Fall von Neufert aufgrund seinerTätigkeiten im Ministerium von Albert Speer1765anders aus. Scheubel wurde tatsächlichin erster Instanz als Mitläufer eingestuft und musste kurzzeitig sogar mit seiner Entlas-sung rechnen. Doch nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die hessische Regierung dieBerufungen durchgeführt, in Neuferts Fall sogar initiiert hatte, wäre eine nachträglicheEntlassung der beiden auch negativ auf die Regierung zurückgefallen und war darumnicht sehr wahrscheinlich.1766

Nach der Einführung von Spruchkammerverfahren kam es durchaus zu kommissari-schen Ernennungen von Mitläufern, wie im Fall der Professoren Marguerre und Krischer,die im Laufe ihrer Berufung an die TH Darmstadt eine Einstufung zum Entlasteten erwir-ken konnten. So befanden sich unter den bis 1950 berufenen Professoren de facto zwarkeine Mitläufer, jedoch war damit keinesfalls ausgeschlossen, dass Mitglieder von NS-Organisationen unter ihnen waren. So waren Karl Hax, Karl Karas, Heinrich Kuhlmannund Theodor Pabst Parteimitglieder.1767Die 1947 berufenen Otto Krischer und Karl Mar-392 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt guerre waren Mitglieder der SA, Marguerre hatte darüber hinaus das Amt eines Rotten-führers der SA innegehabt, Krischer war dazu auch Mitglied des NS-Dozentenbundes,Karl Karas zudem förderndes Mitglied der SS von 1939.

Wie wenig die Spruchkammerergebnisse angesichts der Mechanismen des „militä-risch-wissenschaftlich-industriellen Komplexes“ im „Dritten Reiches“ über die Bedeu-tung der Wissenschaftler zu dieser Zeit aussagte, zeigt sich besonders eindrücklich amBeispiel Ernst Neuferts.1768Neufert gelang es über die politischen Zäsuren hinweg, seineKarriere in enger Verbindung mit den jeweiligen politischen Kräften zu gestalten.1769Sowar er seit 1919 Schüler der Bauhausschule in Weimar und bald enger Mitarbeiter vonWalter Gropius. Von 1922 bis 1924 fungierte er bereits als Lehrer an der Bauabteilungdes Bauhauses in Dessau. 1925 wurde er mit nur 25 Jahren Professor und Leiter der Bau-abteilung an der neu gegründeten Staatlichen Bauschule in Weimar. Nach 1933 wurdeihm kurzzeitig als Bauhäusler von der Reichskammer die Konzession entzogen. In dieserZeit widmete er sich seiner Bauentwurfslehre, die bis heute als Standardwerk gilt und1936 in erster Auflage erschien.1770Nach dem Erscheinen der Schrift zog er das Interesseder nationalsozialistischen Regierung auf sich, was sich darin äußerte, dass er nun wiederals selbstständiger Architekt arbeiten konnte und recht bald zu Fragen der Baunormungherangezogen wurde. Seit 1938 wurde er unter dem damaligen Generalbauinspektor Al-bert Speer zum Beauftragten für Typisierung, Normung und Rationalisierung des BerlinerWohnungsbaus ernannt. 1943 wurde er Reichsbeauftragter für Baunormung, 1944 Mitar-beiter in Speers Arbeitsstab für den Wiederaufbau bombenzerstörter Städte. NeufertsSchaffen fand nicht nur die Beachtung Speers, der bei den meisten Schriften des Archi-tekten als Herausgeber fungierte, sondern auch Hitler selbst bewunderte Neuferts Arbei-ten, wie Speer im Vorwort zu einem Aufsatz Neuferts berichtete.1771Im August 1944 8.4 Die politische Vergangenheit der Neuberufenen 393wurde Neufert von Hitler in die sogenannte „Gottbegnadeten-Liste“ aufgenommen, eineim gleichen Jahr vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda einge-führte Liste, in die von den Nationalsozialisten für wichtig erklärte Künstler aufgenom-men wurden.1772Neufert gehörte ohne Zweifel zur Funktionselite des „Dritten Reiches“,insbesondere seine Zusammenarbeit mit dem wegen Kriegsverbrechen und Verbrechengegen die Menschlichkeit 1946 im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess verurteilten Al-bert Speer belastete ihn in der Nachkriegszeit. Da er als einzige Mitgliedschaft in einerNS-Organisation jedoch lediglich die im NSKK von 1942–1943 aufwies, galt er als vomGesetz „nicht betroffen“. Auch die Amerikaner stellten keine weiteren Nachprüfungenan.1773Neufert gehörte, wie berichtet, seit 1945 zum Lehrkörper der TH Darmstadt, damitwurde er in Darmstadt entnazifiziert, und die Hochschulleitung der TH musste sich auchüber seine Person äußern. Die TH Darmstadt weigerte sich jedoch, zu Neufert und seinerpolitischen Vergangenheit Stellung zu beziehen. Sie verwies stattdessen darauf, dass sieüber seine politische Vergangenheit „keine Angaben“ machen könne und dieser „nachÜberprüfung durch die Deutsche Regierung“ eingestellt worden sei.1774Neufert selbstbezeichnete sich in der Nachkriegszeit als „unpolitisch“ und berichtete, bei seiner Arbeit„keinerlei Rücksicht auf Parteitendenzen“ genommen zu haben; auch die Verbindung zuSpeer marginalisierte er.1775Spätestens ab 1950 galt Neufert wieder als einer der bekann-testen deutschen Architekten.1776

Nach dem Wegfall des Verbots der Berufung von Mitläufern im Jahr 1950, stieg ander TH Darmstadt die Anzahl von Mitläufern unter den Berufenen deutlich an, was sichdementsprechend auch in früheren Mitgliedschaften in NS-Organisationen widerspie-gelte. Unter den 45 nach 1951 berufenen Personen – nur von 35 sind die Ergebnisse be-394 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt kannt – waren 19 Mitläufer1777, neun Nichtbetroffene1778, vier Entlastete1779, drei ohneVerfahren1780. Ohne dass dies in der Intention der Hochschulleitung gelegen haben mag:Gemessen an den NS-Mitgliedschaften wurden in der Nachkriegszeit Personen mit weitgrößerer politischer Belastung an die TH Darmstadt berufen als zu Zeiten des National-sozialismus. Zwischen 1933 und 1945 wurden weder Parteimitglieder von vor 1933, erstrecht keine sogenannten „Alten Kämpfer“ berufen, noch gab es im Lehrkörper aktiveMitglieder der SS.1781Dies änderte sich nach 1945: In der Nachkriegszeit berief man nichtnur ehemalige SS-Mitglieder1782– im Fall von Professor Küpfmüller sogar im Rang eines 8.4 Die politische Vergangenheit der Neuberufenen 395Obersturmbannführers1783–, sondern auch Personen, die vor der „Machtergreifung“ indie Partei eingetreten waren.1784Unter den Darmstädter Professoren befanden sich nunauch vier Personen, die das sogenannte „Bekenntnis der Professoren an den deutschenUniversitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“unterzeichnet hatten.1785Aufgrund der schwierigen Aktenlage lassen sich Aussagen überdie genaue Anzahl aller ehemaligen NSDAP-Mitglieder sowie SS- und SA-Mitgliederunter den Neuberufenen kaum machen, insbesondere der Ausgang der einzelnen Spruch-kammerverfahren ist nicht für alle ermittelt.1786Noch weniger lässt sich sagen, wer sich396 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt unter ihnen aktiv betätigte. Einzige Ausnahme stellt in diesem Fall Heinrich Triebniggdar. Dieser war Mitbegründer des Hilfsbundes der Deutsch-Österreicher und trat im Mai1933 der NSDAP in Graz bei. Er wurde infolge dieses Engagements sogar aus Österreichausgebürgert.1787

Insbesondere angesichts des Selbstverständnisses der Professoren, wonach dieTH Darmstadt während des „Dritten Reiches“ die Rolle einer „Anti-Nazi-Hochschule“eingenommen habe, mutet diese Feststellung paradox an. Denn statt politisch Belastetenden Zugang zur Hochschule zu versperren, kamen nun Personen mit einer weit umstrit-teneren NS-Vergangenheit an die TH Darmstadt. Dies lässt zumindest, trotz der Beteue-rungen der TH Darmstadt im Rahmen der Entnazifizierung, an den Gründen für die Ab-wehr parteipolitischer Berufungen zwischen 1933 und 1945 zweifeln. Während dieDarmstädter Professoren nach 1945 das Bild einer „Anti-Nazi-Hochschule“ zeichneten,die Eingriffe der Partei aus politischen Gründen bewusst verhindert habe, um nationalso-zialistische Einflüsse auf die TH Darmstadt abzuwehren, ist eine andere Erklärung fürdas Paradoxon denkbar: Parteikarrieristen stellten ein nicht kalkulierbares Risiko für dieetablierten Professoren dar, wie man im Rahmen der Hochschulintrigen und an den Kar-rieren von List und Lieser beobachten durfte. Insbesondere Lieser wusste dies und hatte,einmal in der Stellung des Rektors angekommen, nun seinerseits ein Auge darauf, dasskeine weiteren Parteigrößen an die TH Darmstadt kamen und ihm unter Umständen seineMacht streitig machten. In der Nachkriegszeit fielen die Befürchtungen natürlich weg,und es stellt insofern keinen Widerspruch dar, dass man nun die Tore für Personen öff-nete, die man unter Umständen während des „Dritten Reiches“ nicht berufen hätte.

Bleibt die Frage, wie bei Berufungen mit politischen Belastungen umgegangen wurde.Hier lohnt sich insbesondere der Blick auf die Berufung Karl Küpfmüllers im Jahr 1952.Angesichts der Tatsache, dass Küpfmüller als „Fachmann allerersten Ranges“ galt, war 8.4 Die politische Vergangenheit der Neuberufenen 397das Interesse der TH Darmstadt an seiner Berufung besonders groß.1788Küpfmüllers Ar-beiten auf den Gebieten der Nachrichtentechnik, Mess- und Regelungstechnik, Akustik,Informationstheorie und der Theoretischen Elektrotechnik hatten schon früh Aufmerk-samkeit auf sich gezogen.1789Obwohl er nach seinen eigenen Worten „kein reguläresHochschulstudium und keine reguläre berufliche Laufbahn“ durchlaufen hatte – tatsäch-lich hatte Küpfmüller sein Studium nie abgeschlossen –, wurde er bereits im Alter vonnur 31 Jahren zum ordentlichen Professor der TH Danzig berufen.1790Angesichts seineraußergewöhnlichen Leistungen standen ihm alle Möglichkeiten offen, und im Laufe sei-ner Tätigkeit wechselte Küpfmüller mehrmals zwischen Industrie und Wissenschaft hinund her. Aufgrund seiner Forschungen zur Systemtheorie, die er 1932 in einem zum Stan-dardwerk avancierten Buch veröffentlichte, gilt Küpfmüller als „Vater der Systemtheo-rie“.1791Während des „Dritten Reiches“ konnte Küpfmüller seine Karriere weiter aus-bauen. 1935 erhielt er einen Ruf an die TH Berlin, wo er bis 1937 eine ordentliche Pro-fessur innehatte. Auch später blieb er der TH Berlin als Honorarprofessor verbunden.Gleichzeitig fungierte er von 1937 bis 1941 als Leiter der nachrichtentechnischen Ent-wicklung des Siemens-Wernerwerkes für Fernmeldetechnik, ab 1941 als Direktor derZentralen Entwicklungsabteilung bei Siemens & Halske. Seiner Leitung unterstanden dasZentrallaboratorium, das Zentrale Konstruktionsbüro und die zentrale Erprobungsstelle.Ab 1941 war Küpfmüller Stellvertreter der Betriebsgemeinschaft.1792Durch den Kriegergab sich ein weiteres Betätigungsfeld: Küpfmüller war 1940 vom Oberkommando derWehrmacht als verantwortlicher Leiter für Entwicklung und Fabrikation sämtlicher fern-meldetechnischer Heeresgeräte der Kriegsmarine bestimmt worden, ab 1942 Leiter derKommission Nachrichtentechnik im Heereswaffenamt.1793Für seine Dienste bekam erden Fritz-Todt-Preis und das Kriegsverdienstkreuz I. Klasse ohne Schwerter, das Ritter-kreuz des Kriegsverdienstkreuzes mit Schwertern und wurde zum Ehrendoktor der THDanzig ernannt.1794Küpfmüller kam in persönlichen Kontakt mit der obersten NS-Füh-398 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt rungsriege, auch Hitler wurde er, nach eigenen Aussagen, im Laufe der Zeit vorge-stellt.1795Küpfmüller war Mitglied des NSKK vom 01.09.1933 bis 01.05.19341796sowiein der SA vom 01.05.1934 bis 01.04.1937 und Parteimitglied seit 01.05.1937.1797Außer-dem war er Mitglied der SS seit 01.07.1937.1798Im November 1939 wurde Küpfmüllervom SS-Oberscharführer zum SS-Untersturmführer, 1940 zum Obersturmführer, 1942vom Hauptsturmführer zum Sturmbannführer und zuletzt am 20. April 1944 zum Ober-sturmbannführer der SS ernannt.1799Welche Dienste mit der Beförderung Küpfmüllers indiesen außerordentlich hohen SS-Rang – SS-Obersturmbannführer waren unter anderemRudolf Höss, Adolf Eichmann, Herbert Kappler und Joachim Peiper – verbunden waren,ist nicht bekannt. Die Anträge für die Beförderung stellte der jeweilige Stab-Abschnitts-Führer, in dem Küpfmüller registriert war. Begründet wurden die Anträge mit Küpfmül-lers Tätigkeiten für Siemens & Halske sowie für das Oberkommando des Heeres. Gleich-zeitig verwies man stets darauf, dass er „trotz der Arbeitsbelastung“ der SS stets zur Ver-fügung stehe und dass er als „überzeugter Nationalsozialist und tadelloser SS-Führer“gelte.1800

Eine mögliche Erklärung für die SS-Beförderungen sieht Helmut Maier auch in sei-nem hohen Dienstrang für die Kriegsmarine. Innerhalb des wissenschaftlichen Führungs-stabes gab es eine auffällig große Zahl von SS-Angehörigen, was laut Maier auch aufeinen grundlegenden Wandel der Forschungsorganisation gegen Ende des Krieges zu-rückgeführt werden kann.1801Aufgrund seiner hohen Dienstränge in der SS gehörteKüpfmüller nach dem Ende des Krieges zu den automatisch festgenommenen Perso-nen.1802Bis Oktober 1946 war er im Kriegsgefangenenlager Dachau inhaftiert, danachkam er bis Ende 1947 ins Lager Hammelburg. Dort fand auch seine Entnazifizierung vorder Lagerspruchkammer statt. Aufgrund seiner Mitgliedschaften stufte ihn der öffentlicheKläger in seiner Klageschrift in die Gruppe der Hauptschuldigen ein.1803Um zu beweisen, 8.4 Die politische Vergangenheit der Neuberufenen 399dass er trotz seiner Mitgliedschaften und Ränge kein Aktivist war, behauptete Küpfmül-ler, lediglich zum „Ehrenführer“ der SS ernannt worden, ohne jemals aktives Mitgliedder SS gewesen zu sein, da er weder vereidigt worden sei noch Dienste ausgeführt habeund keine Beiträge gezahlt habe.1804Doch auf einem Fragebogen für parteistatistischeErhebung aus dem Jahr 1939 – Küpfmüller war zu diesem Zeitpunkt SS-Oberscharführer– hatte er neben seiner Mitgliedschaft in der SS zusätzlich „darin führend tätig“ ange-kreuzt, was seine Behauptung aus der Nachkriegszeit von einer Ehrenmitgliedschaft un-glaubhaft macht.1805Trotz seiner SS-Ränge und obwohl im Rahmen seines VerfahrensMitarbeiter von Siemens & Halske Vorwürfe gegen Küpfmüller vorbrachten – unter an-derem wurde ihm vom Betriebsrat vorgeworfen, dass er sich „als Wissenschaftler bis kurzvor Kriegsschluss positiv für den Nationalsozialismus“ eingesetzt und in seiner SS-Uni-form Betriebsappelle abgenommen habe1806–, stufte ihn die Spruchkammer des Internie-rungslagers Hammelburg am 4. November 1947 in die Gruppe der Mitläufer ein, undKüpfmüller konnte am 16. Dezember 1947 das Internierungslager verlassen.1807Nebenzahlreichen Persilscheinen von ehemaligen Untergebenen wurde Küpfmüller in seinemVerfahren maßgeblich von Lothar Rohde unterstützt, der ihm zum einen in einer eides-stattlichen Erklärung bescheinigte, dass er lediglich Ehrentitel der SS innegehabt habe,und zum anderen in seiner Funktion als Vorsitzender der Bayerischen Landesvereinigungder elektrotechnischen Industrie e.V. die Spruchkammer auf die dringende Notwendig-keit, die Arbeitskraft von Küpfmüller für die Wirtschaft wieder nutzbar zu machen, hin-wies.1808Nach seiner Entlassung nahm Küpfmüller nicht wieder den Dienst bei Siemensauf, sondern arbeitete zunächst für die Firma von Lothar Rohde, Rohde & Schwarz. An-schließend war er bis 1952 Vorstandsmitglied und Entwicklungsleiter der Standard Elekt-rizitäts-Gesellschaft, später Standard Elektrik Lorenz AG in Stuttgart.1809Von 1951 bis1952 war er zudem Honorarprofessor der TH Stuttgart.

400 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt

Wie ging nun die TH Darmstadt mit der politischen Vergangenheit eines ehemaligenSS-Obersturmbannführers in der Berufung um? Im Jahr 1951 war Küpfmüller als Nach-folge für Elektrotechnikprofessor Hans Busch im Gespräch. Den Vorsitz der Berufungs-kommission hatte der 1949 an die TH Darmstadt berufene Friedrich Gundlach inne, dervon 1930 bis 1935 an der TH Berlin und damit auch bei Küpfmüller studiert hatte. Inte-ressanterweise enthält die Personalakte von Küpfmüller keinen ausgefüllten Meldebogenmit den Angaben zu den einzelnen Mitgliedschaften. Dies ist insofern verwunderlich, dadieser Bogen bis Mitte der 1950er Jahre bei Neueinstellungen auszufüllen war, undKüpfmüller auf einem anderen Formular, das er im Zuge seiner Berufungsverhandlungenausgefüllt hatte, in der Rubrik „Angaben über Zugehörigkeit zur NSDAP, ihren Gliede-rungen und angeschlossenen Verbänden angibt: „siehe beiliegenden Meldebogen“.1810Damit lässt sich nicht nachvollziehen, welchen Kenntnisstand die TH über die Mitglied-schaften Küpfmüllers hatte. Zieht man jedoch den Berufungsbericht zurate, wird ersicht-lich, dass sich die Fakultät eingehend damit beschäftigte, genauere Auskünfte aberaufgrund der Brisanz wohl vermieden werden sollten. Im Berufungsbericht wurde diepolitische Vergangenheit Küpfmüllers nicht verheimlicht, jedoch in besonderer Weisedargestellt und genauere Angaben zu Mitgliedschaften geschickt umgangen.1811Die Beru-fungskommission folgte in ihrem Bericht dem Spruchkammerurteil, dass Mitgliedschaf-ten und Ämter lediglich formell gewesen seien und nichts über seine tatsächliche Einstel-lung und Tätigkeit aussagen würden. Küpfmüller sei dazu „genötigt“ worden, im Jahr1934 in das NSKK einzutreten, auch an der TH Berlin habe er sich „dem Einfluss der SAnicht wieder entziehen“ können. Sein Parteieintritt sei aufgrund der „Danziger Verhält-nisse“ und damit nicht auf den „Gesichtspunkt Partei“, sondern als ein „Bekenntnis zumdeutschen Vaterland“ anzusehen.1812Für die hohen SS-Ränge hatte man indes eine andereErklärung: Küpfmüller sei, ohne auch nur eine Tätigkeit in der SS ausgeübt zu haben,1938 zum SS-Oberscharführer ernannt worden und in den nachfolgenden Jahren auf die-selbe Weise befördert worden.1813Weiter führte man zu Küpfmüllers Entlastung über sein 8.4 Die politische Vergangenheit der Neuberufenen 401Verhalten während des „Dritten Reiches“ an, dass man anhand Befragungen früherer Kol-legen feststellen konnte, dass dieser mit jüdischen Kollegen kameradschaftlich zusam-mengearbeitet, und sich um Haftentlassung für einen wegen antifaschistischer TätigkeitVerhafteten bemüht habe. Der Berufungsbericht endet mit einem entlastenden Zitat ausseiner Entnazifizierung: „Es war dem Betroffenen ebenso wenig möglich, die wissen-schaftlichen Arbeiten einzustellen, ohne dabei den Kopf zu riskieren, wie es einem Sol-daten, der an der Front stand, nicht möglich war, die Waffen niederzulegen, ohne dabeiselbst vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden, oder wie es in der letzten Phase des Krie-ges üblich war, ohne jedes Verhör und ohne jedes Gericht umgelegt zu werden.“1814Ab-schließend erklärte sich der Berufungsausschuss in persönlicher und politischer Hinsichtbereit, die volle Verantwortung für den Vorschlag Küpfmüller zu übernehmen. Ange-sichts des fachlichen Renommees von Küpfmüller wurde über seine umstrittene politi-sche Vergangenheit hinweggesehen. Das Kultusministerium hakte an diesen Stellen nichtnach, sondern akzeptierte sogar die dünne Berufungsliste, die de facto aus einem „unico-loco“-Vorschlag bestand, da alle anderen auf der Liste befindlichen Kandidaten laut Be-rufungsbericht nicht dazu bereit wären, ihre Tätigkeit in der Industrie aufzugeben.1815Während es bei anderen Berufungen mit solchen „unico-loco“-Vorschlägen deutlichmehr Widerstand gab, nahm das Ministerium diese Liste hin. Und das, obwohl Küpfmül-ler hohe Forderungen in den Berufungsverhandlungen stellte.

Intern zog die Hochschule jedoch Grenzen des Tolerierbaren. Wie aus der folgendenSelbstverpflichtung des Kleinen Senats deutlich wird, bestand diese Grenze in dem Un-terschied zwischen politischer Betätigung außerhalb und innerhalb des akademischen Be-zugrahmens: „Der Senat bekennt sich erneut zu der Verpflichtung, mit allen ihm gegebe-nen Mitteln diejenigen Kollegen in ihren Bemühungen um ihre Rehabilitierung zu unter-stützen, die ohne persönliches Verschulden, insbesondere ohne Vernachlässigung ihresLehramtes und ohne Verstoß gegen den Geist der Hochschule, durch frühere formaleVerordnungen der Besatzungsbehörden und durch daraus entstandene Verwaltungsver-fahren nachhaltig betroffen wurden.“1816Ausschlaggebend in Bezug auf eine Neuberu-fung oder Wiedereinstellung von Personen waren demnach für die TH Darmstadt nichtjene Kategorien, die von den Alliierten innerhalb der Entnazifizierungsverfahren abge-402 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt fragt wurden, sondern wie sich die Person im hochschulpolitischen Rahmen während desNationalsozialismus verhalten hatte. Einer Rehabilitierung von Personen, die sich, aufdas Lehramt bezogen, nichts vorzuwerfen und gegen den „Geist der Hochschule“ nichtverstoßen hatten – worauf sich dies konkret bezog, geht nicht aus den Akten hervor –,stand in den Augen der TH Darmstadt nichts entgegen. Dies bedeutete, dass sie keinenHinderungsgrund darin sah, durch Mitgliedschaften in NS-Organisationen belastete Wis-senschaftler, die deswegen von den Militärregierungen vorübergehend entlassen wordenwaren, nach 1945 wieder in die Gemeinschaft der Hochschullehrer zu integrieren, solangediese sich an fachliche Kriterien gehalten und gegen akademische Werte nicht verstoßenhatten.

Die Frage, ob an die TH Darmstadt besonders belastete Professoren berufen wurden,lässt sich nicht beantworten. Jedoch liegt die Vermutung nahe, dass die Besetzung vonLehrstühlen mit politisch belasteten Personen aufgrund der Dynamik von Netzwerkenund der Bedeutung von Seilschaften aus der Zeit des „Dritten Reiches“ die Berufung wei-terer, ebenfalls politisch Belasteter beförderte. So zog die Berufung des Göttinger HansKönig im November 1951 die Berufung seines ehemaligen Kollegen Karl-Heinz Hell-wege an die TH Darmstadt im Jahr 1952 nach sich. Hellwege war wie König nach 1945von der Universität Göttingen entlassen worden.1817

Wie sich anhand der Berufung von Hellmuth Rössler nachvollziehen lässt, waren Per-sönlichkeiten wie Eugen Kogon kein Garant dafür, dass bei Neubesetzungen von politischbelasteten Wissenschaftlern abgesehen wurde. So war Eugen Kogon als Dekan der Fa-kultät für Staats- und Kultuswissenschaften einer der drei zentralen Hochschulakteure,die die Berufung von Hellmuth Rössler steuerten. Rössler war nicht nur Mitglied der SAvon 1933 und Parteimitglied von 1940, die nationalsozialistische Weltanschauung hattedarüber hinaus auch in seine wissenschaftlichen Schriften Eingang gefunden.1818Gemein-sam mit dem Rektor der TH Darmstadt, zu diesem Zeitpunkt Kurt Klöppel, und demLeiter des Berufungsausschusses, Karl Schlechta, setzte sich Kogon für die Berufung vonRössler ein. In einem Brief an den hessischen Minister für Erziehung und Volksbildunglobte Kogon Rössler als Wissenschaftler, der „in vorzüglicher Weise“ die Erwartungender Fakultät erfülle.1819Zur politischen Vergangenheit Rösslers äußerte sich weder dieKommission noch Kogon. Offensichtlich nahm man angesichts der Möglichkeit, einenzusätzlichen Lehrstuhl für die Fakultät zu gewinnen, die Bedingung in Kauf, dass ein 8.4 Die politische Vergangenheit der Neuberufenen 403sogenannter „131er“ mit dementsprechender Vergangenheit auf den Lehrstuhl berufenwurde. Für Kogons Haltung findet sich ein weiterer möglicher Erklärungsansatz in sei-nem im Jahr 1947 erschienenen Aufsatz „Das Recht auf den politischen Irrtum“. Ausdiesem geht nicht nur hervor, dass er kein Unterstützer einer Entnazifizierung mithilfeformaler Kriterien war und von einem Berufsverbot wenig hielt, Kogon argumentiertedarüber hinaus als überzeugter Demokrat, dass es wichtiger sei, wo jemand hingehe, alswo er herkomme.1820

Ausgerechnet Rössler sollte dann einer der wenigen Professoren an der TH Darmstadtsein, der auch nach 1945 weiterhin völkisch-deutsch-nationale Ansichten offen vertrat.Insbesondere das von ihm gemeinsam mit dem ebenfalls belasteten Historiker GüntherFranz verfasste „Biographische Wörterbuch zur deutschen Geschichte“ zeigt dies: DieZeit nach 1933 wurde darin komplett ausgeblendet. Rössler erregte außerdem mit einemVortrag „Polen und Deutschland“ im Januar 1966 Empörung. In dem Vortrag vertrat erdie Ansicht, Deutschland habe ein Recht auf polnische Gebiete. Er begründete dies damit,dass diese Gebiete den Polen sowieso nicht von Nutzen seien, da ihre Kriegsverluste vonüber fünf Millionen Menschen den Platzbedarf verringert hätten.1821Selbst das Kultusmi-nisterium war darüber empört, Kultusminister Schütte weigere sich „zu glauben, einMensch der nicht geistig und moralisch völlig verrottet ist, könnte dergleichen gesagthaben“.1822

Trotz politischer Belastung ließen sich in der Nachkriegszeit überall vergleichsweiseunproblematisch wissenschaftliche Karrieren fortsetzen. Nicht zuletzt die Enttarnung desGermanistikprofessors und ehemaligen Rektors der RWTH Aachen, Hans Schwerte, alsSS-Hauptsturmführer und persönlicher Mitarbeiter Heinrich Himmlers, Hans ErnstSchneider, bestätigt dies.1823Einen derartigen Skandal, wie man ihn in Aachen 1995 er-lebte, gab es an der TH Darmstadt nicht. Auch wenn bislang kein solcher Identitätswech-sel bekannt wurde, auch unter den zwischen 1945 bis 1960 neu berufenen DarmstädterProfessoren befanden sich Personen mit mehr als zweifelhafter Vergangenheit. So lehrtezwischen 1957 und 1962 ein Professor an der TH Darmstadt, der während des „DrittenReiches“ Mitglied in verschiedenen SS-Einsatzkommandos war und aller Wahrschein-lichkeit nach an Kriegsverbrechen beteiligt war: der Jurist Klemens Pleyer. Pleyer hattenach eigenen Angaben aus dem Jahr 1943 von September 1939 bis Februar 1940 „Dienst404 8. Besetzungsfragen als Grundkonflikt in verschiedenen SS-Einsatzkommandos“ getan.1824Wo er diesbezüglich tätig wurde undob er unmittelbar an Erschießungen beteiligt war, lässt sich nicht sagen. Gesichert istjedoch, dass er darüber hinaus 1942/43 eine Laufbahn im leitenden Dienst der Sicher-heitspolizei und des Sicherheitsdienstes in Straßburg antrat.1825Nach dem Krieg studiertePleyer an der Universität Marburg, wo er 1953 promovierte und sich 1956 habilitierte,bevor er 1957 an die TH Darmstadt berufen wurde. Da keine Unterlagen zur Berufungvon Pleyer überliefert sind, muss die Frage, was die Hochschulleitung über die Vergan-genheit Pleyers während des „Dritten Reiches“ wusste, offen bleiben. 1962 folgte er ei-nem Ruf an die Universität Mainz und wechselte 1966 an die Freie Universität Berlin.Von 1969 bis zu seiner Emeritierung gehörte er der Universität Köln an.1826Bislang istPleyers mögliche Beteiligung an Kriegsverbrechen ungeklärt geblieben.1827

Auch der eine oder andere auf Berufungslisten genannte Kandidat hätte an derTH Darmstadt für einige Überraschung sorgen können. Dass man in der Nachkriegszeitnach bisherigem Kenntnisstand niemand berufen hatte, dessen politische Vergangenheitspäter zu Gerichtsverfahren und dementsprechender Aufmerksamkeit der Presse führensollte, war in gewissem Sinne lediglich dem Zufall geschuldet. Auf mindestens einer Be-rufungsliste stand ein später als Kriegsverbrecher verurteilter Wissenschaftler, ein weite-rer an Kriegsverbrechen Beteiligter war für einen Lehrstuhl im Gespräch: Kurt Leibbrandund Fritz Valjavec.1828Im Fall von Leibbrand, der auf der Berufungsliste für das Ordina-riat für Eisenbahnwesen der Fakultät für Bauingenieurwesen stand, hatte zu einer Beru-fung nicht mehr viel gefehlt. Nachdem die Fakultät eine Dreierliste vorgelegt hatte, ent-schloss sich das Kultusministerium, statt des Erstgenannten Friedrich Raabs den an dritterStelle genannten Kurt Leibbrand zu berufen.1829In dem Moment, als das Ministerium im 8.4 Die politische Vergangenheit der Neuberufenen 405Begriff war, Leibbrand zu berufen, zog die Fakultät allerdings seinen Listenplatz zurück,da der damalige Gutachter, welcher Leibbrand vorgeschlagen hatte, nunmehr seine Mei-nung geändert hatte und diesen nun als ungeeignet für den Hochschullehrerberuf bezeich-nete.1830Das Kultusministerium ließ sich überzeugen und berief, nachdem der Erstge-nannte unerfüllbare Forderungen stellte, den an zweiter Stelle genannten Rudolf Klein,der den Lehrstuhl bis 1974 innehaben sollte. Leibbrand währenddessen avancierte zu-nächst zu einem der einflussreichsten Verkehrsplaner der Bundesrepublik, bevor gegenihn in den 1960er Jahren ein Prozess wegen Kriegsverbrechen geführt wurde.1831Erwurde für die im Jahr 1944 widerrechtlich und ohne Anweisung erfolgte Erschießung von22 italienischen Hilfsarbeitern 1966 rechtskräftig verurteilt.1832

Wilhelm Schüßler hatte den Historiker Friedrich Valjavec im Jahr 1949 für das Ordi-nariat für Wissenschaftliche Politik vorgeschlagen.1833Als die Fakultät für Staats- undKulturwissenschaften sich bei Valjavec nach dessen Bereitschaft zu einer Tätigkeit an derTH Darmstadt erkundigte, lehnte dieser ab.1834Stattdessen widmete er sich der Fortset-zung seiner Forschungsarbeiten, indem er die Neugründung der Südosteuropa-Gesell-schaft und der Südostdeutschen Historischen Kommission betrieb. Ab dem Jahr 1954lehrte er als Honorarprofessor an der LMU München, wo er 1958 ein Ordinariat für „Neu-ere und südosteuropäische Geschichte“ erhielt. Er starb zwei Jahre später. Auf der Tagungder Südostdeutschen Historischen Kommission im Oktober 2002 sorgte Valjavecs Ver-gangenheit für Diskussionen.1835Wenig später wurde bekannt, dass Valjavec als SS-Un-tersturmbannführer an Erschießungen beteiligt gewesen war, unter anderem am 8. Juli1941 an einer Exekution von 100 Juden in Czernowitz.1836

406 Vergangenheitspolitik und Zukunftsmanagement

Wie bereits berichtet, mussten Neuberufene bis in die 1950er Jahre Partei-Mitglied-schaften auf einem Meldebogen angeben. Auch Angaben zur Entnazifizierung musstengemacht werden. In den ersten Nachkriegsjahren wurden diese Angaben an das LPA wei-tergeleitet und von den Amerikanern, später dann vom Ministerium anhand der Unterla-gen im Berlin Document Center (BDC) überprüft. Diese Überprüfung endete vermutlichmit dem Ende der Entnazifizierungsverfahren Mitte der 1950er Jahre.1837Trotz all dieserÜberprüfungen – wie wir heute wissen, waren auch die Unterlagen im BDC lückenhaft –gab es an der TH Darmstadt nachweislich Berufungen von Personen, die falsche oderungenaue Angaben zu ihren Mitgliedschaften in NS-Organisationen machten. Nicht we-nige Professoren datierten ihre Parteimitgliedschaft nach hinten, da ein frühes Eintritts-datum von den Amerikanern und der hessischen Zivilregierung als größere Belastung an-gesehen wurde. In einigen Fällen ist höchst verwunderlich, warum diese Umdatierungennicht aufgefallen sind, da die Betreffenden ihr Eintrittsdatum mitten in die Zeit der Auf-nahmesperre verlegten. So wurde der Philosoph Karl Schlechta unter falschen Angabeneingestellt. Auf seinem Meldebogen gab er an, seit 1935 Parteimitglied gewesen zu sein,in Wahrheit war er bereits 1933 in die Partei eingetreten.1838Heinrich Kuhlmann gab an-lässlich seiner Einstellung im Jahr 1947 in der Rubrik NSDAP an: „Nein, jedoch Ende1941 angemeldet – Kein Amt“, er war jedoch bereits seit 1937 Mitglied der Partei.1839Theodor Pabst gab an, 1934 in die Partei eingetreten zu sein, tatsächlich war er jedochbereits seit 1933 Mitglied, außerdem NSDAP Hauswart und Blockhelfer des NSV.1840Hans König gab auf den eingereichten Unterlagen an, im Jahr 1929 dem NS-Studenten-bund und im Jahr 1936 der Partei beigetreten zu sein. Diese Angaben deckten sich mitseinen Angaben vor dem Entnazifizierungs-Hauptausschuss der Stadt Göttingen, welcherKönig aufgrund dessen in die Kategorie V der „Entlasteten“ einstufte.1841Entweder hattedie Spruchkammer die Angaben Königs nicht überprüft, oder das Spruchkammerzeugnis Zusammenfassung 407war bereits eine von König vorgelegte Fälschung, denn dieser war tatsächlich bereits imJahr 1929 in die Partei eingetreten.1842

In der Regel fielen diese Umdatierungen nach der Berufung nicht weiter auf. EinzigeAusnahme stellte diesbezüglich der 1952 auf das Ordinariat für Experimentalphysik be-rufene Hans König dar. Für ihn sollte die Umdatierung weitreichende Folgen haben.Während die TH Darmstadt in den anderen Fällen keinen Anlass sah, die Angaben derMeldebögen zu überprüfen, führte ein gegen König im Jahr 1959 laufendes Disziplinar-strafverfahren1843dazu, dass der Verwaltungsdirektor die Angaben zu Mitgliedschaftengenauer prüfte und in Korrespondenz mit dem Hauptstaatsarchiv Berlin-Dahlem schließ-lich auf die Falschangaben Königs aufmerksam wurde. Dies führte dazu, dass, obwohldas ursprüngliche Verfahren gegen König eingestellt wurde,1844dieser nicht nur vomDienst suspendiert und wegen „dauernder Dienstunfähigkeit“ mit Wirkung vom 1. März1962 in den Ruhestand versetzt wurde,1845sondern das Ministerium darüber hinaus auf-grund des Tatbestandes der arglistigen Täuschung auch seine Ernennung zum Beamtenzurücknahm.1846

ZUSAMMENFASSUNG

Die Entnazifizierung, Wiedergutmachung und die konfliktreichen Berufungen liefen inder Nachkriegszeit parallel ab. Da die drei Aspekte sich beeinflussten und die handelndenAkteure zudem meist die gleichen waren, lohnt es sich, nach der vorangegangenen chro-nologischen Betrachtung die einzelnen Prozesse zusammenfassend in Beziehung zuei-nander zu stellen.

408 Vergangenheitspolitik und Zukunftsmanagement

In der Nachkriegszeit herrschten aufgrund vielfach irregulär auftretender Vakanzen,der sich konfliktreich entwickelnden Berufungsverfahren sowie eines durch Entnazifizie-rungs- und Wiedergutmachungsverfahren erhöhten Organisationsaufwands in der Perso-nalpolitik krisenhafte Zustände. Aufgaben in der Selbstverwaltung waren im Vergleichzu anderen Zeiten mit einem Vielfachen an Mehraufwand verbunden. So war ProfessorMehmel froh, sich nach seiner zweijährigen Amtszeit als Rektor im Jahr 1951 wieder „indie Stille des Lehrstuhls zurückziehen zu können“. Laut Mehmel war die Übernahme desRektorats wegen „lauter schwierigen Berufungen“ und der Aufgabe, „sonstige zeitrau-bende und unangenehme Dinge in Ordnung zu bringen“, eine besonders große Belas-tung.1847Auch Selbstverwaltungsaufgaben in den Dekanaten waren aufwendiger alssonst, den Dekanen blieb nach eigener Aussage kaum noch Zeit für eigene Forschun-gen.1848Dies führte dazu, dass die Darmstädter Professoren diese Ämter ungern übernah-men, auch kam es vermehrt zu Rücktritten während der laufenden Amtszeit.1849

In Bezug auf die Entnazifizierung lässt sich festhalten, dass das Verfahren für dieHochschule zwar eine zeitaufwendige Bearbeitung unzähliger Listen, Fragebögen undArbeitsblätter bedeutete, aber keine inhaltliche Auseinandersetzung mit der eigenen Rollewährend des Nationalsozialismus heraufbeschwor.1850Der Hochschule gelang es, dasVerfahren in Ablauf und Ergebnis wesentlich in ihrem Sinne zu lenken. Das DarmstädterBeispiel zeigt, dass es zu großen Differenzen zwischen den allgemeinen Vorgaben deramerikanischen Militärregierung und der Durchführung der jeweiligen Offiziere vor Ortkommen konnte. Die harten Überprüfungsmaßstäbe wurden, nicht zuletzt wegen des ak-tiven Eintretens der TH Darmstadt, nicht auf Professoren angewandt. De facto kam es ander TH Darmstadt, bezogen auf die Professoren, anders als an anderen Univeristäten le-diglich zu einer Entnazifizierungswelle.

Das vehemente Eintreten der Hochschulleitung und der etablierten Professoren fürei-nander diente, abgesehen von der Sicherung des Auskommens, vor allem dazu, dasSelbstbild einer unpolitischen Hochschule zu festigen, die Vergangenheit zu begrabenund Bedingungen für personelle Kontinuitäten und eine autonome Berufungspolitik zu Zusammenfassung 409schaffen. Hinzu kommt, dass die Kriterien der Fragebögen der Amerikaner und das Vor-gehen der Spruchkammern nicht dazu geeignet waren, der besonderen Rolle der Hoch-schullehrer Rechnung zu tragen. Dies hatte zur Folge, dass der Beitrag der Professorenzu Aufrüstung und Kriegsforschung ausgeklammert blieb und somit die eigentliche Be-deutung gerade einer Technischen Hochschule während des Nationalsozialismus nichtthematisiert werden musste.

Der Einfluss der Hochschule auf die Spruchkammerverfahren der DarmstädterProfessoren ist nicht zu unterschätzen. So ließ sich durch die Spruchkammern nicht nurihre Rehabilitation erreichen, sondern obendrein sogar ihre Gegnerschaft zumNationalsozialismus erfolgreich bescheinigen. Darüber hinaus gelang es der TH Darm-stadt, die Entnazifizierungsverfahren dafür zu nutzen, entlassene Hochschulangehörigenach eigenen Kriterien – hier waren insbesondere fachliche und charakterliche Eigen-schaften ausschlaggebend – zu überprüfen und gegebenenfalls unter anderen Be-dingungen als dem Status quo ante wieder in die TH Darmstadt aufzunehmen. In diesemProzess übernahmen die amtierenden Professoren eine „Türsteher-Funktion“.1851DieUntersuchung der Entnazifizierung der Professoren zeigt zudem die Heterogenität desLehrkörpers. Dieser war aufgrund der jeweiligen Verfahrensausgänge und der daraus fürdie einzelnen Personen entstandenen Folgen stark fragmentiert. Umso wichtiger war dieRolle der Rektoren als Bewahrer einer „institutionellen Kontinuität“.1852

Auch bei Berufungen kam dem Rektor in der Nachkriegszeit eine zentrale Funktionzu. Mit Berufungsfragen war für die Hochschule in der Nachkriegszeit viel mehr als nurdie Suche nach Hochschulpersonal verbunden. Die Leitung der TH wurde vor die Auf-gabe gestellt, den Unterricht trotz zahlreicher Ausfälle aufrechtzuerhalten und gleichzei-tig im Sinne der fachlichen Traditionen Personalentscheidungen zu treffen. Aufgrund der„schwierigen politischen Verhältnisse“ – gemeint waren hier der Grundkonflikt mit demhessischen Kultusministerium und die Entnazifizierungsverfahren – führte der Rektor Be-rufungsverhandlungen bis Ende der 1940er alleine durch, die Fakultäten waren weit we-niger eingebunden als sonst.1853

Die Berufungsverfahren in der Nachkriegszeit lassen sich aufgrund wechselnderRahmenbedingungen in verschiedene Phasen einteilen. In der ersten Phase gelang es derTH Darmstadt, davon zu profitieren, im Gegensatz zur zuständigen Regierungsbehördeals Institution über die Zäsur hinweg Bestand zu haben. In dieser Zeit ließen sich aufschnellem Wege Personalveränderungen herbeiführen und unkompliziert Fakten410 Vergangenheitspolitik und Zukunftsmanagement schaffen. Wie die Berufung von Neufert zeigt, galt dies jedoch nicht nur für die Akteureder TH Darmstadt. Die zweite Phase zwischen 1947 und 1951 war vor allem geprägtdurch den Grundkonflikt zwischen Hochschule und Kultusministerium. In dieser Zeitunterlagen die Berufungsverfahren einigen Abweichungen von der Normalität. ImVergleich zu sonst dauerten sie um ein Vielfaches länger, es gab viele Wechsel und langeVakanzen. Dies war neben den Entnazifizierungsverfahren der Professoren insbesondereauch auf die besonders restriktive hessische Hochschulpolitik zurückzuführen. ImVergleich zur Zeit des „Dritten Reiches“ – in den zwölf Jahren erfolgten 37 Berufungen– gab es häufiger Einmischungen von staatlicher Seite in die Berufungspolitik. DieTH Darmstadt betrachtete das Verhalten des Kultusministeriums und des Kabinetts alsAngriff auf ihre Selbstbestimmung. Änderungen der hessischen Landesregierung an dentraditionellen Beamtenrechten führten dazu, dass die durch Entnazifizierung durchausheterogene Gemeinschaft der Professoren, deren politische Vergangenheit nicht unter-schiedlicher sein konnte, sich als Ganzes gegen eine Rückgängigmachung des Status quoante verteidigte. So schreckten amtierende Professoren nicht davor zurück, wie in Phase 3beschrieben, Lehrstühle Jahre freizuhalten, um ihren im Rahmen der Entnazifizierungentlassenen Kollegen zur Emeritierung zu verhelfen.

Wie sehr die Hochschule auf ihrem Selbstergänzungsrecht beharrte, wird besondersdrastisch beim Umgang mit den während des Nationalsozialismus aus ihren Ämtern Ver-triebenen deutlich. Obwohl die Bestrebungen der Amerikaner und des Kultusministeri-ums darauf abzielten, die Vertriebenen bevorzugt zu berücksichtigen, kamen an der THDarmstadt keine Rückberufungen von Ordinarien zustande. Die einzige von der Hoch-schulleitung angestrebte Rückberufung scheiterte am Tod Hans Baerwalds noch im Exil.Die TH Darmstadt, die sich in den Entnazifizierungsverfahren der Professoren als Opferdes Nationalsozialismus darstellte, reagierte auf Wiederanstellungswünsche ehemaligerHochschulmitglieder, die während des Nationalsozialismus vertrieben worden waren, äu-ßerst differenziert. Sie lehnte eine generelle Rückberufungspolitik ab, reagierte zudemauf Wiedergutmachungsforderungen sehr unterschiedlich und räumte den Betroffenendurch Ausnutzung unterschiedlicher Auslegungsspielräume verschiedene Möglichkeitenzur stets begrenzten Rückkehr ein. Nicht zuletzt aus Scheu vor einer offenen Auseinan-dersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit wehrten Hochschulleitung undFakultäten insbesondere Rückberufungswünsche jener Fälle ab, bei welchen die THDarmstadt nicht nur gesetzliche Vorgaben umgesetzt, sondern eigene Interessen mithilfeder NS-Gesetzgebung durchgesetzt hatte. Insbesondere der Fall Jonas zeigt, dass dieswohl auch aus der Abwägung heraus erfolgte, den mittlerweile an der TH Darmstadt herr-schenden Konsens über die TH Darmstadt als „Anti-Nazi-Hochschule“ und den Univer-

411

Zusammenfassung 411sitätsfrieden zu erhalten. Die Hochschulleitung war nur bereit, jene Personen zu reinteg-rieren, die geneigt waren, ihre Interpretation der jüngsten Vergangenheit zu teilen. Wieder Fall Federn zeigt, behandelte die TH Darmstadt Anträge der während des National-sozialismus aus ihren Ämtern Vertriebenen in der Regel nicht als Akte der Wiedergutma-chung, sondern überprüfte stets erneut – trotz der angespannten personellen Lage –, obdie betreffenden Wissenschaftler den aktuellen fachlichen Ansprüchen der Hochschulegenügten. Auch in Bezug auf die Wiedergutmachung kann man also von einer „Türste-her-Funktion“ der amtierenden Darmstädter Professoren sprechen.

Die TH Darmstadt nutzte im Rahmen der Entnazifizierungsverfahren für sich den Wi-derstandsbegriff. Statt die eigene Verantwortung und das eigene Handeln und insbeson-dere Handlungsmöglichkeiten – beispielsweise im Bezug auf die Vertriebenen – zu re-flektieren, hob sie, wo es ging, Schwierigkeiten während des Nationalsozialismus hervor.Damit stand die TH Darmstadt nicht alleine da. So stellte auch Anikó Szabó in ihrer Stu-die zur Universität Göttingen fest: „Die Meinung, selbst Opfer zu sein, überlagerte dasBewußtsein, mit dem Nationalsozialismus kooperiert und den Verfolgten gegenüber ver-sagt zu haben.“1854

Abschließend lässt sich festhalten, dass die Nachkriegszeit eine für die TH Darmstadthistorisch einmalige personalpolitische Krisenzeit darstellte. Selbst die Rahmenbedin-gungen zur Zeit des Nationalsozialismus bargen nicht annähernd ein solch konzentriertesKrisenpotenzial. Um ihre Position in der Nachkriegszeit gemäß dem eigenen Selbstver-ständnis ausbauen zu können, mussten die Ordinarien gemeinsame Strategien entwickeln.Dieser Prozess ist umso erstaunlicher, als es innerhalb der Gruppe der Ordinarien wäh-rend des Nationalsozialismus verschiedene Verhaltensweisen gegeben hatte und auch un-terschiedliche Meinungsbilder über die Zukunft der Hochschulen bestanden. Nach derAnalyse der Geschehnisse an der TH Darmstadt scheint es eine Potenzierung der Dyna-mik des Verdrängens durch den äußeren Druck auf Reformen gegeben zu haben. DieLeitung der TH Darmstadt war bestimmende Kraft innerhalb dieser parallel ablaufendenpersonellen Zuordnungsprozesse, ihr standen in der Personalpolitik der Nachkriegszeitstets mehrere Handlungsweisen zur Verfügung. Trotz aller Meinungsverschiedenheitenuntereinander, die sich allein schon durch die Fragmentierung des Lehrkörpers ergaben,behielten die Ordinarien gegenüber der außeruniversitären Öffentlichkeit eine gemein-same Position. Geleitet wurden sie dabei von dem gemeinsamen Interesse, das Beamten-tum in seinen althergebrachten Formen zielstrebig wiederherzustellen. Es herrschte dieMeinung, dass eine Reform nur von innen heraus Sinn machen würde. Dies wurde mit412 Vergangenheitspolitik und Zukunftsmanagement der Tradition der Selbstverwaltung und dem Recht auf akademische Freiheit begründet.Obwohl die Ordinarien ihre Rechte weitgehend verteidigen konnten, verlief die Personal-politik nicht ohne Reibungen mit den Reformkräften ab. Zentrale Bedeutung im Rahmender „Vergangenheitspolitik“ und des Zukunftsmanagements in der Nachkriegszeit nahmdie Interpretationshoheit über die politische Vergangenheit ein, sowohl über die der ein-zelnen Personen als auch über die der TH Darmstadt als Institution.

413

Zusammenfassung 413

DIE AUSEINANDERSETZUNGEN UM EINE HOCH- SCHULREFORM IN DEN JAHREN 1945 BIS 1960 9. Widerstand gegen Neuordnungs- und Demokratisie- rungsversuche

Nach dem Ende des „Dritten Reiches“ fehlte es nicht an Vorschlägen und Initiativen, dieauf eine Veränderung des Hochschulsystems abzielten. In Diskussionen über Ziele undMöglichkeiten einer Hochschulreform wurde über die zukünftige Form und Rolle derHochschulen ausgiebig und kontrovers debattiert. Es formierten sich Gesprächskreise,Kommissionen wurden gebildet und Tagungen organisiert. Hochschullehrer aus dem In-und Ausland, Vertreter des öffentlichen Lebens und der Landesregierungen sowie Dele-gationen der Militärregierung meldeten sich zu Wort. Auch an öffentlichem Interessemangelte es nicht.1855Dabei wiederholte sich in vielen Teilen die bereits nach dem ErstenWeltkrieg geführte Diskussion um eine Reform der Hochschulen.1856

Dass den Bildungsinstitutionen bei der demokratischen Umgestaltung in der Nachkriegs-zeit eine bedeutende Rolle zukommen würde, darüber war man sich einig. Doch ob siezur Übernahme dieser Aufgabe einer Erneuerung bedurften, diese Frage spaltete die Mei-nungen. Für die Reformbefürworter war das Unvermögen der Universitäten und Hoch-schulen, dem Nationalsozialismus standzuhalten, ausschlaggebend dafür, Veränderungenzu fordern. Die Hochschulvertreter auf der anderen Seite vertraten das Argument, dassdie Hochschulen während des „Dritten Reiches“ aufgrund der Wissenschaftsfeindlichkeit414 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche des Nationalsozialismus zu Opfern geworden seien. Sie konstatierten, dass es ihnen nurmit einer gestärkten Selbstverwaltung hätte gelingen können, sich gegen die nationalso-zialistischen Eingriffe in das Hochschulwesen behaupten zu können. Für sie galt es nach1945 darum umso mehr, die Hochschulen und Universitäten zu stärken, ihre Rechte ge-genüber dem Staat weiter auszubauen. Aufgrund der Gefahr einer Neuordnung durchKräfte von außen vermieden es die Hochschulen und Universitäten, sich zu den konkretenVerhältnissen während des Nationalsozialismus zu äußern. Das Ausbleiben einer Ausei-nandersetzung mit der eigenen Rolle vor 1945 erlaubte es, Neuordnungs- und Reformie-rungsversuche zu verhindern.1857

Trotz zahlreicher Anstöße für eine Hochschulreform verlief die Hochschulentwick-lung nach 1945 auch angesichts der vielen praktischen Problemlagen wie des materiellenWiederaufbaus und der Lehrkörperkapazitäten, die im Vordergrund standen, letztendlichmehr als 15 Jahre ohne einschneidende Veränderungen. Erst ab den Sechzigerjahrensetzte eine Phase der Strukturreform ein.1858Bis Mitte der 1960er Jahre bestimmte die„kulturstaatlich verfasste Ordinarienuniversität“ das Hochschulwesen.1859

Doch auch wenn es den Ordinarien nach 1945 gelang, ihren Einfluss auf die Entwick-lung der Hochschule wiederherzustellen und in noch nie dagewesener Weise auszuwei-ten,1860verlief der Prozess alles andere als konfliktfrei. Die Hochschulen und Universitä-ten mussten sich zumindest rhetorisch mit den an sie herangetragenen Reformvorschlägenauseinandersetzen. Die Vorläufer der späteren Strukturreform waren bereits in den1950er Jahren spürbar, der Wandel der Ordinarienuniversität war allein wegen der stei-genden Studierendenzahlen nicht aufzuhalten.1861

Wie sich diese Entwicklungen an der TH Darmstadt abspielten, ist Thema dieses Ka-pitels. Dafür werden in einem ersten Schritt der Einfluss der Militärregierung und ihrer 9.1 Die amerikanische Politik der Re-education 415Konzepte thematisiert, gefolgt von einem Abschnitt zu hessischen Vorgaben auf dem Ge-biet der Reformpolitik. Danach wird es um die Frage gehen, wie sich diese Vorgaben ander TH ausgewirkt haben. Wo gab es Handlungsspielräume? Wo waren die Grenzen?Anhand der Entwicklung der Verfassung der TH soll zum Schluss geprüft werden, wiesich die allgemeine Auseinandersetzung um eine Hochschulreform konkret auswirkte.

Die Quellenlage zu dem Thema der Hochschulreform ist überschaubar, in den meistenFällen stellen Ergebnisprotokolle die Überlieferung dar. In den wenigsten Fällen tendier-ten die Darmstädter dazu, ihre Gedankenwelt ausgiebig zu dokumentieren. Selbst zumIKIA-Kongress, einem internationalen Großereignis an der TH Darmstadt, sind kaumDokumente überliefert.

Die Auseinandersetzung um eine Hochschulreform nach 1945 wurde von der For-schung bereits ausgiebig thematisiert. Insbesondere zu den ersten Nachkriegsjahren lie-gen mittlerweile eine Reihe von Publikationen sowie Quelleneditionen vor.1862Neue Er-kenntnisse auch zu den 1950er Jahren und danach erbrachte die Studie von Anne Roh-stock „Von der ‚Ordinarienuniversität‘ zur ‚Revolutionszentrale‘? Hochschulreform undHochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957–1976“.1863

9.1Die amerikanische Politik der Re-education und deren Umsetzung an der TH Darmstadt

Nach Auffassung der Amerikaner waren die deutschen Universitäten und Hochschulendurch den Nationalsozialismus beschädigt. Andererseits stellten sie ein zentrales Mittelzur Erziehung einer zukünftigen demokratischen Elite dar. Diese Spannung schlug sichauf die Herangehensweise der Amerikaner nieder: Zwar begannen die Planungen derAmerikaner für die Gestaltung eines demokratischen Nachkriegsdeutschlands bereits An-fang der 1940er Jahre, ein einheitlicher Gesamtentwurf für die konkrete Vorgehensweise416 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche einer zukünftigen Deutschlandpolitik lag mit dem Ende des Krieges aufgrund unter-schiedlicher Standpunkte innerhalb der amerikanischen Regierung jedoch nicht vor.1864Sowenig sich die Amerikaner innerhalb ihrer Regierung über Bildungsfragen einig wer-den konnten, sowenig gelang dies unter den vier Besatzungsregierungen. In Potsdam ei-nigte man sich lediglich noch gemeinsam darauf, die Einflüsse des Nationalsozialismuszu beseitigen und die Entwicklung demokratischer Ideen zu fördern. Konkrete Abspra-chen über ein gemeinsames Vorgehen gab es nicht, und so gingen die Besatzungsmächtein ihren Zonen unterschiedlich vor.1865

Die amerikanische Bildungspolitik entwickelte sich schrittweise aus der allgemeinenDeutschlandplanung der amerikanischen politischen und militärischen Dienststellen. Zu-nächst gab es Überlegungen, mit rücksichtsloser Härte durchzugreifen und die Hochschu-len und Universitäten in der Besatzungszone für mindestens zwei Jahre zu schließen.1866Geplant war, sich Zeit zu nehmen, um die Voraussetzungen für die zukünftige Rolle derUniversitäten und Hochschulen zu schaffen. Die erste Phase der Bildungspolitik wurdedementsprechend noch bestimmt durch die eher restriktiv verfasste Direktive JCS 1067.Doch nach der Installierung einer Besatzungsregierung brachten pragmatische Entschei-dungen für eine Wiedereröffnung die hohen Ansprüche der Amerikaner ins Schleudern.Die Wende innerhalb der amerikanischen Besatzungspolitik vom Morgenthauplan 1944bis zum Marshallplan 1947 schlug sich auch in der Bildungspolitik nieder, von einemgeplanten Bestrafungskonzept ging man nun zu einem Konzept der sogenannten „Re-education“ – oftmals mit Umerziehung zur Demokratie übersetzt – über, die in einerneuen Direktive, der Direktive JCS 1779, im Juli 1947 als gewichtiger Bestandteil derDemokratisierungspolitik verankert wurde.1867Schon zu Zeiten der Militärregierung er- 9.1 Die amerikanische Politik der Re-education 417hielt der Begriff nie eine präzise Definition, vielmehr war er Ausdruck für eine Hal-tung.1868Der Historiker Karl-Heinz Bungenstab sieht darin einen „geistigen Prozeß derDemokratisierung“, umgesetzt in Form verschiedener Maßnahmen, um „auf der geistigenund emotionalen Ebene den Deutschen die Grundsätze, Prinzipien und Haltungen demo-kratischen Zusammenlebens verständlich zu machen, d. h. sie in die Lage zu versetzen,die demokratischen Strukturen zu erkennen, auszufüllen und die demokratischen Institu-tionen sinnvoll zu gebrauchen.“1869Die Maßnahmen bestanden, gewissermaßen als posi-tive Ergänzung zur Entnazifizierung, insbesondere aus der Förderung des internationalenAustauschs und der Einführung demokratischer Institutionen.1870

Umsetzung an der TH Darmstadt

Die Umsetzung gehörte in den Aufgabenbereich der Universitätsoffiziere. Da für die THDarmstadt nicht – wie üblich – der Universitätsoffizier, sondern die Bildungsabteilungder Darmstädter Militärregierung zuständig war, ist nicht auszuschließen, dass dieTH Darmstadt auch auf dem Gebiet der Re-education eine Sonderbehandlung erfuhr.1871Auf Initiative der Education & Religious Affairs Branch (E&RA) erhielt die TH Darm-stadt in der Nachkriegszeit Geld- und Hilfsmaßnahmen von der amerikanischen Militär-regierung. So unterstützten die Amerikaner Darmstädter Hochschulangehörige mit Care-Paketen.1872Daneben stellte die Erziehungsabteilung der Militärregierung Geldmittel zurVerteilung an Studierende zur Verfügung.1873Der Darmstädter Mensa ließen die Ameri-kaner eine Lebensmittelspende zukommen.1874Außerdem setzten sich die Amerikanerdafür ein, zerstörtes Material wie Bücher, Zeitschriften, Geräte und Lehrmittel zu ersetzen418 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche und neue Literatur zu beschaffen. So finanzierte die amerikanische Militärregierung ver-schiedene Zeitschriften und Bücher für den Lehrgebrauch, unter anderem im Jahr 1951für das Volkswirtschaftliche Seminar die Zeitschrift des „Social Science Research Coun-cil“.1875Auch im Rahmen des Marshall-Plans wurden einzelne Institute der TH Darmstadtgefördert.1876

Der wichtigste Grundpfeiler des amerikanischen Re-education-Programms bestandauch an der TH Darmstadt in der Förderung von Austauschprogrammen für Studierendeund Hochschullehrer.1877Ein erstes solches Programm wurde 1947 überregional mit demCultural Exchange Program ins Leben gerufen. Durch den Kontakt zwischen deutschenund westlichen Universitäten erhofften sich die Amerikaner ein gegenseitiges Profitieren.Während die Deutschen auf diese Weise aus erster Hand eine Demonstration praktizierterDemokratie erhalten sollten, waren die Amerikaner insbesondere an einem wissenschaft-lichen Austausch interessiert.1878Auch an der TH Darmstadt setzten sich die Amerikanerdafür ein, dass sowohl Darmstädter Hochschulmitarbeiter als auch Studierende ins Aus-land gehen konnten und gleichzeitig ausländische Gäste an die TH Darmstadt kamen.Bereits seit Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre nutzten die Darmstädter Professo-ren die Möglichkeit, für wissenschaftliche Zwecke ins Ausland zu reisen, äußerst rege.So unternahm der Chemieprofessor Karl Schoenemann im Juli 1949 eine Reise in dieUSA, im Jahr 1951 reiste er erneut nach Amerika.1879

Die Professoren Richard Vieweg und Gustav Mesmer unternahmen im September1949 auf Einladung der amerikanischen Regierung eine dreimonatige Reise zum Studiumder Ingenieursausbildung in den USA.1880Das Programm der Reise, festgelegt vom Bun-desamt für Erziehung in Washington, bot den beiden Darmstädter Professoren einen Ein- 9.1 Die amerikanische Politik der Re-education 419blick in die wichtigsten Typen wissenschaftlicher Hochschulen in Washington, NewYork, Boston, St. Louis, Rolla/Missouri, Stillwater/Oklahoma und Urbana/Illinois. AuchMesmer und Vieweg hielten verschiedene Vorträge.1881Erkenntnisse über die Charakte-ristika der amerikanischen Ausbildung, das studentische Leben, das Studium generaleund die Hochschulverwaltung im Vergleich zum deutschen Hochschulwesen veröffent-lichte Vieweg in einem Artikel in der Elektrotechnischen Zeitschrift im Jahr 1950. Ebensobesichtigte der Mathematiker Alwin Walther im Jahr 1951 Recheninstitute sowie wissen-schaftliche Versuchsstellen in ganz Amerika und hielt Vorträge.1882Auch die ProfessorenAdolf Küntzel und Walter Brecht reisten im Frühjahr 1950 nach Amerika.1883Auch inseuropäische Ausland reisten die Darmstädter Professoren. So hielt sich Professor Stocker1950 in Schweden auf, Professor Reinhold reiste gleich mehrere Male nach Österreich,Walter Brecht war im Oktober 1949 zu Forschungszwecken in Frankreich und WulfEmmo Ankel 1950 für zwei Monate in Italien.1884Alwin Walther reiste im Jahr 1950 zumInternationalen Mathematiker-Kongress nach Cambridge.1885Ein Jahr später nahm er inParis an der Tagung „Les machines à calculer et la pensée humaine“ teil. Im Juni 1951hielt er sich für Vorträge an der ETH in Zürich auf.1886Walthers Mitarbeiter Dreyer reistezur Einweihung des Manchester Digital Computers nach Manchester und besuchte Re-cheninstitute in London. Ein anderer Mitarbeiter Walthers, Helmut Sassenfeld, arbeitete1951 für neun Monate am Recheninstitut der Columbia University in New York.1887

Diese Reise-Aktivitäten zeigen, dass die Darmstädter Professoren spätestens Anfangder 1950er Jahre wieder aktiv am internationalen Wissenschaftsgeschehen teilnahmen.Unklar ist dabei jedoch, inwieweit diese Reisen im Einzelnen auf die Förderprogrammeder Amerikaner zurückzuführen waren. Ein im Jahr 1946 initiiertes Projekt von Aus-tauschprofessuren – die TH Darmstadt hatte die Professoren Brill, Jayme, Kohlschütterund Wilhelm Wagner dafür vorgeschlagen – scheint nicht in Gang gekommen zu sein.1888Weiter lässt sich anhand der überlieferten Quellen nicht immer feststellen, inwieweit dieTH Darmstadt das Angebot der amerikanischen Militärregierung annahm, auf deren Kos-420 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche ten ausländische Wissenschaftler einzuladen.1889Im Wintersemester 1949/50 kamen ins-gesamt 20 Personen für einen Gastvortrag an die TH Darmstadt, auch hier unterstütztedie amerikanische Militärregierung die TH Darmstadt bei ihren Bemühungen.1890DieMehrzahl von ihnen waren Vertreter deutscher Universitäten, teilweise waren die Gast-vorträge im Rahmen von Berufungsverhandlungen zustande gekommen. So war unterden Gästen 1949/50 auch der später an die TH Darmstadt berufene Karl Schlechta. Le-diglich drei Gäste kamen aus dem Ausland: Der Philosoph und Soziologe TheodorAdorno, damals noch Mitarbeiter des Institute of Social Research in New York, sprachüber „Städtebau und Gesellschaft“, außerdem Donald Brinkmann, Autor des Buches„Mensch und Technik“ von der Universität Zürich, der über „Was ist und was will derExistentialismus?“ sprach, des Weiteren hielt der in Rom lebende Archäologe LudwigCurtius einen Vortrag über „Die aldobrandinische Hochzeit“.1891Auch im Sommersemes-ter 1950 kamen 26 Gastvortragende an die TH Darmstadt, darunter die amerikanischenLuftfahrtspezialisten August Raspet und Wolfgang Klemperer.1892Howard Hathaway Ai-ken, Erfinder des ersten digitalen Großrechners Mark I, hielt im Februar 1951 zwei Gast-vorträge an der TH Darmstadt.1893Ein Austauschprogramm kam auch bis 1960 nicht zu-stande. Das seit 1952 bestehende Fulbrightprogramm weckte anfangs das Interesse derTH Darmstadt. So schlug sie Wissenschaftler aus Amerika für eine Einladung vor, darun-ter auch während des Nationalsozialismus ins Exil geflohene Deutsche, wie die beiden inAmerika lebenden Architekten Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe.1894AllemAnschein nach hatten diese Einladungen keinen Erfolg, ebenso scheiterten mehrere An-träge der TH Darmstadt, britische Wissenschaftler für einen Gastaufenthalt im Rahmeneines britisch-deutschen Austauschprogramms an der TH Darmstadt zu gewinnen.1895Nachdem es den Fakultäten nicht gelang, ein Fulbrightstipendium bewilligt zu bekom-men, sank ihre Motivation für eine Bewerbung.1896Wie es scheint, kam lediglich ein Ful-brightstipendium, das für Edward Keachie im Jahr 1956, zustande.1897Auch wenn keinAustauschprogramm etabliert werden konnte, hielten sich einzelne Wissenschaftler für 9.1 Die amerikanische Politik der Re-education 421die Dauer von maximal einem oder zwei Semester an der TH Darmstadt auf, ebenso wa-ren Darmstädter Hochschulmitarbeiter vorübergehend im Ausland beschäftigt.1898

Studierendenaustausch und Einflüsse auf das studentische Zusammenleben

Die Amerikaner setzten sich daneben auch für einen Studentenaustausch ein.1899Dabeispielte Amerika als Zielland zunächst noch keine Rolle.1900Dagegen gingen bereits Endeder 1940er Jahre Darmstädter ins europäische Ausland.1901So wurden 1947 einzelne Stu-dierende für Erntedienstaufenthalte in der Schweiz entsandt, im Jahr 1949 waren es schon31 Austauschstudenten.1902Nur wenige Jahre später war neben der Schweiz bereits einreger Austausch unter anderem mit England, Schweden, Finnland, Österreich, Spanien,und Frankreich im Gange.1903Weniger rege sah es jedoch bezüglich Gegenbesuche vonausländischen Universitäten aus, Grund dafür war wohl der Zerstörungsgrad der THDarmstadt. Im Sommer 1948 kamen erstmals eine Handvoll Studierende aus Cambridgean die TH Darmstadt.1904Im gleichen Semester bekamen zwei TH-Studenten die Mög-lichkeit, für ein Jahr in Amerika zu studieren.1905Auch im Jahr 1949 besuchten vier Yale-Studenten die TH Darmstadt, im Gegenzug wurden acht Darmstädter nach Cambridgegesandt.1906

Auf Anregung der Amerikaner richtete die TH Darmstadt im August 1949 gemeinsammit der Frankfurter Universität einen internationalen Ferienkurs – derartige Kurse fandenbereits seit 1948 an hessischen Hochschulen statt – aus. Auf Vorschlag des Universitäts-422 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche offiziers Montgomery fand anlässlich des Goethe-Jahres vom 7. bis 28. August 1949 einSommerkurs für ausländische und deutsche Studierende statt. Die Leitung der TH Darm-stadt stand dem Vorschlag aus organisatorischen Gründen zunächst skeptisch gegenüber,jedoch bestanden die Amerikaner auf Darmstadt als Austragungsort.1907Schließlich ei-nigte man sich auf das Thema Geschichte der Naturwissenschaften, die Leitung des Feri-enkurses übernahm Karl Marguerre.1908Vorgesehen war, etwa 70 ausländische Studie-rende und 125 deutsche Studierende einzuladen, anwesend waren jedoch lediglich 68deutsche und 17 ausländische Studierende aus Amerika, England, Frankreich, Belgien,Holland und Australien.1909Die Kurse fanden in Darmstadt statt, danach konnten die Teil-nehmer an den Goethe-Feiern in Frankfurt teilnehmen. Unter anderem trugen DonaldBrinkmann und Andreas Speiser aus der Schweiz, der während des „Dritten Reich“ insExil geflohene Physiker Paul Peter Ewald aus Belfast, der französische Mathematik- undWissenschaftshistoriker René Taton aus Paris sowie der Zoologe Torsten Gislén von derUniversität Lund vor.1910Jedoch, so geht aus den Quellen hervor, blieb diese Veranstal-tung ein einmaliges Ereignis, obwohl vonseiten des Darmstädter AStA Interesse an wei-teren Ferienkursen geäußert wurde.1911

Neben der Förderung eines internationalen Austauschs, durch den man sich eine Ho-rizonterweiterung der Studierenden und das unmittelbare Erleben von Demokratie er-hoffte, bemühten sich die Amerikaner darum, Veränderungen im studentischen Gemein-schaftsleben herbeizuführen. Unter anderem setzten sie sich für die Gründung von stu-dentischen Aussprachegruppen ein sowie für Möglichkeiten für die Studierenden, durchSelbstverwaltungstätigkeiten an demokratisches Handeln herangeführt zu werden. Sowurden aus dem Sonderfonds des amerikanischen Hohen Kommissars McCloy für denBau von Studentenhäusern 430.000 DM für den Ausbau der Otto-Berndt-Halle als Stu-dentenhaus zur Verfügung gestellt.1912

An der TH Darmstadt regten die Amerikaner Diskussionsklubs unter Teilnahme vonHochschulangehörigen an.1913Diese Anregung fand jedoch nur ein geringes Echo, einDebattierklub kam nicht zustande. Im Jahr 1947 wurde ein deutsch-amerikanischer 9.1 Die amerikanische Politik der Re-education 423Freundschaftsklub ins Leben gerufen, Gründer war Peter Neufert, der Sohn des Architek-turprofessors Ernst Neufert.1914Die Einführung einer neuen Form der studentischen Ver-einigung muss daher als gescheitert betrachtet werden. Stattdessen fand, nicht zuletzt auf-grund der Einflussnahme von Altherrenverbänden, ein Wiederaufleben des alten Verbin-dungslebens statt, was von den Amerikanern mit Missfallen registriert wurde. Wie dieStudierenden die Re-education-Maßnahmen aufnahmen, lässt sich nur schwer sagen. Inden Quellen finden sich keine Hinweise auf studentischen Unmut oder Spannungen ge-genüber den Universitätsoffizieren oder den Mitarbeitern des E&RA, welche ihnen stetswohlwollend gegenübertraten. Es ist jedoch davon auszugehen, dass das Bild der Studie-renden von der amerikanischen Militärregierung und letztendlich auch die Bereitschaft,die von ihr vertretenen Erziehungsmaßnahmen anzunehmen, auch durch Begegnungenmit anderen Mitgliedern der Militärregierung, die den Studierenden unter Umständen inweniger wohlwollender Form entgegentraten, beeinflusst wurde. Wie wenig stabil dieBeziehung zwischen Studierenden und amerikanischer Militärregierung war, zeigt dieBegebenheit rund um das Hochschulstadion. Die amerikanische Militärregierung hattedas Stadion zur eigenen sportlichen Betätigung im April 1946 beschlagnahmt.1915Nachmehrmonatigen Verhandlungsgesprächen konnte die Hochschulleitung eine gemein-schaftliche Nutzung der Amerikaner und der Hochschule erreichen.1916Nach drei Jahrender gemeinsamen Nutzung erhielten die TH Darmstadt und alle Deutschen Platzverbotvon den Amerikanern, nachdem ein Darmstädter Student einem jüdischen Offizier deramerikanischen Armee mit Hitlergruß entgegentreten sein soll.1917Das Benutzungsverbotsollte später gelockert werden, was jedoch der Rektor der Hochschule unter den angebo-tenen Konditionen – es bestand ein Duschverbot, da der TH Darmstadt eine Betretungder Umkleiden nicht erlaubt worden war – ablehnte.1918Im Rahmen des Konflikts um dasHochschulstadion warfen die Darmstädter der amerikanischen Militärregierung unter an-derem vor, dass eine Diskrepanz zwischen ihrer im Rahmen der Re-education-Maßnah-men geforderten internationalen Verständigung und dem Handeln der zuständigen ame-rikanischen Dienststellen bestehe.1919Im Rahmen der Bemühungen der Hochschulleitungfür eine Rekonstruktion der Ereignisse rund um die Beschlagnahmung kam außerdem424 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche zutage, dass ein Student nach der Beschlagnahmung zu einem Amerikaner unter anderem„du Amischwein, was habt ihr für eine Demokratie“ gesagt haben soll.1920Nach Demonst-rationen mit mehreren Hunderten Studierenden und Eingaben der Studierenden an dieamerikanische Militärregierung kam es 1951 erneut zu einer gemeinsamen Nutzung, imJahr 1955 zur offiziellen Rückgabe des Stadions an die TH Darmstadt.1921

9.2Ziele und Akteure in der amerikanischen Zone und die besondere Situation der Technischen Hochschulen

Neben diesen konkreten Re-education-Maßnahmen bemühten sich die Amerikaner, dieHochschulen und Universitäten zu einer Diskussion über eine Hochschulreform anzure-gen. Auch hier unterließ es die Militärregierung, ihre Vorstellung autoritär durchzusetzen,und wählte vielmehr den Weg der indirekten Einflussnahme, beispielsweise durch finan-zielle Unterstützung von Konferenzen.1922So lud der amerikanische UniversitätsoffizierHartshorne gemeinsam mit dem Marburger Rektor, dem Philosophen Julius Ebbinghaus,zur Klärung der Frage, wie die Universität aussehen sollte, zu den „Marburger Hoch-schulgesprächen“ ein. Vom 12. bis 15. Juni 1946 fand das erste von insgesamt drei Ge-sprächen als Forum für einen freien Gedankenaustausch in Marburg statt.1923Die Teil-nehmer waren eingeladen, in verschiedenen Arbeitsgruppen zu diskutieren.1924Die Mar-burger Gespräche brachten keine konkreten Reformvorschläge, viele der Anwesenden,insbesondere aus Emigration zurückgekehrte Wissenschaftler, waren von der abstraktenEbene der Gespräche enttäuscht.1925Zwar wurde in der Schlusssitzung beschlossen, dieGespräche zu einer ständigen Einrichtung zu machen,1926jedoch kamen lediglich zwei 9.2 Ziele und Akteure in der amerikanischen Zone 425weitere Gespräche zustande, die inhaltlich noch weniger von Bedeutung waren.1927DieBeschlüsse der drei Gespräche bestanden aus einem abstrakten Bekenntnis zur Freiheitder Wissenschaft und Lehre, einem Bekenntnis zur Schulreform und zur Aufnahme vonAuslandsbeziehungen.1928In der Praxis hielten sich die Amerikaner im Hochschulbereichweiter zurück, eine konkrete Umsetzung der Schlagworte wurde nicht versucht.1929

Erst nachdem von den deutschen Universitäten und Hochschulen keine deutlichenReformanstrengungen gemacht worden waren, begannen die Amerikaner im Jahr1946/47 konkrete Vorschläge zu unterbreiten.1930Verschiedene Delegationen der Ameri-kaner bereisten die Hochschulen der Besatzungszone und brachten anschließend in Gut-achten ihre Eindrücke zu Papier. So unterbreitete der Präsident des American Council onEducation, George F. Zook, im Januar 1947 nach einer Reise erste Vorschläge für eineReform.1931Er empfahl unter anderem zerstörtes Material wie Bücher, Zeitschriften, Ge-räte und andere Lehrmittel zu ersetzen, den Austausch von Professoren und Studierendenmit dem Ausland zu fördern, Möglichkeiten der praktischen Erfahrung von Demokratiefür Studierende wie Aussprachegruppen, Beteiligung an der Selbstverwaltung zu errich-ten sowie mittellose Studierende mit Geld zu fördern, um eine soziale Öffnung des Zu-gangs zum Studium zu bewirken.

Nachdem die amerikanische Militärregierung im Herbst 1946 die Bildungspolitik indie Hände der Landesregierungen gelegt hatte, begannen auch diese ihre bildungspoliti-schen Ideen und Initiativen zu entwickeln. Ein neu gegründeter Kulturausschuss des Län-derrats arbeitete Anregungen für „die Reform der Hochschulverfassungen in den Län-dern“ aus, die am 5. Dezember 1947 als sogenannte „Schwalbacher Richtlinien“ bekanntgegeben wurden, dann jedoch nur geringe Aufmerksamkeit erlangten.1932Diese enthieltenvorwiegend eine Beschreibung der Körperschaft Universität, daneben Ausführungen zum426 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche Verhältnis von Staat und Hochschule sowie Hochschule und Öffentlichkeit. Nach Ansichtder Kommission sollte die Selbstverwaltung der Hochschule auf eine breitere Basis ge-stellt werden, unter anderem, indem Studierende und Nichtordinarien mehr Mitbestim-mungsrechte erhielten.1933Auch die britische Militärregierung kam zu dem Schluss, dassdie Universitäten von sich aus keine Anstrengungen für eine Hochschulreform machten.Im Zuge der Erkenntnis, dass die deutschen Universitäten weiterhin von einer Gruppekonservativer und nationalistisch eingestellter älterer Ordinarien dominiert wurden, diesich neuen Ideen gegenüber verschlossen zeigten,1934setzte auch die britische Militärre-gierung eine Kommission ein, die ein Gutachten über das deutsche Hochschulsystem er-arbeiten sollte. Der deutsche „Studienausschuss für Hochschulreform“ legte 1948 das so-genannte „Blaue Gutachten“ vor, das auch in der amerikanischen Zone große Beachtungfand.1935Darin kam man zu dem Schluss, dass eine Reform notwendig sei. Vier Punktesah man als dringlich an: die Erleichterung des Studiums für Mittellose, eine Förderungdes Kontakts der Hochschule mit der Gesellschaft durch einen Hochschulrat, die Verbrei-terung des Lehrkörpers sowie ein Studium generale.1936Darüber hinaus enthielt das Gut-achten Stellungnahmen zur Beziehung zwischen Hochschule und Staat, zur Hochschul-verfassung und der Studentenschaft.

Durch die verschiedenen Anstöße waren die Vertreter der Hochschulen gezwungen,sich mit dem Thema einer Hochschulreform zu beschäftigen. Dies tat man nicht zuletztin den sich neu gründenden überregionalen Gremien, wie z. B. der ersten Rektorenkon-ferenz der amerikanischen Zone vom 25.–27. November 1946.1937Im April 1947 tagteein erweiterter Verfassungsausschuss in Heidelberg, dem unter anderem auch der Rektorder TH Darmstadt, Richard Vieweg, angehörte. In den Schlusssätzen des Ausschusseszeigen sich deutlich die Grenzen der Reform aus Sicht der Hochschulvertreter: Zu aller-erst legte der Verfassungsausschuss fest, dass Selbstverwaltung der wissenschaftlichenHochschulen unerlässlich für Lehre und Forschung sei.1938Weiter hieß es, das Verhältniszwischen Staat und Hochschule müsse vor dem Hintergrund der demokratischen Erzie- 9.2 Ziele und Akteure in der amerikanischen Zone 427hung gesehen werden. Der Ausschuss kündigte an, die Einrichtung eines „Board of Trus-tees“ zur größeren Einbindung der Öffentlichkeit in Hochschulbelange überprüfen zuwollen. Für die Hochschulen forderte das Gremium eine stärkere Beteiligung an den Be-ratungen des Länderrates. Einzig der Frage der Mitbestimmungsrechte von Studierendenstand man offen gegenüber.

Wie berichtet, wurden zwar in der Diskussion nach 1945 die Ereignisse der Zeit desNationalsozialismus nicht thematisiert, viele der geäußerten Hochschulreformideen – hierinsbesondere die Neujustierung des Verhältnisses zwischen Staat und Hochschule unddie Betonung der Persönlichkeitsbildung als Versuch, zukünftige Studierende gegen to-talitäre Ideologien immun zu machen – standen jedoch unverkennbar im Zusammenhangmit Erfahrungen während des „Dritten Reiches“. Die Hochschulvertreter stritten nach1945 nicht ab, dass eine Veränderung notwendig sei, meist sollte diese jedoch ihrem Ver-ständnis nach nicht in einer Neuordnung, sondern vielmehr unter dem Verweis auf dasHumboldt’sche Bildungsideal in einer Restauration der Universität vor 1933 bestehen.1939

In diesem Spannungsfeld zwischen Hochschulvertretern, Landesregierungen und Mi-litärregierungen fand die Auseinandersetzung über eine Hochschulreform statt. Für dieTechnischen Hochschulen kam eine weitere, geradezu existenzbedrohende Komponentehinzu: In der Debatte über die Hochschulreform wurde eine mögliche Eingliederung derTechnischen Hochschulen als neue Fakultäten in die Universitäten überlegt.1940WichtigeBezugs- und Referenzgröße innerhalb der Debatte war der Heidelberger Philosoph KarlJaspers, dessen bereits im Jahr 1946 vorgelegte Publikation „Die Idee der Universität“eine wichtige Diskussionsgrundlage darstellte.1941Darin hielt er eine Eingliederung derTechnischen Hochschulen zurück in die Universitäten für bedeutsam. Ebenso wurde im„Blauen Gutachten“ vom Studienausschuss für Hochschulreform – „um die dämonischenKräfte der Technik binden zu helfen“ – unter anderem vorgeschlagen, die Technischen428 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche Hochschulen als Technische Fakultät an die Universitäten anzugliedern.1942Einzige Al-ternative bestand laut dem Gutachten aus der Erweiterung der technischen und ingenieur-wissenschaftlichen um eine geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Fakultät. Erstdann könne die Technische Hochschule ihrer Bedeutung gemäß ihre Aufgabe als Hoch-schule wirklich erfüllen. „Sonst wäre es in der Tat besser, die Technische Hochschule alsTechnische Fakultät in die Universität einzugliedern, was im Einzelfall vielleicht sogardas Gebotene sein kann.“1943Insbesondere die Spezialisierung der Wissenschaft entwi-ckelte sich in der Nachkriegszeit zu einem Negativschlagwort.

9.3Die Reformdiskussion an der TH Darmstadt. Zwischen Präven- tion und Abwehr

9.3.1Etablierung allgemeinbildender Vorträge an der Technischen Hochschule Darm-stadt als „Maßnahme zur Persönlichkeitsbildung“

Die kritische Überprüfung der Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgten Eman-zipation der Technischen Hochschulen von den Universitäten in der Nachkriegszeit setzteauch die TH Darmstadt spürbar unter Legitimierungsdruck. Immer wieder sah sich dieHochschulleitung nach 1945 dazu veranlasst, in öffentlichen Stellungnahmen ihre Posi-tion als Technische Hochschule zu verteidigen.1944

Die TH Darmstadt nahm umgehend die Schlagworte der Amerikaner auf, noch mehr:Sie kam ihnen in vorauseilendem Gehorsam, wohl um Eingriffe zu vermeiden, zuvor. Sohat man beispielsweise im Rahmen der vor der offiziellen Wiedereröffnung im Herbst1945 stattfindende Vorkurse für Bauingenieure und Architekten als ergänzendes Elementallgemeinbildende Einzelvorträge eingeführt. Diese sollten laut einem Schreiben an dieamerikanische Militärregierung dezidiert von Professoren „known for their Anti-Naziconvictions“ vorgetragen werden und den Beginn einer „positive denazification“ und so-mit einen Beitrag zur Reorientierung der Studierenden leisten.1945Auch an anderer Stelle 9.3 Die Reformdiskussion an der TH Darmstadt 429betonte die Hochschulleitung die Bedeutung der Persönlichkeitsbildung der Studieren-den.1946So legte der Vertrauensausschuss der amerikanischen Militärregierung Ende Ok-tober 1945 sogenannte „Thesen zu den Zielen der Technischen Hochschule Darmstadt“vor. Darin heißt es: „Um ihren alten Platz als Stätte echter Bildung und als Träger wahrerKultur nach wie vor zu behaupten“, müsse die Hochschule sich nun auch der Pflege der„Randgebiete“, wie in diesem Rahmen die Geisteswissenschaften genannt wurden, an-nehmen und so den Studierenden vom „phrasenhaften und gedankenlosen Nachbeten so-genannter Weltanschauungen“ abzuhalten.1947

Zu diesem Zwecke führte die TH Darmstadt im ersten Nachkriegssemester „allge-meinbildende Vorträge“ ein.1948Mit diesen Bemühungen war die TH Darmstadt nichtalleine: Vielerorts gab es derartige Bestrebungen zur Einführung eines Studium generale,das auf verschiedene Art und Weise – meist wie in Darmstadt durch Vorlesungen fürHörer aller Fakultäten – institutionalisiert wurde. Einige Universitäten, wie beispiels-weise Tübingen, Freiburg oder Heidelberg, richteten einen „Dies academicus“ oder „Diesuniversitatis“ ein. An ein oder zwei Tagen im Semester wurden allgemeine Vorlesungenabgehalten, die auch prüfungsrelevant waren. Am weitesten ging dabei die TechnischeUniversität Berlin mit der Einführung des Humanistischen Studiums. Bis 1968 waren all-gemeinbildende Fächer in den Studien- und Prüfungsordnungen verankert, eine eigenehumanistische Fakultät wurde gegründet.1949Der Schritt der TH Darmstadt, allgemein-bildende Vorträge als Zusatz und ohne Prüfungspflicht einzuführen, ging zwar nicht soweit wie die Bestrebungen in Berlin, jedoch erfolgte er bemerkenswert früh.1950Die Kom-mission des „Blauen Gutachtens“ war tief beeindruckt über die Wertschätzung humanis-tischer Vorbildung durch die THs und kam zu dem Schluss, dass Technische Hochschu-len fast noch mehr als die Universitäten an einer Reform des gesamten Erziehungswesensinteressiert seien.1951Dieser besondere Wille der THs zeigte sich auch auf andere Art undWeise: Die Technischen Hochschulen in ganz Deutschland diskutierten relativ bald nach430 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche dem Ende des Krieges über Umbenennungen in Technische Universitäten. Die TH Berlinentschied sich zu diesem Schritt im Jahr 1946. Dies überrascht nicht, sie hatte sich wäh-rend des „Dritten Reiches“ mit der Gründung einer wehrtechnischen Fakultät besondersaugenscheinlich auf Krieg ausgerichtet und sah sich nach dem Ende des „Dritten Reiches“besonders damit assoziiert. Die Umbenennung kann demnach als Entproblematisierungdes Verhältnisses zwischen Technik und Gesellschaft gelten.1952An der TH Darmstadtfanden mehrere Abstimmungen zu einer möglichen Umbenennung statt, die Professorenentschieden sich jedoch immer dagegen. Auch die Einführung der allgemeinbildendenVorträge wollten die Darmstädter nicht als Positionierung in diese Richtung verstehen:„Mit solchen Bestrebungen nähert sich die Technische Hochschule den Lehridealen, diedie Universität zu erreichen sucht. Die Technische Hochschule will jedoch ihre Eigenartbewahren, wie ihre Entwicklung sie hervorgebracht hat“.1953

Ablehnung einer Prüfungspflicht für das Fach Staatsbürgerkunde

Dies erklärt auch, warum die TH Darmstadt mit der Einführung allgemeinbildender Vor-träge einerseits deutliche Zeichen setzte, andererseits jedoch Versuche der hessischenLandesregierung, eine Prüfungspflicht für das Fach Staatsbürgerkunde einzuführen, ve-hement ablehnte. Wie Arno Mohr feststellt, zählte Hessen bei der Einführung der politi-schen Wissenschaften zu den fortschrittlichsten Ländern.1954Eine wichtige förderndeRolle für die Etablierung der Politikwissenschaft in Hessen spielte weiterhin auch dieamerikanische Militärregierung, durch deren Förderung mehrere Konferenzen zu dieserFrage finanziert wurden.1955Grundlegend war dabei die Annahme, dass die neuen Anfor-derungen, die nach 1945 an das politische Leben gestellt wurden, sich im Rahmen der 9.3 Die Reformdiskussion an der TH Darmstadt 431herkömmlichen „politischen Wissenschaften“ wie Geschichte, Nationalökonomie oderder Sozialwissenschaften nicht mehr bewältigen ließen und es der Errichtung einer be-sonderen „Wissenschaft von der Politik“ als „Alternative“ bedurfte, um die Erziehungder Deutschen zu den Werten der Demokratie auf ein sicheres Fundament zu stellen.1956

Im Juni 1947 bemühte sich die Landesregierung um die Einführung der Staatsbürger-kunde an den hessischen Hochschulen durch gesetzliche Vorgaben.1957Diese Entschei-dung, die de jure einen Eingriff in die Studienpläne im Sinne eines Studium generaledarstellte, blieb an der TH Darmstadt jedoch ohne Folgen. Die Hochschule sah zunächstkeinen Anlass dafür, Staatsbürgerkunde als neues Fach einzuführen. Sie betrachtete mitdem Ausbau der bereits vorhandenen Wissenschaften ihre Aufgabe als erfüllt.1958Ledig-lich die Fakultät für Mathematik und Physik sah zu diesem Zeitpunkt in einer vorläufigenStudien- und Prüfungsordnung vom Dezember 1946 vor, dass die Studierenden nebendem mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Fachwissen auch „Philosophie,Staatsbürgerkunde, Wirtschaftswissenschaften und Rechtskunde“ besuchen sollten, umden „geistigen Horizont“ der Studierenden zu erweitern und der „Entwicklung des ganzenMenschen zu dienen“.1959Weitere Schritte blieben jedoch aus – wie es scheint, traf diesnicht nur auf Darmstadt zu – und der hessische Landtag startete einen neuen Versuch.Am 7. Mai 1948 erging eine Aufforderung an alle hessischen Hochschulen, dass aufgrunddes Landtagsbeschlusses an allen Hochschulen des Landes staatspolitische Vorlesungenabgehalten werden sollten.1960Erneut machte sich die TH Darmstadt keine Gedanken überneue Veranstaltungen und verwies auf die Vorlesungen von Ludwig Bergsträsser „Ge-genwartsfragen der Politik“ und „Geschichte der politischen Parteien“.1961Im November1948 beschloss der Landtag weiter, dass „das Fach Staatsbürgerkunde als Sammelfach432 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche mit den Untergruppen a) Wirtschaftskunde, b) Rechtskunde, c) Staatsrecht in die Studi-enpläne aller Fakultäten einzuführen“ sei.1962Doch auch dieser Beschluss führte nicht zueiner Einführung der Staatsbürgerkunde als Pflichtfach durch die Hochschulvertreter. DieTH Darmstadt beschloss in Absprache mit der Universität Marburg erst zu handeln, so-bald eine ministerielle Anweisung vorläge.1963Von der Idee blieben schließlich die dreiLehrstühle für Wissenschaftliche Politik in Marburg, Darmstadt und Frankfurt übrig.1964Auch die hessischen Pläne, eine „Hochschule für Politik“ zu gründen, scheiterten 1949an finanziellen Engpässen.1965

Durchführung der allgemeinbildenden Vorträge an der TH Darmstadt

Den Auftakt der allgemeinbildenden Vorträge an der TH Darmstadt machte im Winter-semester 1945/46 eine Vorlesungsreihe zum Thema „Die Welt des Ingenieurs“.1966Ver-antwortlich für die Konzipierung der ersten Veranstaltungen war Wilhelm Schlink.1967Die einzelnen Vorträge fanden alle 14 Tage mittwochnachmittags statt, der von allen an-deren Vorlesungen frei gehalten wurde.1968Für die folgenden Vortragsreihen wurdenauch auswärtige Vortragende eingeladen. So trug in der Vorlesungsreihe des Sommerse-mesters 1946 mit dem Titel „Das Gesicht des Auslands“ unter anderem Edward Harts-horne über das Familienleben in Amerika vor.1969Im Wintersemester 1946/47 trug die 9.3 Die Reformdiskussion an der TH Darmstadt 433Vorlesungsreihe den Titel „Wissenschaften im Leben der Gegenwart“.1970Betrachtet mandie Themen, so lässt sich ein großes Bedürfnis nach Orientierung und Bilanzierung her-auslesen.1971

Die Vorträge sollten in Darmstadt neben der Persönlichkeitsbildung der Ingenieureaußerdem eine andere Funktion erfüllen.1972Wie sich aus den Protokollen der Senatssit-zungen ergibt, wollte man damit zugleich eine Brücke zur lokalen städtischen Öffentlich-keit herstellen.1973Während man in der Nachkriegszeit auf traditionelle akademische Fei-ern bewusst verzichtete,1974dienten die allgemeinbildenden Vorträge dazu, „das weiterePublikum Darmstadts in ‚populär-wissenschaftlicher‘ Form mit den Arbeitsgebieten ver-traut“ zu machen, wie es gönnerhaft in einem Rektoratspapier heißt.1975Obwohl es in denallgemeinbildenden Vorträgen weniger um die tatsächlichen Arbeitsgebiete der Ingeni-eure ging, sollten sie, für Laien nachvollziehbar, eine Vertrautheit zur Technischen Hoch-schule erzeugen. Zu Beginn eines jeden Semesters wurde in der Darmstädter Presse aufdas Vorlesungsprogramm in den Bereichen Philosophie, Psychologie, Kunst, Kulturge-schichte, Religion, Literaturgeschichte, Musik, Recht, Politik und Landeskunde sowieSprachen hingewiesen, die „das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit finden dürf-ten“.1976

Für die Studierenden wurde eine Teilnahme an den Vorträgen in Darmstadt nicht zurPflicht gemacht. Anhand der überlieferten Quellen lässt sich nicht rekonstruieren, wieviele Studierende die Veranstaltungen besuchten. In Freiburg, so weiß Sylvia Paletschek,fanden die allgemeinbildenden Vorträge nur wenige Zuhörer und das, obwohl sie dortsogar zur Pflichtveranstaltung erhoben worden waren.1977Ein gewisses Interesse scheintallerdings in Darmstadt bestanden zu haben, denn im März 1947 gingen Studierende aufden Rektor zu mit dem Wunsch, Persönlichkeiten des politischen Lebens zur Abhaltung434 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche von akademischen Vorträgen – wobei parteipolitische Reden ausdrücklich nicht er-wünscht waren – an die Hochschule einzuladen.1978Nachdem die amerikanische Militär-regierung auf diesen Vortrag zustimmend reagiert hatte und die eigentlich vorgeseheneVortragsreihe vor dem Aus stand, da sich zu wenige Vortragende bereitgefunden hatten,ließ sich die Hochschulleitung auf den Wunsch der Studierenden ein und organisierte fürdas Sommersemester 1947 eine Vortragsreihe mit prominenten akademischen Vertreternder Parteien.1979Im Rahmen dieser Veranstaltung trugen unter anderem der ehemaligeMinisterpräsident Karl Geiler, der Intendant des Landestheaters Walter Jockisch sowieder spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer vor.1980

Mit der Durchführung der Vortragsreihe für das Wintersemester 1947/48 wurde WulfAnkel beauftragt. Auf Anregung des Rektors wurde „Grosse Naturforscher und Ingeni-eure“ zum Vortragsthema bestimmt.1981Zuletzt wurde im Jahr 1951 eine derartige Vor-tragsreihe geplant. Unter dem Titel „Wissenschaft und Öffentlichkeit“ sollten unter an-derem Nobelpreisträger Werner Heisenberg aus Göttingen und der Marburger PhilosophJulius Ebbinghaus vortragen.1982

Mit der Berufung von Schlechta und Kogon 1951 veränderte sich der Charakter derVeranstaltungsreihen. Die Vorlesungsreihen gingen in den Aufgabenbereich der Fakultätfür Kultur- und Staatswissenschaften über und wurden nicht mehr wie vorher von Rektorund Kleinem Senat geplant. Von 1951 bis 1971 gab es an der TH Darmstadt ein „Natur-wissenschaftlich-Philosophisches Colloquium“ unter der Leitung von Karl Schlechta,Professor für Philosophie, Pädagogik und Psychologie, und dem MathematikprofessorCurt Schmieden.1983Alle 14 Tage fanden Vorträge auswärtiger Gäste statt. Die Zuhörer,so berichtet Schlechta, bestanden aus Professoren, Assistenten und vielen Studierendehöherer Semester, insbesondere Kandidaten des naturwissenschaftlichen Lehramts.1984Nachdem sich die Gesellschaftswissenschaften mehr und mehr durch eigene Lehrstühle 9.3 Die Reformdiskussion an der TH Darmstadt 435ausdifferenzierten, ging die Zahl der Teilnehmer zurück.1985Spätestens Mitte der 1950erJahre war von der ursprünglichen Idee eines Studium generale an der TH Darmstadt kaumetwas geblieben. Dies zeigte sich unter anderem daran, dass vom Land bereitgestellteMittel ungenutzt verfielen.1986Wie aus einem Senatsprotokolleintrag hervorgeht, stelltebereits im Jahr 1952/53 das Freihalten des Mittwochnachmittags von fachlichen Vorle-sungen keine Selbstverständlichkeit mehr dar.1987

9.3.2Der Internationale Kongress für Ingenieursausbildung 1947. InternationaleBühne für Reformrhetorik

Ende Juli/Anfang August 1947 richtete die TH Darmstadt im nahezu vollständig zerstör-ten Darmstadt einen zehntätigen internationalen Kongress mit mehreren hundert Gästenaus dem In- und Ausland aus. Die Darmstädter Professoren hatten innerhalb von knappsechs Monaten den Kongress buchstäblich aus dem Boden gestampft.

Am Anfang stand der Wunsch der Protagonisten der TH Darmstadt, neben Vertreternsämtlicher deutscher Hochschulen auch Wissenschaftler aus Amerika, Frankreich, derSchweiz, Belgien, Holland und andere mehr, nach Darmstadt einzuladen. Grundlegendfür den Gedanken, einen internationalen Kongress auszurichten, war demnach zuallererstdie Möglichkeit, auf diese Weise Anschluss an die scientific community zu erlangen. SeitEnde November 1946 stand die Idee im Raum, erst danach entschieden die DarmstädterProfessoren in einem zweiten Schritt über den inhaltlichen Rahmen der Veranstaltung.Auf Vorschlag des Rektors Richard Vieweg beschloss der Kleine Senat, dass das Problemder Ausbildung der Ingenieure in den Mittelpunkt des Kongresses gestellt werden sollte.Die Entscheidung für das Thema fiel nicht einstimmig, denn einige Senatsmitglieder heg-ten Bedenken gegen die Durchführung des Kongresses. Zum Beispiel lehnten die Profes-soren Reuleaux und Klöppel eine reine Programmzusammenstellung zum Thema derIngenieursausbildung ab und empfahlen eine stärkere Betonung des Fachlichen. Letzt-endlich wurden sie in der Abstimmung im Großen Senat überstimmt und es wurde be-schlossen, den Kongress unter dem Titel „Internationaler Kongress für Ingenieursausbil-dung“ (IKIA) auszurichten.1988

436 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche

Nicht zuletzt aufgrund der Themenwahl sicherte man sich die Bereitschaft der ameri-kanischen Militärregierung, den Kongress zu fördern. Der amerikanische Universitätsof-fizier äußerte sofort großes Interesse an der Veranstaltung und stellte finanzielle Mittel inAussicht.1989Auch die Stadt Darmstadt war bereit, die Veranstaltung zu unterstützen, ins-besondere bei der Suche nach Unterkünften und Ausrichtungsorten für die zunächst ge-planten rund 250 Teilnehmer.1990

Ein Kongressbüro mit Hilfskräften unter der Leitung von Walter Brecht wurde insLeben gerufen.1991Ihm zur Seite stand ein Ausschuss zur Kongressvorbereitung, welcherneben Brecht aus den Professoren Reinhold, Geil, Walther und Kohlschütter bestand.1992Der Ausschuss änderte im Laufe der Planungen jedoch seine Zusammensetzung – wo-möglich aufgrund von Entnazifizierungsfragen, denn sowohl Geil als auch Reinhold undKohlschütter waren in erster Instanz von der Spruchkammer als Mitläufer eingestuft wor-den. Im Frühjahr 1947 saßen Brecht, Neufert, Reuleaux und Walther im IKIA-Aus-schuss.1993

In Absprache mit dem Leiter der E&RA, Vaughn R. DeLong sowie Fritz Karsenarbeitete der Ausschuss an der Programmgestaltung.1994Angesichts der Rahmenbedingun-gen blieben Schwierigkeiten bei der Durchführung nicht aus. Nach einem äußerst erfreu-lichen Echo auf die Einladungen bereitete insbesondere die Quartierfrage Probleme.1995In diesem Kontext zeigte sich erneut das besondere Interesse der amerikanischen Militär-regierung an einem Gelingen des Kongresses.1996Universitätsoffizier Becker sagte derTH Darmstadt im März 1947 amerikanische Hilfe für den Kongress zu, beispielsweisebei der Beförderung von Briefpost als Militärpost. Außerdem beteiligten sich auch diehöheren Stellen der Militärregierung am Kongress: So übernahm James R. Newman, Di-rektor der Militärregierung in Hessen die Schirmherrschaft.1997

Während die Amerikaner den Kongress wohlwollend unterstützten, sorgte eine Ein-ladung der Darmstädter TH an Vertreter der sowjetischen Militärregierung kurzzeitig fürIrritationen zwischen den Besatzungsmächten. Auf einer Sitzung des Internal Affairs andCommunications Directorate im Juli 1947 kam es zu einer Diskussion darüber, ob der 9.3 Die Reformdiskussion an der TH Darmstadt 437Kongress die Control Council Proclamation Nr. 2 verletze, da Themen diskutiert würden,die die Administration Deutschlands als Ganzes betrafen. Letztlich wurden die Bedenkender Sowjetunion durch ein Gespräch ausgeräumt.1998Der Kongress fand schließlich vom31. Juli bis 9. August 1947 statt. Hauptthemen waren „Technik als ethische und kulturelleAufgabe“, „Stand der Ingenieursausbildung in der Welt“ sowie die „Auslese der Studen-ten und soziale Fragen“. Eine vierte Hauptgruppe sollte in neun auf die Fachgebiete derHochschulfakultäten ausgerichteten Sektionen dem wissenschaftlichen Gedankenaus-tausch dienen.1999Am 31. Juli 1947 wurde der Kongress feierlich im Theatersaal derDarmstädter Orangerie eröffnet.2000Nach einer Begrüßung durch Rektor Richard Vieweghielt der Direktor der amerikanischen Militärregierung Hessen, Newman, eine Eröff-nungsrede. Es folgten Ansprachen von Ministerpräsident Stock, vom Oberbürgermeisterder Stadt Darmstadt, Ludwig Metzger und von Kultusminister Stein vor einem Audito-rium, das aus namhaften Wissenschaftlern, führenden Persönlichkeiten aus Politik, In-dustrie und Kirche sowie den Rektoren verschiedener ausländischer Universitäten undfast aller deutschen Universitäten und Technischen Hochschulen bestand.

Ingesamt besuchten 500 Teilnehmer den Kongress, hinzu kamen weitere 300 Sekti-onsbesucher.2001Trotz schwieriger Reisebedingungen – alle ausländischen Teilnehmermussten Einreisegenehmigungen bei der amerikanischen Militärregierung beantragen –waren unter den Teilnehmern 72 ausländische Gäste: Sie kamen aus Bulgarien, China,England, Frankreich, Griechenland, Holland, Irland, Italien, Luxemburg, Österreich, Ru-mänien, Schweden, Schweiz, Siam, Tschechoslowakei und USA.2002

Im Darmstädter Bahnhof wurde vorübergehend ein Auskunftsbüro eingerichtet, vonwo aus Anreisende mit Quartiersscheinen versorgt und zu ihren Unterkünften gelotst wur-den.2003Hochschulmitarbeiter und Studierende standen als Gepäckträger und Ansprech-partner für die Gäste bereit. Für die Organisation waren verschiedene Kongressämterzuständig. Alwin Walther war für den wissenschaftlichen Teil verantwortlich, Erich Reu-leaux leitete die Pressestelle, die Professoren Pinand und Stromberger trafen Vorberei-tungen im Hause. Ernst Neufert übernahm die Außenverwaltung und kümmerte sich umdie Drucksachen und Broschüren, für gesellschaftliche Veranstaltungen war Professor438 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche Krischer zuständig. Für Auskunft und Hilfestellungen bezüglich der Pässe, Anreise,Geldwechsel und Dolmetscherdienste wurde ein Reisebüro unter der Leitung von Profes-sor Kunz installiert. Professor Küntzel übernahm die Betreuung der Gäste.2004Außerdemsorgten zahlreiche Übersetzer, Hochschulmitarbeiter und Studierende für das organisato-rische Gelingen der Veranstaltung.2005Die Unterkunft und Verpflegung aller ausländi-schen Gäste übernahm die amerikanische Militärregierung, während die Stadt Darmstadtmit der Unterbringung und Verpflegung der Gäste betraut war.2006In der TH Darmstadtwurde im Rahmen des Kongresses auch ein Postamt mit einem IKIA-Sonderstempel ein-gerichtet.2007Ein von Architekt Ernst Neufert entworfenes Abzeichen diente allen Teil-nehmern als Ausweis für alle mit dem Kongress verbundenen Aktivitäten in Darmstadtund Umgebung.2008

In den ersten Tagen des Kongresses gab es, aufgeteilt in die drei thematischen Sekti-onen, 34 Vorträge von Wissenschaftlern, Politikern und Pädagogen aus dem In- und Aus-land. Unter anderem sprach der Schweizer Ingenieur Fritz Kesselring über „Das Verant-wortungsbewusstsein der Technik“, Alastair Cameron von der Universität Cambridgeüber „Science as a Means of Christian Teaching“ und Hermann Bleibtreu, Hinsdale, USA,bis 1939 Professor der TH Darmstadt, zum „Vergleich der nordamerikanischen mit derdeutschen Ausbildung akademischer Ingenieure“. Von den 34 thematischen Vorträgenwaren zehn ausländische Redner, fünf Professoren der TH Darmstadt, der Rest Kollegenaus Deutschland.2009

Der 5. und 6. Kongresstag waren ausschließlich der Arbeit in fachlichen Sektionengewidmet, aufgeteilt in Architekten, Bauingenieure, Maschineningenieure, Elektroinge-nieure, Papieringenieure, Cellulosechemiker, Chemiker, Biologen, Mathematiker und 9.3 Die Reformdiskussion an der TH Darmstadt 439Physiker sowie die Vertreter der Kultur- und Staatswissenschaften.2010Hier fanden ins-gesamt 112 Vorträge statt.2011Der nächste Kongresstag wies eine an den Kongress ge-richtete Adresse der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft Hamburg und Vorträge zuwirtschaftswissenschaftlichen und juristisch-sozialpolitischen Themen auf. Am vorletz-ten Kongresstag versammelten sich alle Teilnehmer zum Thema „Technik als ethischeund kulturelle Aufgabe“ mit Schlussbesprechung, am Nachmittag berichteten die Sektio-nen über ihre erarbeiteten Ergebnisse. Am letzten Tage fasste Rektor Vieweg die Gedan-ken des Kongresses in Schlussthesen zusammen.

Begleitet wurde das Rahmenprogramm von festlichen Veranstaltungen sowie Ausflü-gen ins Umland, Ausstellungen, Führungen und Besichtigungen von Hochschulinstitutensowie Industriewerken.2012Die im Rahmen von IKIA stattfindenden Ausstellungen warenauch für die Darmstädter Öffentlichkeit zugänglich. So waren in den verschiedenenHochschulinstituten Zeichnungen und Modelle zum Brückenbau, Architektur und Ma-schinenbau sowie Privatarbeiten von Architekturprofessor Tiedemann zu sehen. Im Gar-ten des Zintl-Institutes zeigte die Sektion Biologie Maschinen für Schädlingsbekämpfun-gen.2013Im Rahmen des Kongresses fand außerdem die erste öffentliche Vorführung dervon Alwin Walther und der Firma Ott entwickelten Integrieranlage IPM-Ott-Walther fürDifferenzialgleichungen statt.2014Auch das Institut für Technische Physik demonstrierteMessungen und Registrierungen.2015150 Teilnehmer des Kongresses unternahmen einenAusflug über die Bergstraße und den Odenwald in den nahe gelegenen Kurort Lichten-berg, wo das Darmstädter Restaurant Schellhas die Verpflegung stellte und ein Mitarbei-ter des „Darmstädter Echos“ über die Darmstädter Geschichte und Gegenwart und denDarmstädter referierte.2016Zum weiteren Rahmenprogramm gehörten ein Abendessen in440 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche Kranichstein wie auch ein von Regierungspräsident Ludwig Bergsträsser in der Werks-kantine der Firma Merck ausgerichteter Bierabend.2017Für die Teilnehmer des Kongres-ses gab es außerdem einen Empfang der Stadt Wiesbaden mit einem Konzert des Staats-theaters Wiesbaden,2018eine Weinprobe in Eberbach2019sowie ein Empfang des interna-tionalen Studentenklubs im Oberwaldhaus.2020Des Weiteren führte das LandestheaterDarmstadt eine Oper und einen Konzertabend auf.2021Ein Fest im Haus Lichtenberg bil-dete die Schlussveranstaltung des Kongresses.2022

Ergebnisse des Kongresses. Zwischen Reformrhetorik und Wirklichkeit

Die Ausrichtung und Organisation des Kongresses durch die TH Darmstadt fand regenAnklang bei den Teilnehmern.2023Stellvertretend für die ausländischen Gäste richteteClaud Carty aus London Dankesworte an die TH Darmstadt, in denen er seine Bewunde-rung für den Geist ausdrückte, mit welchem die TH Darmstadt den Schwierigkeiten zumTrotz einen solchen Kongress veranstaltete. Voller Euphorie bezeichnete er den Kongressals Zeichen der Hoffnung für den „Wiederaufbau des deutschen geistigen Lebens“.2024Auch aus dem Bericht von Rektor Vieweg über das Studienjahr 1947/48 geht hervor, wasfür eine besondere Wirkung der Kongress auf die Zeitgenossen hatte: Er sprach von ei-nem „warmherzigen Verständnis“ und einer „begeisterten Begrüßung“ der Idee zum Kon-gress. Insbesondere auf die ausländischen Besucher, so Vieweg, hatte IKIA eine erstaun-liche Nachwirkung. Nach seinem Bericht waren für alle Beteiligten auf dem Kongress„Beschwingtheit“ und „gutwilliger Zukunftsglauben“ zu spüren gewesen.2025Für Teil- 9.3 Die Reformdiskussion an der TH Darmstadt 441nehmer, Mitwirkende und Anwesende war der Kongress ein außergewöhnliches und ein-drucksvolles Ereignis, die Darmstädter Professoren sprachen in diesem Zusammenhangvon einem besonderen „IKIA-Geist“.2026

In diesem Sinne war der Kongress ein voller Erfolg. Der Technischen HochschuleDarmstadt war es nicht nur gelungen, Werbung in eigener Sache zu machen, sondern mannutzte IKIA beispielsweise äußerst rege, um Berufungsverhandlungen zu führen. Wäh-rend geplante Verhandlungen mit Georg-Maria Schwab, der sich zu diesem Zeitpunkt inGriechenland aufhielt, aufgrund eines fehlenden Einreisevisums geplatzt waren, kamenandere Gespräche zu einem erfolgreichen Ende. So führte das Kultusministerium mitLudwig Lebrecht erste Verhandlungen im Rahmen des Kongresses, ein Jahr später folgteseine Berufung an die TH Darmstadt.2027Allem Anschein nach kam auch die Berufungdes Architekten Theodor Pabst durch Kontakte zustande, die man während IKIAknüpfte.2028Auch die Stadt Darmstadt und die anwesende Industrie konnten von dem in-ternationalen Publikum und der Aufmerksamkeit profitieren, die ihnen im Rahmen desKongresses zuteil geworden waren.2029

Doch wie sind die eigentlichen, inhaltlichen Ergebnisse von IKIA einzuschätzen? DieTH Darmstadt hatte Ingenieure aus aller Welt eingeladen, um vor einem internationalenPublikum das angestrebte Programm zu präsentieren. Das Problem der Ausbildung desIngenieurs, so versicherte der IKIA-Mitorganisator und TH-Rektor, Professor Vieweg,im Vorfeld des Kongresses, „bewegt die ihre Verantwortung empfindenden Ingenieure inallen Ländern“.2030Nicht ohne Pathosformeln beschwor man die Verantwortung des In-genieurs als internationale Aufgabe. Die Teilnehmer des Kongresses waren sich darineinig, dass die Technik „niemals mehr etwas anderes sein [dürfe] als eine sittliche und442 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche kulturelle Aufgabe, für deren Erfüllung der Ingenieur verantwortlich ist“.2031Dafür sei esnotwendig, den Studierenden eine gediegene Grundausbildung mit naturwissenschaftli-chen Fächern und dem Ziel einer „echten“ Persönlichkeitsbildung zu vermitteln, statt zufrüh Spezialwissen zu lehren. Personen, die sich nicht für ein Studium eigneten, solltenweitgehend ferngehalten werden, wobei man auch auf die Verantwortung der höherenSchulen hinwies. Durch finanzielle Förderungen wiederum sollte jeder Begabte die Mög-lichkeit zum Studium bekommen.2032Neben diesen Ergebnissen legten die versammeltenWissenschaftler Wert darauf, dass man dem Ingenieur nicht vorwerfen könne, dass seineTechnik zu Kriegszwecken eingesetzt worden sei, vielmehr habe es sich dabei um einenMissbrauch durch „kulturfeindliche Kräfte“ gehandelt. Dieses Ergebnis von IKIA zeigt:Auch wenn die Träger vorgaben, andere Intentionen zu verfolgen, überwiegt in der Rück-schau der Charakter einer Alibiveranstaltung. Der Braunschweiger Wissenschaftshistori-ker Herbert Mehrtens erkannte im Rahmen seiner Diskursanalyse des 500-seitigen IKIA-Kongressbandes hinter den rhetorischen Selbstkonstruktionen der vortragenden Ingenieureine, wie er sie nannte, „Missbrauchsformel“, die sich durch den Großteil der gehaltenenVorträge zieht.2033Mit Aussagen wie „Die Tragik unserer Zeit liegt darin, dass derMensch die Werke der Technik, die so unendlich viel Segensreiches stiften könnten, zumFluche der Menschheit missbraucht“ wurde die Neutralität der Technik und damit eineSchuldunfähigkeit des Schöpfers, also des Ingenieurs, postuliert. Neben die politischeFormel, der „Führer“ habe das Volk „teuflisch missbraucht“, wurde die Verantwortungs-formel des Ingenieurs als „Schöpfer“ wertfreier Technik gestellt und zugleich dessen Un-schuld bewiesen, Ingenieur und Technik konnten so weiterhin positiv bewertet werden.Durch die Überkreuzung der beiden Formeln wurde stattdessen der „Führer“ zum Allein-schuldigen, zum Vergewaltiger des Volkes und der Technik. Laut Mehrtens wurde damitdie Technik zu einem eigentlich guten Wesen erhoben, das aber „dämonische“ Kräftebesaß. Gleichzeitig blieb der Ingenieur Träger von etwas Höherem, mit eigentlich gutenAbsichten und Anspruch auf Bedeutung.2034Das Schweigen über die konkreten wissen-schaftlichen Zusammenhänge, so Mehrtens, wurde mit dieser Formel überdeckt unddiente zur reinen Abwehr von Schuld- und Verantwortungsfragen der konkreten Art.

9.3 Die Reformdiskussion an der TH Darmstadt 443

Der Kongress endete mit dem gemeinsamen feierlichen Bekenntnis der Teilnehmer:„Wo immer der Einzelne auch stehen mag, wir sind alle von der Erkenntnis tief durch-drungen, dass Technik niemals mehr etwas anderes sein darf als eine ethische und kultu-relle Aufgabe, für deren Erfüllung insbesondere jeder Ingenieur verantwortlich ist.“2035Und es blieb bei einem formelhaften Beschwören, eine Umsetzung des von den Teilneh-mern erlebten „IKIA-Geistes“ ließ sich nicht bewerkstelligen. So sehr einige IKIA-Teil-nehmer davon überzeugt gewesen sein mögen, neue Wege einzuschlagen, vermieden esdie Beteiligten mit den angewandten Formeln zur Verdeckung des Gewesenen, sich demKern des Problems und damit der Vergangenheit tatsächlich zu stellen.

Für Darmstadt und die TH Darmstadt hatte IKIA eine große Bedeutung: Es war derTH Darmstadt nicht nur gelungen, einen symbolischen Neuanfang vor der internationalenÖffentlichkeit zu demonstrieren, sie konnte sich gleichzeitig – und das war, wie das Zu-standekommen des Kongresses gezeigt hatte, ja die eigentliche Motivation für den Kon-gress gewesen – als wichtiger wissenschaftlicher Akteur präsentieren und fachlich aus-tauschen.

9.3.3Das wiederholte Scheitern einer Studienplanreform

Trotzdem sollte insbesondere nach dem Wunsch von Richard Vieweg als Rektor derTH Darmstadt, IKIA nicht ohne konkrete Folgen bleiben.2036Dafür rief er eine Rektoren-konferenz der Technischen Hochschulen vom 2. bis 4. Oktober 1947 nach Darmstadtein.2037Angestrebt war, ab dem Sommersemester 1948 einheitlich bei allen Hochschulenals Berücksichtigung der IKIA-Ergebnisse, Studienplanänderungen vorzunehmen, umneben einem fachlichen Studium für allgemeinbildende Veranstaltungen Platz zu schaf-fen. Das Studium deshalb von acht auf zehn Semester zu verlängern war für die überwie-gende Mehrheit keine Lösung. Einzig eine inhaltliche Kürzung blieb als Möglichkeit, dieZiele umzusetzen. Die Wochenstundenzahl des Fachstudiums sollten auf 30 herabgesetztund fünf bis sechs Stunden auf allgemeinbildende Fächer verwendet werden, um „dieStudienpläne universeller zu gestalten“.2038Dies müsse jedoch Aufgabe der einzelnen Fa-kultäten bleiben. Um sich nach Fächern aufgeteilt darüber auszutauschen, sollten Fakul-444 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche tätskonferenzen veranstaltet werden. Das erklärte Ziel, einheitlich an allen TechnischenHochschulen die allgemeine Bildung ins Studium zu integrieren, verlief jedoch zunächstim Sand. Auch an der TH Darmstadt setzten nur zwei Fächer die Bestrebungen tatsächlichum: Sowohl im Studienplan für Bauingenieur- als auch für Mathematikstudenten wurdedie Belegung von zehn allgemeinbildenden Stunden zur Pflicht.2039Nach diesen Neue-rungen beschäftigten sich für einige Jahre lediglich vereinzelte Darmstädter Professorenmit dem Thema der Hochschulreform, allen voran Richard Vieweg, der unter anderemvor dem Unterausschuss des Bundestages für Hochschulfragen einen Vortrag hielt.2040

Das Thema der Studienplanreform kam Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahreerneut auf. Nun waren es die Studierenden, die sich diesbezüglich äußerten. Die Ergeb-nisse von IKIA waren längst von einer anderen Realität eingeholt, denn den Studierendenging es nicht um eine Reform zugunsten von allgemeinbildenden Vorträgen. Sie beklag-ten sich vielmehr über eine Überbelastung aufgrund der im Bereich des Fachstudiumsangestiegenen Stundenzahl. Wie aus einem Bericht aus dem Jahr 1962 hervorgeht, hattetrotz IKIA eine entgegengesetzte Entwicklung stattgefunden: Statt das Fachstudium zubegrenzen, war in einigen Fächern die Wochenstundenzahl sogar gestiegen.2041Dazukam, dass die im Stundenplan vorgesehene Zeit in „keinem Maß“ mehr zur tatsächlichenArbeitszeit stand.2042Wie es weiter in dem Bericht hieß, sei es zu einem „Verfall echtenStudierens“ gekommen, dem mit einfachen Maßnahmen nicht mehr beizukommen sei.2043Dieser Entwicklung lagen allem Anschein nach zwei Ursachen zugrunde: Zum einen warwährend des „Dritten Reiches“ das Fachstudium auf einigen Gebieten vom Reichserzie-hungsministerium verringert worden. In der Nachkriegszeit waren diese Verringerungen,wie es scheint, unsystematisch rückgängig gemacht worden.2044Zum anderen kam es, 9.3 Die Reformdiskussion an der TH Darmstadt 445bedingt durch den technischen Fortschritt, zu einer ständigen Vermehrung der techni-schen Wissensgebiete, was auch eine Vermehrung des Lehrstoffes nach sich zog.2045

Diese Erkenntnis, die bis Anfang der 1960er Jahre nicht mehr hinterfragt wurde,sollte, geäußert von studentischer Seite, zu Beginn der 1950er Jahre für einen Skandal ander TH Darmstadt sorgen. AStA-Kulturreferenten Heinz Gretz setzte sich am 23. Januar1952 vor der Studentenhauptversammlung in seinem Vortrag „Ist die Technische Hoch-schule Darmstadt noch eine Hochschule?“ mit dem Problem der ausufernden Studien-pläne auseinander. Gretz konstatierte, dass die TH Darmstadt angesichts der gepflegtenAusbildung keine Hochschule mehr, sondern eine Fachhochschule sei, die eine „Erzie-hung zur Denkdisziplin“ und zur Fähigkeit, Theorien in Praxis umzusetzen, vernachläs-sige.2046Auch Gretz ging es nicht mehr um die Einführung eines Studium generale, son-dern er forderte eine Studienplanreform zur Entlastung der Studierenden. Die anwesen-den Professoren empfanden den Vortrag als große Provokation. Zunächst führte er sogardazu, dass Rektor Kohlschütter den AStA dazu aufforderte, sich in einer Stellungnahmevon dem Vortrag zu distanzieren. Dieser drückte zwar sein Bedauern darüber aus, dass„zu harte Formulierungen“ bei Hochschullehrern zu Missverständnissen und Verstim-mung geführt habe, die Studierendenvertretung stellte sich jedoch gleichzeitig hinterGretz und dessen Äußerungen.2047

Letzten Endes lenkte Kohlschütter jedoch ein. Mehr noch, er erkannte die Überbelas-tung der Studierenden als Problem an und stimmte für eine Einsetzung verschiedener Ar-beitsgruppen von Dozenten und Studierenden zur Studienplanreform. Die einzelnenFachschaften reichten Verbesserungsvorschläge ein.2048Für Gespräche über den Studien-plan des Faches Elektrotechnik kamen sämtliche Studierende des ersten und dritten Se-mesters für eine Aussprache mit den Professoren zusammen.2049

Der Vortrag von Gretz blieb in seiner Wirkung nicht nur auf die TH Darmstadt be-schränkt. Allem Anschein nach nahm die TH Darmstadt die Ereignisse Anfang 1952 zumAnlass, eine Konferenz ausschließlich für die Technischen Hochschulen einzuleiten, umüber die Studienreform betreffende Fragen zu diskutieren. Seit März 1952 fanden meh-446 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche rere Treffen der Rektoren aller THs statt, auch hier übernahm die TH Darmstadt eineleitende Funktion. Diskutiert wurde über Verfahrensweisen, die Studienpläne zu refor-mieren, um das Niveau und die zunehmende Fülle an Lehrstoff in den Griff zu bekom-men. Erneut stand die Forderung im Raum, ein Studium von acht auf zehn Semester zuverlängern. Konkrete Beschlüsse wurden jedoch nicht gefasst, das sollten vielmehr dieeinzelnen Fakultäten übernehmen. Ihnen empfahlen die Rektoren eine Reduzierung derStunden, eine Anhebung des Niveaus – durch thematische Straffung der Vorlesungennicht nur durch Kürzung der Zeitstunden – sowie eine Reduktion der Pflichtfächer. DesWeiteren sprachen die Rektoren die Empfehlung aus, „die latente Belastung der Studie-renden zu überwachen, da diese zur Zeit eine wesentliche Ursache der Beunruhigung derStudierenden ist“.2050

Parallel zu den Rektorenkonferenzen tauschten sich auch die Vertreter gleichartigerFakultäten aller THs auf den nun einberufenen Fakultätstagungen über eine Studienplan-reform aus. Auch hier nahm Darmstadt bei der Einberufung der Tagungen eine führendeRolle ein.2051Ziel dieser Besprechungen war es, Empfehlungen auszuarbeiten, nach de-nen sich die einzelnen Fakultäten bei der Durchführung der konkreten Reform richtenkonnten.

Je nach Fachgebiet nahmen die Darmstädter Fakultäten im Vergleich zu den Fakultä-ten der anderen THs ganz unterschiedliche Ausgangspositionen ein. So besaß dieDarmstädter Elektrotechnik entsprechend ihrem Ruf eine Vorreiterstellung. Das Treffender Elektrotechnischen Fakultäten fand darum nicht nur in Darmstadt statt. Die inhaltli-chen Ergebnisse richteten sich ganz nach dem Darmstädter Vorbild, und die ausgearbei-teten Studienplanempfehlungen wurden als „Darmstädter Empfehlungen“ bezeichnet.2052Obwohl die Fachschaft eine Einschränkung des Stoffes durch die Hervorhebung des We-sentlichen sowie rationelleres Arbeiten durch Vorlesungsmanuskripte gefordert hatte, än-derte sich für die Darmstädter Studierenden so gut wie gar nichts.2053

Dagegen verzeichnete der Studienplan des Maschinenbaus der TH Darmstadt im Ver-gleich zu den anderen THs eine überdurchschnittlich hohe Wochenstundenzahl von 9.3 Die Reformdiskussion an der TH Darmstadt 44733,25 Stunden; anderswo lag sie bei etwa 27 Stunden.2054Jedoch hatten die Gespräche imBereich des Maschinenbaus keine konkreten Veränderungen zur Folge.

Im Rahmen der Bemühungen um eine Studienplanreform wurden auch Reforment-wicklungen, die aus der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus resultiertenund im Rahmen von IKIA ihren Höhepunkt fanden, teilweise wieder rückgängig ge-macht. So einigte sich die Fakultät für Mathematik und Physik darauf, zur Entlastung derStudierenden die Anzahl der Wochenstunden auf 20 zu reduzieren. Um dies umsetzen zukönnen, verzichtete man mit sofortiger Wirkung auf eine Reihe von bis dato vorgeschrie-benen fachlichen Vorlesungen und Übungen und strich die bislang vorgesehenen zehnStunden allgemeinbildender Fächer. Die Persönlichkeitsbildung wurde nun zu „jeder-manns privater Angelegenheit“ erklärt.2055

Neben der Fakultät für Mathematik und Physik folgten nur den Gesprächen der Fa-kultät für Bauingenieurwesen auch konkrete Schritte. Diese fasste im Juli 1952 den Be-schluss, die Stundenzahl im Vorstudium von 104 auf 85 Stunden zu verringern. Statt je-doch die fachlichen Veranstaltungen inhaltlich anzupassen, verzichtete man insbesondereauf die Hilfswissenschaften wie Mathematik und Physik, Geometrie, Mechanik und Ge-ologie.2056

Diese Schritte der Fakultäten waren jedoch nicht in Rücksprache mit den betroffenenFächern eingeleitet worden, was zu Spannungen führte. Insbesondere der Professor fürPraktische Mathematik Alwin Walther empfand die Beschränkung der mathematischenVeranstaltungen im Studienplan der Bauingenieure von 21 auf 15 Stunden im Vordiplomals persönlichen Rückschlag, wie er es in einer Denkschrift an die Kollegen aus der Fa-kultät für Bauingenieurwesen formulierte, die er in Kopie an die anderen Dekane und denRektor versandte. Walther, der sich insbesondere für eine Verbindung der Ingenieurwis-senschaften und Mathematik eingesetzt und im Jahr 1934 die Einführung von vier Se-mestern Mathematik erreicht hatte, wies auf das internationale Renommee hin, das dasDarmstädter Studienmodell erlangt hatte. Er kündigte weiter an, eine Einladung der Tech-nischen Hochschule Istanbul abzusagen, die ihn Ende August 1952 für einen Vortrag zur„Mathematik des Ingenieurs an der Technischen Hochschule Darmstadt in Unterricht undForschung“ eingeladen hatte, sollte die Reform tatsächlich durchgeführt werden.2057Es448 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche gelang Walther auf diese Weise, die Studienplanänderung zu verhindern, Mathematik I –IV blieb fester Bestandteil des Bauingenieurstudiums an der TH Darmstadt.2058

Damit hatte sich an der Lage großer Teile der Studierenden auch drei Jahre späternicht viel geändert. Diese äußerten darum im Jahr 1955 erneut den Wunsch, die in denStudienplänen vorgesehene große Stoffmenge einzuschränken. Die Fakultäten für Bauin-genieurwesen, Maschinenbau und Elektrotechnik kamen nun überein, dass zur Entlastungder Studierenden die Ausbildung der technischen Fächer in Mathematik und Physik aufdie notwendigsten Grundlagen reduziert werden sollten.2059Erst nach den Gesprächenzwischen den Fakultäten sah es so aus, als könnte eine umfassendere Studienreform zu-stande kommen.

Doch auch jetzt stellte sich Alwin Walther gegen diese Entscheidung einer Verkür-zung des Mathematikunterrichts für Ingenieure auf drei Semester. Walther, der ab 1954einen Lehrauftrag an der Universität Bonn innehatte, erhielt im Jahr 1956 einen Ruf andie dortige Universität. Im Rahmen seiner Bleibeverhandlungen machte er es zur Bedin-gung, die Verteilung des Mathematikunterrichts auf vier Semester zu belassen.2060Tat-sächlich kamen die Fakultäten für Maschinenbau und Elektrotechnik der ForderungWalthers nach, im Bauingenieurwesen, mit der einzigen Ausnahme des Vermessungsin-genieurstudiums, blieb die Mathematikvorlesung IV weiterhin gestrichen. Im Maschinen-bau sorgte das erneut für einen Anstieg von 105 auf 114 Gesamtwochenstunden.

9.3.4Verfassungsänderungen an der TH Darmstadt. Abwehr einer Demokratisierungund gesellschaftlichen Öffnung der Hochschule

Angesichts dieser Entwicklungen bleibt die Frage, welche unmittelbaren Folgen die Aus-einandersetzungen um eine Hochschulreform auf die Verfassung der TH Darmstadt tat-sächlich hatten? Dafür macht es Sinn, die Entwicklung der Verfassung der TH Darmstadtnach 1945 in den Blick zu nehmen.

Nach dem Ende des „Dritten Reiches“ wurden aufgrund der alliierten Gesetze Teileder Verfassung vom Oktober 1933 rückgängig gemacht. Dies betraf die Umgestaltungnach dem Führerprinzip, die rassischen und politischen Vorschriften für den Lehrkörper, 9.3 Die Reformdiskussion an der TH Darmstadt 449Studierende und Lehrinhalte. Für die Handhabung des akademischen Alltags nach demEnde des „Dritten Reiches“ griff man zunächst auf die Verfassung von 1926 zurück. Nachdieser wurde im November 1945 der erste Nachkriegsrektor gewählt. Gleichzeitig begannsich der Kleine Senat, mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung zu beschäftigen. DieProfessoren Schlink und Muss sowie Rechtsrat Stimmel wurden in einen Ausschuss fürdie Schaffung einer neuen Hochschulverfassung gewählt.2061Nur wenig später, im Jahr1946, gab sich die TH Darmstadt eine neue Verfassung. Diese wurde jedoch zu keinemZeitpunkt vom Kultusminister bestätigt, galt aber trotzdem als Rechtsgrundlage. Erst imJahr 1966 gab sich die TH Darmstadt eine neue Verfassung, die dann auch von der Lan-desregierung anerkannt wurde.2062Die Veränderungswünsche, die im Rahmen der Dis-kussion um eine Hochschulreform an die TH Darmstadt herangetragenen wurden, mach-ten jedoch nach 1946 bald Überarbeitungen notwendig.2063Unter anderem mussten sichdie Ordinarien mit der Forderung der Studierenden, in Senatssitzungen eine Vertretungmit Sitz und Stimme zu erhalten, auseinandersetzen. Auch die Amerikaner interessiertensich für die Hochschulverfassungen, besonders hinsichtlich zweier Punkte: die Mitwir-kung der Studierenden und von Vertretern des öffentlichen Lebens bei Entscheidungeninnerhalb der Hochschulen.2064

Einführung eingeschränkter Mitbestimmungsrechte von Studierenden, Nichtordi- narien, Assistenten und dem Betriebsrat

Im Rahmen einer ersten Zusammenkunft aller Studierenden der amerikanischen Zone,dem Studententag in Heidelberg am 7. März 1947, sprachen die studentischen Abgesand-ten unter anderem über die Forderung einer Vertretung der Studierenden in den Senaten.Anwesend war auch Richard Vieweg, Rektor der TH Darmstadt, der zu diesem Anlasseinen Vortrag hielt. Vieweg begrüßte die Forderung der Studierenden und brachte sie inden Darmstädter Senat ein. Allerdings, so Vieweg, sollten die Mitspracherechte nur auf450 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche studentische Themen beschränkt werden.2065Dieser Meinung schloss sich auch der Ver-fassungsausschuss der TH Darmstadt an. Er empfahl, bei studentischen Fragen zwei Stu-dierende des AStA zu den Sitzungen des Kleinen Senats hinzuzuziehen. Daraufhinstimmte der Kleine Senat zu, „Studenten zu Senatsitzungen heranzuziehen in Fällen, woFragen der Fürsorge und Betreuung der Studentenschaft zur Erörterung stehen und Be-schlußfassungen hierüber vorgesehen sind“.2066In gleicher Weise sollte auch der Be-triebsrat hinzugezogen werden. Dieser war Ende 1946 gewählt worden und forderte Mit-wirkung in Fragen der Entnazifizierung, insbesondere bei der Wiedereinstellung von Ent-lassenen, einschließlich der Professoren. Außerdem wollte er bei Personaleinstellungenund -entlassungen (außer von Professoren und Dozenten) gehört werden. Auf diese weit-reichenden Forderungen des Betriebsrats gingen Rektor und Senat nicht ein, auch hiergestanden sie lediglich Mitbestimmungsrechte bei allgemein betrieblichen Fragen zu.2067Die geplanten Reformen zur Mitwirkung der Studierenden und des Betriebsrates wurdendem Kultusminister in einer Sitzung des Kleinen Senats mitgeteilt.2068Kurze Zeit späterdiskutierte man über die Vertretung von Nichtordinarien im Kleinen Senat.2069Auch hierstimmte der Senat einer Anregung des Rektors Vieweg zu, dass die Nichtordinarien durcheine habilitierte Persönlichkeit, die Sitz und Stimme haben sollte, vertreten würden.2070Es folgten Diskussionen im Kleinen Senat über den genauen Wortlaut, der in die Verfas-sung aufgenommen werden sollte, bis am 6. Juni 1947 die vorgeschlagenen Veränderun-gen per Abstimmung angenommen wurden.2071Im Zuge dieser Abstimmung regte derRektor an, die Verfassung insgesamt zu überprüfen. Ein neuer Verfassungsausschuss, be-stehend aus den Professoren Schmieden und Scheubel, wurde eingesetzt.2072Seit Ende1947 wurden Studierende in gleicher Weise zu den Fakultätssitzungen hinzugezogen.2073Ab Juni 1948 wurden ebenso auf Fakultätsebene zwei von den Assistenten gewählte Ver-treter beteiligt.2074Zur gleichen Zeit beschloss der Kleine Senat, dass vom Rektor zweiVertreter des AStA mit Sitz und Stimme hinzuziehen seien, wenn studentische Fragenberaten wurden.2075Indem die Entscheidung dessen, was unter „studentischen Fragen“ zu 9.3 Die Reformdiskussion an der TH Darmstadt 451verstehen war, weiter im Ermessen des Rektors verblieb, gestand man den Studierenden– und ebenso den Assistenten, Nichtordinarien und dem Betriebsrat – nur eingeschränktMitbestimmungsrechte zu. Dies kritisierte die Studentenvertretung. Sie sprach sich beimKultusministerium für eine ständige Vertretung der Studierenden im Senat aus.2076Da esjedoch in der Hand der Ordinarien lag, die Tagesordnung an die Studierenden weiterzu-geben, kamen unter den Studierendenvertretern Zweifel an dieser Regelung auf. Als siezu einer Sitzung des Kleinen Senats im Juli 1948 nicht hinzugezogen wurden, in der esum einen Antrag der Fachschaftsvertretung der Fakultät für Bauingenieurwesen ging, dieStundenpläne für das kommende Semester den durch die Währungsreform verändertenVerhältnissen anzupassen, nahm sie dies zum Anlass, der Hochschulleitung gegenübererneut Bedenken gegen diese Regelung vorzubringen. Darin hieß es: „Wir haben das Ge-fühl, dass vonseiten des Senats die Anwesenheit von Studentenvertretern bei seinen Sit-zungen als lästig empfunden wird. In Wirklichkeit scheint uns die Beteiligung der Stu-dentenschaft an der Hochschulverwaltung in dieser Form eine Farce zu sein, wenn ihrnicht das Recht zugesichert ist, als gleichberechtigter Partner anerkannt zu werden.“2077

Doch die Hochschulleitung blieb in diesem Punkt bei ihrer Haltung, dass es Entschei-dung des Rektors sei, in welchen Fragen die Hinzuziehung der Studierenden notwendigwar. Wie aus einem Senatsprotokoll aus dem Jahr 1957 ersichtlich wird, scheinen Vor-behalte gegenüber den Studierenden ursächlich dafür gewesen zu sein. Da die Satzungdes AStA keine Mindestbegrenzung der Wahlbeteiligung vorsah, befürchteten die Ordi-narien, dass „in politisch unruhigen Zeiten vielleicht mit der Wirkung fanatischer Grup-pen und den dahinter stehenden Kräften zu rechnen sei“, die bei schlechter Wahlbeteili-gung ohne Probleme in den Vorsitz gelangen könnten.2078Außerdem, so wurde vermerkt,könnten es die anderen hessischen Universitäten als Nachteil empfinden, wenn man inDarmstadt dem AStA hier mehr Rechte einberäumt. Im Gegensatz zu den restlichen Mit-gliedern des Senates bedauerte dies der Professor für Wissenschaftliche Politik, EugenKogon. Er hielt es für die richtige Tendenz, „wenn durch die Praxis die Studenten zumvollen Bewusstsein ihrer Verantwortung gebracht werden“.2079Allem Anschein nachging das Bedauern Kogons nicht so weit, dass er gegen den Korpsgeist der Ordinarienverstoßen wollte, denn wie im Protokoll vermerkt wurde, hatte er „nicht die Absicht, ge-gen den Beschluss Einspruch zu erheben“.2080

452 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche Abwehr eines von den Amerikanern vorgeschlagenen „Board of Trustees“

Wie berichtet traten die Amerikaner seit Herbst 1946 vermehrt an die Hochschulen ihrerBesatzungszonen mit ihren Reformvorstellungen heran. Sie kritisierten die Entfremdungvon Universität und Gesellschaft, da diese den Aufstieg des Nationalsozialismus mit er-möglicht habe.2081Sie hielten darum die Überarbeitung der Hochschulverfassungen unterdiesem Aspekt für vordringlich, dabei diente ihnen das eigene Hochschulsystem als Vor-bild. So schlugen die Amerikaner die Einführung sogenannter Boards of Trustees vor, umdie Universitäten mit der Öffentlichkeit zu verbinden und gleichzeitig durch eine Durch-brechung der Oligarchie der Ordinarien eine breitere Basis für die Universitätsverwaltungzu ermöglichen. Auf der ersten Rektorenkonferenz der amerikanischen Zone im Novem-ber 1946 in Heidelberg stellte Fritz Karsen die Vorschläge der Amerikaner den anwesen-den Hochschulvertretern vor. Zur Überprüfung der Mitwirkung von Vertretern des öf-fentlichen Lebens bei Entscheidungen in Hochschulfragen durch das Board of Trustees,das auch Entscheidungsrecht erhalten sollte, wurde ein Ausschuss für Verfassungsfragengebildet, in den auch Rektor Vieweg gewählt wurde.2082Die Einführung eines solchenGremiums scheiterte jedoch an der Haltung der Hochschulen, die gegen diese Art derEinflussnahme enorme Bedenken hegten. Auch der Senat der TH Darmstadt lehnte „eineEinmischung durch ein politisches oder politisch-soziales Gremium“ ab.2083Begründetwurde dies damit, dass einer schematischen Übertragung der Präsidialverfassung in Ab-änderung der in Deutschland üblichen Rektoratsverfassung nicht zugestimmt werdenkönne. Diese Ansicht teilte auch der hessische Kultusminister.2084Lediglich die Errich-tung eines Kuratoriums, das sich aus Angehörigen der „Vereinigung der Hochschul-freunde“ zusammensetzte, hielt der damalige Rektor für möglich.2085Obwohl die Zusam-menarbeit in der Nachkriegszeit tatsächlich intensiviert wurde – nicht zuletzt, weil hierForschungsgelder eingeworben werden konnten – wurde der Vorschlag des Rektors nichtweiterverfolgt.2086

Zusammenfassung 453

ZUSAMMENFASSUNG

Im Jahr 1962 wurde, um „einigen bedenklich gewordenen Zuständen abzuhelfen“, dieSenatskommission „Entwicklung der Hochschule“ ins Leben gerufen. Man kam zu demErgebnis, dass es an der TH Darmstadt nach dem Krieg „ein permanentes Gespräch“ überHochschulreform gegeben habe, das „auch zu einigen Versuchen“ geführt habe, jedoch,so die Kommission, geschehen sei in all diesen Jahren „so gut wie nichts“.2087Die Ergeb-nisse im Rahmen dieser Arbeit bestätigen die Erkenntnis der Kommission aus dem Jahr1962. Insbesondere zwischen 1945 bis 1947, aber auch darüber hinaus bis in die frühen1950er Jahre war die Hochschulreform an der TH Darmstadt ein beständiges Thema. Hierkam Einzelpersonen, wie dem Kultusminister Stein oder auch Richard Vieweg, Rektorder TH Darmstadt von 1946 bis 1947, eine wichtige Rolle zu. Auch scheint aufgrund derEntnazifizierungsverfahren der Reformdruck besonders groß gewesen zu sein, da in die-ser Zeit Teile der traditionellen Ordinarienrechte vorübergehend außer Kraft gesetzt wor-den waren. Betrachtet man jedoch die Ergebnisse des Prozesses, überwiegt zumindest ausheutiger Perspektive der Anschein, dass die Auseinandersetzungen erstens nicht über einesemantische Ebene hinausgingen und zweitens im Verlauf der 1950er Jahren stagnier-ten.2088Dafür allein die spezifischen äußeren Faktoren nach 1945 wie fehlende Gelder,räumliche und materielle Bedingungen und den Mangel an Lehrkräften verantwortlich zumachen,2089würde die Sachlage stark vereinfacht darstellen. So war es vielmehr auf dieBeharrungskraft eines Großteils der Ordinarien zurückzuführen, dass Reformen scheiter-ten. Diese wollten keine ihrer althergebrachten Rechte aufgeben. Die Einführung allge-meinbildender Vorträge stellten in diesem Zusammenhang eine Möglichkeit dar, reform-willig aufzutreten, ohne traditionelle Rechte aufgeben zu müssen. Denn um Eingriffe vonaußen abwehren zu können, wurden zumindest rhetorische Zugeständnisse verlangt. Ins-besondere der IKIA-Kongress zeigt dabei, wie groß die Diskrepanzen zwischen Rhetorikund Realität waren. Obwohl womöglich einzelne Beteiligte eine Festschreibung der An-sätze zur institutionellen Veränderung tatsächlich im Sinn hatten, wurden diese langfristignicht fixiert und bestehende Problemlagen aufgeschoben. Wie wenig die Ordinarien trotzaller Reformrhetorik bereit waren, tatsächliche Veränderungen zuzulassen, zeigt sich in454 9. Wiederstand gegen Neuordnungs- und Demokratisierungsversuche der Diskussion um Mitbestimmung der Studierenden. Diesen gestand man allenfalls Be-teiligungsrechte zu, die Binnenstruktur der Ordinarienuniversität wurde nicht aufgege-ben.2090Insbesondere die Aufmerksamkeit, die dem Studium generale nach dem Krieggewidmet wurde, ebbte bereits Anfang der 1950er Jahre ab, und verschwand nahezu voll-ständig im Zuge der Etablierung einer stabilen Demokratie und des Wirtschaftsauf-schwunges.2091Das zuvor als negativ bezeichnete Spezialistentum der Wissenschaftlernahm in diesem Kontext nun wieder eine andere Bedeutung an. Das Ergebnis an derTH Darmstadt bestand aus der Weiterführung eines Nebeneinanders technischer Fächerund der ihnen angehängten Geisteswissenschaften. Die Fakultät für Kultur- und Staats-wissenschaften der TH Darmstadt erfuhr durch die Einführung des neuen Lehrstuhls fürWissenschaftliche Politik vonseiten der Landesregierung und durch die öffentlichkeits-wirksamen allgemeinbildenden Vorträge nach 1945 einen enormen Ausbau. Mit der Ein-führung des Wirtschaftsingenieurstudiums im Jahr 1948 verfügte sie über einen eigenenStudiengang. Im Jahr 1946/47 bestand die Fakultät aus fünf Professuren, des Weiterengab es 24 vorgesehene Mitarbeiter, die Hälfte davon war jedoch zu diesem Zeitpunktunbesetzt.2092Im Studienjahr 1959/60 verfügte die Fakultät bereits über acht ordentlicheProfessuren und 36 Mitarbeiter.2093Nicht zuletzt um schwerwiegenderen Eingriffen zu-vorzukommen, forcierte die Hochschulleitung diesen Ausbau, denn im Laufe der Ausei-nandersetzungen um eine allgemeine Hochschulreform war es für die Technischen Hoch-schulen zu geradezu existenzbedrohenden Vorschlägen gekommen. Die Fakultät für Kul-tur- und Staatswissenschaften der TH Darmstadt avancierte in diesem Zusammenhangvon der Verwalterin anfangs noch als „Randgebiete“ wahrgenommener Wissenschaftenzu einem angesehenen Bestandteil der Hochschule.

Zusammenfassung 455

DIE ROLLE DER STUDIERENDEN 1945 BIS 1960 10. „Unsere Studenten sind unsere Aufgabe“. Studie- rende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hoch- schulpolitik

„Der Ruf unserer Hochschule ist nicht erloschen, wenngleich das äußere Bild noch nichtermutigt. Aber eben Mut macht uns allen die Aufgabe, von der später zu sprechen seinwird. Unsere Studenten sind unsere Aufgabe.“2094Diese Worte fand der erste Nachkriegs-rektor Professor Reuleaux anlässlich der Feierstunde zur Wiedereröffnung der Hoch-schule am 17. Januar 1946. Im Publikum saßen neben einer kleinen Anzahl von Studie-renden2095– ihre Zahl wurde wegen der engen Raumverhältnisse auf etwa 200 begrenzt –sowohl Hochschulmitarbeiter und Repräsentanten der Stadt Darmstadt sowie der ameri-kanischen Militärregierung als auch bedeutende Persönlichkeiten aus Industrie undÖffentlichkeit.2096Gerichtet waren die Worte Reuleaux’ vermutlich insbesondere an dieanwesenden amerikanischen Bildungsoffiziere. Zum einen drückten sie die Bereitschaftder TH Darmstadt aus, die von den Amerikanern gewünschte Re-education umzusetzen,zum anderen stellten sie eine notwendige Legitimation der Hochschule dar.2097Dass imJahr 1946 in den Augen der Hochschulleitung die Studierenden die Daseinsberechtigungder TH Darmstadt bildeten, ist insbesondere vor dem Hintergrund, wie sich das Verhältniszwischen Studentenzahl und Lehrkörper während des „Dritten Reiches“ entwickelt hatte,interessant. Wie in Kapitel 2 näher erläutert, veränderte sich das Verhältnis von Studie-renden und Lehrenden während des Krieges von 1.200 Studierenden zu 121 Lehrendenim Wintersemester 1935/36 hin zu 190 Studierenden auf 280 Lehrende im Wintersemes-ter 1944/45. Diese Zahlen machen deutlich, dass sich die Aufgabe der TH Darmstadtwährend des Krieges, weg vom Studierenden und der Lehre hin, zur Forschung entwickelt456 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik hatte.2098Zu Zeiten, als an Universitäten das Forschungspersonal abgebaut worden undeine u.k.-Stellung nicht für jedermann zu bekommen war, war es der TH Darmstadt ge-lungen, wichtiges Forschungspersonal an Ort und Stelle zu halten. Das ausschlaggebendeMoment war dabei stets die „Kriegswichtigkeit“ der Forschungsarbeiten. Diese Leitbilderund Aufgaben der Hochschule wurden nun, nur wenige Monate nach Kriegsende, erfolg-reich von dem neuen Leitbild der Studierenden als Aufgabe abgelöst. Bleibt die Frage,was sich hinter diesem Austausch von Leitbildern verbarg: Wie gestaltete sich das Ver-hältnis zwischen Professoren und Studierenden in der Nachkriegszeit? Genauer, welcheRolle spielten die Studierenden im Neuformierungsprozess nach 1945 für die TH Darm-stadt?

Studierende waren und sind zu jeder Zeit wichtiger Bestandteil der Hochschule. Wennman jedoch die Geschichte der Studierenden bis heute betrachtet, muss festgehalten wer-den – ohne damit viel vorwegzunehmen – dass, im Gegensatz zu anderen Zeitpunkten derUniversitäts- und Hochschulgeschichte, die Studierenden der Hochschulen und Univer-sitäten innerhalb des in dieser Arbeit untersuchten Zeitraums eine vorwiegend unterge-ordnete Rolle spielten.2099Auch wenn es immer eine kleine Gruppe engagierter Studie-render gab und davon auszugehen ist, dass die Nachkriegsstudenten alles andere als einehomogene Gruppe darstellten, waren sie vordergründig Objekte der Hochschulpolitik,statt aktiv eigene Ziele zu verfolgen.

Die besonderen Umstände des Nachkriegsstudiums spielen in dieser Arbeit wenigereine Rolle – an dieser Stelle sei auf mittlerweile zahlreiche Publikationen hingewiesen2100– stattdessen soll, ausgehend von der These, dass die Studierenden in den Jahren 1945–1960 ein Objekt der Hochschulpolitik darstellten, im folgenden Kapitel der Umgang derHochschulleitung mit den Studierenden zwischen 1945 und 1960 untersucht werden.

10.1 Die Zulassungsbestimmungen in der Nachkriegszeit 457

Für das Kapitel kann nicht auf Vorarbeiten zurückgegriffen werden. Zur Geschichteder Darmstädter Studierenden nach 1945 existieren bislang keine historischen Darstel-lungen. Dies liegt unter anderem auch an der Quellenlage. Für die Studentenakten geltenbis heute Sperrfristen, sie enthalten außerdem meist nur wenig aussagekräftiges Material.Eine komplette Auswertung dieser Akten ist ohnedies aufgrund der Fülle des Materialsunmöglich. Da es im Universitätsarchiv Darmstadt keinen eigenen Bestand zu den Stu-dierenden gibt, wurde ein Großteil der hier behandelten Fragestellungen anhand der Se-natsakten erschlossen.

Die Untersuchung der Entnazifizierung der Studierenden ist aus mehreren Gründenproblematisch. So sind im Gegensatz zu der Entnazifizierung der Professoren keine Sach-akten der Hochschule oder der Amerikaner übermittelt. Des Weiteren durchlief ein Groß-teil der Studierenden keine Spruchkammerverfahren, durch die Jugendamnestie kamenviele Verfahren gar nicht erst in Gang. Auch wäre eine Auswertung der vorhandenenVerfahren aufgrund der Menge kaum durchführbar. Um trotz dieser Schwierigkeiten re-präsentative Ergebnisse zur Entnazifizierung zu erhalten, wurde von den zwischen 1945und 1947 eingeschriebenen Studierenden ein Sample aus den Buchstaben B und L aus-gewählt und anonym anhand der Studentenakten ausgewertet.2101

10.1 Die Zulassungsbestimmungen in der Nachkriegszeit

10.1.1 Handverlesene Auswahl der Studierenden und das Darmstädter Punktesystem„Akademiker sollte nur werden, wer sich innerem Trieb folgend wirklich berufen fühltund die Kraft in sich spürt, auch gegenüber großen Widerwärtigkeiten sich zu behaup-ten.“2102Diesen Hinweis erhielten alle Studierenden, die aufgrund ihrer Voranmeldungzum Studium an der TH Darmstadt während des ersten Nachkriegssemesters, dem Win-tersemester 1945/46, zugelassen worden waren. Angesichts der Zerstörungen der Hoch-schulgebäude und der Ungewissheit in den ersten Semestern nach Kriegsende sah sichdie Hochschule gezwungen, den Studierenden die Bedingungen des, wie sie es aus-drückte, „Notsemesters“, vor Augen zu führen. Mit sehr eindringlichen Worten schildertesie die zu erwartenden Umstände:

458 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik „Bevor Sie Ihr Studium anfangen, mache ich Sie noch einmal auf die außeror-dentlichen Schwierigkeiten aufmerksam, mit denen zu rechnen ist, obwohl dieHochschule bestrebt ist, allen Würdigen zu helfen, besonders den Schwer-kriegsversehrten. Wegen der vollständig veränderten Finanzlage werden Bei-hilfen zum Studium so gut wie gar nicht gewährt werden können. Auch Gebüh-renermäßigung wird nur in wenigen Fällen möglich sein. Es ist daher dringendzu raten, das Studium nur aufzunehmen, wenn die Durchführung finanziellgesichert ist. Die Wohnungssuche wird sehr schwierig sein. Sie muß im wesent-lichen der Initiative des Einzelnen überlassen bleiben. Aeußerste Einschrän-kung und behelfsmäßige Unterkunft werden sich für viele nicht vermeidenlassen. Ebenso wird die Versorgung mit Brennstoff in Wohnung und Hoch-schule nicht sicher gewährleistet sein. Wer gesundheitliche Nachteile befürch-ten muß, mag daher überlegen, ob er nicht lieber mit dem Studienbeginn wartenwill. Ganz besonders besteht die Verpflichtung zu ernster Ueberprüfung hin-sichtlich der geistigen und körperlichen Anforderungen, die jedes akademischeStudium heute stellen muß. Die Ansprüche bei den Prüfungen werden in schar-fem Wettbewerb hoch sein. Dem Anfänger stehen vier Jahre harter, anstrengen-der Arbeit unter ungünstigen wirtschaftlichen Bedingungen bevor. Ob man spä-ter in einem akademischen Beruf Beschäftigung finden wird, das steht, wie allewissen, dahin.“2103

Schon der Zugang zum Studium musste aufgrund der Umstände besonders geregelt wer-den. Darmstadt stand wie alle anderen Hochschulen und Universitäten vor der Aufgabe,die begrenzte Anzahl von Studienplätzen an einen zunächst kaum zu kalkulierenden Zu-strom von Bewerbern zu vergeben. Die Amerikaner hielten sich mit konkreten Richtlinienzurück, und auch das spätere Kultusministerium machte zunächst keine Vorgaben, undso entschied die TH Darmstadt wie jede Universität und Hochschule über die Zulassungs-bedingungen nach eigenem Ermessen.

Wie die Auswahl der rund 420 Teilnehmer der vom 3. September 1945 bis zum15. Oktober 1945 abgehaltenen Vorkurse ablief, ist nicht überliefert. Anzeichen für einesystematische politische Überprüfung gibt es nicht. Wie aus einer Notiz des Verwaltungs-ausschusses hervorgeht, ließ Irvin der TH Darmstadt bei der politischen Überprüfung derStudierenden freie Hand in dem Vertrauen, dass sie „ungeeignete Elemente“ fernhaltenwürde.2104

Für das erste Semester nach dem Krieg wurde in Darmstadt aus organisatorischenGründen vor die eigentliche Einschreibung zunächst vom 5. November bis zum 17. No-vember 1945 eine Voranmeldung geschaltet. Auf einem Fragebogen verlangte die 10.1 Die Zulassungsbestimmungen in der Nachkriegszeit 459TH Darmstadt Angaben zu Personalien, zur bisherigen Ausbildung, zu eventuell geleis-tetem Wehrdienst, möglicher Kriegsversehrtenstufe sowie Zugehörigkeit zur NSDAP o-der ihren Gliederungen. Diese Angaben mussten durch beglaubigte Zeugnisse bestätigtwerden. Zusätzlich war es üblich, ein polizeiliches Führungszeugnis vorzulegen.2105EineÜberprüfung der Angaben fand jedoch nicht statt. Auch wie die Hochschule im Einzelnenüber eine Zulassung zum Studium vor dem Wintersemester 1945/46 entschied, bleibt auf-grund der Aktenlage offen. Anhand des überlieferten Materials kann jedoch darauf ge-schlossen werden, dass die ersten Zulassungen aufgrund einer fehlenden, einheitlichenverbindlichen Zulassungsordnung ebenfalls nach freiem Ermessen ergingen. Aus den An-gaben, die die Hochschule den Amerikanern gegenüber machen musste, geht hervor, dasssie mit den Studienbewerbern persönliche Gespräche durchführte. Nach diesen Gesprä-chen riet die Hochschulleitung einigen Bewerbern von einer schriftlichen Bewerbung ab,sodass im Zuge der schriftlichen Voranmeldungen lediglich noch sechs Bewerber zurück-gewiesen wurden.2106Die TH Darmstadt berücksichtigte an erster Stelle Studierende, diebereits studiert hatten und ihr Studium längere Zeit aussetzen mussten, außerdem Kriegs-beschädigte, weiterhin solche, die noch nicht studiert hatten, aber schon höheren Alterswaren.2107Schließlich konnten sich 1.100 Studierende für das erste Nachkriegssemestereinschreiben.

Wie groß der Andrang der Bewerber um ein Studium tatsächlich war, geht aus denUnterlagen nicht hervor. Offiziell führte die TH Darmstadt einen Numerus Clausus, kurzNC, zum Sommersemester 1946 ein.2108Vorher musste die Hochschule ebenfalls Studie-rende abweisen, die Verfahrensweise war allerdings nicht systematisch geregelt. Dasmacht es schwer, für die ersten zwei Nachkriegssemester Angaben zur Bewerberzahl zumachen. Die Hochschule selber hatte Schwierigkeiten das Zulassungsverfahren zu über-blicken. So teilte die Hochschulleitung der Militärregierung im Zuge des Antrags zurWiedereröffnung im Dezember 1945 mit, dass die Zahl der abgewiesenen Studierenden„nicht genau festzustellen“ sei, da man in den vorangegangenen Auswahlgesprächeneinigen der Kandidaten von einer weiteren Bewerbung abgeraten habe.2109Besonders dieheimkehrenden Soldaten machten eine Kalkulation schwer.2110

460 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik

Während für das Wintersemester 1945/46 keine Zahlen existieren, liegen für die fol-genden Semester widersprüchliche Zahlen vor.2111So wird im Darmstädter Hochschul-blatt erwähnt, dass im Sommersemester nur ein Drittel der Bewerber zugelassen werdenkonnte.2112Dagegen geht aus einem Bericht der Hochschulleitung aus dem Jahr 1949 her-vor, dass im Wintersemester 1945/46 und im Sommersemester 1946 keine Bewerber ab-gewiesen werden mussten.2113Nachweisbar ist der Andrang an der TH Darmstadt imSommersemester 1947, wo von 2050 Anmeldungen lediglich eine Aufnahme von 250erfolgen konnte.2114

Erst im Laufe der Zeit erarbeitete sich die TH Darmstadt Kriterien, nach welchen sievorging. Insbesondere in den Jahren 1946 und 1947 beschäftigte sich die Hochschullei-tung mit dieser Frage. Rein formal bestanden die Voraussetzungen für die Einschreibungzum Studium aus den Nachweisen eines gültigen Reifezeugnisses, einer Praxistätigkeit,der Vorlage der Geburtsurkunde und eines polizeilichen Führungszeugnisses sowie späterdes „Nachweises über Spruchkammerentscheid oder ähnliches“.2115Hatte der Studienbe-werber diese Bedingungen erfüllt, folgten die Gespräche mit den jeweiligen Fakultäten.Aber wie sollten diese aus der Masse der Bewerber die richtige Auswahl treffen? DasThema wurde, wie in Kapitel 9 thematisiert, im Rahmen der Auseinandersetzungen umeine Hochschulreform diskutiert. Beteiligt an der Diskussion waren neben den Hochschu-len und Universitäten die Besatzungsmächte und später die zuständigen Kultusministe-rien. Kernelement der britischen und der amerikanischen Reformbestrebungen sowie eineForderung der neu gegründeten Parteien war die Öffnung der Universitäten für alle sozi-alen Schichten. Die soziale Öffnung der Studienzugänge beschäftigte die TH Darmstadtjedoch nur sekundär. Sie erhob und veröffentlichte zwar die soziale Zusammensetzungihrer Studierenden – eigene Maßnahmen zur Erleichterung des Zugangs für sozial be-nachteiligte Bewerber zu ergreifen, lehnte man jedoch ab –, einen Ausgleich zu schaffen 10.1 Die Zulassungsbestimmungen in der Nachkriegszeit 461aber sei Sache des Staates.2116Wohl um zumindest eine Bereitschaft zu zeigen, gab esseitens der TH Darmstadt den Gedanken, den „Aufstieg bestimmter Schichten“ durch einGaststudium und die anschließende Zulassung eines „gewissen Prozentsatzes“ dieserGasthörer zum regulären Studium zu ermöglichen.2117Aufgrund der Rahmenbedingun-gen in der Nachkriegszeit war jedoch ein Gaststudium einige Zeit nicht möglich. Trotzder Einführung der Gebührenfreiheit und Stipendien wurden weiterhin traditionelle Elitengefördert. Die Hochschulleitung lehnte es ab, sich bei der Auswahl der Studierenden vonAkteuren außerhalb der Hochschule reinreden zulassen. Ein typisches Gegenargumentwar stets, dass sich die angelsächsischen Verhältnisse nicht auf die deutschen Hochschu-len übertragen ließen.2118

Für die TH Darmstadt, so geht aus einem Bericht über die Zulassung zum Studiumaus dem Jahr 1948 von Rektor Gustav Mesmer hervor, stand das „Leistungsprinzip“ vorallen anderen Gesichtspunkten.2119Statt die soziale Stellung des Bewerbers oder politi-sche Gesichtspunkte an erste Stelle zu setzen, betrachtete die Hochschulleitung die Frageder „Auslese der Besten“ als ausschlaggebend.2120In einem vom Rektorat dem KleinenSenat vorgelegten Grundsatzschreiben „Auslese der Studenten“ hieß es dazu: „Unfähig-keit jeder Art, gleichviel ob sie in mangelnder geistiger Kraft oder im Unvermögen derKonzentration oder der Arbeitsleistung liegt“, solle nach Möglichkeit bei der Voranmel-dung ausgeschlossen werden. Das Hauptkriterium zur Auswahl stellte diesbezüglich dasReifezeugnis dar. Jedoch, so legte der Rektor der TH Darmstadt dar, mussten fünf weiterePunkte beachtet werden: Als besonders wichtig betrachtete er die berufsberaterische Auf-klärung schon in der höheren Schule und an der Hochschule vor Beginn des Studiums,außerdem die Prüfung der Leistungen im ersten Studienjahr. Der Dekan sollte bei man-gelnder Leistung Semestralprüfungen anordnen und die Fakultät bei unbefriedigendemErgebnis den Ausschluss des Studierenden beschließen. Weiter müssten Vorprüfungennach der Hälfte des Studiums eingeführt werden, deren Anforderungen in allen Fächernhochzusetzen seien und bei Versagen zum Ausschluss durch die Fakultät führen sollten.Abzulehnen sei alles zu Schulische, beispielsweise „allgemeine Semestralprüfungen“oder Besprechungen am Ende der Vorlesungen, da dies nach Meinung des Rektors die462 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik akademische Freiheit einschränken würde. Ebenso sei „aller übertriebener Bürokratismuszu vermeiden. Der Hochschullehrer darf keinesfalls von der Forschung abgehalten wer-den, die integrierender Bestandteil des Hochschullebens ist.“ Andere Zulassungskriterienwurden dagegen, gerade in der Anfangszeit, den Umständen der Zeit angepasst. So legteder Kleine Senat 1946 fest, dass das für einige Studiengänge vorgeschriebene Praktikumzurzeit nicht realistisch sei und man „vorläufig nach anderen internen Richtlinien“ vor-gehen werde.2121

Das Darmstädter Punktesystem

Im Frühjahr 1947 wurde auf Veranlassung des Rektors das Vorgehen bei der Zulassungder Studierenden im Kleinen Senat thematisiert. Dabei fiel auf, dass die Vorgehensweiseder Fakultäten unterschiedlich war, und man beschloss, sich um Einheitlichkeit zu bemü-hen.2122Erstmals im Sommersemester 1947 wurde für die Erstsemester eine einheitlichePunktebewertung angewandt.2123Damit sollte die „gefühlsmässige abwägende Beurtei-lung der einzelnen persönlichen Verhältnisse“, welche man nach eigenen Aussagen „ver-fluche“, abgeschafft werden.2124Ab dem Wintersemester 1946/47 wurde ein neuer Bogenmit 44 Fragen eingesetzt. Entsprechend der gemachten Angaben wurden die Studierendenin verschiedene Kategorien eingeteilt.2125Der Bewerber/die Bewerberin erhielt Punktefür das Lebensalter – pro Lebensjahr über 18 Jahre jeweils ein Punkt – außerdem soge-nannte „humanitäre“ Punkte für Wehrdienst, Kriegsversehrung, politische Verfolgungund Schädigung durch Kriegsereignisse, Familienstand sowie persönliche Verhältnisseund bereits erfolgte Bewerbungsversuche.2126Hinzu kamen Leistungspunkte, maßgeblichwaren hier die Abiturnote und abgeleistete praktische Tätigkeit. Das Punktesystem stellteeine Form der Vorordnung dar.2127Die Bewerber mit den meisten Punkten wurden an- 10.1 Die Zulassungsbestimmungen in der Nachkriegszeit 463schließend in einem Gespräch geprüft, und die Besten unter ihnen wurden zugelassen.2128Erst danach wurden die in Aussicht genommenen Kandidaten auch von einem politischenAusschuss überprüft.2129

Das hessische Kultusministerium unternahm im Sommer 1947 Versuche, die Zulas-sungsverfahren der Universitäten zu zentralisieren. Das Interesse des hessischen Kultus-ministeriums, das bis dahin keine einheitliche Vorgehensweise in Hessen eingeführthatte, an dem Darmstädter Modell war groß. Das Punktesystem wurde in einer Sitzungdes Kleinen Senats, an der auch der Kultusminister Stein teilnahm, vorgestellt.2130Da-raufhin setzte das Ministerium unter Zugrundelegung der Darmstädter Regeln ein eigenesPunktesystem in Kraft.2131Dieses sollte von nun an, mit Ausnahme der als NS-Opfer an-erkannten Personengruppen, über eine Zulassung zum Studium entscheiden.2132Der Rek-tor der TH Darmstadt jedoch beschloss, weiterhin nach dem eigenen Punktesystem vor-zugehen.2133Auch andere Universitäten und Hochschulen baten darum, das Zulassungs-system „elastisch und individuell verschieden“ anwenden zu dürfen.2134Die Amerikanerlobten das Darmstädter Punktesystem als einzigen Versuch in Hessen, ein systematischesAuswahlsystem anzuwenden, das von Außenstehenden zumindest nachvollzogen werdenkonnte. Allerdings kritisierten sie Schwächen bei der Durchführung, insbesondere diestarke Bewertung der Abiturnote.2135Waldemar Krönig kommt in seiner Darstellung zuden Nachkriegsstudenten zu dem Schluss, dass die Punktesysteme Exaktheit vortäusch-ten, die es wahrscheinlich nie gab.2136In der Tat ist fraglich, ob ein transparentes Vorge-hen tatsächlich das Motiv der TH Darmstadt darstellte, das Punktesystem einzuführen.Vielmehr hat es den Anschein, dass insbesondere der vom Rektor in der Hochschulzei-tung erwähnte Wunsch, Rechtfertigung und Schutz vor den Forderungen der Abgewiese-nen zu bekommen, handlungsleitend war.2137So konnte die Hochschulleitung unter an-derem mit Verweis auf das Punktesystem einen Versuch des hessischen Staatskommis-sars für politische und rassisch Verfolgte, Epstein, abwehren, der die Zulassung zweier464 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik Söhne von aus „rassischen“ Gründen verfolgten Vätern gefordert hatte.2138Auch das demRektor eingeräumte Kontingent einer „Reserve für dringende Fälle“ von zwischen 30 bis50 Studienplätzen zeigt, dass die TH Darmstadt sich Schlupflöcher vorbehielt.2139

Mitte der 1950er Jahre kam es am Volkswirtschaftlichen Seminar unter der Leitungvon Privatdozent Fritz Huhle zu einer Untersuchung des Auswahlsystems.2140In der Stu-die wurde das angewandte Punktesystem anhand der Prüfungsleistungen von 450 Studie-renden, die nach dem Krieg an der TH Darmstadt studiert hatten, nach verschiedenenRichtungen hin analysiert.2141Zwar brachte die Studie als Ergebnis hervor, dass diesessich bewährt habe, da mit steigender Punktzahl die Leistungen der Studierenden zuge-nommen hatten, jedoch betraf dies vor allen Dingen die Vorprüfung; bei der Hauptprü-fung zeigte sich, dass die Ergebnisse sich bereits relativiert hatten. Man kam letztendlichzu dem Schluss, dass die Abiturnote niemals mit Sicherheit auf die Befähigung zum Stu-dium schließen ließe und der NC immer eine Notlösung sei. Auch in Senatsproto-kollen zeigt sich, dass die beteiligten Akteure der TH Darmstadt aufgrund der Masse derBewerber spätestens Mitte der 1950er Jahre an der Aufrechterhaltung eines NCs zweifel-ten. Die Form der Auswahl vor dem Studium wurde abgelehnt, weil sich die Studierendenzeitlich sehr unterschiedlich entwickelten.2142In der Folgezeit dachte man über andereWege nach,2143eine Veränderung wurde bis Mitte der 1960er Jahre jedoch nicht umge-setzt.2144

10.1.2 Die Entnazifizierung der Studierenden durch die Hochschulleitung

Wie berichtet, ließ Irvin der TH Darmstadt bei der Auswahl der Studierenden im Rahmender Vorkurse und des Wintersemesters 1945/46 freie Hand. Zwar legte er bei der politi-schen Überprüfung Wert darauf, „ungeeignete Elemente“ von der Hochschule fernzuhal-ten, was er konkret darunter verstand und wie dabei vorzugehen war, überließ er jedochder Hochschulleitung. Darüber hinaus gab er zu verstehen, dass politisch belastete Stu-dierende „später doch noch zugelassen werden [können], wenn angenommen werden 10.1 Die Zulassungsbestimmungen in der Nachkriegszeit 465kann, dass die Mehrzahl der jungen Leute im demokratischen Sinne ausgerichtet sei“.2145Dies hatte zur Folge, dass die Entnazifizierung der Studierenden an der TH Darmstadteher eine Randerscheinung darstellte, denn von sich aus strebte die Hochschulleitungkeine systematische politische Überprüfung an. So stellte sie im Rahmen der Auswahl-gespräche nach eigener Aussage „ziemlich summarisch“ die Frage nach „der Vergangen-heit“.2146Obwohl auf dem Fragebogen zur Voranmeldung auch Auskunft über die politi-sche Vergangenheit gegeben werden musste, scheinen die Fakultäten bei der Auswahlihrer Studierenden diesen Angaben zunächst keine weitere Beachtung geschenkt zu ha-ben. Den Studienbewerbern teilte die Hochschulleitung mit, dass eine „politische Über-prüfung nach einem bei der Einschreibung auszufüllenden Fragebogen vorbehaltenbleibe“.2147Dies legt die Vermutung nahe, dass die Entscheidung, wer sich als Studenteinschreiben durfte, getroffen wurde, bevor man nähere Kenntnis von der politischen Ver-gangenheit der Personen hatte. Gegenüber der Militärregierung teilte die Hochschullei-tung mit, dass die Zugehörigkeit zur SS, zur Partei vor dem 1. Mai 1937 sowie ab derPosition eines Scharführers einschließlich der HJ und Funktionäre des NS-Studenten-bunds vom Studium ausgeschlossen werden würden.2148In den überlieferten Akten gibtes jedoch keine Anzeichen dafür, dass dies bei der Einschreibung tatsächlich überprüftwurde. Auch ob die TH Darmstadt im Zuge späterer Überprüfungen nachträglich bereitseingeschriebene Studierende vom Studium ausschloss, ist nicht bekannt.

Bis einschließlich Wintersemester 1945/46 sah es für die TH Darmstadt zunächst soaus, als könnte die politische Überprüfung der Studierenden unbürokratisch geregelt wer-den. Erst nachdem die Einschreibungen schon stattgefunden hatten und das Semester be-reits begonnen hatte, äußerte der Vertreter der amerikanischen Militärregierung in einerBesprechung, dass auch die Studierenden ihren Fragebogen mit 131 Fragen ausfüllenmüssten und ordnete an, diese von Hochschulausschüssen überprüfen zu lassen.2149DieAusschüsse sollten aus zwei bis drei politisch zuverlässigen Studierenden und einem Fa-kultätsmitglied bestehen, die Fragebogen danach gesammelt an die Militärregierung ab-gegeben werden. Nun gab die amerikanische Militärregierung auch Anweisungen dar-über, wer von einem Hochschulstudium auszuschließen sei. Auch hier blieb man jedoch466 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik unspezifisch, sodass der TH Darmstadt weiterhin ein gewisser Interpretationsspielraumblieb.2150

Zwar gründete die Hochschulleitung entsprechend der Vorgaben Hochschulaus-schüsse – in einzelnen Fällen bezog man hier auch die Gewerkschaften mit ein2151–, diesetraten ihre Aufgabe jedoch nicht während des laufenden Semesters an.2152Zu verschärftenÜberprüfungen aufgrund der amerikanischen Anweisungen kam es erst zum Sommerse-mester 1946. Alle eingeschriebenen Studierenden wurden nun vor ihrer Zulassung erneutüberprüft. Bei wem die politische Belastung einen Verstoß gegen die amerikanischenVorschriften darstellte, wurde jetzt vom Studium ausgeschlossen. Erstmals wurde somitauch die von der Militärregierung vorgegebene Höchstquote aller eingeschriebenen ehe-maligen Parteimitglieder von 10 Prozent beachtet. Insgesamt 25 zuvor eingeschriebeneStudierende wurden vom Weiterstudium ausgeschlossen, 177 neue Studienbewerber ab-gelehnt.2153Mit Einführung der Spruchkammerverfahren änderte sich das Vorgehen er-neut. Studierende, die von der Spruchkammer als entlastet eingestuft worden waren,mussten nun generell nicht mehr von der Hochschule überprüft werden.2154Zum Winter-semester 1946/47 legte die amerikanische Militärregierung außerdem erneut Vorgabenfür die Zulassung von politisch belasteten Studierenden vor.2155Danach konnten Studie-rende ohne Mitgliedschaften, die durch eine Spruchkammer in die Gruppen der Mitläufer,Entlasteten oder nicht Betroffenen eingestuft worden waren, direkt zum Studium zuge-lassen werden. Personen, die als Minderbelastete eingestuft worden waren oder vor dem 10.1 Die Zulassungsbestimmungen in der Nachkriegszeit 4671. Januar 1919 geboren worden waren, durften nur nach Überprüfung durch den Univer-sitätsoffizier zugelassen werden. Vom Studium auszuschließen waren als Belastete undHauptschuldige eingestufte Personen sowie aktive Parteiangehörige. Weiter legte dieamerikanische Militärregierung fest, dass aktive Offiziere und Anwärter vor 1939 nurfünf Prozent aller Studierenden jeder Fakultät ausmachen durften.

Diesen Bestimmungen waren Nachrichten in der amerikanischen Presse über die be-denkliche Lage der deutschen Hochschulen vorausgegangen. Die Universitäten wurdendarin unter anderem als „Hochburgen des Nationalsozialismus“2156bezeichnet. Zudemwar bekannt geworden, dass Studierende an vielen Universitäten und Hochschulen beider Einschreibung die Fragen unzutreffend beantwortet hatten. Neben der bereits erwähn-ten Tatsache, dass die Amerikaner nun genauere Vorgaben machten, hatte dies zur Folge,dass die amerikanische Militärregierung im Sommersemester 1947 erstmals in einer auf-wendigen Prozedur, systematisch und gründlich alle Fragebogen der Studierenden ihrerZone anhand des BDC überprüfte. Die Überprüfung, die einige Monate beanspruchte,ergab, dass zahlreiche Studierende ihre Mitgliedschaft in der NSDAP und ihren Gliede-rungen verschwiegen hatten. Im Wintersemester 1947/48 wurden allein an der UniversitätWürzburg 600 Fälle aktenkundig, an der Universität Erlangen waren es sogar 700.2157InFrankfurt fand man unter 3.070 geprüften Meldebögen insgesamt 810 Bogen mit fehler-haften Angaben, dies entspricht einem Anteil von 27 Prozent.2158Für Darmstadt sindkeine genauen Zahlen der aktenkundig gewordenen Fälle übermittelt. Das Kultusminis-terium ging von 25 Prozent aus.2159

Nachdem diese Fälle bekannt geworden waren, verlangte das hessische Kabinett, denSemesterbeginn auf April 1948 zu verschieben, um die Untersuchungen zu den Vorfällenabschließen zu können. Das Kultusministerium ordnete an, Ausschüsse bestehend auseinem Mitglied des Kultusministeriums, des Befreiungsministeriums, dem zuständigenDekan, einem Lehrkörpermitglied sowie einem Studierenden – einer der beiden sollteaußerdem als politisch Verfolgter anerkannt sein – zu gründen. Die betroffenen Rektorenhielten insbesondere die Verschiebung des Semesterbeginns für inakzeptabel und berie-ten im Rahmen mehrerer südhessischer Hochschulkonferenzen über das weitere Vorge-468 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik hen.2160Aufgrund der laufenden Prüfungen lehnte man es ab, die angekündigten Semes-teranfänge abzuändern. Des Weiteren weigerte man sich, vor der Prüfung des Belastungs-materials die Studierenden vom Studium auszuschließen.2161Zwar gelang ihnen so, Auf-schub für die Aktionen zu erreichen, um eine systematische Überprüfung kamen dieHochschulen und Universitäten jedoch nicht herum.

In Darmstadt wurden sämtliche aktenkundigen Fälle zunächst gesichtet. Bei einigenwurde die Vernehmung durch den Ausschuss für notwendig befunden. Diesem gehörtender Rektor der TH Darmstadt, die Professoren Mesmer und Pinand, der Vorsitzende derDarmstädter Spruchkammer, Artur Bratu sowie Dr. Metz vom Kultusministerium an so-wie Hochschulmitarbeiter Cord Petersen und Architekturstudent Bartsch.2162Von deninsgesamt untersuchten 40 Fällen erhielten fünf bis sechs Studierende einen schriftlichenVerweis.2163Diese vergleichsweise geringe Anzahl kam unter anderem dadurch zustande,dass der Ausschuss es als erwiesen ansah, dass viele der vermeintlichen Lügen nicht alssolche zu verstehen waren, da die Betroffenen versicherten, ohne eigene Kenntnis undautomatisch in die Partei aufgenommen worden zu sein. Diese Fälle zählte der Ausschussnicht zu jenen, die zu suspendieren waren, sondern gab ihnen bis zum Wintersemester1948/49 die Möglichkeit, ihre unfreiwillige Aufnahme zu beweisen.2164

Die Falschangaben zogen keine weiteren Konsequenzen nach sich, nicht zuletzt dadie politische Überprüfung der Studierenden durch die Jugendamnestien insgesamt anBedeutung verlor. Nach der ersten Jugendamnestie vom 6. August 1946 galten alle, dienach dem 1. Januar 1919 geboren worden waren, als „Entlastete“, sofern sie nicht alsAktivisten eingestuft worden waren. Zum Sommersemester 1949 hatten sich die Verhält-nisse so gestaltet, dass auch Mitglieder der Waffen-SS unbehelligt an der TH Darmstadtstudieren konnten. Mit Kenntnis des Kultusministeriums waren unter den insgesamt2.500 Studierenden mindestens 7 ehemalige Mitglieder der Waffen-SS eingeschrie-ben.2165Sehr bald schon, im Studienjahr 1950/51, wurde nach der politischen Vergangen-heit bei der Immatrikulation nicht mehr gefragt.2166

10.1 Die Zulassungsbestimmungen in der Nachkriegszeit 46910.1.3 Folgen der Zulassungsbestimmungen für Studentinnen und für Displaced Per-sons an der TH Darmstadt

Die Studierenden der ersten Nachkriegssemester waren in hohem Maße gekennzeichnetdurch ihre Heterogenität. Die Kriegsjahre und die Ausgrenzung „rassisch“ und politischMissliebiger hatten bis 1945 eine große Gruppe von potenziellen Studierenden von denHochschulen und Universitäten ferngehalten.2167Das Ende des Zweiten Weltkriegesstellte für viele der Betroffenen nach Jahren der Unterbrechung die Möglichkeit, ihr Stu-dium wieder aufzunehmen, und demnach eine deutliche Zäsur dar. In den ersten Nach-kriegssemestern drängten mehrere Generationen gleichzeitig an die Universitäten undHochschulen. Die große Zahl der Kriegsheimkehrer zeigte sich deutlich im berechnetenDurchschnittsalter der Studierenden. Es betrug im Wintersemester 1947/48 25 bis 26 ge-genüber 20 bis 21 Jahre vor dem Krieg. Ebenfalls aufgrund der besonderen Umstände derNachkriegszeit veränderte sich die Fächerwahl der Studierenden. Architektur und Bauin-genieurwesen gehörten nun zu den Fächern mit den meisten Bewerbern und zugelassenenStudierenden.

Studentinnen an der TH Darmstadt nach 1945

Auch für die TH-Studentinnen kam es mit dem Ende des Krieges zu einschneidendenVeränderungen. Nachdem die Einziehung der Männer zum Kriegsdienst zu einem An-stieg des Frauenanteils an der TH Darmstadt geführt hatte – besonders deutlich im Win-tersemester 1944/45: Von 189 Studierenden waren 43 Frauen, was einem Anteil von23 Prozent entsprach2168–, führte der Mangel an Studienplätzen in der Nachkriegszeit zueinem rapiden Rückgang des Frauenanteils. Im Wintersemester 1945/46 waren unter den1.026 an der TH Darmstadt Eingeschriebenen 68 Frauen, was einem Anteil von 7 Prozententspricht. Naturgemäß schwankten innerhalb der einzelnen Fächer die Zahlen erheblich.So waren unter ihnen 34 Studentinnen der Architektur (13 Prozent), 17 Studentinnen derMathematik und Physik (19,1 Prozent) sowie 13 der Chemie (13,5 Prozent), aber nurjeweils eine Bauingenieurwesen- (0,3 Prozent), Maschinenbau- (0,8 Prozent) und Elekt-rotechnikstudentin (1,1 Prozent) sowie eine Studentin der Kultur- und Staatswissenschaf-ten (25 Prozent – hier waren insgesamt nur vier Studierende eingeschrieben).2169In dendarauffolgenden Semestern betrug der Gesamtanteil der Frauen etwa fünf Prozent und470 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik ging ab dem Wintersemester 1948/49 sogar, wie in Abbildung 10 zu sehen ist, noch weiterzurück.

SemesterGesamtstudentenzahl Frauenanteil absolutFrauenanteil in %WS 45/46 1026 68 7 WS 46/47 1834 95 5 WS 47/48 2082 112 5 WS 48/49 2472 95 4 WS 49/50 2699 86 3 SS 51 2865 67 2 SS 52 2982 73 2 SS 53 2992 61 2 SS 54 3252 68 2 SS 55 3255 83 3 SS 56 3493 103 3 SS 57 3775 124 3 SS 58 4037 139 3 SS 59 4149 131 3 SS 60 4216 134 3 Abbildung 10: Frauenanteil der Darmstädter Studierenden zwischen 1945 und 19602170Der höhere Frauenanteil bis 1949 und dessen merklicher Rückgang danach lässt sich aufzwei Faktoren zurückführen: Zum einen befanden sich in der Gruppe der Displaced Per-sons viele Frauen,2171und zum anderen beendeten bereits vor 1945 immatrikulierte, kurzvor dem Abschluss stehende Frauen zu diesem Zeitpunkt ihr Studium. Danach jedochging aufgrund der Rahmenbedingungen die Quote der Studentinnen zurück.

Die TH Darmstadt stellte diesbezüglich keinen Sonderfall dar. Der Anteil der Studen-tinnen an den Technischen Hochschulen in den Westzonen entwickelte sich ebenfalls indiesem Rahmen. Im Sommersemester 1947 waren 105.865 Studierende in den Westzoneneingeschrieben. Der Anteil der Frauen betrug 20 Prozent.2172An den Technischen Hoch-schulen war die Quote entsprechend der Fächerauswahl erheblich niedriger. Im Winter-semester 1947/48 studierten an den THs des Vereinigten Wirtschaftsgebietes (Angabenohne TU Berlin) 18.950 Studierende, darunter 1.268 Frauen, was einem Anteil von etwa 10.1 Die Zulassungsbestimmungen in der Nachkriegszeit 4717 Prozent entspricht.2173Wie an der TH Darmstadt sank der Anteil der Studentinnen be-ständig weiter. So waren im Wintersemester 1947/48 7 Prozent Studentinnen eingeschrie-ben, Ende der 1940er Jahre waren es noch 5 Prozent und Anfang der 1950er Jahre sankder Durchschnitt der weiblichen Studentinnen an den sechs Technischen Hochschulenauf etwa 4 Prozent.2174

Das Frauenstudium wurde unter den Zeitgenossen insgesamt kontrovers diskutiert.Obwohl es nicht dazu kam, existierten durchaus Bestrebungen, das Studium für Frauengenerell zu verbieten oder eine Quote aufzuerlegen. Wie die TH Darmstadt zu dieserFrage Stellung bezog, lässt sich anhand der überlieferten Akten nicht rekonstruieren.2175Die rückläufigen Zahlen der eingeschriebenen Studentinnen geben jedoch Hinweise da-rauf, dass man an der TH Darmstadt den männlichen Kriegsheimkehrern gegenüber weib-lichen Bewerberinnen den Vorzug gab.

Displaced Persons an der TH Darmstadt

Bei Kriegsende gab es in Europa rund sieben Millionen sogenannter „Displaced Persons“– frei übersetzt „Entwurzelte“, in der Kurzform DPs genannt, die meisten davon auf deut-schem Gebiet. Es handelte sich um ehemalige Zwangs- und Fremdarbeiter, Kriegsgefan-gene und aus Konzentrationslagern befreite Häftlinge.2176Viele der jüngeren DPs im stu-dienfähigen Alter hegten den Wunsch, ihre Ausbildungswege nach der Unterbrechungdurch den Krieg fortzusetzen. In den Lagern der DPs war – im Gegensatz zu einigenKriegsgefangenenlagern – an eine Universitätsausbildung nicht zu denken.2177Zwar ini-tiierten Hochschullehrer und Studierende unter den DPs an verschiedenen Standorten dieGründung eigener Hochschuleinrichtungen, wie die der baltischen Universität in Ham-burg, später Pinneberg. Mit Unterstützung der Hilfsorganisation United Nations Reliefand Rehabilitation Administration, kurz UNRRA, wurde außerdem in München die472 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik „UNRRA-Universität“ gegründet.2178Die Mehrzahl der studierwilligen DPs strebte abereine Zulassung an den deutschen Universitäten an.2179

Dass es DP-Studenten an der TH Darmstadt gab, war lange Zeit vergessen.2180ImUniversitätsarchiv geben nur wenige Dokumente Auskunft darüber. Das verwundertumso mehr, als bis ins Jahr 1948 hinein die DP-Studierenden eine nicht zu übersehendeGruppe ausgemacht haben, wie Abbildung 11 zeigt.

SemesterGesamtstudenten-zahl

Zahl der ausländischen

Studierenden

(inklusive DP-Studenten)

Anteil in %

WS 45/46 1037 96 9,3

SS 46 1440 151 10,5

WS 46/47 1814 212 11,7

SS 47 2063 213 10,3

WS 47/48 2274 193 8,5

SS 48 2251 156 6,9

WS 48/49 2544 111 4,4

SS 49 2431 81 3,3

WS 49/50 2725 56 2,1

Abbildung 11: Statistik zu den DP-Studenten an der TH Darmstadt nach Semestern2181Betreut und verpflegt wurden die DP-Studenten zunächst von der UNRRA, später abge-löst durch die International Refugee Organisation, kurz IRO. DP-Studenten waren vonStudiengeldern befreit. Daneben konnten sie eine monatliche Unterstützung durch dieUNRRA erhalten.2182Über Zulassung und politische Überprüfung ausländischer Studie-render entschied die Militärregierung. In einer der Direktiven der Alliierten ordneten diewestlichen Besatzungsmächte eine Zulassungsquote von 10 Prozent für DP-Studenten an.Ansonsten hielten sie sich aus der Angelegenheit heraus. Die Umsetzung der Direktiveund die Zulassung der einzelnen DPs zum Studium lagen somit in den Händen der Uni-versitäten und Hochschulen selber. In den ersten Semestern nach Kriegsende war, das 10.1 Die Zulassungsbestimmungen in der Nachkriegszeit 473wurde schon berichtet, die Aufnahmemöglichkeit der TH Darmstadt sehr begrenzt. WieAbbildung 11 zeigt, wurde bis ins Sommersemester 1947 die 10-Prozent-Quote an derTH Darmstadt kontinuierlich erreicht. Ob es über diese verpflichtende 10-Prozent-Quoteweitere Bewerber aus der Gruppe der DPs gab, ist nicht aus den Akten überliefert. Nach1947 verlor die Quote an Relevanz, da die Anzahl an Bewerbungen von DP-Studentendarunterlag.

Unter den DP-Studenten an der TH Darmstadt gab es 23 verschiedene Nationalitä-ten.2183In der Nachkriegszeit existierten für die Dauer ihrer Anwesenheit an der THDarmstadt eine „Jüdische Studentenvereinigung“, ein „Jugoslavisch-serbischer Studen-tenverein“, eine „Lettische Studentengemeinschaft“, eine „Litauische Studentengemein-schaft“, eine „Polnische Studentengemeinschaft“ sowie eine „Ukrainische Studentenge-meinschaft“.2184

SemesterGesamtstudentenzahlZahl der ausländi-schen Studierenden

Anteil in %SS 1951 2865 71 2

SS 1952 2982 83 3

SS 1953 2992 123 4

SS 1954 3252 216 7

SS 1955 3255 259 8

SS 1956 3493 340 10

SS 1957 3775 427 11

SS 1958 4037 571 14

SS 1959 4149 619 15

SS 1960 4216 592 14

Abbildung 12: Ausländische Studierende an der TH Darmstadt von 1951–19602185

Da für viele der DP-Studenten der Aufenthalt in Deutschland aufgrund von Ausreisewün-schen zeitlich begrenzt war, beendete nur ein kleiner Teil unter ihnen das Studium.2186474 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik Bis Mitte der 1950er Jahre betrug der Anteil der ausländischen Studierenden an derTH Darmstadt unter 10 Prozent. Zum einen lag dies an Devisenschwierigkeiten, anderer-seits aber auch an der Haltung der TH Darmstadt, die es begrüßte, stattdessen deutscheStudierende einschreiben zu können. Wie aus Abbildung 12 hervorgeht, entspannte sichdie Situation allmählich. Von 1955 auf 1960 verdoppelte sich nahezu die Zahl der aus-ländischen Studierenden.

Zwar war das Studium für Ausländer und für Frauen an der TH Darmstadt nicht offi-ziell durch eine Quote beschränkt, aufgrund der Zulassungsbeschränkung sank jedoch dieBereitschaft der Hochschulleitung, diese zwei Personengruppen zum Studium zuzulas-sen. Wie eine Aufstellung zu den ausländischen Studierenden an der TH Braunschweigzeigt, überstieg der Anteil der ausländischen Studierenden an der TH Darmstadt jenen ander TH in Braunschweig spürbar.2187Dagegen schnitt die TH Darmstadt beim Frauenan-teil schlechter als die TH Braunschweig ab: Dort waren im Gegensatz zu den zwei bzw.drei Prozent in Darmstadt zwischen sieben und zehn Prozent Frauen eingeschrieben, wieberichtet gab es dort einen Pharmaziestudiengang.2188

10.2 „Akademische Schicksalsgemeinschaft“ zwischen Studierenden und Professoren. Zusammenhalt nach außen – Kontrolle, Diszipli- nierung und Leistungsdruck nach innen

Als im Rahmen der Entnazifizierung vier Professoren der TH Darmstadt entlassen wor-den waren, wandte sich der AStA der TH Darmstadt mit der Bitte, die Verfahren zügigdurchzuführen, da sonst eine Fortsetzung des Studiums gefährdet sei, an den öffentlichenAnkläger der Spruchkammer und den Kultusminister.2189Darüber hinaus traten einzelneStudierende gleich in mehreren Verfahren von Professoren als Aussteller von Persilschei-nen auf und unterzeichneten Petitionen zur Fortführung des Unterrichts.2190Nicht nur imRahmen der Entnazifizierung zogen die Studierenden und die Professoren an einemStrang, genauso bat man gemeinsam bei der amerikanischen Militärregierung um Hilfe-leistungen aus dem Ausland. So reichte die TH Darmstadt einen vom Rektor und demVorsitzenden des AStA unterzeichneten Bericht über die Zustände an der TH Darmstadt 10.2 „Akademische Schicksalsgemeinschaft“ 475ein, dem zur Untermalung außerdem ein Auszug aus dem Tagebuch eines DarmstädterStudenten angehängt worden war.2191Auch in Berufungsfragen unterstützten die Studie-renden die Hochschulleitung mit ihren Forderungen an das Kultusministerium.2192Dieszeigt, wie Professoren und Studierende angesichts der schwierigen Studien- und Lebens-bedingungen in der Nachkriegszeit eng zusammenrückten. Auch wenn der Begriff alssolcher so in den Quellen nicht zu finden ist, liegt der Schluss nahe, dass sie sich als„akademische Schicksalsgemeinschaft“ empfanden. Angesichts von Zerstörung und Be-satzungszeit hatten die beiden Personengruppen ein gemeinsames Ziel: die TH Darmstadtdurch die schwierige Zeit des „Wiederaufbaus“ zu bringen. Wie Rainer Maaß konstatiert,teilten Professoren und Studierende in der Nachkriegszeit gewisse „Konsenselemente“ –dazu zählt er unter anderem eine nationalkonservative Einstellung, einen antikommunis-tischen Grundkonsens, den Stolz auf die deutsche Nation und die Ablehnung von Partei-politik –, was ebenfalls für das nötige Gemeinschaftsgefühl sorgte.2193Wie berichtet, hat-ten die Professoren die Darmstädter Studierenden „handverlesen“, auch dies lässt denSchluss nahe, dass sie dabei insbesondere jene Studienbewerber akzeptierte, die ihrenWerten und Einstellungen entsprachen.

Aus Sicht der Hochschulleitung kam der „Schicksalsgemeinschaft“ mit den Studie-renden insbesondere im Umgang mit Kritik von Pressevertretern sowie deutschen undalliierten Regierungsvertretern an den Studierenden große Bedeutung zu. Die Studieren-den wurden in der Nachkriegszeit von der Öffentlichkeit besonders kritisch betrachtet.Wie Frauke Steffens in ihrer Arbeit zum Beispiel der TH Hannover feststellt, war dasReden über Studierende von Fremdzuschreibungen geprägt, insbesondere von Aspektender „Skepsis“ und der „Suche“.2194Nachträgliche „Namensgeberin“ dieser Zuschreibun-gen wurde die im Jahr 1957 erschienene Studie „Die skeptische Generation“ des Sozio-logen Helmut Schelsky, in der er die Generation der jungen Erwachsenen als politisch-desinteressiert, pragmatisch und familien-, berufs- und aufstiegsorientiert beschreibt.2195In den Zuschreibungen von außen waren sowohl Verständnis mit der Haltung der Studie-renden als auch starkes Misstrauen enthalten, das insbesondere aus den vorangegangenenErfahrungen mit den während des Nationalsozialismus radikalisierten Studierenden re-476 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik sultierte.2196Einerseits teilte die Hochschulleitung diese Bedenken, andererseits war siesich der Bedeutung und möglicher Folgen einer solchen Wahrnehmung durch hochschul-ferne Akteure sehr bewusst. Die Hochschulleitung war bei der Thematisierung der poli-tischen Haltung der Studierenden immer darauf bedacht, Zweifel auszuräumen. Dies zeigtsich zum einen in präventiv geäußerten Statements und zum anderen in der Reaktion aufkritische Pressemeldungen. So äußerte sie der Militärregierung gegenüber, „dass geradebei der Jugend die Denazifizierung wenig Schwierigkeiten machen wird. Sehr viele jungeLeute haben die Nazimethoden sowohl bei der Schulerziehung als auch bei der Wehr-macht als Knebelung ihrer persönlichen Freiheit empfunden“.2197Diese Darstellung warkeine Darmstädter Besonderheit; wie aus den bereits zitierten Äußerungen von Karl Jas-pers über Besprechungen mit Hartshorne hervorgeht, gab es an der Universität Heidelbergähnliche Ansichten. Auch Jaspers hielt eine „politische Bewegung“ unter den Studieren-den für unwahrscheinlich, denn der „Rückschlag und der Drang zum Lernen sei sehrgroß“.2198

Gegenüber der Presse bemühte man sich um Schadensbegrenzung. Sobald die Studie-renden zum Gegenstand öffentlicher Kritik wurden, setzte sich die TH-Leitung für einepositive Berichterstattung ein. Wie vielerorts sorgte besonders die hohe Zahl der Berufs-und Reserveoffiziere unter den Studierenden für Zweifel an ihrer demokratischen Hal-tung. In Darmstadt waren unter den im ersten Nachkriegssemester eingeschriebenen Stu-dierenden 330 Offiziere.2199Im Wintersemester 1946/47 waren es 18 ehemalige aktiveund 529 Reserveoffiziere. Die Anzahl der politisch Verfolgten war demgegenüber mit23 Studierenden verschwindend gering.2200Regierungspräsident Ludwig Bergsträsser äu-ßerte sich im März 1946 zum, wie er es nannte, „gegenwärtigen Hochschulproblem“ ineinem Artikel mit dem Titel „Der deutsche Student von heute“.2201Bergsträsser betrach-tete insbesondere die Tatsache kritisch, dass sich unter den Studierenden viele ehemaligeOffiziere befanden.2202Für die TH Darmstadt stellten diese Äußerungen eine offene unddaher nicht hinnehmbare Kritik dar.2203Als Reaktion verfasste der damalige Rektor, Pro- 10.2 „Akademische Schicksalsgemeinschaft“ 477fessor Reuleaux, eine Stellungnahme zu Bergsträssers Artikel.2204Bei den Kriegsteilneh-mern so Reuleaux, sei nicht von einer „besonders inneren Verbundenheit mit dem Natio-nalsozialismus oder dem Militarismus“ auszugehen, sie hätten im Gegenteil „das Unheilmehr oder weniger kommen sehen und sogar oft im Gegensatz zur NSDAP gestanden“und deren „Einmischung in die Wehrmacht mit Widerwillen angesehen“.2205Wie aus die-ser Bemerkung hervorgeht, stellte sich die TH-Leitung vor die Studierenden. Es kanndavon ausgegangen werden, dass sie dies nicht zuletzt tat, um den Ruf der TH Darmstadtnicht zu gefährden. Interessant ist, dass Reuleaux zur Verteidigung der Studierenden diegleichen „Reinwaschungsmuster“ verwendet, wie für die Professoren in deren Entnazifi-zierungsverfahren.2206

Auch als im Sommer 1949 die Vorfälle im Hochschulstadion – ein Darmstädter Stu-dent soll einen amerikanischen Offizier beschimpft haben, woraufhin die Hochschule Sta-dionverbot erhielt2207– für negative Schlagzeilen in der Lokalpresse sorgten, schaltetesich die Hochschulleitung ein. Wie aus einer Aktennotiz hervorgeht, befragte sie betei-ligte Personen und kam anschließend zu dem Schluss, dass die Behauptungen des Jour-nalisten aus der Luft gegriffen seien.2208Sie warf ihm vor, „in unverantwortlicher Weisevöllig bedeutungslose Äusserungen von Studierenden“ aufgebauscht und von „antisemi-tischen Kundgebungen“ geschrieben zu haben. Dieser sah daraufhin ein, dass „solcheGreuelmeldungen dem Ziel, die Studentenschaft vom Nazismus abzuhalten, nur abträg-lich seien“. Darüber hinaus beschloss der Kleine Senat, die Presse „vor einem solchenLügner“ – an dieser Stelle war der Journalist gemeint – zu warnen.2209Ähnliches wieder-holte sich bei der bereits erwähnten Aufdeckung der Fragebogenfälschungen2210vonmehreren hundert Studierenden. Hier baten die süddeutschen Rektoren geschlossen da-rum, „diese Aktionen so unauffällig wie nur irgendmöglich durchzuführen, um nicht un-nötig Staub aufzuwirbeln“.2211

478 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik

Für großen Aufruhr deutschlandweit sorgten Presseberichte über Erlanger Studie-rende im März 1946. Diese hatten bei einem Vortrag von Martin Niemöller in einer Er-langer Kirche auf seine Äußerungen zur Schuld der Deutschen mit Füßescharren sowiedemonstrativem Verlassen der Kirche reagiert, und später Hochschulgebäude mitSchmähparolen gegen Niemöller beschmiert.2212In der Öffentlichkeit machten sich Zwei-fel breit, ob Studierende willens waren, die deutsche Niederlage und das Ende des Nati-onalsozialismus zu akzeptieren.

Der Rektor der TH Darmstadt nahm in einer Ansprache an die Studierenden im März1946 dazu Stellung. Er bezeichnete die Pressedarstellungen als „verzerrt und übertrie-ben“. Gleichzeitig nahm er die Auseinandersetzungen um die Erlanger Studierenden zumAnlass, den Darmstädter Studierenden vor Augen zu führen, dass sie „einen enormensozialen Vorzug genießen, den Sie der Gesamtheit der Steuerzahler verdanken“ und ausdem die Pflicht entstehe, sich „würdig zu erweisen.“2213Er wies weiter auf die Verant-wortung der Studierenden auch gegenüber der Hochschule hin: „Sie lernen also, dass dieStudenten im Interesse des eigenen Ansehens und des Ansehens der Hochschule Disziplinbewahren müssen. [...] Wir wollen es in Darmstadt auf keinen Fall dahin kommen lassen,dass man Anlaß findet, etwa die Hochschule zu schließen, denn dann wäre alle die Mühe,die wir uns bisher gegeben haben, vergebens gewesen.“2214

Kontrolle, Disziplinierung, Schutz des Hochschulfriedens

Aus diesem Abwehrverhalten der Hochschulleitung zu schließen, die TH Darmstadt habeden Studierenden ohne Vorbehalte gegenübergestanden, wäre nicht angemessen. Nichtvergessen werden darf hierbei die Erfahrung der Professoren mit den politisierten Studie-renden zu Beginn des „Dritten Reiches“. Wie in Kapitel 2 erläutert, hatten die Studieren-den in dieser Zeit mit Denkschriften und anderen Aktionen für Unruhe in der TH Darm-stadt gesorgt, die in einigen Fällen sogar zur Entlassung von Ordinarien geführt hatten.Damit hatten sie gegen traditionelle akademische Werte verstoßen und für die Professo-ren eine unkalkulierbare Gefahr dargestellt. All dies hatten die Professoren nach 1945keineswegs vergessen. Dass trotz der „Schicksalsgemeinschaft“ auch die Hochschullei-tung die Nachkriegsstudierenden in hohem Maße unter Beobachtung hielt, geht aus zahl-reichen von ihr ergriffenen Maßnahmen zur Sicherung des Hochschulfriedens hervor. So 10.2 „Akademische Schicksalsgemeinschaft“ 479wurden in der Nachkriegszeit mehrere Gelöbnisse auf den Hochschulfrieden zur Voraus-setzung für die Immatrikulation an der TH Darmstadt. Jeder Student musste unter einensogenannten „Verpflichtungsschein“ bei der Immatrikulation seine Unterschrift setzen.Darauf verpflichteten sich die Studierenden, sogar die „getreuliche“ Befolgung noch zu„ergehender“ Bestimmungen.2215Zusätzlich verlangte die TH Darmstadt zum Eintritt indie Hochschulgemeinschaft ein mündliches Gelöbnis von jedem Studierenden. Dieses ar-beitete die Hochschulleitung 1945 in Rücksprache mit der Heidelberger Universitätaus.2216Es lautete:

„Ich gelobe, die Hochschulgesetze getreulich zu achten, die Ordnung zu schüt-zen, den Frieden zu wahren, Kameradschaft zu halten, nach Wahrheit zu stre-ben, mein Wissen nach all meinen Kräften zu mehren, hierdurch dem Wohleder Menschheit zu dienen und damit meinem Vaterland.“

Am 1. März 1946 wurden die Studierenden zum ersten Mal auf diesen Wortlaut in dieGemeinschaft der Hochschule aufgenommen. Nach der Ansprache des Rektors versicher-ten in einer symbolischen Handlung zehn Studierende per Handschlag auf der Bühne ihreHochschultreue.2217Diese als „Verpflichtungsfeier“ bezeichnete Zeremonie wiederholtesich von da an jedes Wintersemester für die Neueingeschriebenen. Dass die TH Darm-stadt im Jahr 1945 an die alte Tradition der Verpflichtungsfeier zurückerinnerte und diesezu diesem Zeitpunkt wieder einführte, kann als Zeichen dafür gedeutet werden, wie großdie Angst der Hochschulleitung war, dass die Studierenden in der Nachkriegszeit gegenden Hochschulfrieden verstoßen könnten.2218Darmstadt stellte diesbezüglich keine Aus-nahme dar, auch an anderen Hochschulen und Universitäten wurden die Neuimmatriku-480 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik lierten mit einer Formel in die „akademische Gemeinschaft“ aufgenommen.2219Auchnach einer Immatrikulation übte die Hochschulleitung beständigen Druck auf die Studie-renden aus. Bis einschließlich des Studienjahres 1955/56 erteilte man die Zulassung zumStudium jeweils nur für ein Semester, zu Beginn jedes Semesters mussten die Studieren-den diese neu beantragen.2220Bei einem nicht erfolgreichen Studium behielt sich dieTH Darmstadt vor, durch ein Disziplinargericht die Studienerlaubnis zu widerrufen. Sobeschloss der Kleine Senat im Juni 1947, Studierende, die bis zum 7. Semester ihre Vor-prüfung noch nicht bestanden hatten, zu exmatrikulieren.2221Dabei waren die Fakultätenwenig bereit, Rücksicht auf individuelle Problemlagen zu nehmen. Selbst bei Studieren-den, die während des Nationalsozialismus verfolgt worden waren, ließ man das Leis-tungsprinzip nicht außer Acht. So riet der Dekan der Mathematik und Physik einem Stu-denten von einem weiteren Studium in Darmstadt ab, nachdem dieser die erforderlichenLeistungen nicht erbracht hatte, obwohl bekannt war, dass er wegen seiner „nicht arischenAbstammung“ schon während der Schulzeit „große Schwierigkeiten“ gehabt hatte.2222Dies zeigt zum einen, wie wenig empathisch die TH Darmstadt mit Opfern des National-sozialismus war, und zum anderen, welchen Stellenwert das Leistungsprinzip hatte. Nichtzuletzt des Leistungsprinzips wegen hatte die TH Darmstadt freiwillig nach 1945 einenNumerus Clausus eingeführt.2223Diesen hatte sie darüber hinaus bewusst „so hoch wiemöglich angesetzt […], um durch einen gesunden Existenzkampf unter den Akademikerndie Leistungen zu steigern“.2224

Auch wenn sich dies nicht anhand von Egodokumenten beweisen lässt, entsteht derEindruck, dass die Studierenden aufgrund der schwierigen Zulassungsbestimmungennicht selten so dankbar darüber waren, zum Studium zugelassen worden zu sein, dass siedie Strategien der Hochschulleitung zur Kontrolle und Disziplinierung nicht hinterfrag-ten. Die Abbildung 13 steht hier sinnbildlich für das ungleiche Verhältnis zwischen denOrdinarien auf der einen und den sich unterordnenden Studierenden auf der anderen Seite.Ein Blick in eben diese Studentenzeitschrift lässt erahnen, wie lange die „akademischeSchicksalsgemeinschaft“ zwischen Studierenden und ihren Professoren anhielt.

10.2 „Akademische Schicksalsgemeinschaft“ 481Abbildung 13: Titelblatt der ersten Darmstädter Studentenzeitung 1952/532225

Während an Universitäten Studierende bereits 1964 erste Fragen nach der Vergangenheitihrer Lehrer stellten und Ringvorlesungen zur Universität im „Dritten Reich“ abgehaltenwurden,2226befinden sich zu diesem Zeitpunkt in der Darmstädter Studentenzeitschriftweiterhin Interviews und Porträts mit Professoren, die vollkommen unkritisch und wenigdistanziert deren Biografien wiedergeben.2227Erst 1968 fanden sich auch in der Studen-tenzeitschrift der TH Darmstadt vermehrt kritische Artikel, die deutliche Anzeichen dafürliefern, dass zumindest ein Teil der Studierenden sich von der Schicksalsgemeinschaftmit den Professoren distanzierten.2228

482 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik

10.3 Numerus Clausus zur Verhinderung eines „akademischen Proleta- riats“ und als Druckmittel gegen das Kultusministerium

Über die Beschränkung der Zulassung von Studierenden bemerkten die Amerikaner: „Nonumerus clausus has ever been formally established by Military Government; this hasrested in the hands of German universities authorities.“2229Im Gegensatz zur britischenMilitärregierung, die zur Empörung der ihr unterstellten Hochschulen und Universitäteneinen Numerus Clausus vorgab, hielten sich die zuständigen amerikanischen Offiziereauf diesem Gebiet mit Vorgaben jeglicher Art zurück.2230Die Hochschulen und Univer-sitäten hielten den in der britischen Zone aufgezwungenen NC als „Unglück für Deutsch-land“ und forderten regelmäßig seine Aufhebung.2231Für die freiwillige Einführung einerZulassungsbeschränkung durch Universitäten und Hochschulen hatten die Amerikanerdrei Erklärungen: „1. They believe that an academic proletariat of the same dangeroustype that which arose during the Nazi period may be formed, if more students are turnedout than there are positions to fill; 2. The strain on university staffs, which a heavy studentload brings about; 3. The fact that housing facilities are not available.“2232

Diese drei Faktoren stellten auch an der TH Darmstadt – zumindest in der Anfangszeit– die hauptsächliche Motivation dafür dar, einen NC einzuführen. Den Anstoß dafür, ander TH Darmstadt über einen NC nachzudenken, gaben die bis zu 75 Prozent starkenZerstörungen durch die Bombenangriffe. Bereits im Oktober 1945, als die genaue Zahlder Studienbewerber noch nicht feststand, sah der Verwaltungsrat einen NC als notwen-dig an.2233In ihrem Antrag auf Wiedereröffnung gab die Hochschulleitung an, mit Hin-blick auf die Unterrichtsräume im ersten Nachkriegssemester 1.200 Studierende zulassenzu können. Aufgrund der Wohnsituation begrenzte sie die Studentenzahl später auf1.100.2234Gasthörer hatte man für das Semester wegen Platzmangels nicht angenom- 10.3 Numerus Clausus als Druckmittel 483men.2235Nicht nur hatte die amerikanische Militärregierung keinen NC eingeführt, siebetrachtete außerdem mit Sorge, dass in Hessen wegen fehlender Unterbringungsmög-lichkeiten etwa 20.000 Bewerber abgewiesen werden mussten, und plante die Situationzu entschärfen, indem sie Zelte zur Verfügung stellte.2236

Erst später kam in der Diskussion über die Auswahl der Studierenden auch ein weite-rer Faktor hinzu: Die Angst vor einem „akademischen Proletariat“ wurde in zahlreichenDiskussionen und Darstellungen zur Frage der Zulassung von Studierenden thematisiert.Im Oktober 1947 erschien im Darmstädter Hochschulblatt anlässlich des IKIA-Kongres-ses das von Erwin Bramesfeld, bis 1939 außerplanmäßiger Professor und Leiter des Psy-chotechnischen Instituts, zur „Auslese“ der Studierenden gehaltene Referat.2237Darin be-gründete Bramesfeld unter anderem die Begrenzung der Studierendenzahl mit der sonstherrschenden „Gefahr einer Proletarisierung des Ingenieurstandes“.2238Ebenfalls um ein„akademisches Proletariat“ zu verhindern, plädierte Bergsträsser in seinem Artikel „Derdeutsche Student von heute“ für eine „scharfe Auslese“ der Studierenden.2239Auch in derbereits erwähnten Erwiderung des Darmstädter Rektors auf den kritischen Artikel Berg-strässers betonte dieser, dass ein „akademisches Proletariat“ verhindert werden müsse.2240Hinter diesem Schlagwort, das an anderen Hochschulen und Universitäten in ähnlicherWeise durch die Kritisierung des „Massenstudiums“ zutage trat, stand die Angst, dass dieAusbildung von einer zu großen Anzahl an Akademikern, die später auf dem Arbeits-markt keine Verwendung finden könnten, eine Wiederholung der Politisierung und Radi-kalisierung der Studierenden wie während des „Dritten Reichs“ hervorgerufen werdenkönnten.

Wegen der beschränkten Raumverhältnisse beschloss der Kleine Senat, im Som-mersemester 1946 nur 250 Erstbewerber aufzunehmen. Im Hinblick auf die Gesamt-studierendenzahl, die nach Wunsch des Senats höchstens 1.800 betragen sollte, wur-484 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik den Zulassungsquoten für die einzelnen Fächer festgelegt.2241Diese Vorgehensweisewiederholte sich nun alljährlich. Die Zulassungszahlen pendelten sich im Laufe derZeit bei 250 bis 350 Erstsemestern ein, sodass die Studentenzahlen konstant an-stiegen. Neben der Einführung eines NCs wurde die Zulassung zum Studium im Hin-blick auf die Gesamtstudienzahl durch weitere Maßnahmen kleingehalten. So be-schloss man im Juni 1947, zum Sommersemester 1948 keine neuen Erstsemester zuzu-lassen.2242

Festhalten am NC in Darmstadt. Druckmittel für den Wiederaufbau

Recht bald war an die Frage der Zulassungen die Raumfrage geknüpft. So machte dieTH-Leitung ihre Überlegungen, wie viele Studierende zum nächsten Semester zuzulassenwaren, davon abhängig, ob große Hörsäle zur Verfügung standen.2243

Im Laufe der 1950er Jahre begannen einige Hochschulen und Universitäten mitBemühungen, die Beschränkung der Studentenzahlen aufzuheben.2244Der KleineSenat der TH Darmstadt beschloss daraufhin, bei der Zulassung der neuen Studieren-den künftig großzügiger vorzugehen. Um darüber hinaus Studierende nicht an andereTHs zu verlieren, kam man außerdem zu dem Entschluss, die Bewerbungsformularewährend des ganzen Jahres zu verschicken und die Zulassung früher auszusprechen.2245Wie aus Abbildung 14 hervorgeht, erhöhte die TH Darmstadt die Quote von Jahr zuJahr.

10.3 Numerus Clausus als Druckmittel 485 Fakultäten WS

52/53

WS

53/54

WS

54/55

WS

55/56

WS

56/57

Architektur607682109125

Bauingenieurwesen11571106109136

Maschinenbau143120192232232

Elektrotechnik122117162161142

Chemie2616184026

Mathematik und Physik1727202920

Kultur- und Staatswissenschaften4747759290

Summe530474655772771

Abbildung 14: Zulassungen nach Fakultäten2246

In der Folgezeit entwickelte sich vor jedem Semester eine Diskussion über die Festlegungder Zulassungsquoten. Die Vertreter der einzelnen Fakultäten nahmen dabei unterschied-liche Positionen ein. Die Fakultät für Kultur- und Staatswissenschaften bedauerte die be-grenzten Zulassungsmöglichkeiten für Studierende des Wirtschaftsingenieurs undwünschte sich insbesondere mit Rücksicht auf die Konkurrenzsituation mit der TU Berlinund der TH Karlsruhe, mehr Studierende zulassen zu können.2247Aus anderen Fachberei-chen, unter anderem der Physik und der Chemie, kamen dagegen Bedenken gegen Erhö-hungen.2248Da die Physikvorlesungen für viele Studiengänge zum Pflichtprogramm ge-hörten, waren Engpässe hier am deutlichsten spürbar.

Allgemeine Unzufriedenheit herrschte im Kleinen Senat darüber, dass angesichts dergroßen Zahl an Bewerbern auch solche zurückgewiesen werden mussten, welche die Vo-raussetzungen erfüllten. Weiter musste festgestellt werden, dass keine andere TH an ei-nem so strengen NC wie Darmstadt festhielt. Trotz dieser unbefriedigenden Lage sah derKleine Senat aufgrund des Mangels an Hörsälen und des Mangels an Assistenten keineMöglichkeit dafür, den gegenwärtigen, auch von den Politikern geäußerten „Schrei nachIngenieuren“ zu befriedigen.2249In dieser Situation beschloss der Kleine Senat, dieDurchführung von Doppelvorlesungen, was die Grundvoraussetzung für eine Erhöhungder Studierendenzahl darstellte, an Personal- und Sachforderungen zu knüpfen.2250DerHintergrund dieser Entscheidung war nicht zuletzt die zu diesem Zeitpunkt stattfindendenVerhandlungen mit dem Kultusministerium über den weiteren Ausbau der TH Darmstadt.486 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik Im Jahr 1956 war für diese bereits ersichtlich, dass der als „Vierjahresplan“ bezeichneteAbschnitt des Wiederaufbaus die Erweiterungswünsche nicht ausreichend berücksich-tigte2251und sich das Kultusministerium zunächst nicht bereit erklärte, weiter zu investie-ren.2252Um eine „Unterlage für künftige Verhandlungen“ mit den Regierungsstellen zuerhalten, beauftragte der Kleine Senat Ende 1956 die Fakultäten, die erwünschten Zulas-sungsquoten in Zusammenhang mit der Frage der Zeichensäle, Hörsäle und des Audito-rium Maximum aufzustellen, um damit „Druck auf das Ministerium“ auszuüben.2253Zurweiteren Untermauerung der Position wurden auf Beschluss des Senats Pressedarstellun-gen über den NC als „bittere Folge der unzureichenden Personal- und Raumverhältnisse“lanciert.2254Noch im selben Monat berichtete eine Darmstädter Zeitung in einem Artikel„Muss die TH die Zahl der Studierenden senken?“ über die Problematik im Sinne derTH Darmstadt.2255Auch in der Folgezeit lassen sich Artikel finden, in denen auf die an-gespannte Situation an der TH Darmstadt hingewiesen wurde.2256Bis ins Jahr 1958 nutztedie TH Darmstadt den NC als „Druckmittel“ gegenüber Wiesbaden.2257Infolgedessenmusste die Zahl der Studienanfänger in einigen Fakultäten stark begrenzt werden. Beson-ders hart traf es die Fakultät für Kultur- und Staatswissenschaften, deren Zulassungsquotegegen ihren Willen angesichts der Gesamtbewerberzahlen von 100 auf 50 und damit umdie Hälfte gekürzt wurde.2258Auch der Dekan für Elektrotechnik kritisierte die Absen-kung der Zulassungszahlen.2259Im Laufe der Zeit zeigten sich aufgrund des Wunsches,mehr Studierende ausbilden zu können, immer weniger Fakultäten bereit, die Strategieder Hochschulleitung mitzutragen. So wandte sich die Fakultät für Maschinenbau infolgeder starken Beschränkung ihrer Studentenzahlen mit einer „Denkschrift der Fakultät fürMaschinenbau zum Bauprogramm der Technischen Hochschule Darmstadt“ an die Hoch-schulleitung.2260Im Vergleich zu anderen THs stellte man mit Sorge fest, dass der Ma-schinenbau an der TH Darmstadt, im Vergleich zu den anderen Hochschulen, die wenigs-ten Studierenden zuließ. So hieß es in der Denkschrift, dass selbst die räumlich wesentlich 10.3 Numerus Clausus als Druckmittel 487ungünstiger gestellte TH Braunschweig eine größere Zahl von Maschinenbaustudentenangenommen hatte. Die Fakultät forderte den Rektor mit Verweis darauf, dass bereitsnach dem Ersten Weltkrieg über 3.000 Studierende an der TH Darmstadt eingeschriebenwaren, dazu auf, die Quoten zu erhöhen. Verschiedene Professoren machten Vorschläge,die Hörsäle besser zu nutzen und durch eine geschickte Einteilung des Stundenplans Dop-pelvorlesungen möglich zu machen.2261Trotz dieser Einwände blieb die Hochschullei-tung bei ihrem eingeschlagenen Kurs, die Zulassung von ihren Forderungen abhängig zumachen. Aufgrund der vorgebrachten Gegenargumente ist zu bezweifeln, dass, wie dieHochschulleitung immer weiter beteuerte, die Doppelvorlesungen nicht möglich waren,sondern dass sie nicht zuletzt aus Angst davor, ein Druckmittel gegen Wiesbaden zu ver-lieren, an der Behauptung festhielt.2262Selbst der Einwand, dass man mit der Zurückwei-sung von mehreren hundert Studierenden für „menschliche Tragödien“ verantwortlichsei, zählte für die TH-Leitung nicht. Auch im Jahr 1959 beschloss die TH-Leitung, es„noch einmal bei der niedrigen Quote zu belassen, um dann vom nächsten Jahr an regel-mässig die Zulassungszahl wirkungsvoll heraufsetzen zu können“.2263

WS 47/48 WS 49/50 WS 51/52 WS 53/54 WS 55/56 WS 57/58 WS 59/60 München

4009

Stuttgart

4553

Aachen

4780

Aachen

5864

Aachen

6033

Aachen

7629

Aachen

9461

Stuttgart

3786

München

4380

München

4397

München

4590

München

4889

München

5612

München6213

Karlsruhe

3325

Karlsruhe

4020

Stuttgart

4228

Stuttgart

4486

Stuttgart

4369

Karlsruhe

4882

Karlsruhe5428

Darmstadt

2082

Aachen

2768

Karlsruhe

3977

Karlsruhe

3871

Karlsruhe

4208

Stuttgart

4792

Stuttgart

5321

Hannover

1381

Darmstadt

2699

Darmstadt

3166

Darmstadt

3296

Darmstadt

3679

Darmstadt

4277

Darmstadt4503

Braun-schweig

1270

Braun-schweig

2279

Braun-schweig

2407

Hannover

3120

Hannover

3432

Braunschweig

3968

Braun-schweig

4453

Aachen

1052

Hannover

1905

Hannover

2392

Braun-schweig

2657

Braun-schweig

3096

Hannover

3814

Hannover4275

Abbildung 15: Studierendenzahlen der THs im Vergleich2264

Diese Haltung der TH Darmstadt führte dazu, dass die Zulassungsquoten an derTH Darmstadt nur allmählich gesteigert wurden. Die Gesamtzahl der Studierenden an derTH Darmstadt betrug auch bis 1960 niemals mehr als 4.500.

488 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik

Wie Abbildung 15 zeigt, wirkte sich die Verhaltensweise auf die Stellung derTH Darmstadt im Kontext der anderen THs aus. Insbesondere das Beispiel der THAachen zeigt, wie die Entwicklung einer TH ohne NC verlief. Ob die Studierendenver-tretung über das ganze Ausmaß der Strategie und der negativen Folgen für die Studien-bewerber in Kenntnis gesetzt war, ist nicht bekannt. Jedoch geht aus einem Senatsproto-koll hervor, dass der AStA die festgelegte Quote der TH-Leitung unterstützte.2265

Eine spürbare Entspannung der Situation ergab sich erstmals, als der Wissenschaftsratdie Forderungen der Hochschulen und Universitäten sowie den Bedarf systematisch er-fasste und außerdem der zweite „Vierjahresplan“ zum Wiederaufbau genehmigt wordenwar. Die TH Darmstadt übermittelte dem Rat Anfang 1959 die Zahlen zu dem bislangvorgesehenen Bestand, dem Mehrbedarf und der Differenz im Vergleich zu den vorgese-henen Stellen.2266Die Zahlen ergaben, wie Abbildung 16 zeigt, insbesondere einen er-heblichen Mehrbedarf an Angestellten sowie wissenschaftlichen Mitarbeitern, unter an-derem Oberingenieuren und Assistenten; der von der TH-Leitung angegebene Mehrbe-darf lag hier bei nicht weniger als 616 Stellen.

Bezeichnung der

Stellen

Stand

Haushalt

Erwünschter

Bestand

MehrbedarfBisher neuvorgeseheneStellen

Ordinariate und Ext-raordinariate

67 120 53 2

Dozenten 21 67 46 0

Oberingenieure, As-sistenten, wiss. Räteund Kustoden

182 438 256 15

Angestellte 182 542 360 0

Arbeiter 31 90 59 8

Lehrlinge 61 107 46 12

Abbildung 16: Haushaltsplan 19592267

Die nächsten Zulassungszahlen an der TH Darmstadt in der Sitzung des Kleinen Senatsam 23. Mai 1960 ließen sich, wie es im Protokoll heißt, nach „kurzer Diskussion“ re-geln.2268Es sollte jedoch noch weitere fünf Jahre dauern, bis sich die TH Darmstadt dazuentschließen konnte, in allen Fächern den NC aufzuheben. Letztmalig eingeschränkt warder Studienzugang damit im Studienjahr 1964/65, ab dem Studienjahr 1965/66 konnten 10.4 Kontrollierte Anfänge der studentischen Selbstverwaltung 489sich alle Bewerber mit einem Abiturzeugnis einschreiben.2269Obwohl der NC in derNachkriegszeit an der TH Darmstadt wie überall lediglich übergangsweise eingeführtworden war,2270galt damit in Darmstadt fast 20 Jahre lang eine Zugangsbeschränkungzum Studium, was im Gegensatz zu den anderen Universitäten und Hochschulen äußerstlange war.

10.4 Kontrollierte Anfänge der studentischen Selbstverwaltung und des studentischen Gemeinschaftslebens

Bei der Wiedereröffnung der Universitäten und Hochschulen in der Nachkriegszeit exis-tierten zunächst keine Vertretungen studentischer Interessen. Eine Beteiligung der Stu-dierenden an der Selbstverwaltung und ein aktives Gemeinschaftsleben musste erneut indie Wege geleitet werden. Erst nach und nach entstanden mit einem allgemeinen Studen-tenausschuss, Vollversammlung, Parlament, Fachschaftsversammlungen, Fachschafts-ausschüssen und Ältestenrat die verschiedenen Organe der Studentenschaft.

Die Hochschulleitung nahm bei der Wiederbelebung einer studentischen Vertretungeine zentrale Rolle ein. Ihr Verhalten war dabei von gewissen Widersprüchen geprägt,denn zum einen erwartete sie von den Studierenden Initiative und Engagement, zum an-deren war sie nicht bereit, ihnen völlig freie Hand zu lassen. So rief sie zwar mehrereMale die Studierenden dazu auf, einen neuen Studentenausschuss zu wählen, und kriti-sierte die Passivität unter ihnen, andererseits knüpfte sie die ersten Wahlen an Bedingun-gen. Denn in ihren Augen konnte eine Wahl erst stattfinden, wenn die Studierenden „sichgegenseitig kennen“.2271Einen geeigneten Weg, diese Voraussetzung zu erfüllen, sah dieHochschulleitung in der Bildung von Studentenvereinigungen, besonders in fachlichenAusschüssen, aber auch in künstlerischen, kulturellen und politischen.2272In seiner feier-lichen Ansprache vor den Studierenden anlässlich der Immatrikulationsfeier am 1. März1946 berichtete der Rektor, dass er die ersten Leiter der Vereinigungen mit der Vorberei-tung und Durchführung der Wahl eines Studentenausschusses beauftragen wollte.2273An-zeichen dafür, dass Studierende von sich aus aktiv geworden waren, gibt es nicht. In490 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik einem Bericht über das studentische Leben erklärt ein Student das passive Verhalten derStudierenden mit dem Wunsch, schnell fertig zu studieren, den problematischen Rahmen-bedingungen und den zurückliegenden Erfahrungen.2274

Die ersten Wahlen für einen Allgemeinen Studentenausschuss, kurz AStA, wurden ander TH Darmstadt Ende des Sommersemesters 1946 durchgeführt. Die Konstituierungeiner studentischen Vertretung fand damit erst kurz vor dem dritten Semester nach demKrieg statt.2275Für die Zeit davor, so geht aus einem Bericht eines Studenten imDarmstädter Hochschulblatt hervor, hatte sich ein „vorläufiger AStA“ zusammengefun-den.2276Wie dieser zustande gekommen war und wer ihm angehörte, ist nicht überliefert.Nicht auszuschließen ist, dass das Zustandekommen von der Hochschulleitung in dieWege geleitet worden war. Der vorläufige AStA hatte, wie es in dem Bericht zum stu-dentischen Leben hieß, sich zusammengefunden, um ein neues studentisches Gemein-schaftsleben in die Wege zu leiten. Seine Aufgaben sah er in der Vertretung aller Studie-renden gegenüber Hochschulleitung sowie gegenüber der Öffentlichkeit. Die vordring-lichsten Aufgaben jedoch lägen auf sozialem Gebiet, der wirtschaftlichen Förderung, demBeschaffen von Studienmaterial, der Einrichtung einer Mensa, von Handwerkerstubenund einer Arbeitsvermittlung, Fahrpreisermäßigungen, Wohnraumfragen, außerdem derPressearbeit und Verbindung zu anderen Jugendgruppen.2277

Die Wahl des AStA sowie der Fachschaften fand nach der Wahlordnung in der 1946ausgearbeiteten Satzung statt.2278Nach Paragraph 51 der Satzung von 1946 war zur Be-handlung allgemeiner studentischer Angelegenheiten mit Genehmigung des Rektors eineStudentenversammlung vorgesehen. Neu war, dass nun nicht mehr, wie zu Zeiten derWeimarer Republik, per Verhältniswahlrecht abgestimmt wurde, nun wurde per Persön-lichkeitswahl entschieden. Nicht auszuschließen ist, dass die Entscheidung gegen eineListenwahl eine Nachwirkung des Nationalsozialismus darstellte.2279Über Wahlbeteili-gung und Zusammensetzung des ersten gewählten AStA der TH Darmstadt sind keine 10.4 Kontrollierte Anfänge der studentischen Selbstverwaltung 491Zahlen dokumentiert. Auch dieser sah die Hauptaufgabe nach dem Krieg darin, den Kom-militonen über die schwierige Nachkriegszeit hinwegzuhelfen. In erster Linie beschäf-tigte sich der AStA mit wirtschaftlich-sozialen Fragen. Erst im Laufe der Zeit und mitfortschreitender Verbesserung der Rahmenbedingungen gingen diese Aufgaben zu-rück.2280Ab 1952 gab der AStA gemeinsam mit der TH Darmstadt „die darmstädter stu-dentenzeitschrift“ heraus.2281

Anfang der 1950er Jahre erarbeitete eine Kommission eine neue AStA-Satzung.2282Vorsitzender der Kommission war der Rektor, weiter waren in der Kommission ProfessorSchlechta als Dekan der Kultur- und Staatswissenschaften und der Rechtsrat derTH Darmstadt, Dr. Esche sowie zwei AStA-Vertreter.2283Die neue Satzung sah nun auchzur Unterstützung des AStA einen Ältestenrat vor.

Aus einem Protokoll der nordwestdeutschen Rektorenkonferenz gehen mögliche Mo-tive der Hochschulleitungen für die Initiativen für ein studentisches Gemeinschaftslebenund eine Selbstverwaltung hervor: Die Bildung von studentischen Vertretungen und Ver-einigungen sahen sie in erster Linie als Möglichkeit der Kontrolle und der Disziplinie-rung. Auf diese Weise erhofften sich die Rektoren, „die Studenten zu zerteilen und dro-hende Strömungen zu brechen“.2284Die erwähnten „drohenden Strömungen“ standenwohl auch hier für die Angst vor sich radikalisierenden Studierenden. Die Rektoren sahenin den studentischen Einrichtungen demnach nicht die Interessensvertretung der Studie-renden, sondern vielmehr ein Mittel zu deren Kontrolle und Überwachung. Ähnliche Mo-tive scheint es auch an der TH Darmstadt gegeben zu haben. So wurde unter anderem als„Ehrenpflicht“ der Studentenvertretung in der Satzung festgehalten, „innerhalb der Stu-dentenschaft für akademische Ordnung zu sorgen“.2285Wie berichtet, räumte die Hoch-492 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik schulleitung den AStA-Vertretern im Kleinen Senat zwar Mitwirkungsrechte ein, diesewaren jedoch begrenzt auf studentische Fragen.2286

Kontrollierte Anfänge des studentischen Gemeinschaftslebens

Die Frage der Gestaltung des studentischen Gemeinschaftslebens nach 1945 sorgte inner-und außerhalb der TH Darmstadt für zahlreiche Diskussionen. In deren Rahmen spieltedie öffentliche Kritik an den Studierenden und die Wahrnehmung der Vereinigungen alterTradition als „belastet“ eine große Rolle.2287Zunächst gab es einen Konsens zwischenStudierenden, Kultusministerium, Hochschulleitung und Militärregierung darüber, die al-ten Verbindungen nicht wieder entstehen zu lassen. Im Rahmen des amerikanischen Re-education-Gedankens wurde unter anderem auch über neue Formen des studentischenGemeinschaftslebens diskutiert. Für die Militärregierung stellte die studentische Betäti-gung in der Hochschule eine Möglichkeit des Lernens von Demokratie dar, weshalb siebesonderen Wert darauf legte.2288Die Amerikaner sprachen zunächst ein Verbot von po-litischen Vereinigungen und ein Verbot der Korporationen aus. Der Verwaltungsrat derTH Darmstadt sah zunächst vor, explizit studentische Verbindungen in Form von gesel-ligem Verkehr mit Pflege von Musik und Sport wieder aufleben zu lassen.2289In Anleh-nung an die angelsächsischen Traditionen sprach man in diesem Zusammenhang häufignicht von studentischen Verbindungen, die bei den Amerikanern nicht bekannt oder nichtbeliebt waren, sondern von „akademischen Klubs“.2290

Ab 1946 beantragten Studierende die Bildung von Vereinigungen. Die Erlaubnis an-derer als politischer Vereinigungen hatte die Militärregierung dem Rektor überlassen,wobei Satzungen und Mitgliederlisten an die Militärregierung abzugeben waren.2291Spä-ter wurde auch das Kultusministerium mit in die Zulassung eingebunden.2292Der ersteAntrag auf Zulassung ging vom „Katholischen Studentenverein“ ein.2293Wenige Monate 10.4 Kontrollierte Anfänge der studentischen Selbstverwaltung 493später wollte auch eine Gruppe evangelischer Studierender sich zu einer Vereinigung zu-sammenschließen.2294Der Kleine Senat beschloss, die Gesuche zunächst zurückzustel-len.2295Das Ministerium, das sich zwar mit der grundsätzlichen Erlaubnis von Studenten-vereinigungen einverstanden erklärte, hegte Bedenken, und es kam zu Beanstandungender Satzung. Des Weiteren misstrauten die Amerikaner konfessionellen Verbindun-gen.2296Nach neuen Anträgen wurden schließlich drei Studentenvereinigungen zugelas-sen. Im Mai 1947 gab es damit an der TH Darmstadt die katholische Studentenvereini-gung, den Akademischen Freundschaftsklub (Amerika-Deutschland) und die Sozialpoli-tische Arbeitsgemeinschaft christlicher Studenten.2297

Zwar bestanden vonseiten des Rektors der TH Darmstadt Bedenken gegen das Tragenvon Farben und Abzeichen,2298ein vom amerikanischen Offizier Montgomery anlässlichder Rektorenkonferenz in Wiesbaden 1948 angekündigtes Verbot, vor 1933 gegründeteAltherrenschaften zu verbieten, hielt er jedoch für wenig geeignet, da dies zu heimlichenGründungen führen würde.2299Der Rektor beteuerte, dass am Wiedererstehen der altenVerbindungen kaum jemand interessiert sei, auch ein teilnehmender Student äußerte, dasser nicht denke, dass Interesse am Aufleben des alten Verbindungslebens bestehe. DerKleine Senat beschloss daraufhin, mit einem Aushang darauf aufmerksam zu machen,dass statt der Korporationen „eine neue Form des studentischen Vereinigung“ gefundenwerden müsse. Mitglieder von Altherrenverbänden bat man „um Zurückhaltung“.

In der Folgezeit stieg die Zahl der studentischen Vereinigungen sprunghaft an. ImStudienjahr 1948/49 existierten an der TH Darmstadt bereits 31 vorläufig zugelasseneVereinigungen.2300Darunter befanden sich neben konfessionellen Vereinigungen, wie derevangelischen, der katholischen Studentengemeinschaft sowie der jüdischen Studenten-vereinigung, auch fachlich orientierte Vereinigungen mit Namen wie „Die Papiermacher“oder der „Akademische Architektenverein“. Mit der sukzessiven Aufhebung der Restrik-tionen im Luftfahrtbereich entstand im Jahr 1951 außerdem eine „Akademische Flieger-gruppe“. Wie berichtet, gründeten auch ausländische Studierende eigene Vereinigungen.Daneben existierten an der TH Darmstadt auch Freizeitvereinigungen wie das Schauspiel-studio der TH Darmstadt und der Akademische Sportklub.

494 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik

Im Februar 1954 lagen zwei Anträge von „politisch orientierten studentischen Verei-nigungen“, wie es im Protokoll hieß, vor. Dabei handelte es sich um den Antrag des „So-zialistischen Deutschen Studentenbunds“ und des „Freien Demokratischen Studenten-bunds“. Neben den sonst geltenden Voraussetzungen, dem AStA und dem Senat eineSatzung vorzulegen, beschloss der Senat, „da es sich um politisch orientierte Vereinigun-gen“ handelte, außerdem ein Mitgliederverzeichnis einzufordern. Man befürchtete sonstspäter einmal vorgeworfen zu bekommen, „nicht alle Vorsicht gegen Tarnorganisatio-nen“ walten gelassen zu haben. Grundsätzlich beschloss der Kleine Senat auch gegenüberpolitischen Vereinigungen „weitgehend Toleranz“ auszuüben, da der Jugend oft vorge-worfen werde, dass sie politisch völlig uninteressiert sei. So gestand man ihnen mit derZulassung wie allen anderen auch das Recht zu, das Anschlagbrett zu nutzen und Steh-konvente abzuhalten.2301

10.5 Auseinandersetzung um das Wiederaufleben des Verbindungs- wesens

Nach Paragraph 2, Absatz 2, der vorläufigen Strafordnung für Studierende aus dem Jahr1946 waren das Farbentragen im Hochschulbereich und in der Öffentlichkeit und dasMensurenfechten „als der akademischen Disziplin widersprechend“ untersagt.2302Trotzdieses Artikels, und obwohl ein Neuanfang des studentischen Gemeinschaftslebens vonvielen Seiten als Wunsch geäußert wurde, gab es sehr bald nach Kriegsende erste Anzei-chen dafür, dass das alte Verbindungswesen wieder auflebte. Anzeichen bestanden unteranderem darin, dass sich ehemalige Verbindungen als, wie der Rektor sie nannte, „Tarn-organisationen“ mit neuer Satzung und unter neuem Namen wieder gründeten.2303Außer-dem war ein Einfluss von Altherrenverbänden auf das studentische Gemeinschaftslebendeutlich spürbar. Beispielsweise die im Jahr 1947 zugelassene katholische Vereinigung,die Katholische Studentengemeinschaft (KSG), wurde im Mai 1948 von Altherren „über-nommen“ und im Juli 1949 als KDStV Nassovia wiederbegründet.2304Diese „Tarnorga-nisationen“ waren kein Darmstädter Phänomen, auch an anderen Universitäten und Hoch-schulen gründeten sich die Verbindungen unter anderem Namen neu.2305Nicht zuletzt da 10.5 Auseinandersetzung um das Verbindungswesen 495auch einige der Professoren diesen Altherrenverbänden angehörten, zeigte die Hoch-schulleitung durchaus Verständnis für diese Neugründungen. So äußerte der Rektor derTH Darmstadt im Jahr 1950 gegenüber dem Kultusminister, dass die Studierenden ideellund materiell von den Altherren unterstützt würden und „ohne eine solche Unterstützungein Gemeinschaftsleben praktisch kaum durchführbar“ sei.2306Zwar sind bereits für dasJahr 1949 Zwischenfälle mit Verbindungen dokumentiert,2307der Kleine Senat beschlossjedoch, nicht aktiv gegen die Gründungen von Verbindungen vorzugehen. GegenüberAußenstehenden vertrat die Hochschulleitung die Position, dass „diese Fragen an derTH Darmstadt praktisch kein Problem darstellen“.2308Auch zwischen korporierten undnichtkorporierten Studierenden herrschte, wie die Hochschulleitung feststellte, ein gutesKlima.2309

Anfang der 1950er Jahre verließ die Generation von Kriegsheimkehrern die TH Darm-stadt. Mit der neuen Generation nahm die Anzahl der korporierten Studierenden stark zu,spätestens Anfang der 1950er Jahre war das Verbindungswesen an der TH Darmstadt wie-der installiert.2310Damit erhöhte sich auch die Anzahl derer, die die alten Rituale des Far-bentragens und der Mensuren durchführen wollten. Wie aus einer Liste der studentischenVereinigungen vom November 1950 hervorgeht, identifizierte die Hochschulleitung unterinsgesamt 36 Vereinigungen 20 Tarnorganisationen, alte Verbindungen, die sich teilweiseeinen neuen Namen gegeben hatten. Einige behielten gar ihre Namen bei.2311Dazu kamen496 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik Neugründungen von Verbindungen.2312Mitte der 1950er Jahre waren bereits rund 35 Pro-zent der Studierenden korporiert, darunter 700 farbentragend und 300 bis 400 schla-gend.2313

Auch als die Zulassung von studentischen Vereinigungen im Jahr 1950 allein bei denHochschulen lag, vertrat die TH Darmstadt weiterhin das Verbot des Farbentragens undder Mensuren. Sie schloss sich damit der auf der Bonner Rektorenkonferenz im August1950 mehrheitlich von den Rektoren vertretenen Meinung an. Alle Anwesenden sprachensich gegen das Farbentragen in der Öffentlichkeit und gegen das Mensurfechten aus, umzu verhindern, dass „eine Minderheit die große Mehrheit der Studierenden und die Hoch-schulen als Ganzes schädigt, indem sie in der Öffentlichkeit in einer Form auftritt, die inbreitesten Kreisen der Bevölkerung nicht verstanden und mißbilligt wird“.2314Die glei-chen Motive vertrat die TH Darmstadt, die eine öffentliche Diskussion über die Frage derVerbindungen als „abträglich“ bezeichnete. So beschloss der Kleine Senat sogar, um dieDiskussion nicht erneut zu entfachen, von einer Pressemitteilung über das Festhalten amVerbot des Farbentragens und der Mensuren abzusehen.2315Nicht alle Verbindungen lie-ßen sich jedoch von dem Verbot beeindrucken.2316Die Hochschulleitung wusste, wie be-richtet, dass Darmstädter Verbindungen Mensuren durchführten, diese Übertretungen derDisziplinarordnung wurde von ihr jedoch nach eigenen Angaben „stillschweigend gedul-det“, Paragraph 2 damit de facto nicht angewandt.2317

Unzufrieden über die Situation, schlossen sich die korporierten Studierenden in einerInteressengemeinschaft Darmstädter Verbindungen, kurz IGDvV, zusammen und stellten 10.5 Auseinandersetzung um das Verbindungswesen 497zahlreiche Anträge bei der Hochschulleitung, das Verbot zu streichen oder zu lockern. Sobeantragte die IGDvV zu einzelnen Anlässen wie einer Stiftungs-Feierlichkeit in derOtto-Berndt-Halle oder einem Fackelzug anlässlich der 625-Jahr-Feier der Stadt Darm-stadt, Farben tragen zu dürfen.2318Die Hochschule lehnte diese Anträge jedoch ab. Eineweitere Petition der Interessengemeinschaft vom Juli 1955, Artikel 2, Absatz 2 zu strei-chen, lehnte der Senat im Dezember 1955 ebenfalls ab.2319Die TH Darmstadt blieb beiihrer Haltung von 1946. Obwohl der Senat weiterhin die Auffassung vertrat, dass Farben-tragen in der Öffentlichkeit und Mensurfechten dem Geist der Hochschule widerspre-chen, räumte er ein, dass ein starres Aufrechterhalten des Verbotes nicht mehr zeitgemäßwäre, und dachte darüber nach, es den Studierenden freizustellen. Ein Beschluss wurdejedoch nicht gefasst.2320

Erst mit der Rektoratsübernahme von Walter Brecht kam Bewegung in die Auseinan-dersetzung hinein. Am 1. November 1956 strich der Große Senat das Verbot des Farben-tragens in der Öffentlichkeit und des Mensurenschlagens aus der Disziplinarordnung. Da-mit hatten einzelne Studierende nun nicht mehr mit einer Ahndung zu rechnen. Der Senatblieb jedoch bei seiner Haltung, dass das Tragen von Farben und Mensuren den „Bil-dungszielen der Hochschule abträglich“ seien und beschloss, von nun an Verbindungen,die diese Haltung der Hochschule nicht respektierten, als nicht mehr zur Hochschule zu-gehörig zu betrachten. Schlagende Verbindungen waren damit an der TH Darmstadt ver-boten. Um den Entschluss durchsetzen zu können, entzog man allen bisherigen 57 stu-dentischen Vereinigungen die Lizenz. Nur wer eine Vereinbarung unterzeichnete, bekamdiese erneut zugestanden.2321In dieser Vereinbarung wurde festgelegt, dass Fechten undMensuren kein Bestandteil des Verbindungslebens sei, außerdem die Zustimmung zu ei-nem sogenannten „Farbenkatalog“ verlangt, der eine Beschränkung des Farbentragensauf Stiftungsfeste der Verbindung, kirchliche Feiern, Hochzeiten und Beerdigungen so-wie gewisse geschlossene Versammlungen vorsah. Verbindungen, die diese Vereinba-rung nicht unterzeichneten, sollten nach Entscheidung des Senats nur noch als privateOrganisationen weiterbestehen.2322Die Vereinigungen bekamen bis zum 1. April 1957eine Frist eingeräumt, sie wurde später bis zum 1. Juli 1957 verlängert.2323Zur gleichen498 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik Zeit fanden Verhandlungen einer Kommission des Senats2324mit den Verbindungen, dieauf ihrem Recht bestanden, statt, die jedoch aufgrund der verschiedenen Positionen ab-gebrochen wurden. Die Verbindungen weigerten sich, auf die Grundsatzerklärung desAusschusses einzugehen.2325Die Auseinandersetzung der Verbindungen mit Rektor undSenat brachte es im August 1957 auf die Titelseite des „Spiegel“.2326Anlässlich desStreits um die Lizenzierung druckte der Spiegel ein achtseitiges Gespräch „Von Mensu-ren hörte man nichts“ mit Hans Rademacher, seit 1954 Student der TH Darmstadt undMitglied der schlagenden Verbindung Corps Obotritia sowie Vorsitzender des Ausschus-ses, den die von dem Lizenzentzug betroffenen Verbindungen gebildet hatten.2327Rade-macher berichtete, dass einige Verbindungen den Entwurf der Hochschulleitung als Dis-kriminierung empfanden.2328Insgesamt 23 Verbindungen weigerten sich, die Vereinba-rung zu unterzeichnen und waren von einem Lizenzentzug betroffen.2329Der AStA derTH Darmstadt wollte zwar keine Partei für eine der beiden Seiten ergreifen, sprach jedochRektor Brecht seine Unterstützung aus.2330In der folgenden Zeit kam es immer wieder zuVerhandlungen zwischen den aus der Hochschule ausgeschlossenen schlagenden Verbin-dungen und der Hochschulleitung.2331Im Jahr 1959 nahmen alle schlagenden Verbindun-gen den von der TH Darmstadt vorgegebenen Farbenkatalog an und bekamen im Gegen-zug die Erlaubnis, in der Otto-Berndt-Halle den jährlichen Festkommers abhalten zu dür-fen.2332Auch einzelne Initiativen war die Hochschulleitung bereit zu bewilligen.2333Ander Situation an sich änderte sich jedoch bis 1963 nichts. Die TH Darmstadt hielt dasVerbot aufrecht, und so gab es zu diesem Zeitpunkt immer noch 19 nicht lizenzierte Ver-bindungen.2334Im selben Jahr entschied sich jedoch der amtierende Rektor Gerhard Früh-auf erstmals zu prüfen, ob der Entschluss weiterhin aufrechterhalten werden könne.2335 Zusammenfassung 499Spätestens im Jahr 1964 gehörten die Verbindungen „jeglicher Couleur“ wieder zurHochschulgemeinschaft.2336

Wie berichtet, war es nach 1950 den einzelnen Hochschulen und Universitäten über-lassen, über die Zulassung von Vereinigungen zu entscheiden. Damit lag es in ihrer Hand,schlagende Verbindungen zuzulassen oder zu verbieten. Neben der TH Darmstadt verbo-ten auch die TU Berlin, außerdem die Universitäten Frankfurt, Freiburg, Hamburg, Hei-delberg sowie die Technischen Hochschulen München und Stuttgart schlagende Verbin-dungen.2337In der Regel war jedoch überall ein Aufweichen des Mensurenverbots rechtbald spürbar. Die TH Darmstadt hatte bis Mitte der 1950er Jahre die Verbindungsfrageignoriert, ihre Haltung danach jedoch revidiert und bis 1963 strikt durchgesetzt, was imVergleich zu anderen Hochschulen und Universitäten eine Besonderheit darstellt.2338

ZUSAMMENFASSUNG

Wie gezeigt werden konnte, waren die Studierenden in der Nachkriegszeit vornehmlichein Objekt der Hochschulpolitik. Obwohl es nach 1945 nicht an Reformvorschlägen zurÖffnung der Hochschulen mangelte und die Alliierten eine Demokratisierung der Uni-versitäten und Hochschulen forderten, war in dem untersuchten Zeitraum kein Platz fürSelbstbestimmungsrechte der Studierenden. Die Mitbestimmung der Studierenden imKleinen Senat existierte lediglich auf dem Papier, da der Rektor darüber entschied, wanndie Studierenden zu den Sitzungen überhaupt hinzugezogen werden sollten.

Die Hochschulleitung trat den Studierenden mit Vorbehalten entgegen. Diese resul-tierten aus den zurückliegenden Erfahrungen mit radikalisierten Studierenden währendder Politisierung der TH Darmstadt zu Beginn des „Dritten Reiches“. Zugleich war sichdie Hochschulleitung bewusst, wie sehr das Bild der TH Darmstadt durch kritische Be-richte über die Studierenden Schaden annehmen könnte. Dies führte dazu, dass sie imSinne einer Imagepflege darum bemüht war, negativer Presse entgegenzutreten. Interes-sant ist vor diesem Hintergrund insbesondere, dass sie aufgrund ihrer Vorbehalte keines-500 10. Studierende in der Nachkriegszeit als Objekt der Hochschulpolitik falls die Schlussfolgerung zog, die politische Überprüfung der Studierenden mit beson-derer Sorgfalt anzugehen. Wie gezeigt werden konnte, betrachtete die Hochschulleitungdie politische Überprüfung der Studierenden stattdessen als einen untergeordneten Faktorund führte mit wenig Sorgfalt die geringfügig von den Amerikanern vorgegebenen Maß-nahmen durch. In dieser vorgegebenen Form der politischen Überprüfung sah sie offen-sichtlich nicht das Mittel für eine Gewährung des Hochschulfriedens und zur Pflege des„Images“. Statt einer Kontrolle durch politische Überprüfung griff die TH Darmstadt zuanderen Disziplinierungsmaßnahmen. Dazu gehörten unter anderem der wieder einge-führte Immatrikulationseid und der durch Maßregelungen erhöhte Leistungsdruck. Dazukam die Tatsache, dass die Professoren anfangs die Studierenden in persönlichen Gesprä-chen handverlesen auswählten.

Aus Angst vor einem „akademischen Proletariat“ und als Druckmittel für Personalfor-derungen und zur Stärkung der Verhandlungsposition über die Erweiterung der TH Darm-stadt hielt die Hochschulleitung länger als andere Hochschulen und Universitäten an einemNC fest. Damit setzte sie sich unter anderem auch gegen die Versuche der Militärregierungund des hessischen Kultusministeriums einer Öffnung der Hochschulen bewusst hinweg,um eine „Auslese der Besten“ zu erreichen. Eine Folge dieser Vorgehensweise bei der Zu-lassung war unter anderem, dass das Frauenstudium, mehr noch als an anderen TechnischenHochschulen, an der TH Darmstadt bis 1960 eine Randerscheinung blieb.

Die ersten Nachkriegssemester können demnach als eine Übergangszeit angesehenwerden, in der die Hochschule größere Handlungsspielräume als sonst zur Verfügunghatte, sich die Studierenden nach eigenem Ermessen auszuwählen. Auch das einge-führte sogenannte „Darmstädter Punktesystem“ brachte diesbezüglich keine Einschrän-kung der Hochschulrechte, sondern zementierte vielmehr die bisherige Vorgehensweisedar. Die handverlesene Auswahl stärkte gleichzeitig den Zusammenhalt als „akademischeSchicksalsgemeinschaft“ und führte dazu, dass die Studierenden den Professoren übermehrere Jahre hinweg vertrauensvoll entgegentraten. In dieser Schicksalsgemeinschaftfanden sich die Studierenden untergeordnet ein.

Allen Diskussionen über neue Formen des studentischen Gemeinschaftslebens zumTrotz kam es zu einem Wiederaufleben des Verbindungslebens. Insbesondere die zweiteGeneration von Studierenden, die seit Anfang der 1950er Jahre an die TH Darmstadt kam,brachte einen Aufschwung des Verbindungswesen mit sich. Folge dieses Prozesses wareine Neuaushandlung der Beziehungen der korporierten Studierenden mit der Hochschul-leitung, in der die Leitung der TH Darmstadt nicht von ihrer Position eines Mensurenver-bots abwich. Hier wurden damit erstmals die Grenzen der „Schicksalsgemeinschaft“ zwi-schen Studierenden und der Hochschulleitung sichtbar.

501

Zusammenfassung 501

SCHLUSS 11. Der Nationalsozialismus als Teil der Darmstädter Hochschulgeschichte bis in die Gegenwart

Anstatt an dieser Stelle nun alle Ergebnisse der Arbeit zusammenfassend wiederzugeben,wird in diesem abschließenden Kapitel mit der Frage, warum sich die Technische Uni-versität Darmstadt ausgerechnet im Jahr 2009 dazu entschloss, die Aufarbeitung der ei-genen Vergangenheit während des „Dritten Reiches“ systematisch anzugehen, eine neuePerspektive aufgemacht.2339Es wird also die bisher angesetzte Grenze von 1960 über-schritten. Denn wie die Ergebnisse der Arbeit zeigen, richtete die TH Darmstadt zwischen1945 und 1960 nicht zuletzt aus Angst davor, in ihrer zukünftigen Entwicklung einge-schränkt werden zu können, den Blick nicht auf die Vergangenheit, sondern stets nachvorne. Obwohl bislang nur wenige Studien zur „akademischen Vergangenheitspolitik“vorliegen, die aufgrund der jeweiligen lokalen Besonderheiten und der verschiedenenEntwicklungen während des Nationalsozialismus nur bedingt für einen Vergleich heran-gezogen werden können, ist davon auszugehen, dass das Verhalten der TH Darmstadteher die Regel als die Ausnahme darstellte.2340Nicht nur an den Hochschulen und Uni-versitäten, in der Bundesrepublik der 1950er Jahre insgesamt, war der öffentliche Diskursvon der Forderung geprägt, einen „Schlussstrich“ unter die nationalsozialistische Vergan-genheit zu ziehen. Bis Mitte der 1960er Jahre stand die von den Alliierten verordnete502 11. Schluss Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit im Rahmen der Entnazifizierungsverfah-ren unter dem Stichwort der „Vergangenheitsbewältigung“ im Sinne einer Überwindungder Vergangenheit.2341Hermann Lübbe wollte 1983 diese Haltung nicht als ein „Verdrän-gen“ verstanden wissen, sondern prägte diesbezüglich den Begriff des „kommunikativenBeschweigens“, welches er als eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung einerstabilen deutschen Demokratie deutet.2342Bezogen auf die TH Darmstadt stellt sich nundie Frage, wann, auf welche Weise und durch welche Akteure dieses „Beschweigen“ be-endet wurde. Welche Versuche gab es und woran scheiterten diese womöglich, welcheZäsuren markierten den Weg bis 2009?

Eingehen in die Darstellung werden – angelehnt an Christoph Cornelißens Begriffs-definition der „Erinnerungskultur“ – „Formen der bewussten Erinnerung“ an die eigeneVergangenheit während des „Dritten Reiches“ oder an damit verbundene Personen undEreignisse durch Akteure der TH Darmstadt.2343Als Anhaltspunkte, wie sich dieTH Darmstadt dem Thema näherte, dienen insbesondere Publikationen und andere Dar-stellungsformen, in die historische Untersuchungen eingingen, wie Ausstellungen undRingvorlesungen, außerdem weitere, das „kollektive Gedächtnis“ der TH Darmstadt be-einflussende Faktoren, wie Gedenkveranstaltungen und Gedenkorte im Raum derTH Darmstadt.2344Da die Historisierung der eigenen Vergangenheit im Nationalsozialis-mus von mehreren, einander beeinflussenden Faktoren abhing und abhängt, werden nichtnur die spezifischen Darmstädter Rahmenbedingungen in den Blick genommen, sonderngleichzeitig auch der bundesrepublikanische Kontext, also die Zeitstimmung der For-schungslage sowie spezifische, die akademische Vergangenheitspolitik beeinflussendeImpulse, Beachtung finden.

Erinnerung an einzelne NS-Verfolgte in den Jahren 1945 bis 1970

Eine Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus an der TH Darmstadt begrenztesich in den ersten Jahren der Nachkriegszeit auf die Erinnerung an einzelne Personen, diezu dieser Zeit Bestandteil der TH Darmstadt waren. Die Erinnerung an aus dem Amt Der Nationalsozialismus als Teil der TH-Geschichte 503vertriebene Kollegen war kurz nach dem Nationalsozialismus noch mit Vorbehalten ver-bunden.2345Ein erstes Gedenken galt, in Darmstadt wie wahrscheinlich überall, den Ge-fallenen. Dies äußerte sich darin, dass bei der Wiedereröffnungsfeier am 10. Januar 1946gleich zu Beginn vor jeder anderen Amtshandlung eine Gedenkminute für die Kriegsge-fallenen abgehalten wurde.2346Auch der erste nach 1945 eingerichtete Gedenkort an derTH Darmstadt widmete sich den Kriegsopfern aus den eigenen Reihen.2347Jedoch gerie-ten, wie in Kapitel 7.2.3 erläutert, nicht alle der während des „Dritten Reiches“ aus demAmt vertriebenen Personen nach 1945 in Vergessenheit. Einzelne Namen waren bereitskurz nach dem Krieg wieder präsent. Die Erinnerung an sie wurde zwischen 1945 und1970 geprägt durch Initiativen und Aktivitäten einzelner Personen, die während des „Drit-ten Reiches“ selbst Bestandteil der TH Darmstadt waren. So geriet Edmund Stiasnyaufgrund der Initiativen seines Schülers Adolf Küntzel an der TH Darmstadt zu keinemZeitpunkt in Vergessenheit. Stiasny hatte der TH Darmstadt als Ordinarius für Gerbereiche-mie internationales Renommee eingebracht. Er war Halbjude und kam 1933 der Entlassungmit einer Kündigung zuvor.2348Küntzel wiederum war seit 1922 Assistent von Stiasny,nach seiner Habilitation an der TH Darmstadt im Jahr 1929 außerdem Privatdozent derGerbereichemie. Nach dem Wunsch der Abteilung sollte Küntzel Stiasnys Nachfolgerwerden.2349Nachdem er jedoch gegen die Entlassung von Stiasny protestiert hatte, galt eraus nationalsozialistischer Sicht als „politisch unzuverlässig“, sodass sich seine Ernen-nung bis 1936 verzögerte.2350Während des „Dritten Reiches“ versäumte es Küntzel nicht,Stiasnys Persönlichkeit und dessen herausragende wissenschaftliche Leistungen in denBerichten über das Institut für Gerbereichemie zu erwähnen.2351Auch an der 1937 her-ausgegebenen Festschrift zu Stiasnys 65. Geburtstag arbeiteten Küntzel sowie seine As-sistenten Karl Rieß und Kurt Wolf mit.2352Küntzel sorgte auch nach 1945 dafür, dass dieTH Darmstadt den Kontakt zu Stiasny aufrechterhielt. So erinnerte er die TH-Leitung imJahr 1947 daran, Stiasny zu dessen Geburtstag ein Gratulationsschreiben nach Schwedenzu schicken.2353Doch auch hier galt: Die Umstände, unter denen Stiasny dazu gezwungen504 11. Schluss worden war, den Dienst an der TH Darmstadt aufzugeben, wurden lange Zeit nicht the-matisiert. Wie überlieferte Korrespondenzen zeigen, versteckte man stattdessen die un-angenehmen Tatsachen hinter Phrasen. So erinnerte die TH Darmstadt – auf Anregungvon Küntzel – im Oktober 1947, anlässlich des 75. Geburtstags von Edmund Stiasny imDarmstädter Hochschulblatt an den ehemaligen Kollegen, blendete jedoch die Umstände,wie Stiasny die TH Darmstadt verlassen hatte, komplett aus.2354Auch in späteren Jahrensetzte sich Küntzel dafür ein, die Erinnerung an Stiasny aufrechtzuerhalten. So ist dieEinführung der seit 1957 vom Verein für Gerbereichemie und -technik e.V. als höchsteAuszeichnung verliehene VGCT-Stiasny-Medaille, eine Bronzeplakette mit Stiasny-Ab-bild von Fritz Schwarzbeck, auf die Initiative Küntzels zurückzuführen, der den Verein1949 in Darmstadt mitbegründet hatte. Erster Träger der Medaille wurde Stiasnyselbst.2355Im Jahr 1970 – Stiasny war nun schon seit fünf Jahren tot – erinnerte Küntzelmit einem Artikel in der Gerbereizeitschrift „Das Leder“ an dessen Zeit in Darmstadt.2356In diesem Artikel wurden nun zwar auch die Umstände von Stiasnys Weggang aus Darm-stadt näher besprochen, jedoch zeigt sich insbesondere an der Wortwahl, dass das Spre-chen über die Vertreibungen weiterhin mit Grenzen verbunden war. Auch wenn das sei-nen Intentionen nicht gerecht wird, die Formulierungen Küntzels lesen sich fast so, alswäre Stiasny nicht vertrieben worden, sondern als hätte er sein Institut im Stich gelas-sen.2357

Die Fakultät für Chemie, allen voran wieder Adolf Küntzel, vergaß in der Nachkriegs-zeit auch nicht Ernst Berls, des zweiten vertriebenen, international bekannten Chemieor-dinarius, zu gedenken. Als dieser im Februar 1946 im amerikanischen Exil starb, formu- Der Nationalsozialismus als Teil der TH-Geschichte 505lierte Küntzel einen Gedenkartikel, der mit Unterstützung von Dekan Schöpf und RektorReuleaux in der Darmstädter Lokalpresse veröffentlicht wurde.2358In den darauffolgen-den Jahren sollte der Name Berls keine Rolle an der TH Darmstadt spielen, bis Anfangder 1950er Jahre eine Gruppe ehemaliger Schüler von Berl sein Andenken aufrechterhiel-ten. Erstmals im Jahr 1952 trafen sich anlässlich der Ausstellung für chemisches Appara-tewesen (ACHEMA) 42 Berl-Schüler. Im Jahr 1955 bestand die Gruppe aus 84 Personen,welche allesamt in der Industrie einflussreiche Positionen einnahmen, darunter KarlWinnacker von den I.G. Farben.2359Aus dieser Gruppe heraus fanden sich mehrere Schü-ler, die im Jahr 1976, zur 30-jährigen Wiederkehr seines Todestages eine kleine Schrift„Berl-Anekdoten und Geschichten“ verfassten.2360Im Jahr 1969 stiftete eine Gruppe vonnamhaften amerikanischen Wissenschaftlern, darunter Otto Stern, Physiker und Nobel-preisträger, mit dem Berl gemeinsam am Carnegie-Institut gearbeitet hatte, eine Berl-Büste, die im kleinen Hörsaal des Instituts für Chemische Technologie aufgestelltwurde.2361Besonders interessant ist der Wortlaut des Textes, der an der Büste angebrachtwar. Hier war zu lesen: „Ernst BERL 1877–1946. A Tribute from these AMERICANFriends and Admirers“, gefolgt von einer Auflistung der 24 Namen der Wissenschaftler.Die Tatsache, dass die Amerikaner das Bedürfnis hatten, dafür zu sorgen, eine Berl-Büstean dessen ehemaligem Arbeitsplatz anzubringen, und das großgedruckte „AMERICAN“lassen erkennen, mit welcher Intention die Büste angebracht worden war. Offensichtlichsahen sie mit Unverständnis, wie wenig die TH Darmstadt sich für ein Gedenken an Berleinsetzte. Neben Stiasny und Berl wurden zwar weitere Namen von Vertriebenen im Zu-sammenhang ihrer Wiedergutmachungsanträge in der Nachkriegszeit thematisiert, jedochhandelte es sich dabei nicht um die TH Darmstadt betreffende erinnerungskulturelle Vor-gänge, sondern vielmehr um Verwaltungsvorgänge, die meist vom Verwaltungsdirektorabgewickelt wurden und keine Selbstreflexion heraufbeschworen.

Mitte der 1960er Jahre trug eine neue Generation von Studierenden die Frage nachder nationalsozialistischen Vergangenheit in die Universitäten hinein. In Bonn und Frank-furt sammelten Studierende belastendes Material über prominente Professoren ihrerHochschulen, was schließlich sogar zum Rücktritt des Frankfurter Rektors Heinz OttoBurger führte.2362Im Jahr 1964 begann das sechsbändige Werk „Die braune Universität“506 11. Schluss zu erscheinen, in dem die politische Belastung zahlreicher Hochschullehrer dokumentiertwurde.2363Ebenfalls 1964 thematisierten Studentenzeitungen in Berlin, Marburg, Müns-ter und Tübingen die Rolle einzelner Professoren während des „Dritten Reiches“. In Tü-bingen, Berlin, Marburg, Münster, Bonn, Heidelberg und München fanden nun auchRingvorlesungen zu dem Thema statt.2364An der TH Darmstadt dagegen blieb es zu die-ser Zeit diesbezüglich ruhig, was nicht zuletzt mit den Studienfächern an einer Techni-schen Hochschule erklärt werden kann. Zwar gab es spätestens Ende der 1960er Jahreauch an der TH Darmstadt Auseinandersetzungen zwischen kritischen Studierenden undden Ordinarien. Wie die bereits erwähnte „Fischer-Affäre“ zeigt, beschäftigte die Studie-renden jedoch mehr die Frage, ob ihre Hochschullehrer Kriegsforschung für das ameri-kanische Militär durchführten, als deren Positionen und Arbeiten während des „DrittenReiches“.2365

Ein Versuch der Hochschulleitung, Mitte der 1960er Jahre die Hochschulgeschichteaufzuarbeiten, scheiterte. Der im August 1964 gefasste Beschluss, zum einen innerhalbder Hochschule Akten zu sammeln und zum anderen eine Monografie zur Hochschul-geschichte zu erstellen, ließ sich insbesondere aus finanziellen Gründen nicht umset-zen.2366Von der Idee blieb die Einrichtung einer „Archivstelle“ im Jahr 1966 am Lehr-stuhl für Zeitgeschichte, zu diesem Zeitpunkt von Karl Otmar von Aretin besetzt,übrig.2367

1970–1990er. Erste Annäherungen an das Thema

Im Jahr 1971 wurde der 35-jährige Historiker und Schüler von Fritz Fischer, HelmutBöhme, Präsident der TH Darmstadt. Böhmes Persönlichkeit prägte 24 Jahre dieDarmstädter Hochschulpolitik, bis er 1995 von Johann-Dietrich Wörner abgelöst wurde.Ein Kreis von Mitarbeiter(innen) des Präsidialbüros und der Presseabteilung, der zu die- Der Nationalsozialismus als Teil der TH-Geschichte 507sem Zeitpunkt auch das „Archiv“ der TH Darmstadt angegliedert war, begann sich unterBöhme der Hochschulgeschichte während des „Dritten Reiches“ zu nähern.2368

Wichtige Impulse kamen in dieser Zeit insbesondere durch die Hochschuljubiläen.Bis in die 1980er Jahre hinein waren diese für die Universitätsgeschichtsschreibung ins-gesamt von maßgeblicher Bedeutung.2369Welche Rolle Jubiläen als Motoren für die Be-schäftigung mit der eigenen Geschichte für Institutionen haben, zeigen die im Rahmendes 100-jährigen Jubiläums der TH Darmstadt, welches diese im Jahr 1977 beging, ent-standenen historischen Arbeiten. Vom 19. bis zum 22. Oktober 1977 feierte die TH Darm-stadt das Jubiläum mit Festvorträgen, Führungen und einem Hochschulfest.2370Im Vor-feld des Jubiläums hatte das Präsidium außerdem die Herausgabe eines Verzeichnissesder Hochschullehrer der TH Darmstadt initiiert.2371Wie Präsident Böhme im Vorwortbetont, verstand man das Verzeichnis nicht als bloße Auflistung der Hochschullehrer,sondern als Versuch, über deren Einzelbiografien auch Entwicklungsrichtungen und dieGeschichte der TH Darmstadt zu erfassen.2372Dass der Fokus erstmals auf die dieTH Darmstadt bestimmenden einzelnen Hochschullehrer gelenkt wurde, hing auch mitden im Rahmen der Festlichkeiten notwendig gewordenen Zusammenstellungen von bi-ografischen Daten und Lebensläufen zusammen.2373Das Hochschullehrerverzeichniskann demnach als ein erstes Zeichen für das Bedürfnis nach personeller Klärung gedeutetwerden, auch die aus dem Amt Vertriebenen der TH Darmstadt wurden darin aufge-führt.2374Einer von ihnen sollte auch im Rahmen der Festlichkeiten zum Jubiläum derTH Darmstadt eine größere Rolle spielen: Die TH Darmstadt verlieh Michael Evenari,ehemaligem Assistenten am Institut für Botanik, welcher im Jahr 1933 aufgrund der Be-schränkungen für „Nichtarier“ die TH Darmstadt verlassen musste, die Ehrendoktor-würde.2375Die Verleihung ging auf einen Antrag der Fakultät für Biologie zurück, mit508 11. Schluss der Evenari aufgrund seiner wissenschaftlichen und freundschaftlichen Kontakte zu OttoStocker spätestens seit Ende der 1950er in Kontakt stand.2376Wie Böhme in einem Zeit-zeugengespräch berichtete, wählte er bewusst aus allen an ihn herangetragenen zahlrei-chen „Ehrungswünschen“ einzig Evenari aus.2377Diesem wurde nicht nur als Einzigemdiese Ehrung zuteil, er wurde zudem neben seinen wissenschaftlichen Leistungen auchdafür geehrt, dass er trotz erfahrener Diskriminierung nach 1945 wieder Kontakte nachDeutschland und zur TH Darmstadt aufnahm.2378Die Würdigung Evenaris zeigt das Be-wusstsein, an die Personengruppen der Verfolgten zu erinnern. Dieses Bewusstseinschloss jedoch nicht aus, dass im Zuge der gleichen Feierlichkeiten auch die erste Verlei-hung des Karl-Küpfmüller-Ringes stattfand. Der Namensgeber für den Preis, KarlKüpfmüller, war im Jahr 1952 an die TH Darmstadt berufen worden. Der Elektrotechni-ker galt als Erfinder der Systemtheorie, was ihn international bekannt machte. Politischwar er während des „Dritten Reiches“ mehr als nur belastet: Er hatte in der SS den Rangeines Obersturmbannführers erlangt.2379Da diese Tatsache im Berufungsbericht durchausthematisiert worden war, ist davon auszugehen, dass auch das damalige Präsidium davonwusste. Offensichtlich sah man trotzdem keinen Anlass, von einer Ehrung seiner wissen-schaftlichen Leistungen abzusehen. Mit dieser „unkritischen Aufnahme exponierter Na-tionalsozialisten“ in das kollektive Gedächtnis der Hochschule stand die TH Darmstadtnicht alleine dar, wie die Ergebnisse zur RWTH Aachen von Tschacher und Krebs zeigen.Auch dort wurden Personen mit zweifelhafter Vergangenheit Namensgeber für Preise undandere Bereiche der akademischen Erinnerungskultur.2380

Im Rahmen der 100-Jahrfeierlichkeiten widmete die TH Darmstadt die Jahrbüchervon 1976/77 und 1978/79 der Hochschulgeschichte.2381Der Schwerpunkt lag bei beidenVeröffentlichungen auf jener Hochschulgeschichte, die als Fächer- und Personalge-schichte von den Fachvertretern selber erzählt wurde. Die 100 Jahre umfassende Chrono- Der Nationalsozialismus als Teil der TH-Geschichte 509logie von Marianne Viefhaus zur TH befasste sich mit der Ereignisgeschichte; einzelnePersonen wie beispielsweise aus dem Amt vertriebene Hochschulmitarbeiter wurdennicht erwähnt.2382Auch in den Fakultätsgeschichten, die sich vorwiegend mit dem Perso-nalwechsel der einzelnen Lehrstühle beschäftigten, unterließ man mit Ausnahme einigerprominenter Personen wie des späteren Nobelpreisträgers Gerhard Herzberg – die Tatsa-che seiner Vertreibung blieb gänzlich unerwähnt2383– die Nennung der während des Na-tionalsozialismus aus dem Amt vertriebenen Hochschullehrer. Auch das Jahrbuch von1978/79 klammert die Geschichte der TH Darmstadt im „Dritten Reich“ aus. Der histori-sche Rückblick von Erwin Viefhaus endet im Jahr 1914 und beruht auf gedrucktem Ma-terial. Wie der Verfasser berichtete, konnten „entgegen ursprünglicher Absicht und An-kündigung“ die Zeit des Nationalsozialismus und die Jahre danach nicht mehr einbezogenwerden.2384Auch Viefhaus’ Plan, dies nachzuholen, blieb wegen seines frühen Todes un-erfüllt. Obwohl das Jubiläum Impulse zur eigenen Historisierung brachte, eine Themati-sierung der eigenen Vergangenheit während des „Dritten Reiches“ war zu diesem Zeit-punkt in Darmstadt allem Anschein nach nicht möglich. Damit stand man im bundesre-publikanischen Vergleich nicht alleine da. Einzige Ausnahme stellt diesbezüglich dietraditionsreiche Universität Tübingen dar: Hier legte im Rahmen des 500-jährigen Beste-hens der Universität im Jahr 1977 Uwe Dietrich Adam mit Unterstützung des Präsidiumsdie erste Monografie zur Geschichte einer Universität während des Nationalsozialismusüberhaupt vor.2385An der TH Darmstadt dagegen brauchte man länger, um sich demThema zu stellen.2386Schließlich waren es die Studierenden, die in den 1970er und 1980erJahren erstmals anregten, sich mit der Zeit des „Dritten Reiches“ ausgiebiger zu befassen.So kam die erste historische Darstellung der Geschichte der TH Darmstadt, die die Ge-510 11. Schluss schichte des „Dritten Reiches“ behandelte, von studentischer Seite. Im Jahr 1977 befasstesich ein einzelner Geschichtsstudent, Heinrich, genannt Henner Pingel, in einer Arbeitzur Geschichte der TH Darmstadt auf 20 Seiten auch mit deren Geschichte im National-sozialismus.2387Pingel bemühte sich unter anderem im Rahmen seiner Arbeit um eineAufzählung der vertriebenen Hochschulmitarbeiter. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit– als Quellen diente ihm die örtliche Darmstädter Presse, Zugang zum Hochschularchivbekam er keinen2388–, nannte er auf vier Seiten alle Betroffenen, die er ermittelnkonnte.2389Wie Pingel in einer Fußnote erwähnt, hatte er das Kapitel über die aus demAmt vertriebenen Personen der Hochschulzeitschrift zum Druck vorgelegt.2390Die ArbeitPingels fand jedoch keine Unterstützung durch das Präsidium. Für Böhme stand in seinerRolle als Hochschulpolitiker eine Zusammenarbeit mit dem in seinen Augen stark politi-sierten Pingel – dieser sei Mitglied des Kommunistischen Bund Westdeutschlands(KBW) gewesen – außer Frage. So musste die erste Monografie zur Geschichte derTH Darmstadt im Selbstverlag erscheinen, auch die Hochschulzeitschrift druckte das vonPingel vorgelegte Manuskript nicht ab.2391

Neben Pingels Vorstößen kamen weitere Initiativen von studentischer Seite, sich demThema der Geschichte der TH Darmstadt während des Nationalsozialismus zu nähern. Soist in den Akten ein Antrag der JUSO-Hochschulgruppe beim Präsidium vom 17. Oktober1983 überliefert, eine Dokumentation zur Rolle der TH Darmstadt im Nationalsozialis-mus zu unterstützen. In diesem Fall „begrüßte“ Böhme die Aktivität der Studentenschaftzwar, machte den Studierenden jedoch im Hinblick auf die Quellenlage kaum Mut, da,wie er gegenüber den Studierenden berichtete, der „vollständige[n] Verlust sämtlicherOriginalakten“ einer Aufarbeitung der Geschichte der TH Darmstadt während des Natio-nalsozialismus entgegenstünde. Böhme hatte mit dieser Aussage sicher nicht Unrecht:Viele Dokumente des Hochschularchivs waren 1944 bei den Angriffen auf Darmstadtzerstört worden. Des Weiteren war die Aktenlage des Hochschularchivs – dieses war zudiesem Zeitpunkt noch an die Pressestelle angehängt und unterfinanziert – allem An- Der Nationalsozialismus als Teil der TH-Geschichte 511schein nach tatsächlich in den 1980er Jahren überschaubar.2392Andererseits kann dieseAussage Böhmes auch als Abwehrversuch gedeutet werden, offensichtlich war man nichtbereit, die Studierenden an die vorhandenen Personalakten heranzulassen. Böhme emp-fahl stattdessen, die Rolle der Studentenschaft zu untersuchen, da hierzu die studentischePresse der Zeit herangezogen werden könne.2393

Ausstellung zum 150. Jubiläum der TH Darmstadt. Erste historische Thematisie- rung der Vergangenheit während des Nationalsozialismus

Zum ersten Mal wurde die Zeit des „Dritten Reiches“ an der TH Darmstadt im Rahmeneiner Ausstellung Ende 1986 historisch thematisiert. Nicht zu unterschätzen sind die demEreignis vorausgegangenen Begebenheiten auf bundesrepublikanischer Ebene. Das Jahr1985 stellte hier für die Erinnerungskultur eine wichtige Zäsur dar. Bahnbrechenden Ein-fluss auf den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit sollte die Rede desdamaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40-jährigen Kriegsende am8. Mai 1985 vor dem Bundestag haben.2394Weizsäcker thematisierte nicht nur den Holo-caust in einer Weise, wie es zuvor in diesem Rahmen nicht geschehen war, er äußerte sichauch zum Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit während des „Dritten Rei-ches“.2395Hier sprach er offen darüber, dass Vergangenheit nicht zu bewältigen sei, undräumte dem Erinnern eine zentrale Bedeutung ein.

An der TH Darmstadt nahm man die 40. Wiederkehr des Kriegsendes zum Anlass,eine Ringvorlesung zum Thema „Deutschland 1945–1949“ zu veranstalten, aus der aucheine Publikation hervorging.2396Zwar lag dabei der Fokus mehr auf den gesamtdeutschenProzessen nach 1945, Helmut Böhme befasste sich jedoch in einem Beitrag auch mit derTH-Geschichte zwischen 1945 und 1949. Anhand von Senatsprotokollen führt Böhme512 11. Schluss thesenartig die Ereignisse an der TH Darmstadt auf. Er benennt Kontinuitäten und Re-formhemmnisse, geht auf Handlungsspielräume aber nicht weiter ein.2397Nur ein Jahrspäter nahm sich das Präsidium der TH Darmstadt zum Ziel, die Hochschulgeschichtedarzustellen, inklusive der Zeit des Nationalsozialismus. Auslöser dafür war die Entschei-dung, im Jahr 1986 das 150-jährige Bestehen der TH Darmstadt zu feiern. Da die THDarmstadt aus der im Jahr 1836 gegründeten höheren Gewerbeschule hervorgegangenwar, die 1877 schließlich den Rang einer Technischen Hochschule erhalten sollte, ermög-lichte dies der jeweiligen Hochschulleitung, für das Durchführen von Jubiläumsfeierlich-keiten auf verschiedene Gründungsdaten zurückzugreifen. Da Jubiläumsfeierlichkeitendie Möglichkeit bieten, durch die Präsentation von Rückbezügen auf die eigene Ge-schichte und dem bewussten Anknüpfen an Traditionen eine neue Selbstverortung imGeschichtsverlauf mitzubestimmen, griffen die verschiedenen Hochschulleitungen jenach Belieben auf die zwei verschiedenen Gründungsdaten zurück, sodass die TH Darm-stadt kurioserweise sowohl im Jahr 1936 als auch im Jahr 1977 das 100-jährige Jubiläumund dann im Jahr 1986 ihr 150-jähriges Jubiläum feierte. Im Jahr 1986 beschloss dasPräsidium, anlässlich des Jubiläums zum Thema „150 Jahre technische Bildung in Darm-stadt“ eine Ausstellung zu machen. In knapp einem Jahr konzipierten die Mitarbeiter derPressestelle, der zu diesem Zeitpunkt auch das Hochschularchiv angegliedert war, eineAusstellung über 150 Jahre TH-Geschichte.2398Diese war Ende 1986 im Foyer des Au-dimax zu sehen. Zu diesem Zeitpunkt stellte die TH Darmstadt erstmals auch die Frage,wer zur Gruppe der Vertriebenen gehörte, jedoch stieß man aufgrund der Quellenlageimmer noch an Grenzen.2399Darüber hinaus wurde nun erstmals auch das Verhalten vonPersonengruppen thematisiert, die nicht zu den vom Nationalsozialismus Verfolgten, son-dern vielmehr in die Rubrik derjenigen zählten, die ihre Karriere ungehindert fortsetzenkonnten und darüber hinaus mit dem Nationalsozialismus kooperiert hatten. So ging manunter anderem auf die verschiedenen Rektoren ein, weiter berichtete man über die Plänedes IPM von Alwin Walther, im KZ-Sachsenhausen eine Forschungsstätte „M [Mathe-matik]“ einzurichten. Auch die Kriegsforschungstätigkeiten der TH Darmstadt inPeenemünde fanden Eingang in die Ausstellung. Die Informationen über die geplanteZusammenarbeit mit dem KZ Sachsenhausen hatten die Ausstellungsmacher der zwi- Der Nationalsozialismus als Teil der TH-Geschichte 513schenzeitlich von Michael Kater veröffentlichten Dissertation über das SS-Ahnenerbeentnommen.2400Die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit während des Natio-nalsozialismus, insbesondere die Erwähnung von einzelnen Personen, die sich bereitwil-lig in den Dienst des „Dritten Reiches“ gestellt hatten, rief innerhalb der TH DarmstadtWiderstände hervor. So sprachen sich gegen eine derartige Darstellung insbesondere Per-sonengruppen um die ehemaligen Darmstädter Professoren Brecht, Busch, Lieser, Thumund Walther aus. Infolge dieses Gegenwindes aus den eigenen Reihen, der „Auseinan-dersetzungen mit noch Lebenden“2401, wie Böhme es nannte, betrachtete dieser, in seinerRolle als Hochschulpolitiker, personengebundene Informationen zunehmend kritisch. Ersah sich gezwungen, die Verwendung solcher Informationen in der Ausstellung zu mini-mieren und schlug vor, die Geschichte des „Dritten Reiches“ zu einem anderen Zeitpunktumfassender zu thematisieren. Teile der geplanten Ausstellung wurden daraufhin wegge-lassen oder kurz vor der Eröffnung der Ausstellung abgehängt.2402Dies entging der stu-dentischen Vertretung in Darmstadt nicht.2403Der AStA bezeichnete das Vorgehen desPräsidiums in einem Artikel in der AStA-Zeitung als „Zensur!“ und veröffentlichte darinauch den Teilausschnitt einer entfernten Tafel.2404Offenbar stand der damalige AStA inguter Verbindung zur Arbeitsgruppe, die zuständig für die Darstellung des „Dritten Rei-ches“ war, ohne die er über diese Vorgänge keine Kenntnis hätte haben können.

514 11. Schluss

Zwölf Jahre nach der Ausstellung publizierte die TU2405eine sechsbändige Reihe zurGeschichte der TH Darmstadt. Ein Band der Publikationsreihe widmete sich auch der Zeitdes „Dritten Reiches“.2406Zwischenzeitlich war die zweibändige Geschichte „Universitätunterm Hakenkreuz“ des Münchner Historikers Helmut Heiber erschienen.2407Bezeich-nenderweise stellte diese Arbeit eines auswärtigen Historikers die erste quellenbasiertehistorische Beschäftigung mit der Geschichte der TH Darmstadt während des „DrittenReiches“ dar. Unter anderem beschreibt Heiber darin bereits ausführlich die steile Karri-ere von Karl Lieser mithilfe der Partei.2408Diese Informationen gingen auch in die Publi-kation zur TH-Geschichte ein.2409

Die im Zuge der Ausstellung ins Auge gefasste, umfassende Aufarbeitung der Ge-schichte der TH Darmstadt im „Dritten Reich“ blieb jedoch in den Kinderschuhen ste-cken. Dafür scheinen mehrere Faktoren ausschlaggebend gewesen zu sein. Zum einenhatten die Darmstädter, obwohl Heiber bereits mit Personalakten aus dem DarmstädterArchiv gearbeitet hatte, weiterhin Bedenken, diese Grundlage als ausreichend für einehistorische Darstellung zu betrachten. Hinzu kamen die teilweise weiterhin bestehendenSperrfristen und die bereits beschriebenen Erfahrungen mit den „noch Lebenden“. So be-schloss die Hochschulleitung, gewissermaßen als Vorarbeit, in einem mehrjährigen Zeit-zeugenprojekt noch lebende Hochschulmitarbeiter befragen zu lassen.2410Christine Von-derheit-Ebner befasste sich mit diesen Interviews von 1991 bis etwa 1994. Das Projekt,und hier kamen finanzielle und mit dem Wechsel des Präsidiums von Böhme zu Wörnerauch hochschulpolitische Gründe hinzu, ging über eine Materialsammlung nicht hinaus.

Festhalten lässt sich, dass an der TH Darmstadt zwar der Wille existierte, historischeUntersuchungen über die Zeit des „Dritten Reiches“ durchzuführen, faktisch hatte jedochdas Tagesgeschäft, in diesem Zusammenhang die Präsidiums- und Pressearbeit, stets Vor-rang.2411Infolgedessen schrieben lange Zeit die Fakultäten ihre Geschichte selber. Dies Der Nationalsozialismus als Teil der TH-Geschichte 515bedeutete, dass die Hoheit über die Interpretation dessen, was während des „Dritten Rei-ches“ an der TH Darmstadt passiert war, in den Händen von Personen lag, die daran be-teiligt waren.

Initiativen von Studierenden blieben in dieser Zeit weitgehend ohne Reaktion. WieHans-Ulrich Thamer feststellt, war die Haltung, einerseits in gewisser Weise das Interesseder Studierenden an einer Thematisierung des „Dritten Reiches“ zu teilen, andererseitsderen Engagement in Hinblick auf Form und Inhalt abzulehnen, weit verbreitet und, wieer sagt, symptomatisch für die Konflikte um die NS-Wissenschaft.2412

Auseinandersetzungen um die Person Alwin Walthers in den 1990er Jahren

Anfang der 1980er Jahre befassten sich Studierende der TH Darmstadt erstmals mit derGeschichte ihrer Hochschule, insbesondere mit Walthers Rolle während des „Dritten Rei-ches“. Noch vor der Ausstellung im Jahr 1986 erhielten studentische Akteure derTH Darmstadt durch die Veröffentlichung von Kater zum SS-Ahnenerbe Kenntnis vonder Vergangenheit Walthers während des „Dritten Reiches“. Im Rahmen der Ökologie-und Friedensbewegung gründete sich im Jahr 1983 an der TH Darmstadt eine „Initiativefür Abrüstung“.2413Neben den vordergründigen Zielen der Abrüstung und Friedenssiche-rung richtete sich der Blick der Initiative am Rande auch auf Themen der militärischenForschung allgemein, unter anderem auch auf die Geschichte der nationalsozialistischenKriegsforschung. So befasste sich ein Darmstädter Student in der Schriftenreihe der Ini-tiative mit der Geschichte der Mathematik im „Dritten Reich“.2414Nicht nur wurde darindie Kriegsforschung von Mathematikern anhand der FIAT-Reviews untersucht, es wurdeauch das IPM von Walther und dessen geplante Zusammenarbeit mit dem KZ Sachsen-hausen angesprochen.2415Vor dem Hintergrund dieses Wissens kam es Ende der 1980erJahre zu Auseinandersetzungen zwischen einzelnen kritischen AStA-Angehörigen undihnen angeschlossenen Studierenden auf der einen und dem Präsidium der TH Darmstadtauf der anderen Seite. Auslöser für die Konflikte waren verschiedene Gedenkveranstal-tungen zu Ehren des 1967 verstorbenen Walther. Im Mai 1988 fand ein Gedächtniskollo-quium zu Alwin Walthers 90. Geburtstag statt. Während diese Veranstaltung offenbar516 11. Schluss keine größeren Auseinandersetzungen hervorrief – Präsident Böhme hielt eine Rede zuEhren Walthers, in der er darüber sprach, dass die TH Darmstadt in der Pflicht sei, „eineArt Wiedergutmachung“ an der Person Walthers zu vollziehen, hauptsächlich da seinInstitut nach seiner Emeritierung einfach aufgelöst worden war2416–, kam es im Rahmendes zehn Jahre später ausgetragenen Kolloquiums zu seinem 100. Geburtstag bereits imVorfeld zu kritischen Äußerungen vonseiten des Darmstädter AStA. Die Studierenden-vertreter kritisierten, dass bei den Feierlichkeiten Walthers Rolle während des „DrittenReiches“ und sein Beitrag zur Kriegsforschung unerwähnt blieben und stattdessen einspürbarer „Boom“ des Namens „Walther“ bei der Benennung von Preisen, Straßen undsogar Hörsälen und Forschungszentren zu erleben sei.2417Mit verschiedenen Artikeln inder Hochschulzeitung und der „Forum Wissenschaft“, der Zeitschrift des linksorientier-ten Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, machten sie aufdie Vergangenheit Walthers aufmerksam. Der Inforeferent des AStA, Michael Enders,wies angesichts der Gedenkfeier zu Ehren Walthers darauf hin, dass die Hochschule bis-lang nicht an die Opfer des Nationalsozialismus unter ihren Lehrenden und Studierendenerinnert habe. Die Walther-Feier ausgerechnet am 8. Mai stattfinden zu lassen, sprechevon „peinlicher Ignoranz“ gegenüber der Geschichte.2418Mathestudent Markus Gottsle-ben, ebenfalls Mitglied des AStA der TU Darmstadt, verfasste einen Aufsatz „WertfreieForschung für das Heereswaffenamt: Bemerkungen zur Ehrung Alwin Walthers“, in demer die Geschichte des IPM kurz wiedergab und mittels verschiedener Quellen die MotiveWalthers kritisch untersuchte.2419Die studentischen Initiativen blieben nicht ohne Echoin der Presse, sowohl im Vorfeld als auch im Nachgang berichteten lokale Zeitungen überdie Kritik der Studierenden.2420Die Walther-Feier fand gleichwohl wie geplant statt. DieAuseinandersetzung zeigt, welche unüberwindbaren Konfliktlinien aufbrachen in Bezugauf die politische Vergangenheit von bedeutenden Wissenschaftlern und einer Erinnerungund Würdigung ihrer Leistungen. Bis heute ergeben sich aufgrund der eher zufällig ge-wachsenen Erinnerungskultur derartige Herausforderungen.

Der Nationalsozialismus als Teil der TH-Geschichte 517 Impulse durch fachübergreifende Forschungsprojekte zur jüdischen Geschichte in den 1990er Jahren

Die 1990er Jahre waren durch eine weitere Besonderheit gekennzeichnet: Es lässt sichein Anwachsen der Beschäftigung mit jüdischer Geschichte über Fächergrenzen hinwegfeststellen. Demnach standen die 1990er Jahre für ein Nebeneinander von Traditionsbe-wahrern und Historikern sowie weiteren meist geisteswissenschaftlichen Fachvertretern,die sich mit jüdischer Geschichte beschäftigten und von hier aus sehr allmählich auch aufdie Geschichte der TH im Nationalsozialismus gelangten. Im Jahr 1991 gründete sich aufInitiative des Präsidiums die fachübergreifende „Arbeitsgemeinschaft Geschichte undKultur der Juden“. Die Koordination übernahm Friedrich Battenberg, unterstützt vonChristof Dipper vom Institut für Geschichte.2421Die Arbeitsgemeinschaft setzte sich zu-sammen aus Professoren und Studierenden der Pädagogik, Soziologie, Geschichte, The-ologie, Politikwissenschaft, Architektur und Anglistik. Ziel der Arbeitsgemeinschaft wares, ein einschlägiges Lehrprogramm zur Vermittlung von Lehrinhalten der Geschichteund Kultur der Juden an Studierende zu erstellen, außerdem Gastvorträge und jährlicheTagungen zu Themen der Geschichte der Juden zu organisieren. In diesem Rahmen ent-stand unter anderem auch das Interesse, die Vertreibung jüdischer Wissenschaftler vonder TH Darmstadt genauer zu untersuchen. Erstmals wurde nun der Versuch gemacht,alle aus dem Amt vertriebenen Personen systematisch zu erfassen. Ergebnis dieser Be-mühungen waren mehrere Artikel über das Schicksal der Betroffenen.2422

Im Jahr 2001 gründete sich das „Evenari-Forum für Deutsch-Jüdische-Studien: Tech-nik, Natur- und Kulturwissenschaften“ auf Initiative von Natalie Fryde und Evelies Mayer,Staatsministerin a. D. und ehemals Soziologieprofessorin. Ein Jahr später fusionierte die„Arbeitsgemeinschaft Geschichte und Kultur der Juden“ mit dem Evenari-Forum. DieGründung der Arbeitsgemeinschaft und des Evenari-Forums kann als Beleg dafür gelten,dass, aufgrund des Generationenwechsels innerhalb der Wissenschaftler, eine Annäherungan die jüdische Geschichte und damit an das Thema des „Dritten Reiches“ stattfand. Bun-desweit waren diese Einflüsse durch jüngere Wissenschaftlergenerationen zu spüren.2423

Auch die in den 1980er Jahren als Gegenbewegung zur Betrachtung von politischenGroßentscheidungen aufkommenden Geschichtswerkstätten brachten einen Wandel im518 11. Schluss Umgang mit dem Thema Nationalsozialismus mit sich.2424Eine Darmstädter Geschichts-werkstatt gründete sich auf Initiative von Studierenden und wissenschaftlichen Mitarbei-tern des Instituts für Geschichte an der Technischen Hochschule Darmstadt Anfang der1980er Jahre.2425Daraus hervor ging eine „Arbeitsgemeinschaft Alternative Stadtrund-fahrt“. Diese brachte im Jahr 1998 als eine von 27 in ganz Darmstadt verteilten Stationenan der TU Darmstadt eine Gedenktafel für die während des Nationalsozialismus vertrie-benen Hochschulmitglieder an. Es war der erste diesbezügliche Erinnerungsort an der TUüberhaupt. Die Plakette erinnerte zugleich an die Rolle der Hochschule während desZweiten Weltkrieges.2426

Im Laufe der nächsten Jahre gingen ein Teil der Namen von aus dem Amt vertriebe-nen Hochschullehrern in die kollektive Erinnerungskultur der TU Darmstadt ein. Nebendem Evenari-Forum benannten sich weitere Institute und Einrichtungen nach jüdischenWissenschaftlern, welche während des Nationalsozialismus von der TH Darmstadt ent-lassen worden waren. So entschieden die Institute für Technische und MakromolekulareChemie und Organische Chemie, sich im Studienjahr 2002/2003 den Namen „Ernst Berl-Institut“ zu geben.2427Des Weiteren gründete sich im Studienjahr 2003/2004 die „GerhardHerzberg Gesellschaft, Freundeskreis des Fachbereichs Physik der Technischen Univer-sität Darmstadt“ durch Mitglieder und Ehemalige des Fachbereichs Physik zur Förderungder Lehre und Forschung am Fachbereich und des Auslandsaustausches.2428Im Jahr 2010ließ die Universitätsleitung zu, dass für Hans Baerwald, Michael Evenari, StephanGradsztein, Gerhard Herzberg, Luise Herzberg, Kurt Lion an der TU Darmstadt Stolper-steine verlegt wurden.2429

Die Bedeutung der Entdeckung von Karl Plagge

Ein weiterer wichtiger Meilenstein auf dem Weg, sich der eigenen Geschichte währenddes Nationalsozialismus weiter anzunähern, war die Entdeckung von Karl Plagge (1897– Der Nationalsozialismus als Teil der TH-Geschichte 5191957) im Jahr 2001. Dieser war Absolvent der TH Darmstadt, er hatte dort von 1919 bis1924 Maschinenbau studiert. Während des Krieges rettete er als Hauptmann, später alsMajor und Chef einer großen Kfz-Reparaturwerkstätte der Wehrmacht, dem Heereskraft-fahrpark (HKP) Ost 562 in Wilna/Litauen, 250 jüdische Zwangsarbeiter vor der Ermor-dung durch die SS.2430Der Sohn einer von Plagge geretteten Jüdin, Michael Good, hattesich auf die Suche nach Karl Plagge gemacht und dabei Kontakt zu Marianne Viefhausaufgenommen.2431Daraus hervor ging eine mehrjährige gemeinschaftliche Erforschungder Plagge-Geschichte, deren Höhepunkt die Ehrung Plagges als „Gerechter unter denVölkern“ im April 2005 in Yad Vashem darstellte. Im Jahr 2003 wurde zu Ehren Plaggeseine von Ariel Auslender angefertigte Gedenktafel am ehemaligen Senatssaal im Haupt-gebäude angebracht.2432

Die Entdeckung Plagges hatte für die TU weitere Folgen: Nachdem die Professiona-lisierung und Aufwertung des als Bestandteil der Presseabteilung existierenden Hoch-schularchivs lange Zeit aus finanziellen Gründen nicht angegangen worden war,2433konnte Präsident Wörner, der 2005 selbst nach Yad Vashem zur Ehrung Plagges gereistwar und die Ergebnisse des „Plagge-Netzwerks“ hautnah miterlebte, davon überzeugtwerden, in das Archiv zu investieren.2434Dies hatte zur Folge, dass im Jahr 2006 die Stelleeines Universitätsarchivleiters ausgeschrieben und erstmals mit einem ausgebildeten Ar-chivar besetzt wurde. Diese Aufwertung des Universitätsarchivs stellte eine weitereGrundvoraussetzung für die Weiterbeschäftigung mit der TH/TU-Geschichte dar.

520 11. Schluss

Nicht zu unterschätzen für die Historisierung der eigenen Vergangenheit der Jahre1933 bis 1945 sind die Impulse, die von den neuesten Forschungsergebnissen zu Wissen-schaft und Nationalsozialismus ausgingen, insbesondere der Abkehr von der bislang an-genommenen „Wissenschaftsfeindlichkeit“ der Nationalsozialisten und der Hinwendungzur These einer Selbstmobilisierung der Wissenschaftler.2435In Darmstadt nahm man2008 die neue Forschungslage zum Anlass für die Ringvorlesung „Darmstadt und dieTechnischen Hochschulen im Nationalsozialismus“, aus der auch eine Publikation her-vorging.2436Kurz darauf beschloss das neue Präsidium der TU auf Initiative des KanzlersManfred Efinger, die Geschichte der TU Darmstadt zur Zeit des Nationalsozialismusumfassend und systematisch bearbeiten zu lassen. Das Projekt „TH Darmstadt und Nati-onalsozialismus“ begann im Jahr 2009 seine Arbeit. Mit diesem Bestreben steht die TUDarmstadt nicht alleine dar. Gerade in den letzten Jahren ist ein Schub derartiger Aufar-beitungsprojekte zu verzeichnen. Ähnliche Projekte wurden unter anderem in Aachen2437,Berlin2438, Tübingen2439, Greifswald2440und Münster2441initiiert. Viele Universitäten undHochschulen widmeten sich außerdem in Sammelbänden der Geschichte der jeweiligenInstitutionen während des „Dritten Reiches“. Darin lässt sich eine allgemeine Tendenzder Universitäten und Hochschulen feststellen, den Nationalsozialismus als Teil derHochschulgeschichte anzuerkennen.2442Dies kann wiederum Folgen für die Erinnerungs- Der Nationalsozialismus als Teil der TH-Geschichte 521kultur haben, wie eine Begebenheit an der TU Darmstadt aus dem Jahr 2013 zeigt. DieTU stand zu diesem Zeitpunkt aufgrund neuer Erweiterungsbauten auf der Lichtwiese vorder Aufgabe, neue Straßen zu benennen.2443Unter anderem war der als „Nichtarier“ imFrühjahr 1934 entlassene und ins Exil geflohene, international anerkannte ChemikerErnst Berl als Namensgeber im Gespräch. Der Senat beschloss jedoch nach einer Diskus-sion „um seine Person und sein Leben“, von einer Ernst-Berl-Straße abzusehen.2444Fürdiesen Schritt hatten Berls militärische Forschungsarbeiten während des Ersten Weltkrie-ges gesorgt.2445Daran wird deutlich, wie sich bezüglich der Erinnerungskultur und desGedenkens im akademischen Raum der Blick vom „Dritten Reich“ losgelöst hat.

522 11. Schluss

ANHANG

A. Ergebnisse der Entnazifizierung der 1945 zum Lehrkörper gehörenden Professoren

Tabellen 523

524 12. Anhang

Tabellen 525526 12. Anhang B. Chronologische Auflistung der neu berufenen Ordinarien mit Spruchkammerergebnissen

Tabellen 527

528 12. Anhang

Tabellen 529

530 12. Anhang

Tabellen 531532 12. Anhang

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

AACAcademic Assistant Council

ACHEMAAusstellung für chemisches Apparatewesen

AStAAllgemeiner Studentenausschuss

BArchBundesarchiv Berlin

BASTBundesausgleichstelle

BBGGesetz zur Wiederherstellung des BerufsbeamtentumsBDCBerlin Document Center

BEGBundesentschädigungsgesetz

BErgGBundesergänzungsgesetz

BIOSBritish Intelligence Objective Subcommittee

BLOBodleian Library, Oxford

BWGöDWiedergutmachungsgesetz für die Angehörigen des öffent-lichen Dienstes

CDUChristlich Demokratische Union Deutschlands

CIOSCombined Intelligence Objective SubcommitteeDERADarmstädter Elektronischer Rechenautomat

DFGDeutsche Forschungsgemeinschaft

DFSDeutsche Forschungsanstalt für Segelflug

DKIDeutsches Kunststoff Institut

DPDisplaced Person

DRZDeutsches Rechenzentrum

DVLDeutsche Versuchsanstalt fürLuftfahrt

E&RAEducation & Religious Affairs Branch

ELARDElektronischer Analogrechner Darmstadt

ELDOEuropean Launcher Development Organisation

FIATField Information Agency, Technical

GAMMGesellschaft für Angewandte Mathematik und MechanikGSIGesellschaft für Schwerionenforschung

HAGGesetz über den Aufbau der Städte und Dörfer desLandes Hessen

HHStAWHessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden

HKPHeereskraftfahrpark

HStADHessisches Staatsarchiv Darmstadt

HVAHeeresversuchsanstalt

HWAHeereswaffenamt

IfZInstitut für Zeitgeschichte

IGDvVInteressengemeinschaft Darmstädter VerbindungenIKIAInternationaler Kongress für IngenieursausbildungIPMInstitut für Praktische Mathematik

533

Abkürzungsverzeichnis 533IROInternational Refugee OrganisationKBWKommunistischer Bund WestdeutschlandsKfRKommission für RechenanlagenKSGKatholische Studentengemeinschaftk. w.Künftig wegfallend

KWGKaiser-Wilhelm-GesellschaftKWIKaiser-Wilhelm-InstitutLPALandespersonalamt

MfSMinisterium für StaatssicherheitMITMassachusetts Institute of TechnologyMPAStaatliche Materialprüfungsanstaltn. b.vom Gesetz nicht betroffenNASMNational Air and Space MuseumNCNumerus Clausus

NDWNotgemeinschaft Deutscher Wissenschaftler im AuslandNSDAPNationalsozialistische Deutsche ArbeiterparteiNSDDBNS-Dozentenbund

NSDStBNationalsozialistischer Deutscher StudentenbundNSFKNationalsozialistisches FliegerkorpsNSKKNationalsozialistisches KraftfahrkorpsNSVNationalsozialistische VolkswohlfahrtNYUNew York UniversityOMGUSOffice of Military Government for Germany, USPIPädagogisches InstitutRHOReichshabilitationsordnungSASturmabteilung

SDSicherheitsdienst

SSSchutzstaffel der NSDAPSCELSignal Corps Engineering LaboratorySPSLSociety of the Protection of Science and LearningSPDSozialdemokratische Partei DeutschlandsStadtA DaStadtarchiv DarmstadtStALStaatsarchiv LudwigsburgStANStaatsarchiv NürnbergUAUniversitätsarchivu. k.unabkömmlich

UNRRAUnited Nations Relief and Rehabilitation AdministrationV2Vergeltungswaffe 2

VDEVerein Deutscher ElektroingenieureVGCTVerein für Gerbereichemie und -technikVNAHVerband nicht-amtierender (amtsverdrängter)Hochschullehrer

ZAGIZentrales Aerohydrodynamisches Institut

534

534 12. Anhang

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

Quellen- und Literaturverzeichnis 535536 12. Anhang

LITERATURVERZEICHNIS

Quellen- und Literaturverzeichnis 537538 12. Anhang Quellen- und Literaturverzeichnis 539540 12. Anhang Quellen- und Literaturverzeichnis 541542 12. Anhang Quellen- und Literaturverzeichnis 543544 12. Anhang Quellen- und Literaturverzeichnis 545546 12. Anhang Quellen- und Literaturverzeichnis 547548 12. Anhang Quellen- und Literaturverzeichnis 549550 12. Anhang Quellen- und Literaturverzeichnis 551552 12. Anhang Quellen- und Literaturverzeichnis 553554 12. Anhang Quellen- und Literaturverzeichnis 555

PERSONENREGISTER

Abderhalden, Emil 326

Abendroth, Wolfgang 367

Ackermann, Ernst 380

Adam, Uwe Dietrich 509

Adge, Georg 30, 31, 34, 127, 128, 129,

245

Adorno, Theodor 75, 420

Agartz, Viktor 365

Aiken, Howard 59, 420

Ankel, Wulf Emmo 30, 67, 69, 81,

159, 179, 180, 182, 190, 196, 205,

208, 209, 212, 235, 322, 323, 386,

419, 434, 522

Aretin, Karl Ottmar Freiherr von 414,

506

Arndt, Helmut 394, 528

Aron, Erich 28, 243, 254, 269, 271,

298, 302, 312

Baerwald, Ella 260, 270, 271

Baerwald, Hans 62, 243, 254, 255,

256, 257, 258, 259, 260, 269, 270,

271, 299, 300, 302, 313, 410, 512,

518

Balser, Ernst 331

Bartels, Gerhard 94

Bartmann, Heinrich 17, 75, 93, 344,

356, 391, 527

Basshuysen, Richard van 212

Battenberg, Friedrich 517

Beauclair, Wilfried de 60, 103, 119

Becker, Carl Heinrich 413, 427

Below, Karl-Heinz 341, 390, 527

Bender, Friedrich 250

Bergsträsser, Arnold 104

Bergsträsser, Ludwig 39, 43, 104, 105,

115, 130, 131, 132, 330, 362, 364,

365, 366, 431, 432, 440, 441, 476,

483

Berl, Ernst 65, 66, 243, 245, 246, 254,255, 294, 298, 299, 300, 301, 302,312, 504, 505, 512, 518, 521

Berliner, Ernst 243, 269, 286, 312Berliner, Helene Martha 286

Bila, Helene von 373, 380, 382

Blaess, Victor 141, 189, 344, 348, 350,369, 522

Blaum, Heinrich 81, 82, 83

Bleibtreu, Hermann 394, 438

Bochow, Hans 305

Bock, Günther 49, 382, 384, 385, 394,395, 529

Bodemüller, Helmut 73

Böhm, Franz 334

Böhm, Otto 250

Böhme, Helmut 16, 506, 507, 508,510, 511, 513, 514, 516

Borch, Herbert von 363

Born, Max 257

Borngässer, Wilhelm 263

Bornscheuer, Friedrich 153, 157, 159Bramesfeld, Erwin 116, 248, 269, 287,312, 483

Brandi, Dietrich 356

Bratu, Artur 468

Braun, Wernher von 31, 138, 153, 154Brecht, Walter 30, 33, 34, 51, 83, 105,106, 121, 122, 124, 125, 126, 133,134, 146, 149, 150, 151, 162, 190,193, 198, 214, 219, 235, 308, 314,419, 432, 436, 479, 497, 498, 513,522

Brentano, Heinrich von 212

Breth, Herbert 530

Brill, Hermann 316, 317, 364

Brill, Rudolf 30, 34, 69, 135, 149, 154,

155, 159, 160, 185, 190, 192, 195,

556

556 12. Anhang 201, 203, 207, 208, 209, 210, 212,213, 236, 323, 325, 345, 419, 522Brinkmann, Donald 420, 422

Brix, Peter 62, 63, 380, 394, 530

Buchhold, Theodor 30, 55, 104, 141,142, 153, 155, 177, 179, 180, 181,182, 190, 195, 198, 236, 322, 323,324, 325, 328, 345, 351, 522

Buchholz, Herbert 55, 159, 382, 394,530

Bühler, Hans 382

Bultmann, Rudolf 424

Burger, Heinz Otto 505

Busch, Hans 30, 54, 55, 83, 104, 106,110, 141, 142, 146, 147, 185, 187,190, 192, 193, 200, 201, 203, 208,209, 210, 212, 219, 230, 235, 236,295, 296, 297, 323, 324, 369, 371,372, 394, 400, 513, 522

Bußmann, Karl Ferdinand 394, 529Courant, Richard 56, 114, 142, 144,310

Cramer, Friedrich 530

Curtis, Francis 299

Curtis, Fritz 243, 299, 302, 312

Curtius, Ludwig 420

Dänzer, Hermann 359

Debus, Kurt 153, 154, 157, 158

DeLong, Vaughn R. 186, 187, 188,192, 193, 436

Dessauer, Friedrich 276

Detig, Wilhelm 72, 109, 190, 192,193, 208, 210, 212, 214, 232, 235,522

Dietz, Heinrich 209

Dingler, Hugo 248, 249, 292, 303, 312Dipper, Christof 13, 517, 519

Djin, Djing-Tschang 203

Dorer, Maria 17, 30, 248, 249, 255,269, 288, 289, 290, 291, 292, 293,312, 313

Dornberger, Walter 31

Dreesen, Rolf 94

Dreyer, Hans-Joachim 60, 103, 135,159, 419

Drost, Heinrich 530Duan, Tji-sui 203Ebbinghaus, Julius 424, 434Eberhard, August 64, 179, 214, 222,

234, 235, 322Eberhard, Fritz 364Eckhardt, Hans von 363, 364, 365Efinger, Manfred 520Eichmann, Adolf 398Enders, Michael 516Engel, Ludwig 92, 212, 305Erdmann, Karl 363, 364, 365, 366Eschenbach, Wolfram 51, 375, 394,

396, 530

Evenari, Michael (früher Schwarz,Walter) 243, 269, 278, 280, 281,282, 299, 507, 508, 517, 518

Evers, Gerhard Hans 17, 75, 344, 391,

395, 527Ewald, Paul Peter 422Fecher, Friedrich 383, 384Federn, Klaus 149, 153, 243, 266, 267,

312, 313, 411Feitknecht, Walter 205Feldmann, Erich 248, 250, 269, 284,

288, 302, 303, 312Fingado, Hans 338, 383, 384Fischer, Fritz 506Fischer, Heinz 156Fischer, Johannes 55Fischer, Theodor 74, 86Fraenkel, Ernst 364Fraikin, Friedrich 21, 244Franck, Ernst Ulrich 70, 530Franz, Eckhardt G. 507, 519Franz, Günther 403Freund, Ludwig 364Fritzler, Karl 247, 255, 304, 312Frühauf, Gerhard 55, 394, 498, 529Fryde, Natalie 517Fuchs, Otto 30, 34, 66Fuchs, Walter 153Fürst, Hans 328Gaede, Karl-Walter 60

557

Personenregister 557Geibel, Hermann 185, 189, 225, 227,264, 522

Geil, Rudolf 39, 96, 177, 179, 180,181, 182, 183, 187, 190, 192, 193,204, 206, 210, 212, 214, 217, 218,235, 322, 345, 354, 355, 375, 394,396, 436, 522, 530

Geiler, Karl 122, 123, 334, 340, 434Gengelbach, Werner 157, 158

Georgii, Walter 46, 49, 50, 157, 323Gerbaulet, Sabine 512

Gislén, Torsten 422

Goldstein, Julius 21, 320

Gollwitzer, Helmut 387

Good, Michael 519

Gottsleben, Markus 516

Gottstein-Glynn, Hans 252, 308, 313Goubeau, Josef 360

Grabert, Herbert 231

Gradsztein, Stephan 243, 299, 300,302, 312, 518

Graf, Heinrich 56, 189, 219, 347, 449,523

Graner, Hans 351, 352

Grassi, Ernesto 424

Gretz, Heinz 445

Gropius, Walter 392, 420

Gruber, Karl 22, 39, 75, 81, 82, 83,180, 189, 212, 217, 219, 224, 225,227, 265, 284, 331, 345, 369, 371,432, 523

Guembel, Werner 243, 299, 302, 312Gundlach, Friedrich Wilhelm 55, 60,358, 391, 400, 527

Guther, Max 226, 394, 528

Guthmann, Heinrich 206

Haardt, Heinz 153

Hahn, Otto 310

Hammer, Gustav 252, 308, 309, 314Hartmann, Paul 242, 302, 312

Hartshorne, Edward Yarnall 38, 107,109, 110, 124, 130, 174, 175, 183,424, 425, 432, 476

Häussermann, Walter 153, 157

Hax, Karl 345, 378, 391, 395, 527Haxel, Otto 380

Heiber, Helmut 514Heidegger, Martin 75Heil, Hans 21Heinzel, Winfried 512Heisenberg, Werner 434Hellebrand, Emil 156Hellwege, Karl-Heinz 61, 370, 394,

395, 402, 528

Herzberg, Gerhard 243, 271, 272, 273,276, 277, 299, 300, 302, 312, 509,512, 518Herzberg, Luise 518Herzfeld, Beni 250Heyfelder, Viktor 187Hilpert, Werner 85Himmler, Heinrich 403Hindenburg, Paul von 315Hintzelmann, Ulrich 246, 247, 255,

312Hirsch, Robert von 251, 307, 313Hoffmann, Hans 130, 206, 262, 290,

291, 331Hofmann, Karl 73Hofmann, Karl Andreas 70Hofmann, Ulrich 70, 360, 361, 394,

395, 528Hofmann, Walter 73, 394, 528Hohenner, Heinrich 73, 190, 326, 369,

523Holtz, Friedrich 88, 92, 93Hölzer, Helmut 137, 153, 154, 156Hölzle, Erwin 363, 364Horkheimer, Max 75Hörlein, Heinrich 310Horn, Adam 396, 530Horn, Helmut 156Horn, Jakob 242, 302, 312, 349Höss, Rudolf 398Hsi-Ping, Lo 203Hübener, Friedrich 104, 142, 177, 179,180, 182, 183, 190, 198, 200, 201,202, 207, 208, 210, 214, 218, 219,220, 221, 230, 235, 237, 295, 296,322, 323, 369, 370, 371, 394, 523Huber, Bruno 67, 166, 181, 281Hueter, Ernst 55, 104, 141, 157, 160,

190, 202, 305, 328, 408, 432, 523

558

558 12. Anhang Huhle, Fritz 292, 464

Humbach, Walther 53

Irvin, Leon P. 107, 109, 110, 112, 113,

176, 177, 178, 181, 184, 186, 322,

458, 464

Israel, Hans 387

Ivo, Karl Heinz 202, 328

Jaroschek, Kurt 17, 52, 53, 221, 344,

394, 528

Jaspers, Karl 427, 434, 476

Jayme, Georg 17, 32, 33, 34, 65, 105,

106, 121, 122, 123, 125, 126, 149,

150, 151, 152, 153, 159, 160, 190,

192, 193, 206, 208, 209, 212, 214,

235, 295, 419, 523

Jonas, Karl 245, 246, 269, 293, 294,

295, 296, 297, 298, 302, 312, 313,

410

Jost, Friedrich Wilhelm 70, 71, 344,

357, 358, 359, 394, 527

Junge, Christian 387

Jüngst, Hans 243, 260, 269, 278, 281,

282, 302, 312

Juza, Robert 360

Kallen, Gerhard 363

Kappler, Herbert 398

Karas, Karl 341, 344, 350, 351, 376,

391, 392, 394, 395, 527

Karsen, Fritz 436, 452

Kater, Michael 513, 515

Kattler, Otto 212

Keachie, Edward 420

Kesselring, Fritz 438

Kesselring, Wilhelm 199

Kilb, Ernst 351, 352

Kirchberg, Georg 52, 394, 396, 530

Kirschmer, Otto 73, 377, 394, 395,

529

Kittler, Erasmus 53, 54

Klein, Johann 157

Klein, Rudolf 73, 93, 394, 395, 405,

528

Kleinlogel, Adolf 244, 245, 261, 262,

263, 312, 313

Klemperer, Wolfgang 420

Klöppel, Kurt 5, 72, 83, 87, 104, 110,111, 112, 113, 114, 133, 141, 142,149, 151, 152, 157, 185, 187, 189,190, 192, 193, 200, 201, 203, 206,214, 225, 227, 232, 235, 323, 402,418, 428, 435, 449, 523

Klotter, Karl 341, 349, 350, 394, 421,530

Knetsch, Georg 380

Knipping, Paul 62, 120, 215

Koch, Günther 94

Koehler, Gerhard 82

Kogon, Eugen 44, 75, 362, 364, 367,390, 394, 402, 403, 434, 449, 451,527

Köhler, Christoph 92, 93

Köhler, Wilhelm 85, 117

Köhler, Wilhelm (Oberregierungsratund Kanzler der JLU) 296

Kohlschütter, Wolfgang 34, 70, 71,110, 114, 128, 135, 159, 190, 193,203, 205, 208, 210, 212, 214, 232,235, 386, 419, 432, 436, 445, 498,523

Kohn, Hugo 199

König, Hans 62, 359, 394, 395, 402,406, 407, 528

Kortüm, Gustav 357

Koschmieder, Harald 50, 377, 386,387, 394, 395, 528

Krämer, Werner 55, 352, 353, 354,355, 394, 395, 528

Krebs, Adolf-Theodor 153

Krebs, Heinz 212, 213

Kriegler, Hans 28

Krischer, Otto 30, 52, 149, 180, 187,192, 193, 328, 345, 346, 347, 348,351, 391, 392, 395, 438, 527

Kroll, Gustav 153

Kroll, Joseph 110

Kron, August-Wilhelm 159, 328, 329Krusche, Paul 356

Kübler, Erwin 352, 353

Kuhlenkampff, Helmuth 358

Kuhlmann, Heinrich 73, 326, 391,406, 527

559

Personenregister 559Küntzel, Adolf 34, 65, 159, 180, 190,347, 419, 438, 466, 503, 504, 505,523

Kuntzsch, Brigitte 507, 512

Kunz, Karl 187, 192, 193, 232, 417,438

Küpfmüller, Karl 53, 54, 55, 390, 394,395, 396, 397, 398, 399, 400, 401,508, 513, 528

László, Franz 250

Laue, Max von 62

Lebrecht, Ludwig 55, 325, 329, 351,352, 391, 441, 498, 527

Leibbrand, Kurt 404, 405

Leser, Paul 243, 248, 269, 278, 279,280, 282, 299, 302

Lessing, Theodor 249

Lieser, Karl 21, 22, 23, 26, 27, 28, 29,30, 41, 71, 74, 111, 120, 177, 179,180, 190, 194, 196, 200, 210, 212,214, 222, 223, 224, 225, 226, 227,228, 229, 230, 231, 232, 234, 235,236, 244, 264, 265, 284, 304, 321,322, 332, 233, 334, 396, 513, 514,523

Lieser, Karl Heinrich 71

Lieser, Theodor 327, 328

Lion, Kurt 243, 269, 273, 276, 277,278, 299, 300, 302, 518

Lipfert, Helmut 396, 530

List, Friedrich 21, 26, 27, 28, 29, 116,120, 180, 190, 194, 196, 197, 198,206, 212, 214, 222, 223, 229, 230,231, 232, 234, 235, 236, 295, 296,321, 322, 345, 396, 524

Loewenstein, Karl 424

Lunge, Georg 65

Luther, Wolfgang 67, 386, 394, 529Mann, Thomas 310

Manteuffel, Erich 153

Marguerre, Karl 48, 344, 348, 349,391, 392, 395, 421, 422, 527

Martensen, Erich 60

Marx, Erwin 73

Matthes, Heinrich 248, 249, 250, 302,

312Mayer, Evelies 517Mayer, Karl 251, 305, 306, 307, 313Mayer, Kurt 371, 376, 394, 395, 528Mehmel, Alfred 72, 93, 94, 109, 149,185, 190, 192, 193, 198, 203, 210,211, 214, 233, 235, 236, 323, 350,360, 361, 408, 432, 524

Meier, Matthias 42, 43, 187, 190, 192,193, 204, 206, 235, 248, 249, 345,369, 370, 394, 524

Meißner, Paul 21, 73, 244, 254, 265,

302, 312Menzel, Walter 366Merck, Karl 305Mesmer, Gustav 136, 137, 155, 184,190, 193, 323, 330, 334, 335, 337,338, 376, 383, 390, 391, 417, 418,419, 461, 468, 524, 526Messer, Adolf 309Metzger, Ludwig 39, 206, 368, 371,

437Meyer, Wilhelm 362, 364, 367Meysenburg, Carl-Max 52Miller, Christoph 87, 93Mitscherlich, Alexander 424Montfort, Camill 160, 327, 328, 329Mügge, Ratje 30, 50, 118, 158, 160,

190, 193, 323, 386, 524Müller, Wilhelm Johann 394, 396, 530Müller-Linow, Bruno 394, 395, 529Muss, Max 43, 108, 117, 190, 290,

369, 371, 408, 432, 449, 524

Neufert, Ernst 73, 74, 75, 86, 93, 94,97, 109, 149, 179, 189, 193, 218,224, 330, 331, 332, 333, 334, 390,391, 392, 393, 410, 432, 436, 437,438, 526Neufert, Peter 423Neuhaus, Alfred 30, 67, 68, 81, 116,179, 180, 181, 182, 190, 200, 207,208, 210, 212, 214, 236, 322, 323,370, 524Newman, James R. 192, 436, 437Niemöller, Martin 478

560

560 12. Anhang Noack, Friedrich 247, 248, 254, 261,

263, 264, 269, 287, 288, 312, 313

Nohl, Jakob Otto 251, 252, 307, 313

Oehlkers, Friedrich 281

Oppelt, Winfried 55, 375, 394, 396,

399, 530

Ortega y Gasset, José 75

Pabst, Theodor 74, 75, 86, 87, 93, 94,

217, 354, 355, 391, 395, 406, 441,

527

Paulitsch, Peter 67, 68

Peiper, Joachim 398

Petersen, Cord 52, 149, 329, 468

Petersen, Waldemar 55, 67, 345, 358

Petry, Ludwig 363, 364

Petzold, Gertrud von 247, 312

Phlebs, Hermann 378, 396, 530

Piloty, Robert 56, 59

Pinand, Jakob Hubert 74, 82, 83, 87,

189, 330, 333, 334, 390, 391, 437,

468, 526

Pingel, Heinrich 16, 510

Plagge, Karl 518, 519

Plenk, Josef 22, 244, 254, 264, 265,

269, 282, 283, 284, 304, 313, 531

Pleyer, Klemens 293, 394, 396, 403,

404, 530

Punga, Franklin 30, 55, 190, 192, 193,

197, 208, 232, 236, 328, 352, 369,

524

Pützer, Friedrich 73

Quick, August 383

Raab, Friedrich 404

Rademacher, Hans 498

Raiß, Wilhelm 346

Rasp, Hans 96

Raspet, August 420

Rassow, Peter 363

Rau, Hans 62, 104, 141, 142, 143, 144,

145, 153, 190, 200, 201, 256, 272,

277, 300, 358, 369, 524

Rausch von Traubenberg, Heinrich

Freiherr 257

Rebel, Irmgard 512

Reinhardt, Rudolf 114

Reinhold, Friedrich Alexander 30, 39,72, 81, 93, 179, 180, 182, 187, 190,192, 193, 203, 204, 209, 210, 212,214, 236, 322, 323, 381, 419, 436,524

Reuleaux, Erich 30, 39, 72, 105, 108,109, 113, 131, 180, 183, 184, 185,190, 192, 200, 201, 369, 370, 372,428, 435, 436, 437, 455, 476, 477,505, 525

Reutlinger, Georg 247, 255, 304, 312Rheinfelder, Hans 424

Rheinstein, Karl 424

Rieß, Karl 503

Rimpl, Herbert 86, 87, 88, 90, 93, 96,97

Rohde, Lothar 399

Romberg, Werner 421

Romero, Rolf 530

Röntgen, Wilhelm Conrad 62

Rössler, Hellmuth 363, 364, 377, 378,379, 394, 395, 402, 403, 529

Roth, Karl 22, 217

Rothert, Karl 248, 269, 285, 286, 312Rüegg, Walter 424

Rupp, Susanne 517

Rust, Bernhard 225

Sassenfeld, Helmut 419

Sauer, Robert 57

Sbrzesny, Walter 96

Schack, Karl 328

Schapitz, Eberhard 341

Schelling, Karl-Heinz 94

Schelsky, Helmut 475

Scherzer, Otto 31, 62, 63, 153, 155,158, 190, 196, 197, 210, 236, 259,322, 323, 324, 327, 328, 481, 509,525, 529

Scheubel, Franz Nikolaus 47, 48, 49,85, 104, 105, 136, 142, 155, 160,187, 190, 192, 193, 203, 208, 209,212, 214, 236, 323, 324, 330, 334,335, 336, 337, 338, 391, 395, 450,525, 526

561

Personenregister 561Schiller, Ludwig 378, 394, 396, 530

Schlechta, Karl 17, 43, 345, 394, 395,

402, 406, 420, 434, 491, 527

Schleyer, Hans Martin 507

Schlink, Wilhelm 45, 102, 108, 109,

111, 190, 200, 201, 344, 348, 369,

432, 449, 525

Schlitt, Helmut 153, 157

Schmid, Carlo 367

Schmieden, Curt 43, 56, 83, 153, 177,

179, 180, 181, 182, 187, 190, 192,

193, 197, 198, 199, 206, 214, 219,

225, 232, 236, 322, 323, 348, 349,

434, 450, 525

Schmoll gen. Eisenwerth, Josef Adolf

329

Schneider, Hans Ernst 403

Schoenemann, Karl Gustav 30, 66,

128, 190, 330, 339, 390, 391, 418,

525, 526

Schöpf, Clemens 30, 34, 70, 159, 160,

181, 190, 219, 432, 505, 525

Schorn, Wilhelm 187, 190, 192, 193,

198, 199, 206, 208, 209, 214, 225,

227, 236, 525

Schramm, Franz 184, 340

Schultz, Dietrich 226, 227

Schürenberg, Helene 127, 128

Schürer, Oskar 132, 190, 290, 321,

329, 344, 525

Schüßler, Wilhelm 363, 378, 405, 531

Schütte, Ernst 403

Schwab, Georg-Maria 357, 441

Schwarzbeck, Fritz 504

Seidler, Hanns 507

Sengel, Adolf 242, 302, 312

Sigwart, Hans 52, 149, 187, 193, 329

Skroblies, Hanni 507, 512, 514, 518

Smekal, Adolf 326, 327, 328

Soeder, Heyer Hans August 332, 377,

396, 530

Solle, Gerhard 68, 380, 385, 386, 394,

395, 529

Söllinger, Ernst 117

Speer, Albert 74, 86, 331, 391, 392,

393

Speiser, Andreas 422

Spinks, John 272

Sprenger, Jakob 22, 27, 28, 30, 35, 41,120, 129, 209, 215, 223, 224, 225,227, 295, 321

Stamm, Hellmuth 360

Stein, Erwin 220, 316, 342, 343, 344,345, 349, 358, 359, 362, 364, 366,367, 368, 369, 371, 389, 390, 430,437, 453, 463

Steiner, Gerolf 30

Steinhoff, Ernst 31, 156

Stern, Erich 284, 285, 312

Steuer, Willibald Alexander 242, 281,302, 312

Stiasny, Edmund 64, 243, 254, 255,269, 270, 299, 301, 503, 504, 505,512

Stimmel, Paul 449

Stintzing, Hugo 31, 62, 116, 120, 121,125, 179, 183, 190, 194, 196, 206,214, 215, 216, 217, 233, 234, 235,321, 322, 345, 347, 525

Stock, Christian 85, 315, 342, 344,

360, 362, 364, 366, 389, 432, 437

Stocker, Otto 30, 66, 67, 81, 166, 167,179, 180, 181, 182, 190, 198, 199,208, 209, 210, 236, 322, 323, 329,379, 419, 508, 525

Stosch, Hans von 329

Stromberger, Carl 87, 187, 190, 192,193, 208, 210, 211, 212, 214, 232,236, 432, 437, 525

Süberkrüb, Peter 93

Sundermann, Elisabeth 507, 512

Süss, Wilhelm 114, 159, 513

Tamnau, Friedrich 67, 180

Taton, René 422

Tellenbach, Gerd 424

Thiel, Adolf 103, 153, 157, 158

Thum, August 30, 34, 51, 52, 103,111, 141, 179, 180, 182, 183, 187,190, 197, 198, 199, 200, 204, 205,206, 207, 208, 210, 212, 230, 236,266, 275, 284, 300, 322, 323, 369,382, 513, 525

562

562 12. Anhang Tiedemann, Josef 39, 190, 200, 265,344, 355, 369, 371, 439, 526

Timoshenko, Stephen P. 204

Titschack, Helmuth 190, 526

Triebnigg, Heinrich 48, 49, 52, 394,395, 396, 529

Tröger, Walter Ehrenreich 68, 370,394, 395, 528

Tuteur, Arno 243, 269, 273, 274, 275,276, 277, 278, 299, 300, 302

Valjavec, Fritz 363, 404, 405van der Rohe, Ludwig Mies 420

Varnesi, Agosto 244, 302, 312

Viefhaus, Erwin 509

Viefhaus, Marianne 16, 507, 509, 512,519

Viehweg, Willy 88, 353

Vieweg, Richard 30, 31, 32, 34, 61,62, 80, 87, 104, 109, 120, 121, 122,124, 125, 126, 138, 139, 140, 141,142, 144, 145, 149, 151, 153, 184,185, 188, 190, 191, 197, 208, 215,230, 338, 370, 418, 419, 426, 432,435, 437, 439, 440, 441, 443, 444,449, 450, 452, 453, 526

Vogel, Peter 248, 249, 250, 302, 312Voigt, Heinz 52, 179, 180, 190, 200,210, 214, 218, 219, 220, 221, 222,234, 235, 322, 344, 346, 347, 369,370, 526

Vonderheid-Ebner, Christine 507, 517Vorhoelzer, Robert 74

Wagenbach, Wilhelm 335

Wagner, Carl 30, 32, 34, 69, 71, 104,135, 141, 142, 144, 153, 154, 213,236, 323, 325, 344, 345, 357, 358,359, 526

Wagner, Heinrich 73

Wagner, Herbert 383, 384

Wagner, Ludwig 22, 244, 254, 260,264, 265, 302, 312, 333, 526

Wagner, Wilhelm 30, 67, 68, 69, 81,190, 299, 369, 370, 371, 372, 373,380, 419, 526Walbe, Heinrich 73, 244, 265, 312Walcher, Wilhelm 380Wälde, Rudolf 52, 190, 526Walther, Alwin 21, 30, 31, 32, 38, 56,57, 58, 59, 60, 93, 104, 108, 109,118, 119, 135, 137, 141, 142, 143,144, 146, 153, 156, 158, 159, 160,180, 190, 202, 207, 219, 228, 264,265, 277, 282, 310, 408, 417, 419,431, 432, 436, 437, 439, 447, 448,464, 512, 513, 515, 516, 526Weber, Alfred 363, 365, 424Weinberg, Arthur von 251Werner, Alfred 65Werner, Ferdinand 22Wickop, Georg 73Wiedemann, Eugen 352, 353, 354Wiegand, Heinrich 17, 52, 382, 394,

395, 529Willstädter, Richard 251Wippermann, Friedrich 377Witte, Helmut 70, 121, 187, 192, 193,

394, 395, 527

Wöhler, Lothar 245, 246, 254, 302,

304, 312Wolf, Kurt 503Wölfel, Erich 70, 375, 531Wolman, Walter 108, 148, 358Wörner, Johann-Dietrich 506, 514,

519Zeissig, Konrad 247, 302, 312Zetsche, Hans 328Ziegler, Hubert 67, 379, 531Zinke, Otto 17, 55, 394, 395, 529Zinn, August 343, 368Zintl, Eduard 30, 69Zook, George F. 425Zurmühl, Rudolf 159Zwicky, Fritz 142, 143, 146

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