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: Theologie der Zukunft

Theologie der Zukunft

Inhalt

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Vorwort

Die Eugen Biser-Stiftung freut sich, in Zusammenarbeit mit der Wissen-schaftlichen Buchgesellschaft das vorliegende Buch „Theologie der Zu-kunft“ präsentieren zu können. Das Buch entstand aus der gleichnamigenFernsehserie, die bereits wiederholt auf dem Bildungskanal des Bayeri-schen Rundfunks, auf BR-alpha, ausgestrahlt wurde. Die Serie findet auchals Videoedition großen Anklang. Wegen der lebhaften Nachfrage er-scheint der Dialog zwischen Eugen Biser und Richard Heinzmann, in demder ganze Reichtum der „Theologie der Zukunft“ entfaltet wird, nun auchin gedruckter Form.

Unter den profilierten Theologen des ausgehenden 20. und beginnen-den 21.Jahrhunderts kommt Eugen Biser eine Sonderstellung zu. Er hat, inPhilosophie und Theologie promoviert, als Fundamentaltheologe seinewissenschaftliche Laufbahn begonnen. Darüber hinaus hat er sich in allenzentralen Bereichen der Theologie hohe Kompetenzen erworben. Mitder Berufung auf den Romano-Guardini-Lehrstuhl für Christliche Welt-anschauung und Religionsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Uni-versität München verließ er nicht nur die Geschlossenheit einer theologi-schen Fakultät, sondern auch den klassischen Fächerkanon der theologi-schen Disziplinen. Die dadurch gewonnene Freiheit von der Bindung anein bestimmtes Fach und den damit gegebenen Verpflichtungen, die nichtselten zu einer Blickverengung führten, erlaubte es Biser, künftig seine un-geteilte Aufmerksamkeit und Arbeitskraft der ursprünglichen Wirklichkeitdes Christentums zuzuwenden. Dieses umfassende Bemühen verhalf ihmdazu, die Mitte und den Identitätsgrund des Christentums neu zu ent-decken und Christsein aus dieser Wurzel heraus neu zu verstehen. Beson-dere Beachtung ist dabei der Tatsache zu schenken, daß Eugen Biser trotzseines hohen wissenschaftlichen Anspruchs Theologie nicht um der Wis-senschaft willen betreibt. Theologie als Selbstzweck hat nach seiner Über-zeugung weder Sinn noch Berechtigung. So, wie sich Gott in Jesus Christusdem Menschen zuwendet, so muß auch jede Reflexion auf dieses Ereignisden Menschen als den Adressaten der Offenbarung in das Nachdenkenmiteinbeziehen. Theologie muß also, wenn sie nicht ins Leere laufen soll,Verkündigung sein. Solche verkündigende Theologie bzw. theologische

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Verkündigung richtet sich jedoch nicht an den Menschen als solchen, ineinem abstrakten Verständnis, sondern an den konkreten Menschen einerbestimmten Zeit in seiner je eigenen, lebensgeschichtlichen Situation. AlsAuslegung des Christusereignisses muß Theologie deshalb die Grundfragedes Menschen nach dem Sinn seines Daseins beantworten. Diesem An-spruch wird die Theologie von Eugen Biser geradezu exemplarisch ge-recht. Deshalb ist es naheliegend, wenn nicht gar geboten, seine Theologieeiner breiteren Öffentlichkeit vorzustellen und zugänglich zu machen.

Für die Drucklegung mußte das gesprochene Wort den Erfordernissender schriftlichen Fixierung angepaßt werden. In der Sache wurde jedochdie Identität gewahrt. Die Gliederung des Textes entspricht der Abfolge derSendungen, die auf drei Videokassetten bei der TR-Verlagsunion, Mün-chen, zugänglich sind. Lediglich in Teil 3 des vorliegenden Textes wurdenunter „2. Die Auferstehung Jesu und die Folgen“ die Sendungen 3. und 4.zu einer Einheit zusammengefaßt.

Für die Mitarbeit bei der redaktionellen Gestaltung des Textes sei FrauLic. theol., M. A. phil. Monika Schmid, für die Arbeit am PC Frau stud.theol. Jutta Schießler herzlich gedankt.

Richard Heinzmann

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Geleitwort

Der moderne Mensch fragt nach dem Sinn seines Lebens, der geistigenMitte der menschlichen Gemeinschaft, dem Ziel seines Handelns und demder Geschichte. Arbeitende suchen nach dem Sinn ihrer Anstrengung,Kranke nach dem Wert ihres Leidens, Eltern nach dem Auftrag ihrer Erzie-hung, Bürger nach dem inneren Zusammenhalt von Demokratie undFriedensgemeinschaft. Europa ist „auf der Suche nach seiner Seele“. Allediese Fragen erwarten nicht eine Antwort von einer Autorität, die es bes-ser wüßte, sondern wollen im Dialog die Wirklichkeit begreifen. Das indi-viduelle Gespräch, die wissenschaftliche Auseinandersetzung, die parla-mentarische Debatte, die vertragliche Vereinbarung weisen den Weg zuVerstehen und Verständnis.

Dieses Buch ist ein Dialog. Wir nehmen Teil an einem Gespräch, dasEugen Biser mit Richard Heinzmann führt. In ihm entdeckt eine Theolo-gie der Zukunft die Grunderfahrungen des Christentums neu, entwickeltein Verständnis von Gott und dem Menschen, das in der Einzigkeit undWürde der Person seine Mitte findet, das eine Religion der inneren Erfah-rung mit dem anderen Menschen teilt, im Christentum die „unüberbiet-bare“ Antwort auf die Sinnfrage des Menschen gibt. Dieses Christentumist noch immer auf dem Weg zu sich selbst, steckt „noch in den Kinder-schuhen“. Es befreit sich von einem beengenden Gehorsamsglauben, ent-faltet sich in einem verantwortlichen Verstehensglauben und gewinntdarin seine Zukunft. Die Kirche kehrt vom Dekret zum Dialog zurück, er-setzt die Gottesangst durch Gottvertrauen, löst die Botschaft Jesu aus demlehrhaften System und führt sie in eine Welt des Verstehens, der Erfahrungund Verantwortlichkeit.

Dieser Dialog wendet sich an den Leser. Er erwartet von ihm Nach-denklichkeit, mehr noch Spontaneität, Hoffnung, Selbstbewußtsein, einVerstehen Gottes im Gottessohn, damit im Verständnis des Menschen. DasWort Gottes und ebenso ein Gespräch über Gott brauchen Anknüpfungs-punkte in der je eigenen Existenz des Menschen. Es kann deswegen nur inAnalogien sprechen, die unsere zwischenmenschlichen und innerwelt-lichen Erfahrungen als Modell nutzen, um etwas im Grunde Unsagbaresdennoch zu sagen. Dieses Gespräch braucht den Partner; ein Wort, das nur

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gesprochen, nicht vernommen wird, wäre nur ein Geräusch. Ein Glaube,den ein Mensch nur für sich allein erfährt, könnte nicht zur Religion, nichtzu einer Kirche werden; der Glaubende begegnet anderen in den Bilderndes eigenen Sehens, vergleicht die Erfahrung der Einzigartigkeit und Un-wiederholbarkeit seines individuellen Lebens mit anderen und begreift sieim Maß des Gemeinsamen, findet auf die Frage nach dem Sinn – das istdie Frage nach Gott – in der Gemeinschaft Antworten.

Daraus ergeben sich wesentliche Folgerungen für die Kirche. Auch dieKirche denkt und lebt in der Geschichte. Niemand wird ihr vorwerfen,daß sie früher einmal wie alle anderen zu Pferd geritten und nicht mitdem Auto gefahren ist. Doch nachdem das Auto erfunden ist, wird sie sichin dieser Modernität bewegen müssen. Dies gilt um so mehr, als die Theo-logie durch die Wiederentdeckung des freiheitlichen Menschenbildes be-wegt wird, einen urchristlichen Gedanken, der mit der Deutung des Men-schen als Ebenbild Gottes den radikalsten Gleichheits- und Freiheitssatzder Geschichte formuliert, in der Aufklärung erneuert worden ist und nungegenwartsgerecht verstanden werden muß. Der Kirche kommt nicht eineAutorität des Machthabers zu, der einen Herrn vertritt, sondern eineAutorität des Lehrers, der seine Erfahrung, sein Wissen und seine Wirk-lichkeitssicht an seine Schüler weitergibt, der dabei nicht nur lehrend denVerstand der Menschen anspricht, sondern sein Erleben in Bildern undVorbildern, in Begegnung und Austausch vermittelt. Dadurch wird derMensch vom theoretischen System zurück zur Lebenswirklichkeit, zur Le-bensmitte geführt. Ein wiederkehrendes Motiv des Dialogs ist die KritikSören Kirkegaards an den philosophischen und theologischen Systemen.Der Systemdenker wird mit dem Architekten eines großen hochgewölbtenPalastes verglichen, der es versäumt hat, sich in diesem Palast eine Woh-nung einzurichten und deshalb genötigt ist, nebenan in einer Scheuneoder gar einer Hundehütte zu hausen. Eine Systemtheologie, die demMenschen ein Gedankengebäude, aber keine Unterkunft, keine Geborgen-heit und Hilfe anbietet, hat ihre Aufgabe nicht erfüllt.

Die Theologie Eugen Bisers spricht den Menschen der Gegenwart an,der in der Hochkultur unserer Verfassungsstaaten, des weltoffenen Begeg-nens und Tauschens und der Handlungsmöglichkeiten moderner Medizinund Technik lebt. Sie ist gesprochen in einer Zeit, in der der Mensch – inder Raumfahrt, der Nachrichtentechnik, der Bioethik – über sich hinaus-zuwachsen, mit der naturwissenschaftlichen Wende die Sache des Men-schen zu wenden scheint, in der der Mensch aber auch durch Weltkriegeund Diktaturen vor nie dagewesene Bewährungsproben gestellt ist. In die-ser geschichtlichen Wirklichkeit setzt die Theologie auf die Freiheit desMenschen, sein Gewissen, insbesondere das Existenzgewissen, das über dieArt und Weise urteilt, wie der Mensch mit sich selbst befaßt ist. Das Ge-wissen gibt dem Menschen die Möglichkeit, sich zu entfalten oder sich fal-len zu lassen, sich zu veredeln oder sich zu vernachlässigen. Dieses Chri-stentum führt den Menschen zu sich selbst. Es sieht das Menschliche nichtals Vertreibung aus dem Paradies, sondern als Ankunft in einer zu Huma-nem und Humanität fähigen Welt. Es baut nicht auf Ge- und Verbote, son-dern läßt sein Vertrauen beim Menschen. Das ist nicht der Weg in die Be-liebigkeit, sondern in Zugehörigkeit und Zusammenhalt, in Nächstenliebeund Verantwortlichkeit, in Freiheitsfähigkeit.

Ein solches Christentum sucht das Gespräch mit allen Religionen, die inunterschiedlichen Sichtweisen nach dem einen Gott fragen. Es bietet mitseiner Botschaft vom liebenden und sich zuwendenden, nicht drohendenund strafenden Gott die Chance, daß sich den Weltreligionen künftig Ge-meinsamkeiten erschließen könnten. Das Christentum, das in diesem Ge-spräch als „die größte Liebeserklärung Gottes an die Welt“ entfaltet wird,das die Erde zum Aufblühen, den Menschen zum Aufatmen bringt, gibtjedem Einzelnen in seiner Unzulänglichkeit und Bedrohtheit eine Antwortauf die Sinnfrage, baut auf den Grundbegriff der „Erlösung“, läßt Jesusleben, obwohl er in seinem Lebenswerk gescheitert scheint, als Mensch,der am Kreuze hängt, im Verständnis seiner Zeit verflucht war. Diese Bot-schaft drängt den Menschen in die Freiheit, erwartet nicht Gehorsam, son-dern Verstehen, weniger Bekenntnis als Erfahrung, nicht Leistung, sondernVerantwortung. Der Mensch ist Adressat der Offenbarung und wird alssolcher zum Schlüssel der Botschaft. Das Menschenbild bestimmt auchdas Bild des menschgewordenen Gottes. Eugen Biser, ein Denker unterChristen und ein Christ unter Denkern, spricht uns so an, daß wir uns amChristentum freuen, daß diese Freude sich anderen mitteilt. Das gemein-same Erleben der Botschaft erwacht in schönen Worten, erneuert ge-schichtliche Bilder, spricht auch in Musik, im Gemälde, in der Skulptur,läßt sich auch von Orgelspiel, Kathedrale und Bildnis ansprechen. EinDialog voll Hoffnung vertraut dem Menschen, gibt Zuversicht.

Heidelberg, im Sommer 2004Paul Kirchhof

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I. Eugen Biser im Gespräch mit Richard Heinzmann: Theologie der Zukunft

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Teil 1 1. Zeitdiagnose H:Herr Kollege Biser, Sie haben die Absicht, in einer Folge von Sen-dungen über Ihre „Neue Theologie“ zu sprechen. Es ist naheliegend, zuBeginn ganz allgemein zu fragen: Was verstehen Sie unter neuer, in die Zu-kunft weisender Theologie?

B:Ja, „Neue Theologie“ ist natürlich ein großes Wort, ein anspruchs-volles Wort, und ich möchte es auf einen Punkt bringen: Eine Neue Theo-logie sollte eine Antwort sein, eine christliche Antwort auf die Fragen derZeit. In diesem Zusammenhang muß natürlich der Weg gezeigt werden,wie diese Neue Theologie ihr Ziel erreichen kann. Das ist nicht etwa – wieman denken könnte – der Weg der Modernisierung, sondern der Weg zu-rück, die Rückbesinnung auf die Mitte des Christentums. Denn die Mittedes Christentums wird nach meiner Überzeugung durch zwei Faktorendefiniert, die aufs engste miteinander zusammenhängen: Das eine ist dieGottesentdeckung Jesu, und das zweite ist seine Auferstehung. Diese Mitte– und damit möchte ich diese kurze Beschreibung auch schon beschlie-ßen – ist aber nicht, wie man denken könnte, eine starre Mitte, sonderneine lebendig bewegte. Sie sucht den Menschen für sich zu gewinnen, insich aufzunehmen und möchte zu seiner Lebensmitte werden. Das ist inganz kurzen Worten der Sinn einer Neuen Theologie.

H:In diesem Zusammenhang stellt sich eine Frage, die meines Erach-tens vorweg beantwortet werden müßte. Hat der Mensch unserer Tageüberhaupt noch ein Bedürfnis nach Religion, ist er noch offen für eineWirklichkeit, welche die Alltagserfahrung übersteigt? Man denke an denFortschritt der Naturwissenschaften, an die Faszination der modernenTechnik oder in Korrespondenz dazu an das Schlagwort vom Tode Gottesund den damit verbundenen Alltagsatheismus, der sich immer weiter aus-breitet! Angesichts dieser Phänomene kann man den Eindruck gewinnen,Religion sei vielleicht doch eine inzwischen überwundene Entwicklungs-stufe der Menschheitsgeschichte. Deshalb muß einleitend geklärt werden,ob es überhaupt noch einen Sinn hat, solche Anstrengungen zu unterneh-men, wie Sie es in einem langen Leben als Theologe und Philosoph, alsWissenschaftler und Seelsorger getan haben.

B:Um auf diese Frage zu antworten, lieber Herr Heinzmann, muß ich

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zunächst einmal einen Blick in unsere Zeit hineinwerfen. Ich sagte ja, dieNeue Theologie ist der Versuch, eine Antwort zu geben auf die Grundfra-gen der Zeit. Und die Frage, die sich jetzt stellt, heißt ganz einfach: In wel-cher Zeit leben wir? Mein großer Kummer besteht darin, daß die meistenZeitgenossen es offensichtlich noch gar nicht wahrgenommen haben, daßwir uns in der größten Stunde der bisherigen Menschheitsgeschichte be-finden, allerdings auch in einer der gefährdetsten dieser ganzen Mensch-heitsgeschichte; das muß zunächst einmal gezeigt werden.

Ich sehe in dieser Zeit eine Zeit der sich Zug um Zug realisierenden Uto-pien. Die Menschheit hat immer geträumt, seit Urzeiten: Sie träumte denTraum vom himmlischen Feuer; sie träumte den Traum von der Sternen-reise; sie träumte sogar den Traum von einem neuen, künstlichen Men-schen. Diese Träume sind Zug um Zug in unserer Zeit in Erfüllung gegan-gen. Das himmlische Feuer des Prometheus wurde gebändigt in denAtomreaktoren, die Sternenreise wurde 1969 Realität mit der Landungamerikanischer Astronauten auf dem Mond. Das alles sind bereits signifi-kante Erscheinungen unserer Zeit. Wenn man dazu noch die modernsteEvolutionstechnik in den Blick nimmt, wird man sagen müssen: DerMensch steht im Begriff, sich selbst zu produzieren. Er hat aufgehört, einGeschöpf Gottes zu sein, und wird zunehmend zum Produzenten seinerselbst. Das ist selbstverständlich eine folgenreiche Veränderung der ganzenLage; und damit erhebt sich dann die von Ihnen gestellte Frage nach derSituation der Religion in unserer Zeit.

Es gibt einen hellsichtigen Interpreten dessen, was ich gesagt habe. Er istallerdings unter einem ganz anderen Aspekt bekannt, nämlich als Erfinderder Psychoanalyse: Es ist Sigmund Freud . Freud hat 1930 einen Essay über„Das Unbehagen in der Kultur“ veröffentlicht, in dem er die von mir ange-sprochenen Themen bereits behandelt und analysiert hat. Für ihn galt:„Wir leben in einer Stunde der Gottesfinsternis; denn Gott ist tot.“ Dasbezog sich zurück auf Friedrich Nietzsche , der diese Parole in seiner Para-bel vom „tollen Menschen“ in die Welt hinausgeschrieen und daraus diefür ihn entscheidende Konsequenz gezogen hatte. Durch den Tod Gotteswurden die Attribute der Allmacht, der Allwissenheit und Gerechtigkeit,die der Mensch in einem Akt der Selbstentäußerung an Gott abgetretenhatte, freigesetzt, so daß sie vom Menschen zurückgewonnen werden kön-nen. Mit Freud könnte man darauf hinweisen, daß das in der modernenHochtechnik tatsächlich geschieht. In der Raumfahrt gewinnt der heutigeMensch einen Anteil an göttlicher Allgegenwart, in der Nachrichtentech-nik an göttlicher Allwissenheit und in der Evolutionstechnik sogar an gött-lichem Schöpfertum. Dadurch wächst der Mensch dieser Zeit über sichhinaus, aber nur recht mühsam, da er sich an diese Eigenschaften wie einVersehrter an seine Prothesen erst gewöhnen muß. Freud spricht ironischdavon, daß der Mensch zu einem „Prothesengott“ geworden sei. Durchden Tod Gottes sind die göttlichen Eigenschaften freigesetzt worden. Ur-sprünglich, so sagt Freud im Anschluß an Ludwig Feuerbach, waren dasAttribute des Menschen. Der Mensch war seinem Anspruch nach allmäch-tig, allgegenwärtig, allgerecht. Das alles wurde an Gott abgetreten; durchden Tod Gottes sind diese Attribute jedoch in die Verfügungsgewalt desMenschen zurückgekommen, und dadurch wächst er über sich hinaus.

H:Zum besseren Verständnis Ihrer Analyse sollte man doch noch etwasgenauer sagen, was das Wort vom Tod Gottes meint. Ein Gott, der exi-stiert, kann nicht sterben, er kann nicht tot sein! Und ich denke, daß auch Friedrich Nietzsche nicht sagen wollte: Gott existiert nicht. Es geht nichtum die Existenz Gottes, sondern um die Frage seiner Bedeutsamkeit fürunsere Gesellschaft.

B:Diese Frage kann man ganz exakt beantworten, denn Friedrich Nietzsche hatte einen Freund, Franz Overbeck , der ihn übrigens nach sei-nem Zusammenbruch vor der Einlieferung in eine italienische Irrenanstaltbewahrte. Overbeck , der ihn wahrscheinlich besser kannte als irgendein an-derer, sagte: „In seinen zurechnungsfähigen Zeiten hat Nietzsche mit die-sem Wort niemals gemeint, daß Gott nicht existiert.“ Er wollte vielmehreine Aussage machen über die Rolle des Gottesglaubens in unserer Gesell-schaft und in unserem modernen Bewußtsein. In diesem modernen Be-wußtsein ist Gott gestorben.

H:Diese Erkenntnis wäre dann auch ein Argument dafür, daß die NeueTheologie in unserer Wirklichkeit durchaus einen Ansatzpunkt hat.

B:Ganz gewiß, das wird sogar eine vorzügliche Aufgabe der NeuenTheologie sein, den Menschen wieder den „Geschmack an Gott“ zu ver-mitteln, wie man im Anschluß an ein großes Wort von Friedrich Schleier- macher sagen könnte. Das ist zweifellos das Ziel. Aber ich denke, man mußzunächst einmal klären, wie es überhaupt zu diesem Ausverkauf des Reli-giösen in unserer Welt gekommen ist.

Dieser Vorgang hat eine lange Vorgeschichte, auf den der schon wieder-holt angesprochene Friedrich Nietzsche hingewiesen hat. Er hat gesagt:„Seit Kopernikus“ – und jedermann weiß, Kopernikus hat das neue, helio-zentrische Weltsystem ins Bewußtsein der Menschen gebracht – „seit Ko-pernikus geriet die Sache des Menschen auf eine schiefe Bahn.“ Gottwurde gleichsam an den Rand gedrängt. Und aus dieser MarginalisierungGottes, der an den Rand gedrängt war, wurde dann schließlich die Tot-Erklärung Gottes. So lief die Geschichte ab. Und selbstverständlich mußan dieser Stelle eingesetzt werden.

Wenn ich auf Ihre Anmerkung noch deutlicher eingehen darf, dannwürde ich sagen: Wir erleben in unserer Zeit eine merkwürdige Umschich-tung. Auch das gehört zur Physiognomie unserer Stunde. Sie ist nicht nureine Stunde, in der sich jene naturwissenschaftliche Wende vollzogen hat,von der vorhin die Rede war, sondern auch eine Stunde, in der sich dieSache des Menschen gewendet hat. Unlängst hat ein Soziologe behauptet:Der Konsumismus ist vorbei. Wir haben eine Zeit hinter uns, in der dieSache des Menschen verflacht und der Mensch in die Eindimensionalitätabgedrängt wurde. Aber aus diesem Zustand erwacht er, vielleicht wegender augenblicklichen, ökonomisch schwierigen Situation. Die Menschenwerden bekanntlich immer dann wach, wenn es ihnen schlecht geht. GuteZeiten sind nie gut für die Philosophie und für die Theologie. Notzeitenlehren nicht nur beten, sondern lehren auch denken. Und deswegen er-wacht bei uns ein neues Gefühl für die Konstanten des Lebens. An Geld, anLustgewinn kann man sich nicht festhalten; festhalten kann man sich nuran einem Faktor, der unverbrüchliche Sicherheit garantiert, und das istGott.

H:Ihre Aufgabe, Herr Kollege Biser, besteht dann darin, das Wissen umGott den Menschen unserer Zeit zu vermitteln und auf diese Weise die Ge-sellschaft von innen her neu zu gestalten – ein Prozeß, der gerade beimAufbau des neuen Europa von grundlegender Bedeutung sein kann.

B:Da bin ich ganz sicher, und das hat jener von mir vorhin erwähnteSoziologe auch in aller Deutlichkeit gesagt: Wir erleben den sehr hoff-nungsvollen Augenblick, in dem sich der Tod Gottes gleichsam zurückver-wandelt in eine neue Auferweckung Gottes in unserem Bewußtsein. Ichsagte vorhin: Tod Gottes, das ist keine Aussage über die Existenz Gottes,über die Frage, ob es überhaupt einen Gott gibt, ob er existiert. Nein, sosagte ich im Anschluß an Overbeck : Tod Gottes ist nur die Registrierungdes Sachverhalts, daß Gott in unserer Welt nicht mehr jene zentrale Rollespielt, die ihm von seiner ganzen Begrifflichkeit und Bedeutung her zu-kommen müßte; daß er gleichsam aus unserer Welt verdrängt worden ist.Doch wir erleben – und ich möchte das noch einmal mit Betonung sagendürfen – den außerordentlich hoffnungsreichen Augenblick, wo wir eineZurückverwandlung dieser Situation erfahren, und da müßte dann selbst-verständlich auch eine neue theologische Reflexion einsetzen, und eben-dies ist die Stunde der Neuen Theologie.

H:Das würde aber auch bedeuten, daß der ozeanische Atheismus, vondem Sie gelegentlich sprechen, seine große Zeit hinter sich hat. Damitzeichnet sich eine außerordentliche Aufgabe für Philosophie, Theologieund Christentum ab. Es ist unmittelbar einsichtig, daß eine Neue Theolo-gie von dieser Situation ausgehen muß. Durch die bloße Wiederholungder alten Sätze und Glaubensformeln lassen sich die anstehenden Proble-me nicht bewältigen!

B:Darauf kann man mit einem Nietzsche-Wort antworten. Nietzsche hat ja vor allem mit seinem Zarathustra Furore gemacht – es ist das be-kannteste seiner Werke. Dort gibt es das Gespräch zwischen Zarathustraund dem letzten Papst. Der letzte Papst – weil Gott tot ist – sagt: „Du bistfrömmer als du glaubst, mit einem solchen Unglauben. Irgendein Gott indir bekehrte dich zu deinem Unglauben.“ Das ist natürlich in einer nüch-ternen Sprache gesagt nichts anderes als die Feststellung: Der Gottesglaubekehrt zurück, Gott gewinnt wieder Bedeutung in unserem Denken. Unddas muß selbstverständlich theologisch aufgefangen und aufgearbeitetwerden; das ist die Sache der Neuen Theologie.

H:Das heißt also, diese Neue Theologie hat die Aufgabe, die zentraleFrage nach dem Sinn des menschlichen Daseins zu beantworten!

B:Das ist ganz klar, denn unlängst sagte jemand, der es wissen mußte– der Leiter einer demoskopischen Erhebung –, daß mit dem Gottesglau-ben auch die Sinnfrage im Schwinden begriffen sei. Ich habe das als eineim Grunde sehr hoffnungsvolle Diagnose empfunden, denn wir müssen,wenn wir das Gottesbewußtsein neu erwecken wollen, zunächst auch aufdie Frage nach dem Lebenssinn des Menschen eingehen und müssen nachMitteln und Wegen suchen, wie der Mensch zum Interesse an seinem Sinnzurückgeführt und wie ihm die Sinnfrage dann auch wirklich beantwortetwerden kann. Das alles ist Aufgabe der Neuen Theologie, und sie ist neu,weil die alte Theologie diese Frage so noch nicht gestellt hat und weil esein dringendes Gebot der Stunde ist, daß der Zusammenhang zwischenGottesglaube und menschlicher Sinnfrage neu entdeckt und neu auf denBegriff gebracht wird.

H:Ihre Analyse kommt zu dem nicht anfechtbaren Ergebnis, daß auchder heutige Mensch noch die Frage nach dem Sinn und damit nach Gottstellt.

Bevor wir aber in unser Gespräch über eine Theologie der Zukunft ein-treten können, muß ein Problem angesprochen und geklärt werden, dasfür jede „Theo-logie“, insofern sie „Rede von Gott“ sein will, von grundle-gender und vorentscheidender Bedeutung ist. Was soll unter dem Wort„Gott“ verstanden werden? Auf den ersten Blick scheint die Antwortselbstverständlich zu sein. Das Wort Gott gehört nicht nur im religiösenKontext zu unserem alltäglichen Sprachschatz – wenn auch in zunehmen-dem Maße in der Negation als „Gott-losigkeit“. In den entsprechendenÜbersetzungen kommt der Terminus in allen Kulturen vor. Man sollte also– gleich wie man dazu steht – wissen, wovon die Rede ist, wenn von Gottgesprochen wird. Bei genauerem Zusehen wird aber dieser Selbstverständ-lichkeit schnell der Boden entzogen. Gerade weil das Wort Gott überall be-gegnet, in philosophischen Entwürfen ebenso wie in religiösen Überzeu-gungen, muß erst gefragt werden, was jeweils darunter verstanden werdensoll.

Ganz allgemein stellt sich die Frage nach Gott im Horizont der Kontin-genzerfahrung. Der Mensch muß zur Kenntnis nehmen, daß die erfahr-bare Wirklichkeit – und das gilt auch für ihn selbst – endlich und vergäng-lich ist. Auf der Suche nach dem Grund dafür, daß Endliches überhauptexistiert, fordert das Denken eine unsere Welt übersteigende, transzenden-te Wirklichkeit. Diese transzendente Wirklichkeit wird üblicherweise mitdem Wort Gott belegt und dient als Welterklärung. Sie ist der alles begrün-dende, selbst aber grundlose Grund der Realität.

Im abendländischen Kulturkreis entspricht das in etwa der Weltaus-legung der griechischen Philosophie. Die Welt ist als ganze ewig, alles Ein-zelne ist kontingent. Das Göttliche, nicht ein personal zu verstehenderGott, ist der immanente Weltgrund als das „selbst unbewegte, alles anderebewegende Prinzip“, wie Aristoteles es formuliert. Und trotz einer relativenTranszendenz gehört dieses Prinzip letztlich zu dieser Welt.

Das christliche Verständnis von Gott unterscheidet sich davon radikal.Gott ist kein Prinzip, er unterliegt keiner Notwendigkeit, er hat sich viel-mehr in der Geschichte als handelndes Subjekt geoffenbart. In Freiheitund Souveränität hat er die Welt ins Dasein gesetzt und ist dadurch ineinen Dialog mit dem Menschen eingetreten. Der Mensch ist der zwarendliche, aber gleichwohl freie Dialogpartner Gottes. In diesen wenigenHinweisen deutet sich das Spezifikum und das zentrale Geheimnis deschristlichen Gottesverständnisses an, durch das es sich von allen Möglich-keiten, Gott zu denken, unterscheidet. Gott ist mehr als das denknotwen-dige Ergebnis menschlicher Reflexion, er ist kein Entwurf menschlicherErkenntnisbemühung. Er hat sich selbst – über diese durch menschlichesBemühen erreichbare und erreichte Einsicht hinaus – als Inbegriff derLiebe erschlossen.

Diese Selbstoffenbarung Gottes als die Liebe kann vom Menschen zwarnicht erschlossen, sie kann aber denkend nachvollzogen werden. Das ge-schieht in dem Versuch, den einen, lebendigen Gott als personalen Lebens-vollzug zu verstehen. Von diesem Ansatz her eröffnet sich ein Zugang zurTrinität. Das Verständnis Gottes als dreifaltiger ist für das Christentumgrundlegend und unverzichtbar. Zugleich ist die Trinitätslehre Anlaß, demChristentum vorzuwerfen, es erhebe zwar den Anspruch, eine mono-theistische Religion zu sein, lehre aber in Wirklichkeit drei Götter, vertretealso einen Tritheismus. Wenn man die Frage gar mit mathematischen Ka-tegorien angeht, kommt es schließlich zu der törichten These, das Chri-stentum mute seinen Gläubigen in sich Widersprüchliches zu, nämlicheins sei gleich drei.

Es zählt zweifellos zu den schwierigsten Anforderungen, vor die sichchristliche Theologie gestellt sieht, die Lehre von der Dreifaltigkeit wider-spruchsfrei zu vermitteln. Bei einem solchen Versuch muß als erstes in Er-innerung gerufen werden, daß Gott grundsätzlich, auch in seiner Selbst-erschließung in Jesus Christus, nicht begriffen werden kann. Daß Gott un-begreiflich ist, ist nach Thomas von Aquin das Höchste menschlicherGotteserkenntnis. Diese Einsicht hat jedoch nicht zur Folge, daß wir vonGott überhaupt nicht reden könnten, daß also der Agnostizismus unver-meidlich sei. Um das Sprechen von Gott zu ermöglichen, bedient man sichder Methode der Analogie. Das besagt, daß wir unsere zwischenmensch-lichen und innerweltlichen Erfahrungen als Modell benutzen, um in un-eigentlicher Weise – trotz seiner grundsätzlichen Unbegreiflichlichkeit –von Gott zu sprechen. Die Unähnlichkeit ist bei analogen Begriffen oderSätzen immer größer als die Ähnlichkeit. Von diesem Ansatz her läßt sichdie Rede vom dreifaltigen Gott rechtfertigen, ohne dadurch der Gefahr zuerliegen, einen „begriffenen“ Gott zu entwerfen.

Wenn sich Gott also selbst als die Liebe kundtut, dann kann er nicht alsstatische und isolierte Wirklichkeit gedacht werden. Liebe ist ein Gesche-hen zwischen Personen, deshalb muß der eine Gott personal strukturiertgedacht werden. Die Wesenselemente des Personseins – Erkenntnis, Frei-heit, Dialogfähigkeit – müssen analog auch von Gott ausgesagt werdenkönnen. Die Begrenzungen, die mit dem menschlichen Personbegriff ver-bunden sind, wie Vereinzelung, Abgeschlossenheit und anderes mehr,müssen ausdrücklich ausgeschlossen werden, wenn man nicht doch demMißverständnis des Tritheismus verfallen will.

Diese hinführenden Überlegungen ermöglichen es, das trinitarischeGrundbekenntnis – „ein Gott in drei Personen“ – widerspruchsfrei zudenken und dem Verständnis auf analoge Weise nahezubringen. Die Naturdes einen Gottes ist die Liebe. Liebe aber ist wesentlich, nicht nur akziden-tell, personales Bezogensein. Weil Gott und Liebe austauschbare „Begriffe“oder genauer: eine identische Wirklichkeit sind, ist es das Wesen Gottes, inzwischenpersonaler Bezogenheit zu existieren, ohne daß dadurch das einegöttliche Wesen vervielfältigt würde. Ursprünglich ist also Dreieinigkeitein innergöttliches Geschehen. Der eine Gott ist Vater in personaler Rela-tion zum Sohn als dem Logos, dem Wort; das Wort in Gott ist Person inBezug auf den Vater. Der Geist schließlich ist die personhafte Relation zwi-schen Vater und Sohn.

Die Einsicht in das dreipersonale Wesen des einen Gottes, die aus derErfahrung des in der Geschichte handelnden Gottes gewonnen wurde, istdie Möglichkeitsbedingung für Schöpfung und Erlösung. Als Vater ist Gottder Schöpfer und Herr der Welt und der Geschichte. Durch den Sohnrichtet er sein Wort an den Menschen und teilt sich selbst dem Menschenmit. Heiliger Geist schließlich ist Gott, insofern er in seiner schöpferischenund erlösenden Gegenwart dem Menschen nahe ist.

B:Damit ist in groben, aber verständlichen Zügen umrissen, was dasWort „Gott“ im spezifisch christlichen Verständnis bedeutet. Und diesesVerständnis liegt natürlich auch der Neuen Theologie zugrunde. 2. Alte und Neue Theologie

H:Herr Kollege Biser, wir sprechen über Ihre Neue Theologie. Schonallein die Aussage „Neue Theologie“ wirft die Frage auf: Wie steht es mitder alten Theologie? Das Christentum ist etwa 2000 Jahre alt, und von An-fang an wurde Theologie betrieben im Sinne der Reflexion auf die Ereig-nisse um Jesus Christus. Es gibt große Theologen – ich denke an Augusti- nus, Thomas von Aquin, Bonaventura, Martin Luther und viele andere bisin unsere Gegenwart hinein –, und man muß fragen: Was soll jetzt nochNeues kommen? Die Kirche hat ihre Glaubenssätze in den Dogmen festund klar definiert. Gibt es in dem Sinn eine Neue Theologie, daß sie eineAlternative zu der alten Theologie wäre oder soll es eine Fortführung deralten Theologie sein oder soll es ein Neuansatz sein, wie er, gleich aus wel-chen Gründen, in diesen 2000 Jahren noch nicht oder doch nicht deutlichgenug herausgestellt wurde?

B:Das ist eine Frage, die ich mir selbst schon oft gestellt habe. Sinddenn im Grunde nicht schon alle theologischen Fragen längstens disku-tiert worden? Hat die alte Theologie nicht alle Probleme, vor die sie sichgestellt sah, längst schon gelöst? Ist nicht das theologische Geschäft läng-stens unter Dach und Fach gebracht? Aber die letzte, von Ihnen angespro-chene Möglichkeit hat mich auf die Spur gebracht. Eine Neue Theologieist nach meiner Überzeugung unumgänglich, weil die alte, ungeachtetihrer großartigen Leistungen, an drei Defiziten krankt. Sie hat, um IhrenGedanken aufzunehmen, die Botschaft Jesu in ein lehrhaftes System ge-bracht. Jesus aber ist mit zwei suggestiven Antworten aufgetreten: „Feuerauf die Erde zu werfen, bin ich gekommen, und was will ich anderes, alsdaß es brenne.“ Und dann die Warnung: „Neuen Wein darf man nicht inalte Schläuche gießen; sonst zerreißt der Wein die Schläuche und beide,Wein und Schläuche, sind verloren.“ Doch genau das hat die alte Theolo-gie getan. Das ist kein Vorwurf, sondern ein geistesgeschichtliches Faktum,denn beim Siegeszug des Christentums durch die antike Welt ging esdarum, das Evangelium den Menschen der griechisch-römischen Welt na-hezubringen. Nach Lage der Dinge konnte das nur in den platonisch-ari-stotelischen Denkformen geschehen. Darin sah sich die frühe Theologiedurch einen frappierenden Gleichklang bestätigt, denn am Anfang des Jo-hannesevangeliums steht der Satz: „Im Anfang war das Wort, der Logos.“Logos ist aber schon bei Heraklit das Schlüsselwort der griechischen Philo-sophie. Was lag da näher, als den Wein des Evangeliums in die Gefäße dergriechischen Denkformen zu gießen?

Bevor wir aber darauf zurückkommen, möchte ich noch auf zwei weite-re Gesichtspunkte hinweisen. Befangen in einer Welt von Angst, Haß undGewalt, hat die alte Theologie trotz erstaunlicher Lichtblicke nie völlig mitdem von Jesus entdeckten Gott der bedingungslosen Liebe, der nach demZentralwort der lukanischen Bergpredigt seine Güte sogar den Undank-baren und Bösen erweist, gleichgezogen. Dieser Rückstand muß heute un-bedingt aufgeholt werden – das Hauptziel der Neuen Theologie. Dazukommt ein Drittes. Obwohl Jesus geradezu in der Zuwendung zu denMenschen und insbesondere zu den gesellschaftlich Mißachteten und Ge-ächteten lebte und obwohl Paulus die Gotteskindschaft denkbar leuchtendals menschliches Hochziel herausgestellt hatte, trat dieses Motiv in derFolge in den Hintergrund, womöglich deshalb, weil das griechische Den-ken den Menschen, wie Sie stets betonen, nur als Exemplar, nicht jedochals Person im Auge hatte. Das alles aber hatte damit zu tun, daß die Bot-schaft im Sinn der griechischen Denkweise instrumentalisiert, daß also derneue Wein des Evangeliums in alte, vorgegebene Gefäße gegossen wordenwar.

H:Das trifft sicher zu; es blieb aber keine andere Wahl. Man kannimmer nur in den Kategorien denken, welche die jeweilige Epoche zur Ver-fügung stellt. Das waren damals die Kategorien der griechischen Philoso-phie. Der entscheidende Unterschied zur Denkweise des Evangeliums liegtdarin: Griechische Metaphysik fragt nach dem Wesen, nach dem Bleiben-den im stetigen Wandel der Dinge. Sie ist ein in sich geschlossenes, stati-sches System, in dem Geschichte keine Bedeutung hat. Dem entspricht dieTatsache, daß der einzelne Mensch als Exemplar der Art verstanden wirdund für sich genommen keinen Eigenwert besitzt. Das Allgemeine stehtimmer höher als das Einzelne und der Einzelne. Demgegenüber ist dasChristentum von seinem Ursprung her eine geschichtliche Größe undkann deshalb nur in geschichtlichen Kategorien angemessen zur Sprachegebracht werden. Nicht Notwendigkeit und Determination sind die christ-lichen Grundbegriffe, sondern Einmaligkeit, Personalität und Freiheit.Diese beiden Weltauslegungen, die griechische und die jüdisch-christ-liche, sind letztlich unvereinbar. Die damit verbundenen Probleme konn-ten von den Theologen der christlichen Frühzeit nicht mit der Klarheitgesehen werden, die uns aus der Distanz möglich ist. So kam es in der klas-sischen Theologie der Vergangenheit zu Akzentverlagerungen und Fehl-entwicklungen, die dringend der Korrektur bedürfen. Mit Ihrem theo-logischen Neuansatz leisten Sie dazu einen kaum zu überschätzendenBeitrag.

B:Das ist jedenfalls meine Absicht. Die im Judentum bereits vorweg-genommene Großleistung des Christentums besteht darin, daß es mit demzyklischen Weltbild der Antike gebrochen hat. In der Antike gab es nur daseine Große, den Kosmos, der gleichzeitig göttlich war und der sich, soferner sich im Weltsystem spiegelte, in der ewigen Wiederkehr des Gleichendargestellt hat. Das Christentum – basierend, wie gesagt, auf dem Juden-tum – hat dieses zyklische Modell aufgebrochen und hat ein lineares Mo-dell an die Stelle gesetzt: Jetzt hat die Welt ein Ziel, jetzt hat die Welt eineGeschichte, jetzt durchläuft sie eine Entwicklung. Deshalb sind jetzt natür-lich ganz andere Kategorien erforderlich, um das Spezifikum der BotschaftJesu auszudrücken.

An dieser Stelle nun eine zweite Feststellung: Die traditionelle Theologiewar eine weitgehend abstrakte Theologie. Das ist wiederum kein Vorwurf,denn sie stand ja in heftiger Konkurrenz mit der Philosophie und mit denaufkommenden Wissenschaften. Im Bereich der Universität entstand dasProblem der Rangfolge der Fakultäten. Wenn die Theologie die ihr ur-sprünglich zugesprochene Spitzenstellung bewahren wollte, konnte sie garnicht anders als konkurrieren. Um darin erfolgreich zu sein, hat sie drei es-sentielle Komponenten, man könnte sogar sagen: ganze Dimensionen ab-gestoßen. Zunächst einmal die bildhafte: Jesus hat ja seine Botschaft in Bil-dern und Gleichnissen vorgetragen; doch mit Bildern konnte man nichtargumentieren. Deshalb hat man die Bilder über Bord geworfen. Dannaber auch die therapeutische Komponente: Jesus hat seine Botschaft da-durch kommentiert, daß er Blinden das Augenlicht, Gichtbrüchigen dieGehfähigkeit und Aussätzigen die Heilung geschenkt hat. Dieser therapeu-tische Bezug ist ebenfalls abgestoßen worden. Schließlich geht es um diesoziale Komponente. Wie Sie ganz richtig gesagt haben, ist das Christen-tum die Religion des zum personalen Selbstsein gelangten Menschen. Aberer ist natürlich Mensch in der Gemeinschaft der anderen, der seine Per-sonalität bis in die Sprache und Liebesbeziehung hinein nur im Bezug zuanderen ausgestalten kann. Deswegen ist das Soziale ein integrales Ele-ment der christlichen Botschaft. Doch das Soziale wurde ebenfalls abgesto-ßen.

Sie haben vorhin Bezug genommen auf einige große Namen. Demge-mäß wird die Theologie immer nach Individuen benannt, nach Thomas von Aquin , nach Bonaventura , nach Karl Rahner , nach Rudolf Bultmann ,nach Romano Guardini ; sie ist ganz individualistisch geworden, hat jedochauf diese Weise den großen Vorteil erlangt, konkurrenzfähig geworden zusein mit den Wissenschaften und der Philosophie.

H:Zusammenfassend könnte man sagen: Aufgrund der äußeren ge-schichtlichen Bedingungen wurde das Christentum als eine geschichtlicheReligion auf den statischen Begriff gebracht und damit im Prinzip in sei-ner Weltwirksamkeit gelähmt. Mit anderen Worten: Ihre Neue Theologiehat die Aufgabe und die Absicht, vom theoretischen System, in das dieWirklichkeit des Christentum gegossen wurde, wieder zurückzukehren zurLebenswirklichkeit. Und das ist wohl das, was Sie vorhin meinten mit demRückgang zur Mitte; von hier aus muß dann die Theologie neu konzipiertwerden.

B:Besser hätte ich es auch nicht sagen können, denn ich habe schoneinmal erwähnt: Die Mitte will Lebensmitte des Menschen werden. Unddas ist sie eben in der traditionellen Darstellung so nicht geworden. Nach-dem Sie jetzt nochmals auf den Systemcharakter von Philosophie undTheologie Bezug genommen haben, muß ich das noch einmal verschärfenund unterbauen.

Ich versuche das im Rückgriff auf den großen Denker, Dichter und Theo-logen Sören Kierkegaard, der wiederholt Kritik an den philosophischenund theologischen Systemen geübt hat. Er verglich den Systemdenker mitdem Architekten eines großen hochgewölbten Palastes, der es nur ver-säumte, sich darin eine Wohnung einzurichten und deshalb genötigt ist,nebenan in einer Scheune, wenn nicht gar in einer Hundehütte zu hausen.Danach war die Systemtheologie ein Gedankengebäude, aber kein Lebens-raum, in dem der Mensch eine Unterkunft, Geborgenheit und Hilfe in sei-nen Problemen und Nöten gefunden hat. Deshalb hat die Neue Theologiein allererster Linie die Aufgabe, eine Theologie für den Menschen zu sein.

H:Und genau an diesem Punkt setzen Sie ja ein, indem Sie mit derExistenzanalyse beginnen, um dann aufgrund dieser Existenzanalyse dieOffenbarung als Antwort auf die damit aufgeworfenen Fragen zu verste-hen und zu interpretieren.

B:Das ist selbstverständlich ein Grundanliegen der ganzen Unterneh-mung. Es muß gezeigt werden, wie der Mensch von Haus aus offen ist aufetwas Größeres als das, was ihm die Gesellschaft anbietet. Die Gesellschaftist ja im Grunde eine Vergewaltigung des Menschen. Sie ist in unserer ZeitKonsum- und Leistungsgesellschaft, das zeigt sich vor allen Dingen amUnglück derjenigen, die weder zu dem einen noch zu dem anderen beitra-gen, die also weder produzieren noch konsumieren können.

Mir hat einmal ein großer Münchener Arzt gesagt: Es ist uns in der me-dizinischen Forschung gelungen, alle akuten Krankheiten zu verbannen,aber der chronischen Krankheiten werden wir nicht Herr. Das aber heißt,daß der chronisch Kranke der eigentlich Leidtragende der heutigen Gesell-schaft ist, denn nach dem Verbrauch seiner Geldmittel kann er nicht mehrkaufen und konsumieren. Und aufgrund seines Zustands ist er außerstan-de, berufliche Leistungen zu erbringen. Da ihm beides verwehrt ist, mußer sich als ein nutzloses, wenn nicht gar sinnloses Glied der menschlichenGesellschaft vorkommen. Doch dabei darf es keinesfalls bleiben!

Vielmehr muß der Mensch wieder in seiner Totalität in den Blick ge-nommen werden, auch der leidende Mensch. Gerade den leidenden Men-schen muß gezeigt werden, daß Leiden nicht nur eine Katastrophe ist – soschmerzlich sich das im einzelnen darstellt –, sondern auch eine großeChance. Es gibt einen Denker aus der Frühzeit des Christentums, Diony- sius Areopagita , der gesagt hat: „Gott wird noch mehr durch Leiden alsdurch Forschen erkannt.“ In diesem Zusammenhang müßte man den lei-denden Menschen sagen: Leiden hat Sinn. Darin bestünde dann die Hilfe,die ihnen eine Neue Theologie bieten kann.

H:Damit sind Probleme angesprochen, auf die wir in den späteren Ge-sprächen noch einmal ausführlicher zurückkommen müssen.

H:Herr Kollege Biser, die traditionelle Theologie des Abendlandeszeichnet sich durch eine saubere, durchkonstruierte Systematik aus. Nunhat aber jede Systematik innere Konsequenzen, und dazu gehört eine ge-wisse Zwanghaftigkeit: Im System kann ein Mensch nicht er selbst sein.Und ich denke, daß auch in dieser Hinsicht die alte Theologie zu manchenErgebnissen geführt hat, die heute dringend der Neuauslegung bedürfen.

B:Ja, Herr Heinzmann, Ihre Bemerkung erinnert mich an einen Buch-titel: „Dogma als Zwangsidee“. Da kommt ja genau das zum Ausdruck,und das bringt mich auf die Idee, die Neue Theologie noch unter einemganz anderen Gesichtspunkt darzustellen. Die alte Theologie, der wir jakeine Vorwürfe machen, sondern die wir zu verstehen suchen, um dieNotwendigkeit einer Alternative herauszustellen, stand im Bann einerDenkweise, die durchaus mit dem zu tun hat, was dieser Titel „Dogma alsZwangsidee“ zum Ausdruck bringt. Derjenige, der hier eine verhängnis-volle Weichenstellung herbeigeführt hat, war einer der größten Denker derChristenheit: Augustinus . Augustinus war zwar der Meinung, daß man dieBesseren – wie er sich ausgedrückt hat – durch Überzeugung zum Chri-stentum führen könne, doch die meisten würden durch Angst und Nöti-gung zum Christentum gebracht. In diesem Zusammenhang ist ihm einezusätzliche Fehlleistung unterlaufen. Entgegen dem alten Grundsatz, daßaus Bildaussagen keine Direktiven abgeleitet werden können, hat er derAufforderung des Herrn im Gleichnis vom großen Gastmahl, „compelleintrare – nötige sie, einzutreten“, die Rechtfertigung der Gewalt gegenüberDissidenten und Abtrünnigen entnommen. Das haben sich die nachfol-genden Generationen nicht zweimal sagen lassen; es kam zu Ketzerverfol-gungen, es kam zu den Albigenserkriegen, es kam zur Inquisition. Solangeaber auf diese Weise Gewalt geübt oder auch nur billigend hingenommenwurde, war eine Art Schleier über das Evangelium gezogen, denn Gewaltist das diametral entgegengesetzte Prinzip zu dem, was Jesus gewollt undgetan hat.

Vielleicht muß ich nochmals kurz auf die Lebenssituation Jesu zurück-blenden: Jesus stand vor einer äußerst schwierigen politischen Situation.Die Mehrheit seines Volkes wollte aufgrund der schrecklichen Behand-lung durch die Römer den Befreiungskrieg gegen Rom; Jesus aber wußte:Wenn dieser Krieg stattfindet, wird kein Stein auf dem anderen bleiben.Deswegen wollte er unter allen Umständen das Volk vor dieser Katastro-phe bewahren. Er konnte es nur, indem er das Prinzip der absoluten Ge-waltlosigkeit proklamierte und den Menschen nahezubringen suchte. Erist daran gescheitert.

H:Darf ich noch ein kleines, korrigierendes Wort zu Augustinus hinzu-fügen: Augustinus hat lange gelebt und hat viele Stadien auf seinem Le-bensweg durchlaufen. Die Position, die Sie angesprochen haben, betrifftden späten Augustinus. Der frühe und der mittlere Augustinus hatte ande-res zu sagen als der späte, der maßgeblich wurde für die künftige Ge-schichte der Kirche. In seinem Spätwerk sind meiner Meinung nach zweizentrale christliche Elemente verlorengegangen. Das ist einmal die Würdeder Person – daß Glaube immer ein Akt personaler Freiheit sein muß –und zum anderen, daß das Heil Gottes unverfügbar ist, daß es nicht identi-fiziert werden darf mit der geschichtlichen Größe der Kirche.

B:Das war eine sehr wichtige Korrektur, denn selbstverständlich solltedurch das, was ich gesagt habe, die Größe Augustins nicht geschmälertwerden. Er hat die „Bekenntnisse“ geschrieben, das erste ganz große auto-biographische Buch, das überhaupt nur in der Tradition der Sprach-leistungen Jesu und des Apostels Paulus zustande kommen konnte. In die-sen Bekenntnissen stehen Worte von einer wahrhaft überwältigendenSchönheit, angefangen vom Ausgangssatz „Unruhig ist unser Herz, bis esRuhe gefunden hat in Dir“ bis hin zu dem Ausruf „Spät habe ich dich ge-liebt, du ewig alte und ewig neue Schönheit, spät habe ich dich geliebt!“ –wie gesagt, Augustinus soll in seiner Größe nicht geschmälert werden. Aberes gehört zur Tragik seiner Lebensgeschichte, daß er von diesen Einsichtenabgerückt ist und unter dem Eindruck einer Lebenskrise, über die wirkeine näheren Auskünfte haben, diese verhängnisvolle Weichenstellung fürdie spätere Kirchengeschichte verursachte. Dem setze ich nun die Theseentgegen, daß der durch die Gewalt in ihren unterschiedlichen Formenüber das Evangelium gelegte Schleier endlich entfernt und der Blick aufseine Mitte dadurch freigegeben werden muß. Grundsätzlich geschah dasdurch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965), das sich, wegweisendfür die ganze Menschheit, zu der Erkenntnis erhob, daß Konflikte politi-scher, sozialer und religiöser Art niemals mehr mit den Instrumentariender Gewalt, sondern nur noch auf dem Weg des Dialogs ausgetragen wer-den können. Darin besteht zweifellos eine der größten Leistungen der Kir-chengeschichte, denn damit hat sich die Kirche grundsätzlich von der Ge-walttradition verabschiedet. Dadurch fiel der verdunkelnde Schleier vomEvangelium ab und dadurch entstand die Chance, zur Mitte des Evange-liums vorzudringen und seines Zentrums ansichtig zu werden. Darumbemüht sich die Neue Theologie.

H:Und dieser Kernansatz führt natürlich in vielfältigen Brechungendurch das ganze Gelände der Theologie. Wo sehen Sie den wichtigstenPunkt, den Sie dabei angehen wollen?

B:Der allerwichtigste Punkt ist die Neuentdeckung Jesu. Das ist fürmich die eigentliche Mitte des Christentums. Es muß uns doch einmal klarwerden, daß jede Religion ihr Existenzrecht einzig und allein von ihrereigenen und spezifischen Schau des Gottesgeheimnisses herleitet. Das istder Grund, um dessentwillen Religion überhaupt möglich ist, und das istdann auch das Recht und das Privileg jeder einzelnen Religion. Nun stelltsich die Frage: Worin besteht das Proprium, also die spezifische Gottes-sicht des Christentums? Ist es derselbe Gott, wie ihn der Buddhismus we-nigstens in Frage stellt, wie ihn Judentum und Islam meinen, oder ist esein neuer Gott? Ich muß allerdings diese meine Bemerkung sofort voreinem Mißverständnis schützen: Selbstverständlich gibt es nur einen ein-zigen Gott, und selbstverständlich verehren im Grunde alle Religionendiesen Gott, aber es macht nach meiner Überzeugung einen elementarenUnterschied, wie dieser Gott gesehen wird, ob er so gesehen wird wie inallen anderen Weltreligionen. Dort ist Gott stets ein ambivalenter, ein zwi-schen Güte und Härte, zwischen Liebe und Zorn oszillierender Gott, beidem man nie weiß, ob er, wenn er mir seine gütige Seite zuwendet, michnicht doch wieder mit seiner Strafgerechtigkeit bedroht und ins Gerichtzieht. Dieser Gott ist von Jesus überwunden worden, und es wird eine Auf-gabe der Neuen Theologie sein, das endlich mit aller Deutlichkeit und vorallen Dingen, wie Sie ja mit Recht angemerkt haben, mit allen Konsequen-zen ans Licht zu bringen.

H:Genau dieser Gedanke ist aber einer der großen Angriffspunkte vonseiten verschiedener Fachkollegen. Sie sind der Meinung, das Gottesbildwürde dadurch relativiert, es würde beliebig; die Menschen könnten tun,was sie wollen, es gäbe überhaupt keinen Anspruch mehr. Was würden Siedarauf erwidern?

B:Das ist ein Kummer, den ich mit Ihnen teile, lieber Herr Heinz-mann, denn ich höre, daß es eine ganze Theologengruppe gegeben hat, diesich tagelang mit der sogenannten Dunkelseite Gottes befaßt hat, und daßein Buch erschien, wonach – wie es im Titel heißt – das ungeliebte Themades Zornes Gottes wieder ins Bewußtsein gehoben werden muß. Es gibtdemnach eine breite Tendenz in der heutigen Theologie, daß endlich wie-der der Gott der Strafe, der Gott des Gerichtes, der Gott des Zornes ins Be-wußtsein gehoben werden müsse, weil nur er von den Menschen ernstge-nommen werde. Was das rückbezüglich auf das Menschenbild bedeutet,das haben diese Kollegen ja wohl nie bedacht. Aber mir ist dabei nochetwas ganz anderes aufgefallen. Genau das, was diese Theologen heute ver-treten, steht im „Antichrist“ von Friedrich Nietzsche . Zu Beginn dieser ag-gressivsten seiner Schriften fragt dieser: „Was wäre ein Gott, der nicht Haß,Zorn und Rache kennte? Man könnte ihn auf sich beruhen lassen und ver-gessen.“ Die Theologen, die diese Position vertreten, laufen somit ah-nungslos in die längst von Nietzsche aufgestellte Falle. Das ist doch wohleine ganz bedenkliche Entwicklung. Und bedenklicher erscheint es mirnoch, daß es sich dabei um den Rücksturz in das vorjesuanische Gottes-bild handelt.

H:Aber trotzdem ist zu fragen: Haben solche Kollegen nicht genügendAnhaltspunkte im Alten Testament, sogar im Neuen Testament, auf die siesich beziehen können. Wie muß das Neue Testament verstanden werden,wenn all jene Stellen, die ähnlich klingen, in die richtige Perspektive kom-men sollen?

B:Darauf gibt es eine ganz grundsätzliche Antwort: Die eigentliche Of-fenbarung des Christentums besteht nicht im Neuen Testament, sondernbesteht in dem, um dessentwillen das Neue Testament überhaupt entstan-den ist, und das ist Christus, der Sohn Gottes, der, nach einem Wort desJohannesevangeliums, vom Herzen Gottes gekommen ist, um uns unkun-digen Menschen die Kunde von Gott zu bringen und uns über Gott aufzu-klären. Wenn er vom Herzen Gottes kommt, kommt er vom Quellgrundder Liebe, und wenn er gesandt wird, um uns zu belehren, ist das ein Aktder Liebe. Wer mit einem anderen spricht, tut es ja eigentlich aus einemImpuls der Zuwendung und der Liebe heraus. Und das heißt, aus diesenzwei Gründen konnte Jesus nur eine Liebesbotschaft vorgetragen haben.Das Neue Testament ist nur der Niederschlag seiner Botschaft, ist das Er-gebnis der Rezeption, das Ergebnis des Verstandenwerdens oder auch desMißverständnisses. Und es ist jedermann, der sich mit neutestamentlichenFragen beschäftigt, klar, daß die Urkirche auch Gelegenheit genommenhat, ihre eigenen Meinungen Jesus in den Mund zu legen. Deshalb mußdie Mitte des Evangeliums wiedergewonnen und zum Leuchten gebrachtwerden.

H:Diese Überlegungen, Herr Kollege Biser, münden offenbar in eineIhrer zentralen Thesen über das Christentum, nämlich daß das Christen-tum keine primäre Schriftreligion ist. Darüber soll dann in der nächstenSendung gesprochen werden.

H:Nach dem Verständnis der klassischen, traditionellen Theologie istdas Neue Testament das normative Grunddokument des Christentums. Essei unter dem Einfluss des Geistes Gottes entstanden und deshalb irrtums-frei. Wie läßt sich dieser Sachverhalt mit ihrer These, Herr Kollege Biser,das Christentum sei eine sekundäre Schriftreligion, vereinbaren? Wirddamit nicht die Schrift zur Zweitrangigkeit degradiert?

B:In gewisser Hinsicht, ja! Aber das hat natürlich einen ganz konkre-ten Hintergrund, denn die Schriften der großen Religionen haben ganzunterschiedliche Bedeutung. Es gibt primäre Schriftreligionen, wie bei-spielsweise den Islam oder auch das Mormonentum. Davon muß dasChristentum abgegrenzt werden, und das aus Gründen, die wir im weite-ren Gespräch sicher noch klären werden.

Zunächst klingt das Ganze komplizierter als es ist. Es soll mit dieserThese ja nur zum Ausdruck gebracht werden, daß das Christentum erstnachträglich zu einer Schriftreligion geworden ist; denn Jesus hat ja be-kanntlich selber weder geschrieben noch irgendjemandem den Auftrag ge-geben, seine Lehren und Weisungen aufzuzeichnen. Es muß also gezeigtwerden, wie das Christentum trotz dieses anderen Verhaltens Jesu danndoch eine Heilige Schrift hervorgebracht hat.

Das hatte mehrere Gründe: Zunächst einmal gab es eine Heilige Schrift,die auch von den Christen benutzt wurde; das war das Alte Testament.Zum zweiten war das Christentum in den Kulturkreis der griechisch-rö-mischen Literatur eingebettet, der ganz hervorragende Schriftwerke her-vorgebracht hatte; es war sozusagen eine orale Insel in einer schriftlichenWelt. Das drängte von Haus aus darauf, daß ein Ausgleich herbeigeführtwurde.

Aber es kamen noch ganz andere Dinge hinzu, auf die Martin Luther hingewiesen hat. Er sagte: „Der Not gehorchend sind Bücher geschriebenworden.“ Das war „ein großer Abbruch“ – wie er sich ausdrückt – und „einGebrechen des Geistes“, denn das Evangelium ist von Haus aus mündlicheVerkündigung, keine schriftliche Dokumentation. Das steht im krassenGegensatz zu Islam und Mormonentum. Nach der islamischen Legendeerscheint der Erzengel Gabriel dem Muhammed mit einem seidenen Tuchin der Hand, über und über beschrieben mit heiligen Zeichen – es ist derhimmlische Koran. Und er preßt ihm dieses Tuch auf das Gesicht und be-fiehlt ihm zu lesen. Muhammed gesteht: Ich kann nicht lesen; er drücktnoch stärker und das dritte Mal befiehlt er ihm im Namen des barmherzi-gen und allmächtigen Gottes zu lesen; und auf einmal kann er lesen. Nacheiner anderen Tradition diktiert der Erzengel Muhammed den Text, derihn alsdann niederschreiben läßt. So entsteht der Koran als primäre Schrift-religion. Joseph Smith, der Begründer des Mormonentums, bekommtdurch den Engel Mormon die goldenen Platten mit der Aufzeichnung desHeiligen Buches. Auch das ist der Fall einer primären Schriftreligion. DasChristentum ist es erst in sekundär-nachträglicher Weise geworden.

Wenn wir jetzt noch einmal zurückblenden dürfen auf das Lutherwortvon der Not, die zur Abfassung der neutestamentlichen Schriften führte,so stellt sich die Frage: Worin bestand diese Not? Sie bestand zunächst ein-mal im Wegsterben der Augenzeugen, welche die Botschaft Jesu aus sei-nem Mund übernommen hatten. Sie konnten nicht mehr befragt werden.Um das Ganze gegen Irrtum, Verfälschung und Verlust zu sichern, mußtees deshalb dokumentiert werden. Aber dann gab es noch eine zweite Not,das war das machtvoll expandierende Missionsfeld des Apostels Paulus.Paulus konnte beim Auftreten von Schwierigkeiten nicht sofort zu deneinzelnen Gemeinden reisen. Statt dessen benutzte er das damals mo-dernste Medium schriftlicher Kommunikation und schrieb ihnen einenBrief. Und aus dem Grundstock der Paulusbriefe entwickelte sich dann dasNeue Testament als Urkunde einer sekundären Schriftreligion.

H:Damit ist natürlich über den Charakter dieser Schrift Entscheiden-des ausgesagt, das heißt, die gängige Redensart, das Neue Testament sei dasWort Gottes – in der Liturgie hören wir das ständig –, kann so wohl nichtrichtig sein! Es muß also, wie Sie an anderer Stelle gesagt haben, vonChristus her gelesen werden, nur dann kommt es zu seiner eigentlichenAussage. Das aber hat wiederum eine praktische Konsequenz: Kann dereinfache Christ ohne irgendeine Anleitung das Neue Testament lesen?

B:Er kann es; er muß sich nur einmal vergegenwärtigen, worauf dasNeue Testament zurückgeht. Es geht zurück auf Jesus Christus, der nachchristlichem Verständnis der Gesandte Gottes war, sogar der menschge-wordene Gott, der am Herzen der Vaters die Kunde vernommen und siean die Menschen weitergegeben hat. Das Neue Testament ist nach meinemVerständnis die authentische Dokumentation dieser Botschaft. Das heißt,in diesen Schriften, und nur in ihnen, liegt die Authentizität der Botschaftvor. Das heißt aber nicht, daß sich darin nicht auch menschliche Implika-tionen finden. Die Botschaft konnte ja nur so aufgeschrieben werden, wiesie verstanden worden ist, und es gibt nirgendwo eine Garantie dafür, daßsich in dieses Verständnis der Urkirche nicht auch Mißverständnisse einge-schlichen haben. Im Gegenteil: Im Evangelium beklagt sich Jesus oft undoft über das unzulängliche Verständnis seiner Jünger. Wenn das aber amgrünen Holz geschah, wie sollte es dann am dürren Holz der nachfolgen-den Generation besser werden?

Und deswegen meine Idee für den einfachen Bibelleser: Er muß Jesus alsleibhaftigen Schlüssel an jeden Satz des Neue Testaments herantragen. Dasist das von Gott selbst gegebene Korrektiv, das ist wissenschaftlich ausge-drückt das originäre Interpretament. Wenn das geschieht, dann erlebt derBibelleser ein kleines Wunder: Stellen, die ihn irritiert haben, Stellen, dieihn bedroht haben, Stellen, die ihn in Angst und Schrecken versetzt haben,verblassen, aber andere Stellen, über die er hinweggelesen hat, die ihm fastbedeutungslos erschienen, beginnen plötzlich zu leuchten. Und er begreiftsie als die zentralen Aussagen der Botschaft Jesu. Ich möchte das an einemBeispiel erläutern. Der bereits erwähnte dänische Existenzdenker Kierke- gaard las am Sockel der Christusstatue in der Frauenkirche von Kopen-hagen das Wort: „Kommt her zu mir, ihr Mühseligen und Beladenen; ichwill euch aufrichten.“ Obwohl er im Zweifel war, ob es sich dabei um einoriginäres Jesuswort handelt, war er doch davon überzeugt, daß Jesus mitder stillen Beredsamkeit seines Lebens und Verhaltens nie etwas deutlicherzum Ausdruck brachte als dieses Wort. Und er baute darauf sein großarti-ges Jesusbuch auf, die „Einübung im Christentum“.

H:Das bedeutet aber, daß der Anspruch von der Irrtumsfreiheit nurunter diesem Aspekt gesehen werden darf. Und damit scheint mir auchjeder Versuch, einen Schriftfundamentalismus zu begründen, von vorn-herein als unmöglich erwiesen. Sie haben in Ihrer Charakterisierung desChristentums einen zweiten Gedanken vorgetragen, der außerordentlichwichtig und zugleich nicht selbstverständlich ist: Sie sagen, das Christen-tum sei keine asketische Religion. In unserem traditionellen Verständnisspielt die Askese im Christentum eine sehr zentrale und zum Teil geradezudominierende Rolle. Was ist dazu zu sagen?

B:Noch einmal dasselbe wie im ersten Fall. Im ersten Fall ging es um dieAbgrenzung des Christentums vom Islam. Ein Thema, über das angesichtsdes schwierigen Verhältnisses zu dieser Weltreligion sorgfältig nachgedachtwerden muß. Im zweiten Fall geht es um die Abgrenzung vom Buddhismus.

Wir befinden uns hier in der Bibliothek von Romano Guardini . Guardiniwar der Meinung, daß die große Auseinandersetzung des Christentumsmit anderen Weltreligionen im Zeichen des Konflikts mit dem Buddhis-mus stehe; der Buddhismus übt ja tatsächlich eine wachsende Faszinationauf viele Christen aus. Man könnte darüber nachdenken, warum? Vermut-lich, weil nach Ansicht vieler nach Spiritualität verlangender Christen, dieKirchen den großen Schatz der Mystik unter Verschluß gehalten haben,und weil sie von der Kirche das nicht zu bekommen meinen, was sie erseh-nen und benötigen. Das reiche Meditationsangebot des Buddhismus istwohl der Hauptgrund, weswegen Guardini die Auseinandersetzung mitdem Buddhismus als zentrale Zukunftsaufgabe des Christentums ansah.Inzwischen haben sich die Zeitverhältnisse signifikant geändert. Der11. September 2001 hat den Islam in einer vorher ungeahnten Weise inden Vordergrund gerückt. Nun geht es darum, auch zu ihm trotz diesesTraumas ein konstruktives Verhältnis zu gewinnen.

Doch zunächst noch ein Wort zum Buddhismus. Der Buddhismus zeich-net sich durch eine anthropologische Kühnheit aus. Er versucht, die Kon-fliktbereitschaft des Menschen und damit die Wurzel aller Auseinanderset-zungen, aller Feindschaften und Kriege dadurch zu beseitigen, daß er demMenschen die Gier abgewöhnt, die Gier zu erkennen, die Gier zu gelten, dieGier zu besitzen, die Gier nach Lust und Gewinn; und schließlich sogar dieGier nach sich selbst. Das erreicht er im Nirvana. Ziel der buddhistischenMeditation ist der Zustand der absoluten Bewußt- und Wunschlosigkeit;wenn der Mensch dorthin geführt wird, hört er auf, ein konfliktbereitesund aggressives Wesen zu sein. Das ist zweifellos ein unglaublich kühnerVersuch, die zwischenmenschliche Problematik zu lösen.

Die christliche Askese, auf die Sie mich angesprochen haben, verfolgteine ganze andere Strategie. Diese Strategie besteht nicht in dem Versuch,menschliche Triebe und Leidenschaften zu unterdrücken, sondern in demgegenteiligen Bemühen, alle Kräfte auf das vom Evangelium vorgegebeneHochziel zu konzentrieren und alles abzustoßen, was von diesem Ziel ab-hält. Das ist der kathartische Sinn der christlichen Askese, der kompletteGegensatz zur buddhistischen.

H:Das würde aber bedeuten, daß die Praxis der Askese im Laufe derGeschichte des Christentums keineswegs in dem von Ihnen dargelegtenSinne verlaufen ist, sondern daß sie in der Tat zum Teil zur Selbstzerstö-rung des Menschen beigetragen hat. Und nun noch ein weiterer Schritt:Sie sprechen davon, das Christentum sei keine moralische Religion – dasklingt zunächst sehr provozierend –, aber Sie fügen gleich hinzu: Es hateine Moral. Damit ist wiederum das Ganze des Christentums betroffen.Und wiederum fällt ein völlig neues Licht auf das Christentum als Reli-gion, wenn man überhaupt vom Christentum als Religion sprechen will.

B:Das ist zweifellos richtig, aber diese moralische Abgrenzung istwiederum notwendig, und zwar im Blick auf das Judentum. Das Judentumist eine genuin moralische Religion. Dem Juden ist das Gesetz Gottes indie Hand gegeben, und es ist seine Berufung und seine Auszeichnung, daßer Tag und Nacht über dieses göttliche Gesetz nachdenken kann, um ihmimmer neue Wegweisungen und Direktiven entnehmen zu können. DasGesetz ist für das Judentum zentral, für das Christentum ist es sekundär.Und das heißt, wir müssen sehen, wo das Schwergewicht des Christentumsliegt, und das liegt für mich in der Mystik. Karl Rahner , der heute neu ent-deckt werden müßte, hat sich von seinem großen Lebenswerk mit demSatz verabschiedet: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder erwird überhaupt nicht sein.“ Das war für mich der Anlass, diese Grenzzie-hung zu vollziehen und zu sagen: Das Christentum ist keine moralische,sondern eine mystische Religion. Das heißt selbstverständlich, daß dasChristentum sehr wohl eine Moral hat; indessen besteht die Ironie darin,daß das Christentum sich seiner wirklichen Moral noch gar nicht voll be-wußt geworden ist. Es praktiziert eine Moral der Abgrenzung, aber nichtder Immunisierung – das wäre erst die eigentliche Moral: Dem Menschenmuß ein Prinzip eingestiftet werden, das ihn zum Denken, zum Ansinnenund zum Wollen des Bösen unfähig macht. Erst wenn das einmal ans Lichtgebracht ist, ist die Rolle der Moral im Christentum wirklich geklärt.

H:Damit sind Linien abgesteckt, von denen aus in einem weiteren Ge-spräch das Verhältnis zu den anderen Weltreligionen ausführlicher erörtertund vertieft werden kann. 5. Verhältnis der Weltreligionen zueinander

H:Zu den besonders heiklen und sehr kontrovers diskutierten Proble-men heutiger Theologie zählt die Frage nach dem Verhältnis der Religio-nen zueinander. Der Stellung des Christentums kommt dabei naturgemäßbesondere Bedeutung zu. Drei Grundthesen haben sich herausgebildet:Die eine, der sogenannte Inklusivismus, ist der Überzeugung, daß vomChristentum alles umschlossen wird. Diese These geht zurück auf Karl Rahner , näherhin auf seine Rede von den anonymen Christen. Die anderePosition, der Exklusivismus, vertritt das genaue Gegenteil. Er grenzt allesandere aus, es gibt keine verbindende Diskussion. Und schließlich die drit-te Position, die sogenannte plurale Religionstheorie: die Pluralität der Reli-gionen. Alle Religionen stehen mehr oder weniger gleichwertig nebenein-ander. Welche Perspektive eröffnet sich aus der Sicht Ihrer Theologie, HerrKollege Biser, auf diese fundamentale Problematik des Verhältnisses derWeltreligionen zueinander?

B:Die Antwort kommt aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil, denndieses Konzil hat sich zu dem Prinzip des Dialogs durchgerungen. In derKonsequenz dessen müssen auch die Weltreligionen zueinander in einedialogische Beziehung treten. Im Zug dieses Dialogs muß sich dann her-ausstellen, ob das erste zutrifft, daß das Christentum die anderen Religio-nen einschließt, ob das zweite zutrifft, daß gar kein Dialog möglich ist,oder ob das dritte zutrifft, nämlich daß alle im Grunde ein und dasselbesind und daß von daher kein Dialog nötig ist. Ich meine, wir müssenSchritt für Schritt zeigen, wie sich dieser Dialog gestaltet.

Der erste Schritt betrifft selbstverständlich jene Religion, die eine anhal-tende Faszination auf viele Christen ausübt, also den Buddhismus, den wirals eine primär asketische Religion bestimmten. Der mit ihm aufzuneh-mende Dialog müßte sich daher auf das buddhistische und christliche Ver-ständnis von Askese beziehen, das ich nun nochmals mit der These ins Vi-sier nehmen möchte, daß Askese immer nur als Hilfsstrategie, niemalsaber um ihrer selbst willen geübt werden darf. Im Grunde ist alles mit derThese gesagt, daß das Christentum keine asketische, sondern eine thera-peutische Religion ist. Der Buddhismus erhebt die Askese zum Selbst-zweck; für das Christentum ist sie ein Mittel, dem Menschen zur Errei-chung seines Hochziels zu verhelfen. Deswegen endet die buddhistischeAskese im Nirvana, während die christliche dem Hochziel der Gotteskind-schaft entgegenführt. Dabei handelt es sich um den noch viel zu wenig insallgemeine Bewußtsein gelangten Spitzenbegriff der christlichen Anthro-pologie. Auch zu dieser Erkenntnis könnte Nietzsche verhelfen, der zuBeginn seines „Zarathustra“ verdeutlichte, daß Kindsein nichts mit Infan-tilisierung, wohl aber mit der vollkommenen Selbstidentifikation desMenschen zu tun hat.

H:Wenn der Buddhismus im Grunde genommen in seinem Kern dieAufhebung der personalen Identität anstrebt, läßt sich dann dieser Gedan-ke in irgendeiner Weise mit dem Christlichen vereinbaren, wo es doch imChristentum ganz entschieden um den konkreten, einzelnen Menschenund nicht um die Menschheit geht?

B:Das ist selbstverständlich eines der ganz zentralen Probleme. Ich binauch der Meinung, daß das Christentum im buddhistisch-asiatischenKulturkreis deswegen relativ erfolglos geblieben ist, weil hier zwei Grund-konzeptionen des Menschseins einander diametral gegenüberstehen. DemBuddhismus geht es – wie wir gesehen haben – um die Auflösung undAuslöschung der menschlichen Individualität, dem Christentum dagegenum deren Erhebung und Optimierung. Nach meinem Verständnis gibt estrotzdem eine Begegnung, die allerdings erst dann begriffen werden kann,wenn wir die Mystik einbeziehen. Im Christentum geht es um einen Iden-titätsgewinn, der sich über alles erhebt, was in diesem Zusammenhang imneuzeitlichen Denken ans Licht gehoben worden ist. Dort geht es imGrunde um eine Selbstsetzung. Im Christentum heißt es: „Ich lebe, dochnicht ich, Christus lebt in mir.“ Und das heißt, daß hier die menschlicheIndividualität zurückgenommen werden muß, damit das göttliche Über-Ich des uns einwohnenden Christus zur Vorherrschaft gelangen kann. Hierist nach meinem Verständnis eine Berührungsmöglichkeit mit der bud-dhistischen Meditationsform gegeben, sofern es darin um einen Nachvoll-zug des Buddhaseins geht.

H:Könnte das Ganze nicht auch so gedacht werden, daß die Menschennach christlichem Verständnis ihre Individualität nicht zurücknehmenmüssen, daß diese vielmehr zu ihrer letzten Vollendung geführt wird unddadurch die personale Identität das Zentrum des Christentums bildet? Wasden Buddhismus betrifft, bin ich der Meinung, wir müßten alle unsere Dis-kussionen über solche Religionen unter den Vorbehalt stellen, daß wir zuwenig Erfahrungen haben und zu wenig wissen, was dort eigentlich undwirklich gemeint ist. Wir haben wahrscheinlich von unserem abendländi-schen Denken her Sperren, die uns den Zugang einfach nicht ermöglichen.

B:Das ist auch meine Meinung: Wir haben im Abendland die reflektie-rende Vernunft bis zu ihrer Höchstform entwickelt. Solche Entwicklungengehen aber stets mit Einbußen einher. Transrationale Formen der Einfüh-lung und Verbundenheit bleiben auf der Strecke und verkümmern. Allen-falls spielen sie dann im Bereich der Parapsychologie noch eine Rolle. Imasiatischen Raum sind aber gerade diese Formen kultiviert worden. DerFaszination des Buddhismus liegt, so gesehen, womöglich die Sehnsuchtnach diesen verlorenen Möglichkeiten zugrunde. Auf diesem schwer er-kundbaren Feld könnte sich daher eine Begegnung des Christentums mitder asiatischen Denkwelt anbahnen.

H:Wie steht es nun mit den monotheistischen, nicht-christlichen Reli-gionen?

B:Meine schon wiederholt vorgetragene These lautet: Das Christen-tum ist im Vergleich zum Judentum und in gewisser Hinsicht auch zumIslam keine moralische, sondern eine mystische Religion. Für das Juden-tum ist Gott in erster Linie ein Gesetzgeber, der sein Volk mit der Mittei-lung seines Willens im Gesetz des Dekalogs beschenkt hat. Es ist der Vor-zug des Juden, diesem Gesetz stets tiefere Einsichten und förderlichereDirektiven entnehmen zu können.

Das Christentum hat im Vergleich damit eine andere Auffassung vonMoral. Die Moral im Christentum ist zwar zunächst einmal auch die derNormen und der Direktiven, der Gesetze und Verbote, aber kein Geringe-rer als Paulus hat gewußt: Wenn ich das Gebot nicht gekannt hätte, hätteich auch nie die Neigung empfunden, es zu übertreten. Daher ist die Ge-bots- und Verbotsmoral nur bedingt effektiv. Es gibt aber nach demselbenPaulus einen ganz anderen Weg zur Moralität des Menschen. Wie wir unsbereits klar gemacht haben, besteht er darin, dem Menschen ein Prinzipeinzustiften, das ihn zum Ansinnen und Antun des Bösen unfähig macht:Es ist das Prinzip Liebe, das, in die augustinische Maxime gebracht, lautet:„Dilige, et quod vis fac“ – „liebe, dann kannst du tun, was du willst“, denndann kannst du dem anderen nur noch beistehen und helfen. Geradedarin erweist sich das Christentum als eine im Grunde mystische Religion.In christlicher Sicht ist die Liebe keine Idee, sondern eine Person: die Per-son, und zwar des Stifters, der im Vergleich zu anderen Religionsstifternnicht in die Vergangenheit abgesunken ist, sondern als „lebendigmachen-der Geist“ – wie sich Paulus ausdrückt – in den Herzen der Seinen auf-und fortlebt. Seine Liebe drängt und bewegt sie zum Guten. Deshalb mußdie Lehre vom Fortleben Christi in den Herzen der Seinen, die nach demMünchener Fundamentaltheologen Gottlieb Söhngen in Vergessenheit ge-raten ist, dieser entrissen und neu zum Vorschein gebracht werden.

H:Über dieses Problemfeld wird sicher an anderer Stelle noch zu spre-chen sein. Aber jetzt müssen wir doch noch einige Sätze zum Islam sagen.Wie verhält er sich in der Sicht Ihrer theologischen Konzeption zumChristentum?

B:Der Islam stand zum Christentum zunächst einmal in einem extrempolemischen Verhältnis. Bekanntlich hat er seinen Siegeszug als Schwert-religion angetreten und dem Christentum riesige Bereiche entrissen. Wennman sich aber in die Ideenwelt des Islam etwas tiefer versenkt, wird manerkennen: Der Islam ist von Haus aus keine Schwertreligion, sondern – wieder Name schon sagt – eine Religion des Friedens, wenngleich er seinenSiegeszug als Schwertreligion begonnen hat. Vor allem aber ist er eine Reli-gion des Buches. Deswegen haben auch die „Buchleute“, wie MuhammedJuden und Christen bezeichnet, im Islam eine gewisse Tolerierung erfah-ren. Hier muß dann selbstverständlich angeknüpft werden.

Die Zeitverhältnisse haben es mit sich gebracht, daß das Verhältnis zumIslam plötzlich in eine extreme Spannung geraten ist. Der Islam wird ver-teufelt, und wer in dieser Weise fortfährt, stürzt die Welt früher oder späterin eine Katastrophe. Der Islam umfaßt annähernd eine Milliarde vonMenschen und Anhängern, die ihm zum Großteil mit vorbildlicher Treueanhängen; deswegen müssen wir zum Islam ein dialogisches Verhältnisaufbauen, so schwierig es ist. Man muß natürlich noch etwas anderes be-denken: Der Islam ist im Verhältnis zum Christentum eine über 600 Jahrejüngere Religion. Er befindet sich, wenn man es lebensgeschichtlich aus-drücken will, sozusagen in der Adoleszenz. Auch im Menschenleben sindJugendliche geneigt, über die Stränge zu schlagen und sich polemisch mitanderen auseinanderzusetzen. In dieser Phase steckt der Islam immernoch. Was ihm fehlt, ist das, was das Christentum zwar auch zu seinemSchaden, vor allem aber zu seinem Nutzen hervorgebracht hat: die Aufklä-rung. Deswegen ist der Dialog mit dem Islam nach meinem Verständnisessentiell an die Frage gebunden, ob es gelingt, dem Islam zu einer Aufklä-rung zu verhelfen. Wenn es gelänge, würden beispielsweise Dinge geklärtwerden, die bis auf den heutigen Tag noch sehr kontrovers diskutiert, viel-leicht noch gar nicht richtig gesehen werden. Dann würde der Islam er-kennen, daß der Koran, so sehr er nach seinem Verständnis vom Himmelgefallen und von Gott eingegeben ist, eben doch auch Menschenwerk ist,wie es anders gar nicht sein kann. So ist ja auch das Christentum durch dieAufklärung zum besseren Verständnis seiner eigenen Dokumentation, alsoder neutestamentlichen Schriften, gekommen. Das müßte auch im Islamstattfinden; dann würde sich das Verhältnis dialogisch und am Ende sicherauch friedlich gestalten. Das wäre das Ziel.

H:Um Mißverständnisse zu vermeiden, muß abschließend gesagt wer-den, daß von all diesen Fragen die Frage nach dem Heil des je einzelnenMenschen nicht berührt wird. Das heißt also: Selbst wenn das Christen-tum in seinem Selbstverständnis eine Superiorität beansprucht, ist damitnicht gesagt, daß Nichtchristen vom Heil ausgeschlossen wären.

B:Für den Christenglauben steht fest: Wenn Gott sich offenbart, ist esein Akt der Liebe. Und Liebe ist nie exklusiv. Sie kann sich im Menschen-leben zwar vorwiegend auf einen Einzelnen richten, aber sie schließt imGrunde immer alle ein, und vor allen Dingen: sie schließt niemanden aus.Wenn Gott sich offenbart, geht das an die Adresse der ganzen Welt; des-halb richtet sich auch die christliche Offenbarung tendenziell an alle Men-schen und an jeden einzelnen von ihnen. Das muß gesehen werden, wennes zu einem konstruktiven Verhältnis der Weltreligionen kommen soll.

H:Die Einsicht, daß das Christentum nur eine sekundäre Schriftreli-gion ist, ist überzeugend. Gleichzeitig stellt sich die Frage: Wo ist nun das„primum movens“, der eigentliche Ursprung, der eigentliche Anstoß dafür,daß es zu einem solchen sekundären Niederschlag kommen konnte? Alleindie historische Gegebenheit des Jesus von Nazareth scheint doch dafürnicht auszureichen.

B:Sie reicht ganz gewiß nicht aus, denn zu der am besten bezeugtenTatsache des Lebens Jesu gehört sein Tod am Kreuz. Es war, wie die Histo-riker der alten Zeit gesagt haben, die „turpissima mors crucis“, die er erlit-ten hat, den entsetzlichsten Kreuzestod, der nur Sklaven und Hochverrä-tern zugewiesen war. Er war also durch diesen Tod dem ersten Anscheinnach total gescheitert. Außerdem lastete auf ihm aus jüdischer Sicht derFluch Gottes, denn im Alten Testament steht der furchtbare Satz: „Ver-flucht sei jeder, der am Holze hängt.“ Jesus schien also in politischer, gei-stiger und religiöser Hinsicht vollkommen widerlegt und geächtet zu sein.Ohne daß jetzt etwas Grundstürzendes geschehen wäre, wäre das Chri-stentum nie zu seiner gegenwärtigen Bedeutung gelangt, denn niemandemwäre es eingefallen, den Gedanken, Ideen, Lehren und Direktiven diesestotal Gescheiterten nachzugehen und all dies am Schluß noch zu sammelnund Evangelienschriften zu verfassen.

Es muß also ein mächtiger Anstoß dazugekommen sein, und der be-stand in seiner Auferstehung. Kurz nach dem Tod Jesu treten Frauen undMänner mit der ungeheuerlichen Aussage auf: „Ich habe den Herrn gese-hen!“ Er ist nicht im Tod geblieben. Er lebt! Er ist mitten unter uns! Dashat natürlich einen vollkommenen Perspektivenwechsel nach sich gezo-gen. Der scheinbar Gescheiterte war gerade nicht gescheitert, sondern hatauf eine geheimnisvolle Weise am Kreuz seinen größten Triumph erlebt.Der scheinbar von Gott Verfluchte war keineswegs verflucht; vielmehr hatGott ihm – wie es dann bei Paulus heißt – „einen Namen gegeben, derüber allen Namen ist, so daß im Namen Jesu jedes Knie sich beugen muß,im Himmel, auf Erden und unter der Erde, und jede Zunge bekennenmuß: Er ist der Herr“. Das hatte natürlich eine ungeheure Rückwirkung.Alles, was man jetzt noch von ihm in Erfahrung bringen konnte, war vonhöchster Bedeutsamkeit. So entstanden die Kollektionen seiner Worte undWeisungen, unter ihnen das als Logienquelle bekannte Spruchevangeliumund auf dessen Grundlage die Evangelien.

Das muß gesehen werden und es wurde auch aufs deutlichste von demamerikanischen Exegeten, James M. Robinson , so gesehen, der diesesSpruchevangelium als das literarische Osterwunder bezeichnete. Das heißtdann folgerichtig: Wer das Neue Testament in Händen trägt, der besitzt dieliterarische Verifikation der Tatsache, daß Jesus auferstanden ist; dennohne Auferstehung hätte es dieses Buch niemals gegeben. Doch das hatnach meinem Verständnis auch eine eminente Rückwirkung. Das besagt:Dieses Buch ist imprägniert von der Auferstehung Jesu. Auch die Dinge,die scheinbar ganz alltäglich sind, sind insgeheim vom Osterlicht beleuch-tet. Das gilt vor allen Dingen für die Ereignisse des Lebens Jesu, vor allemaber für die Gottesentdeckung Jesu.

H:Damit ist das Verhältnis zwischen den Evangelien und dem Grund-ereignis, dem sich diese Schriften verdanken, geklärt. Nun hat aber zu allenZeiten die Frage nach der Auferstehung oder Auferweckung Jesu demDenkvermögen und der Vorstellung der Menschen außerordentlich großeSchwierigkeiten bereitet, so daß es zahllose Theorien darüber gibt. Ichdenke, man könnte vielleicht einfach das Ganze auf den Satz reduzieren:Er lebt. Würde damit nicht das Entscheidende gesagt sein?

B:Nach meinem Verständnis sehr wohl; denn all das, was in diesenOstergeschichten gesagt wird, ist eigentlich nur eine Umschreibung dieseseinen Tatbestandes: daß Jesus im Unterschied zu allen anderen Religions-stiftern nicht in die Vergangenheit abgesunken, kein Vergangener und Ab-wesender ist, sondern einer, der mitten in seiner Glaubensgemeinschaftlebt und darüber hinaus sogar in der ganzen Welt gegenwärtig ist. Die Auf-erstehung Jesu läßt sich in der Tat in diesen einen Satz zusammenfassen:Der am Kreuz Gestorbene lebt, und er lebt in den Seinen weiter.

H:Von hier aus eröffnet sich dann auch eine völlig neue Perspektive aufdie Lebensgeschichte Jesu, vor allen Dingen auch auf die Kindheitsge-schichten und damit auf das Grundproblem der Inkarnation, der Mensch-werdung. Wie stellen sich die angesprochenen Ereignisse aus der Sicht derAuferstehung dar?

B:So wie ich es vorhin schon angedeutet habe: Alles steht im Oster-licht, die Engel von Bethlehem und der Lichtglanz, der sie umflutet. Auchder Kerngedanke der Kindheitsgeschichten, die Jungfräulichkeit Mariens,muß als Konsequenz aus der Auferstehung Jesu begriffen werden. Die Auf-erstehung Jesu strahlt gleichsam auf die Mutterschaft Mariens zurück, des-wegen ist Jungfräulichkeit keine physiologische Aussage, sondern – wie derGrazer Theologe Karl-Matthäus Woschitz gesagt hat – ein Würdeprädikat.Das gilt erst recht von der eigentlichen Lebensleistung Jesu. Jetzt aber mußerst einmal gesehen werden, worin diese Lebensleistung bestand, denn sieist der Kern des Christentums.

Sie ist – um es anders auszudrücken – die Mitte, die von der Neuen The-ologie unter allen Umständen erschlossen und ans Licht gehoben werdenmuß. Wie früher schon gesagt wurde, stand das Christentum lange Zeit imBann der Gewalt. Gewalt aber ist das diametral entgegengesetzte Prinzipzu dem, was Jesus gelebt, gewollt und getan hat. Er ist die Inkarnation derGewaltlosigkeit, wenn man so sagen darf. Solange man in der Kirche Ge-walt geübt oder auch nur billigend hingenommen hat, konnte die Mittedes Christenglaubens nicht voll erschlossen werden. Nachdem die Kirchejedoch im Zweiten Vatikanum in aller Form der Tradition der Gewalt ab-geschworen und den Dialog zum Prinzip der Auseinandersetzung und derBegegnung erhoben hat, ist eine völlig neue Sachlage entstanden. Jetztkönnen wir zurück zur Mitte des Evangeliums, und jetzt stellt sich selbst-verständlich die Frage: Was hat uns diese Mitte zu sagen? Worin bestehtsie? Dabei geht es um die Frage nach der Gottesentdeckung Jesu.

H:Das besagt: Ohne das Festhalten an der Auferstehung kann es keinChristentum geben. Und der Versuch, den man ja heute immer wieder an-treffen kann, die Auferstehung zu marginalisieren oder völlig auszuschal-ten, bedeutet, das Christentum aufzugeben.

B:Das kann ich nur unterstreichen. Ich halte das für das eigentlicheVerhängnis der gegenwärtigen Glaubenssituation, daß sogar in theologi-schen Kreisen beider Konfessionen diese Marginalisierung stattfindet unddaß man den Eindruck erweckt, daß wir ohne die Auferstehung von Jesusalles Wesentliche gewußt haben könnten. Ich habe vorhin deutlich zu ma-chen versucht, daß das völlig ausgeschlossen ist. Ich wiederhole mich nocheinmal: Den Lehren eines derart radikal Gescheiterten und schließlich vonGott Verfluchten hätte doch kein Mensch die mindeste Bedeutung ge-schenkt, wenn er nicht auferstanden wäre. Die Auferstehung ist die „condi-tio sine qua non“, der einzig einleuchtende und durchschlagende Grund,daß es das Christentum überhaupt gibt! Deswegen nun die Frage nachdem, was die Auferstehung von der Lebensgeschichte Jesu ans Licht hebt,und das ist die Frage nach dem Gottesbild Jesu.

H:Das wäre zugleich das zentrale Unterscheidungsmerkmal gegenüberallen anderen Religionen, nämlich das Verständnis Gottes. Wenn ich dasrichtig verstehe, hat sich dieses Gottesverständnis im Vollzug des LebensJesu entwickelt. Es kommt wohl erst in seinem Tod zum endgültigenDurchbruch.

B:Das ist auch meine Meinung, denn selbstverständlich muß endlichder Grundsatz des Christentums „vere Deus et homo “ – „er ist ebensowahrer Gott wie wahrer Mensch “ – ernst genommen werden. Zum wahrenMenschsein aber gehört eine Bewußtseinsentwicklung. Zum wahrenMenschsein gehört der Weg des Menschen zu sich selbst, der über Fragen,vielfach auch über Zweifel hinwegführt. Wenn man unvoreingenommenin die Lebensgeschichte Jesu, wie sie von den Evangelien dargestellt wird,hineinschaut, sieht man das vollauf bestätigt. Er mußte Fragen stellen, erhatte Zweifel. Er zweifelte sogar an seiner Identität. Er muß an die Jüngerherantreten mit der Frage: „Wißt ihr, wer ich bin?“ Und dann diese groß-artige Szene im Matthäusevangelium, wo sich Petrus ein Herz nimmt undihm sagt: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!“, und wo dasvon Jesus geradezu enthusiastisch aufgenommen wird: „Selig bist du,Simon, Sohn des Jonas, nicht Fleisch und Blut haben dir das geoffenbart,sondern mein Vater, der im Himmel ist.“ Aus dem Mund des Freundes hater die Stimme Gottes vernommen, die ihm schon bei der Taufe zugesicherthat: „Du bist mein vielgeliebter Sohn.“ Die Lebensgeschichte Jesu gehtsomit über Brüche und über Fragen und Zweifel hinweg zur definitivenKlärung, die – wie Sie bereits gesagt haben – ihren endgültigen Zielpunkterst im Tod erreicht hat. Deswegen wird man über den Tod Jesu immerwieder neu nachdenken müssen.

H:Diese Problematik ist geeignet, uns noch einmal die Differenz zwi-schen der klassischen, traditionellen Theologie und Ihrem Ansatz bewußtzu machen. Was Sie, Herr Kollege Biser, im Anschluß an das Neue Testa-ment über das Verhältnis Jesu zu seinem Vater, dem lebendigen Gott, dar-gelegt haben, bringt die klassische Dogmatik auf den Begriff: Sie sprichtvon der „hypostatischen Union“. Gemeint ist damit, daß die menschlicheNatur Jesu in die Einheit der zweiten göttlichen Person aufgenommen ist,so daß die eine göttliche Person des Logos die göttliche und die mensch-liche Natur als ihr eigen besitzt. Auch wenn man diesen Sachverhalt – wiegeschehen – mit deutschen Worten formuliert, läßt er sich ohne genaueKenntnis des zugrundeliegenden Denkmodells griechischer Metaphysikweder verstehen noch vermitteln. Darin zeigt sich exemplarisch die Dring-lichkeit und die Notwendigkeit, die Kategorien der traditionellen Dogma-tik auszutauschen und die Inhalte neu zu überdenken und auf eine heuteverstehbare Weise zur Sprache zu bringen.

B:Schon in den Paulusbriefen gibt es eine dem nahekommende Aus-sage: Die sogenannte Präexistenzaussage. Da erklärt Paulus der Gemeindevon Korinth: „Wir haben nur einen Gott, durch den alles ist und für denalles ist; und wir haben nur einen Herrn Jesus Christus, durch den alles istund durch den auch wir sind“ (1 Kor 8,6). Die Paulusschule hat das dannzu dem Satz fortentwickelt: „Alles ist in ihm geschaffen, das Sichtbare unddas Unsichtbare, Engel, Mächte und Gewalten. Alles ist für und durch ihngeschaffen und das All hat in ihm Bestand.“ Das ist im Grunde doch das,was mit der hypostatischen Union gemeint ist, und es wäre selbstverständ-lich eine Hilfe, dieses Dogma auf neue Weise verständlich zu machen.

H:Sie haben mit großem Nachdruck auf die Dimension des Mensch-seins in Jesus Christus hingewiesen. Um diesen Aspekt richtig zu fassen,müssen wir uns in einem nächsten Gespräch die Frage stellen: Was isteigentlich der Mensch? Die Antwort eröffnet den angemessenen Zugangzum Christusgeheimnis. 7. Mensch, wo bist Du?

H:Das Christentum ist eine Offenbarungsreligion. Offenbarung ansich gibt es aber nicht. Der Adressat der Offenbarung gehört wesentlichdazu. Das heißt: Wenn man über das Christentum reden will, muß manauch vom Menschen sprechen; denn ein Wort, das nur gesprochen, abernicht vernommen wird, ist kein Wort, sondern bestenfalls ein Geräusch.Eine zentrale Rolle nimmt deshalb im Gang unserer Überlegungen dieFrage ein: Was ist der Mensch? Es ist daher auch kein Zufall, daß in IhremLebenswerk der Mensch an zentraler Stelle steht. Wenn ich frage: Was istder Mensch, ist im Grunde genommen schon eine Fehlentscheidung im-pliziert, denn ich frage im Geist der griechischen Philosophie und damit ineiner Denkrichtung, die nicht kompatibel ist mit den christlichen Grund-gegebenheiten. Ich muß fragen: Wer ist der Mensch? Und Sie spitzen dieFrage noch einmal zu und fragen: Wo ist der Mensch?

B:Das hat seinen guten Grund. Zunächst aber möchte ich Ihrer Thesezustimmen, wonach im Christentum jeder Satz über Gott auch etwas überden Menschen aussagt. Beide gehören dazu: Zu dem, der sich mitteilt, ge-hört der, der diese Mitteilung aufnimmt. Und deswegen stellt sich dieseFrage. Seit 2500 Jahren lautet sie so, wie eben von Ihnen thematisiert: Wasist der Mensch? Sie haben jedoch sofort hinzugefügt, daß das nach meinerKonzeption nicht die richtige Fragestellung ist. Ich möchte aber doch auchdieser Frage Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie beginnt, höchst auf-schlußreich, mit dem Ödipus-Mythos. Da kommt Ödipus in seine spätereKönigsstadt Theben; doch am Stadtrand lauert die Sphinx, die jedem Vor-beikommenden eine Frage stellt. Wer sie nicht zu lösen vermag, den stürztsie in den Abgrund hinab; und dort liegen bereits die Gebeine all derer, dieversagt hatten. Die Frage heißt: Was ist das? Am Morgen geht es auf vierBeinen, am Mittag auf zwei, am Abend auf drei? Ödipus ist der einzige, derdie Antwort weiß: Es ist der Mensch. Am Morgen kriecht er auf allen vie-ren, am Mittag geht er auf seinen beiden Beinen, am Abend braucht ereinen Stock, und dann geht er auf drei Beinen. Die Sphinx ist über dieseAntwort so entsetzt, daß sie sich selbst in den Abgrund stürzt, und derWeg nach Theben ist frei. Doch diese Frage: „Was ist der Mensch?“ ist– wie Sie sehr deutlich gesagt haben – die Frage nach dem unveränder-lichen Wesen des Menschen. In dieser Ausrichtung hat sie den philosophi-schen Denkweg bis zu Immanuel Kant begleitet, der alle Fragen desmenschlichen Fragenkönnens – Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen?Was soll ich tun? – schließlich in seinem Spätwerk auf die eine Frage zu-sammengeführt hat: Was ist der Mensch? Das heißt natürlich, daß dieseFrage eine ungeheure Spannweite aufweist. Man könnte, weil Kant ja einetwas amusischer Philosoph war, auch noch die Kunst hinzufügen undsagen: In allen Leistungen und allen Äußerungen des menschlichenGeisteslebens geht es eigentlich um diese Frage: Was ist der Mensch? AlleLeistungen der Philosophie, Ethik, Literatur und Kunst sind im Grundenur immer neu ansetzende Versuche, diese Frage zu beantworten. Doch inunserer Zeit ist der Mensch auf eine so nie gewesene Weise auf den Prüf-stand gestellt worden – durch die beiden Weltkriege ebenso wie durch diebeiden entsetzlichen Diktaturen, die den Menschen in seinem Selbstbe-wußtsein zu verändern suchten –; deswegen genügt die klassische Fragenicht mehr.

H:Daß die Philosophie von Anfang an nach dem Wesen des Menschenfragt, ist unbestritten. Daneben hat sich aber in der jüdisch-christlichenDenktradition ein Verständnis des Menschen herausgebildet, das nicht sosehr an dem allgemeinen Wesen interessiert ist, dessen Aufmerksamkeitvielmehr dem Einzelnen, der Person gilt. Im Nachdenken über die Trinität,die Dreifaltigkeit Gottes, kommt es zu den ersten Klärungen des Person-begriffs, der dann herangezogen wird, um die Singularität des Menschenzum Ausdruck zu bringen. Schließlich war es Thomas von Aquin , der daschristliche Verständnis des Menschen als Person philosophisch konzipierteund dem Essentialismus griechischer Philosophie den christlichen Perso-nalismus gegenüberstellte. Der Mensch ist nicht ein Fall von Menschsein,sondern ein einmaliger Existenzmodus. Dieser Rang des Personseins fin-det seinen handlungstheoretischen Ausdruck darin, daß auch das subjektivirrende Gewissen verpflichtenden Charakter hat. Der Mensch ist morali-sches Subjekt und darf niemals fremdbestimmt werden. Dieses spezifischchristliche Verständnis des Menschen, das heute in hohem Maße gefährdetist, muß mitbedacht werden, wenn die Problematik, von der zu sprechensein wird, im angemessenen Kontext stehen soll.

B:Selbstverständlich müssen wir diese Entwicklung berücksichtigen,die ich für besonders wichtig halte; denn der Personbegriff ist zunächsteinmal im Blick auf die innertrinitarischen Verhältnisse entwickelt wor-den. Es gehört sicher zum Großartigsten der Geistesgeschichte, daß ein Be-griff, der zunächst für Gott erdacht und entworfen worden ist, sichschließlich als Schlüssel zum Selbstsein des Menschen herausstellte. Dasdürfen wir nie vergessen; denn es handelt sich dabei um eine der ganz gro-ßen Leistungen der christlichen Philosophie- und Theologiegeschichte.

Nun kehre ich aber zu meinem Ausgangsgedanken von dem Prüfstandzurück, der gezeigt hat, daß so nach dem Menschen nicht länger gefragtwerden kann: Warum? Weil vor allem eine der Tatsachen in dieser klassi-schen Anthropologie gar nicht erklärt werden konnte, nämlich die Ge-schichtlichkeit des Menschen. Daß sich das Menschsein geschichtlich er-eignet, daß wir Menschen alle in die Geschichte eingebunden und von ihrmitbetroffen sind – meistens als deren leidende Partizipanten, aberimmerhin so, daß wir dazugehören –, das konnte immer nur als Faktumbehauptet, nicht aber bewiesen werden. Meine Anthropologie kann eszeigen, und sie zeigt es dadurch, daß sie aufweist: Der Mensch hat eine Ge-schichte mit sich selbst.

Doch zunächst muß ich jetzt nochmals auf die genauere Fragestellungzurückblenden; sie lautet: Wo bist Du? Diese Frage steht im Alten Testa-ment, und sie ist wohl deshalb gerade von jüdischen Auslegern in ihrerTriftigkeit erkannt worden. Es ist bekanntlich die Frage, die Gott dem sün-dig gewordenen Menschen stellt, nachdem er sich unter den Bäumen desGartens vor ihm versteckt hat; denn da ruft Gott: Wo bist Du? Das klingtnatürlich zunächst wie eine harmlose Identifikationsfrage. Aber in der spä-teren Ausdeutung, besonders bei Buber und Rosenzweig , hat sich gezeigt:Da geht es um ungleich mehr, um etwas, was das menschliche Selbstver-hältnis betrifft. Auf dem Weg dazu hat der Renaissancephilosoph Pico della Mirandola diese Frage aufgegriffen und entfaltet. Er läßt den Schöpfer zuAdam sagen: „Ich habe dir keine bestimmte Wohnstätte zugewiesen. Dukannst wohnen, wo du willst. Ich habe dir auch keine bestimmte Gestaltauferlegt, du kannst die dir genehme Gestalt selber auswählen. Du kannstdich zur Höhe des Göttlichen erheben, du kannst dich aber auch in dieNiederungen des Tierischen fallen lassen.“ Das ist diese Geschichte desMenschen mit sich selbst. Die von mir erwähnten jüdischen Denker, diediese Frage in ihrer vollen Bedeutung und Triftigkeit erkannt haben, sinddie Denker des dialogischen Prinzips, denen das Zweite Vatikanum dasStichwort für die Neugestaltung aller christlichen Verhältnisse entnommenhat, nämlich das Stichwort „Dialog“. Sie erblickten in der Wo-Frage dendenkerischen Zugriff, auf dessen Basis die Sache des Menschen ausgetra-gen werden muß.

Ich sprach gerade von den beiden Möglichkeiten: daß der Mensch auf-steigen kann zur Höhe des Göttlichen – und das Christentum hat ja dafüreinen Kulminationsbegriff, wenn es sagt: Wir sind zur Gotteskindschaftberufen –, daß er sich aber auch fallenlassen kann, bei Pico della Mirandola bis zur Niedrigkeit des Tierischen – ich würde sagen: bis zu jenen Zustän-den der Selbstaufgabe, der Selbstwegwerfung und schließlich der Selbst-zerstörung, deren sich dann jene Diktatoren bemächtigen, die es daraufangelegt haben, den Menschen bis in seine innersten Überzeugungen hin-ein zu manipulieren. Das ist die Geschichte des Menschen mit sich selbst.Er kann sich erheben, er kann sich selber veredeln und das anstreben, wasich als den Kern des ganzen Kulturlebens bezeichne, nämlich die Persön-lichkeitskultur. Er kann sich entfalten und ausgestalten, er kann das jeweilsBessere aus sich machen, er kann die ungehobenen Möglichkeiten und Ta-lente in sich freisetzen und dadurch seine Persönlichkeit perfektionieren.Er kann aber auch das Gegenteil tun: Er kann sich fallen lassen, er kannden Weg des geringeren Widerstands gehen, er kann mit den Wölfen heu-len, sich mit der großen Masse treiben und sich von den Medien und Pro-pagandisten einreden lassen, was er tun soll. Dann befindet er sich im Zu-stand der Selbstentfremdung. Aus alledem ergibt sich dann die Erklärungder Tatsache, daß er in die Weltgeschichte hineingehört, und zwar des-wegen, weil er eine Geschichte mit sich selbst durchlebt.

H:Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß ein Großteil Ihres philoso-phischen Lebenswerkes eben dieser Existenzerhellung des Menschen gilt,und ich denke, es ist deutlich geworden, wie wichtig es ist, ob man denMenschen so oder anders versteht. Gleichzeitig erhebt sich die Frage: Wasbedeutet das für eine christliche Theologie, die den Menschen bisher ent-weder nicht richtig gesehen oder in eine Richtung stilisiert hat, die ihmüberhaupt nicht gerecht wird, und zwar konkret in unserer Zeit?

B:Es bedeutet vor allen Dingen, daß sie sich vergegenwärtigen muß,daß der Mensch durch das Christentum nicht diszipliniert, sondern überseinen naturalen Stand erhoben wird. „Seht doch, welch große Liebe derVater zu uns hegt“, heißt es am Schluß des Neuen Testamentes, „daß wirKinder Gottes nicht nur heißen, sondern es sind.“ Eine christliche Theolo-gie muß dieses Optimum des Menschen im Blick haben; doch vielfach istdas Gegenteil geschehen: Man hat dem Menschen eingeredet, daß er sichselber erniedrigen müsse, man hat die Aufforderung des Evangeliums zurSelbstverleugnung in einer völlig defizienten Weise ausgelegt, wie sie niegemeint war. Gemeint war damit, wie ich vorhin schon einmal angedeutethabe, daß dem Raum gegeben werden müsse, der in uns wohnt. Das istnatürlich etwas ganz anderes als die selbstzerstörerische Form der Selbst-verleugnung. Hier müßte also ganz neu nachgefaßt und eingesetzt werden;das hätte enorme Konsequenzen für das ganze christliche Erziehungs-wesen, aber auch für die Selbstkultivierung jedes Einzelnen.

Das Christentum muß dem Menschen mehr zutrauen, als bisher fak-tisch geschehen ist, einfach deswegen, weil Gott ihm mehr zutraut. WeilGott ihn als seinen Partner haben will und als denjenigen, zu dem er Kindsagen kann, so wie der Mensch dann seinerseits zu Gott Vater sagen darf.Damit berühren wir noch einmal die Gottesentdeckung Jesu, die in diesemeinen Wort beschlossen ist. Es war die große, revolutionäre Tat Jesu, daß erzu Gott „Vater“ sagte. Wenn man dem entgegenhält, das gäbe es auch inmanchen Indianergebeten und erst recht in vielen Hochreligionen ein-schließlich des Judentums, kann man nur antworten: Wenn zwei dasselbetun, ist es nicht dasselbe, und wenn zwei dasselbe sagen, ist es ebenfallsnicht dasselbe. Wenn Jesus zu Gott „Vater“ sagt, ist das der Durchbruch inein vollkommen neues Gottesverhältnis, wie es von keinem anderen jeauch nur anvisiert, geschweige denn erreicht worden ist.

H:Ihre überzeugenden Ausführungen werfen zugleich eine Reihe vonProblemen auf, die in künftigen Gesprächen behandelt werden müssen. 8. Die Sünde und der Tod

H:Im Horizont christlichen Glaubens und Denkens ist der Menschnicht nur Exemplar der Spezies Mensch, sondern er ist Person. Er steht inunvertretbarer Verantwortung vor Gott. In Ihrem Werk „Der Mensch – dasuneingelöste Versprechen. Entwurf einer Modalanthropologie“ eröffnenSie als weitere Perspektive die heilsgeschichtliche Sicht, welche für ein an-gemessenes Verständnis des Menschen konstitutiv ist. Sie zeigen darin, daßder Mensch in einem Möglichkeitsraum steht, in dem er sich von der Per-son zur Persönlichkeit entwickeln kann, in dem er aber auch zurückfallenkann an die unterste Grenze des Menschseins. Damit kommt nicht nur diewesenhafte Geschichtlichkeit des Menschen zur Sprache. In diesem Pro-blemfeld steht auch die Frage nach der Sünde und deren Möglichkeitsbe-dingungen.

B:Das entspricht durchaus meiner Vorstellung vom Menschen. DerMensch ist für mich das Möglichkeitswesen, eingebettet in einen Raumvon Möglichkeiten, und zu diesen Möglichkeiten gehört auf der einenSeite die mögliche Erhebung zu einem Seinsstand, den er nur mit der HilfeGottes erreichen kann, aber auch die entgegengesetzte Möglichkeit, sich zuvernachlässigen, sich fallenzulassen – es ist die Fallstrecke, die nach untenführt. In diesem Zwischenraum spielt sich die Geschichte des Menschenmit sich selber ab. Und das ist für mich die Erklärung eines Tatbestandes,mit dem die klassische Anthropologie nie zu Rande gekommen ist, näm-lich daß der Mensch geschichtsfähig ist, daß er in die Geschichte einge-bunden ist – nicht nur in die Heilsgeschichte, wie Sie ganz richtig gesagthaben, sondern auch in die Weltgeschichte. Diese Geschichtsbetroffenheithängt damit zusammen, daß er eine Geschichte mit sich selbst durchlebt.Zu dieser Geschichte gehört – wie zu jeder – ein Chronist. Diesen Chro-nisten finde ich im Gewissen. Wir rechnen ja meistens nur mit der morali-schen Gewissensform; das ist jenes Gewissen, das uns peinigt, wenn wirversagen, das uns lobt, wenn wir etwas Gutes getan haben. Indirekt rech-nen wir jedoch auch mit anderen Gewissensformen, nämlich mit einemästhetischen und einem intellektuellen Gewissen. Wir haben dafür nur an-dere Worte. Wir sagen von einem Menschen, der über ein besonderesOrgan für die Unterscheidung von Kunst und Kitsch verfügt, er habe einenguten Geschmack, meinen damit aber eine Gewissensform. Und wir nen-nen einen Mensch, der sich nicht durch Propaganda verführen läßt undnicht den Weg der Masse geht, einen Menschen mit einem guten Urteil.Aber auch diesmal meinen wir eine Gewissensform. Und nun gehe ichdavon aus, daß diese drei Gewissensformen, das moralische, das intellek-tuelle und das ästhetische, eine fundamentale Gewissensform als Grund-lage haben, und diese nenne ich das Existenzgewissen. Das urteilt nichtüber Gut und Böse, nicht über Kitsch und Kunst, nicht über Lüge oderWahrheit, sondern es urteilt über die Art und Weise, wie der Mensch mitsich selber befaßt ist – ob er seine besseren Möglichkeiten aus sich heraus-holt, ob er sich selber kultiviert, ob er also seine Person zur Persönlichkeitentwickelt oder ob er sich vernachlässigt, mit der großen Masse geht, ob erden Weg des geringeren Widerstands einschlägt und sich fallenläßt –, dar-über urteilt das Existenzgewissen. Selbstverständlich hat dieses Existenzge-wissen eine besondere Affinität zum sittlichen Gewissen. Und damit stelltsich dann die Frage: Wie steht es denn mit dem Bösen im Menschen? Wiesteht es um die Sünde?

H:Damit ist aber auch gesagt, daß das von Ihnen angesprochene Exi-stenzgewissen keine statische, sondern eine dynamische Größe ist, die ganzan das Subjekt gebunden und deshalb letztlich nicht objektivierbar ist.Und von hieraus eröffnet sich dann auch die besondere Perspektive auf dieFrage nach dem moralischen Gewissen.

B:Das moralische Gewissen hat seine Tiefe dort, wo der Mensch sich derGewalt des Bösen überläßt und selber böse wird. Das ist natürlich eine Ur-frage jeder Anthropologie; denn darin besteht das bestürzende Faktum, mitdem wir ständig in unserer Welt konfrontiert sind: daß die Menschen, dieeigentlich etwas Positives leisten und sich konstruktiv am kulturellen undwirtschaftlichen Leben beteiligen sollten, das Gegenteil tun, indem sie ande-re betrügen und andere ins Unglück stürzen. Wie wird der Mensch böse?Das ist die alte und bis zur Stunde noch immer nicht beantwortete Frage.

Es gibt natürlich eine Antwort auf diese Frage, die gerade im christ-lichen Raum zur dominierenden geworden ist. Sie geht zurück auf denApostel Paulus, der im Römerbrief den Tod der Sünde Sold nennt. Damitgeht die Vorstellung einher, daß der Mensch von Haus aus böse ist: böseaufgrund seiner Abstammung von Adam, der gesündigt hat und in demalle gesündigt haben, so daß alle in seine Sünde einbezogen sind und dafürdurch den Tod bestraft werden.

H:Mit diesem Hinweis sprechen Sie die sogenannte Erbsünde an. Es istdas die vermeintlich christliche Antwort auf die Frage nach dem Ursprungdes Bösen. Die dabei angewandte Methode ist die theologische Varianteeiner Ätiologie, das heißt des Versuchs, einen gegenwärtig erfahrenen underfahrbaren Zustand auf seinen letzten Grund und Ursprung zurückzu-führen. Unter Bezugnahme auf die von Ihnen zitierte Römerbriefstelle hat Augustinus das Theologumenon von der Erbsünde entworfen. Nach dieserThese haben alle Menschen in Adam gesündigt. Durch die geschlechtlicheFortpflanzung wird die Natur Adams an seine Nachkommen weitergege-ben, und deshalb sind am Ende alle Menschen Sünder. Augustinus ringtschwer um diese Problemlösung, aber sie ist trotzdem falsch. Zur Sündeim qualifizierten Sinne gehört unverzichtbar die Freiheit der Entscheidungund damit die Rückbindung an eine Person. Deshalb kann Sünde nie ver-erbt werden. Das wußte auch Augustinus. Ausdrücklich vertritt er dieThese: Wer nicht mit freiem Willen sündigt, sündigt nicht. Wenn er trotz-dem seine Lehre von der Erbsünde vertreten konnte, hatte das seinenGrund darin, daß Augustinus auch in dieser Frage im Horizont platoni-scher Metaphysik dachte und dadurch das Entscheidend-Christliche ver-fehlte. Er war mit dem Platonismus der Meinung, daß die real existierendeSpezies die übergeordnete Größe sei. So wird seine Argumentation in sichschlüssig: Alle Menschen sündigen in Adam, weil sie vereinzelte Exemplareder Art „Mensch“ sind. Mit diesem Denkmodell ist die Gerechtigkeit Got-tes sichergestellt. In Adam haben alle Menschen wirklich gesündigt, allehaben in ihm den ewigen Tod verdient, und Gott handelte gerecht, wenner alle verdammen würde. Deshalb kann Augustinus die Menschheit als massa damnata , als eine Sündenmasse verstehen. Weil Gott aber nicht nurgerecht, sondern auch barmherzig ist, hat er aus unerforschlichem Rat-schluß einige wenige zur Seligkeit bestimmt. In dieser Sicht wendet sichdie Problemstellung: Nicht die Verdammung der Vielen, sondern die Er-rettung der Wenigen bedarf einer Erklärung. Mit dieser zutiefst unchrist-lichen Beantwortung der Frage nach dem Ursprung des Bösen hat Augu-stinus das Gottesbild des Neuen Testamentes pervertiert: Aus dem Gottder vorbehaltlosen Liebe ist ein Schrecken verbreitender Willkürgott ge-worden. In vielfachen Brechungen läßt sich die verheerende und die Men-schen traumatisierende Wirkung dieses Gottesbildes durch die Jahrhun-derte verfolgen. Sie reicht über Martin Luther und insbesondere Johannes Calvin bis in unsere Gegenwart. Diese negative, gegen den Sinn der christ-lichen Botschaft gerichtete Tradition ist, lieber Herr Kollege Biser, geeig-net, die Notwendigkeit, den Rang und die Stellung Ihrer Neuen Theologieim Gang des abendländischen Christentums ins Bewußtsein zu rufen.Aber zurück zu unserem Problem: Wie kommt man zu einer Lösung, diedie genannten Aporien vermeidet?

B:Diese Lösung findet sich erstaunlicherweise ebenfalls bei Paulus.Paulus hat allerdings auch das schon vorhin zitierte verhängnisvolle Wortzu verantworten: „Der Tod ist der Sünde Sold.“ Er hat aber in der Korres-pondenz mit der Gemeinde von Korinth akkurat das Gegenteil gesagt, unddas sogar emphatisch: „Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?“Dem fügt er eine hochbedeutsame Bemerkung hinzu: „Der Stachel desTodes ist die Sünde.“ Damit wird die Sache plötzlich in die Gegenperspek-tive umgedreht: Jetzt ist der Tod nicht mehr die Straffolge der Sünde, son-dern die Sünde die Folge des Todes. Der Tod erscheint in diesem paulini-schen Bild als ein Antreiber, der mit einem Treiberstachel in der Hand dieMenschen zur Sünde anstachelt. So erklärt Paulus die Sündhaftigkeit desMenschen, und dies in einer Weise, die dessen Freiheit wahrt.

Jetzt ist es unsere Aufgabe, das zu reflektieren und zu erklären. Das aberführt schon bald zu der Einsicht, daß es im Menschenleben etwas letztlichUnannehmbares gibt: die Tatsache, daß wir sterben müssen. Natürlich istdas immer wieder kaschiert worden, und wir erleben ja gerade heute, daßunsere Zivilisation eine geradezu perfekte Kunst der Todesverdrängungentwickelt hat. Das ändert aber nichts an den tatsächlichen Gegebenhei-ten, denn mit dem Tod verhält es sich so wie im Grimmschen Märchenvom Gevatter Tod: Wenn man ihn durch den Hauseingang hinausschickt,kommt er durch die Hintertür wieder herein; der Tod läßt sich nicht ver-drängen. Er ist die elementare Herausforderung und Aufgabe des Men-schen. Nun aber die Frage: Was hat der Tod mit dem Bösen zu tun? Wiekommt Paulus dazu, zu sagen: Er stachelt uns zum Bösen an?

H:Ein weiteres Problem ist damit unmittelbar verbunden. Daß derMensch endlich ist, ist unvermeidbar – mit anderen Worten: Das Böse wirdam Ende auf Gott zurückgeführt, weil er den Menschen geschaffen hat.Gott kann keinen zweiten Gott schaffen; wenn er also etwas schafft, muß eswesenhaft endlich sein. Das ist die Grundsituation des Menschen und, wieSie erklären, liegt darin die Wurzel der angesprochenen Probleme.

B:In der Tat. Das ist ja eigentlich der Kern des sogenannten Theodizee-problems. Gott konnte jedoch nur eine relative, eine begrenzte, eine be-dingte Welt erschaffen. Das klingt ganz harmlos, doch die Bedingtheit un-seres Daseins wird uns in der Not unseres Sterbenmüssens drastisch vorAugen geführt und bewußtgemacht. Genau das ist der Tatbestand, mitdem wir uns nie ganz einverstanden erklären können. Dagegen erhebt sichein innerer Protest. Und in der Reaktion darauf wird der Mensch böse.Wenn man sich die Psychologie des Mörders, mit dem man ja immer wie-der in der Geschichte konfrontiert ist, vergegenwärtigt, erkennt man, daßder Mensch, wenn er schon selber sterben muß, dann die sadistische Nei-gung entwickelt, möglichst viele mit in seinen Tod hineinzureißen. DieseMechanik hat auch eine mildere Vorform, und die beginnt damit, daßman andere belügt und betrügt, beschädigt und haßt, daß man ihnen alsoBöses antut. Das alles aber ist nichts anderes als der Versuch, die anderenin das eigene Sterben mithineinzureißen. Denn wer den anderen haßt, tilgtihn tendenziell aus seiner Lebenswelt und ist, biblisch gesehen, „ein Men-schenmörder“ (1 Joh 3,15). Hier muß dann eingesetzt werden, wenn eineAlternative gefunden werden soll. Wo findet sie sich?

Im großen Konzert der Weltreligionen gibt es nur eine, die eine wirk-liche Antwort zu geben vermag, und das ist jene Religion, in deren Zen-trum der Gedanke der Todüberwindung steht, die Religion, die zentriertist im Dreh- und Angelpunkt der Auferstehung Jesu; dort allein kann einewirkliche Todüberwindung gefunden werden.

H:Das bedeutet: Der Tod ist zugleich die Wurzel aller möglichen Äng-ste, denen der Mensch ausgesetzt ist. Wenn das zutrifft, könnte man dasChristentum unter dieser Perspektive auch als die Religion der Angstüber-windung definieren.

B:Ganz richtig: Das Christentum ist die Religion der Angstüberwin-dung. Es muß nur noch gesehen werden, was die Angst mit dem Tod zutun hat. Aber dieser Zusammenhang ist manifest; denn der Tod hat jabekanntlich einen Bruder, den Schlaf. Aber er hat auch eine sehr vielschrecklichere Schwester, die Angst. Deswegen hängt das Problem der Tod-überwindung untrennbar mit dem der Angstüberwindung zusammen. Sohat die Neue Theologie die zentrale Aufgabe, das Christentum als die Reli-gion der Angstüberwindung herauszustellen und glaubhaft zu machen. 9. Die Angstüberwindung

H:Wenn man über den Menschen nachdenkt, stößt man, wie wir ge-sehen haben, sehr schnell auf die nicht wegdiskutierbare Einsicht, daß ersterben muß, daß er endlich ist. Und mit dem Tod ist unmittelbar das Phä-nomen der Angst verbunden, das zurückwirkt auf das ganze Leben. Wel-che Erklärung hat nun die Neue Theologie für diese Problematik?

B:Wenn die Neue Theologie etwas taugt, muß sie zu diesen beidenProblemen etwas zu sagen haben. Dann muß sich das Christentum erstensals die Religion der Todüberwindung und zweitens als die der Angstüber-windung erweisen; denn die Angst ist der Vorbote des Todes. Wer tiefgeängstigt ist, hat das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen,und das ist nichts anderes als ein Vorgefühl des Todes. Aber gegenüber die-sen beiden Grundkonditionen gibt es zwei gewaltige Hemmnisse. Wirleben nicht nur in einer Zeit der Todesverdrängung, sondern wir lebenauch in einer Zeit der Angstverdrängung; und das wäre vielleicht nichteinmal so schlimm, wenn nicht das Christentum hier eine zusätzlicheBarriere aufgebaut hätte.

Zunächst möchte ich noch einmal mit allen Diagnostikern betonen: Wirleben in einem Zeitalter der Angst. Eine so noch nie dagewesene Lebens-angst – so sagt der Philosoph Karl Jaspers – ist zum unheimlichen Begleiterdes modernen Menschen geworden. Das haben Dichter vom Range Wer- ner Bergengruens und Gertrud von le Forts und Denker vom Range Martin Heideggers mit allem Nachdruck bestätigt. Ich sprach gerade davon, daßhier von Seiten des Christentums eine zusätzliche Barriere aufgebaut wor-den ist; denn nach dem, was die meisten Christen unter Christentum ver-stehen, ist das Christentum keineswegs die Religion der Angstüberwin-dung, sondern die Religion der Angstsuggestion. Und tatsächlich habendie Kirchen jahrhundertelang gemeint, durch die Suggestion von Sünden-,Teufels- und Höllenängsten die Menschen disziplinieren und zur Akzep-tanz ihres Angebotes bewegen zu können. Es gibt ein erschütterndes Buchdes zwinglianischen Pfarrers Oskar Pfister , eines Freundes von Sigmund Freud : „Das Christentum und die Angst“. Die Bilanz dieses Buches zeigt,daß sämtliche christlichen Konfessionen, so weit sie in vielen dogmati-schen und kultischen Fragen auseinandergingen, doch in einem Punktübereinstimmten: Dem Menschen muß Angst gemacht werden, dann ist ergefügig und unterwirft sich den Geboten und Anordnungen der Kirche.Diese Strategie hat sich allerdings in unserer Zeit aufgelöst. Die jungenMenschen nehmen das längstens nicht mehr so ernst wie die älteren, diedurch diese Pädagogik traumatisiert sind.

Unabhängig davon muß nun gefragt werden: Stimmt das überhaupt,daß das Christentum Ängste suggeriert, oder stimmt die These der NeuenTheologie, daß das Christentum die Religion der Angstüberwindung ist?Wenn das gezeigt werden soll, muß zunächst einmal gesehen werden, daßes ein gewaltiges Panorama von Ängsten gibt: Inklusionsängste, Isolations-ängste, ökologische Ängste, soziale Ängste, religiöse Ängste, Lebensängste.Es kommt also darauf an, die Wurzelängste herauszufinden, an denen derMensch vor allen Dingen leidet. Und ich sehe drei derartige Fundamental-ängste. Das erste ist die Angst des Menschen vor Gott; und der Atheist hatnicht den mindesten Grund zu meinen, daß er davon unbehelligt bleibt,denn auch er sucht nach einer letzten Orientierung, nach einem letztenHalt und einer letzten Geborgenheit, wo immer er sie zu finden glaubt.Das ist die erste dieser Grundängste. Die zweite ist die Angst des Menschenvor dem Mitmenschen, die Sozialangst. Und die dritte ist die unheimlich-ste aller Ängste: Es ist die Angst des Menschen vor sich selbst, die Existenz-angst. Wenn man das einmal erkannt hat, dann wird klar: Hier kann dasChristentum eingreifen, hier kann es seine angstüberwindende Kompe-tenz unter Beweis stellen.

H:Mit dieser Zeitdiagnose machen Sie, Herr Kollege Biser, das christ-liche Gottesbild – befreit von den Verdunkelungen einer fehlgelaufenenEntwicklung – zum unterscheidenden Kriterium zwischen den verschiede-nen Religionen und ihren Angeboten.

B:Zweifellos. Damit hängt auch die Möglichkeit der Überwindung die-ser ersten aller Ängste zusammen. Das Christentum unterscheidet sich da-durch fundamental von allen anderen Weltreligionen – so viel es auch mitihnen in anderer Hinsicht gemeinsam hat –, daß es nicht einen ambivalen-ten Gott vertritt, der einmal liebt und dann wieder droht und straft, son-dern den Gott der bedingungslosen Liebe. Und dieser Gott der bedin-gungslosen Liebe, den nach meiner tiefen Überzeugung erst Jesus entdecktund in seiner Botschaft zur Geltung gebracht hat, dieser bedingungslos lie-bende Gott darf und kann nicht gefürchtet werden; denn er nimmt denMenschen diese tiefste aller Ängste, die Gottesangst, aus der Seele. Werdiesen Gott einmal im Glauben angenommen und gefunden hat, der hatkeinen Grund mehr, Gott zu fürchten. Und deswegen ist die schlimmstealler Ängste von ihm genommen.

H:Aber ist dieser Gott der bedingungslosen Liebe nicht unmittelbar inGefahr, beliebig zu werden, so daß man sagen kann: Ob so oder so, es istam Ende gleichgültig. Er hat schon alles besorgt.

B:Das ist ein Einwand, der leider auch von einer jüngeren Theologen-generation zur Zeit erhoben wird: Dieser Gott der Liebe sei ein Gott derBeliebigkeit, er toleriere alles, und deshalb könne man ihn vergessen. DieseTheoretiker übersehen nur, daß sie damit, wie ich bereits gegen sie einge-wendet habe, in die längst von Nietzsche – ausgerechnet im „Antichrist“ –aufgestellte Falle hineinlaufen, da auch für Nietzsche nur ein Gott des Zor-nes, des Hasses und der Rache ernstgenommen werden kann. In Wirklich-keit ist der Gott der Liebe die größte Herausforderung, da dem Menschenaufgrund seiner Gespaltenheit zwischen Selbstsucht und Selbstflucht undseiner dadurch bedingten Gebrochenheit der ambivalente Gott, der zwi-schen Güte und Drohung oszilliert, weit mehr entspricht als der Gott derbedingungslosen Liebe. Er überkommt ihn vielmehr wie ein gleißendes,blendendes Licht, ja wie ein „verzehrendes Feuer“, da er ihm zwar alles biszur Hingabe seines Sohnes gibt, aber auch Liebe aus ganzem Herzen undganzer Lebens- und Geisteskraft von ihm erwartet und fordert.

Das alles wird bei dem angesprochenen Einwand völlig übersehen.Demgemäß heißt die erste und grundlegende Forderung: Gib Gott das,was er dir gibt! Du sollst ihn lieben aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele,aus ganzer Wesens- und Geisteskraft. Das ist ja eine derart ungeheuerlicheForderung, daß man daran beinah zerbrechen möchte. Indessen gibt eseine Lösung, die allerdings schon in die Tiefendimension des Christen-tums hineinführt, und die besteht darin, daß dieser Gott, der dieses Unge-heuerliche von uns verlangt, es für uns tut: Er liebt sich selbst in uns.

H:Kann man zeigen, daß die Überwindung dieses fehlgeleiteten Got-tesbildes zugleich die Überwindung der beiden anderen Ängste anvisiert,die Sie vorhin angesprochen haben?

B:Unbedingt, denn die zweite Angst hängt natürlich mit dem Gebotzusammen: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Der Nächsteist der Partner, ohne den wir weder leben könnten, ohne den wir weder dieFähigkeit der Sprache besäßen noch das Glück der Liebe erleben könnten,ohne den wir somit überhaupt nicht menschlich existieren könnten. Aberdie Lebenserfahrung zeigt, daß wir auch den liebsten Menschen nie ganzan uns herankommen lassen. Ein letzter Sicherheitsabstand wird gewahrt,weil wir die Befürchtung nicht los werden, daß sich der ersehnte Partnervon heute über kurz oder lang in sein verhaßtes Gegenteil verwandelnkönne. Und wenn man die Geschichte menschlicher Beziehungen betrach-tet, besonders im Feld der Ehe, dann ist das eine nur allzu begreifliche Be-fürchtung. Dagegen muß nun ebenfalls mit dem Evangelium argumentiertwerden. In diesem Sinne hat Kierkegaard , der große dänische Dichter-philosoph, gesagt: Den Satz – du sollst deinen Nächsten lieben wie dichselbst – müßte man eigentlich anders übersetzen, nämlich nicht: liebe ihnwie dich selbst, sondern: liebe ihn als dich selbst. Erkenne, daß dein eige-nes Schicksal im anderen auf dem Spiel steht: Wenn du ihn annimmst,nimmst du dich selber an; wenn du ihn verwirfst und ihn fallenläßt, gibstdu dich selber auf. Deswegen ist die Liebe Gottes auch die Heilung derProblematik unserer Beziehung zum Partner, zum Nächsten.

H:Und damit steht der letzte Schritt an, nämlich das Problem, daßman sich selbst nicht ganz vertraut und vertrauen kann.

B:Richtig, denn der Mensch ist zutiefst gebrochen, so daß er sich seinerweder in gesundheitlicher noch in intellektueller und vor allen Dingenauch nicht in moralischer Hinsicht ganz sicher sein kann. Es können Ver-hältnisse auftreten, in denen auch die allerbesten Vorsätze versagen; des-wegen diese Angst des Menschen vor sich selbst, die unheimlichste allerÄngste. Indessen wäre unsere ganze Überlegung auf Sand gebaut, wennnicht auch hier eine Heilung von seiten des Evangeliums erfolgen könnte.Ich sehe hier sogar die schönste aller Möglichkeiten, aus dieser Angst befreitzu werden: durch das Geschenk der Gotteskindschaft. Es ist ein Gedanke,zu dem sich das Neue Testament am Ende geradezu jubelnd erhebt, wennder Erste Johannesbrief mit dem bereits angeführten Satz dazu auffordert:„Seht doch, welch große Liebe der Vater zu uns hegt, daß wir Kinder Gottesnicht nur heißen, sondern es sind.“ Wer sich durch Gottes Vaterliebe zudiesem Hochziel des Menschen geführt weiß, fühlt sich trotz aller Hinfällig-keit, trotz aller Versuchlichkeit und trotz seiner ganzen Erbärmlichkeit ansHerz Gottes gezogen und findet dort den Fixpunkt der Existenz, der allesüberstrahlt, was dem Menschen an Negativität und Beeinträchtigung an-haftet. Deshalb kommt es entscheidend darauf an, im Interesse der Angst-überwindung das Motiv der Gotteskindschaft neu zu entdecken und andie Menschen heranzutragen. Darin besteht dann die Therapie der drittenund unheimlichsten aller Ängste. Wenn das gelingt, ist das Christentum inder Tat als die Religion der Angstüberwindung erwiesen.

H:Die Tatsache, daß die Rede von der Gotteskindschaft in der heutigenTheologie nicht unbedingt im Vordergrund steht, ist zugleich ein Symp-tom für die Tatsache, daß das Christentum von seiner eigenen Identitätnoch entfernt ist und daß genau in dieser Richtung von der Neuen Theo-logie ein entscheidender Beitrag geleistet werden kann und muß. 10. Die Gottessohnschaft Jesu

H:Nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes ist die Gotteskindschaftdas eigentliche Ziel christlicher Existenz. Dieser Begriff erinnert unmittel-bar an das Problem der Gottessohnschaft. Bevor dieses Problem geklärt ist,kann man über die Gotteskindschaft nichts Fundiertes aussagen. Wie esgedacht werden kann und wie es verstanden werden muß, daß Jesus derSohn Gottes ist, dieser Sachverhalt ist naturgemäß einer der zentralen In-halte christlicher Reflexion. Im Laufe der Jahrhunderte wurden ganze Bi-bliotheken mit entsprechenden Traktaten über dieses Thema gefüllt. Siealle haben eines gemeinsam, sie sind nur für hochspezialisierte Fachleuteverstehbar. Eröffnet die Neue Theologie eine Möglichkeit, dieses Geheim-nis so darzustellen, daß es nicht nur theologischen Ansprüchen genügt,sondern darüber hinaus auch von einem Nichttheologen nachvollzogenwerden kann?

B:Das ist selbstverständlich eine ganz zentrale Aufgabe der NeuenTheologie, und ich würde sagen: Die Gotteskindschaft erinnert nicht nuran die Gottessohnschaft Jesu, sondern sie ist die unmittelbare Folge derweitergegebenen Gottessohnschaft Jesu. Der große Theologe William Wre- de sagte vor mehr als hundert Jahren: Jesus gibt seine Gottessohnschaft aufund wird ein elender Mensch wie wir, damit wir werden, was er ist –Söhne Gottes. Nach seiner Überzeugung ist die Gotteskindschaft dieweitergegebene Gottessohnschaft Jesu. Im Hinblick darauf stellt sich dannaber das große Problem: Wie ist die Gottessohnschaft Jesu zu erklären,und das vor allem im Lichte der Neuen Theologie? Wie ist Jesus zum Be-wußtsein seiner Gottessohnschaft gelangt? Dabei gehört es zu den Präro-gativen der Neuen Theologie, daß das Menschsein Jesu ernstgenommenwird; denn Jesus muß als Mensch all das einholen, was er nach dem christ-lichen Dogma von Ewigkeit her ist. Weil er ein menschliches Bewußtseinwie wir hat, ein Bewußtsein des Fragen-Müssens, auch des Zweifeln-Könnens, muß vor diesem Hintergrund geklärt werden, wie er zur Gottes-sohnschaft gelangte.

H:Das besagt, daß die traditionelle Vorstellung, Jesus habe von Kindauf immer schon gewußt, was seine Aufgabe sei, daß diese traditionelleVorstellung verabschiedet werden und einer neuen Reflexion dieses Pro-blems weichen muß.

B:Unbedingt! Es muß sozusagen die Anthropologie in die Christologieeinbezogen werden; wir müssen Jesus aus seinem Menschsein zu verstehensuchen. Dabei gibt es nicht nur die traditionelle Auffassung, wonach eralles schon von Kindheit an gewußt hat; vielmehr scheint sich auch vomEvangelium her eine einfache Lösung anzubieten, die sich aber bei nähe-rem Zusehen als nicht haltbar erweist. Da wird Jesus nach der Taufe durchdie Himmelsstimme gesagt: „Du bist mein geliebter Sohn, dich habe icherwählt.“ Für viele Theologen ist damit das Problem gelöst: Er hat eine Vi-sion gehabt; diese Vision war verbunden mit einer Audition – er hat etwaszu hören bekommen, und zwar dieses wunderbarste Wort, das jemalseinem Menschen zugesprochen worden ist: „Du bist mein geliebter Sohn.“Aber das Ganze hat einen Haken.

H:Woher weiß man das?

B:Nach den ältesten Berichten ist Jesus der ausschließliche Hörer die-ser Himmelsstimme, und es ist ausgeschlossen, daß er das dann seinenJüngern weitererzählt hat. Deshalb entfällt diese scheinbar so einleuchten-de und einfache Erklärung. Eins aber stimmt: Das ganze Evangelium istdurchzogen vom Gedanken der Gottessohnschaft, denn nicht nur dieHimmelsstimme sagt ihm das; selbst der satanische Widersacher gibt zu,daß er um die Gottessohnschaft Jesu weiß, wenn er ihn in der Versu-chungsszene mit der Aufforderung: „Wenn du der Sohn Gottes bist, dannsprich, daß aus diesen Steinen Brot wird, dann stürze dich da hinab!“, vonseiner Sendung abzubringen sucht. So setzt es sich dann fort bis in die Ver-hörszene. Da wird er gleichsam durch den menschlichen Widersachernoch einmal gefragt: „Bist du Christus, der Sohn des lebendigen Gottes?“Im Zentrum von alledem steht dann jene großartige Szene, in der Jesus anseiner eigenen Sendung und Identität irregeworden ist und in der ersich in seiner Herzensnot an seine Jünger mit der Frage wendet: „Für wenhaltet ihr mich?“ Da nimmt sich Petrus ein Herz und antwortet: „Dubist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ Jesus reagiert geradezuenthusiastisch: „Selig bist du, Simon, Sohn des Jonas. Nicht Fleisch undBlut haben dir das geoffenbart, sondern mein Vater, der im Himmel ist.“Das heißt: Aus dir hat die Himmelsstimme erneut zu mir gesprochen. Dasist der cantus firmus, der sich durch das Evangelium hindurchzieht. Wiraber müssen uns nun unter dem Eindruck der vorhin erhobenen Einwän-de ganz neu fragen: Wie kann das bewußtseinsgeschichtlich erklärt wer-den?

H:Und in diesem Zusammenhang muß erneut darauf hingewiesenwerden: Alle diese Sätze sind im Licht der Auferstehung geschrieben. Essind kerygmatische Texte, Verkündigungstexte, und es ist keine nacherzäh-lende Biographie.

B:Das ist ein ganz wichtiger Gedanke, weil man im Grunde nie genugbetonen kann, daß es das Evangelium nicht gäbe, wenn Jesus nicht aufer-standen wäre. An den Lehren eines am Kreuze Hingerichteten hätte keinMensch ein Interesse genommen; nur die Auferstehung erklärt die Entste-hung des Evangeliums. Das aber hat dann die von Ihnen mit Recht ange-sprochene Konsequenz, daß alle Aussagen des Evangeliums im Licht vonOstern stehen. Von dort her ist dann allerdings klar, warum der Gedankeder Gottessohnschaft eine so große Rolle spielt; man darf nur an den Ein-gang des Römerbriefes denken: „Er wurde eingesetzt zum Gottessohn mitMacht durch die Auferstehung von den Toten.“ Wir aber haben die Auf-gabe, das verstehend und glaubend nachzuvollziehen.

Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß sich die Lebensgeschich-te Jesu viel dramatischer darstellt, als es gemeinhin gesehen wird. Ichsprach gerade eben von der Krisenstunde im Leben Jesu; das war die Reak-tion auf den Massenabfall; am Anfang steht der riesenhafte Erfolg; dieMenschen strömen ihm zu; sie begleiten ihn bis in die Steppe hinein, ver-gessen Essen und Trinken. Aber dann kommt es zu diesem großen Mas-senabfall, und Jesus steht einsam da und fragt: Wer bin ich eigentlich? Unddazu gehört dann auch, daß er von einem bestimmten Punkt an – das sagtvor allen Dingen das Lukasevangelium in aller Deutlichkeit – bewußt denTodesweg einschlägt. Er geht ganz zielsicher Jerusalem entgegen, obwohl erweiß: „Jerusalem, Jerusalem, du mordest die Propheten und steinigst die,die zu dir gesandt sind. Wie oft wollte ich deine Kinder um mich sam-meln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt. Ihr aberhabt nicht gewollt.“ Er geht also auf die Stadt zu, von der er weiß, daß sieihm den Tod bringt.

Meine Erklärung knüpft nun daran an, und das muß auch im Zentrumder Neuen Theologie stehen, daß sich auf diesem Todesweg das VerhältnisJesu zum Tod grundlegend änderte. Im anderen Fall wäre es der Weg einesSelbstmörders gewesen. Tatsächlich gibt es neuerdings die amerikanischeJesus-Biographie von Jack Miles , die genau das behauptet; doch das kannselbstverständlich unmöglich angenommen werden. Nein, das Verhältniszum Tod muß sich für Jesus signifikant geändert haben. Natürlich ist derTod zunächst auch für ihn das, was er für jeden Menschen ist: das unab-wendbare Schicksal, die große Herausforderung am Ende des Lebens unddeswegen auch ein ihm von Gott zugewiesenes Verhängnis. Doch muß esschließlich dazu gekommen sein, daß Jesus den Tod nicht mehr als Schick-sal und Verhängnis, sondern als Ansinnen und Aufgabe empfunden hat.Wenn das angenommen werden kann, haben wir die Lösung: Denn dannist der Tod für ihn erstens der eigentliche Zielpunkt seiner ganzen Lebens-geschichte, so daß man geradezu sagen kann, daß er sein Lebenswerk nicht– wie wir Menschen erwartet hätten – durch eine grandiose Aktion, son-dern durch die Passion, also durch sein Leiden und Sterben gekrönt hat.Vor allen Dingen muß sich dabei sein Gottesbild geändert haben: Gott warnicht mehr derjenige, der ihm das Todesschicksal auferlegte, sondern der-jenige, der ihm den Tod als Aufgabe gestellt hat. Gott ist für ihn nicht mehrnur der Herr über Leben und Tod, sondern der ihn ins Haus seiner Liebeeinladende Vater. Hier sehe ich den eigentlichen Durchbruch zum Gedan-ken an die Vaterschaft Gottes, wie er sich dann in der Gottesanrufung„Abba, Vater!“ artikuliert. Und korrespondierend dazu erblicke ich hierauch – zweitens – das Erwachen Jesu zum Bewußtsein seiner Gottessohn-schaft; denn wenn Gott der Vater ist, ist er der Sohn.

H:Die gesamte Entwicklung hat also zwei Seiten: einmal das Verhältniszu Gott und zum andern das Zu-sich-selbst-Kommen. In diesem Prozeßwird ihm schließlich seine Aufgabe bewußt, die im Tod kulminiert und inder Auferstehung ihr eigentliches Ziel erreicht.

B:Es ist ja interessant, daß einer der größten Denker des ausgehendenMittelalters, Nikolaus von Kues , das schon genauso gesehen hat. Er sieht dieganze Gottesoffenbarung als eine die ganze Weltgeschichte durchtönendeStimme. Sie erklingt zunächst einmal im Herzen des Menschen. Dann ruftGott diese Stimme durch den Mund der Propheten in die Geschichte hin-ein; im letzten der Propheten, Johannes dem Täufer, wird sie dann zurStimme des Rufenden in der Wüste. Nachdem sie in Jesus Mensch gewor-den ist, durchläuft sie eine ganze Reihe von unterschiedlichen Modulatio-nen, bis sie schließlich im Todesschrei des Gekreuzigten ausklingt. Dasentspricht nun genau dem, was Sie gerade gesagt haben: Es ändert sichjetzt das ganze Bild der Offenbarung, aber mit ihm zusammen auch dasBild des Lebenswerkes Jesu, und der Tod ist dann nicht mehr ein passivesGeschehen, das ihm widerfährt, sondern die Tat, mit der er sein ganzes Le-benswerk krönt.

H:Aber jetzt muß ich doch noch einmal zu dem Ausgangsbegriff zu-rückkommen: Was heißt Gottessohn? Es sind ja alles Begriffe aus unsererErfahrungswelt und sie können sicher so nicht direkt auf dieses Verhältnisangewandt werden, sondern nur analog, wie man in der Fachsprache sagt.Was bedeutet das jetzt?

B:Das bedeutet, daß Jesus in einem einzigartigen Verhältnis zu Gottsteht, für das sich in unserer menschlichen Terminologie nur das BildVater – Sohn anbietet. Man könnte es etwas wissenschaftlicher aus-drücken: Er überschreitet das kreatürliche Verhältnis zu Gott und gewinntein genealogisches. Gott hört nicht auf, sein Schöpfer zu sein, aber er wirdfür ihn zugleich etwas vollkommen Neues: sein Vater; und von da an ge-staltet sich das Verhältnis Jesu vollkommen neu. Ich muß allerdings nocheinmal hinzufügen: Diese Überlegung schließt das Dogma von der Prä-existenz Jesu, wonach er schon von Ewigkeit her Sohn Gottes ist, keines-wegs aus. Wenn das Menschsein Jesu ernstgenommen werden soll, muß erjedoch lebensgeschichtlich das einholen, was er, dogmatisch gesehen,schon von Ewigkeit her ist. Das ist die These der Neuen Theologie zurGottessohnschaft Jesu, die ihrerseits die Grundvoraussetzung unserer Got-teskindschaft ist.

H:Das wäre dann der Versuch, in der heutigen Kategorialität und mitheutigen Vorstellungen das Gleiche zu denken, was andere Epochen mitihren Mitteln gedacht haben.

H:Unsere bisherigen Überlegungen führen zu einer folgenschwerenFrage: Wie hat Jesus diese seine Botschaft an uns vermittelt? Wie erfahrenwir davon?

B:Das ist eine ganz zentrale Frage, denn wir haben ja jetzt eine ArtSchlüssel zu seinem ganzen Werk. Wir sprachen von der GottessohnschaftJesu, und das ganze Werk stellt sich jetzt dar als die fortgesetzte Weitergabeseiner Gottessohnschaft an uns, so die zentrale Aussage der Neuen Theolo-gie. Man hat das Lebenswerk Jesu meistens unter der Perspektive der Erlö-sungstat gesehen – das soll in gar keiner Weise bestritten werden –, nunaber geht es um eine neue und, wie mir scheint, überzeugendere Sicht,nach welcher sein Lebenswerk darauf abzielt, seine Gottessohnschaft anuns weiterzugeben. Die Frage ist nur: Wie kann er das? Wie vollbringt erdas? Welche Mittel stehen ihm zu Gebote?

Natürlich ist etwas ausgeschlossen; Jesus kann nicht vor die Welt hintre-ten und sagen: Ich bin der Sohn Gottes! Damit würde er sich im jüdischenUmfeld nur den Vorwurf der Gotteslästerung einhandeln. Er muß dahereinen Mittelbegriff finden, um das, was er ist, in einer kommunizierbarenund verstehbaren Sprache an die Menschen heranzutragen. Diesen Mittel-begriff entnimmt er der prophetischen Tradition, näherhin der Menschen-sohn-Vision des Buches Daniel (Dan 7,14), in der die das Volk Israelrepräsentierende Himmelsgestalt des Menschensohnes vor den ThronGottes gebracht und von Gott beauftragt wird, das Reich Gottes heraufzu-führen. Nach meiner Ansicht muß es in der Bewußtseinsgeschichte Jesuden vom Johannesevangelium bestätigten Augenblick gegeben haben (Joh1,51), in welchem Jesus sich in der Himmelsgestalt wiedererkannte, waszur Folge hatte, daß deren Aufgabe, das Gottesreich heraufzuführen, inseine Hand fiel. Mit dieser Aufgabe hatte er dann auch den Mittelbegriffgefunden, mit Hilfe dessen er seine Gottessohnschaft an die Menschenweitergeben konnte, aber auch seine Selbstbezeichnung als Menschensohn.

H:Darf ich kurz methodisch dazwischenfragen? Das würde bedeuten,daß sich der historische Jesus in dem Bewußtsein, diese Aufgabe zu haben,noch nicht als der Sohn Gottes verstanden hat?

B:Das ist eine schwer entscheidbare Frage.

66

H:Wäre es möglich?

B:Was hat Priorität? Er bezeichnet sich ja immer wieder als Menschen-sohn. Manche dieser Menschensohn-Worte sind ihm sicher erst nachträg-lich zugewiesen worden, aber einige sind originäre Aussagen Jesu. Und dasProblem, das Sie jetzt mit Recht angesprochen haben, heißt: Was hat diePriorität? Sein Bewußtsein, der Sohn Gottes zu sein, oder das Bewußtsein,der Menschensohn zu sein? Ich wage hier keine Entscheidung zu treffen;denn manches in der Bewußtseinsgeschichte Jesu ist und bleibt uns ver-borgen. Ich könnte mir allerdings vorstellen, daß beide Einsichten in rela-tiv kurzer Abfolge von ihm gewonnen wurden. Auf jeden Fall verfügt erjetzt im Begriff „Reich Gottes“ über die Vokabel, mit der er sich, recht ver-standen, selbst zur Sprache bringt.

Das ist übrigens die Überzeugung eines der größten Theologen derChristenheit: Origenes von Alexandrien . Er hat sich wohl als erster oder alseiner der ersten die Frage gestellt: Was meint denn Jesus, wenn er ständigvom Reich Gottes spricht? Und seine Antwort heißt: Autobasileia – er wardieses Reich Gottes selbst, das Reich Gottes in Person. Indessen muß Jesusnoch eine zweite Barriere überwinden. Eines Tages kommen die Pharisäerund sagen zu Jesus: Du redest dauernd vom Reich Gottes. Zeige es unsdoch! Und Jesus muß gestehen: „Das ist unmöglich. Es kommt nicht mitsichtbarer Gestalt, auch kann man nicht sagen: Es ist hier oder dort“ – dasheißt: Man kann es nicht einordnen in das Koordinatensystem von Raumund Zeit, „denn es ist mitten in euch“. Und nun soll er etwas sagen, wasweder definiert noch in das Koordinatensystem von Raum und Zeit einge-bracht werden kann, sondern mitten in und unter den Menschen ist. Eineungeheure Aufgabe!

Hier wird Jesus nach einer Grundposition der Neuen Theologie zumgroßen Sprachschöpfer. Wir machen immer wieder den Fehler, Jesus nurals eine Gestalt der Religionsgeschichte zu sehen, und wir berücksichtigenviel zu wenig, daß von ihm auch zentrale Impulse für die Neugestaltungder Lebenswelt ausgegangen sind. Er ist also auch eine Gestalt der Sozial-geschichte. Doch ist er nicht zuletzt eine Gestalt der Sprachgeschichte.Und eine seiner größten sprachgeschichtlichen Leistungen besteht in derSchaffung seiner Gleichnisse.

Wenn man diese Gleichnisse durchforstet, wird man sehen, daß sie imGrunde alle eine einzige Aufgabe zu lösen suchen, die der Markusevange-list umschreibt, wenn er Jesus mit dem Wort auftreten läßt: „Die Zeit isterfüllt und das Reich Gottes ist nah. Denkt um und glaubt an die Heilsbot-schaft.“ Dieses Umdenken, diese Metanoia, mußte den Menschen ver-mittelt, in dieses Umdenken mußten sie hineingezogen werden. Daß dieGleichnisse dieses Ziel verfolgen, läßt sich an einigen Beispielen festma-chen. So möchte man im Gleichnis von der Aussaat zu dem Sämann sagen:Du hast eine Pechsträhne, denn einiges ging dir schon auf dem Weg ver-loren, anderes fiel auf steinigen Grund, weiteres unter die Disteln undDornen. Gib doch auf! Doch dieser Mann setzt, unbekümmert um unsereEinrede, seine Arbeit fort und wird großartig belohnt: „und es ging aufund brachte Frucht: dreißigfach, sechzigfach, hundertfach“. So gelesen istdas Gleichnis eine einzige Ermutigung, trotz aller Rückschläge, trotz Ent-täuschungen und Frustrationen nicht aufzugeben, sondern durchzuhalten.Solche Leute braucht Jesus.

H:Daraus folgt mit einer gewissen Notwendigkeit, daß es nahezu aus-geschlossen ist, die Gleichnisse auf den Begriff zu bringen. Der Versuch,das Christentum von der griechischen Philosophie her zu verstehen undseine Inhalte zu erfassen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt.

B:Deswegen ist es auch nicht möglich, aus den Gleichnissen Lehrsätzeoder moralische Direktiven abzuleiten. Es gibt allerdings in der Geschichtedes Christentums traurige Beispiele, wo man aus Gleichnisworten derarti-ge Direktiven abgeleitet hat, so etwa wenn Augustinus aus dem „compelleintrare – zwinge sie einzutreten“ im Gleichnis vom großen Gastmahl dasRecht auf Gewaltanwendung folgert. Doch zurück zu den Gleichnissenund ihrer Intention!

Eines der signifikantesten ist bekanntlich das Gleichnis von den Wein-bergarbeitern, bei dem jeder Leser spontan für die Partei ergreift, die sicham Abend frustriert und enttäuscht zeigen, denn sie sind denen gleich-gestellt worden, die nur eine Stunde gearbeitet haben. Wir aber gehen inunserem Gerechtigkeitsgefühl davon aus, daß eine große Leistung einengroßen Lohn verdient und eine geringe Leistung nur gering entlohnt zuwerden braucht. Doch im Gleichnis Jesu werden die, die nur eine Stundelang gearbeitet haben, denen gleichgestellt, die mit Fug und Recht von sichsagen: „Wir haben die ganze Last dieses Tages getragen und diese unaus-stehliche Hitze.“ Schließlich wird der protestierende Wortführer dieserErsteingestellten sogar kalt abgefertigt: „Freund, bin ich mit dir nicht übereinen Denar übereingekommen? Nimm dein Geld und geh! Oder darf ichmit meinem Geld nicht machen, was ich will, oder bist du vielleicht nei-disch, weil ich großzügig bin?“ Da werden unsere allzu menschlichenMaßstäbe von Recht und Gerechtigkeit buchstäblich zerbrochen; da voll-zieht sich die Metanoia.

Es gibt in den Gleichnissen noch mindestens zwei, die einen ganzenSchritt weitergehen und die mir deswegen besonders am Herzen liegen:das Gleichnis vom fürbittenden Weingärtner und das Gleichnis vom die-nenden Herrn. Der fürbittende Weingärtner wird vom Herrn des Wein-bergs aufgefordert, den offensichtlich unfruchtbaren Feigenbaum, vondem er drei Jahre lang nichts zu ernten vermochte, auszuhacken und insFeuer zu werfen. Der aber protestiert: „Herr, lass ihn doch noch stehen; ichwill den Boden umgraben und Dünger einlegen. Vielleicht bringt er dochnoch Frucht.“ Das ist ein Einsatz am verlorenen Objekt, denn der Wein-gärtner weiß natürlich, daß der Baum unfruchtbar ist. Aber er hat zu die-sem Baum ein nahezu symbiotisches Verhältnis aufgenommen und willihn unbedingt retten. Ja, wer tut so etwas? Die Antwort heißt: nur Jesusallein.

Das andere Gleichnis ist vielleicht noch beredter. Da kommt der Herrzur abendlichen Stunde zurück, er hat seiner Dienerschaft befohlen wachzu bleiben; und nun steht sie da mit brennenden Lampen in den Händen,um ihn zu empfangen. Er aber ist derart gerührt, daß er sich gürtet und siezu Tisch bittet, um sie zu bedienen. Aus lauter Freude über die Treue derDienerschaft hat er die Herrenrolle mit einer Sklavenrolle vertauscht. Wertut so etwas? Antwort: Jesus allein. Das Markusevangelium fügt dann denentscheidenden Satz hinzu: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, umsich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen.“ Genau das wird in die-sem hintergründigen Gleichnis zum Ausdruck gebracht. Nun könnte manallerdings noch einen Schritt weitergehen und fragen: Womit bedient unsdenn Jesus? Die einzig zutreffende Antwort lautet: Mit sich selbst! Er ist,wie Paulus sagt, das große Gottesgeschenk, das er selbst uns macht, unddas uns Gott in ihm mit sich macht. Um diese Achse bewegen sich imGrunde alle Gleichnisse. Sie sind, in letzter Vereinfachung gesprochen,Gleichnisse von der uns geschenkten Gottessohnschaft Jesu.

H:In diesem Zusammenhang ist in einem weiteren Schritt von denWundern zu sprechen, die ja in ihrer Art dieselbe Funktion haben wie dieGleichnisse, nämlich die Verkündigung des Reiches Gottes.

B:Ganz richtig! Es gibt sogar ein Wort, in dem sich Jesus die von Ihnenerwähnte Ansicht zueigen macht. Angegriffen, weil er Dämonen ausgetrie-ben hatte, antwortet er den ihn des Satansbundes bezichtigenden Gegnern:„Wenn ich aber mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, ist dasReich Gottes schon zu euch gekommen.“ Das heißt im Klartext: Die Wun-der sind tathafte Verkündigungen des Gottesreichs. Jesus verfügt nicht nurwie wir über die „Verbalsprache“, die Sprache in Worten und Bildern, son-dern auch über eine „performative“ Sprache, also über eine Tatsprache:Wenn er Wunder wirkt, wenn er Stummen zur Sprachfähigkeit verhilft,wenn er Blinden das Augenlicht schenkt und Aussätzige heilt, sind das Zei-chen dafür, daß Gott Hand an die Welt gelegt hat und daß die Welt im Be-griff steht, sich in jene Neuordnung aller Dinge zu verwandeln, die in derSprache Jesu „Reich Gottes“ heißt. 2. Wunder und Tod Jesu

H:Bei der Frage, wie Jesus sein Selbstverständnis und seinen Sendungs-auftrag seinen Mitmenschen vermittelt hat, sind wir in unserem letztenGespräch auf die literarische Gattung der Gleichnisse gestoßen. In diesenZusammenhang gehört auch das Phänomen des Wunders im Neuen Testa-ment. Dabei ist aber vorweg zu fragen: Handelt es sich im Neuen Testa-ment um Wunder oder um Wundergeschichten, und vor allem: Was sollunter Wunder präzise verstanden werden?

B:Das sind zwei grundverschiedene Fragen: Die erste betrifft den Zu-sammenhang der Lehrverkündigung Jesu mit den Wundern. Daß Jesus einWundertäter war, steht außer Zweifel. Die Frage ist nur: Was haben dieseWunder mit seiner Verkündigung zu tun? Die beiden Welten scheinendoch zunächst völlig auseinanderzuklaffen. In Wirklichkeit gehören sie je-doch aufs engste zusammen: Jesus verfügt im Unterschied zu uns nichtnur über eine von seinem Umfeld als überwältigend empfundene Verbal-sprache (Mk 1,22), sondern auch über die sich in seinen Wundern artiku-lierende Tatsprache, die allen, insbesondere aber den von ihm Geheilten,vor Augen führte, daß Gott im Begriff steht, die Welt ihrem Elend undihrer Leidbehaftung zu entreißen, und daß das von ihm angesagte Gottes-reich tatsächlich im Kommen ist.

Die zweite Frage, die Sie gestellt haben, bezieht sich auf die Tatsächlich-keit der Wunder. Wie ist sie zu beurteilen? Handelt es sich bei den Wun-dern um historische Fakten? Wiederum wird man sagen müssen: Es stehtaußer Zweifel, daß Jesus ein Wundertäter war. Doch bei diesen Wundernmuß man unterscheiden: Es gibt Heilungswunder – sie stehen zweifellos inder Frage der Faktizität an der Spitze –, es gibt aber auch Übertragungs-wunder und es gibt Zeichenhandlungen. Ich darf auf diese drei Formenganz kurz eingehen.

Unter den Wunderheilungen stehen merkwürdigerweise die für uns amschwersten nachvollziehbaren, die Dämonenheilungen, an der Spitze. Manmuß davon ausgehen, daß es damals keine psychiatrischen Anstalten gabund daß das Umfeld Jesu von Irrsinnigen heimgesucht war. Da er sich alsder Helfer der Menschheit verstand, hat er eingegriffen. Dabei muß manannehmen, daß Jesus über eine ungeheure Suggestivität verfügte, die esmit sich brachte, daß Besessene – wir würden heute sagen psychisch Kran-ke – in seiner Nähe Heilung fanden. Es gibt dafür ein spektakuläresBeispiel: Maria von Magdala, aus der Jesus nach dem Bericht des Lu-kasevangeliums sieben Dämonen ausgetrieben hat und die somit eineSchwergestörte gewesen sein muß. Sie wird im Umgang mit ihm gesundund zu seiner treuesten Anhängerin und Jüngerin. Das zeigt sich darin,daß sie mit anderen Frauen zusammen unter dem Kreuz steht und daß ihr– im Vergleich zu Petrus – sogar die erste Ostererscheinung zuteil wird. In-sofern sind die Dämonenheilungen ein wichtiges Segment der TätigkeitJesu.

H:In diesem Kontext möchte ich noch einmal zurückfragen. Es ist be-kannt, daß es in der damaligen Zeit, im hellenistischen und im jüdischenRaum, viele Wundertäter gab, der bekannteste ist wohl Apollonius von Tyana († 97 n.Chr.). Bei ihnen finden wir die gleichen Erzählungen, zumTeil nach der gleichen Struktur aufgebaut. Worin besteht die Differenz zuden Wundern Jesu, was macht das Singuläre seiner Taten aus?

B:Die Wunder Jesu sind nie seine eigenen Taten. Der Theologe Ernst Fuchs , Nachfolger von Rudolf Bultmann in Marburg, sagt, Jesus wagte, imNamen Gottes zu handeln. Darin bestand also der große Unterschied: Diedamals hervortretenden Wundertäter wie Apollonius von Tyana oder der Magier Simon haben in eigenem Namen und im Vertrauen auf ihre eigeneKraft ihre Wundertätigkeit ausgeübt. Jesus wirkt dagegen allein durchGott, so daß dessen Macht in seinen Handlungen sichtbar wird.

H:An der historischen Faktizität ändert sich also nichts, es ist nur dieKraft, die durch ihn übertragen wird.

B:So ist es. Es gibt sogar noch eine zweite Möglichkeit, und die wirddeutlich, wenn Jesus andere an seiner Stelle Wunder tun läßt. Das ist derFall im Umgang mit der verzweifelten Frau, die sich wegen ihrer psychischgestörten Tochter an ihn wendet und der er am Schluß eines bewegendenGesprächs zugesteht: „Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie dugewollt hast.“ In diesem Fall überträgt er die ihm von Gott geschenkteWundermacht auf die Bittstellerin, die somit ihre Tochter selbst von ihremLeiden heilt. Was nun die Faktizitätsfrage betrifft, so hat Jesus zweifellospsychisch Kranke geheilt, Blinden das Augenlicht und Tauben das Gehörgeschenkt, ja sogar Aussätzige geheilt. Indessen gibt es zwei weitere Kate-gorien, auf die ich vorhin schon hingewiesen habe: die Übertragungswun-der und die danach zu besprechenden Zeichenhandlungen.

Manche Wundererzählungen des Evangeliums spielen auf alttestament-liche Berichte an; denn es lag im Interesse des neutestamentlichen Den-kens, Jesus als den Erfüller alttestamentlicher Geschehnisse darzustellen.Dazu gehören zum Beispiel die Speisungswunder, wie sie von Mose undElija erzählt werden, oder auch der Gang Jesu über den See: eine Anspie-lung auf Jahwes, des Bundesgottes, Fahrt über das Meer. Hier werden alt-testamentliche Motive auf Jesus übertragen. Und dann gibt es noch alsdritte Kategorie die soeben erwähnten Zeichenhandlungen: Von alttesta-mentlichen Propheten werden manchmal absonderliche Geschichten er-zählt. Sie hatten die Bedeutung, das, was sie angekündigt und öfter nochangedroht haben, den Menschen auf bildhaft-eindringliche Weise vorAugen zu führen. Solche Zeichenhandlungen werden auch von Jesus be-richtet. Dazu gehört nach meinem Verständnis schon das große Spei-sungswunder; denn bei diesen Zeichenhandlungen liegt der Akzent nichtso sehr auf dem wunderbaren Geschehen als vielmehr auf dessen Deutungund Bedeutung. In der großen Brotrede, die Jesus im Anschluß an dieSpeisung in der Synagoge von Kapharnaum hält, gibt er die Deutung mitdem Wort: „Ich bin das Brot des Lebens.“ Etwas Ähnliches ist der Ver-fluchung des Feigenbaumes zu entnehmen. Da soll drastisch gedeutet undgezeigt werden, daß Israel im Begriff steht, sein Heil zu verfehlen und daßes als dürrer Baum dem Gericht verfallen ist. Doch das bedeutendste die-ser Zeichen – auf das wir noch zurückkommen – betrifft die Deutungseines eigenen Todes bei seinem Abschiedsmahl.

Zuvor wollte ich jedoch etwas ansprechen, was mir in diesem Zu-sammenhang wichtig erscheint. Nach dem amerikanischen Exegeten Re- ginald H. Fuller haben die Wundergeschichten die Tendenz, auf Jesus hin-zuweisen. Sie wollen nicht so sehr als Berichte über bestimmte Vorkomm-nisse gelesen werden als vielmehr ihn selbst in eine neue Perspektiverücken. Das heißt folglich: Die Wundergeschichten des Evangeliums ver-folgen die Tendenz, Jesus selbst als das große Gotteswunder herauszustel-len. Das aber ist eine Perspektive, die nach meiner Meinung erst neu ent-deckt werden muß, denn Jesus gilt meist nur als Vorbildgestalt; daß er aberdas eigentlich Wunderbare in der Geschichte zwischen Gott und den Men-schen ist, wird kaum gesehen.

H:Viele Wunder richten sich also nicht nach dem objektiven Gesche-hen, sie sind vielmehr Aussagen über den, der das Wunder tut, und sindinsofern christologische Aussagen.

B:Darauf möchte ich nun ganz besonders abheben, denn wenn das derFall ist, dann zeigt sich plötzlich ein Zusammenhang zwischen Wunderund Glauben. Bei Goethe liest man: „Das Wunder ist des Glaubens liebstesKind.“ Diesen Satz kann man aber auch umkehren, und dann würde mansagen müssen: Der Glaube ist des Wunders schönste Frucht. Wenn dasstimmt, wenn also Jesus selbst das große Gotteswunder ist, ist er selber derleibhaftige Beweis der Wahrheit seiner Verkündigung; dann ist uns in ihmdas Gottesreich nahe gekommen und dann erweckt seine Erscheinung denGlauben.

H:Aber in diesem Zusammenhang müssen wir den von Ihnen, lieberHerr Biser, vorher schon genannten Tod Jesu bedenken, denn dieser Sach-verhalt kontrastiert ja in höchstem Maße mit dem, was wir bis jetzt überihn und über die Aussagen, die über ihn gemacht wurden, miteinander be-dacht haben.

B:So wie die Dämonenaustreibungen das bestbezeugte Ereignis derWundertätigkeit Jesu sind, so ist sein Tod das bestbezeugte Ereignis seinesLebens. Das aber heißt, daß hier ein scharfer Schnitt besteht zwischendem, was er getan hat, als was er erlebt wurde, und dem, was er erlittenhat. Jesus erleidet ja, mit den Worten der antiken Historiker ausgedrückt,die „turpissima mors crucis“, den „schauerlichen Tod am Kreuz“. Das er-scheint wie eine völlige Widerlegung all dessen, was er gewollt, getan undden Menschen entgegengebracht hat. Und das heißt dann, daß das Kreuzzunächst als der denkbar schärfste Widerruf seiner ganzen Lebensleistungerscheint. Darüber kann nie genug nachgedacht werden.

Das hat natürlich die Urgemeinde von Anfang an getan, denn über ihrlastete ja eine Frage, die am deutlichsten von Friedrich Nietzsche mit denWorten gestellt worden ist: „Wer war das? Was war das? Warum geradeso?“ Besonders die letzte Frage peinigte das Bewußtsein der Urgemeinde;denn sie mußte sich fragen: Warum haben wir ihn nur so kurz gehabt?Zwei, maximal zweieinhalb Jahre? Und dann dieses schauerliche Ende, dasman ihm am wenigsten zugedacht hätte. Warum mußte er das erleiden?Das war der ungeheure Leidens- und Sinndruck, der auf der Urgemeindelastete und der nach einer Lösung verlangte.

H:Damit stehen wir also vor der Tatsache, daß der Tod Jesu als solcherüberhaupt nichts aussagt. Wir brauchen Kriterien, um dieses historischbelegbare Ende zu deuten, und das ist wohl eine ganz entscheidende Auf-gabe der Theologie, auch Ihrer Neuen Theologie.

H:Daß der Kreuzestod Jesu als Opfer verstanden werden muß, gehörtzu den selbstverständlichen und auch im Laufe der Theologiegeschichtekaum hinterfragten Theorien des Christentums. Wenn man aber – was Siemit großem Nachdruck herausgearbeitet haben – davon ausgeht, daß JesusGott als den vorbehaltlos liebenden Vater entdeckt hat, dann kommendoch Bedenken auf, und man muß fragen, ob die ganze Problematik nichtnoch einmal im Licht dieses Gottesverständnisses gesehen werden muß?

B:Das ist zweifellos der Fall; denn selbstverständlich durchzieht dieganze Geschichte des Christentums die Auffassung vom Kreuzestod Jesuals Opfertod, sie steht an fast allen Ecken und Enden des Neuen Testamen-tes, aber – wie Sie ganz richtig gesagt haben – sie steht zugleich im stärk-sten Kontrast zu der von Jesus erzielten Gottesentdeckung; denn ein Gottder bedingungslosen Liebe wird durch Opfer nicht versöhnt, ganz davonzu schweigen, daß er gar keine Opfer will. „Liebe will ich und nicht Opfer“,so heißt es beim Propheten Hosea (Hos 6,6). Das nimmt Jesus im vollenUmfang auf und stellt es ins Zentrum seiner Verkündigung. Deswegenmuß neu über diese Frage nachgedacht werden.

H:Im Nachdenken über diesen Sachverhalt stellt sich vorweg die Frage,wie es dazu kommen konnte, daß der Opfergedanke, nachdem er schon imAlten Testament offensichtlich überwunden war, im Neuen Testament sohohe Bedeutung gewann, daß er bis in die heutige Theologie und Verkün-digung als eine nicht mehr hinterfragte Selbstverständlichkeit angesehenwird.

B:Zunächst wird man an das denken müssen, was damals mit demGottesgedanken verbunden wurde. Jesus und seine Jünger lebten in einerAtmosphäre, in der es ganz selbstverständlich war, daß Gott Opfer darge-bracht werden mußten. Israel hatte ein extrem starkes Sündenbewußtsein;deswegen wurden im Tempel von Jerusalem täglich Schlacht- und Brand-opfer zur Entsühnung des Volkes dargebracht, immer im Gedanken daran,daß Gott auch ein strafender und ein rächender war, der versöhnt werdenmußte. In dieser Atmosphäre entstand auch das Neue Testament. Des-wegen war es eine gewaltige Innovation, als plötzlich eine ganz andereDeutung zum Durchbruch kam.

Aber zunächst werden wir fragen müssen: Wie ist es faktisch dazu ge-kommen, daß der Tod Jesu als Opfertod verstanden wurde und bis auf denheutigen Tag weithin verstanden wird? Ich glaube, dort eine aufschluß-reiche Spur gefunden zu haben, wo zu Beginn der Stephanus-Perikope inder Apostelgeschichte berichtet wird, daß sich eine große Anzahl vonPriestern der Urgemeinde anschloß. Über der Urgemeinde lastete – um esmit Nietzsche zu sagen – die Frage: Warum mußte er einen so frühen undschrecklichen Tod erleiden? Nun kommen diese Priester, die in Jerusalemdie Opferdienste vollzogen hatten und bringen die geradezu „erlösende“Antwort, wenn sie erklärten: „Was unsere vielen Opfer nicht erreichenkonnten, das bewirkte der Kreuzestod Jesu, vorausgesetzt, daß er als einOpfertod verstanden wird.“ Das hatte vor dem Hintergrund des ambiva-lenten, zwischen Trost und Schrecken oszillierenden Gottesbildes des Ju-dentums eine geradezu unwiderstehliche Plausibilität; doch stand es imWiderspruch zum Gott Jesu Christi.

H:Dieser Sachverhalt macht erneut deutlich, daß auch die Selbst-erschließung Gottes nur im Horizont, in der Kategorialität und den Vor-stellungsmodellen der damaligen Zeit geschehen konnte. Selbst das NeueTestament, das zwar nicht die Offenbarung ist, aber sie beinhaltet, kannhinter der ursprünglichen Intention Jesu zurückbleiben.

B:Es kommen aber noch andere Dinge hinzu. Inzwischen ist ja dieGeistesgeschichte weitergegangen. Inzwischen hat uns Kant gelehrt, daßder Mensch stets als Selbstzweck geachtet werden müsse und deswegen niefunktionalisiert werden darf. Wenn das vom Menschen in seiner Totalitätgilt, gilt es erst recht von der entscheidenden Stunde seines Lebens, unddas ist seine Todesstunde. Weil der Tod des Menschen nie einem Zweckunterworfen werden darf, gilt gleiches auch vom Kreuzestod Jesu. Er ver-löre seine Würde, wenn er, wie es in der Satisfaktionslehre geschieht,zweckhaft gedacht und dadurch funktionalisiert würde. So ergibt es sichzwingend aus Kants kategorischem Imperativ, auch wenn er selbst dieseKonsequenz als „affektierte Humanität“ abgetan hätte.

H:Ist denn Kant eine Autorität, an der sich christliche Theologie orien-tieren kann?

B:Warum denn nicht? Wenn er etwas ans Licht gebracht hat, was fürdas Selbstverständnis des Menschen wichtig ist, muß man es akzeptieren.Und man muß dies im vorliegenden Fall umso mehr, weil es zu einem Pa-radigmenwechsel in einer Zentralfrage des Glaubens verhilft, konkret ge-sprochen: zu einer Neudeutung des Todes Jesu.

Indessen kommt aber noch etwas Entscheidendes hinzu: Wenn Jesus alsOpfer hätte sterben müssen und wenn ihm das von Gott abverlangt wor-den wäre, hätte es in seinen Äußerungen einen Hinweis darauf gebenmüssen. Es gibt nun einige Äußerungen, die auf sein Todesbewußtseinschließen lassen. Die bedeutendsten sind die sogenannten Leidensweis-sagungen. Doch in all diesen Aussagen, die bisweilen sogar ins Detailgehen, fehlt jeder Hinweis auf den Grund, weswegen er leiden und sterbenmußte. Auf diesen Grund seines baldigen Sterbens aber hätte er seine Jün-ger unbedingt hinweisen müssen. Daß er es unterließ, beweist, daß es die-sen Grund für ihn nicht gab. Deswegen fehlt der Opfer- und Sühnetheoriejede Basis.

H:Diese Einsicht steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem,was wir in vorangegangenen Gesprächen herausgearbeitet haben, nämlichdas Menschsein Jesu. Der Tod gehört konstitutiv zum Menschsein desMenschen und deswegen auch zum Menschsein Jesu. Aus diesem Grundkann auch, wie Sie vorhin sagten, sein Tod nicht funktionalisiert werden.

B:Das ist das entscheidende Argument, das nun aber gegen diese fastzur Selbstverständlichkeit gewordene Opfertheorie ins allgemeine Be-wußtsein gebracht werden muß – sie ertönt ja sogar in Bachs Matthäus-Passion, wenn es heißt: „Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe! Der guteHirte leidet für die Schafe. Die Schuld bezahlt der Herre, der Gerechte, fürseine Knechte!“ Das aber geht offensichtlich auf eine Fehldeutung desTodes Jesu zurück, da dieser Tod nicht funktionalisiert werden darf. Er hatnichts zu tun mit einer Ableistung der Sündenschuld der Welt. Das heißtallerdings in keiner Weise, daß Jesus die Sündenlast der Welt nicht auf sichgenommen hat. Das war selbstverständlich seine große Tat. Die aber voll-brachte er nicht blutig am Kreuz, sondern in seiner gesamten Lebenslei-stung, denn diese zielt darauf ab, den Menschen aus dem Sumpf der Sün-de herauszuholen und ihn einer gottähnlichen Existenz entgegenzuführen,wie das im Gedanken seiner Gotteskindschaft zum Ausdruck kommt.

H:Ihre überzeugende Argumentation gegen die Opfertodtheorie führtmit innerer Konsequenz zur Eliminierung der sogenannten Satisfaktions-theorie. Diese zählt zu den verhängnisvollsten Fehlentwicklungen in derabendländischen Theologie, was nicht daran hindert, daß sie heute nochallenthalben vertreten wird. Mit wenigen Worten soll gesagt werden, wasman darunter zu verstehen hat. Der Begriff geht auf Anselm von Canter- bury zurück. Man sollte aber ihm nicht anlasten, was spätere Generationendaraus gemacht haben. Sein Gedanke, der hier nicht entfaltet werdenkann, ist viel differenzierter. Dahinter steht der Versuch, mit germani-schem, formaljuristischem Rechtsdenken das christliche Heilsgeschehenzu erklären. Demnach bemißt sich die Schuld der Tat nicht nach der ge-sellschaftlichen Stellung des Täters, sondern immer nach dem Rang des-sen, an dem die Tat begangen wird. Wer sündigt, beleidigt Gott und zer-stört damit die Rechtsordnung. Wiedergutmachung, Genugtuung – satis-factio – ist unbedingt erforderlich, aber zugleich unmöglich, weil der un-endliche Gott unendliche Sühne verlangen muß. Von einem Menschenkann das aber nie geleistet werden. Aus diesem Grunde mußte GottMensch werden, um durch Jesus, der Gott und Mensch zugleich ist, mitdem Menschen versöhnt zu werden. Diese Überlegung liegt der Satisfak-tionstheorie zugrunde.

B:Sie hat sich sicher weithin durchgesetzt; dennoch krankt sie – wie Siebereits gesagt haben – schon an der Künstlichkeit ihrer Konstruktion,denn danach kann die Menschheit zwar Gott unendlich beleidigen, aberauch alle menschlichen Sühneakte zusammengenommen ergeben keinehinreichende Satisfaktion. Deswegen muß Gott sich sozusagen auf unsereSeite stellen; er muß Mensch werden, um die nötige Sühneleistung erbrin-gen zu können. Abgesehen von der Künstlichkeit dieser Ableitung, stehenaber auch ihre Voraussetzungen auf schwankendem Boden. Deswegenmuß an dieser Stelle nachgefaßt, und der Tod Jesu auf seine wahre Bedeu-tung hin befragt werden. Wir stehen hier nach meiner Überzeugung aneiner wichtigen Denkwende, die vor allen Dingen auch die durchgehendeRezeption dieses Satisfaktionsgedankens im kirchlichen Bewußtsein be-trifft, und das geht ja hinein in viele Äußerungen, bis in die Liturgie undbis – wie ich vorhin angedeutet habe – in die christliche Kunst hinein.Immer wieder dieser Satisfaktionsgedanke; er widerstreitet jedoch, wie wirgerade zu Beginn unserer Diskussion gesagt haben, dem ausdrücklichenGottesbegriff Jesu, seiner großen Gottesentdeckung. Der Gott der bedin-gungslosen Liebe braucht keine Opfer, er will keine Opfer: „Barmherzig-keit und Liebe will ich, nicht Opfer“, so heißt es in dem bereits zitiertenWort des Propheten Hosea. Das nahm Jesus auf, darauf stimmte er sichmit seinem Leben und Sterben ein. Aber gibt es überhaupt eine alternativeDeutung des Todes Jesu? Kann er überhaupt anders gesehen werden als so,wie er jetzt fast zweitausend Jahre hindurch entsprechend der von unsskizzierten Entwicklung gesehen worden ist? Das ist eine Frage, der wiruns noch sehr gründlich stellen müssen.

H:Es ist eine zentrale Frage Ihrer Neuen Theologie, Ihres neuen theo-logischen Ansatzes. Und immer wieder wird der auf den ersten Blick ver-ständliche Einwand dagegen erhoben: Steht Ihre Theologie noch in derTradition unserer zweitausendjährigen christlichen Überzeugung? Diesemgrundlegenden Einwand muß mit einer ebenso grundsätzlichen Zurück-weisung entgegengetreten werden. Das Christentum ist von seinem Ur-sprung her eine geschichtliche Religion, der Mensch ist wesentlich ge-schichtlich, und alles Nachdenken über das Christentum unterliegt denGesetzen der Geschichtlichkeit. Wenn es nicht gelingt, in der heutigenWeltsituation aus neuen Erkenntnissen heraus das Ganze neu zu denken,dann hat das Christentum der heutigen Welt nichts mehr zu sagen.

B:Ich würde das noch deutlicher sagen, und dann würde es heißen:Das Christentum ist immer noch unterwegs zu sich selbst. Wir sollten unsnie einbilden, daß zweitausend Jahre genügten, um all das auszuschöpfen,was durch die Menschwerdung Gottes, durch die Sendung des Gottessoh-nes und durch sein Wirken und Leiden in dieser Welt uns Menschen mit-geteilt und erschlossen worden ist. Wir sind immer noch dabei, die imLeben und Wirken Jesu an die Welt ergangene Gottesoffenbarung tieferauszuschöpfen, als es bisher möglich war, und dazu gehört ganz gewißauch die Neudeutung des Todes Jesu. Deshalb müssen wir seinen Kreuzes-tod aus den Fesseln der Satisfaktionslehre befreien, um ihn in seiner wah-ren Bedeutung aufleuchten zu lassen.

H:Und gleichzeitig wird man feststellen können, daß das Christentumin der Reflexion auf diese Wirklichkeit nie zu einem Ende kommt, weildieses Nachdenken immer wieder für eine neue Epoche, von anderenMenschen, mit anderen Denkvorstellungen, geleistet werden muß. 4. Die neue Deutung des Todes Jesu

H:Sie haben, Herr Kollege Biser, in unserem vorangegangen Gesprächeine der zentralen und kaum hinterfragten Überzeugungen des Christen-tums, nämlich daß der Tod Jesu ein Opfertod sei, in Frage gestellt – ichmöchte fast sagen, destruiert. Ein solcher Vorgang hat nur dann eine ge-wisse Legitimation, wenn an diese Stelle eine Deutung tritt, die eine über-zeugende Neuauslegung dieses Sachverhaltes bietet. Wie sieht diese aus?

B:Um diese Neudeutung geht es tatsächlich in der Neuen Theologie.Um sie einzuleiten, müssen wir noch einmal zurückblenden auf die Artund Weise, wie Jesus seinen Tod erlebt und verstanden hat. Nach demLukasevangelium hat er sich ganz bewußt auf den Todesweg nach Jerusa-lem begeben, dorthin, wo alle Propheten umgebracht worden sind undauch ihm ein blutiges Ende droht. Wenn man das äußerlich betrachtet,war das nahezu der Weg eines Selbstmörders, der bewußt in seinen Todhineinläuft. Das kann natürlich auf gar keinen Fall angenommen werden.Vielmehr muß sich auf diesem Weg sein Todesverhältnis ebenso wie seinGottes- und Selbstverhältnis grundlegend geändert haben: Zunächst istder Tod auch für ihn ein Schicksal, das ihm von Gott zugewiesen wordenist. Wenn er aber nicht den Weg eines Selbstmörders einschlug, muß sichjetzt eine fundamentale Verwandlung seines Todesbewußtseins ereignethaben, und das bedeutet: Er hat den Tod nun nicht mehr als Verhängnisempfunden, sondern als ein Ansinnen und als eine Aufgabe. Das steht na-türlich in einem größeren Kontext. Wir sind gewohnt, ein Lebenswerkdurch eine spektakuläre Tat gekrönt zu sehen. Wir erwarten von einemMenschen, der Großes geleistet hat, daß er am Ende seines Lebens etwasnoch Größeres vollbringt. Für Jesus aber gilt das Entgegengesetzte. Er hatsein Lebenswerk durch Leiden und Tod gekrönt, und das heißt, der Todhatte für ihn eine grundlegend andere Bedeutung: Er verstand ihn als denihm von Gott zugewiesenen Auftrag. Damit änderte sich aber auch seinVerhältnis zu Gott und sein Verhältnis zu sich selbst. Gott war jetzt nichtmehr der Herr über Leben und Tod, der ihm diesen auferlegt und über ihnverhängt hatte, sondern derjenige, der ihn mit dem Tod beauftragte. Da-durch wird Gott für ihn zum Vater, der ihn zur Heimkehr ins Vaterhauseinlud. Er aber begreift sich als dessen vielgeliebten Sohn.

Das hat zur Folge, daß wir den Tod nicht mehr als eine Sühneleistungbegreifen können, wie das während der nahezu gesamten Christentums-geschichte geschehen ist, sondern daß wir ihn jetzt mit den Augen Jesusehen lernen müssen. Das hängt mit dem zusammen, was er selbst darun-ter zu verstehen gab. Wir sprachen schon einmal von den Zeichenhand-lungen, durch die Jesus seine Botschaft und, wesentlicher noch, sich selbstals das von Gott gegebene Zeichen verdeutlichte. Eine solche Zeichen-handlung hat Jesus nach dem Bericht der drei Synoptiker, vor allem abernach dem des Apostels Paulus, kurz vor seinem Tod bei seinem Abschieds-mahl getätigt. Davon berichtet die älteste Überlieferung: In der Nacht, inder er verraten wurde, nahm er Brot, brach es und gab es seinen Jüngernmit den Worten: „Nehmt hin und eßt. Das ist mein Leib.“ Da Jesus aramä-isch spricht und im Aramäischen Leib soviel wie Person besagt, müßte dasnoch genauer übersetzt werden, und dann würde er gesagt haben: „Nehmthin und eßt, das bin ich für euch.“ Mit Leib ist aber nicht das gemeint, waswir aufgrund unserer abendländischen Tradition verstehen, wenn wir Leibund Seele unterscheiden. Für den Semiten, und insbesondere für denJuden, gibt es nur die Leib-Seele-Einheit. Wenn er also sagt: „Nehmt hinund eßt, das bin ich für euch“, dann meint er die Totalität seiner Existenz.Wenn wir das voll gewichten, ergibt sich eine erstaunliche Deutung desTodes Jesu. Und die besagt: Er gibt sich als Individuum auf, um als Speise– und das heißt als Lebensinhalt – in den Seinen auf- und fortzuleben. Dasist die neue Deutung des Todes Jesu. Der Tod Jesu ist, so gesehen, derÜbergang von seiner Lebensgeschichte zu seiner im Tod beginnendenWirkungsgeschichte. Jetzt muß allerdings etwas Entscheidendes hinzuge-nommen werden: Der Tod Jesu steht nie für sich allein, er ist vielmehr un-zertrennlich verbunden mit dem Ereignis seiner Auferstehung. So gesehengibt erst die Auferstehung Jesu seinem Tod die authentische Interpreta-tion. Gott selbst deutet Jesu Tod, indem er den Sterbenden nicht in dieVernichtung absinken läßt, sondern ihn in seine Lebensfülle aufnimmt.Jetzt ist natürlich von einem Sühne- und Opfertod überhaupt nicht mehrdie Rede; vielmehr ist der Tod jetzt der Übergang von der Lebens- zurWirkungsgeschichte Jesu.

H:Wenn man das weiterdenkt, ist damit gesagt, daß nicht nur fürJesus, sondern grundsätzlich, Tod und Auferstehung eine einzige Wirk-lichkeit sind, von zwei verschiedenen Seiten betrachtet. Das Auseinander-fallen der Festfolge im Kirchenjahr hat seinen Grund darin, die verschie-denen Aspekte deutlicher zu beleuchten. Dann wäre aber damit auch dieFrage beantwortet, die Sie gelegentlich stellen: Woher und wohin ist Jesusauferstanden?

B:Woher – er ist aus dem Tod auferstanden. Damit wird der Tod zurqualifizierten Verifikation seines tatsächlichen Sterbens. Sie wissen ja, esgibt neuerdings abenteuerliche Jesus-Bücher, in denen behauptet wird: Erist gar nicht wirklich gestorben, sondern scheintot vom Kreuz abgenom-men und dann von seinen Jüngern revitalisiert worden, so daß er sicheinem größeren Kreis kurzfristig zeigen konnte, um sich schließlich nachRom oder sogar in Richtung Kaschmir abzusetzen. So wird jedenfalls inneueren Publikationen die Tatsache des Todes Jesu wiederholt bestritten.Deswegen ist es entscheidend zu wissen: Jawohl, er ist wirklich am Kreuzgestorben, der Tod am Kreuz ist die bestbezeugte Tatsache seines ganzenLebens. Unzertrennlich ist damit dann aber die Tatsache seiner Auferste-hung verbunden. Hier aber stellt sich die von Ihnen soeben mit Recht auf-geworfene Frage: Wohin ist er denn eigentlich auferstanden? Das wirdnicht in dieser Kürze zu bewältigen sein; denn damit öffnet sich eine völligneue Dimension: die Dimension der Mystik. Jetzt ist mir aber noch Fol-gendes wichtig: daß der Kreuzestod Jesu tatsächlich als eine Tat, ja als seinekrönende Lebenstat erscheint. Das widerstreitet unserem normalen Den-ken, denn für uns ist der Tod der Inbegriff der Passivität und der Vernich-tung; damit den Gedanken einer krönenden Tat zu verbinden, das fällt unsungemein schwer. Doch eben dazu müssen wir uns durchringen; unddafür hat uns der Johannesevangelist einen wichtigen Fingerzeig gegeben.Am Beginn der johanneischen Passionsgeschichte heißt es: „Da er die Sei-nen liebte, liebte er sie bis zum Äußersten.“ Dieser Satz beinhaltet die Er-kenntnis: Der Tod Jesu war nicht nur eine Tat, sondern eine Liebestat. ImTod Jesu hat sich Jesus definitiv als der erwiesen, der als die Verkörperungder Liebe Gottes in diese Welt eingetreten ist und dessen ganze Lebens-leistung eine einzige Einführung der Menschheit in die Liebe Gottes war.Von dieser Neuentdeckung der Liebe Gottes sprach er nicht nur in Wor-ten, vielmehr unterbaute er diese durch seine Wunder. Hinter seinen Wor-ten steht ebenso wie hinter seinen Wundern der von ihm entdeckte „Vaterder Erbarmungen und Gott allen Trostes“. Wenn er den Leidenden die hei-lende Hand auflegt, ist das ebenso wie in seinen Seligpreisungen eine Ver-kündung der Liebe Gottes. Indessen bedurfte es noch einer letzten Verifi-zierung dieser Erkenntnis, und die erbrachte er dadurch, daß er seinenTod nicht nur als eine Tat, sondern zu einer Liebestat gestaltete. Wenn derTod Jesu so begriffen wird, begreift man auch, daß von diesem Tod einegewaltige Wirkung ausging. Schon bevor die Auferstehung erfolgte, ist derTod Jesu das größte Heilszeichen, das es in dieser Welt- und Heils-geschichte jemals gegeben hat und das als solches neu begriffen werdenmuß.

H:Von diesen Überlegungen her eröffnet sich eine neue und anderePerspektive auf die Auferstehungsberichte im Neuen Testament. War dasGrab leer? War es nicht leer? – und weitere Fragen dieser Art. Solche Pro-bleme werden im Grunde genommen gegenstandslos im genauen Sinnedes Wortes. Es sind Aussagen über eine Wirklichkeit, die man mit denHänden nicht mehr greifen kann, die Sie aber in Ihrer Interpretation – wieich denke – überzeugend zur Darstellung gebracht haben.

B:Wir werden ja sicher noch einmal auf die Ostergeschichten zurück-kommen, aber in diesem gegenwärtigen Zusammenhang doch der Hin-weis: Die Berichte über die Lebensgeschichte Jesu ergeben bis zur Auferste-hung ein vergleichsweise einhelliges Bild. Dann bricht alles auseinander, sodaß ein geradezu surrealistischer Eindruck entsteht: Er kommt durch ge-schlossene Türen, er ist gleichzeitig an zwei Orten, er wird von den einenso, von den anderen anders gesehen – ein Hinweis auf die Tatsache, daßdie Auferstehung alle Kategorien sprengt und daß alles in einer geradezumystischen Dimension erscheint. Doch das ist nur die Bestätigung desvorhin Gesagten: In seinem Tod gibt sich Jesus als Individuum auf, um alsGegenwärtiger in den Seinen auf- und fortzuleben. So wurden Tod undAuferstehung Jesu bisher wohl nicht genügend begriffen; und darin be-steht eine der Aufgaben der Neuen Theologie, das ins Bewußtsein zuheben und deutlich zu machen.

H:So überzeugend diese Interpretation ist, ich habe noch ein Restpro-blem, nämlich die Rede von der Aufgabe der Individualität. Vielleicht soll-ten Sie noch etwas genauer erläutern, was Sie darunter verstehen.

B:Das heißt nicht, daß Jesus sich als Person aufgibt – das wäre ein tota-les Mißverständnis –, sondern nur als eine in Raum und Zeit, in die Leib-lichkeit eingebundene Individualität. So sieht es Paulus, wenn er folgert:Wie der Erste Adam zu einem lebendigen Wesen wurde, so wurde derZweite Adam – gemeint ist Christus – zum lebendigmachenden Geist. Alsobleibt er Person, mehr noch: Er wird eine uns alle umgreifende Person.Wir werden später noch zu sehen haben, in welcher Weise wir vonChristus umgriffen sind, der gleichzeitig in uns wohnt und uns zum Le-bensinhalt geworden ist. Das individuelle Dasein in Raum und Zeit nimmtdemnach mit dem Tod ein Ende. Dann aber beginnt das pneumatischeDasein: Als lebendigmachender Geist beseelt Christus die Welt und jedenEinzelnen von uns. Das ist die frohe Botschaft von Ostern.

H:Aber handelt es sich dabei nicht um eine christliche Variante einesPantheismus?

B:Auf gar keinen Fall! Die Personalität ist und bleibt die zentrale Kate-gorie des Christentums. 5. Das Christentum und die Mystik

H:In unseren vorangegangenen Gesprächen kam das Wort Mystikimmer wieder vor. Die damit gemeinte Wirklichkeit hat im Christentumzentrale Bedeutung und soll deshalb ausdrücklich Gegenstand unsererÜberlegungen sein. Zunächst erheben sich Fragen. Der durchschnittlicheChrist wird mit dem Begriff Mystik, zumindest im Blick auf sich selbst,wenig verbinden können. Wenn von Mystik die Rede ist, dann denktman an die großen Gestalten der christlichen Mystik wie etwa Johannes vom Kreuz, Johannes Tauler, Meister Eckhart, Nikolaus von Kues, Hilde- gard von Bingen, Therese von Lisieux, um nur einige zu nennen. Gestaltenvon solchem Format sind geeignet, den einfachen Christen darin zubestärken: Mystik ist nichts für mich! Dagegen steht aber ein Wort von Karl Rahner , das auch Sie immer wieder zitieren, wonach Mystik undChristsein identifiziert werden: Der künftige Christ wird ein Mystikersein oder er wird nicht mehr sein. Hier deutet sich ein Verständnis vonMystik an, das über den von mir angesprochenen Personenkreis weithinausreicht.

B:Das hängt wohl damit zusammen, daß Mystik für viele etwas Außer-ordentliches, etwas Supernaturales bedeutet. Wenn sie von Mystik hören,denken sie an Visionen, an Auditionen und Stigmatisationen. So hört manes immer wieder im Zusammenhang mit Mystik. Wenn Rahner das ebenvon Ihnen zitierte Wort formuliert, hat er auf all das verzichtet und auf dieFrage, was eigentlich unter einem Mystiker zu verstehen ist, nur die ver-blüffend einfache Antwort gegeben: „Ein Mensch, der Gott zu erfahrensucht.“ Das ist das Zentrum der Mystik.

Doch jetzt zurück zu dem von Ihnen angesprochenen Problem! Es gibtbei uns nicht nur Menschen, die mit Mystik nichts anfangen können, esgibt auch eine wachsende Anzahl von Menschen, die nach Mystik verlangenund der Kirche den Vorwurf machen, den großen Schatz mystischer Erfah-rungen und Gebetsformen unter Verschluß gehalten und nicht an dieGläubigen weitergegeben zu haben. Hier ist allerdings eine merkwürdigeBewußtseinsverzerrung zu verzeichnen. Anstatt bei Theologen nachzufra-gen, was Mystik ist und für sie bedeuten könne, wenden sie sich demBuddhismus oder gar der Esoterik zu und suchen im außerchristlichenFeld das, was ihnen vermeintlich oder auch wirklich von der Kirche vorent-halten wird. Tatsächlich stellt sich heute für viele das Problem, ob Mystiknicht auch für sie ein wesentliches, vielleicht sogar zentrales Element ihresreligiösen Lebens werden könne. Wenn man die Dinge so angeht, wird manan eine dafür zentrale Gestalt zurückverwiesen: an den Apostel Paulus. Esgibt allerdings in der modernen Paulusforschung die entgegengesetzte Ten-denz, die in der Behauptung gipfelt, daß Paulus kein Mystiker gewesen sei.Wer das behauptet, muß den Vorwurf hinnehmen, daß er sich nicht konse-quent in die Denkwelt des Apostels Paulus vertieft hat.

Wer bei Paulus wirklich nachforscht – das hat die ältere Paulusfor-schung mit Albert Schweitzer an der Spitze mit aller Deutlichkeit gezeigt –,stößt auf zwei Formeln, die fast alle Paulusbriefe durchziehen. Die eineFormel heißt: „In Christus“, die andere: „Christus in mir“. Ich bezeichnediese beiden Formeln als die beiden Säulen, die das Gebäude der paulini-schen Mystik tragen. Man muß sich allerdings fragen, was mit diesenFormeln letztlich gemeint ist. Nach einem der bedeutendsten Paulusfor-scher, meinem Lehrer Alfred Wikenhauser , imaginiert das „in Christus“die Vorstellung von einer Sphäre, die uns umgibt und umhüllt. Wir sindsomit seit der Auferstehung Jesu nie ganz allein gelassen, sondern indieser geheimnisvollen Sphäre, die von nichts und niemand anderemals von dem fortlebenden Christus gebildet wird, umfangen. Wir habenuns in der letzten Diskussion Gedanken über die Personalität Christigemacht und kamen zu dem Schluß: Individuum ist Jesus nicht mehr,wohl aber Person, mystische Person und lebendigmachender Geist, wiePaulus sich ausdrückt. Als dieser lebendigmachende Geist umhüllter nicht nur die Christenheit, sondern mit ihr zusammen die ganze Welt.Das ist also der eine Pol, die eine Säule des Gebäudes der paulinischenMystik. Dann aber gibt es noch den anderen Pol: „Christus in mir“, dasist für Paulus sogar das noch Wichtigere. Im Konflikt mit Petrus in An-tiochien blendet er in einer hinreißenden Wendung von der Kontroverseunmittelbar zurück auf sein innerstes Selbstverständnis. Dabei steigert ersich zu dem unvergleichlichen Wort: „Mit Christus bin ich gekreuzigt;ich lebe, doch nicht ich: Christus lebt in mir; sofern ich aber noch in die-sem Leibe lebe, lebe ich im Glauben an den Gottessohn, der mich geliebtund sich für mich hingegeben hat.“ Wenn irgendwo, bekommt man hierden Herzschlag der paulinischen Mystik zu fühlen, denn Paulus verstehtsich nicht mehr als Individuum wie in seiner vorchristlichen Zeit; ein an-derer hat von ihm Besitz ergriffen, der ihm ins Herz gesprochen wurdeund ihm zum Lebensinhalt geworden ist. Am Ende des Römerbriefeszieht er daraus die Konsequenz mit dem erstaunlichen Satz: „Ich wagenicht irgendetwas zu sagen, was nicht von Christus in mir bewirkt wor-den ist.“ Er lebt somit der Überzeugung, daß er ungeachtet des ungebro-chenen Fortbestandes seiner Subjektivität von einem anderen geleitet,inspiriert, bewogen und gehalten wird und daß dieser andere ihm zummystischen Lebensinhalt geworden ist. Das ist der Kern der paulinischenMystik.

H:Nun stehe ich aber noch einmal vor der Frage, die ich eingangs ge-stellt habe: Diese grandiose Schilderung der paulinischen Mystik bringtden einzelnen, einfachen Christen auch nicht unbedingt auf den Gedan-ken, er könnte in solcher oder ähnlicher Weise ein Mystiker sein. Darüberhinaus ist auch zu fragen, warum das Bewußtsein von Mystik – jedenfallsin weiten Kreisen – nahezu verlorengegangen ist.

B:Die Gründe liegen in der Glaubensentwicklung des letzten und vor-letzten Jahrhunderts. Da war die Kirche der Meinung, den Glauben fest-schreiben zu sollen, und da entstand dann auch die neuscholastische The-ologie, die ich in Verdacht habe, aus dem Christenglauben eine Ideologiegemacht zu haben. Wo das geschieht, ist kein Raum für Mystik. Das könn-te man auch kirchengeschichtlich festmachen. Unser gemeinsamer frühe-rer Erzbischof Konrad Gröber hat zwar ein Buch über den Mystiker Hein- rich Seuse veröffentlicht, gleichzeitig aber mit Leidenschaft gegen dieMystik gewettert, weil er geglaubt hat, daß dadurch das feste christlicheSystem in Frage gestellt werde. Das war natürlich nicht nur die Meinungeines einzelnen Bischofs, sondern weitgehend die allgemeine Ansicht, undso kam es, daß die Mystik in Mißkredit gebracht worden ist. Man hat aller-dings mit Mystik etwas verbunden, was nicht so ohne weiteres vom Tischzu bringen ist, nämlich die Vorstellung, daß der Mystiker die sakramentaleOrdnung überspringe und daß er für sich ein Gottesverhältnis in An-spruch nehme, das der kirchlichen Vermittlung nicht bedarf. Dazu kamnoch eine zweite Voreingenommenheit. Man war der Meinung, der Mysti-ker sei ein religiöser Genießer, der sich in seine Abgeschiedenheit zurück-ziehe und vergesse, daß er eine Verantwortung für die Welt trägt. BeideVoreingenommenheiten müssen ausgeräumt werden.

H:Das ist einsichtig. Der Prozeß, den Sie mit Ihrem ersten Gedankenangesprochen haben, setzt schon viel früher ein, nämlich bei Augustinus .In seiner späten Phase hat er den Glauben, der ein Akt personaler Freiheitsein muß, in solchem Maße auf die objektiven Inhalte bezogen, daß dersubjektive Aspekt, und damit das für den christlichen Glauben unverzicht-bare Element der Freiheit, stark in den Hintergrund trat und bisweilenganz verdrängt wurde. Dadurch war der mystischen Erfahrung mit ihrerBetonung der Subjektivität und Freiheit der Boden entzogen. In der Theo-logie der Neuscholastik hat diese Entwicklung einen gewissen Höhepunkterreicht. Die Neuentdeckung der mystischen Dimension des Christentumshat deshalb notwendige Korrekturen zur Folge, die nahezu alle Bereicheder Kirche, nicht zuletzt deren juristische Strukturen, betreffen. Es wirdlange dauern, bis sich die dadurch gewonnenen neuen Einsichten durch-setzen werden. Diese Revision wird aber nicht ausbleiben dürfen, wennder Mensch als Person Christ sein soll.

B:Wir werden in Bälde auch über das Problem des Glaubens sprechenmüssen, und in diesem Zusammenhang werde ich die These vertreten, daßwir eine Wende vom Gegenstands- zum Innerlichkeits- und Identitäts-glauben erleben. Selbstverständlich haben Sie darin Recht, daß das Glau-bensbewußtsein der Christen bisher weitgehend auf Bilder und auf Dog-men, also auf Vergegenständlichungen fixiert war. Glaube war in gewisserHinsicht etwas uns Entgegenstehendes. Man könnte es mit der Fassadeeines großen gotischen Doms vergleichen. Sie ist zweifellos auf ihre Weisefaszinierend. Da sind zahlreiche Glaubensgeheimnisse dargestellt, manch-mal in Form eindrucksvoller Plastiken. Aber bei einem Dom kommt es janicht nur darauf an, die Fassade zu bewundern, sondern durch das Portalin seinen Innenraum einzutreten. Wir stehen nach meiner Überzeugungimmer noch vor der Fassade des Kirchenraums. Es ergeht uns wie dem„Mann vom Lande“ in Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“, der durch denTürhüter abgehalten wird, in das Gesetz einzutreten, um dann in der To-desstunde zu erfahren, daß dieser Eingang nur für ihn bestimmt war unddaß er aus Ängstlichkeit das nicht zu tun wagte, was er unter allen Um-ständen hätte tun sollen. So meine ich, müssen auch wir uns den Eintrittin die Innenwelt des Glaubens gegen manche Hemmungen und Wider-stände erkämpfen. Doch darauf kommt es an, weil wir erst dann die Chan-ce haben, unseres Glaubens in seiner Bedeutung für die menschlicheSelbstwerdung voll bewußt und froh zu werden.

H:So verstanden bedeutet Glaube nicht Einengung, sondern Befreiung.Wenn man vom Inneren dieses Doms, von dem Sie gesprochen haben,nach draußen blickt, dann erfährt man, daß man nicht eingesperrt ist,sondern daß sich der Horizont ins Unendliche weitet.

B:Und diese Befreiung hat die Kirche nicht zu fürchten, denn mit blo-ßen Mitläufern ist ihr nicht geholfen. Wenn sie die Zukunft erringen will,braucht sie Menschen, die ihres Glaubens bewußt und froh sind und dieauch die Bereitschaft mitbringen, sich für den Glauben einzusetzen, geradeauch dadurch, daß sie etwas von ihrem Glaubensglück an ihre Mitweltweitergeben. Zu Unrecht steht der Mystiker im Verdacht, ein auf sich selbstzurückgezogener Individualist zu sein. Es genügt, auf die von Ihnen er-wähnte Therese von Lisieux und ihren Einsatz für die Mission zu verwei-sen, um das Gegenteil zu verdeutlichen. 6. Die Auferstehung Jesu

H:Ohne die Auferstehung Jesu ist das Christentum nicht denkbar. Mankann das Christentum im Ganzen verwerfen, aber man kann nicht die Auf-erstehung Jesu verwerfen und am Christentum festhalten wollen. Das ist einBasissatz. Zugleich ist die Auferstehung in vielfacher Hinsicht außerordent-lich schwer zu vermitteln. Diese Schwierigkeit liegt durchaus in der Sachebegründet und birgt eine doppelte Gefahr: zum einen, daß man in Bildernund Vorstellungen verhaftet bleibt und die darin liegende Verweisfunktionauf eine transzendente Wirklichkeit verkennt; zum anderen, daß diese ge-meinte Wirklichkeit ins Symbolische aufgelöst wird. Schon die Berichte desNeuen Testamentes werfen eine Reihe von Problemen auf. Dazu gehört vorallem die Deutung des leeren Grabes. Ist es als ein empirisch überprüfbarerSachverhalt zu verstehen, was heute durchaus noch üblich ist, oder mußman in diesen Berichten nicht Darstellungsmittel sehen, mit deren Hilfe derVersuch gemacht wird, ein Geschehen zur Sprache zu bringen, das unsereraum-zeitlichen Kategorien übersteigt und deshalb unserem Begreifen undunseren Vorstellungen grundsätzlich entzogen bleibt. Damit sind Themenangesprochen, die den Fortgang unserer Überlegungen bestimmen werden.

B:Auch für mich ist – um es mit dem Exegeten Ulrich Wilckens zusagen – die Auferstehung der Angel- und Drehpunkt des ganzen Christen-tums und dessen unverzichtbares Fundament. Wenn die Auferstehungwegfällt, fällt das Christentum in sich zusammen, das muß ganz klar gese-hen werden. Aber ebenso muß gesehen werden, daß sich damit eine Reihevon Problemen ergibt, die wir jetzt miteinander zu diskutieren haben.Dazu gehört beispielsweise das von Ihnen angesprochene leere Grab unddie Frage, was es zu bedeuten hat. Noch wichtiger wären dann aber dieOstergeschichten, in denen uns der Auferstehungsgedanke vermittelt wird.Daß das Ereignis der Auferstehung Jesu ein historisches Faktum ist, wirdman unbedingt sagen müssen, wenn auch nicht vorbehaltlos. Das sah vorallem Schelling, wenn er in seiner „Philosophie der Offenbarung“ sagte:„Tatsachen wie die Auferstehung Christi sind wie Blitze, in welchen diehöhere Geschichte in die bloß äußere hindurchbricht.“ Das scheint mireine sehr exakte Bezeichnung dessen zu sein, was Auferstehung bedeutet.Und das heißt selbstverständlich: Auferstehung ist sicher ein Ereignis, dassich in der Geschichte ereignet, aber das aus der Geschichte ausbricht undauf höhere Dimensionen verweist.

H:Das war die Einsicht, die wir im Zusammenhang mit dem Tod Jesuerarbeitet haben, daß im Grunde genommen die Auferstehung Jesu die an-dere Seite seines Todes ist. Der Tod ist ein geschichtlich nachweisbares undnachgewiesenes Ereignis, die Auferstehung besteht genau darin, daß sie dieGeschichtlichkeit in diesem Sinne verläßt, daß sie Raum und Zeit über-schreitet und insofern nicht mehr zu unserer Geschichte unter diesem Ge-sichtspunkt zählt.

B:Wichtig scheint mir auch die Erklärung der Schwierigkeit zu sein,von der Sie vorhin gesprochen haben. Der heutige Mensch tut sich schwermit der Auferstehung Jesu. Warum? Weil wir im Bann der Aufklärung ste-hen. Ein extremer Aufklärungstheologe, David Friedrich Strauß , vertratden Standpunkt, daß die Geschichte immer nur mit innerweltlichen Fak-ten und deren Zusammenhang zu tun habe und daß Ereignisse nach Artder Auferstehung den inneren Zusammenhang der Geschichte durchbre-chen und alle Geschichte unmöglich machen würden. Das ist eine Auffas-sung, die auch auf das Christentum übergegriffen und zu großen Denk-schwierigkeiten geführt hat. Dem möchte ich jedoch einen kühnen Gedan-ken entgegenhalten: Wenn wir in unserer Geschichte Ereignisse erlebthaben, die sich dem normalen Geschichtsbewußtsein entziehen, wie etwaden freiheitlichen Aufbruch von 1989, in dem ohne Kampf und Blutver-gießen Millionen von Menschen aus einem diktatorischen System entlas-sen worden sind, haben wir etwas erlebt, was den Denkzwang der Aufklä-rung aufhebt. Ohne darauf näher einzugehen, möchte ich damit aber dochangedeutet haben, daß zu meinem Verständnis der Geschichte auch dieTatsache gehört, daß ein göttlicher Eingriff denkbar ist, wenn sicher auchnicht in Form eines faktizistischen Geschehens, weil Gott damit in dieOrdnung der Fakten herabgezogen würde. Nein, ein göttlicher Eingriffmuß nach dem Modell des Ostergeschehens genealogisch als Aufnahme inein Nah- und Intimverhältnis zu Gott gedacht werden.

Doch jetzt zurück zur eigentlichen Frage nach der Auferstehung. Siehaben das leere Grab angesprochen; es ist nichts anderes als die Verifizie-rung, daß es sich wirklich um einen echten Tod handelt und keineswegsum einen Scheintod. Damit erschöpft sich dann aber auch die Frage nachdem leeren Grab; mehr hat es nicht zu bedeuten. Obwohl es früher, nachdem, was Sie gesagt haben, als das eigentliche Beweisstück für die Auferste-hung angesehen worden ist, muß daran festgehalten werden, daß imNeuen Testament das leere Grab nirgendwo als Beweis für die Auferste-hung angesehen wird. Dafür gibt es ganz andere Beweise; in erster Liniedie Osterzeugnisse, aber auch das, was sich um sie gerankt hat: die Oster-geschichten der Evangelien.

Wir sollten vielleicht da einsetzen; denn wir haben uns in einer unsererletzten Unterredungen bereits klargemacht, daß die Evangelien von derLebensgeschichte Jesu bis zu seinem Kreuzestod einen vergleichsweise ein-heitlichen Eindruck vermitteln, daß dann aber die Dinge vollkommen aus-einanderbrechen, so daß ein geradezu surrealistisches Bild entsteht. Des-wegen dann die Frage: Was steckt denn eigentlich hinter diesen Oster-geschichten, die sich so vielfältig zu widersprechen scheinen, in denen derAuferstandene manchmal durch verschlossene Türen kommt, sich dannwieder entzieht, an unterschiedlichen Orten gleichzeitig erscheint unddann wieder den Eindruck erweckt, als ob er völlig ungreifbar wäre. Wassteckt dahinter? Meine Antwort heißt: der Protokollsatz. Und das ist derSatz aller Osterzeugen: „Ich habe den Herrn gesehen.“ Im 15. Kapitel desErsten Korintherbriefs sieht sich der Apostel Paulus vor die Frage gestellt:Was bedeutet denn die Auferstehung? Er nimmt das zum Anlaß, seineÜberzeugung auf den Punkt zu bringen und die älteste Tradition in dieWorte zu fassen: „Er ist dem Kephas erschienen, danach den Zwölfen, da-nach fünfhundert auf einmal, dann dem Jakobus und allen Aposteln, zu-letzt aber erschien er mir.“ Dasselbe bekundete er aber zuvor schon im9. Kapitel des Ersten Korintherbriefs, wenn er fragt: „Bin ich nicht frei? Binich nicht Apostel? Habe ich nicht unseren Herrn Jesus gesehen?“ Somitlautet der Protokollsatz: „Ich habe den Herrn gesehen.“

H:Der Terminus „ Sehen“ ist doppeldeutig. Es kann damit das körper-lich-visuelle Wahrnehmen ebenso wie eine geistige Erfahrung gemeintsein. Das gilt auch für das „ophte“ des Urtextes: „Er wurde gesehen“ oder„er ist erschienen“; beide Übersetzungen sind möglich. In unserem Kon-text muß in jedem Fall eine geistig-geistliche Erfahrung damit verbundenwerden. So mündet auch dieser Gedanke in die Mystik ein.

B:Ganz richtig. Das Ganze dringt in die mystische Sphäre ein, indessenhat es eine historische Basis, einen geschichtlichen Fixpunkt, an dem allesfestgemacht ist. Dieser historische Fixpunkt wird bezeugt mit dem„ophte“, das Sie gerade eben zitiert haben; und das bedeutet ebenso: „ichhabe gesehen“ wie „er hat sich mir gezeigt“ und „er hat sich sehen lassen“.Das impliziert dann jedoch die wichtige Frage, die Sie gerade gestellthaben, die Frage: Was steckt denn eigentlich hinter diesem „ophte“, alsohinter dem Protokollsatz: „Ich habe den Herrn gesehen“? Damit ver-abschieden sich die meisten Osterzeugen aus den Berichten.

Indessen gibt es eine Ausnahme, auf die nach meinem Verständnis vielzu wenig Bezug genommen wird, und das ist das Zeugnis des ApostelsPaulus. Paulus ist in der Sicht der von mir vertretenen Theologie der ant-wortende Osterzeuge. Er antwortet auf eine Frage, die wir unwillkürlich andie Osterzeugen und ihren Protokollsatz stellen: Was habt ihr denn eigent-lich gesehen? Was habt ihr erlebt? Welche Erfahrung habt ihr in demAugenblick gemacht, den ihr mit dem Protokollsatz „Ich habe den Herrngesehen“ umschreibt? Paulus gibt in seinen Briefen darauf eine dreifacheAntwort. Eine grundsätzliche im Galaterbrief. Es ist der Brief, in dem esum die Identität seines Evangeliums geht. Um wirklich argumentieren zukönnen, greift er auf den Ausgangspunkt seines ganzen Christseins, aufsein Damaskus-Erlebnis, zurück. In jener Stunde, so betont er, habe sichihm Gott mitgeteilt in seinem Sohn, wörtlich: „Da gefiel es Gott in seinerGüte, seinen Sohn in mir zu offenbaren.“ In moderner Umsetzung würdedas heißen: „In jener Stunde ist mir das Geheimnis des Gottessohnes insHerz gesprochen worden.“ Das ist das erste Zeugnis, das ich als das grund-legende bezeichnen möchte. Es gibt sodann ein zweites, das Zeugnis desZweiten Korintherbriefs. Da geht Paulus das Wagnis ein, die AuferstehungJesu mit dem Anfang der Schöpfung in Zusammenhang zu bringen. Eslautet: „Gott, der gesagt hat: Es werde Licht, er hat es auch in unseren Her-zen tagen lassen zum strahlenden Aufgang seiner Herrlichkeit auf demAntlitz Jesu Christi.“ Das ist übrigens die einzige Stelle, wo vom Gesichtdes Auferstandenen die Rede ist. Das Gesicht des Auferstandenen ist derOrt, an dem die Herrlichkeit Gottes aufleuchtet; das ist die eigentlicheKernerfahrung von Offenbarung. Bemerkenswert ist dabei, daß Paulusmeint, sein Damaskus-Erlebnis habe ihn in eine besondere Beziehung zumAnfang der Schöpfung gebracht. Für ihn ist Ostern somit die Neuschöp-fung, durch die die alte und ursprüngliche Schöpfung auf eine neue Basisgehoben wurde. Dann gibt es noch eine dritte Stelle. Im Brief an seineLieblingsgemeinde von Philippi sagt Paulus, und jetzt in der Kontroversemit Gegnern: „In jener Stunde hat Christus von mir Besitz ergriffen. Ichmöchte es ergreifen“, – so sagt er wörtlich – „wie ich von Christus ergriffenworden bin“, und gibt damit dem „ophte“ die Bedeutung von Ergriffen-sein. Es hat demnach nicht nur eine akustische Dimension, sondern aucheine optische und auch eine haptische, also die eines Ergriffen- und Über-wältigtwerdens. Demzufolge ist er von Christus förmlich in Bann geschla-gen worden, so daß ihm das Leben seither in dem Wunsch besteht, denimmer vollständiger zu begreifen, von dem er ergriffen worden ist. Deut-licher kann doch ein Mensch für ein Ereignis, das ihm widerfahren ist, garnicht einstehen!

H:Eine Realität erleben, das heißt, sie geistig erfassen, und deshalb soll-te man den Akzent nicht auf die empirische Erfahrung legen, sondern denVorgang in der Innerlichkeit als das Entscheidende werten.

B:Es ist ganz eindeutig so: Mit der Auferstehung beginnt die Mystik,von der wir schon gesprochen haben und auf die wir in unseren weiterenUnterhaltungen sicher wieder zurückkehren müssen; denn die Mystik istdie zentrale Dimension des Christentums oder, um es noch einmal in dembereits erwähnten Bild zu sagen: Wir müssen die Fassade des gewaltigenDombaus durchschreiten, um in den Innenraum einzutreten. Dort werdenwir unseres Christenglaubens erst voll bewußt; dort lernen wir erst wirk-lich, was es heißt, aus ihm zu leben.

H:Und an dieser Stelle gilt es nun, auch den Vollzug des Glaubens neuzu bedenken. Das soll in einem nächsten Gespräch geschehen. 7. Der innere Lehrer

H:Wenn man im Alltag von einem Lehrer spricht, dann denkt man aneinen Menschen, der aufgrund seiner Kompetenz andere über einen Sach-verhalt informiert. Im katholisch-christlichen Raum verbindet man damitsehr schnell den Terminus des Lehramtes, welches mit Autorität den Gläu-bigen Inhalte vorlegt, die sie ihrerseits in Gehorsam entgegennehmenmüssen. Nun haben Sie, lieber Herr Biser, ein Buch geschrieben mit demTitel „Der inwendige Lehrer. Wege zur Selbstfindung und Heilung“. Wieläßt sich das, was in diesem Titel zum Ausdruck kommt, mit der traditio-nellen Vorstellung, die ich gerade angesprochen habe, vereinbaren?

B:Bei der Beantwortung muß ich ein wenig ausholen. Unabhängig vondem, was Sie soeben gesagt haben, kommt es in meiner Theologie vorallen Dingen darauf an, den vergessenen Gegenstand der EinwohnungChristi im Herzen der Glaubenden der Vergessenheit zu entreißen. Dasaber ist nicht erst ein Interesse der Neuen Theologie, sondern schon dasInteresse des Apostels Paulus, der am Ende seines Römerbriefes betont,daß er sich nicht unterfange, irgendetwas zu sagen, was nicht Christus inihm bewirkt habe. Da kommt das Motiv des inwendigen Lehrers schonzum Tragen. Was Paulus damit verbindet, deutet aber auch auf einen Lern-prozeß hin, der durch diesen inwendigen Lehrer ausgelöst wird. Selbstver-ständlich stellt sich jetzt die Frage, ob das jemals aufgegriffen und auf denNenner gebracht worden ist. Das ist nun tatsächlich der Fall beim frühen Augustinus ; denn Augustin hatte einen Sohn, einen jungen Mann vonschreckenerregender Intelligenz, wie er sich einmal ausdrückt. Kurz vordessen allzu frühem Tod – er ist schon mit siebzehn Jahren gestorben –kommt es zu einem Gespräch zwischen Vater und Sohn, das Augustinunter dem Titel „Der Lehrer“ publiziert hat. In diesem Dialog überläßt erdem Frühvollendeten das Schlußwort, der das Ergebnis des Gesprächs indem Satz zusammenfaßt: „Mir ist durch deine Worte klar geworden, daßein Lehrer durch die Sprache nur einen Teil von dem verdeutlichen kann,was er sich denkt. Klar geworden ist mir insbesondere, daß immer dann,wenn wir etwas verstehen, derjenige uns beisteht, der uns durch das äuße-re Wort von seinem Wohnen in unserem Inneren in Kenntnis setzt.“ Dannschließt er mit dem schönen Vorsatz: „Ihn will ich lieben und dies um somehr, je mehr ich in der Lehre Fortschritte mache.“ Das Buch heißt – wiegesagt – „De magistro“, doch im Hintergrund steht der Gedanke des in-wendigen Lehrers, des magister interior, und das ist der Punkt, auf den ichmit diesem Buch abgezielt habe und der jetzt für uns zur Diskussion an-steht. Was ist mit diesem inwendigen Lehrer gemeint?

Selbstverständlich ist das eingebettet in die große biblische Tradition,nur kommt dort ein anderer Ausdruck vor, gemeint ist jedoch dieselbeSache. Im Johannesevangelium heißt dieser Lehrer: „der Beistand“. Vonihm wird gesagt: „Er wird uns alles lehren und uns an alles erinnern, wasChristus gesagt hat; denn er ist der Geist, der uns in alle Wahrheit ein-führt.“ Gemeint ist damit der inwendige Lehrer.

H:Genau an diesem Punkt kommt ganz klar die Differenz zum Aus-druck, die zwischen Ihrem neuen theologischen Ansatz und der traditio-nellen Theologie im Sinne Augustins besteht. Nach der klassischen Theo-logie müßten es ja die Lehren sein, die dem Menschen zu seiner Selbstfin-dung und zu seinem Heil verhelfen. In der Perspektive Ihrer Theologie isteine derartige Objektivierung ausgeschlossen. Diese Einsicht hat ebensoschwerwiegende wie notwendige Konsequenzen für die Struktur der Kir-che sowie für das Verständnis des Amtes und der Sakramente, um nur diewichtigsten Problemfelder zu nennen.

B:Das ist vollkommen richtig, ich würde es nur etwas milder formulie-ren, als Sie es getan haben, und würde sagen: Wir müssen von den Lehrenzurück zum Lehrer, so wie wir von den Dogmen zurück müssen zu dem,der in den Dogmen gemeint ist. Und eben dies kann man schon bei Pauluslernen. Paulus steht ja im Verdacht, daß er durch seine Konzeption dieBotschaft Jesu verdrängt, sich gleichsam an seine Stelle gesetzt habe. Dasist jedoch in keiner Weise der Fall. Wer Paulus genauer liest, der weiß, daßer vielfältig auf die Botschaft Jesu zurückgreift. Doch das ist gar nicht dasEntscheidende. Das Entscheidende besteht darin, daß Paulus wie kaumeiner vor ihm und nach ihm begriffen hat, daß die Gottesoffenbarungnicht so sehr in der Fülle der einzelnen Lehren als vielmehr in dem be-steht, der als Gottesbote zu uns gekommen ist. „Er kommt vom HerzenGottes“, heißt es zu Beginn des Johannesevangeliums, „und hat uns Kundegebracht.“ Als Botschafter ist er selbst die Botschaft. Das hat neben andernKonsequenzen auch die, welche die Lektüre des Neuen Testamentes be-trifft. Das Neue Testament ist ein Kompendium von vielerlei, sich in man-cherlei Hinsicht auch widersprechender Aussagen und Lehren. Deshalbmuß der authentische Lehrer, also Christus selbst, als leibhaftiges Interpre-tament an diese Aussagen herangetragen werden. Als Bote und Botschafterist er zugleich der Interpret und Schlüssel. Und wenn man so verfährt,wenn man also Christus selbst an die Sätze des Neuen Testamentes heran-trägt, macht man, wie bereits erwähnt, die merkwürdige Beobachtung, daßmanche, die beim ersten Lesen erschrecken, weil sie Drohcharakter haben,verblassen, während andere, die man zunächst überlesen hat, plötzlich zuleuchten beginnen und zu ungeahnter Bedeutung gelangen.

Man kann das an einigen Beispielen festmachen. So ist es, wie gleichfallsschon vermerkt, dem großen Leser des Neuen Testamentes, Sören Kierke- gaard , ergangen. Am Sockel der Christusstatue von Thorvaldsen in derFrauenkirche von Kopenhagen, die er Sonntag für Sonntag besuchte, las erden in goldenen Lettern eingravierten Satz: „Kommt her zu mir, ihr Be-drückten und Bedrängten, ich will euch Ruhe geben.“ Dieser Satz wurdefür ihn zum Schlüsselsatz seiner ganzen Christologie. Man könnte dasauch an anderen Beispielen ersehen. So lesen wir beispielsweise in der lu-kanischen Bergpredigt einen Satz, von dem ich mit Staunen registriere,daß er in der theologischen Rezeption fast keine Rolle spielt: „Gott istgütig, sogar gegen die Undankbaren und Bösen.“ Wenn Christus als Inter-pretament an diesen Satz herangetragen wird, erscheint er tatsächlich alsder Kern- und Zentralsatz der ganzen Bergpredigt. Und noch ein letztesBeispiel. Im Markusevangelium sagt Jesus einmal von sich: „Der Men-schensohn ist nicht gekommen, um sich bedienen zu lassen, sondern umzu dienen.“ Auch das ist ein Satz, über den man zunächst einmal hinweg-lesen möchte. Wenn Jesus aber als Schlüssel an diesen Satz herangetragenwird, begreift man auf einmal: Das ist die zentrale Aussage über Jesus undseine ganze Lebensleistung. Denn er will nicht bedient werden, er will die-nen. Er stellt das Verhältnis von Knecht und Herr auf den Kopf. Er machtsich selber zum Diener. Wenn man dann noch die Frage stellt: „Womit be-dient er uns denn?“, drängt sich die Antwort geradezu auf: Er bedient unsmit sich selbst und macht sich uns zum Geschenk.

H:Ein gängiges Vorurteil gegen das Christentum ist damit entkräftet.Christsein bedeutet nicht Heteronomie und Fremdbestimmung. DerMensch entdeckt vielmehr die Mysterien des Glaubens in sich selbst. Ausdieser Sicht muß noch manches neu bedacht werden. Das gilt vor allemfür den Akt des Glaubens selbst.

B:Das ist vollkommen klar; deswegen werden wir gelegentlich noch in-tensiver über den Glauben nachdenken müssen. Doch zunächst möchteich noch einmal den Lernprozeß verdeutlichen, der jetzt mit dem inwendi-gen Lehrer in Gang gekommen ist. Er ist erstaunlicher, als man sich vor-stellen kann, denn in diesem Lernprozeß mischt sich der inwendige Lehrerselbst in das Glaubensverständnis des Glaubenden ein, ja, er reift nacheinem der großen kappadozischen Kirchenväter, Gregor von Nyssa , imGlaubenden heran. In seinem Hohelied-Kommentar versichert er: „Dasuns eingeborene Kind ist Jesus, der in uns heranwächst an Alter, Weisheitund Gnade.“ Demnach macht er selbst einen Lernprozeß in uns durch. Erwird noch einmal Kind, er wird ein Zwölfjähriger und erlebt dann seineexzeptionelle Zugehörigkeit zum Vater. Er wird derjenige, dem die Gottes-sohnschaft zugesprochen wird, entdeckt sich als Menschen- und Gottes-sohn und macht zuletzt noch den bittersten Lernprozeß in uns durch,nämlich den an seinem Kreuz, wenn ihm alle Attribute Gottes verlorenge-hen, wenn die Nacht der Gottverlassenheit über ihn hereinbricht, wenn erdann aber aus dieser Nacht herausgerissen wird durch das Ereignis derAuferstehung und dann im Vollbesitz seiner Gottessohnschaft die ewigegöttliche Lebensfülle erlangt. Das ist der große Lernprozeß, den Christusin uns mitvollzieht, und darin besteht der eigentliche Beitrag des inwendi-gen Lehrers. Damit ist aber auch schon klar geworden, daß das etwas mitHeilung und Selbstfindung zu tun hat; denn im Grunde ist das der Weg,den jeder Mensch beschreiten muß bis in seine Todesstunde und bis in dieHoffnung auf sein Mitauferwecktwerden mit Christus hinein.

H:In diesen Überlegungen zeichnet sich eine weitere Grundstrukturdes Christseins ab: Es handelt sich nicht um eine Subjekt-Objekt-Bezie-hung; Christsein ist vielmehr wesentlich eine personale Relation, die sichnaturgemäß nur zwischen Personen vollziehen kann. Fremdbestimmunghat in diesem Verhältnis keinen Raum.

B:Das ist vollkommen richtig, man könnte das nicht nur als Dialog be-zeichnen, sondern könnte sich dabei sogar an Werner Heisenbergs Un-bestimmtheitsrelation erinnern. Danach ist im Bereich der Mikrophysikder Unterschied zwischen Subjekt und Objekt gegenstandslos geworden.Subjekt und Objekt bedingen sich gegenseitig. Ebenso verhält es sich abermit dem Erkenntnisakt. Indem ich erkenne, gestalte ich das Erkannte mit.Gleiches gilt schließlich vom Glaubensvollzug; der Glaube ist nicht die An-nahme von etwas anderem, das ich mit Müh und Not akzeptiere, sondernder lebendige Mitvollzug, ja sogar die Mitgestaltung des Geglaubten. Um-gekehrt heißt das, daß der Geglaubte sich in meinen Glaubensakt ein-mischt und ihn mit mir zusammen vollzieht. Das halte ich für etwas vomAllerwichtigsten, so schwer es auch immer ist, das heute zu vermitteln.Daher wird es eine der zentralen Aufgaben der Neuen Theologie sein, demBahn zu brechen und auch den einfachen Gläubigen zu dieser Mitwisser-schaft im Glauben und zu diesem Mitvollzug zu bewegen.

H:Wenn Sie die Unbestimmtheitsrelation in der Mikrophysik zum Ver-gleich heranziehen, dann darf die entscheidende Differenz zwischen denbeiden Phänomenen nicht übersehen werden: die personale Struktur desGlaubens.

B:Ganz richtig; denn mit der Gemeinschaft, um die es hier geht, ver-hält es sich nicht so wie zwischen uns beiden, sondern so wie zwischenChristus und uns. Und hier ist es der inwendige Lehrer, der in uns diesenLernprozeß durchläuft, der mit uns zusammen den Glauben trägt und da-durch dem Glauben erst seine volle Festigkeit und Intensität verleiht.

H:In allen Religionen kommt dem Gebet eine zentrale Stellung undFunktion zu. Das gilt selbstverständlich auch für das Christentum. Manspricht von vielen Formen des Gebets: vom Bittgebet, vom Dankgebet,vom Lobpreis Gottes und so fort. Angesichts dieser Vielfalt erhebt sich dieFrage nach einer umgreifenden Grundstruktur. Was ist die gemeinsameWurzel, in der die verschiedenen Ausdrucksgestalten versammelt sind undaus der sie erwachsen? Anselm von Canterbury , der berühmte mittelalter-liche Theologe, hat in seiner kleinen Schrift „Proslogion“ einen Gedankengeäußert, der geeignet ist, diese Frage zu beantworten. Er schreibt zu Be-ginn seiner „Anrede“ an Gott: „Ich verlange danach, einigermaßen deineWahrheit einzusehen, die mein Herz glaubt und liebt.“ In diesem Satz, soscheint mir, ist der tiefste Grund des Gebetes ausgesprochen.

B:Das würde ich auch so sehen; denn im Gebet geht es ja nicht nur umeine Vergewisserung dessen, was Gott ist, sondern auch um eine Vergewis-serung dessen, was ich, der Beter, bin. Das könnte man mit einem anderengroßen Denker in Zusammenhang bringen. Es ist der wohl größte Re-ligionsphilosoph des Judentums im vergangenen Jahrhundert, Martin Buber . Er hat in seiner Schrift „Gottesfinsternis“ die zweifellos schönsteDefinition des Gebetes gegeben, wenn er sagt: „Gebet ist die Bitte umSelbstkundgabe Gottes, um das dialogische Fühlbarwerden dieser gött-lichen Selbstkundgabe.“ Damit hat Buber eine zusätzliche Leistung er-bracht. Denn weithin herrscht noch immer die Meinung: Gebet und Glau-be klaffen auseinander wie zwei unterschiedliche Welten. Gebet geschiehtmit dem Herzen, Glaube dagegen mit dem Verstand und Willen. Doch beiBuber ist diese Definition des Gebetes annähernd dieselbe, wie er sie fürden Glauben gibt; Glaube ist im Sinne der „emuna“ ein Sich-Festmachenin Gott und insofern der Versuch, Halt und Stand in der Gotteswirklich-keit zu finden. Das aber ist gleichbedeutend mit der Aussage: Gebet ist dieBitte um das dialogische Fühlbarwerden der Gotteswirklichkeit und Got-tesnähe.

In diese Überlegungen mischt sich aber wieder derjenige ein, der in derNeuen Theologie eine zentrale Rolle spielt: der Apostel Paulus. Er hat imachten Kapitel des Römerbriefes das Gebet mit einem kryptischen Satzumschrieben, der von Johann Sebastian Bach aufgegriffen und in einer sei-ner schönsten Motetten mit dem Titel „Der Geist hilft unserer Schwach-heit auf“ vertont worden ist. Wörtlich lautet die Römerbriefstelle: „DerGeist hilft unserer Schwachheit auf, denn wir wissen nicht, um was wirbeten sollen, wie sich’s gebührt. Da tritt der Geist selbst für uns ein mit un-aussprechlichem Seufzen; und der, der die Herzen erforscht, kennt das An-sinnen des Geistes, der für die Heiligen vor Gott eintritt.“ Die schwierigeAussage setzt mit einer Überraschung ein. „Wir wissen nicht, um was wirbeten sollen.“ Da möchten wir doch dem Apostel ins Wort fallen und ihmentgegenhalten, daß wir sehr wohl um die uns bedrängenden mensch-lichen, beruflichen und existentiellen Nöte wissen, in denen wir GottesHilfe erbitten. Für Paulus sind das aber nur Anlässe des Gebets. Für ihngeht es im Gebet um etwas unvergleichlich Größeres: um Gott! Das könn-te man im Rückbezug auf den von Ihnen angesprochenen Anselm von Canterbury dann so formulieren: Das Gebet ist die mit dem Herzen ge-stellte Gottesfrage.

Doch in dieser Hinsicht sind wir zunächst einmal entmündigt. Was wirzustande bringen, ist nur ein hilfloses Stammeln. Dann geschieht nachPaulus etwas Wunderbares: Gott selbst teilt sich uns in Gestalt des inwen-digen Lehrers mit. Paulus spricht in diesem Zusammenhang vom Gottes-geist, der für uns mit unaussprechlichem Seufzen eintritt. Das kann mansich wohl nur so klarmachen: Er stimmt in unser stammelndes Beten einund tritt so, stellvertretend für uns in unserer Hilflosigkeit, für uns ein.Und dann der wunderbare Schluß: „Und der, der die Herzen erforscht“– das ist der erhörende Gott – „er kennt das Ansinnen des Geistes, daß erfür die Heiligen vor Gott eintritt“. Und das heißt: Der Geist Gottes machtsich unsere Gebetsnot zu eigen und er trägt sie vor das Antlitz Gottes, sodaß unser Gebet von Gott selbst zu Ende geführt wird.

H:In diesem ursprünglichen Verständnis ist das Gebet also das lebens-lange Fragen und Suchen nach Gott. Meines Erachtens wird jedoch derdurchschnittliche Gläubige von diesem Verständnis des Gebets wenig wis-sen und sich deshalb davon nicht allzu sehr angesprochen fühlen. In ihrerbedrängenden Existenznot steht für die meisten Menschen das Bittgebetim Vordergrund. Kann man sagen: Gott erhört ein Gebet?

B:Man müßte dem Christentum diametral widersprechen, wenn mandas nicht sagen würde. Selbstverständlich erhört Gott jedes Gebet, aber ererhört es nicht immer so, wie es der Mensch von Gott erwartet. Es gehörtzu den uralten Erfahrungen, daß sich manche Dinge, die uns wichtig er-scheinen, im nachhinein als peripher, wenn nicht gar als schädlich heraus-stellen, so daß es manchmal im Sinne des Menschen und seines Heilesliegt, wenn er nicht genau das erhält, was er sich von Gott erbittet.

Doch in einer anderen Hinsicht bleibt kein Gebet unerhört. Das könnteman sich etwa so verdeutlichen: Meist beginnt das Gebet mit einer Bitte.Es ist gleichsam ein Angelwurf ins Ungewisse. Deswegen steht am Anfangdes Gebetes auch oft die Erfahrung eines Allein-Gelassenseins, einer ge-wissen Leere. Das ist dann der kritische Augenblick, wo der Eindruck ent-stehen könnte: Das Gebet nützt nichts, es kommt nichts dabei heraus; eswäre besser, in die Aktivität des Lebens zurückzukehren und etwas Ver-nünftiges zu tun. Wer aber ungeachtet dieser Anfechtung dabei bleibt undin dieser Stille ausharrt, macht die merkwürdige Erfahrung, daß sich zudem angerufenen Gott unversehens eine wenn auch noch so leise Be-ziehung aufbaut, daß die scheinbare Leere plötzlich von etwas Geheimnis-vollem erfüllt wird, nämlich von dem Erlebnis der Gegenwart Gottes. Indiesem Sinne bleibt kein Gebet unerhört. Mögen wir auch nicht das erhal-ten, was uns wichtig zu sein scheint, so gewinnen wir in jedem Gebet dochnichts Geringeres als Gott selbst. Gebet ist eine Annäherung an Gott oder,um es noch einmal im Anschluss an Anselm von Canterbury zu sagen, diemit dem Herzen gestellte Gottesfrage. Und Gott antwortet mit dem Erweisseiner Gegenwart.

H:Einen ähnlichen Gedanken findet man bei Augustinus . Er sprichtdavon, daß wir in der Welt des Alltags und der sinnenhaften Eindrückevon uns selbst abgelenkt und zerstreut sind. Diese Selbstentfremdungmüssen wir überwinden und zu uns selbst zurückkehren. Erst dann sindwir im Stande, uns auf Gott hin auszurichten. Aus dieser Bewegung her-aus wird jede Form eines Gebetes, wie Sie gerade sagten, zur Gegenwarts-erfahrung Gottes und auf diese Weise immer ein erfülltes und erhörtesGebet.

B:Das Gebet hat immer den Charakter der Sammlung. Der Menschlebt – und Sie haben es ja gerade eben deutlich genug gesagt – zunächst ineinem Zustand der Zerstreuung. Wir sind weggegeben an die vielen Inhal-te, die ständig auf uns einstürmen und die unsere Aufmerksamkeit undunser Interesse okkupieren. Aus dieser Hingegebenheit an das Vielerleimuß sich der Beter zurücknehmen auf das, was für ihn zentral ist und seinmuß, nämlich auf seine Beziehung zu Gott. Wir brauchen alle, ob gläubigoder ungläubig, etwas, was unser Leben in einer letzten Hinsicht trägt, wasuns Halt und Stand verleiht. Ohne diesen Halt und Stand sind wir einhaltlos im Winde umgetriebenes Blatt. Nein, wir brauchen diese Veranke-rung in Gott, und deswegen kann das Gebet gar nicht besser beschriebenwerden als mit Bubers Wort von der Bitte um göttliche Selbstkundgabe,anders ausgedrückt: als die Suche nach diesem letzten Halt und Stand, denuns nur die Gotteswirklichkeit zu bieten vermag. Das führt jetzt zu der er-staunlichen Erkenntnis, daß das Gebet nicht nur die Frage nach Gott, son-dern auch die Erfahrung der Antwort ist, die Gott uns durch den Erweisseiner Gegenwart gibt. Und das heißt: Das Gebet ist nicht nur eine Gottes-frage, sondern ein Gottesbeweis. In der Theologie und Philosophie – undniemand weiß das besser als der Philosoph Richard Heinzmann – geht esvielfach um Gottesbeweise; aber mir scheint, einer dieser Beweise, der füruns der allerwichtigste ist, wird in dieser Diskussion vergessen, nämlichderjenige, der nicht auf spekulativen Bahnen, sondern der mit dem Herzengeführt wird. Wenn unsere Unterhaltung über das Gebet einen Sinn ge-habt haben sollte, bestand er darin, das Gebet als den mit dem Herzen ge-führten Gottesbeweis glaubhaft gemacht zu haben.

H:Noch eine Frage, die mehr aus der Praxis der Gläubigen kommt:Wie verhält es sich mit einem Fürbitt-Gebet für einen anderen? Wenn ichfür mich selbst bete, ist das alles einsichtig. Aber kann ich diesen Vollzugder Ausrichtung auf Gott auch für einen anderen erbitten, oder wie sollman das verstehen?

B:Das ist selbstverständlich nur möglich auf der Basis des Begriffseiner christlichen Gemeinschaft. Paulus hat dafür das wunderbare Bild desgeheimnisvollen Leibes Jesu Christi eingeführt, und von diesem Leib heißtes: „Keiner lebt für sich allein, keiner stirbt für sich allein, wenn einer sichfreut, freuen sich alle mit, wenn einer leidet, leiden alle mit.“ Danach istunsere menschliche Situation nicht nur gekennzeichnet durch die Indivi-dualität, sondern auch durch das, was Peter Wust den „nexus animarum“,also die „Verflechtung der Seelen“ genannt hat. Danach stehen wir alle ineinem Lebensverbund; nach Paulus sind wir einbezogen in den einen Leibund die darin herrschende Kommunikation. Wenn Paulus sagt: „Wenneiner sich freut, freuen sich alle anderen mit“, kann das fortgeführt werdenin dem Satz: „Wenn einer betet, beten alle mit und beten alle füreinander.“Das gilt dann selbstverständlich auch für das, was das Ziel des Gebetes seinwird, auf das wir nächstens einmal eingehen müssen: für den Glauben.Dann gilt: Wenn einer glaubt, glauben alle mit, dann glauben sie für ihnund er für sie.

H:Sie sprechen von der Gemeinschaft der an Christus Glaubenden.Kann man diese Gemeinschaft nicht auf alle Menschen schlechthin aus-weiten? Ist das nicht die ganze Menschheit, die mithineingenommen ist?

B:Ich würde das voll und ganz bejahen; das Christentum ist niemalsnur die Religion für eine Elite – wie immer sie zu denken ist –, sondernstets eine Religion für alle. Christus ist für alle gestorben, und das Ziel allerLebenswirklichkeit ist das, was Paulus den „Gott alles in allem“ genannthat. Für das Gebet aber folgt daraus, daß es dabei nicht nur um unsere pri-vaten Anliegen, sondern letztlich um alle und alles gehen muß; denn dasChristentum ist die Religion für die ganze Welt. 9. Gotteskindschaft

H:Es gibt Worte in unserer Sprache, die die Sache, die sie transportie-ren sollen, eher in Mißkredit bringen. Ein solcher Begriff ist der der „Got-teskindschaft“. Er ist so ins Infantile abgeglitten, daß er nicht mehr geeig-net ist, ohne besondere Erklärung die damit gemeinte Wirklichkeit zurSprache zu bringen. Was bedeutet, Herr Kollege Biser, dieser Begriff imKontext Ihrer Theologie?

B:Die Neue Theologie, lieber Herr Heinzmann, ist eine Theologie derNeu- und Wiederentdeckung, und deswegen muß auch der Begriff derGotteskindschaft unter diesem Gesichtspunkt geprüft und es muß gefragtwerden, ob er nicht wiederentdeckt und in seiner ursprünglichen Bedeu-tung zurückgewonnen werden kann. Wenn man den Versuch unternimmt,ihn neu zur Geltung zu bringen, stößt man wiederum auf den Satz desevangelischen Exegeten William Wrede , der schon vor fast einem Jahrhun-dert das Christentum auf die einfache Formel gebracht hat: „Christus, derGottessohn, gibt seine Gottessohnschaft auf und wird ein elender Menschwie wir, damit wir Söhne Gottes werden.“ Christus wird das, was wir sind,damit wir durch seinen Tod das werden, was er ist. Das gibt natürlich einvöllig neues Bild von dem leider oft infantilisierten Begriff der Gotteskind-schaft. Er hat mit Verkleinerung, Verkindlichung und Verniedlichungüberhaupt nichts zu tun, sondern mit dem genauen Gegenteil, der Er-höhung des Menschen.

Es gibt ein altes Mißverständnis, das kaum auszurotten ist, nämlich daßdas Größte, was vom Menschen überhaupt gesagt werden kann, im Begriffder Gottebenbildlichkeit ausgedrückt ist. Das ist selbstverständlich ein Be-griff von strahlender Schönheit, und kein Philosoph hat je über den Men-schen etwas ähnlich Großes gesagt. Aber nach christlichem Verständniswird dieser Gedanke von dem der Gotteskindschaft turmhoch überragt.Vielleicht kann man das dem heutigen Menschen dadurch näherbringen,daß man es von der Gegenseite, also von der atheistischen Position her,aufrollt.

Einer der markantesten Sprecher dieses Atheismus ist bekanntlich Friedrich Nietzsche , der zu Beginn seines berühmtesten Werkes, des „Zara-thustra“, die Lehre von den drei Verwandlungen entwickelt: die Verwand-lung des Menschen in das Kamel, den tragsamen Geist, den heteronomenMenschen, der Befehle braucht, um wissen zu können, was er zu tun hat;die Verwandlung des Kamels in den Löwen, den autonomen Menschen,der sich selbst Gesetz ist. Indessen muß auch der Löwe nochmals über-boten werden, weil er sich seine Autonomie immer neu beweisen muß.Deswegen ist das höchste Ziel des Menschseins das Kind. Das ist unver-kennbar eine Anleihe aus der christlichen Lehre von der Gotteskindschaft.In diesem Zusammenhang muß ich an einen meiner Grundsätze erinnern:Das Christentum ist weder die Religion der Infantilisierung noch der Dis-ziplinierung des Menschen, sondern der Erhebung des Menschen, und dasHöchste, was vom Menschen ausgesagt werden kann, ist dessen Berufungzur Gotteskindschaft.

H:Gotteskindschaft ist nach Ihrem Verständnis also identisch mit demSachverhalt der theonomen Autonomie. Der Mensch ist moralisches Sub-jekt, er ist autonom in Verantwortung vor Gott.

B:Ganz richtig; er ist autonom dank der Intervention Gottes, weil Gottihm zur Autonomie verholfen hat. Man könnte das noch einmal von deratheistischen Gegenposition her verdeutlichen. Dabei möchte ich abernicht wieder auf Nietzsche zurückgreifen, sondern auf Sigmund Freud . Erhat 1930 den bereits angesprochenen Essay veröffentlicht: „Das Unbeha-gen in der Kultur“. Darin hat er in einer fast prophetischen Weise Entwick-lungen vorausgesehen, die erst heute voll zum Durchbruch kommen,indem er zeigte, daß der Mensch durch die Technik im Begriff steht, übersich zu einem gottähnlichen Format hinauszuwachsen: Durch die Nach-richtentechnik gewinnt er ein Stück göttlicher Allwissenheit, durch dieRaumfahrt ein Stück göttlicher Allgegenwart, durch die Evolutionstechnikein Stück göttlichen Schöpfertums. Das sind die Attribute, die durch denvon Nietzsche proklamierten Tod Gottes freigesetzt worden sind, und dieder Mensch nun in seinen Besitz zu bringen sucht. Weil er sich diese Attri-bute nur mühsam, nach Art von Prothesen, aneignen kann, ist er auf die-sem Weg zu einem „Prothesengott“ geworden. Dieser Begriff, so ironischer gemeint sein mag, ist tatsächlich dazu angetan, den Begriff der Gottes-kindschaft zu verdeutlichen; denn wenn die Gotteskindschaft die Er-hebung des Menschen bewirkt, wachsen dem Menschen, bildlich gespro-chen, durch sie Flügel zu, mit deren Hilfe er sich zu seinen höchsten Seins-möglichkeiten erheben kann. Dann muß man sich nur noch fragen, worindiese Seinsmöglichkeiten bestehen.

Der Mensch ist nach meiner Anthropologie das Möglichkeitswesen. Erist nie festgelegt; er ist, mit Nietzsche gesprochen, „ein Seil, über einen Ab-grund gespannt“. Als solcher ist er darauf angelegt, die in ihm ruhendenMöglichkeiten freizusetzen und von den ihm verfügbaren Talenten den je-weils besseren Gebrauch zu machen. Die Gotteskindschaft ist nach demGesagten jener Begriff vom Menschen, der ihm dazu verhilft. Jetzt mußman nur noch fragen, wovon er vorzugsweise Gebrauch machen soll,wenn er zum Kind Gottes geworden ist.

H:Nach Ihrer Überzeugung geht der Mensch in seiner menschheits-geschichtlichen ebenso wie in seiner individuellen Entwicklung auf Zielezu, von denen wir noch keine Ahnung haben. Das Christentum fungiert indiesem Prozeß nicht als Bremsklotz, im Gegenteil, es gibt stets neue Im-pulse für die Selbstentfaltung des Menschen, immer natürlich in Verant-wortung vor Gott.

B:Absolut richtig, denn der Mensch ist bekanntlich aus primitiven Zu-ständen erst zu seiner gegenwärtigen Gestalt gelangt. Doch soll sich nie-mand einbilden, daß wir bereits am Ende der Evolution und der Mensch-heitsgeschichte stehen. Das tun wir weder in kultureller noch in politi-scher, aber auch nicht in anthropologischer Hinsicht. Der Mensch istimmer noch unterwegs zu sich selbst, und das Christentum ist keinesfalls– wie Sie mit vollem Recht gesagt haben – die Religion der Bremsung undder Zurücknahme, sondern die Religion der Förderung, ja sogar des An-triebs in diesem Weltgeschehen. Deswegen muß mit aller Intensität überdie Möglichkeit der Optimierung des Menschen nachgedacht werden: Wiekommt der Mensch dazu, die in ihm ruhenden und vielleicht noch brach-liegenden Möglichkeiten freizusetzen und davon einen effektiven Ge-brauch zu machen?

H:Parallel dazu ist die ethische Entwicklung des Menschen unbedingterforderlich; sie sollte in gleichem Maße stattfinden. Heute befinden wiruns in der Situation, daß die technische Entwicklung wesentlich weiter istals die ethische. Daraus erwachsen große Probleme. Diese Tatsache darfaber kein Argument sein, den Menschen an der Entfaltung seiner Fähig-keiten zu hindern. Der mögliche Mißbrauch darf den Gebrauch nicht ver-bieten.

B:Die ethische Entwicklung muß unbedingt mit den technischenMöglichkeiten gleichziehen, anders sind diese nicht unter Kontrolle zubringen. Selbstverständlich haben Sie recht, wenn Sie darauf hinweisen,daß die Technik Dinge vollbringt, die theoretisch noch nicht voll eingeholtund ethisch noch nicht bewältigt sind. Doch das müßte für die Moral einAnsporn sein; und sie dürfte auf keinen Fall nur die eine Konsequenzziehen, nämlich diese Entwicklungen verhindern zu wollen.

Jetzt aber zurück zu unserem Thema von der Gotteskindschaft! DieFrage ist: Welches sind denn die Möglichkeiten, die gerade in der augen-blicklichen Situation freigesetzt werden sollten. Darauf gibt der schonwiederholt genannte Gregor von Nyssa eine bedenkenswerte Antwort. Vonihm stammt eine Betrachtung über die Seligpreisungen der Bergpredigt.Die aktuellste dieser Seligpreisungen lautet bekanntlich: „Selig die Frie-densstifter, sie werden Söhne Gottes genannt werden.“ Selbstverständlichkann man diesen Satz auch umdrehen; dann haben wir die Antwort aufunsere Frage. Sie besagt: Wer zur Gotteskindschaft gelangt ist, der fühltsich vor allen Dingen verantwortlich für den Frieden der Welt und ge-nötigt, sich dafür einzusetzen. In der enthusiastischen Sprache Gregorsheißt das: „Wie könnten wir Gott gebührend dafür danken, daß er uns mitder Gnadenkrone der Gotteskindschaft gekrönt hat?“ Und er läßt keinenZweifel daran, daß der wahre Dank im Einsatz für den Frieden und die„liebevolle Übereinstimmung unter den Menschen“ besteht. Die Aktua-lität dieses Wortes liegt auf der Hand. Denn die Welt, in der wir uns vor-finden, ist zutiefst zerrissen. Im Epheserbrief des Neuen Testamentes stehtder Satz: „Er ist unser Friede; denn er hat durch sein Sterben die Trenn-wand der Feindschaft niedergelegt.“ Ich kenne kaum einen Satz, der ak-tueller ist als dieser; denn wir leben in einer Welt der durch viele Mauerngeteilten Völkerschaften, Kulturkreise, Weltanschauungen und Religionen.Deswegen kommt es entscheidend darauf an, daß etwas zur Niederlegungdieser Mauern getan wird. Ich möchte es lieber positiv formulieren: Esmüßte eine Gemeinschaft entstehen, die auf gegenseitige Achtung, Tole-ranz und Verantwortung gegründet ist. Das wäre der Friedensdienst, derangesichts der über der heutigen Welt liegenden Kriegsdrohung von denk-bar größter Aktualität ist. Deswegen ist nichts wichtiger als Friedenseinsatzan der Basis; denn der Weltfriede kommt nicht von oben, er kommt vonunten. Er beginnt dort, wo Menschen über ihren eigenen Schatten sprin-gen, wo Menschen sich ihrer gegenseitigen Verantwortung bewußt werden,wo sie lernen, füreinander einzustehen, wo sie bereit sind, über ihre inne-ren Hemmungen hinweg einander die hilfreiche Hand zu reichen – das istdas Friedenswerk, an dem sich alle beteiligen müssen. Wenn das geschieht,wird denen der Wind aus den Segeln genommen, die immer noch glau-ben, ihre Interessen durch Gewalt und Krieg durchsetzen zu können. Diesemüssen durch das widerlegt werden, was jene bewirken, die sich dem Satzverschrieben haben: „Selig die Friedensstifter, sie werden Söhne und Töch-ter Gottes genannt werden.“ Nun drehe ich diesen Satz nochmals um undsage: Das erste und wichtigste, was dem zur Gotteskindschaft Berufenenangelegen sein muß, ist der Friedensdienst und der Einsatz für einegewaltfreie und friedliche Welt.

H:Wenn darin das Wesen des Christseins besteht, dann müssen wirkonstatieren, daß das Christentum noch nicht allzu weit vorangeschrittenist. Und in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, über die zu spre-chen sein wird: Wie steht es eigentlich mit dem Glauben? Warum habendie Menschen so große Schwierigkeiten, den christlichen Glauben zu ak-zeptieren, darin überhaupt einen Sinn zu sehen, und was kann in diesemZusammenhang wiederum die Neue Theologie beitragen. 10. Der Glaube

H:Es ist ein kaum zu übersehendes Phänomen unserer Zeit, daß derchristliche Glaube in einer tiefen Krise steckt. Gleichzeitig zeichnet sichaber eine neue Entwicklung ab – Sie nennen es eine Glaubenswende –, dieihrerseits dazu geeignet sein könnte und müßte, diese Glaubenskrise zuüberwinden. Die klassische Form des Glaubens versteht sich als das Für-wahrhalten von Sätzen. Mit seinem Willen und Gehorsam unterwirft sichder Mensch irgendwelchen Vorgaben, das heißt, er läßt sich heteronom be-stimmen. Das sind Verhaltensweisen, für die der heutige Mensch nichtmehr zu gewinnen ist. Wo sehen Sie eine Glaubenswende und wie explizie-ren Sie, von Ihrer neuen Konzeption her, Glauben in christlichem Ver-ständnis?

B:Ich möchte zunächst auf Ihre Bemerkung zurückgreifen, wonachder Glaube in eine offenkundige Krise geraten ist. Meine These heißt: Erist in die Krise geraten, weil er anachronistisch verstanden und aufgefaßtwird. Die meisten, die sich mit dem christlichen Glauben befassen, sehenihn in der Perspektive des Ersten Vatikanischen Konzils (1869/70), das,nebenbei bemerkt, auch von dem großen jüdischen Kritiker des Christen-tums, Martin Buber , als Fixpunkt angesehen worden ist. Danach ist derGlaube die Zustimmung zu dem, was von Gott autoritativ gesagt wordenist. Das heißt in letzter Vereinfachung: Glaube ist gehorsame Unterwer-fung unter die Gottesautorität; Glaube ist Gehorsam.

Dieser Autoritätsglaube – und das haben wir ja beide in unserer Lebens-geschichte sattsam zu spüren bekommen – ist untergraben und in Fragegestellt worden durch die Autoritätskrise, die vor allen Dingen in Gestaltder Studentenrevolte bekannt geworden ist. Aber diese Krise war viel um-fassender: Es wurden nicht nur die Lehrautoritäten in Frage gestellt, auchdie familiären Autoritäten wurden hinterfragt und mit ihnen zusammenauch die politischen und religiösen. Nur eine Autorität schien unberührtgeblieben zu sein, die göttliche. Aber das war, wie sich bereits zeigte, eineTäuschung. Ausgerechnet der kirchenfrömmste Philosoph des letztenJahrhunderts, Peter Wust , hat in seinem Werk „Ungewißheit und Wagnis“die Frage gestellt: „Warum ist Gott oben und warum sind wir unten? Undwarum ist er kampflos oben an der Spitze der Seinshierarchie, währendwir uns abmühen müssen in unendlicher Lebensangst und Daseinsnot.“Da ist nun auch die göttliche Autorität in Frage gestellt worden, und damitwurde das ganze Konzept des Autoritätsglaubens im Grunde hinfällig.

H:Dieser Sachverhalt spiegelt sich in äußeren Fakten: Wir sitzen hier inder Guardini-Bibliothek. Romano Guardini hat im Jahre 1937 ein Buchüber Jesus geschrieben, wohl sein bekanntestes, mit dem Titel: „Der Herr“.Mir gegenüber sitzt Eugen Biser , er hat im Jahre 1973 ein Buch über Jesusgeschrieben mit dem Titel: „Der Helfer“. Beide Werke handeln von Jesus.In diesem Wandel vom Herrn zum Helfer spiegelt sich der Wandel, dersich in diesen Jahrzehnten vollzogen hat und der auch für das Selbstver-ständnis des Christentums von außerordentlicher Bedeutung ist. Das hatzur Folge, daß in dem konkreten Fall auch die Autoritätskrise auf allen Ge-bieten der menschlichen Gesellschaft nicht ohne Einfluß auf das Verständ-nis des Christentums und des Glaubens bleiben darf.

B:Hier setzt nun meine Korrektur ein. Sie ist dem Nestor der deut-schen Philosophie, Hans-Georg Gadamer , zu verdanken, der in seinerphilosophischen Hermeneutik der Theologie einen von dieser bisherkaum gewürdigten großen Dienst erwiesen hat. Dieser Dienst bestanddarin, daß er in dem angesprochenen Werk zwischen zwei grundverschie-denen Formen von Autorität unterschied: Es gibt die Autorität des Macht-habers, die dieser unter allen Umständen zu bewahren sucht, und es gibtdie ganz andere Autorität des Lehrers, die darin besteht, daß er seine Auto-rität aufgibt und opfert, um seine Schüler auf seinen eigenen Wissensstandemporzuheben. Wenn ihm das gelingt, wird er mit dem beschenkt, wasGadamer das Wunder des Verstehens nennt. Das war für mich der Schlüs-sel zur Bestimmung der ersten und grundlegenden Glaubenswende, vonder Sie einleitend gesprochen haben. Ich sehe eine Wende vom Gehor-sams- und Autoritätsglauben zum Verstehensglauben. Das müßte eigent-lich auch ohne diese Reflexion einsichtig sein; denn wenn Gott sich offen-bart, dann doch gewiß nicht in der Absicht, den Menschen zu disziplinie-ren und ihn in eine Abhängigkeit von sich zu bringen, sondern ihn überdas zu belehren, was er durch eigenes Denken und Forschen niemals zuklären vermöchte, nämlich über das Geheimnis seines eigenen Seins.Wenn Gott sich offenbart, teilt er das mit, was er ist. Darin besteht ja auchder Kern des christlichen Glaubens: daß sich Gott in seinem eingeborenenSohn der Welt mitgeteilt hat. Deshalb liegt es im elementaren Interessedieser göttlichen Selbstmitteilung, von uns Menschen verstanden zu wer-den. Daher die Wende vom Gehorsams- und Autoritäts- zum Verstehens-glauben.

H:Dahinter steht die Einsicht, daß Gott den Menschen als denkendesWesen erschaffen hat und deshalb auch immer als denkendes Wesen an-spricht. Legt man das Ihren Ausführungen zugrunde, kommt man un-mittelbar zu diesem Ergebnis. Sie sehen aber noch eine andere Perspektivein Ihrem neuen Glaubensverständnis?

B:Ganz gewiß, denn das Ganze hat mit den von Ihnen angesprochenenDogmen zu tun. Die Dogmen aber sind, wenn ich es bildlich ausdrückendarf, Gefäße, die zur Absicherung ihres kostbaren Inhaltes geschaffen sind.Dogmen haben primär defensiven Charakter, sie sollen die christlicheWahrheit vor Irrtum und Wahnvorstellungen bewahren. Doch ein Gefäßist vor allem dazu da, daß aus ihm getrunken werden kann. In dem Verlan-gen, das zu erfahren, was dieses Gefäß umfaßt, sehe ich eine zweite Wende:die vom Bekenntnis- und Satzglauben zum Erfahrungsglauben. Karl Rah- ner , mein Vorgänger auf dem Guardini-Lehrstuhl, hat sich mit dem allbe-kannten Satz von seiner theologischen Arbeit verabschiedet: „Der Christder Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird überhaupt nicht sein.“Gefragt, was er unter Mystik verstehe, sagt er: „Mystiker ist derjenige, derGott zu erfahren sucht.“ Daraus schließe ich auf die Wende vom Satz-zum Erfahrungsglauben.

Schließlich gibt es eine dritte Wende, auf die vor allen Dingen der indiesem Raum indirekt präsente Guardini hingewiesen hat. Guardini be-tonte: „Keiner glaubt für sich allein; wenn wir glauben, dann glauben wirimmer im Kontext mit anderen. Keiner weiß, wie weit er mit seinem Glau-ben von anderen mitgetragen wird, aber keiner ahnt auch, wie weit erdurch seinen Glauben den Glauben anderer ermöglicht und mitträgt.“ Dasehe ich nun eine dritte Wende, denn der Glaube in der früheren Konzep-tion war immer nur Individualglaube. Er hatte das Ziel, das ewige Heilzu erlangen, er war ein Leistungsglaube. Ich sehe also eine Wende vomLeistungs- zum Verantwortungsglauben.

Aber diese dreifache Wende wird nach meinem Verständnis von einervierten, basalen umgriffen. Und das ist die Wende vom Gegenstands- zumInnerlichkeitsglauben. Im Anschluß an eine Parabel Franz Kafkas habenwir das bereits mit dem Bild von dem Dom zur verdeutlichen gesucht, des-sen strenge Fassade die Herrlichkeit nicht ahnen läßt, die den Besucher inseinem Inneren erwartet.

Erkenntnisse des englischen Paulusforschers Ed Parish Sanders sinddazu angetan, dieses Bild auf den Begriff zu bringen. Danach muß beiPaulus eine von rechtlichen Kategorien beherrschte Oberschicht von einermystischen Tiefenschicht unterschieden werden. Dort spricht der Aposteldavon, daß Christus beim Befehlsruf des Engels und beim Ertönen derPosaune Gottes wiederkommt, daß alle vor seinem Richterstuhl erschei-nen müssen und die von ihm Gerechtfertigten gerettet werden. Hier aber,in der Tiefenschicht, treten diese rechtlichen Vorstellungen völlig vor demGedanken der „Teilhabe des Gläubigen an Christus“, also vor dem Motivder mystischen Verbundenheit mit ihm, zurück.

Übrigens unterläuft Paulus das von ihm entworfene Gerichtszenarioselbst, wenn er in der Korrespondenz mit Korinth das Ziel und Ende derWeltgeschichte in einem doppelten Unterwerfungsakt erblickt. Zuerstmüßten Christus, dem so tief Verkannten und Erniedrigten, alle ihmwiderstrebenden Mächte, einschließlich seines Hauptgegners, des Todes,unterworfen werden. Nachdem er aber zur vollen Herrschaft gelangte,wird er sich dem unterwerfen, der ihm alles unterwarf, damit Gott „alles inallem“ sei. Damit wiederholt er den Gedanken der Teilhabe, jetzt nur inForm einer zeit- und endgeschichtlichen Vision.

H:Das Bild vom Dom kann man unmittelbar übertragen auf die gro-ßen theologischen Systeme, die im Laufe der Geschichte entworfen wur-den. Sie sind in sich so konsistent, daß man bisweilen übersehen hat, daßsie nicht selbst die Sache sind, um die es geht, sondern daß sie auf eineWirklichkeit verweisen, daß auch sie eine Innenseite haben. Thomas von Aquin , der zu den großen Systematikern christlicher Theologie zählt, hatnoch auf diese Gefahr aufmerksam gemacht, wenn er schreibt: „UnserGlaube bezieht sich nicht auf die Worte, sondern auf die Wirklichkeit, aufdie diese Worte und Sätze verweisen.“ Diese Identifizierung von Systemund Wirklichkeit, der Versuch, den Glauben definitiv zu formulieren, hatzu der heutigen Glaubenskrise wesentlich beigetragen. Ihr Bemühen, dieseKrise zu überwinden, geht den umgekehrten Weg: Sie führen von den Sät-zen und Lehren über den Glauben zurück zur Wirklichkeit des Glaubens.

B:Das könnte man auch noch einmal mit Hilfe von Kierkegaard ver-deutlichen. Er sagte: „Der Systembauer gleicht dem Architekten eines gro-ßen, hochgewölbten Palastes, der nur verabsäumt, in diesem Palast eineWohnung für sich vorzusehen und der deswegen genötigt ist, nebenan ineiner Scheune, wenn nicht gar in einer Hundehütte zu hausen.“ Und dasheißt: Im System ist für den Menschen kein Platz; das System erhebt sichzum Selbstzweck und vergißt, daß es um des Menschen willen da ist. Des-wegen verfolgt die Neue Theologie im Gegensatz dazu die Tendenz, demMenschen zu einem Wohnraum im Glaubensgebäude zu verhelfen, unddas mit dem Ziel, daß er sich in diesem Gebäude beheimatet, geborgenund zu sich selbst gebracht fühlt. Hauptziel ist stets die Selbstfindung desMenschen im Glauben, also die stets neu anzustrebende Versöhnung vonGlaube und Menschsein.

H:Alles, was wir bisher besprochen haben, hängt am Ende von derExistenz Gottes ab. Deshalb müssen wir uns jetzt noch einmal dieser Fragezuwenden, und zwar unter dem Gesichtspunkt und dem Anspruch derTatsache des Übels in dieser Welt.

H:Alle Theologie hat am Ende eine Voraussetzung, nämlich die Exi-stenz Gottes. Im Laufe der Geschichte der Philosophie und der Theologiewurden viele Argumente für die Existenz Gottes entwickelt. Dem stehtaber, um mit Georg Büchner zu sprechen, der Fels des Atheismus entgegen,und das ist das Leid. Nun ist die Frage: Wie läßt sich der konkrete Zustandunserer Welt mit einem gerechten Gott vereinbaren? Schon Epikur sah die-ses Problem, indem er feststellte: „Wenn Gott allmächtig ist, konnte er dasLeid verhindern; wenn er gütig ist, wollte er das Leid verhindern.“ Aberwir stehen vor der Tatsache, es gibt das Leid, so daß wir jetzt fragen müs-sen: Welches Attribut Gottes müssen wir streichen, die Allmacht oder dieGüte? Das ist gewissermaßen, im Vergleich zu Georg Büchner, eine zu-rückgenommene Aporie, denn man würde noch einen Gott gelten lassen,der vielleicht nicht allmächtig ist. Aber: Ist ein nicht allmächtiger Gottnoch Gott? Das ist also das Problem der Rechtfertigung Gottes angesichtsder tatsächlichen Situation unserer Welt.

B:Ja, das ist eine Sache, die durch Hans Jonas aufs eindringlichste aktu-alisiert worden ist, näherhin durch seine Denkschrift „Der Gottesbegriffnach Auschwitz. Eine jüdische Stimme“. Darin glaubt er, nur noch einenGottesbegriff aufrechterhalten zu können, der weder das Attribut der All-macht noch das der Barmherzigkeit aufweist; denn wäre Gott allmächtig,so hätte er den Holocaust verhindern können, wäre er barmherzig, sohätte er ihn verhindern müssen. Das Ganze hängt natürlich mit dem Glau-ben zusammen; der Glaube verfügt jedoch über keine Evidenz. „Wir lebenim Glauben, nicht im Schauen“, heißt es bei Paulus, und das bedeutet, derGlaube ist immer ein angefochtener Glaube, ein Glaube, der in der Gefahrschwebt, in den Irrglauben abzugleiten oder von Zweifeln überwältigt zuwerden. Zu diesen Zweifelsgründen gehört zuallererst der von Ihnen ange-sprochene, nämlich das Leid in der Welt: Wie ist damit umzugehen?

Zunächst wird man sagen müssen, daß die Vorstellung einer leidlosenWelt eine absurde ist; denn eine Welt ohne Leid wäre eine vollkommeneWelt und damit ein zweiter Gott; das aber hätte theoretisch zur Selbstauf-hebung des Göttlichen geführt. Das heißt dann umgekehrt: Wenn Gottschaffen wollte – und für mich ist das das eigentlich Unergründliche, daß

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er schaffen wollte –, konnte es nur eine relative oder, philosophisch ausge-drückt, kontingente Welt sein, und diese kontingente Welt traf mit ihrerKontingenz die Lebewesen auf die für sie schmerzlichste Weise, nämlichdaß sie sterben müssen. Wo Tod ist, gibt es aber auch Leid, gibt es Krank-heit, gibt es Gewalttat. So ergibt sich alles Leid in der Welt letztlich aus derTodverfallenheit alles Lebendigen. Das steckt hinter unserem Problemeiner möglichen Versöhnung von Glaube und Leid.

H:Dann muß man noch einmal grundsätzlicher fragen: Warum hatGott eine endliche Welt geschaffen, wenn sie aufgrund der Endlichkeit mitall diesen Folgen notwendigerweise verbunden ist? Hat er damit nichtdoch alles in Gang gesetzt oder zumindest geduldet, was wir als grenzen-loses Elend erfahren? Natürlich kann der Mensch von Gott keine Antwortauf die Frage nach dem Warum einfordern. Gott würde dadurch zu einemgleichrangigen Verhandlungspartner degradiert. Der Mensch hat aber dasRecht, bis zum Äußersten zu fragen, um dann vor dem Geheimnis Gotteszu verstummen. Vielleicht gibt es aus der Sicht Ihres neuen theologischenAnsatzes eine Antwort, die in dieser ausweglosen Situation die Spur einesmöglichen Verständnisses aufzeigen könnte.

B:Ich sehe nur einen Grund, und das ist die Menschwerdung Gottes.In Gott muß eine Lust gewesen sein, sich in die Kontingenz herabzulassen,um dort seine allerhöchsten Triumphe zu feiern, allerdings Triumphe, dieer nach christlichem Verständnis mit dem Tod des eigenen Sohnes bezah-len mußte. Das ist natürlich nur eine Modellvorstellung. Aber Sie sagen ja,daß uns das letzte Warum verborgen bleibt. Wir müßten einen unend-lichen Intellekt haben, um Gott in seiner Motivation als Schöpfer begrei-fen zu können. Was ich zur Sprache brachte, war lediglich der Versucheiner Annäherung.

Doch jetzt die Frage: Wie verhält es sich mit dem Leid der Welt und demtraditionellen Gottesbegriff? Dieser Begriff läßt ja Gott mit der Welt inihrer Gebrochenheit und Hinfälligkeit durchaus kompatibel erscheinen;denn das ist ein Gott, der einmal liebt und dann wieder droht und straft,es ist der ambivalente Gott der Menschheitstradition. Mit dem könnteman das Leiden der Welt notdürftig vereinbaren, jedoch um den Preis, daßdann das Leid als eine Strafe dieses Gottes erscheint.

So ist es zu meiner nicht geringen Verblüffung von der Kirche immerwieder hingestellt worden. Wenn du ins Unglück gerätst, dann frage dich:Wodurch hast du dir das zugezogen und womit hast du das verdient?Doch das ist eine Frage, die von Jesus selbst mit aller Entschiedenheit zu-rückgewiesen wird. Im Johannesevangelium gibt es die bewegende Szenemit dem Blindgeborenen, bei dessen Anblick die Jünger fragen: „Meister,wer hat da gesündigt, wofür muß der büßen mit seiner Blindheit: Fürseine eigenen Sünden oder für die Sünden der Eltern?“ Jesus wischt diesenEinwand mit einer Handbewegung vom Tisch: „Niemand hat gesündigt“,sagt er, „aber ihr werdet die Herrlichkeit Gottes erleben.“ Und er schenktdem armen Menschen das Augenlicht. Das ist seine Antwort.

Das ist nun der Schlüssel zu unserer zentralen Frage. Im Zentrum desChristentums steht gerade nicht jener ambivalente Gott, der einmal tröstetund dann straft und seinen Zorn über die Welt ergießt, sondern der bedin-gungslos liebende Gott, den Jesus entdeckt hat. Damit stehen wir vor derFrage: Wie ist dieser liebende Gott mit dem Leid der Welt vereinbar? Gibter darauf eine Antwort?

Die Antwort besteht – so paradox das im ersten Augenblick klingenmag – in ihm selbst. Das Leid der Welt darf nicht als Strafe gesehen wer-den; wenn es eine Strafe wäre, wäre Gott vom leidenden Menschen him-melhoch entfernt. Er würde die Strafe verfügen, und der Leidende würdedie Strafe erleiden, dazwischen wäre ein unendlicher Abstand. Aber derliebende Gott, der sich in Jesus erschloß, begibt sich in die Tiefe des Leideshinein. Sie haben das vorhin als mögliche Motivation sogar angesprochenund damit indirekt auf die französische Mystikerin Simone Weil hin-gewiesen. Sie verfaßte einen Essay mit dem Titel „Das Unglück und dieGottesliebe“. Dessen Grundgedanke lautet: Das Unglück ist nicht derGegensatz zur Gottesliebe, sondern das Gefäß, in das sich die Liebe Gottesvorzugsweise ergießt. Das hat für den leidenden Menschen eine eminenteBedeutung, denn das Leid des Menschen in seiner Krankheit und seinemElend hat ja den bittersten Stachel in der Vorstellung: Mein Leben ist sinn-los. Insbesondere fühlt sich der chronisch Kranke aus unserer Konsum-und Leistungsgesellschaft ausgegrenzt. Er kann weder produzieren nochkonsumieren. Deshalb scheint sein Leben jeden Sinn verloren zu haben.Wenn sich die Liebe Gottes seiner jedoch in besonderer Weise angenom-men hat, wenn also das gilt, was ich mit dem Bild von dem Gefäß zu veran-schaulichen suchte, daß Gott sich vorzugsweise in das Leid hineinbegibt,dann ist dieses Leid voller Sinn, denn einen größeren Sinn kann es für denMenschen gar nicht geben als den liebenden Gott. Er ist die erfüllende Ant-wort auf seine Sinnfrage. Dadurch wird natürlich das Krebsleiden nicht ge-heilt, dadurch wird ein beruflicher Rückschlag nicht ausgeglichen; dochdem Leid ist der bitterste Stachel ausgebrochen, nämlich die vermuteteSinnlosigkeit. Demgegenüber gilt: Leiden hat Sinn! Wenn ich dem nocheinen Gedanken hinzufügen darf, so den des sogenannten Dionysius Areo- pagita , wonach Gott nicht so sehr durch Forschen als durch Leiden erkanntwird. Danach ist der leidende Mensch von Gott in einen Lernprozeß ein-bezogen, in dem er die Tiefen der Gottheit auf neue Weise erkunden lernt,so wie sie dem Gesunden in dieser Form nie zugänglich wären.

H:Hier wäre vielleicht noch ein Gedanke aufzugreifen, den unser Kolle-ge Armin Kreiner in seiner Arbeit über die Theodizee entfaltet hat. Er stelltfest, daß es die spezifisch menschlichen Werte wie Liebe, Nächstenliebe,Barmherzigkeit, Hilfsbereitschaft überhaupt nicht geben könnte, wenn wirin einem Paradieseszustand lebten. Das heißt also, daß der Mensch zu sei-ner eigenen menschlichen Entfaltung nur in einer Welt kommen kann, die– und wenn es auch noch so schlimm ist – in etwa so aussieht wie die unse-re. In dieser Gesamtsicht von Schöpfung und Erlösung kann man am Endezwar keine Erklärung, aber doch eine Spur von Sinn in der in ihrer Negati-vität oft so sinnlos erscheinenden Welt entdecken.

B:Es ist ja eine alte Erfahrung, daß das Leid der Welt die Menschenmotiviert. Es gibt immer wieder Menschen, die sich gerade durch Behin-derte und Kranke aufgefordert fühlen, sich für sie einzusetzen. Und wieviele Kunst- und Geisteswerke sind aufgrund der von ihren Schöpferndurchmessenen Leidensgeschichte entstanden! Man denke nur an Pascal oder Beethoven . Im Zusammenhang damit drängt sich mir auch der Ge-danke von der Kompensationskraft des Todes auf. Weil die Lebewesen demTod verfallen sind, müssen sie sich fortpflanzen. Das aber heißt in letzterKonsequenz: Der Tod ist nicht, wie uns Paulus eingeredet hat, der „Soldder Sünde“, sondern der Preis der Liebe. Weil wir sterben müssen, könnenwir einander lieben. Im höchsten Sinn gilt das vom Kreuzestod Jesu. Die-ser Tod war, wie der Johannesevangelist versichert, Jesu höchster Liebes-erweis. Dadurch hat er der Liebe in dieser von Haß und Gewalt verdun-kelten Welt zum Durchbruch verholfen. Bekanntlich ist der Tod nach Schopenhauer der „Musaget der Philosophie“. Er ist aber nicht nur derWortführer des Denkens, sondern nicht weniger auch der Liebe. Deswegensollte der Tod nicht nur als Widersacher Gottes gesehen werden, obwohl erbeim Siegeszug Christi als „letzter Feind“ vernichtet wird. Vielmehr ist erin der Hand Gottes auch das Instrument, das uns zu Einsicht und Rück-sicht, ja in letzter Hinsicht sogar zur Liebe bewegt.

H:Das bedeutet, daß eigentlich nur das Christentum eine annäherndeAntwort auf dieses Problem geben kann und gibt, daß aber letztlich beider Frage nach dem Warum gleichwohl das Geheimnis Gottes stehen-bleibt, und wir uns davor bescheiden müssen.

B:Das ist die richtige Antwort.

H:In den vorangegangenen Gesprächen haben wir den Versuch ge-macht, uns dem Zentrum und dem Fundament des Christentums zu nä-hern, nämlich der Auferstehung Jesu Christi. Dabei zeigt es sich, daß dieBerichte über dieses Ereignis sehr unterschiedlich, zum Teil sogar wider-sprüchlich sind. Weiterhin kann man feststellen, daß die Art und Weise,wie der normale Christ diesen Sachverhalt denkt, nicht unbedingt geeignetist, das zu erfassen, was in Wirklichkeit damit gemeint ist. Wenn der Auf-erstehung für das Christentum so fundamentale Bedeutung zukommt,dann ist der ganzen Schöpfung von diesem Ereignis her eine neue undalles verändernde Qualität eingestiftet, von der Welt, Mensch und Er-lösung betroffen sind. Wie wirkt sich diese Grundeinsicht in Ihrer Theolo-gie aus?

B:Sie haben vollkommen recht; für die Neue Theologie ist die Auf-erstehung Jesu, mit Wilckens gesprochen, der Angel- und Mittelpunkt desganzen Christentums. Sie ist, um Ihren Gedanken aufzunehmen, eine ArtKristallisationszentrum, von dem etwas ausstrahlt, und zwar auf die vonIhnen angesprochenen Bereiche. Der erste Bereich, von dem wir unmittel-bar betroffen sind, ist die Welt. Der zweite sind wir selbst, und der dritte istschließlich der Kerngedanke des Christentums, die Erlösung: Wie stelltsich das im Licht des Auferstehungsglaubens neu dar?

Wenn man mit der Welt beginnen soll, stößt man zunächst auf ein Wortdes Apostels Paulus, das alle gewohnten Vorstellungen umwirft: „Wirhaben nur einen Gott, durch den alles ist und für den auch wir sind, undwir haben nur einen Herrn Jesus Christus, durch den alles ist und durchden auch wir sind.“ Und das sagt er von dem Mann, der in einem Winkeldes Römischen Reiches auf die Welt gekommen und in dem etwas verrufe-nen Nazaret groß geworden ist. Von ihm sagt er, daß er die Welt erschaffenhabe. Wenn aber Ostern das Kristallisationszentrum ist, um das sich allesneu ordnet, tritt damit sogar die Welt in eine neue Beleuchtung. Die Frageist nur: in welche?

Paulus gibt darauf im Zweiten Korintherbrief eine überraschende Ant-wort mit dem Satz: „Gott, der gesagt hat: Es werde Licht, er hat es auch inunserem Herzen tagen lassen zum strahlenden Aufgang seiner Herrlichkeitauf dem Antlitz Jesu Christi.“ Das heißt, etwas vereinfachend ausgedrückt:Durch die Auferstehung ist die Welt auf eine neue Basis gehoben worden,und diese Basis ist keine andere als die durch den Auferstandenen gegebe-ne. Von ihm sagt Paulus im Eingang des Römerbriefs, „er wurde eingesetztzum Gottessohn mit Macht durch die Auferstehung von den Toten“. Dem-nach wurde er durch seine Auferstehung in ein transkreatürliches Verhält-nis zu Gott aufgenommen; und das strahlt jetzt zurück bis auf den Anfangder Welt und hebt die Welt in einen neuen Kontext.

H:Was den Anfang und den Gang der Welt betrifft, ist es die traditio-nelle Vorstellung, daß da irgendwann irgendetwas begonnen hat. Durchdie Sünde wird dann die Inkarnation notwendig, die im Tode Jesu in dieAuferstehung einmündet. Nach Ihren Ausführungen kann man also dieSchöpfung und den Gang der Welt nur von der Auferstehung Jesu hertheologisch angemessen denken. Oder habe ich Sie falsch verstanden?

B:Nein, nein, das ist vollkommen richtig, wir haben natürlich unserendliches Weltverständnis, und dazu gehört auch unsere Zeitvorstellung.Wir können uns den Gang der Dinge nur im Nacheinander vorstellen. FürGott ereignet sich das alles in einem Augenblick; wir müssen uns also un-sere Zeitkategorien aus dem Kopf schlagen, wenn wir uns wenigstens an-nähernd die göttliche Perspektive vergegenwärtigen wollen; Paulus sprichtausdrücklich von einer Neubegründung der Schöpfung durch die Auf-erstehung Jesu Christi.

H:Damit erscheint alles in einem völlig anderen Licht. Auch die natur-wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie etwa die Evolution, müssen aus die-ser Sicht theologisch neu gewertet und interpretiert werden. Es kann jazwischen Naturwissenschaft und Theologie keine doppelte Wahrheitgeben.

B:Sie haben gerade von der in den Naturwissenschaften vorherrschen-den Evolutionsvorstellung gesprochen. Etwas Analoges findet sich aber be-reits bei Paulus: Im 8. Kapitel des Römerbriefs begreift er das Weltgesche-hen als einen evolutionären Prozeß, der in Geburtswehen aus der Not derVergänglichkeit in die Freiheit der Gotteskinder führt. Das könnte mansogar mit Hegel in Zusammenhang bringen, bei dem der Sinn der Welt-geschichte im Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit besteht. Entspre-chendes sagt schon Paulus, wenn er die Welt aus Wehen und Nöten auf dasZiel der Freiheit der Gotteskinder zustreben sieht.

H:Damit wären wir bei dem zweiten Punkt, der in diesem neuen Lichtbehandelt werden soll, nämlich dem Menschen.

B:Selbstverständlich ist der Mensch zentral betroffen; doch von ihmgilt nichts anderes als das, was wir von der Welt gesagt haben. Auch er wirddurch den Glauben an die Auferstehung in ein transkreatürliches Verhält-nis zu Gott aufgenommen. Das heißt natürlich nicht, daß er den Tod nichtzu erleiden braucht, wohl aber heißt es, daß er den Tod bereits hinter sichhat. Es macht ja einen gewaltigen Unterschied, ob einer von seinem Todannimmt, daß er sterbend in ein bodenloses Nichts versinkt und von ihmnichts übrigbleibt, oder ob er weiß, daß er im Tod aufgehoben wird, undzwar dorthin aufgehoben, wohin der Auferstandene vorangegangen ist: indie Lebensfülle Gottes. In diesem Sinn hat der Mensch, der an die Aufer-stehung glaubt, den Tod bereits hinter sich. Das schlägt dann aber auch aufdas Leben dieses Menschen durch. Er erlangt durch die Auferstehung neueSeinsmöglichkeiten. Sigmund Freud hat von einem Prothesengott gespro-chen, der durch die technischen Errungenschaften unserer Zeit entstehe.Der christliche Gegenbegriff dazu ist die Gotteskindschaft. Dem zum Got-teskind gewordenen Menschen wachsen Flügel zu; er vermag Dinge, die ersich zuvor nicht hätte träumen lassen. Er verfügt über die Möglichkeit, vonseinen Fähigkeiten einen neuen Gebrauch zu machen. Und er kommt inalledem auf neue Weise zu sich selbst.

H:Daraus erwächst die Überzeugung, daß der Mensch in der Sicht desChristentums nicht nach seinem Sinn suchen muß, er ist ihm grundsätz-lich zugesprochen. Dadurch wird er frei für seine Aufgaben in der Welt, fürdie Probleme, die auf ihn zukommen, und die er im Vollzug christlicherExistenz bewältigen muß. Damit kommt der dritte Komplex in den Blick:Inwiefern fällt das alles unter die Kategorie „Erlösung“?

B:Dazu zunächst die Bemerkung, daß im Grunde das recht verstande-ne Christentum eine einzige Antwort auf die menschliche Sinnfrage ist,denn man kann nie genügend betonen, daß das Christentum im Gegen-satz zu dem Anschein, in den es weithin geriet, keine Religion ist, die denMenschen in Zustände der Selbstentfremdung treibt, sondern die der„Güte- und Menschenfreundlichkeit Gottes“ verpflichtete Religion, dieden Menschen im höchsten Sinne des Wortes zu sich und zum Sinn seinesLebens bringt. Denn das Christentum ist die Religion der Liebe. Wer sichgeliebt weiß, dem stellt sich die Sinnfrage nicht mehr. Sie ist in seinemGlück buchstäblich erloschen. Doch damit stellt sich nun unumgänglichdie von Ihnen aufgeworfene Frage nach der Erlösung.

Erlösung ist ein Grundbegriff des Christentums. Aber ich habe das Ge-fühl, daß er vielen zwar bekannt, aber nicht einsichtig ist. Das hängt mitetwas zusammen, was wir in unserer bisherigen Diskussion noch gar nichtangesprochen haben. Wir sprachen zwar von der glaubensgeschichtlichenWende, in der wir uns befinden, aber daß dieser glaubensgeschichtlichenWende auch eine Wende im ethischen Bewußtsein entspricht, hatten wirnoch nicht angesprochen. Doch gerade das ist für unsere Frage wichtig,weil sich der traditionelle Erlösungsbegriff auf die Sünde und ihre Tilgungbezieht. Doch genau da liegt das Problem. Nach der Erkenntnis des engli-schen Orientalisten Eric Robertson Dodds hat sich in homerischer Zeit einUmschwung im sittlichen Bewußtsein vollzogen. Die homerischen Heldenhaben noch kein eigentliches Schuldbewußtsein; wohl aber haben sie einSchambewußtsein und fürchten nichts so sehr wie die Mißachtung durchdie Öffentlichkeit. Durch die Tragiker kam es dann zum Umschwung vonder Scham- zur Schuldkultur, die sich in der Folge durch das Judentumund Christentum immer tiefer in das Bewußtsein der Menschen einge-prägte. Jetzt aber erleben wir die Revision dieses Vorgangs; jetzt wird dieSchuldkultur mehr und mehr von einer neuen Schamkultur abgelöst. DieMenschen machen sich nicht mehr viel daraus, das Sittengesetz verletzt zuhaben, wohl aber daraus, bloßgestellt zu werden, wenn man sie auffrischer Tat ertappt.

Wenn das zutrifft, muß der Erlösungsbegriff neu bedacht werden; dochdieses neue Bedenken ist nichts anderes als die Rückkehr zu dem, was wirin den Paulusbriefen und in den ganzen Aussagen des Neuen Testamentesfinden. Dort ist zwar auch die Rede von der Verzeihung der Schuld, aber esist noch von etwas ganz anderem die Rede, nämlich von der Befreiung desMenschen. Der neutestamentliche Erlösungsbegriff ist ein emanzipatori-scher, wie es im Kolosserbrief zum Ausdruck kommt: „Er hat uns der Ge-walt der Finsternis entrissen und uns in das Reich seines geliebten Sohnesversetzt.“ Danach besteht die Erlösung in der Überwindung der Tendenz-kräfte, die den Menschen niederzuzwingen suchen und nicht zu sich selberkommen lassen; Erlösung ist in diesem Sinne primär Befreiung; doch dasist nur die eine Perspektive. Erlösung hat auch mit der Heilung des Men-schen zu tun, und darin besteht ihr therapeutischer Aspekt, der zumemanzipatorischen dazugehört.

H:Die gesamte Wirklichkeit – man darf nichts ausschließen – ist unterdem Gesichtspunkt der Auferstehung Jesu in ein völlig neues Licht gestellt.Ohne Übertreibung muß man zurückblickend kritisch feststellen, daß dastraditionelle Verständnis des Christentums sicherlich nicht alle Dimensio-nen dieser Wirklichkeit gesehen und in seinem Glaubensbewußtsein reali-siert hat.

B:Das kann man ohne weiteres so sagen, und es wird wohl niemandenüberraschen, wenn ich hinzufüge: Das Christentum steckt noch immer inseinen Anfängen. Es war ja durch die Tatsache an sich selbst gehindert, daßin sämtlichen Konfessionen Gewalt geübt oder doch billigend hingenom-men wurde. Gewalt ist aber der diametral entgegengesetzte Faktor zu dem,was Jesus, der Bote der Gewaltlosigkeit, gewollt hat. Solange Gewalt geübtund hingenommen wurde, konnte das Christentum nicht zu seiner Mittevordringen. Deshalb meine These, daß das Christentum noch immerunterwegs ist zu sich selbst und daß seine Aufgabe primär darin besteht,seine wirklichen Qualitäten endlich zum Vorschein zu bringen, sie denMenschen bewußt werden zu lassen und daraus Konsequenzen für das Ge-samtverhalten innerhalb und außerhalb der Kirche zu ziehen.

H:Wenn das zutrifft, dann können wir davon ausgehen, daß das Chri-stentum und damit die Welt noch eine große Zukunft haben.

B:Das ist eine klare Konsequenz, der ich mich voll und ganz anschließe.Vielfach herrscht die Meinung in der Kirche, es geht langsam dem Ende ent-gegen; dann kommen auch noch jene verblendeten Unheilspropheten einesnahen Weltuntergangs, die schwachen Gemütern ein baldiges Zeitende ein-zureden suchen. Zweifellos ist das akkurate Gegenteil der Fall; denn dasChristentum ist die Religion der Hoffnung und als solche die der Zukunft.Das muß gerade in einer Stunde der kollektiven Depression und überhand-nehmender Lebensangst den Menschen vor Augen geführt werden.

H:Vielleicht hängt dieses Gefühl damit zusammen, daß eine bestimmteEpoche und eine bestimmte Ausdrucksgestalt des Christentums zu Endegehen oder schon definitiv zu Ende sind. Das darf man natürlich nicht mitdem Christentum selbst identifizieren. Im Gegenteil, durch das Zerbre-chen einer geschichtlich bedingten Gestalt des Christentums können Kräf-te freiwerden, die geeignet und erforderlich sind, die Probleme der Gegen-wart und der Zukunft aus christlichem Ursprung zu bewältigen. 3. Kirche, Mystik und Neue Theologie

H:Auf unsere bisherigen Gespräche rückblickend, ist mir ein eigenarti-ges Phänomen aufgefallen: Wir haben über zahllose Themen des Christen-tums, nicht zuletzt auch über die Mitte des Christentums, gesprochen,aber wir hatten nie die Kirche als solche zum Thema. Dabei kam mir derGedanke: Vielleicht braucht es Kirche gar nicht. Nach dem, was Sie überdas Verhältnis Gottes zum Menschen, zu dem Thema „Christus in uns“und „wir in Christus“ und zu anderem ausgeführt haben, stellt sich dochernsthaft die Frage: Hat dann Kirche, haben Ämter, haben Dogmen über-haupt noch eine Funktion im Ganzen des Vollzugs von Christsein?

B:Das ist natürlich ein massiver Einwurf gegen alles, was wir bis jetztdiskutiert haben, und das ist auch ein Vorbehalt, den die Kirche immergegenüber der Mystik erhoben hat. Deswegen ist die Mystik auch nie vollzum Zug gekommen, weil man den Verdacht hatte, der Mystiker nehmedas vorweg, was erst die Kirche zu bieten hat. In Wirklichkeit entstammtdas einem Mißverständnis. Tatsächlich haben manche Mystiker die Nei-gung, sich in die Isolation zurückzuziehen, wo ihnen die Welt gestohlenbleiben kann. Doch das sind die Ausnahmen. Die wirkliche Mystik hat seitjeher eine soziale Komponente. Das kann man an großen Mystikern wie Bernhard von Clairvaux und Dag Hammarskjöld ablesen. Man kann sogarsagen, daß Mystik und Politik enger zusammenhängen, als gemeinhin an-genommen wird. Echte Mystik ist nicht individualistisch, sondern gemein-schaftsbezogen. Das gilt erst recht von ihrem Verhältnis zur Kirche. Sie, dieKirche, ist die lebendige Rahmenbedingung, innerhalb deren ein gelebtesChristentum überhaupt erst möglich ist. Die Kirche bewahrt die Glau-bensgemeinschaft davor, in eine Vielzahl widerstreitender Segmente aus-einanderzufallen; sie garantiert ihre Einheit und ihren Zusammenhaltebenso wie das Zusammenleben und die Kommunikation der in ihr Ge-einten. Für Paulus ist sie sogar selbst ein mystisches Ereignis; deshalbnennt er sie den mystischen Leib Christi. Als solche entstammt sie wiealles, was zu ihr gehört, der Auferstehung Jesu. Diesen Zusammenhang be-stätigt die Apostelgeschichte mit ihrer Schilderung des Pfingstereignisses.Auch Paulus bestätigt dies, wenn er unter den wichtigsten Osterzeugenaußer Petrus und Jakobus die „fünfhundert Brüder“ aufführt, die den Auf-erstandenen „auf einmal“ gesehen haben, und damit nach Ansicht nam-hafter Exegeten auf das Pfingstereignis anspielt. Seinem Hinweis zufolgegab es ja neben den Ostererscheinungen vor Einzelnen auch kollektiveOstererlebnisse und unter diesen vor allem das Großerlebnis der Fünfhun-dert. Wenn man es nach dem oben Gesagten mit dem Pfingstereignisgleichsetzt, ist dabei zwar nicht von einer Erscheinung des Auferstandenendie Rede; wohl aber von einer kollektiven Ekstase, in der der Auferstan-dene als „lebendigmachender Geist“ die Versammelten ergreift, belebt undinspiriert. Daraus ergibt sich eine überraschend neue Sicht der Kirche.

Wenn da am Pfingsttag feurige Zungen über die versammelte Glaubens-gemeinde herabkommen, steht das doch in einer unverkennbaren innerenBeziehung zur lukanischen Verkündigungsszene. Dort erscheint der Engelals Bote Gottes vor Maria und spricht vom Geist, durch dessen Überschat-tung sie den Messias empfangen werde. Hier erscheint Maria im Verbundmit der ersten Glaubensgemeinde, und die feurigen Zungen sind im Grun-de nichts anderes als das, was ihr bereits in der Verkündigungsszene zuge-sichert worden ist: „Der Heilige Geist wird über dich kommen und dieKraft des Höchsten wird dich überschatten.“ Beide Szenen stehen somit ineiner durchgängigen Entsprechung, so daß von der einen auf die anderezurückgeschlossen werden kann. Das heißt für die Kirche, daß sie auseinem Akt der göttlichen Inspiration hervorgegangen ist. Die junge Glau-bensgemeinde hat den Gottesgeist oder, deutlicher gesagt, den zum leben-digmachenden Geist gewordenen Auferstandenen in sich aufgenommenund empfangen. Er ist ihr Lebensprinzip geworden; er beschenkt sie mitseinen Gaben. Das zeigt sich daran, daß Petrus das Wort ergreift, an dieÖffentlichkeit tritt und die große Pfingstpredigt hält, die den Menschenins Herz schneidet: Das ist das Bild der vom Gottesgeist belebten undinspirierten Kirche!

H:So verstanden, ist Kirche primär ein inneres Ereignis der Glaubens-erfahrung. Die äußeren, rechtlichen Strukturen sind zwar notwendig, abersekundär, und sie müssen von dieser inneren Wirklichkeit getragen sein.Auf ein Weiteres ist in diesem Zusammenhang hinzuweisen. Wenn manim Alltag von Kirche spricht, denkt man an die Hierarchie, man identi-fiziert Kirche mit dem Klerus, die Laien stehen eher an der Peripherie.Nach Ihrer Theologie sind alle an Christus Glaubenden gleichberechtigteSubjekte in dieser Gemeinschaft. Alle haben ihre je eigenen Glaubens-erfahrungen, und deshalb muß auch das Wort der Laien als Ausdruck deseinen Glaubens für das Auffinden und die Formulierung der Wahrheitkonstitutive Bedeutung haben.

B:Auf dieses mit aller Deutlichkeit abgegebene Votum des „Laien“kann der „Theologe“ nur affirmativ antworten, indem er es akzeptiert. Inder Kirche gibt es, wie mit aller Deutlichkeit gesagt werden muß, keinepassiven Mitglieder. Zur Kirche gehören alle, angefangen vom Papst biszum letzten Gläubigen an der untersten Basis. Die kirchliche Glaubens-gemeinschaft umschließt alle. Es ist zweifellos so, wie Sie gesagt haben, daßdie Kirche als ein großer, inspiratorisch bewegter Kommunikationsraumzu verstehen ist. Deswegen stellt sich jetzt die Frage, wie in der Kirche ge-sprochen werden muß, damit das auch wirklich gelebt werden kann. Dawird man nun mit dem Laien feststellen müssen: Wir kennen im Grundenur eine einseitige Kanalisierung des Kommunikationsvorganges. DasSagen hat die Spitze, während die Basis dazu angehalten ist, das, was dieSpitze sagt, zu akzeptieren und sich dem gehorsam zu unterwerfen. Natür-lich liegt dem die wichtigste Erkenntnis zugrunde, daß die Spitze für dasWort der Offenbarung zuständig ist. Ihre Aufgabe besteht darin, das Of-fenbarungswort, das Gott in Jesus Christus gesprochen hat, durch die Zei-ten hindurch zu tragen, unverfälscht zu bewahren und gegen Irrtümer ab-zusichern. Deshalb hat die Kirche in diesem Sinne tatsächlich das Sagen.Doch die Basis ist kein stummer Befehlsempfänger, sondern sie hat natür-lich auch ihre Fragen, und zu einem lebendigen Kommunikationsprozeß,wie er auch zwischen uns beiden jetzt stattfindet, gehören nun einmalFrage und Gegenfrage, Aussage und Rezeption. Deswegen muß die Basisdie Gelegenheit haben, ihre Bedenken, ihre Schwierigkeiten und Einwändezu artikulieren. Umgekehrt muß die Spitze darauf achten, daß sie von derBasis auch wirklich verstanden wird. In diesem Sinne muß sie auf die Fra-gen der Basis reagieren; denn nur so kommt der lebendige Kommunika-tionsprozeß zustande, der gerade auch für Paulus das Wesentliche imkirchlichen Leben ausmacht.

H:Wenn die Laien nur Fragen zu stellen haben, ist mir das zu wenig.Ich bin der Meinung, sie haben aufgrund ihrer Welterfahrung und ihrerGlaubenserfahrung auch inhaltlich beizutragen zu dem, was dann vomLehramt als das Selbstverständnis des Christentums und damit als offiziellbindend vorgetragen wird.

B:Das ist ein noch kühneres Wort des Laien; trotzdem kann der Theo-loge wiederum nur affirmativ darauf antworten. Wir werden noch Gele-genheit haben, über die Rolle der Kunst in der Kirche nachzudenken. DerKünstler hat einen eigenen, genuinen Zugang zum Glaubensmysterium,und was für den Künstler gilt, gilt für jeden einfachen, schlichten Laien. Erhat seine eigene Glaubenserfahrung und die darf und soll er in diesen Dis-put – Paul VI. sprach vom „domesticum colloquium“, vom „häuslichenGespräch“ innerhalb der Kirche – einbringen. Nur so kommt ein leben-diger Austausch von Spitze und Basis zustande.

H:In diesem Zusammenhang gilt es vielleicht doch noch, etwas tieferüber das Amt und dessen Verhältnis zum Charisma nachzudenken, das jagerade bei Paulus eine außerordentlich große Rolle spielt.

B:Das ist ein wichtiger Hinweis. Bei Paulus sind Amt und Charisma imGrunde eine Einheit. Für ihn ist die Kirche zweifach strukturiert, einmaldurch die Ämter, die es bei ihm ansatzweise schon gibt, die aber dann inder Paulusschule noch weit differenzierter dargestellt worden sind. Dochder Amtsinhaber hat nicht nur Ordnungsfunktion; vielmehr sollte er auchGeistträger sein. Deshalb gibt es bei Paulus neben den einzelnen Dienst-leistungen auch die unterschiedlichen Charismen: das Charisma der Weis-heit, das Charisma der Erkenntnis, das Charisma der Wundertat, das Cha-risma der Rede – sein Ideal bestünde darin, daß jeder Amtsträger auchCharismatiker wäre. Wenn das aufgrund der menschlichen Unzulänglich-keit unmöglich ist, soll er wenigstens auf die Charismatiker hören und sichderen Einsichten zu eigen machen.

H:Und im größeren Umfeld wäre jetzt noch einmal über die Liturgieund vor allem über das Gebet im Vollzug der Kirche als „corpus Christimysticum“, als mystischer Leib Christi, einiges zu sagen.

B:Das ist richtig, denn das Gebet ist die „Seele der Kirche“. Die Kirchehat die große Aufgabe, die Nähe Gottes zu feiern und sie dann auch inihrem spirituellen Vollzug immer wieder neu zu artikulieren. Das eineleistet die Liturgie; ihr zentrales Ereignis besteht in der Gegenwart Christiinmitten der Feiernden. Das andere vollzieht sich im Gebet. Das Gebet istdie mit dem Herzen gestellte Gottesfrage. Doch diese Frage wird im Gebetnicht nur, wie wir uns bereits klargemacht haben, beschwichtigt, sondernzugleich an den Glauben weitergereicht: Eine Frage sucht eine Antwort,und diese Antwort erhält der Beter erst, wenn er glaubt. Die Kirche aber,um die unser Gespräch kreist, ist der Lebensraum des Glaubens. Sie er-weckt ihn durch das von ihr vermittelte Wort der Gottesoffenbarung. Siebelebt ihn durch den Dialog der in ihr Versammelten. Sie strukturiert ihndurch ihre Dogmen und Weisungen. Umgekehrt lebt sie aber auch selbstvom Glauben der in ihr Geeinten. Solange er lebendig ist, braucht sie kei-nen Gegner zu fürchten. Wenn er jedoch schwindet, ist ihr Rang als Welt-religion gefährdet.

H:Wenn ich auf meine Eingangsfrage zurückgreife, ob denn Kircheüberhaupt noch nötig sei, dann ist diese Frage eindeutig beantwortet: Sieist nötig, aber es ist auch nötig, über die konkrete Gestalt der Kirche imLichte Ihrer Theologie neu nachzudenken. 4. Der „Begriff“ des Christentums

H:Nachdem wir jetzt relativ ausführlich den Innenraum des Christen-tums bedacht haben, ist es naheliegend, daß wir das Ganze noch einmalauf den Begriff bringen und auf diese Weise von anderen Religionen ab-grenzen. Natürlich wende ich sofort und gegen mich selbst ein: Wie willman das Christentum auf einen „Begriff“ bringen, wenn es sich dabei umeine personal-relationale Wirklichkeit handelt, die man nie auf den Begriffbringen kann? Man kann sie nur beschreiben. Dieses Auf-den-Begriff-bringen-Wollen ist ja eines der großen Problemfelder in der abendländi-schen Entwicklung des Christentums. So wäre also jetzt vor allen Dingenzu zeigen, wie sich das Christentum von anderen Weltreligionen abgren-zen und zugleich selbst definieren kann.

B:Genau das ist die Tendenz, die man mit dem „Begriff“ von Christen-tum verbindet: Unterscheidungsmerkmale zu finden, wie sich das Verhält-nis des Christentums zu den übrigen Weltreligionen ausnimmt. Das giltsowohl für die drei abrahamitischen Religionen, mit denen das Christen-tum eine ungemein spannungsreiche und blutige Geschichte durchlief, alsauch für den Buddhismus, mit dem sich das Verhältnis weithin konfliktfreigestaltete und dessen Meditationsformen eine große Faszination ausüben.Ganz anders der tragische Verlauf der Geschichte des Verhältnisses zu Ju-dentum und Islam. Worin bestehen die theoretischen Gründe dieser sounterschiedlichen Geschichtsverläufe? Wenn ich zunächst das Verhältnisdes Christentums mit dem Buddhismus ins Auge fasse, so ist es im Unter-schied zu diesem keine asketische, sondern eine therapeutische Religion.Wenn ich den Unterschied zum Judentum ins Auge fasse, so ist es keinemoralische, sondern eine mystische Religion. Und wenn ich den Unter-schied zum Islam ins Auge fasse, so ist es keine primäre, sondern einesekundäre Schriftreligion.

Wenn ich beim letzteren jetzt einsetzen darf, dann heißt das: Die neu-testamentlichen Schriften, also die Heilige Schrift des Christentums, isteine sekundäre Erscheinung; denn Jesus hat weder geschrieben noch ir-gend jemanden zum Schreiben beauftragt; vielmehr hat er seine Botschaftausschließlich auf mündliche Weise an die Menschen herangetragen. Umso mehr stellt sich dann die Frage, wie das Christentum trotzdem dazu ge-kommen ist, sich zu einer Schriftreligion zu entwickeln und den Vor-sprung aufzuholen, den die es umgebenden Kulturen, angefangen von derjüdischen bis hin zur griechischen und römischen Kultur mit ihren groß-artigen Dichtungen, ihm gegenüber besaßen. Im Vergleich damit beganndie kleine Christengemeinde mit einer rein oralen Selbstdarstellung; siesetzte ausschließlich auf das gesprochene Wort. Erst nachträglich ist dasChristentum zu einer Schriftreligion geworden und hat mit den großenSchriftkulturen gleichgezogen. Daraus ergibt sich ein neues Verständnisdessen, was das Neue Testament für die Christen bedeutet.

Wir haben ja in früheren Überlegungen schon deutlich gemacht, daßdie Auferstehung Jesu der Kern allen christlichen Geschehens ist; das giltim vollen Umfang auch für die Entstehung des Neuen Testamentes, denndieses wäre nie zustande gekommen, wenn das Letzte in der Lebens-geschichte Jesu sein blutiger und entehrender Tod am Kreuz gewesen wäre.Kein vernünftiger Mensch wäre auf die Idee gekommen, den Gedanken,Lehren und Aktivitäten Jesu nachzugehen, da er durch diesen Tod geschei-tert und sogar von Gott verflucht zu sein schien. Erst das Ereignis der Auf-erstehung rückte alles in eine völlig neue Perspektive: Nein, er war nichtgescheitert und erst recht nicht von Gott verflucht. Im Gegenteil: Gott hatihn in seine Lebensfülle aufgenommen und hat ihn zum Gottessohn mitMacht eingesetzt, und dies mit der Folge, daß seine Lebensgeschichte inErinnerung gerufen, erzählt und dokumentiert werden mußte. Das heißt,daß das Neue Testament insgesamt im Licht des Ostergeschehens steht, sodaß im Evangelium die Geschichte Jesu zweifach erzählt wird: einmal bio-graphisch, von der Geburt hin zu Tod und Auferstehung, und dann um-gekehrt: von der Auferstehung zurück auf den Anfang hin. Einige Datenseiner Lebensgeschichte sind, bei Licht besehen, österliche Szenen, wieetwa die Jüngerberufung, obwohl diese von den Evangelisten am Anfangerzählt wird. Dasselbe gilt von der Verklärungsszene, wenn ich wenigstensnoch diese eine ansprechen darf: Am Schluß des Matthäusevangeliums be-ruft Jesus die Jünger auf einen Berg; das ist nichts anderes als der hoheBerg, auf dem sich die Verklärung Jesu ereignet. So steht das Neue Testa-ment insgesamt im Osterlicht. Es ist, wie der bereits erwähnte amerika-nische Theologe James M. Robinson gesagt hat, das literarische Oster-wunder. Das ist es, was uns vom Islam bei aller Nähe unterscheidet; dennder Islam ist der Prototyp einer primären Schriftreligion. Der Koran ist inder Nacht von Allah herabgesendet worden, und Muhammed, sein Emp-fänger, empfing in der Gestalt dieses Buches die Gedanken und Willens-dekrete Allahs.

H:Wenn ich noch einmal kurz zurückgreifen darf: Alles, was Sie jetztüber das Neue Testament sagten, fassen Sie ja zusammen in Ihrer Grund-these, daß Christus das Interpretament für die Lektüre des Neuen Testa-mentes sein muß. In diesem Kontext ist zu fragen: Gibt es für den Islamein vergleichbares Interpretament, oder ist und bleibt er an den Buchsta-ben gebunden?

B:Der Islam ist immer noch an den Buchstaben gebunden; dabei darfdie Tatsache nicht übersehen werden, daß er im Vergleich zum Christen-tum eine um sechshundert Jahre jüngere Religion ist. Dem Islam fehlt dieZeit, in der das Christentum gelernt hat, seine Heilige Schrift differenziertzu verstehen. Es ist die Zeit der Aufklärung. Für viele Christen, aber auchfür manche Theologen ist die Aufklärung immer noch eine Ausgeburt derHölle. Der Aufklärung verdanken wir aber das moderne Schriftverständ-nis, insbesondere das Instrument der historisch-kritischen Methode, daserst auf der Basis der Aufklärung entwickelt worden ist. Aufgrund diesesVorsprungs haben wir die Aufgabe, den Islam zu einer Art Aufklärung zubewegen und ihm klarzumachen, daß die schöne Erzählung von der Ent-stehung des Korans als Legende zu gelten hat. Danach wurde der Koran inder „Nacht der Macht“ dem Offenbarungsempfänger Muhammed über-geben, der auf Befehl Allahs auch dazu gebracht wurde, den heiligen Textzu lesen und zu verstehen. Die Aufgabe bestünde darin, dem Islam klar zumachen, daß der Koran ebenso wie das Neue Testament, bei aller religiö-sen Qualität, Menschenwerk ist. Dadurch käme der Islam zu einem neuenSelbstverständnis und in dessen Gefolge schließlich auch dazu, Dinge wiedie Scharia in einem neuen Licht zu beurteilen.

H:Ganz allgemein gesagt, heißt das: Es kann keine Religion geben, dieauf das Denken verzichten darf, weil der Mensch als denkendes Wesen vonGott gewollt und deshalb immer verpflichtet ist, denkend an alles heran-zugehen. Da wäre dann die Frage, ob es vorstellbar ist, daß durch eine auf-geklärte Interpretation des Koran die negativen Aspekte im Gottesbild desIslam überwunden werden.

B:Das müßte das Ergebnis eines langwierigen Prozesses sein. Hier seheich eine gewaltige Aufgabe; wir müßten mit dem Islam – wenn ich so sa-gen darf – ein brüderliches Verhältnis aufnehmen und ihm zum besserenSelbstverständnis verhelfen; dann könnte möglicherweise auch das Gottes-bild des Islam in dem von Ihnen angesprochenen Sinn korrigiert und aufseinen friedlichen Kern zurückgeführt werden.

Wir haben es jedoch nicht nur mit dem Islam, sondern auch mit demJudentum zu tun. Im Hinblick darauf darf ich noch einmal auf meineThese zurückkommen: Das Judentum ist eine genuin moralische, dasChristentum eine mystische Religion. Das sollte heute mit aller Deutlich-keit herausgestellt werden: Das Christentum hat eine Moral, es ist keineMoral. Das Judentum hat seine Identität in der Gewißheit, von Gott mitseinem Gesetz beschenkt worden zu sein; daher ist es die Aufgabe jedesfrommen Juden, Tag und Nacht über dieses Gesetz nachzudenken, umihm immer neue Einsichten und Direktiven abzugewinnen. Das Christen-tum ist davon grundverschieden. Es hat zwar eine Moral, aber seinSchwerpunkt liegt in der Mystik. Und hier könnte man jetzt einsetzen undfragen: Worin besteht denn eigentlich der von uns vorhin erfragte „Be-griff“ des Christentums?

Um darauf antworten zu können, sollten wir nochmals den Buddhis-mus hinzunehmen; denn Buddha ist in gewisser Hinsicht die Kontrast-figur zu Jesus. Beide haben eine Korrektur des Menschen herbeizuführengesucht: Buddha dadurch, daß er dem Menschen die Wissens-, die Gel-tungs-, die Besitz- und die Seinsgier abzugewöhnen suchte, um ihn insNirvana und damit in einen vollkommen friedfertigen Zustand zu ver-setzen. Jesus geht den entgegengesetzten Weg; er will den Menschen überseine konkrete Befindlichkeit und Verfallenheit hinausheben zu jenemneuen Standard des Seinkönnens, der mit der Gotteskindschaft, demhöchsten Werdeziel des Menschen, gemeint ist. Wenn ich nochmals denGedanken William Wredes aufgreifen darf, dann besteht das ganze WirkenJesu in dem fortgesetzten Versuch, den Menschen auf seinen eigenen Stan-dard emporzuheben. Das heißt natürlich nicht, daß wir Engel werden,wohl aber heißt es, daß wir ungeachtet unserer Hinfälligkeit, unserer Ver-suchlichkeit und Sündhaftigkeit ans Herz Gottes gezogen sind. Das istdann die Komponente, die im Gespräch mit dem Buddhismus in den an-gestrebten Begriff des Christentums eingetragen werden muß.

Wenn ich jetzt abschließend noch einmal auf Ihren Einwand zurück-greifen darf, so gibt es vom Christentum keinen Begriff, wie er im philoso-phischen Diskurs immer wieder gebildet wird. Es gibt nur die von uns, we-nigstens ansatzweise, herausgestellten Komponenten, mit denen man dasBild des Christentums einkreisen, gleichzeitig aber auch abgrenzen kann.In letzter Hinsicht geht es bei diesem angestrebten Begriff des Christen-tums nicht um eine Definition, sondern um eine Einladung. Das Christen-tum will den Menschen für sich gewinnen, das Christentum will den Men-schen in einer Weise ansprechen, daß er zu sich selber kommt. Daher hatder „Begriff“ des Christentums nach meiner Überzeugung eigentlich nurden Sinn, daß sich der Mensch vom Christentum ergreifen lassen sollteund sich, wenn er zum vollen Verständnis seiner Situation gelangte, sogarergreifen lassen muß.

H:Diese Ausführungen haben als Hintergrund die eine Grundüberzeu-gung, nämlich daß es um den Menschen in seiner personalen Identitätgeht. Vor allem die Abgrenzung gegenüber dem Buddhismus ist darin be-gründet.

B:Das ist ganz richtig; der Buddhismus hat den Menschen ins Nirvanaversenkt, das Christentum hebt ihn in die Gemeinschaft mit Gott empor.Das ist der Unterschied, allerdings der Unterschied zweier Konzeptionen,die in ihrer Tendenz dasselbe wollen: eine friedvolle Welt. 5. Die neue Moral

H:Wenn es darum geht, das Christentum von anderen Religionen ab-zugrenzen, dann betonen Sie, Herr Kollege Biser, mit großem Nachdruck,daß das Christentum, etwa im Gegensatz zum Judentum, keine moralischeReligion sei, sondern eine mystische Religion, die eine Moral hat. Da manaber diesen Gedanken nicht hinreichend berücksichtigt hat, bekam dasChristentum im Laufe seiner Geschichte eine gewisse moralische Kopf-lastigkeit, die seinem Wesen nicht gemäß ist. Aber auch wenn man das sosieht, stellt sich die Frage: Wie steht es nun mit dem Bösen und mit derMoral im Christentum, und wie kommt der Christ unter einem anderenGesichtspunkt mit all diesen Problemen zurecht, unter einem Gesichts-punkt, der sich aus Ihrer Neuen Theologie heraus entwickeln wird?

B:Das sind aber im Grunde zwei Fragen, und ich möchte zunächst aufdie erste eingehen: Wie ist es denn zu diesem Fehlverständnis des Chri-stentums gekommen, sich als eine moralische Religion aufzufassen, ob-wohl doch das Judentum dieses Privileg seit Jahrtausenden mit Recht fürsich in Anspruch nimmt? Meine Antwort: Das Christentum ist in den Sogder Aufklärung geraten. Der führende Denker der Aufklärung, Immanuel Kant, hat die Religion nur noch innerhalb der Grenzen der bloßen Ver-nunft zugelassen. Die bloße Vernunft ist für Kant jedoch die praktischeVernunft, und das heißt: Religion gibt es, weil sie zuständig ist für dieMoral der Menschen. Wenn man aber diese These, die, wie gesagt, von denKonfessionen einmütig akzeptiert worden ist, mit dem Verhalten Jesu ver-gleicht, dann sieht man einen eklatanten Unterschied: Jesus hat so gut wienie von der privaten Sünde gesprochen. Er hat sich vielmehr ostentativ aufdie Seite derjenigen gestellt, die von den Zeitgenossen als die „Zöllner undSünder“ bezeichnet und behandelt worden sind. Das sind die Menschen,die unter dem gelitten haben, was man die strukturelle Sünde zu nennenpflegt. Sie sind in unmögliche Lebensverhältnisse hineingeraten und sinddann bisweilen auch mit dem bürgerlichen Gesetz in Konflikt gekommen.Jesus hat es aber mehr mit der strukturellen als mit der privaten Sünde zutun. Ihm ging es um einen Bewußtseinswandel und um die Beseitigungder umlaufenden Feindbilder und Wahnvorstellungen. So wollte er seinVolk davor bewahren, sich in das Abenteuer eines Kriegs gegen die Welt-macht Rom zu stürzen, von dem er wußte, daß an seinem Ende „kein Steinauf dem anderen“ bleiben würde. Deshalb wollte er den Menschen einneues Lebensziel vor Augen stellen; deshalb steht im Zentrum seiner Ver-kündigung die Botschaft vom kommenden Gottesreich. Soviel zu meinerThese von der moralischen Kopflastigkeit im Verhältnis der Christen zuihrer eigenen Religion.

Doch jetzt die zweite Frage: Wie verhält es sich mit dem Problem desBösen? Auf dieses Problem ist vor allem Paulus eingegangen; aber er hatseiner dialektischen, manchmal auch widersprüchlichen Denkweise ent-sprechend zwei völlig konträre Antworten gegeben. Die eine steht im Rö-merbrief und lautet: „Der Tod ist der Sünde Sold.“ Wir müssen sterben,weil wir Adams Sünde ererbt haben und deshalb Sünder sind. Völlig über-sehen wurde dabei die Tatsache, daß Paulus im Ersten Korintherbrief, undzwar an entscheidender Stelle, geradezu emphatisch das Gegenteil sagt:„Tod, wo ist dein Sieg, Tod, wo ist dein Stachel?“ Und dann die Zusatz-bemerkung: „Der Stachel des Todes ist die Sünde.“ Das aber kann nur hei-ßen: Der Tod stachelt uns zur Sünde und zum Bösen an, der Tod machtuns böse, denn es gibt eine Tatsache im Leben des Menschen, mit der ersich nie abfinden kann, das ist die Tatsache seines Sterbenmüssens. Des-halb gibt es auf den Tod ganz unterschiedliche Reaktionen: eine resigna-tive, die sich dem Todesgedanken durch dessen Verdrängung zu entziehensucht. Und darin hat es die heutige Gesellschaft zu einer wahren Meister-schaft gebracht. Dann aber eine zweite reaktive, die in der Tendenz besteht,andere mit in den eigenen Tod hineinzureißen; wenn das physisch nichtgeht, dann wenigstens tendenziell. Am Schluß des Neuen Testaments heißtes: „Jeder der seinen Bruder haßt, ist ein Menschenmörder.“ Da wird einMensch tendenziell aus dem Lebensbereich ausgegrenzt und dadurch demTod übergeben. Niemand möchte allein sterben, er möchte möglichst vielein sein eigenes Unglück mithineinreißen. Darin kommt die Wurzel desBösen zum Vorschein, wie sie Paulus im Gegenzug zu seiner ungleich be-kannteren These aufdeckt.

H:Wenn nun an zwei so zentralen Punkten schon relativ früh imChristentum, genauer gesagt in der Kirche, eine Fehlentwicklung einge-setzt hat, dann muß man, um diese zu überwinden, nach dem Grund fra-gen: Warum ist es dazu gekommen? Und wir müssen den Mut haben, auchtraditionskritisch zu sein, zu zeigen, daß es positive Traditionen gibt, aberauch negative, und zwar negative Traditionen, die bis an den Kern derchristlichen Botschaft hinreichen. Worin kann also der Grund gelegensein?

B:Ich kann Ihnen da nur zustimmen, Sie haben sich ja in Ihren Äuße-rungen mehrfach kritisch auf die theologische Interpretation bezogen.Was Sie jetzt sagen, ist ein neuer Gedanke, der sich nicht auf die theologi-sche Auslegung des Glaubens, sondern auf den Gang der Tradition be-zieht. Hier muß ebenfalls eine Revision einsetzen, denn wir müssen zuse-hen, wo sich Implikationen eingeschlichen haben, die der Botschaft Jesuwiderstreiten. Dazu gehört vor allem der antike Dualismus. Es gab parallelzur Botschaft Jesu und zum jungen Christentum die Gnosis mit ihrem du-alistischen Menschen- und Gottesbild. Der Mensch war ein Gemenge vonGut und Böse, die Materie war der böse Anteil, der Geist der lichtvoll-gute; beide lagen beständig im Kampf miteinander. Zwar wurde die Gnosisvon den Kirchenvätern, allen voran von Irenäus von Lyon , energisch be-kämpft. Doch hat sie sich subkutan in die christliche Tradition einge-schlichen, und so ist es dazu gekommen, daß das Leibliche, besondersauch das Sexuelle, abgewertet worden ist. Wie jeder Kenner der Kultur-geschichte weiß, ist diese Tendenz in der Folge sogar bewußtseinsbildendgeworden. Deswegen muß hier – und darin kann ich Ihnen nur zustim-men – eine Traditionskritik einsetzen, die auf die Ausgrenzung dieserchristentumsfeindlichen Implikate ausgeht.

H:Nach dem neusten Stand der Forschung war es spätestens Thomas von Aquin im dreizehnten Jahrhundert, der den neuplatonischen-augu-stinischen Dualismus klar erkannt und mit großer Entschiedenheit als zu-tiefst unchristlich verworfen hat. Und deswegen frage ich noch einmalweiter: Gibt es noch andere Gründe als faktische Einflüsse? Gibt es viel-leicht Intentionen, die dazu beigetragen haben, diese nicht spezifischchristliche Sicht beizubehalten und in die Tradition hineinzuverlegen?

B:Diese Tendenzen gibt es ganz gewiß. Nun müßte man das kompli-zierte Gebilde der kirchlichen Macht ins Visier nehmen; denn Macht hatmit Unterdrückung zu tun, und unterdrückt werden können am leichte-sten diejenigen, denen man ein schlechtes Gewissen beigebracht hat. Hiertut sich ein weites Feld auf, auf dem sich diese Traditionskritik fortsetzenmuß. Jetzt aber ist für mich der Augenblick gekommen, wo wir uns auf dieAlternative konzentrieren sollten. Denn im Zentrum meiner Vorstellungvon einer neuen Moral steht vor allen Dingen der Gedanke, daß man dasBöse nicht nur durch Gebote und Verbote, sondern auf dem dazu ent-gegengesetzten Weg überwinden kann.

H:Welcher Weg ist hier zu gehen?

B:Ich sehe diesen Weg am Ende des Römerbriefs des Apostels Paulusangezeigt. Paulus hat in seiner beständigen Auseinandersetzung mit demProblem des Bösen an dieser Stelle sein letztes und wichtigstes Wort ge-sprochen. Der Textzusammenhang ist allerdings – wie nicht verschwiegenwerden kann – durch den staatspolitischen Einschub gestört, der dieAdressaten dazu aufruft, sich solidarisch zur Staatsmacht zu verhalten, diemit Recht das Schwert führt, um die Übeltäter zu bestrafen. Ich habeimmer wieder betont: Wenn Paulus diesen Text geschrieben hätte, hätte ersich um Kopf und Kragen geschrieben, denn er vertrat bekanntlich einevom römischen Staat verfolgte „religio illicita“, eine „ungesetzliche Re-ligion“. Er hätte sich damit förmlich ans Messer geliefert. Diese Stellemuß als unpaulinisch aus dem Kontext herausgenommen werden. Wenndas geschieht, entsteht zwischen dem Ende des 12. und dem Anfang des13. Kapitels ein geschlossener Zusammenhang, der in der Idee gipfelt, daßder Mensch wirksamer als durch Gebote und Verbote dadurch vom Bösenabgehalten werden kann, daß man ihm ein Prinzip einstiftet, das ihn zumAnsinnen, zum Wollen und zum Antun des Bösen unfähig macht. Es istder Königsweg der Immunisierung gegen das Böse. Mein Kummer bestehtdarin, daß dieser Immunisierungsweg im kirchlichen Moralkonzept nochnicht einmal entdeckt, geschweige denn geltend gemacht worden ist. Manmüßte wirklich das Wagnis eingehen und prüfen, ob der heutige Menschnicht doch dafür ansprechbar ist, wenn man ihm klarmacht: Du bist vonGott geliebt, und Gottes Liebe ist sogar in dein Herz eingegossen. Wenn dudich auf dieses dir eingestiftete Prinzip zurückbeziehst, wirst du deinemMitmenschen das Böse niemals mehr ansinnen und noch weniger antunkönnen.

H:Eines ist klar: Die Gebote und Verbote haben die Menschen nichtbesser gemacht. Es wäre deshalb naheliegend, die von Ihnen angesproche-ne Alternative zu vermitteln und auf ihre Realisierbarkeit zu überprüfen.Können Sie sich vorstellen, daß das eine wesentliche Änderung in unseregesamte Weltsituation – denn darum geht es ja auch – hineintragenwürde?

B:Das kann ich mir sehr wohl vorstellen; es ist allerdings an das ge-bunden, was im Hintergrund der ganzen Neuen Theologie steht, nämlichan die Entdeckung, daß Gott die bedingungs- und alternativelose Liebe ist.Vor diesem Hintergrund wird die neue Moral eine Chance haben, und eswerden sich diejenigen, denen es um die Optimierung ihres Lebens zu tunist, auf diesen Weg einlassen und werden erleben, daß sie dadurch viel bes-ser mit den Problemen des Lebens zurechtkommen, als wenn sie sich aufdem alten Weg mühsam aus dem Bösen herauszukämpfen suchen.

H:Damit zeigt sich also auch auf dem Gebiet der Moral, daß das Chri-stentum im Grunde genommen am Anfang seiner Wirksamkeit in derWelt steht.

B:Meine alte These, lieber Herr Heinzmann, denn für mich steckt dasChristentum noch in den Kinderschuhen. Es kann ja gar nicht anders sein,denn solange Gewalt geübt oder auch nur billigend hingenommen wordenist, konnte der Kern des Evangeliums nicht entdeckt werden. Erst durchdas Zweite Vatikanum, in dem sich die Christenheit von den Methodender Gewalt verabschiedet und dem Dialog verschrieben hat, ist überhauptdie Chance entstanden, das Christentum von seiner Mitte her zu begreifenund geltend zu machen.

H:Wir wissen natürlich auch, daß ein Konzil eine lange und wechsel-hafte Wirkungsgeschichte hat.

B:Sehr richtig! 6. Die Kunst als Glaubenszeugnis

H:Es kann im Ernste nicht angezweifelt werden, daß das Abendland inseiner Kultur und in seiner Kunst ganz wesentlich von christlichen Gedan-ken und christlicher Lebenswirklichkeit geprägt wurde. Angesichts dieserTatsache kann man fragen: Ist das zufällig, beiläufig geschehen, vielleichtsogar gegen das Wesen des Christentums, oder ist es eine wesentliche Aus-drucksgestalt des Christentums, so daß die Kunst hineingenommen wer-den kann und muß in den Prozeß der Verkündigung des Evangeliums? ImLaufe der Geschichte waren die Meinungen dazu unterschiedlich. Wiesieht diese Problemstellung unter dem Gesichtspunkt des NeuansatzesIhrer Theologie aus?

B:Natürlich war das Christentum gegenüber der Kunst zunächst sehrreserviert. Das rührt vom alttestamentlichen Bilderverbot her, das sichnicht nur im Judentum, sondern vor allen Dingen auch im Islam durchge-setzt und von dort sogar zu verhängnisvollen Rückwirkungen auf dieChristenheit geführt hat. Doch das Christentum hat mit diesem Bilderver-bot grundsätzlich gebrochen, als Paulus Christus das „Ebenbild Gottes“nannte und als der Kolosserbrief diese Aussage mit großer Betonungwiederholte. Im Johannesevangelium, das in dieser Frage nachstößt, er-klärt Jesus: „Wer mich gesehen hat, der hat auch den Vater gesehen.“ Dasbesiegelte den Bruch mit dem alttestamentlichen Bilderverbot. Außerdemhatte die junge Christenheit das Bedürfnis, sich mit Hilfe von Bildern ihresGlaubens zu versichern. In der Katakomben-Malerei sehen wir Dar-stellungen der drei Jünglinge im Feuerofen und des Jona, der aus demSchlund des Walfischs hervorkommt. Mit Hilfe dieser Bildmotive hat sichdie Christenheit angesichts der bedrückenden Verfolgungssituation auf dasinnerste Lebensprinzip ihres Glaubens, nämlich auf die Auferstehung Jesu,zurückbezogen; denn sie war mit diesen Symboldarstellungen gemeint.

H:Nun kommt sicherlich noch ein anderer Gesichtspunkt hinzu: Nachdem Verständnis der jüdisch-christlichen Tradition ist der Mensch ja eineletzte innere Einheit aus Geist und Materie, das heißt, es gibt im Menschennichts rein Geistiges und auch nichts rein Materielles, beide Dimensionensind jeweils von der anderen Komponente mitgeprägt. Das besagt aber:Wenn der Mensch sich artikulieren und wenn er die Botschaft Jesu ver-künden will, dann muß immer – auch wenn es nach außen hin nicht un-mittelbar sichtbar ist – der ganze Mensch im Spiel sein, alle sinnlichenWahrnehmungsmöglichkeiten des Menschen müssen angesprochen wer-den, wenn die Botschaft vernommen werden soll.

B:Diesen wichtigen Gedanken könnte man sogar schon bei der Spra-che festmachen: Wenn wir sprechen, geschieht das nach allgemeiner An-sicht in Begriffen. Bei näherem Zusehen sind diese Begriffe jedoch stetsmit bildhaften Vorstellungen verbunden. Eine Bestätigung dessen erbringtdas Osterzeugnis des Apostels Paulus. Er geht zunächst davon aus, daßihm in der Damaskusstunde das Geheimnis des Gottessohnes ins Herz ge-sprochen wurde. Dem fügt er dann aber hinzu, daß er zugleich das von derGottherrlichkeit durchglänzte Antlitz des Auferstandenen gesehen habe.Hier kommt somit das bildhafte Element voll zum Tragen. Damit bestätigtsich – wie Sie ganz richtig gesagt haben –, daß der Mensch nicht nur alsein Wesen der Abstraktion, sondern ebenso auch als Sinnenwesen in An-schlag gebracht werden muß.

H:Damit stoßen wir erneut auf ein traditionskritisches Element. DasChristentum hat sich ja in die Lehre hineinentwickelt, und eine Lehrespricht immer nur den Intellekt an, alle anderen Dimensionen sind aus-geklammert. Vielleicht muß man auch in dieser Tatsache eine Ursachedafür sehen, weshalb das Christentum nicht mehr rezipiert wird.

B:Es kommt aber noch etwas Entscheidendes hinzu: Das Element desBildhaften wird noch immer nicht in seiner vollen Wertigkeit begriffen,vor allem nicht als Glaubenszeugnis. Wir erleben ja im Augenblick eine be-denkliche seelsorgerliche Situation: Es gibt nur noch wenige, die sich be-ruflich oder aus persönlicher Initiative für die Vermittlung des Glaubenseinsetzen. Wenn man aber davon ausgeht, daß in der Kunst ein ebenso rei-ches wie elaboriertes Glaubenszeugnis vorliegt, müßte man doch auf dieIdee kommen, die Kunst nicht nur illustrativ, sondern operativ für dieSache des Glaubens einzusetzen und die Kunst als das uns längst schonvorgegebene Glaubenszeugnis an die Menschen heranzutragen.

H:Als Argument dagegen wird aber immer wieder ins Feld geführt,daß in der Kunst – zumal, wenn sie sich nicht auf ganz bestimmte Textebezieht – die dogmatische Lehre nicht zum Ausdruck gebracht werdenkann.

B:Das ist eine sehr gute Beobachtung! Denn der geniale Künstler ver-fügt über einen eigenen, intuitiven Zugriff auf das Mysterium. Das ist derinnerste Kern der christlichen Kunst; und nur so kann es sich erklären, daßes Kunstwerke gibt, die sich tatsächlich über das, was in den Texten steht,erheben. Ich möchte ein einziges Beispiel anführen. Raffael hat als letztesseiner Werke die Verklärung Christi gemalt. Das Werk stand dann amKopfende seiner Totenbahre. Da wird Christus zum ersten Mal schwebenddargestellt. Obwohl das im Text keineswegs vorgegeben ist, bringt dasWerk auf höchst suggestive Weise zum Ausdruck, was dieser Text imGrunde sagen will. Außerdem hatte dieses Werk sogar eine sehtechnischeFolgewirkung. Seitdem stellt nicht nur jeder Künstler Christus als schwe-bend auf dem Berg der Verklärung dar; vielmehr hat Raffaels Darstellungsogar unsere Sehweise geprägt und damit bewiesen, daß der große Künst-ler bisweilen sogar auf die Glaubensvorstellung einwirkt.

H:Das ist überzeugend, aber es handelt sich jetzt immer noch um einBild, das man zurückbeziehen kann auf einen Text, auf eine Aussage. Wiesteht es jedoch mit dem Zeugnis der Musik? Sie sind ein begeisterter Ver-ehrer von Ludwig van Beethoven . Könnten Sie dazu etwas sagen?

B:Die Musik ist zweifellos die Sprache, die trotz der so unterschied-lichen Idiome allgemein verstanden wird. Auch die Frage, wie sich dieeuropäischen Kulturen verständigen können, wird vermutlich auf demBoden der Musik vorentschieden. Bei Beethoven haben wir den bemer-kenswerten Tatbestand, daß er nicht nur religiöse Musik geschaffen hat,sondern damit bewußtseinsbildend wirken wollte. Seine „Missa solemnis“,die er selbst als das Hauptwerk seines gesamten Schaffens bezeichnete,geht, seiner erklärten Absicht zufolge, davon aus, in Hörenden und Sin-genden religiöse Gefühle zu erwecken und dauernd zu machen, etwas, wassich kein Prediger und kein Autor vornehmen kann. Doch damit bestätigtBeethoven, daß der Künstler tatsächlich einen eigenen Zugang zum reli-giösen Mysterium hat; und das kann man gerade bei der Missa solemnisauch wirklich erleben, wenn das „Et incarnatus est“ im Credo dieser Messewie eine mystische Rose aufblüht, oder wenn der Tenor, ganz fassungslos,das „Et homo factus est“ intoniert. Das sind Äußerungen von einer Inten-sität, die tatsächlich die bewußtseinsbildende Effizienz der Kunst bestäti-gen. Deshalb müßte neben dem visuellen Zeugnis auch das musikalischefür die Glaubensverkündigung eingesetzt werden.

H:Das wäre ja ganz im Sinne Ihrer These, daß das Christentum we-sentlich eine mystische Religion ist, eine Religion der inneren Erfahrung.Aber vielleicht sollten wir noch einen dritten Aspekt erörtern: Wie steht esmit der Literatur, wo ja am deutlichsten und greifbarsten die Sache desChristentums artikuliert werden kann?

B:Gerade auch in der Literatur kann man zeigen, wie der religiöseKünstler zu seinen Intuitionen gelangt. Viele literarische Werke beginnenmit einem visionären Erlebnis; das geht sogar bis in die Theologie- undPhilosophiegeschichte hinein. Ich erinnere nur daran, daß Anselm von Canterbury seinen berühmten Gottesbeweis unter dem Eindruck einesvisionären Erlebens entwickelt hat, daß Nikolaus von Kues davon spricht,daß er bei der Überfahrt von Konstantinopel nach Griechenland ein vi-sionäres Erlebnis gehabt habe, aufgrund dessen er seine „Docta ignoran-tia“ verfassen konnte. Und das gilt für Dante , der von einer wunderbarenSchau spricht, die es ihm ermöglichte, von seiner Geliebten Beatrice etwaszu sagen, was so noch nie von einer Frau gesagt worden ist. Und das gehtdurch die ganze Literaturgeschichte hindurch. In der religiösen Literaturbestätigt sich erst recht, was wir vorhin von den künstlerischen Zeugnis-sen gesagt haben: Sie basiert letztlich auf einer visionären Grundintui-tion, die dem Künstler ein schöpferisches Verhältnis zum religiösen Mys-terium vermittelt und ihn dann Dinge darstellen läßt, die für manche, diedas zum ersten Mal zu Gesicht bekommen, schockierend wirken mögen,die sich aber bei näherem Zusehen als Förderung des Glaubensbewußt-seins erweisen.

Sie haben vorhin einige Namen genannt, ich füge den von Gertrud von le Fort hinzu. Ihr wichtigstes Werk, das „Schweißtuch der Veronika“, ist zu-nächst schwer attackiert worden; heute sehen wir, daß das eine großartigeund in die Tiefe der christlichen Mystik führende Dichtung ist. Ähnlichesgilt von Georges Bernanos , ähnliches von Werner Bergengruen , um wenig-stens einige Namen der sogenannten christlichen Dichtung zu nennen. Esgilt auch von anderen Werken, wenn ich zum Beispiel an William Faulk- ners „Legende“ denke, in welcher die Leidensgeschichte Jesu in ein Ereignisdes Ersten Weltkriegs transponiert wird. Ganz zu schweigen von dem, wasdie moderne Weltliteratur an dichterischen Vergegenwärtigungen der Le-bensgeschichte Jesu bietet.

H:All das ist natürlich ein Beleg und ein Beweis dafür, daß die Glau-benserfahrung – auch die der Laien – eingehen muß in die Verkündigungder Kirche und daß von daher wesentliche Impulse hinzukommen, dievielleicht von anderer Seite überhaupt nicht erbracht werden können.

B:Ich erinnere mich dankbar an ein Wort meines Lehrers, des späterenErzbischofs Eugen Seiterich , der betonte, daß zum unfehlbaren Glaubender Kirche auch der unfehlbar zustimmende Glaube des Kirchenvolkes ge-hört. Die Lehre bedarf der Unterbauung durch die Akzeptanz der ebenfallsunfehlbar Glaubenden. Beides bildet eine unzertrennliche Einheit. Des-wegen müßte sich die Kirche immer wieder auf das Glaubensbewußtseindes Kirchenvolkes zurückbeziehen, so wie sich dieses umgekehrt an derDirektive des kirchlichen Lehramts orientieren muß.

H:Sie müßten es und sie sollten es in Zukunft tun.

B:Wir hoffen, dazu einen kleinen Beitrag geleistet zu haben. 7. Die Folgen für Mensch und Glaube

H:Wir haben, Herr Kollege Biser, in dieser Gesprächsreihe den Versuchgemacht, Ihre Neue Theologie vorzustellen. Dabei war zunächst das Ent-scheidende, daß Sie nicht an dieser oder jener Frage angesetzt haben, son-dern daß Sie sich der Wurzel des Christentums zugewandt haben, nämlichJesus Christus. Und von ihm aus haben Sie – wie aus einem einzigen Prin-zip heraus – das Ganze der Theologie neu entwickelt. Nun gibt es einenalten philosophischen Grundsatz, wonach ein kleiner Fehler am Anfangam Ende zu sehr großen Fehlern führt. Wenn man die zweitausend Jahreder Geschichte der Kirche überblickt, muß man nüchtern zur Kenntnisnehmen, daß sich bereits in den Anfängen des Christentums nicht nur einkleiner Fehler eingeschlichen hat, sondern daß gravierende Fehldeutungendas christliche Selbstverständnis verfremdet haben: Die entscheidendeBotschaft Jesu, daß Gott ein vorbehaltlos liebender Vater ist, das, was dasChristentum von anderen Religionen grundsätzlich unterscheidet, ist sehrbald verlorengegangen. Man fiel zurück in jenes Gottesbild, wonach Gottder Drohende und der Liebende ist, wonach also ein ambivalenter Gottden Menschen ständig bedrückt. Und nun wäre zu fragen: Wenn dort dieKorrektur ansetzen muß, dann wird es sehr vieles geben in der Traditionund in der Auslegung des Christentums, was heute einer echten Revision,einer Überprüfung und Korrektur bedarf – manches wird man korrigierenkönnen, es wird aber auch anderes geben, das einfach aus dem Christen-tum eliminiert werden muß. Worin sehen Sie die wichtigsten Punkte unterdiesem Gesichtspunkt?

B:Ich möchte grundsätzlich zustimmen. Was nach meinem Verständ-nis bisher noch immer nicht mit voller Entschiedenheit geschehen ist, istder Rückbezug der christlichen Botschaft auf die Gottesentdeckung Jesu;denn Jesus hätte doch überhaupt nicht zu kommen brauchen – das istmein Grundsatz –, wenn er nur das geringfügig verbessert hätte, was dieMenschheit immer schon von Gott gewußt hat. Wenn das unfaßlicheAbenteuer der Menschwerdung sich wirklich gelohnt haben sollte, konntedies nur darin bestehen, daß der vom Herzen Gottes herabgestiegene Of-fenbarer der Menschheit das mitteilte, was kein Philosoph auszudenken,was kein Mystiker zu erkunden, was kein Prophet auszusprechen ver-mochte, was also die Menschheit vollkommen überraschte. Die Mensch-heit war in dem von Ihnen angesprochenen ambivalenten Gottesbild be-fangen, weil sie sich den zwischen wenigen Lichtungen und viel Dunkel-heit schwankenden Geschichtsverlauf nicht anders als im Rückbezug aufeinen zwiespältigen, einmal helfenden, einmal tröstenden und alsdann un-nachsichtig strafenden Gott erklären konnte. Die Christenheit ist aber of-fensichtlich – wie Sie ganz richtig gesagt haben – schon in den allererstenAnfängen wieder auf das zwiespältige Gottesbild der Vorzeit zurückgefal-len. Man muß sich allerdings vergegenwärtigen, wie schwer dieser neueGott Jesu Christi rezipierbar war. Denn er ist für alle die totale Über-raschung. Er sagt über das Gottesverhältnis des Menschen etwas aus, wasvorher nur im jüdischen Prophetismus, und auch da nur ansatzweise, sogesehen worden war. Daher kann es nicht verwundern, daß unter demDruck der Verfolgung der Gedanke an einen rächenden und strafendenGott, wie er von der Apokalypse dramatisch beschworen wurde, die Ober-hand gewann.

Jetzt aber die Frage: Was muß sich ändern oder was muß gar fallen,wenn wir versuchen, zur zentralen Gottesentdeckung Jesu zurückzukeh-ren? Zuallererst das Verhältnis des Menschen zu seinem Unglück. Man hatdem Menschen jahrhundertelang eingeredet: Wenn du krank wirst, wenndich ein Unheil trifft, wenn du menschliche oder berufliche Mißerfolgehast, dann ist es eine Strafe Gottes. Doch der strafende Gott ist vom Un-glücklichen denkbar weit entfernt, und der Unglückliche ist dann in einerradikalen Weise auf sich zurückgeworfen und allein gelassen. Simone Weil ,die wir bereits erwähnten, hat gezeigt, daß das Gegenteil zutrifft: Gottstößt den Unglücklichen nicht von sich zurück, sondern neigt sich ihmvorzugsweise zu, so daß er von seiner Liebe besonders umfangen ist. Da-durch gewinnt er ein neues Verhältnis zu seinem Unglück und er begreift:Mein Leiden hat Sinn. Sinn erlebt der Mensch nämlich vor allem dort, woer sich aufgehoben und geborgen fühlt. Und wo könnte er sich besser auf-gehoben fühlen als in den Händen des liebenden Gottes? Das wäre also dasErste, was revidiert werden muß. Weg mit dieser alten Straftheologie! Sieist Gottes unwürdig und sie verletzt den Menschen.

H:Und wiederum muß man die Frage nach der Intention stellen, diedahinter steht und dafür verantwortlich ist, daß das erst heute so klar undso deutlich ausgesprochen wird.

B:Ich würde noch einmal meine schon vorhin geäußerte Thesewiederholen: Solange in den Kirchen Gewalt geübt oder doch billigendhingenommen worden ist, konnte das Zentrum nicht erschlossen werden;denn die Gewalt hat sich wie eine Decke über die Mitte des Evangeliumsgelegt. Heute ist diese Decke, nach meiner tiefen Überzeugung, zumindestaufgerissen, und wir haben erstmals die Chance, ins Zentrum zurückzu-kehren.

H:Es gibt aber noch andere mögliche Einwände gegen Ihre so befreien-de These: Wenn man im Neuen Testament über den Opfertod Jesu liestund wenn man dann in der Tradition der Theologie die Rede von derSatisfaktion hört, von der Genugtuung, die Jesus durch sein schrecklichesLeiden seinem Vater bereitet hat oder sogar bereiten mußte, dann fragtman sich: Steckt es nicht doch im Kern des Christentums, was sich hierdurchgesetzt und durchgehalten hat?

B:Es würde tatsächlich in seinem Kern stecken, wenn Jesus im Be-wußtsein, einen Opfertod sterben zu müssen, seine Passion und seinenKreuzestod auf sich genommen hätte. Aber das ist gerade nicht der Fall.Vielmehr gibt Jesus seinem Tod die authentische und als solche noch vielzu wenig wahrgenommene Deutung mit der Abendmahlsgeste: Er brichtdas Brot, symbolisiert damit seinen grausamen Kreuzestod und sagt:„Nehmt hin und eßt, das bin ich für euch.“ Das ist nämlich die Grundbe-deutung von „Das ist mein Leib“. Das aber besagt: Er gibt sich in seinemTod als individuelle Existenz auf, um als mystische Person bei allen und inallen zu sein. Damit gibt er aber seinem Kreuzestod eine völlig andereDeutung als die satisfaktorische. Wenn dagegen der Kreuzestod als Sühne-tod und Satisfaktionsleistung ausgegeben wird, steht dahinter ein Gott, dersich selbst das abverlangt, was er dem Abraham ersparte. Dann wird mansich allerdings fragen müssen: Welche Genugtuung konnte er bei den Qua-len seines Sohnes empfinden? Und was hatte all das mit der Sündenschuldder Welt zu tun, wie konnte diese Schuld durch die Qual des Gekreuzigtenaufgearbeitet werden? Nein, das Kreuz ist keine satisfaktorische Leistung,es ist der krönende Liebesbeweis Christi. „Da er die Seinen liebte, liebte ersie bis zum Exzeß“, heißt es zu Beginn des 13. Kapitels des Johannesevan-geliums; und damit ist die authentische Deutung seiner Abendmahlswortenoch einmal in dieser wunderbaren Formulierung wiederholt. Sein Todwar der krönende Liebesbeweis, den er der Welt überhaupt geben konnte;mit seinem Tod hat er auf die erschütterndste Weise bestätigt, daß seinGott der Gott der Liebe ist.

H:Damit tritt mit letzter Klarheit ins Bewußtsein, wie sehr Ihr theolo-gischer Ansatz bei Jesus und seinem Gottesbild eine neue Perspektive er-öffnet. Das geht – nach dem, was Sie gesagt haben – so weit, daß auch dasNeue Testament von dieser Grundaussage Jesu her neu und kritisch gele-sen werden muß. Daß von einer solchen kritischen Prüfung auch die Tra-dition und die kirchliche Lehrentwicklung betroffen sind, versteht sichvon selbst. Das hat schwerwiegende Konsequenzen. Man denke nur an dieunhaltbare Opfertodtheorie, die Sie überzeugend widerlegt haben. Vonden innertheologischen Problemen abgesehen, müßten sämtliche litur-gischen Bücher neu geschrieben werden.

B:Es ist nicht unbedingt notwendig; aber sie müßten neu gelesen wer-den, man müßte sich unter diesen alten Sätzen einen neuen Inhalt vorstel-len. Ich möchte aber noch einmal auf das zurückkommen, was Sie soebenvon einer Neulektüre des Neuen Testamentes gesagt haben. Ich halte es fürein fundamentalistisches Mißverständnis, wenn man das Neue Testamentmit der Gottesoffenbarung gleichsetzt: Es ist der literarische Niederschlagder Offenbarung Gottes. Das ist aber etwas wesentlich anderes. Daß sich indiesem, aus einem komplizierten Überlieferungsprozeß hervorgegangenenNiederschlag, auch Mißverständnisse eingemischt haben, wer würde dasbei der Lektüre des Neuen Testamentes nicht empfinden? Deswegen heißtmeine Lösung des Problems: Die Gottesoffenbarung erfolgte nicht wie fürdas Judentum in einem Gesetz und nicht wie für den Islam in einem Buch,sondern in der leibhaftigen Erscheinung des menschgewordenen Gottes-sohnes. Er ist die leibhaftige Gotteserscheinung, Gottesmitteilung undGottesoffenbarung. Dabei ergibt sich allerdings ein schweres Problem,über das wir uns bestimmt noch Gedanken machen müßten: Wie kannman eine Person interpretieren? Wie kann man sagen, was aus einem Ge-sicht herauszulesen ist, was uns in einer Gestik anspricht, was mit einerganzen Lebenshaltung gesagt ist – eine neuartige Personalhermeneutik istsomit gefragt. Doch das müssen wir zurückstellen. Dagegen muß nochetwas anderes gesagt werden, was den Umgang mit dem Neuen Testamentbetrifft. Wenn sich herausstellen soll, was mit ihm wirklich gesagt ist, mußJesus als leibhaftiges Interpretament an jeden Satz des Neuen Testamentesherangetragen werden. Wenn das geschieht, dann werden, wie ich schonwiederholt erwähnte, einige seiner Aussagen ihre Bedeutung verlieren undverblassen, und andere, die man überlesen hat, plötzlich zu leuchten be-ginnen. Das ist die Zukunftshermeneutik, der wir entgegengehen.

Damit ist aber auch schon eine letzte Revision ausgesprochen. Was end-gültig fallen muß, wenn die Christen zu neuer Glaubensfreude finden sol-len, ist die von allen Konfessionen praktizierte Angstpädagogik, von derdie einen traumatisiert und die anderen begreiflicherweise abgestoßensind. An ihre Stelle muß eine Atmosphäre der Ermutigung und des Ver-trauens treten, weil das Christentum nur in ihr den Kampf um die Zu-kunft für sich entscheiden kann.

H:Nach der Grundintention Ihrer Theologie, lieber Herr Kollege Biser,wird das Christentum verstanden als die Antwort auf die Existenzsituationdes Menschen. Und da der Mensch in einer geschichtlichen Weise Menschist, muß auch das Christentum in einer geschichtlichen Weise jeweils aufden Menschen und seine Situation antworten und ihm dadurch die Sinn-zusage vermitteln.

B:Ganz richtig, das ist der Kern dieser Neuen Theologie. Das Christen-tum ist die unüberbietbare Beantwortung der Sinnfrage des Menschen. Ichwürde es gerne noch etwas anders ausdrücken, denn das Christentum istja immer schon und immer wieder als eine Botschaft der Drohung undeine Botschaft der Kritik am Menschen empfunden worden. Meine Theseheißt: Das Christentum ist die größte Liebeserklärung Gottes an die Welt.Man muß sich nur vorstellen, was das für die Welt bedeutet, wenn ein lie-bender Gott sich ihr zuwendet. Dann kann diese Welt aufblühen, und derMensch in dieser Welt kann aufatmen; dann kann er hoffen und dannkann er seines Lebens und vor allen Dingen seines Glaubens froh werden.Das ist das Ziel der Neuen Theologie oder, wenn Sie so wollen, der Theo-logie der Zukunft.

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II. Richard Heinzmann: Vom System zur Lebenswirklichkeit. Der Grundgedanke der Theologie Eugen Bisers

„Ein Begriff hier weg, eine einzige Realität an dessen Stelle – und das ganzeChristentum rollt ins Nichts.“ In diesem Satz aus dem „Antichrist“, dieSchrift trägt den Untertitel „Fluch auf das Christentum“ (Kritische Stu-dienausgabe Bd. 6, S. 212, Nr. 39), verdichtet sich die radikal destruktiveKritik von Friedrich Nietzsche am Christentum. Im Laufe der Geschichtesei, nicht zuletzt unter dem Einfluß platonisch-idealistischer Philosophie,nach und nach die christliche Wirklichkeit verschwunden; an ihre Stelle seieine Lehre, ein bald mehr, bald weniger geschlossenes System von Begrif-fen und dogmatischen Fiktionen getreten. Das besondere Gewicht diesesVorwurfs liegt darin, daß er sich nicht gegen irgendeinen Gegenstand deschristlichen Glaubens richtet, er hat das Christentum schlechthin zumZiel. In solcher Ausschließlichkeit war und ist dieser Vorwurf gewiß über-zogen, man kann ihn aber nicht nur als böswillige Karikierung und haß-erfüllte Verleumdung abtun. Noch heute hat er ein nicht zu unterschätzen-des Maß an Berechtigung.

I.

Wie kein anderer Theologe hat Eugen Biser die darin gelegene Herausfor-derung aufgegriffen. Sein immenses philosophisch-theologisches Werkkonvergiert – bei aller thematischen Vielfalt – letztlich in dem Bemühen,das Christentum von einem abstrakten und geschlossenen Lehrsystem zurkonkreten Wirklichkeit und so zu seiner eigenen Identität zurückzuführensowie dadurch den zentralen Angriff Nietzsches und der Religionskritikinsgesamt ins Leere laufen zu lassen. In diesem Prozeß einer theologischenNeu- und Rückbesinnung sieht Biser – und das ist außerordentlich wichtig– in Nietzsche weniger den Gegner, den es einfach zu widerlegen gilt, alsvielmehr den Dialogpartner, von dem er sich selbst als Christ in Frage stel-len läßt (hierzu: Nietzsche – Zerstörer oder Erneuerer des Christentums?,

139

Darmstadt 2002), von dessen Einspruch her er Christsein neu zu verstehenund auszulegen sich bemüht.

Die Realität, von der Nietzsche behauptet und hofft, daß sie das erstarrtechristliche System weltverneinender Jenseitigkeit und Ideologie zum Ein-sturz bringt, wird an der zitierten Stelle nicht genauer benannt, sie bleibtambivalent. Letztlich zielt sie aber wohl beides an, die Lebenswirklichkeitdes konkreten Menschen ebenso wie die Gestalt Jesu – nach der Überzeu-gung von Nietzsche des einzigen Christen, den es je gab.

An diesen beiden Realitäten setzen Philosophie und Theologie vonEugen Biser ein. Der konkrete, unter Lebensangst leidende Mensch in sei-ner säkularen Welt und die Lebensleistung Jesu mit der Verkündigung desbedingungslos liebenden Gottes nehmen in seinem Denken die Funktionder Brennpunkte einer Ellipse ein, auf die sich alles bezieht und die unter-einander unaufhebbar verbunden sind.

In diesem Ansatz liegt nicht nur der hermeneutische Zugang zum WerkEugen Bisers, sondern darüber hinaus eine das Ganze prägende Vorent-scheidung. Biser denkt nicht im Horizont griechischer Philosophie mit deralles dominierenden Frage nach dem Wesen, nach dem Allgemeinen undden unveränderlichen Strukturen. Er fragt nicht nach dem Wesen desChristentums, sondern nach dem, was für christliche Wirklichkeit oder,genauer, für wirkliches Christsein wesentlich ist. Damit kommen die ge-nuin jüdisch-christlichen Grundkategorien von Subjektivität und Per-sonalität in den Blick, die allein geeignet sind, dem Einzelnen in seinergeschichtlichen Existenz gerecht zu werden.

Auf diesem Hintergrund ist Biser als Existentialphilosoph und „konkre-ter Theologe“ ein Denker des Christentums in doppeltem Sinne: Auf derSuche nach dessen Identität bemüht er sich nicht nur, Christsein neu zuverstehen und zu deuten, er tut das darüber hinaus in der spezifisch christ-lichen Denkform, in der nicht dem Allgemeinen, sondern der Singularitätund Würde der Person der höchste Rang zukommt. Von Anfang an unddurchgehend denkt Biser heilsgeschichtlich; noch nicht einmal die Fragenach Gott geht er rein philosophisch an.

Unter dieser Perspektive führt die Analyse menschlicher Existenz zueiner anderen und neuen Sicht. Nicht der Mensch als solcher, sondern derMensch in seiner konkreten geschichtlichen Situation, in der die Fragenach dem eigenen Sinn und damit nach dem Sinn des Ganzen unbeant-wortet bleibt, ist Gegenstand der Daseinsanalyse seiner „Modalanthropo-logie“ (Der Mensch – das uneingelöste Versprechen. Entwurf einer Modal-anthropologie, Düsseldorf 1995), die primär nach dem „Wo“ des Men-schen fragt, „nach seinem Aufenthalt, seinem Zuhause, dem Ort seiner Ge-borgenheit und Beheimatung“ (Ist der Mensch, was er sein kann? Eine an-thropologische Reflexion, in: Stimmen der Zeit 199 [1981], 291–300, 292).Die „Unmöglichkeit des Menschseins heute“ (Menschsein in Anfechtungund Widerspruch, Düsseldorf 1980, S. 11ff.) ist der methodische Leitge-danke.

Daß die Existenzanalyse so breiten Raum einnimmt, ist im Ansatz seinerTheologie begründet. Der Mensch ist der Adressat der Offenbarung, unddeshalb führt der Weg zum rechten Verstehen der Selbsterschließung Got-tes in Jesus über ein angemessenes Verständnis des Menschen. Der Adres-sat wird geradezu zum Schlüssel der Botschaft. Ohne daß Theologie zurAnthropologie verkürzt würde, gewinnt dadurch die empirische Dimen-sion und damit die Realität an Bedeutung. Auch systematische Theologiekann nicht unter Ausblendung der Erfahrung und damit der konkreten,geschichtlichen Wirklichkeit nur deduktiv betrieben werden, wie das biszum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) überwiegend der Fall war.Der aposteriorisch-induktive Weg ist für christliche Theologie konstitutiv– eine Einsicht von größter Tragweite. In der Verkennung des Adressaten,in einem falschen, essentialistischen Menschenbild also, sieht Biser eineder gravierenden Verstörungen des heutigen Christentums.

Wenn es in der je eigenen Existenz keinen Anknüpfungspunkt gibt,bleibt jedes Wort, auch das Wort Gottes, äußerlich und verschlossen, es er-reicht den Adressaten nicht. Der grundlegenden Einheit von Offenba-rungstheologie und Anthropologie gilt deshalb die besondere Aufmerk-samkeit der Hermeneutik von Eugen Biser. Daseinsanalyse und Verstehenvon Offenbarung greifen ineinander. Die Motivation zu glauben hat ihrenletzten Grund in der gebrochenen Existenz des Menschen und der darinaufbrechenden Frage nach dem Sinn, die in die Frage nach Gott einmün-det. Offenbarung kann dann nur als helfende Antwort, als SinnmitteilungGottes, der sich selbst zu verstehen gibt, interpretiert werden. Ein solcherZuspruch kann aber nicht als System von Wahrheiten, als „depositumfidei“, wie eine Nachricht vermittelt werden, er ereignet sich allein in derErfahrung der Evidenz der Glaubwürdigkeit.

Aus dieser Grundstruktur des Glaubens wird einsichtig, daß EugenBiser das Christentum mit Nachdruck als mystische Religion, im Sinne in-nerer Erfahrung, qualifiziert. Im Gegensatz zu der tatsächlichen morali-schen Kopflastigkeit in der derzeitigen Selbstdarstellung der Kirche ist dasChristentum, obwohl es eine moralische Mission hat, nicht als ursprüng-lich moralische Religion zu verstehen. Es geht ihm letztlich „nicht um dieErziehung des Menschen, sondern um seine Erhebung zum Rang derGotteskindschaft“. Von seiner Mitte her ist das Christentum „eine mysti-sche, auf die Lebensgemeinschaft mit dem Stifter gegründete und von sei-nem Fortleben in der Glaubensgemeinschaft bewegte Religion“ (An derSchwelle zum dritten Jahrtausend – wird dem Christentum der Einzug ge-lingen?, Katholische Akademie Hamburg, 1996, S. 18). Ein anderes Unter-scheidungskriterium hängt damit unmittelbar zusammen, die therapeuti-sche Funktion des Glaubens, die Heilung des durch seine Todverfallenheitim Innersten bedrohten Menschen durch die im Glauben entgegenzuneh-mende Sinnzusage.

Den bleibenden Realitätsbezug garantiert schließlich die Tatsache, daßdas Christentum keine primäre Schriftreligion ist. Alle Texte, auch die nor-mativen, können und müssen immer wieder neu auf jene Wirklichkeitund Mitte hin gelesen und interpretiert werden, wovon sie Zeugnis geben.Weil das Neue Testament unter dem äußeren Druck der verlorenenGleichzeitigkeit und der räumlichen Ausbreitung des Urchristentums ent-standen ist, besteht diesen „Schriften gegenüber eine Freiheit, die so imFall eines göttlichen Diktats undenkbar wäre. Es ist die Freiheit zum inter-pretierenden Umgang mit ihnen, wenn nicht sogar zu ihrer Umgestaltungund Neufassung, jedenfalls aber jene Freiheit, aus der die christliche Theo-logie hervorgegangen ist und lebt“ (a.a.O., S. 9). In der hermeneutischenGleichsetzung von Schrift und Offenbarung mit den darin liegenden fun-damentalistischen Tendenzen und Gefahren sieht Eugen Biser deshalbeinen weiteren Grund für die Krise des heutigen Christentums.

Aus dieser personal-existentiellen Grundstruktur des Glaubensaktes re-sultiert die von Biser geforderte und in ihren Ansätzen diagnostizierteGlaubenswende (Die glaubensgeschichtliche Wende. Eine Positionsbe-stimmung, Graz 1986; Glaubensprognose: Orientierung in postsäkularisti-scher Zeit, Graz 1991), in der im Glaubensvollzug an die Stelle des Gehor-sams das Verstehen, an die Stelle des Bekenntnisses die Erfahrung und dieVerantwortung an die Stelle der Leistung treten.

Wirklicher Glaube besteht nicht im Fürwahrhalten von Sätzen, er be-zieht sich nicht auf Aussagen, sondern auf den lebendigen „Gott, der sichin der Person und Lebensgeschichte Jesu auf eine zugleich übersprachlicheund alle sprachlichen Möglichkeiten umgreifende Weise zu verstehen gab“(An der Schwelle, S. 20). Aus dieser Perspektive entfaltet Biser seine „Chri-stologie von innen“ (Das Antlitz. Eine Christologie von innen, Düsseldorf1999), wonach sich Glauben „als ein lebenslanges Gottverstehen“ interpre-tieren läßt, „vermittelt durch den einzigen Mittler zwischen Gott und denMenschen, Jesus Christus“ (Hat der Glaube eine Zukunft? Das Christen-tum auf dem Weg in das 3. Jahrtausend, in: zur debatte. Themen der Ka-tholischen Akademie in Bayern 25 [1995], 13–16, 13). Der alte augustini-sche Gedanke von Christus als dem inwendigen Lehrer wird von Biser indiesem Zusammenhang aufgegriffen und fruchtbar gemacht.

Der Neuentdeckung Jesu im Glaubensbewußtsein der Gegenwart – imRaum des Glaubens ebenso wie des Unglaubens – entspricht ein Umbruch„von einer Christologie der Autorität zu einer solchen der Solidarität undschließlich der Identität“ (An der Schwelle, S. 15). Zwei herausragende Pu-blikationen zu diesem Thema in unserem Jahrhundert bringen diesenWandel der Sichtweise eindrucksvoll zu Bewußtsein. Während das be-kannteste Werk von Romano Guardini den Titel „Der Herr“ trägt, hatEugen Biser seine Christologie „Der Helfer“ (Der Helfer. Eine Vergegen-wärtigung Jesu, München 1973) überschrieben. Dieser Perspektivenwech-sel hinsichtlich der Christologie wird und muß sich als Korrekturkrite-rium für das Verständnis der Kirche und ihrer hierarchischen Struktur er-weisen. In der wachsenden Entfremdung zwischen der Kirchenspitze undder Basis, die am Ende zu einem „vertikalen Schisma“ führen könnte, siehtBiser eine strukturelle Verstörung, die dringend behoben werden muß.

Das Entscheidende und zugleich das Christentum von allen anderenvergleichbaren Religionen Unterscheidende ist sein spezifisches Verständ-nis Gottes, den Jesus als den bedingungslos liebenden Vater erfahren undverkündet hat. Damit ist die Gottesangst, die verheerendste aller Ängste,aus den Herzen der Menschen gerissen. Das bedeutet Befreiung und Erlö-sung in einem. Nach der Überzeugung von Eugen Biser bestätigte Jesus „inseiner Lehre und Wirksamkeit keineswegs das, was die Menschheit immerschon von Gott erwartete und befürchtete. Er kam vielmehr, um das inlangen Jahrtausenden entwickelte Gottesbild als eine Projektion dermenschlichen Lebens- und Geschichtserfahrung ins Gottesgeheimnis zuentlarven und den aus Sehnsucht und Angst gewobenen Schleier von die-sem Geheimnis wegzuziehen. Das bewirkte er, indem er den Schatten desAngst- und Schreckenerregenden aus dem Gottesbild der Menschheit tilg-te, indem er die Tiefen der Gottheit entsiegelte und zumal dadurch, daß ermit seiner ehrfürchtig-zärtlichen „Abba“-Anrede das Antlitz des bedin-gungslos liebenden Vaters zum Vorschein brachte. Damit erwies er sich alsder größte Revolutionär der Religionsgeschichte“ (E. Biser, Die Forderungder Stunde, in: zur debatte. Themen der Katholischen Akademie inBayern, 27 [1997], 6–8, 7).

In dieser Botschaft Jesu ist das Denken von Eugen Biser unerschütterlichverankert; seine Theologie erwächst daraus wie mit innerer Notwendig-keit. Wenn die Verstörung des Menschen in seinem Selbstverhältnis dieFolge einer zwischen Faszination und Drohung ambivalenten Gottesvor-stellung ist, dann ist das Christentum, in dem Maße es zur Identität mitseinem Gottesbild gelangt, in der Tat die Antwort auf die aus der Existenz-not erwachsende Frage nach einem letzten Sinn, weil die Identitätsfindungin Christus und mit ihm in Gott zugleich die Überwindung des Todes undaller Ängste einschließt.

Die Rückwendung von einer vergegenständlichten und auf ein abstrak-tes System gebrachten Glaubenslehre zur Wirklichkeit des Glaubens imdialogischen Vollzug stellt die Theologie hinsichtlich der Vermittlung ihrerBotschaft vor das Problem einer neuen Verhältnisbestimmung von Glau-ben und Sprache. Ein weiterer Schwerpunkt der theologischen Arbeit vonEugen Biser ist damit angesprochen. In weit ausholenden und tiefgreifen-den Analysen und Reflexionen hat er die Sprachtheorie im allgemeinenund die Theologie der Sprache im besonderen vorangetrieben mit demZiel, die „Sprache der Offenbarung als die wahrhaft zeitgemäße zu er-weisen“ (Theologische Sprachtheorie und Hermeneutik, München 1970,S. 568) sowie „religiöse Sprachbarrieren“ (Religiöse Sprachbarrieren. Auf-bau einer Logaporetik, München 1970) abzubauen. An dieser Stelle mußan den Prediger Eugen Biser erinnert werden, der über diese Problemenicht nur nachgedacht hat, sondern die dabei gewonnenen Einsichten un-ermüdlich und mit größter Zustimmung seiner zahllosen Hörer in diePraxis umsetzt.

II.

Das im strengen Sinne des Wortes Maßgebende und deshalb das Wichtig-ste dieser von Biser konsequent vollzogenen Wende vom System zur Le-benswirklichkeit ist die erneute, weitgehend verlorengegangene Zentrie-rung auf die Mitte des Evangeliums. Das bedeutet Relativierung in einempositiven und notwendigen Sinne und hat nichts mit Beliebigkeit zu tun,weder auf dogmatischem noch auf moralischem Gebiet. In erster Linie istdavon die Struktur des Lehrgebäudes betroffen. Das unter dem Anspruchdes Wissenschaftsbegriffs griechischer Philosophie konzipierte idealisti-sche Lehrsystem mit den ihm immanenten absoluten Geltungsansprüchenund Zwangsmechanismen gegenüber der geschichtlichen Wirklichkeitkann nicht weiter aufrechterhalten werden. Dieser wissenschaftstheoreti-sche Bruch mit einer langen und ehrwürdigen Tradition wird in seinerAuswirkung nicht auf den Bereich der Fachtheologie beschränkt bleiben.Das muß fast unumgänglich zu Irritationen führen. Wer gewohnt ist, dieGlaubenssätze für den Gegenstand des Glaubens zu halten, wird sich zu-mindest anfänglich schwertun, die Differenz zwischen der Wirklichkeitund der Rede von der Wirklichkeit zu realisieren. Es ist der Schritt, so for-muliert es Biser, von der Fassade am Dom des Glaubens in das Innere die-ses Domes selbst. Es geht dabei nichts verloren, aber es erscheint alles ineinem völlig neuen Licht, weil es ganz auf Gott zentriert ist. In diesemLicht wird vieles, was im Laufe der Geschichte der Vergegenständlichungin den Vordergrund drängte, seinen angemessenen Platz an der Peripherieerhalten und dadurch an Gewicht verlieren und die Mitte für das Eigentli-che freimachen. Manches hochgespielte Problem, an dem man heute viel-leicht meint, die Identität des Christentums festmachen zu müssen, wirdgar als gegenstandslos verschwinden und dadurch die allein angemesseneLösung erfahren. Wenn das theologisch verantwortet geschieht, dann be-deutet das nicht Verlust an Tradition, sondern Abwerfen von im Laufe derGeschichte zugewachsenem, heterogenem Ballast. Aber auch ernsthaftetheologische Probleme werden sich durch diese Innensicht neu und andersdarstellen. Insbesondere wird sich zeigen, daß manche theologische Kon-troverse mehr ein Streit um vorausgesetzte philosophische Konzeptionenund dadurch bedingte sprachliche Formulierungen war als ein Ringen umden Gegenstand selbst. Nicht zuletzt wird für das ökumenische Gesprächdiese Innensicht der Mysterien des Glaubens über Formulierungen hinauszur Sache selbst und dadurch leichter zu einem Konsens führen, dennBiser denkt nicht von der Differenz dogmatischer Formulierungen, son-dern von dem Einheitsgrund christlicher Wirklichkeit her.

In diesem Zusammenhang notwendiger Selbstkorrektur christlicherLehre nennt Biser an erster Stelle die sogenannte Satisfaktionstheorie, da siegeradezu sadistische Züge in das christliche Gottesbild einzeichne. Der Ge-danke, daß Gott als Sühne den grausamen Tod des eigenen Sohnes fordere,damit ihm selbst Genugtuung für die Sünde und Schuld der Menschen ge-schehe, steht in diametralem Gegensatz zu dem Gott der Liebe, den Jesusverkündet hat, und verstärkt die Meinung, das Christentum sei eine aufden Opfergedanken gegründete asketische Religion. Dieses Theologume-non, das in popularisierter Form eine Überlegung des Mittelalters auf-nahm, war einmal ein sozio-kulturell bedingter, schon lange aber überhol-ter Versuch, Erlösung zu deuten, und hat entscheidend dazu beigetragen,die eigentliche Botschaft des Christentums zu verdunkeln. Diese wenigenHinweise mögen genügen, um das Gemeinte zu veranschaulichen.

Wer die äußere Lehrgestalt der Kirche mit der Sache des Christentumsidentifiziert, dem mag das Lebenswerk von Eugen Biser wie ein Beitrag zurDestruktion des Christentums erscheinen; erste Stimmen in diesem Sinnesind bereits zu vernehmen. Solches braucht nicht weiter zu beunruhigen,es ist das Kennzeichen von Umbruchzeiten, wie ein Blick in die Theologie-geschichte lehrt.

Selbstverständlich steht Eugen Biser in der großen Tradition der abend-ländischen Theologie. Er kennt ihre Wege und Umwege ebenso wie ihre ge-legentlichen Abwege. Stark beeinflußt von Sören Kierkegaard , hat er Impul-se der Theologie unseres Jahrhunderts, vor allem des Zweiten Vatikani-schen Konzils, aufgenommen; er hat sie in seinem Werk mit der ihmeigenen theologischen Kompetenz koordiniert und mit allen Konsequen-zen in eigener Verantwortung zu Ende gedacht. Das macht den Rang seinerTheologie aus. Es ist wohl nicht zu hochgegriffen: Das Lebenswerk vonEugen Biser signalisiert eine epochale Wende in der abendländischen Theo-logie; es ist eine Wende zurück zum Ursprung und dadurch ein entschei-dender Schritt in die Zukunft.

III.

Mit der Zukunft ist ein Aspekt seiner Theologie angesprochen, ohne denbei einer Würdigung von Eugen Biser Wesentliches fehlen würde. Seinezeitanalytisch-diagnostischen Untersuchungen führen mit großem Ein-fühlungsvermögen und schonungsloser Offenheit die Identitäts- undSinnkrise des heutigen Menschen vor Augen, von der Kirche und Gesell-schaft in gleicher Weise betroffen sind. Mit Nietzsches Wort vom „Geistder Schwere“ charakterisiert er diese Atmosphäre mit ihren bedrückendenAusprägungen und „verstörenden Entwicklungen: Die Fesselung der Frei-heit durch verfügte Normen, die Verwandlung des Evangeliums in ein Ge-setzbuch, die Vertauschung des Dialogs mit einer Sprache der Dekrete, dieFunktionalisierung des Heilsgeschehens, die Verwechslung des religiösenAkts mit einer Leistung, die Meinung, daß das den Menschen schwer An-kommende gottgewollt und deshalb besonders verdienstlich sei, die Läh-mung der Spontaneität und das Versiegen der Hoffnungsimpulse“ (Glau-benserweckung. Das Christentum auf der Suche nach seiner Identität, in:Stimmen der Zeit 215 [1997], 171–182, 172). Diese Lähmung wird nachder Überzeugung von Biser nicht zuletzt dadurch verstärkt, daß manchristlicherseits „durch die Suggestion spezifisch religiöser Ängste, insbe-sondere von Gewissens- und Bestrafungsängsten“ (ebd.), Menschen zurAnnahme des Heilsangebotes bewegen zu können meinte. Dem stellt Biserüberzeugend und mit größtem Nachdruck als Kern des Christentums des-sen Angst überwindende und letzten Sinn stiftende Botschaft von Gott alsdem vorbehaltlos liebenden Vater gegenüber und hebt damit eine Dimen-sion des Christentums ins Bewußtsein, die lange Zeit verdeckt war.

Diese Einsicht greift über den christlichen Raum hinaus, es kommt ihrumfassende Bedeutung zu, da „die Krise des Christentums synchron mitder des Menschen verläuft, so daß sich in seiner Identitätsnot die mensch-liche spiegelt. Das aber läßt darauf hoffen, daß der Durchbruch des Chri-stentums zu seiner Identitätsmitte dann auch zur Überwindung dermenschlichen Identitätsnot verhelfen könnte. Daß diese Hoffnung nichtzu hoch greift, bestätigt die Paradoxie des Menschen, die darin besteht,daß er, ungeachtet seiner vielfältigen Bedingtheit, nur im Unbedingtensein Genüge findet, so daß Gott aus sich herausgehen und ihm im Doppel-sinn des Ausdrucks sagen muß, ‘wer er ist’, wenn er zu seiner definitivenIdentitäts- und Sinnfindung gelangen soll“ (a.a.O., S. 173f.).

Das ist schließlich das Faszinierende am Denken und Werk EugenBisers: Er vermittelt aus seinem Verständnis christlicher Wirklichkeit her-aus den Menschen Hoffnung und Zuversicht auf dem Weg in die Zukunft.

Namenregister

Die Eugen Biser-Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, das theologische undphilosophische Werk von Eugen Biser zu bewahren, zu erschließen und fürdie Zukunft fruchtbar zu machen. Dazu will dieses Buch einen Beitragleisten.

Die Arbeit der Stiftung soll in alle Bereiche der Gesellschaft ausstrahlen.Sie wendet sich an jeden Einzelnen und will besonders auch jene errei-chen, die in Politik und Wirtschaft, in Erziehung und Wissenschaft Verant-wortung tragen.

Schwerpunkte der Stiftung sind:

– Erschließung und Weiterführung des Werkes von Eugen Biser undfinanzielle Unterstützung von Forschungsprojekten zu seinem Werkund angrenzenden Problemfeldern,

– Förderung von Freiheit, Toleranz und Frieden in Staat und Gesellschaftund Stärkung der europäischen Kultur durch Rückbesinnung auf dasChristentum und Wiederbelebung seiner prägenden Kraft für ein ver-antwortungsvolles Denken und Handeln,

– Unterstützung des Zusammenwachsens Europas durch das Wiederbe-wußtmachen seiner christlichen Wurzeln und Vermittlung der darausfolgenden Impulse für Kultur, Politik und Recht,

– Intensivierung des Dialoges unter den monotheistischen Religionen(Christentum, Islam, Judentum) und den verschiedenen Weltanschau-ungen zur Schaffung einer gemeinsamen Basis für das friedliche Zu-sammenleben der Völker, insbesondere der Völker Europas,

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– Auseinandersetzung mit dem zunehmend vordringenden Atheismusdurch Hinführung zu den Grundwerten des Christentums in deren fun-damentaler Bedeutung für ein menschenwürdiges Zusammenleben inder Moderne,

– Förderung der innerchristlichen Ökumene und Suche nach gemeinsa-men zukunftsweisenden Wegen.

Die Eugen Biser-Stiftung sucht diese Ziele auf vielfältige Weise zu reali-sieren, u.a. durch öffentliche Veranstaltungen, wissenschaftliche Studienund Publikationen. In den Gremien der Stiftung (Stiftungsrat, Vorstand,Kuratorium) sind Personen versammelt, die sich auf vielfältige Weise fürdie Ziele der Stiftung engagieren. Dem Stiftungsrat als dem zentralen Ent-scheidungsorgan gehören an: Prof. DDr. Dr. h.c. Eugen Biser, Prof. Dr. Ri-chard Heinzmann, PD Dr. Martin Thurner, Prof. Dr. Gunther Wenz undProf. Dr. Michael Wolffsohn. Schirmherr und Ehrenvorsitzender des Kura-toriums ist S. K. H. Franz von Bayern, Vorsitzender des Kuratoriums istProf. Dr. Paul Kirchhof.

Dr. Heiner Köster

Stellv. Vorsitzender des Kuratoriums