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: Bildung zum Widerstand

Bildung zum Widerstand

Inhalt

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Anstelle eines Vorworts …

Gedanken zur Gestaltung des Covers

Wie sollte ich mich dieser schwierigen Aufgabe nähern: ein Motiv zu finden für „Bildung zum Widerstand“?

… mit einer abstrakten Grafik, wenn sich die Beiträge selbst auf hohem Abs- traktionsniveau bewegen? Was könnte eine solche Grafik leisten, worauf sollte sie hinweisen? Ist sie in der Lage, die Inhalte angemessen zu illustrieren oder wirkt sie am Ende doch nur profan?

… mit einem Werk der Bildenden Kunst? Meine Wahl fiele auf Picassos Ge- mälde Guernica mit der darauf unbändig wiedergegebenen Qual des Men- schen, einem einzigen Aufschrei! Aber die Schilderung des Leids, die Anklage, der Schmerz – greift das Buch nicht doch deutlich über diese Aspekte des Wi- derstands hinaus?

…  mit einem Foto: auf der einen Seite die Mitglieder des Widerstandes, schutz-, ehr- und rechtlos vor dem Volksgerichtshof; auf der anderen Seite übermächtig Freisler? Oder eher ein Bild der Geschwister Scholl? Diese Zeit- dokumente würden den Blick ebenfalls verengen, es soll ja auch um die He- rausforderungen der Gegenwart gehen.

An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit: ein Foto, aufgenommen an ei- nem „lost place“, die Zeugnisse gelebten Lebens, dem Verfall anheimgegeben. Ein dunkler Raum, eine Türöffnung, dahinter sonnendurchflutet ein weiteres Zimmer – ein ästhetisch reizvoller, ein mich berührender Anblick. Beim weiteren Betrachten der Fotos erschien mir dieses minimalistisch anmutende Motiv intui- tiv als das Gleichnis, die perfekte Illustration für „Bildung zum Widerstand“: die Betrachter, gefangen im Dunkel, das Licht als Zeichen der Verheißung. Es wirft einen verhaltenen Schein in den düsteren Raum, auch wenn es ihn nicht durch- dringen kann. Es gibt Hoffnung auf eine bessere Welt. Was für einen Mut es doch erfordert, die Schwelle zu überschreiten, die großen Zweifel!

Aus der Hinterlassenschaft eines namenlosen deutschen Soldaten halte ich ei- nes jener altertümlich anmutenden Schwarz-Weiß-Fotos mit gezackten Rändern in der Hand, auf dem eine junge Frau in der Uniform sowjetischer Streitkräfte ab-

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gebildet ist. Diese geht, gedankenverloren in sich gekehrt, aber offenbar dennoch konzentriert, ihren Mantel über die Schultern geworfen, an einer Gruppe von Soldaten der Wehrmacht vorbei, welche einander zugewandt sind, unbewaffnet, die junge Frau nicht beachtend. Deren Kampf ist vorerst vorbei, eine jener unge- zählten Schlachten zu Zeiten des „Vormarschs“, mit Opfern auf beiden Seiten. Die Frau ist offenbar eine herausgehobene Gefangene – sie geht nicht in einer der end- losen Kolonnen russischer Gefangener mit, sie geht alleine. Was mag sich der Sol- dat, der diese Szene mit seinem Fotoapparat festhielt, wohl gedacht haben: „Schau mal, unsere Beute …!“. Die nationalsozialistische Propaganda hat in den Wochen- schauen mit der Zurschaustellung ihrer „Beute“, diese entmenschlicht – das Foto hingegen, ein Glücksfall, bewahrt das Gesicht der jungen Ärztin: „ecce homo“. Sie berührt mich sehr – was mag aus ihr geworden sein?

Diese Schlacht Anfang September 1941, in deren Folge die junge Ärztin in Ge- fangenschaft geriet, lässt sich sogar verorten: Zheved’ im Norden der heutigen Ukraine, eine Etappe auf dem Weg der 98. ID nach Moskau. Und genau dort, in Zheved’, hätte sie auch meinem Großvater begegnet sein können. In der Ge- schichte der Sturmgeschütz-Brigade, die er zu jener Zeit befehligte, wird von den Ereignissen in Zheved’ erzählt. Mein Großvater, der sich  –  mittlerweile Wehr- machtsgeneral – nach seiner Internierung gegenüber dem British Review-Board vor dem Vorwurf hat rechtfertigen müssen, er sei gegen den 20. Juli 1944 gewesen. So begründet auch meine eigene Familiengeschichte ein besonderes Interesse an „Bildung zum Widerstand“ – aber auch eine besondere Betroffenheit gegenüber dem ungewissen Schicksal dieser jungen Ärztin …

Peter Hoffmann-Schoenborn

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Barbara Schellhammer

Einleitung: Bildung zum Widerstand und widerständige Bildung

In einem Brief an Friedrich Wilhelm III. führt Wilhelm von Humboldt aus, dass es eine „gewisse Bildung der Gesinnung und des Charakters [gibt], die keinem fehlen darf “ 1 . Diese Bildung darf auch deshalb nicht fehlen, weil sie ein Dage- gen-Sein, ein Widerspenstig-Sein und ein mutiges Kritik-Üben an herrschenden Diskursen impliziert. Trotz der wichtigen Mahnung Humboldts erweist sich Bil- dung jedoch immer wieder als brüchig und lässt sich einspannen für zweifelhafte Zwecke. Dies zeigt nicht nur der Blick in die Geschichtsbücher – in den Jahren 1933 bis 1945 wurde das humanistische Ideal des „einfachen menschlichen An- stands“, den der Widerstandskämpfer Carl Friedrich Goerdeler anmahnte, mit Füßen getreten. Auch heute müssen wir uns fragen, was Bildung gegen die Ver- suchungen von Populismus und seinen scheinbar einfachen Lösungen auf kom- plexe, globale Fragen setzen kann, welchen Beitrag sie leisten kann, um personale, sozio-kulturelle, gesellschaftspolitische und ökologische Transformationsprozesse anzustoßen, die den Herausforderungen der Gegenwart mutig die Stirn bieten.

Im Sommersemester 2019 haben wir uns im Rahmen einer öffentlichen Ring- vorlesung an der Hochschule für Philosophie in München mit ebendiesen Fra- gen befasst: Wie kann aus der Charakterbildung einer Person die Motivation zum Handeln gewonnen werden, die uns neben Carl Goerdeler etwa auch Sophie Scholl oder Alfred Delp SJ vorgelebt haben, und die für den Schutz unserer demo- kratischen Grundordnung und humanistischen Wertüberzeugungen notwendig ist? Die Vorträge knüpften an die Erfahrungen der Vergangenheit an, sie wollten es aber nicht mit einem Blick in die Geschichte bewenden lassen, deren Kernfrage war vielmehr: „Wie geht Bildung zum Widerstand?“  –  heute, in einer Zeit, die vielen Menschen Sorgen macht und durchdrungen ist von großen Unsicherhei- ten. Dass wir mit unserer Veranstaltung einen Nerv der Zeit trafen, zeigte nicht nur die „Fridays-for-Future-Bewegung“ aufgebrachter Schüler und Schülerinnen, sondern auch die Tatsache, dass viele Menschen aus ganz unterschiedlichen Be- reichen unserer Einladung folgten und intensiv mitdiskutierten.

Meine persönliche Motivation für die Ringvorlesung speiste sich vor allem aus drei Erfahrungshorizonten: Erstens wächst zunehmend mein Unbehagen ange- sichts aktueller gesellschaftspolitischer Entwicklungen in Deutschland, Europa und weltweit. Es besorgt mich zutiefst, dass identitäre „Ismen“ hier wie dort Mau- ern und Grenzen errichten, Fronten verhärten und einen Dialog beinahe unmög- lich machen. Dass dies auch der Bildung zuwiderläuft, lernen wir bei Wilhelm von Humboldt, denn er führt aus, diese lebe von der „ Mannigfaltigkeit , mit welcher die äusseren Gegenstände unsre Sinne rühren“ 2 . Und so frage ich mich nicht zu- letzt als Professorin für Intercultural Social Transformation schon länger, wie wir Menschen befähigen können, sich für die Mannigfaltigkeit der Welt zu öffnen, um Bildung durch die Auseinandersetzung mit dem Nicht-Ich zu ermöglichen.

Zweitens war ich im vergangenen Jahr mehrfach im Irak und habe in Flüchtlings- lagern in der Nähe von Mossul mit Jesid*innen und kurdischen Syrer*innen u. a. die Rolle der Religion in kriegerischen Auseinandersetzungen diskutiert. Im Container des UN Flüchtlingsdienstes hatte man dabei die Wahl, mit der unerträglichen Hitze zu ringen oder laut gegen die Klimaanlage anzuschreien, was bei der Intensität der Gespräche zusätzlich belastend war. Das waren bewegenden Momente – noch be- wegender war für mich jedoch die Erfahrung des Heimkommens in meine heile Welt und in die Seminarräume der Hochschule. Hier verläuft die Diskussion über Religion völlig anders: Es ist eher ein distanziertes Reden über etwas, oft auf sehr rationalem oder abstraktem Niveau, was einen aber nicht direkt betrifft oder in der Tiefe berührt.

Vor dem Hintergrund beider Erfahrungen, meines Unbehagens angesichts ei- ner wachsenden „We-first“ Mentalität und den katastrophalen Folgen davon, be- gann ich über meine Verantwortung als Professorin nachzudenken: Wie schaffe ich es, in meinen Lehrveranstaltungen nicht nur „wissenschaftliche Exzellenz“ zu fördern, sondern Menschen zu einem Nachdenken anzuregen, das sie als Person verändert und ermutigt, begründet widerständig zu sein?

Drittens betrifft dies an der Hochschule für Philosophie natürlich insbesondere die Philosophie selbst. Welchen Beitrag kann sie leisten, „daß Auschwitz nicht noch ein- mal sei“ 3 , wie dies Theodor Adorno forderte. Ich frage mich immer wieder, was wir tun können, dass unsere Studierenden nicht nur ihre Stellung in einer privilegierten Elite ausbauen, sondern sich beim Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit auch einmal „die Hände schmutzig“ machen. Anders gesagt: Wie schaffen wir es, von einer wach- senden Tendenz hin zu einer immer spezialisierteren „Hightech-Philosophie“ 4 auch wieder in die Niederungen eines „tätigen Philosophierens“ hinabzusteigen – ohne beide Weisen des Philosophierens gegeneinander auszuspielen? Mir scheint, hier geht es nicht selten um den Philosophiebegriff selbst. Es gilt, die dringenden Sachfragen dieser Zeit in den Mittelpunkt unseres gemeinsamen Nachdenkens zu stellen – egal welcher Couleur unser Philosophieverständnis ist. Ich hoffe sehr, dass die Veröffent- lichung der Vorträge unserer Ringvorlesung einen Beitrag dazu leisten kann.

Im Sinne einer Einleitung stelle ich den nachfolgenden Ausführungen drei The- sen voran, welche die einzelnen Beiträge kontextualisieren sollen und den roten Faden aufzeigen, der sich durch das Buch zieht. Dabei geht es mir insbesondere um den Bildungsbegriff, der meines Erachtens den Widerstand als ein wesentli- ches Strukturelement bereits enthält, und damit verbunden um die Rolle der Phi- losophie für eine widerständige Bildung.

1. These: Widerständige Bildung ist mehr als Kompetenzerwerb

Meine erste These knüpft an eine Bildungsdebatte an, die weit bis in Humboldts Zeiten zurückreicht und in neuester Zeit durch PISA und Bologna noch einmal so richtig an Fahrt aufgenommen hat. Einschlägige Titel für die damit verbundene Kri- tik sind beispielsweise Martha Nussbaums Nicht für den Profit. Warum Demokratie Bildung braucht , Konrad Paul Liessmanns Theorie der Unbildung und Ware Bildung von Jochen Krautz. Schlagworte, an welchen sich die Gemüter ganz besonders erhit- zen, sind: „Humankapital“, „Employability“ und „Kompetenzen“. Kernkritikpunkte sind die Ökonomisierung und Verzweckung von Bildung. Es ginge dabei letztlich, so Silja Graupe und Jochen Krautz in einem Beitrag in der FAZ, um die Anpassung an eine Scheinwelt . 5 Im Zentrum moderner Bildungsprämissen steht die Selbstop- timierung, die sich marktförmig gedrillt möglichst in Heller und Pfennig auszahlt.

Wenn Sie heute einen neuen Studiengang einführen möchten, müssen Sie zu- nächst Marktforschung betreiben und wissen, wo man das eigene Angebot mög- lichst mit Alleinstellungsmerkmal platzieren kann – kürzlich erst fragte mich ein Kollege aus den Wirtschaftswissenschaften mit ernster Miene, wo unsere Absol- vent*innen eigentlich arbeiten würden, denn mit Philosophie allein könne man wohl wenig anfangen. Dann gilt es, einen möglichst attraktiven „Warenkatalog“ zu entwickeln: Welche „Lernziele“, also welchen „Output“ soll der Studiengang generieren, dass er den Bedarf der anvisierten Zielgruppe trifft und – ganz wich- tig – man muss sich überlegen, wie man diese Lernziele „herstellen“, messen und dementsprechend mit „Credit Points“ vergüten kann. Das Verrückte daran ist, dass Credit Points (dt. „Leistungspunkte“) dabei nicht in erster Linie die Einheit für die tatsächlich erbrachte Leistung oder den Lernerfolg darstellen, sondern das Maß des Workloads, also der Arbeitszeit, die dafür von einer oder einem „Durch- schnittsstudierenden“ aufgewendet werden musste. Es gehöre zu den Ironien der Weltgeschichte, schreibt Liessmann, „daß die Marxsche Arbeitsweltlehre, die von den Wirtschaftswissenschaften mit Abscheu ad acta gelegt wurde, in der europäi- schen Bildungsplanwirtschaft fröhliche Urständ feiert“ 6 .

Die ursprünglich widerständige Dimension des Bildungsbegriffs, wie sie etwa in Platons Höhlengleichnis, in der Kant’schen Erziehung zur Mündigkeit oder in Nietzsches Forderung der Individualität gegen eine Massenproduktion zum Ausdruck kommt, wird von der Maschinerie neoliberaler Gesetzmäßigkeiten ge- schluckt. Die Eigensinnigkeit personaler Selbstentfaltung muss sich so genannten „Bildungsstandards“ unterwerfen, die einer bestimmten Leitkultur folgen. Laut OECD geht es darum, „sich an eine durch Wandel, Komplexität und wechsel- seitige Abhängigkeit gekennzeichnete Welt anzupassen “ 7 . Entsprechend deutlich resümiert Andreas Dörpinghaus: „Der Effekt […] ist ein unpolitisches Bildungs- system, das Anpassungsverhalten als Verhüllung des ‚blinden Gehorsams‘ be- fördert, zu Unmündigkeit erzieht und nützliche Kompetenzen als grundständige ‚Volksbildung‘ vermittelt, während die ‚Sozial-Elite‘ Bildung in einem reicheren Sinne, der gerade das Unnütze einschließt, als Distinktionsmerkmal bewahrt“ 8 .

Bezugnehmend auf Jacques Rancière spricht Dörpinghaus von diesem normieren- den Bildungssystem als eine Art polizeilicher Kontrollinstanz , die das Unvernehmen und den Streit als die politische Praxis schlechthin unschädlich macht. Persönlich- keiten wie Theodor Adorno oder Michel Foucault widersetzten sich den „Kontroll- mechanismen der Wissenschaft“ 9 und riskierten es, wie Adorno über sich selbst sagt, „ungedeckte Gedanken zu denken, die sonst von diesem übermächtigen Kontroll- mechanismus, der da Universität heißt, den meisten Menschen so sehr früh […] ab- gewöhnt werden“ 10 . Ähnlich spricht Foucault von seiner bewussten Befreiung aus der universitären Prägung, aus den Aneignungsmechanismen großer philosophischer Maschinerien, die persönliche Erfahrungen erst wieder möglich machte. 11 Deutlich wird diese erfahrungshemmende Zwangsjacke der Institution Bildung ganz aktuell durch den Umgang mit den freitäglichen Schülerstreiks. Erst kürzlich konnte man in den Nachrichten während einer Art Krisensitzung von Schulleiter*innen den Spre- cher der Runde hören, wie er „die Politik“ dazu aufforderte, endlich wieder für Ruhe und Ordnung zu sorgen, schließlich gebe es in Deutschland Schulpflicht.

Ein wichtiger Impuls für eine Bildung, die nicht nur „Fächer unterrichtet“, son- dern „Weisheit vermittelt“ 12 , kommt aus einer eher unerwarteten Richtung – und zwar von dem Mathematiker und Logiker Alfred North Whitehead. Man stößt im Zusammenhang aktueller Debatten selten auf ihn und doch hat er das Bil- dungswesen im frühen 20. Jahrhundert in Großbritannien stark beeinflusst. En- gagiert warnt er vor einer „Bildung mit passiven Ideen“ 13 , die nicht nur nutzlos, sondern vor allen Dingen schädlich sei. Pedanterie und Routine erstickten die Unruhe eines ästhetischen und moralischen Empfindens. „Jede intellektuelle Re- volution, die irgendwann einmal die Menschheit zu wahrer Größe getrieben hat“, so schreibt er, „war ein leidenschaftlicher Protest gegen passive Ideen“ 14 .

Whitehead meint, dass hier gerade Universitäten einen besonderen Beitrag zu leisten hätten. Ihre Rechtfertigung bestünde darin, dass sie die Verbindung zwi- schen Wissen und Lebenshunger bewahrten. Mit Whitehead lässt sich argumentie- ren, dass man nicht beim Erreichen von Lernzielen und beim Sammeln von Leis- tungspunkten stehenbleiben darf, sondern weit darüber hinausgehen muss. Nur in einer „Atmosphäre der Aufregung“ 15 gedeihe neues Wissen, denn es entspringe aus der phantasievollen Betrachtung einer Tatsache, quasi ganz „outside the box“ kompetenzorientierter oder modularer Vorgaben. Phantasie ermögliche es, „eine intellektuelle Vision einer neuen Welt zu erschaffen“ 16 . Eine Universität sei phan- tasievoll oder sie sei nichts, schreibt Whitehead – „zumindest nichts Nützliches“ 17 .

Wenn man die unzähligen Texte und Bücher der Schelte auf die Bildungspolitik der letzten Jahre liest, kann man schnell hineingezogen werden in das düstere Bild einer Wissensgesellschaft, die defizitorientiert einem unkritischen Selbstopti- mierungswahn frönt und die kompetenzbasierte Wettbewerbsfähigkeit zur ultima ratio erhebt. Ich halte es jedoch für wichtig, auch dieser Kritik gegenüber kritisch zu sein, damit man das Kind nicht mit dem Bade ausschüttet oder auf der Seite des anderen Extrems einem verträumten Bildungsbürgertum anhängt. Ich finde einen nüchternen Umgang nicht zuletzt aufgrund meiner Erfahrungen mit Menschen wichtig, die es sich schlicht nicht leisten können, vor allem schöngeistigen Tätig- keiten nachzugehen. Denn natürlich brauchen Menschen Jobs und müssen dafür Kompetenzen nachweisen können. 18

Ich schließe mich hier den Ausführungen Ursula Frosts an, die betont: „Bildung ist auch Widerstand. Sie kann ja nicht nur Widerstand sein, das wäre schrecklich; son- dern zur Bildung gehört ganz selbstverständlich auch die Aneignung von Kenntnis- sen, von Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber eben nicht nur, sondern auch .“ 19 Vielleicht könnte man für diese erste These abschließend festhalten, dass die Anpassung ein Ge- gengewicht braucht, nämlich den Widerstand, die Mündigkeit und das kreative Sel- berdenken. 20 Eine widerständige Bildung vollzieht sich zwischen diesen beiden Polen.

Das sah nicht nur Whitehead ähnlich, der betont, unser Ziel sollte es sein, „Menschen hervorzubringen, die sowohl Kultiviertheit besitzen als auch Ex- pertenwissen“ 21 . Auch zahlreiche Identitätstheoretiker angefangen bei George Herbert Mead und Erik Erikson über Erving Goffman und Lother Krappmann betonen, die Entwicklung unseres Selbst vollzöge sich als spannungsreicher Akt der Balance zwischen Anpassung und Selbstbestimmung.

Zweifelsohne: Kompetenzen sind wichtig, um den Herausforderungen des All- tags in einer unübersichtlichen Welt gewachsen zu sein. Ohne sie, so könnte man in Anlehnung an Martin Buber sagen, könnte der Mensch nicht leben; aber wer mit ihnen allein lebt, ist nicht der Mensch. 22

2. These: Widerständige Bildung ist und bleibt negativ

Diese These ist auf den ersten Blick vermutlich weniger einleuchtend als die erste, ich halte sie jedoch für zentral. Denn in ihr zeigt sich, dass der Widerstand dem Bildungsbegriff zutiefst eingeschrieben ist. Bildung vollzieht sich nur , wenn wir uns an etwas reiben und formen, das sich uns widersetzt. Bildung ist „messy“, un- ordentlich und chaotisch. Deshalb tut sie weh, sie ist anstrengend und zuweilen äußerst ernüchternd – wäre sie das nicht, würde sie nicht bilden. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass Epiktet seine Schule nicht bloß als einen Ort begreift, wo „man nützliche Kenntnisse für den Berufsweg einheimsen kann, bevor man wieder nach Hause geht, um Nutzen daraus zu ziehen“ 23 . Man solle sie vielmehr als „eine Ambulanz der Seele“ 24 als eine Art bittere Medizin verstehen. Auch bei Platons Bildungsmetapher als mühsame Umwendung der Seele wird deutlich, wie sehr wir gegen unseren inneren Schweinehund kämpfen müssen, damit wir unsere „Widerstände gegen den Widerstand“ überwinden und uns von den Fes- seln unserer Bequemlichkeit befreien, um den anstrengenden Weg aus der Höhle unserer Ignoranz anzutreten. 25

Die Widerständigkeit der Bildung reicht bis an die Grundfesten unseres Selbst. „Bildung hat es mit einem Sichfremdwerden zu tun“ 26 , schreibt Dörpinghaus. Denn sie habe ihren Ort zwischen Eigenem und Fremdem. Sich von etwas in Frage stellen zu lassen, dem Nicht-Wissen den Primat einzuräumen und den Irrtum als menschlich zu betrachten, seien dabei unverzichtbare Momente. Man könnte auch sagen, Bildung vollzieht sich im Antworten auf Fremdes, auf etwas, das Vertrautes durchkreuzt oder Bekanntes in Frage stellt. Bernhard Waldenfels spricht hier von einem Zweitakt von Pathos und Response – wir sind aufgefordert, auf etwas zu ant- worten, das sich unserem Zugriff aber letztlich entzieht. 27 Erfahrungen, die wir in einem Bildungsprozess machen, sind dia-logisch, sie entspringen einem Zwischen- reich, auf das wir uns nur einlassen, das wir aber nie völlig kontrollieren können.

Deshalb ist Bildung auch aktiv und passiv zugleich. Im griechischen Verständ- nis der paideia vollzieht sich der Prozess der Selbstkultivierung als ein Tun, das zulässt. Das Erstaunliche daran ist, dass wir uns durch die Auseinandersetzung mit Fremdem nicht etwa verlieren (wie es populistische Parolen behaupten), sondern selbst erst finden. Andreas Hetzel bringt dies auf den Punkt, wenn er schreibt: „ Paideia verweist […] auf eine Praxis, die sich selbst auszulassen bereit ist, die sich in der Auslassung des Eigenen und dem Zulassen des Anderen über sich zu erheben und in dieser Bewegung erst zu sich selbst zu kommen vermag.“ 28

Der Anspruch der Bildung erweist sich somit als ein spannungsreiches Para- dox. In ihm kommt zum Vorschein, was Menschsein als solches auszeichnet: in der Vielfalt, in der Auseinandersetzung mit Unterschieden kommen wir, so stellt Humboldt heraus, „dem Begriff der Menschheit in unsrer Person“ 29 näher. Dies sei die „letzte Aufgabe unsres Daseyns“, die „sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechsel- wirkung“ 30 erfüllen ließe. Für Humboldt zeigt sich das Universale des Menschen in der individuellen Entfaltung. Dabei wird der Widerstand gegen totalitäre Uni- versalismen zum Signum der Humanität. 31

Die eigene Antwort widersetzt sich aller Standardisierung – es geht gar nicht anders, denn niemand kann mir meine Antwort abnehmen. Mit Buber gespro- chen, gilt es, „nicht Getanes [zu] tun, sondern das zu Tuende“ 32 . Deshalb erscheint mir beispielsweise auch jedes rezeptartige Vorgehen im Umgang mit kulturellen Unterschieden oder in ethisch brisanten Situationen fraglich. Man kann viel über eine andere Kultur wissen oder äußerst komplexe Ethikkonzeptionen kennen, ob man dann jedoch, wenn es darauf ankommt, tatsächlich gut mit einer befremd- lichen Situation umgehen kann, ist damit noch lange nicht gesagt. Denn hier ist man vor allem als Mensch gefragt.

Mir scheint, die Problemlösungsorientierung der Kompetenzvermittlung zielt häufig darauf ab, dem widerständigen Bildungsprozess in der Auseinanderset- zung mit Unbekanntem seinen Stachel zu nehmen, die Dinge in (m)eine Ordnung zu bringen, sie einer bekannten Logik zu unterwerfen. Fremdheit scheint mit ei- nem Makel behaftet, den es auszumerzen gilt. Waldenfels spricht hier von einer „Aneignung als Bändigung der Fremdheit“ 33 . Dabei entziehen wir der Bildung jedoch ihren Nährboden und werden zu Gefangenen unserer eigenen Standards. „Ohne die Möglichkeit einer Überschreitung bestehender Ordnungen, die von einem Überfluß an Ungeordnetem in Gang gehalten wird“, so Waldenfels, „würde das ‚Subjekt‘ degradiert zum bloßen Untertan, der nichts mehr sagt, sondern nur noch nachsagt.“ 34 Darin steckt wohl auch ein Grund des Freud’schen Unbehagens in der Kultur, die auf Verdrängung und Versagung von allem Ungeordneten und Triebhaften aufbaut.

Einer, der für das Anstößige und Absurde, für das „Negative“ der Kultur steht, ist Sokrates: „Sokrates, der merkwürdige Mann, der Fremde, der Befremdliche, der Sonderling. Sokrates, der Auffällige, der Störenfried, der Asoziale.“ 35 Sok- rates ließ sich nicht einordnen und leistete gerade durch seine Unangepasstheit Widerstand. Dabei wusste er um die Bedeutung seines Stachels für die Athener. In seiner Verteidigungsrede erklärt er, dass er sich nicht um seiner selbst willen verteidigen wolle, sondern um derentwillen. Denn wenn er hingerichtet würde, gebe es keinen mehr, der der Stadt, die einem „großen und edlen Rosse [gleicht], das aber eben seiner Größe wegen zur Trägheit neigt“ als Anreiz dient. 36 Sokrates führte den Menschen ihr eigenes Nichtwissen vor Augen, er ließ sie spüren, dass Bildung nur im Widerspruch gedeiht und nie an ein Ende kommt. Bildung bleibt als Unterbrechung des bisher Gedachten immer negativ – wenn der Sporn nicht sticht, stehen wir in der Gefahr, unser Leben zu verschlafen, wie Sokrates es seinen Anklägern vorwirft. Dann weicht die Negativität des Fremden der Positivität des Gleichen, die für den Störenfried Sokrates tödlich war. 37

Wenn wir die Negativität der Bildung nicht aushalten, sie übertünchen, ver- drängen oder in machbare Kompetenzen packen, wächst die Gefahr, dass wir dem totalitären „Terror des Gleichen“ 38 anheimfallen. Denn wenn wir mit dem, was sich unserem Zugriff entzieht, nicht umgehen können, sind wir geneigt, das eigene Befremdetsein im Anderen zu bekämpfen. Mit Emmanuel Lévinas wird hier die Antwort auf Fremdes zu einer Verantwortung , der wir nicht aus- weichen können. 39 Die Unendlichkeit des Anderen begründet einen „ethischen Widerstand“, denn sie widersteht mir, keine Totalität kann sie erfassen. So be- gründet die Widerständigkeit der Bildung auch eine Ethik der Bildung zum Wi- derstand. 40

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3. These: Widerständige Bildung ist befreiende Selbstbegegnung

Meine dritte These knüpft an diesen letzten Gedanken an. Sie lautet: „Widerstän- dige Bildung ist befreiende Selbstbegegnung“ oder auch „emanzipative Subjekt- werdung“ 41 . Clemens Sedmak schreibt über eine „Bildung, die in Gefahr nicht versagt“ 42 und bezieht sich dabei auf Dietrich Bonhoeffers Widerstand und Erge- bung . Darin werde deutlich, wie wichtig es sei, sich eine „Kultur der Innerlichkeit“ zu erarbeiten, um einen Halt zu haben, der auch in schweren Zeiten trüge. Er ist die Basis für einen festen Stand im Wider stand .

Bonhoeffer betont, dass es gerade die „Unbequemlichkeiten der Bildung“ 43 sei- en, die Hindernisse und Zweifel, die Persönlichkeitsbildung erst möglich mach- ten. Wichtig sei dabei vor allem die „bewusste innere Aussöhnung“, gefährlich dagegen die „innere Ungesammeltheit“ 44 , denn sie zerstöre das Fundament der Lebenseinheit. Diese Einheit ist für Bonhoeffer jedoch kein identitärer Einheits- brei, sondern gelebte Polyphonie. Vielleicht kann man dies auch mit der bekann- ten Aussage Sören Kierkegaards beschreiben: „Das Selbst ist ein Verhältnis , das sich zu sich selbst verhält“ 45 . Es ist also prozesshaft-dialogisch zu verstehen und nicht substanziell. Das Selbst ist sich seiner inneren Polyphonie bewusst, geht da- rin aber nicht auf, sondern ist in der Lage, sich dazu zu verhalten.

Insofern passt das Bild des Fundaments nicht ganz so gut – besser wäre es, das Selbst als ein dynamisches Geflecht zu beschreiben, was ich auch immer wieder bezugnehmend auf den Geertz’schen Kulturbegriff als „selbstgesponnenes Bedeu- tungsgewebe“ 46 tue – dies trifft besser, was Sedmak mit einer „ Kultur der Inner- lichkeit“ meint. Passend dazu schreibt Peter Bieri: „Es findet ein unaufhörliches Knüpfen, Auflösen und Neuknüpfen des Netzes aus seelischen Episoden, Zustän- den und Dispositionen statt, das ich bin, ein Entwerfen, Verwerfen und Umbauen meines Selbstbilds.“ 47

Mit dieser Metapher erklärt sich auch, warum Widerstand oft brüchig und am- bivalent ist, denn er steht auf wackeligem Boden. Unser inneres Geflecht ist ver- woben mit den Menschen um uns, mit der Gesellschaft, in der wir aufwachsen und mit der Geschichte, die uns größtenteils unbewusst prägt. Antonio Gramsci begreift den Menschen als ein Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, dessen Aufgabe es ist, die eigene Situation zu reflektieren. 48 Denn „[in] dem Maße, wie der Mensch über Bildung Einblick in diese Verhältnisse gewinnt, in dem Maße ist er zur Partizipation an ihnen und zu ihrer Umgestaltung befähigt.“ 49 Persön- lichkeitsbildung wird so zu einem „Akt des Widerstands“ 50 gegen die kulturelle Hegemonie, in die wir immer schon verstrickt sind.

Deshalb ist die Arbeit an dem Verhältnis zu sich selbst so wichtig, denn, so schreibt Kierkegaard (ebd.), indem das Selbst als Verhältnis sich zu sich selbst ver- hält, verhält es sich zu einem anderen. Damit Widerstand nicht bloß reaktiv und zerstörend, sondern responsiv und ermächtigend ist, braucht es eine Bildung, die auf der ehrlichen Begegnung mit sich selbst fußt – auf einer Begegnung mit seinen Ängsten, Sorgen, Freuden und Bedürfnissen, und auch mit den dunklen Schat- tenregionen des Selbst. Adorno schreibt, Erziehung sei überhaupt nur sinnvoll als „eine zu kritischer Selbstreflexion“ 51 . Denn Menschen seien davon abzubrin- gen, ohne Reflexion auf sich selbst nach außen zu schlagen. Bezugnehmend auf Kant führt er aus: „Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip Auschwitz wäre Autonomie […]; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mit- machen.“ 52 Die antike Tradition hat dafür den Begriff der „Selbstsorge“ geprägt, den insbesondere Pierre Hadot und Michel Foucault wieder ins Bewusstsein des neuzeitlichen Denkens gehoben haben.

Mit ihm wird auch deutlich, warum ich von widerständiger Bildung als befrei- ende Selbstbegegnung spreche. Denn die Selbstsorge gilt als Praxis der Freiheit , sie hilft, nicht Getriebene zu sein, d. h. bestimmt zu werden von inneren Trieben und diese tyrannisch zu unterdrücken, sondern ihnen zu begegnen, um ihre Beweg- gründe und Intention zu verstehen. Die Gefahr, andere Menschen zu beherrschen und auf sie willkürlich Macht auszuüben, rühre daher, das man sich nicht um sich gekümmert habe und zum Sklaven seiner Begierden geworden sei, erklärt Foucault. 53 Wie richtig er dabei lag, zeigen psychoanalytische Studien über die Tä- ter des nationalsozialistischen Regimes, wie sie beispielsweise Arno Gruen in Der Fremde in uns vorgelegt hat. Hier schreibt er, in all diesen Fällen unterdrückten Menschen das Eigene, „weil man ihnen beigebracht hat, daß diese[s] verachtens- wert, idiotisch, minderwertig [ist]. Man hat ihr Eigenes zum Fremden gemacht, für das sie sich schämen und das sie deshalb abspalten und bestrafen müssen“ 54 . „Es waren Menschen ohne eigene wirkliche Identität, die anderen das nehmen mußten, was sie selbst nicht besaßen.“ 55

Adorno führt aus, dass die Diktatur des Dritten Reichs möglich wurde, weil die Menschen nicht in der Lage waren, „sich selbst zu bestimmen“ 56 . Er begründet dies mit dem Zusammenbruch alter, etablierter Autoritäten, die ein Machtvaku- um zurückließen, welches der Nationalsozialismus verhängnisvoll zu füllen wuss- te. Ähnlich betont Foucault, dass ein Befreiungsschlag allein noch nicht ausreicht, „um die Praktiken der Freiheit zu definieren, die anschließend nötig sind, damit dieses Volk, diese Gesellschaft und diese Individuen sich annehmbare und gültige Formen ihrer Existenz oder ihrer politischen Gemeinschaft geben können“ 57 . Des- halb war das Ansinnen Carl Goerdelers und seiner Mitstreiter*innen so wichtig, nicht nur das Attentat auf Hitler zu planen, sondern bereits an einer demokrati- schen Verfassung für die Zeit danach zu arbeiten. 58

Das „Lernziel“ einer widerständigen Bildung als selbstsorgende Praxis der Frei- heit wäre demnach, was Gernot Böhme einen „souveränen Menschen“ 59 nennt. Einer, der einer „inneren Demokratie“ 60 fähig ist, d.  h. mit den eigenen Ambi- valenzen, Widersprüchen und Konflikten umgehen kann. Böhme grenzt diesen vom „autonomen Vernunftmenschen Kants“ 61 ab, denn dieser erliegt noch der Illusion, Herr im eigenen Haus zu sein – und sein zu müssen. Böhme führt aus: „Der souveräne Mensch unterscheidet sich vom autonomen gerade nicht durch eine Steigerung der Herrschaft über sich selbst oder über andere. Souveränität in diesem Sinne heißt eher, nicht über alles herrschen zu müssen.“ 62

Vielleicht könnte man auch sagen, dass ein solcher Mensch nicht nur mündig ist, sondern in großer Freiheit auch zuhören kann. In diesem Zuhören-können drückt sich eine Gelassenheit aus, die nur möglich ist durch die Sorge um sich selbst. Gebildet zu sein, heiße nicht, über unverrückbare Prinzipien zu verfügen, schreibt Bieri. 63 Bildung sei vielmehr die schwer zu erlernende Kunst, die Balance zwischen dem zu halten, was uns widerführe und dem, was uns als Individuum ausmache. Es gelte, diese Spannung auszuhalten, Bildung verlange hier Furcht- losigkeit, denn sie widersetze sich der blinden Gewalt ebenso wie der wehrlosen Vereinnahmung. Je besser jemand die Sprache seines eigenen Erlebens beherr- sche, desto empfindsamer und differenzierter könne er auch bei einem anderen sein.

Bieri nennt das „soziale Phantasie“ als die Basis für eine Pädagogik der Solida- rität (P. Freire). Er führt aus: „Sie ist es, die verschleierte Formen der Unterdrü- ckung sichtbar macht und Licht wirft auf Grausamkeiten […]. In dieser Form ist Bildung tatsächlich ein Bollwerk gegen Grausamkeit. Um zu tun, was Himmler tat, muß man an unvorstellbarer Phantasielosigkeit leiden, an moralischem Au- tismus.“ 64

Ich komme nun als eine Art „offenes Resümee“ zu meinem letzten Punkt:

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4 Welche Rolle spielt die Philosophie für eine Bildung zum Widerstand?

Diese Frage ist zugegebenermaßen ziemlich groß und äußerst vielschichtig. Ich möchte mir nicht anmaßen, sie zu beantworten, sondern nur ein paar Gesichts- punkte skizzieren, die sich für mich herauskristallisierten. Viel wichtiger als eine Antwort ist mir, sie offen zu halten, damit wir nicht aufhören, uns von ihr in Frage stellen zu lassen. So könnte man beispielsweise mit dem jüdischen Philosophen Emil Fackenheim fragen, wie die „Hitlerisierung des Kategorischen Imperativs“ 65 möglich war und was nach Auschwitz die Idee Mensch ist.

Die Bedeutung der Philosophie für eine Bildung zum Widerstand zeigt sich zunächst in ihrer Fähigkeit, sowohl den Bildungsbegriff als auch den Begriff des Widerstands kritisch zu hinterfragen –  dies dürfte in meinen drei Thesen bereits deutlich geworden sein.

Ein zentrales Argument für die Abkehr von der humanistischen Bildungstradi- tion war, dass sie in einer globalisierten Welt interkulturell nicht anschlussfähig sei. Die imago dei Lehre galt als christlich-verstaubt, ein an messbaren Kompe- tenzen ausgerichtetes Bildungswesen ermögliche dagegen die internationale Ver- gleichbarkeit. Eine kritische Bildungsphilosophie macht darauf aufmerksam, dass auch eine scheinbar „neutrale“ Bildungspolitik keineswegs wertfrei ist, sondern in der Gefahr steht, die einzigartige Würde des Menschen unter das Diktat des Humankapitals zu stellen. Dass genau dadurch religiöse Symbole wieder verstärkt an Bedeutung gewinnen und im Zentrum des gesellschaftspolitischen Gerangels stehen, ist nicht weiter verwunderlich.

Die Debatte um eine Wiederkehr des Normativen ist nicht neu, sie muss aber immer wieder neu entfacht und bewusst geführt werden. Mit ihr beginnt die Widerständigkeit der Bildung, die sich im mehrfachen Sinne selbst-bewusst auf eigene Werte besinnt und diese sowohl gegen die Gleichgültigkeit einer neolibera- len Logik ins Feld führt, als auch dazu nutzt, dem Widerstand Andersdenkender achtsam begegnen zu können. Was meine ich damit?

Nicht jeder Widerstand ist uns lieb und nicht jeder Widerstand trägt zu einem positiven sozialen Wandel bei – man denke hier beispielsweise an die Montagsde- monstrationen von Pegida oder an den Chemnitzer Trauermarsch der AfD. Eine originäre Aufgabe der Philosophie besteht darin, nach den Gründen für unser Handeln zu fragen und dementsprechend den eigenen Standpunkt be gründet in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen.

Es gibt jedoch viele „Gründe“, die nicht auf einer rationalen Ebene abgeklärt in das Gespräch eingebracht werden, sondern impulsiv und emotional zum Aus- druck bzw. auch zum Ausbruch kommen – auch sie hat die Philosophie ernstzu- nehmen. Dies ist natürlich alles andere als einfach, weil die „guten Gründe“, die wir vorbringen, am vermeintlich uneinsichtigen Widerstand des anderen abpral- len und gar nicht zu ihm durchdingen. Häufig verweisen wir dann auf „niedere Beweggründe“, die instinkthaft-emotionalen Ursprungs sind oder auf religiöse Überzeugungen, die sich einer sachlichen Reflexion versperren.

Lars Leeten zeigt, dass die Philosophie auch einen Beitrag leisten kann, die Gründe für den Widerstand „dicht“ zu verstehen, d. h. die unterschiedlichen Ebe- nen menschlicher Existenz ernst zu nehmen. 66 Dies halte ich für unabdingbar, um die Kraft des Widerstands für eine Veränderung nutzen zu können, anstatt sich im besinnungslosen Gegen aufzureiben. Bezugnehmend auf die philosophische Ethik der Antike argumentiert Leeten, dass sich die Philosophie in ihren Ursprüngen nicht nur auf das Geben rationaler Gründe beschränkt hat, sondern als Lebenspra- xis auch spirituelle, emotionale oder leibliche Gründe ernstnehmen wollte. Dabei wird deutlich, dass der Kampf des Rationalen gegen das scheinbar Irrationale nicht nur zwischenmenschlich (und philosophisch) ausgetragen wird, sondern ebenso in uns selbst , wenn die Vernunft auf den Widerstand der Sinnlichkeit trifft – oder umgekehrt. Nicht selten gehen die Gründe für den äußeren Widerstand auf dieses innere Erleben zurück, ohne dass darüber bewusst reflektiert würde.

Deshalb, so Leeten, stößt man hier schnell an die Grenze der Argumentation, „weil es häufig darauf ankommen wird, eine ganze Lebensweise plausibel zu ma- chen – ein Prozess, für den es keine formale Anleitung geben kann“ 67 . Ganz ähn- lich argumentierte bereits Foucault in seinen Vorlesungen über die parrhesia als mutiges Wahrsprechen, bei dem es nicht um ein möglichst gut begründetes und rhetorisch geschickt dargestelltes Argument geht, sondern um mich als Person mit meiner Wahrheit . Dem Wahrsprechen geht es im wahrsten Wortsinn um das Wi- derständig- Sein . Wenn man die Flugblätter der Weißen Rose liest, die Aufzeich- nungen des Jesuiten Alfred Delp studiert oder sich mit der Lebensgeschichte der Bäuerin Maria Etzer befasst, die bei ihrem verbotenen Einsatz für Fremde „nur“ das Selbstverständliche tat, 68 spürt man etwas von dieser Macht des Wahrspre- chens, das nicht davor zurückschreckt, das eigene Leben zu riskieren. 69

Vor dem Hintergrund des Gesagten wird deutlich, dass Bildung zum Wider- stand zweierlei bedeuten kann, und zwar: Widerstand leisten und Widerstand verstehen . Wenn die Philosophie dazu einen Beitrag leisten möchte, muss sie mit anderen Disziplinen zusammenarbeiten – genau das möchten wir in diesem Buch tun:

In einem ersten Teil blicken wir zurück in die Geschichte und fragen uns, was wohl die mutigen Männer und Frauen des Widerstands im Dritten Reich sagen würden zu unserer Frage, wie Bildung zum Widerstand gelingt. Berthold Goerde- ler bezieht sich dabei auf die Erfahrung seines Großvaters, bei dem viele Fäden des zivilen und militärischen Widerstands zusammenliefen. Der Biograf Peter Thei- ner geht auf Spurensuche im Leben Robert Boschs. Ulrich Schlie war als hoch- rangiger Beamter im Auswärtigen Amt und im Verteidigungsministerium tätig; er befasst sich mit dem militärischen Widerstand, insbesondere mit Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Der Dachauer Psychoanalytiker Jürgen Müller-Hohagen thematisiert unbewusste Widerstände gegen den Widerstand und geht der Frage nach, warum so viele Nachfahren der Widerstandskämpfer im Nationalsozialis- mus bis heute die Vergangenheit ihrer Familie verschweigen.

Im zweiten Teil thematisieren wir Aspekte einer Bildung zum Widerstand heu- te. Juliane Sagebiel vertritt die Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession; von hier aus regt sie zu einem Nachdenken über gelingenden Widerstand an. Der Pä- dagoge Helmut Danner macht sich Gedanken zu einer Bildung zum Widerstand gegen Populismus. Veronika Hilzensauer befasst sich mit Adornos „Erziehung zur Mündigkeit“ und plädiert für eine (selbst)kritisch-widerständige Haltung in der Philosophie. Klaus Mertes SJ fragt nach einer Pädagogik aus dem Geist des Wi- derstands und macht die Warum-Frage stark, die der Anfang der Herzensbildung sei. Der Theologe Wolfgang Neuser analysiert Gründe für Aussagen wie „Donald Trump, Werkzeug Gottes“ und ruft Evangelikale zu einem Widerstand gegen ex- treme Positionen in den eigenen Reihen auf. Die Philosophin Karin Hutflötz fragt nach der Bedeutung von Kunst und Ästhetik für eine Bildung zum Widerstand. Wie wichtig eine Praxis des „radikalen Mitgefühls“ ist, um die Kraft für einen gewaltfreien Widerstand zu entwickeln, zeigt Lena Schützle. Die Bewegung der „Scientists for Future“ aufgreifend, fordert Markus Vogt die Wissenschaft heraus, sich aktiv im Widerstand gegen eine mangelnde Zukunftsverantwortung zu üben. Patrick Zoll SJ und Michael Reder fragen nach den Gründen für Faschismus und suchen nach radikaldemokratischen Impulsen angesichts globaler Krisen. Den Schluss bildet ein Beitrag des Militärbischofs Franz-Josef Overbeck, der gleichsam noch einmal den Blick zurück wagt und eine „Ethik des Widerstands – gestern und heute“ skizziert. Dabei handelt es sich um einen Vortrag, den er im Rah- men der großen Abschlussveranstaltung der Ringvorlesung mit Auszügen aus der Oper „Weiße Rose“ von Udo Zimmermann vor Studierenden und Bundeswehr- soldat*innen der Sanitätsstaffel gehalten hat. Markus Vogt plädiert daraufhin über diesen Abend reflektierend für eine Kultur der Erinnerung und eine Bildung, die sich in Verantwortung übt.

Literatur

Widerstand im Dritten Reich – Konsequenzen für die Bildung

Berthold Goerdeler

Wie gestaltete Carl Friedrich Goerdeler die Bildung zum Widerstand gegen Hitler?

Schon der Bildungsbegriff selbst beinhaltet Widerstand als wesentliches Struktur- element. 1 Die Philosophie über viele Jahrhunderte hat diese Verbindung immer wieder in den Blick genommen.

1 Vorbild Sokrates

Sokrates, der energische und unnachgiebige Fragesteller und Weisheitssucher, hat Bildung und Widerstand direkt und ganz persönlich miteinander verknüpft. Die Phi- losophie war für ihn unabdingbar – für sich selbst, für seine Polis Athen, aber auch für jede menschliche Gemeinschaft. Seine bohrenden Fragen in aller Öffentlichkeit führten zu mancher Verwirrung, zu widerständigem Denken, zu nachhaltigen Ausei- nandersetzungen, dann zu neuen Erkenntnissen – damit zu Bildung. Sie führten aber auch zu deutlichem Widerstand im Hinblick auf Fehlentwicklungen, Einseitigkeiten und ungeprüfte Meinungen zu seiner Zeit. Für den Philosophen war es ein heraus- forderndes, anstrengendes Dasein im Zusammenspiel von Widerstand und Bildung.

Mit seiner eigensinnigen Haltung hatte bereits Sokrates drei Postulate einer „Bildung zum Widerstand“ 2 gelebt: a. Das Unbehagen an Entwicklungen, die zu wachsenden „Ismen“ führen, tritt zutage, z. B. am Anarchismus; b. die besonders problembeladenen Aspekte der Zeit werden einbezogen (Kriegs- opfer, Versehrte, Flüchtlinge); c. auch die Niederungen eines „tätigen Philosophierens“ an der gesellschaftlichen Basis werden nicht gescheut.

So kann Sokrates als eins der ersten Vorbilder in Sachen Bildung zum Widerstand genannt werden. Sein Schüler Platon hat sein Werk fortgesetzt, er hat sowohl die Seite der Bildung auf der Agora als auch das gestaltende Eingreifen vorangetrie- ben, z. B. indem er sich mit dem sizilianischen Tyrannen Dionysios und dessen Sohn in persönlichen Gesprächen mehrfach auseinandersetzte.

2 Carl Friedrich Goerdeler im Widerstand gegen den Nationalsozialismus

Ein zeitlich näherliegendes Beispiel sei mit Carl Friedrich Goerdeler  –  meinem Großvater – vorgestellt, vor allem in seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Es liegt inzwischen eine Vielzahl von Büchern und Skripten vor, die sein voluminöses Werk dokumentieren. Die ständig neuen Er- kenntnisse nach der Gorbatschow’schen Archivrevolution von 1990 führten allein bei Carl Friedrich Goerdeler zu mittlerweile mehr als 20 000 Seiten aus seiner Feder. Deren Aufarbeitung hat bedeutende Historiker wie Hans Mommsen, Peter Hof- mann, Ulrich von Hehl, aber auch einige Personen aus meiner Familie, jahrelang intensiv beschäftigt. Sie zieht sich bis heute hin. Zuvor hatte die SED jahrzehnte- lang nur den kommunistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus gelten lassen. Trotz vieler Anforderungen erhielten wir als Familie nur drei Blätter aus den Leipziger Beständen. Auch hier war im Nachhinein Widerstand angesagt. Heute stehen allein im Stadtarchiv Leipzig sechs dicke Bände. Die Ergebnisse der Aufarbei- tung sind nicht nur in diesen Schriften festgehalten, sondern auch in einer zusam- menfassenden Ausstellung aus 2015/ 16, die bereits an vielen Orten gezeigt wurde.

Die jüngste Dokumentation ist eine fünfzehnminütige Multivision über den Widerstand von Carl Goerdeler. Der Filmemacher Dr. Winfried Helm – bekannt durch seine Multivision über das Olympiaattentat 1972 – hat mit unserer Mitwir- kung das Opus gefertigt. Es gibt einen exemplarischen Eindruck von der schwie- rigen Materie des Widerstands, der Vorbereitung darauf, sowie der Probleme seiner Umsetzung. Wir greifen damit zugleich den Dreiklang von Wissen, Wol-

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len und Tun 3 auf und vertiefen ihn am Widerstandshandeln von Carl Friedrich Goerdeler.

Hier der Sprechertext der Präsentation:

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2.1 Vorüberlegungen Carl Friedrich Goerdelers

Die grundlegende Bildung und damit auch die Befähigung zum Widerstand wuchs bei Carl F. Goerdeler wohl aus:

– seiner guten Ausbildung in Elternhaus, Schule und Universität;

– dem Übereinstimmen mit seiner Frau;

– drei tiefgreifenden geschichtlichen Ereignissen: Erster Weltkrieg, Versailler Vertrag und kalter Krieg sowie Währungsreform und Weltwirtschaftskrise.

Ein Beispiel aus den 20er Jahren: Goerdeler sieht ein Grundübel in dem Fehlen von wirtschaftlichen Kenntnissen und Zusammenhängen. Er entschließt sich, da- gegen vorzugehen und schreibt eine „Wirtschaftsfibel“ (Volkswirtschaft in rund 250 Abschnitten) 4 , um jungen Menschen ab 14 Jahren ein Rüstzeug an die Hand zu geben. Er plant, Wirtschaftsunterricht einzuführen.

2.2 Erste Schritte im Widerstand gegen den Nationalsozialismus

Die NSDAP bekam im November 1932 rund 33 % der Stimmen, im März 1933 gar 43,9 % 5 . Hindenburg berief Hitler zum Kanzler und gab ihm durch großzügiges Notverordnungsrecht weitgehend freie Hand. Da der Machtwechsel legal erfolgte, nahm Goerdeler ihn hin. Er gehörte jedoch zu den wenigen Oberbürgermeistern, die die Mitgliedschaft in der NSDAP verweigerten und dennoch im Amt blieben. Er hofft, „die NS-Politik trotz grundsätzlicher weltanschaulicher Gegensätze maß- geblich beeinflussen zu können“ 6 .

Carl Goerdeler widersprach in seiner Zeit als Oberbürgermeister von Leipzig 1930 bis 1936 stets rechtswidrigen Handlungen, hielt sich vielmehr klar ans Recht. Er weigerte sich, ohne Rechtsgrundlage die Hakenkreuzfahne zu hissen; er wei- gerte sich, Beiträge an das Konzentrationslager Sachsenburg zu leisten; er unter- band den Boykott jüdischer Geschäfte am Brühl (damals die bedeutendste Straße Leipzigs); er verweigerte die Finanzierung von „Mein Kampf “ als Hochzeitsge- schenk für junge Eheleute; er leistete Juden und anderen Verfolgten häufig Hilfe; er unterstützte die Aufführung von Mendelssohn, z. B. bei den Thomanern, bis zu seinem Rücktritt als OB; er verfasste von Anfang an kritische „Denkschriften“ an Hitler und seine Umgebung.

Aufgrund seiner Treffen mit Hitler und seinen Gefolgsleuten kam er zu der Überzeugung, dass die Abgründigkeit des NS-Systems sich wie eine Seuche aus- breitete und immer mehr ausbreiten würde: Gier, Lüge, Gewalt, Misstrauen, Rechtsbeliebigkeit mangels unabhängiger Richter, skrupellose Ausnutzung der Schwachen, ideologische Verzerrungen gegen jüdische Mitbürger. Die Menschen wurden immer mehr zu Automaten eines Systems, menschliche Begegnungen wa- ren nicht mehr möglich.

Carl Goerdeler stand vor der Wahl, entweder zurückzutreten oder sich täglich mitschuldig zu machen. In vielen schlaflosen Nächten rang er um ein tragfähiges Fundament zum verantwortlichen Handeln. Wie bereits Barbara Schellhammer unter Berufung auf Dietrich Bonhoeffer, Clemens Sedmak, Sören Kierkegaard und Peter Bieri ausführte, findet im Menschen gerade in solch schwierigen La- gen „ein unaufhörliches Knüpfen, Auflösen und Neuknüpfen des Netzes aus see- lischen Episoden, Zuständen und Dispositionen statt, das ich bin, ein Entwerfen, Verwerfen und Umbauen meines Selbstbilds“. 7 Davon ist ebenso das gesellschaft- liche Umfeld betroffen.

Carl Goerdeler fühlte sich vor sich selbst verpflichtet, diese Prozesse immer wie- der auf ein tragfähiges „Fundament zum verantwortlichen Handeln“ zu stellen. Nicht umsonst hat er für sich und für andere die große Zahl seiner Denkschriften erarbeitet. Dann erst erfolgte der nächste Schritt im Tun: 1936 trat er als Ober- bürgermeister von Leipzig zurück, weil sein Einspruch gegen die Entfernung des Mendelssohn-Bartholdy-Denkmals vor dem Gewandhaus durch seinen national- sozialistischen Stellvertreter erfolglos blieb.

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2.3 Widerstand 1937–1939

In dieser Situation wird Carl Goerdeler zu dem befreundeten Generaloberst Beck geladen und erfährt bereits Anfang 1937: Hitler will den Krieg. Für Carl Friedrich Goerdeler ergibt sich damit wieder eine völlig neue Dimension für sein Handeln. Was sind die Auswirkungen auf seine Familie, seine Freunde und Mitstreiter, für Europa, für die Menschen? Wieder werden neue Planungen entworfen und Denk- schriften aufgesetzt. Diesmal geht es neben der Sklaverei der Diktatur noch massi- ver und direkter um Leben oder Tod! Sollen sich so furchtbare Materialschlachten wie im Ersten Weltkrieg, in dem sein Bruder Franz im Kugelhagel der Maschinen- gewehre starb, wiederholen? „Nein, wir müssen das Schlimmste verhindern!“, ist seine entschiedene Antwort.

Die Planungen sehen jetzt vor, dass sogar ausländische Regierungen von der Notwendigkeit des Widerstands gegen Hitler überzeugt werden müssen: a) den Aufbau eines systematischen Netzwerks der Opposition im Inland und Ausland vorbereiten und soweit wie möglich umsetzen; b) dennoch auf die NS-Machtha- ber einwirken und ihnen vor Augen führen, dass ihr Weg in die Katastrophe für alle führt. Carl Goerdeler war sich bewusst und hatte es erlebt, dass auch unter NS-Gefolgsleuten durchaus Sorge, ja Angst vor einem Krieg besteht. Der Auf- bau des Oppositionsnetzwerks im Inland mit Robert Bosch, leitenden Militärs, den Gewerkschaftsführern, Kirchenführern, Verwaltungsleitern brachte schnell Zustimmung und Erfolg. Hingegen gelang es nicht, das Ausland auf die Seite der Hitlergegner zu bringen. Appeasement war das Zauberwort, mit dem Hitler vom Krieg abgebracht werden sollte.

Wie von Carl Goerdeler vorausgesagt, nahm die Gier nach immer neuen Macht- erweiterungen noch zu. Zu diesem Zweck schloss Hitler nun gar einen Nicht- angriffspakt, ja ein Freundschaftsabkommen mit seinem gehassten Feind Stalin. Polen und die baltischen Staaten waren der Preis für freie Hand im Westen.

2.4 Widerstand im Krieg

Der deutsche Widerstand war sich nun bewusst, alleine zu tauglichen Lösungen kommen zu müssen. Nach der Unterwerfung Frankreichs wirbt Goerdeler be- reits am 1. Juli 1940 bei seinen Mitstreitern für eine Fortsetzung des Widerstands. Er sagt prophetisch das Ende des Nationalsozialismus voraus, indem er folgende Missstände diagnostiziert:

– kein Gleichgewicht der Einnahmen und Ausgaben,

– kein Recht in der Hand unabhängiger Richter,

– das Fehlen verbindlicher Moral auf der Basis der Religion.

Ich zitiere aus der Schrift „Das Ziel“ von 1941:

Auf dieser Basis werden Verfassung, Regierungserklärung, Ansprachen usw., die nach geglückter Entmachtung Hitlers greifen sollen, ausgearbeitet.

3 Einheit von Denkarbeit und Mut zur Tat

Carl Friedrich Goerdeler vergewisserte sich stets aufs Neue der rechtlichen und ethischen Rechtfertigung seines aktiven Widerstands gegen Hitler und das NS-Regime. 1940 schrieb er drei Voraussetzungen nieder, die er für einen funktio- nierenden Staat und eine europäische Friedensordnung für notwendig hielt: „Ein auf christlichen Werten basierendes moralisches Empfinden, eine gesunde Wirt- schaftspolitik sowie Rechtssicherheit für seine Bürger.“ 9 Die Nationalsozialisten beabsichtigten und verwirklichten nach seiner Einschätzung das krasse Gegenteil dieser Erfordernisse. Auch sein bereits frühes Eintreten für den Schutz der Juden entgegen der allgemeinen Stimmung und der Schweigsamkeit selbst der Kirchen ist hervorzuheben. Später verurteilt er die Judenvernichtung „schärfstens und for- dert im Entwurf seiner Regierungserklärung das sofortige Ende der Judenverfol- gung und die Auflösung der Konzentrationslager.“ 10 Dennoch erkennt der Jour- nalist und evangelisch-lutherische Theologe Uwe-Siemon Netto im Widerstand Goerdelers zu Recht „ausgeprägt lutherische Wurzeln“ 11 . Im Einzelnen nennt er folgende Haltungen Goerdelers:

– „Sein unerschütterlicher Sinn für Wahrhaftigkeit;

– sein Sinn für weltliche Ordnung als Schöpfungsakt Gottes;

– seine daraus resultierende Abneigung gegen Anarchie, Insurektion und Tyran- nenmord;

– sein Bestreben, den Tyrannen festnehmen und von einem ordentlichen Ge- richt aburteilen zu lassen;

– die rast- und furchtlose Art, mit der er die Welt schon früh vor dem national- sozialistischen Übel warnte;

– seine Bereitschaft, dieses Übel unter Einsatz seines Lebens zu bekämpfen;

– seine Überzeugung, dass auch ein böses Regime erst gestürzt werden darf, wenn dadurch kein Vakuum entsteht, sondern kompetente Persönlichkeiten die Staatsgeschäfte übernehmen können.“ 12

Ob durch Sokrates oder Luther inspiriert, ob durch Schulbildung und gesell- schaftspolitische Wachsamkeit bewogen, ob durch Schreiben und Netzwerken vollzogen, das Denken und Handeln Carl Friedrich Goerdelers veranlasst heute und hoffentlich auch in Zukunft Bildung zum Widerstand.

Literatur

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Peter Theiner

„… weil ich mit meinem Gewissen alleine mich abzufinden habe“

Robert Bosch: Entzauberung und Standortbestimmung

Am 11. August 1939, also wenige Wochen vor der Entfesselung des Zweiten Welt- kriegs, notierte Ulrich von Hassell in sein Tagebuch eine der besonders wichtigen Quellen für die Geschichte des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozia- lismus: „Tee … mit Robert Bosch … alter Mann den Jahren nach; aber lebhaft, klug und energisch, guter Typ des Wirtschafskapitäns seiner Generation. Man kann sich schwer vorstellen, dass unter heutigen Verhältnissen sich solche Per- sönlichkeiten entwickeln könnten. Er hält die Wirtschaftspolitik und überhaupt das Regierungssystem des Dritten Reiches für verderblich, die führenden Leute im Grunde für unfähig und ohne sittliche Grundlage. In einer Besprechung mit Hitler hatte er einen sehr ungünstigen Eindruck. Er gibt zu, sich über die mög- liche Lebensdauer eines solchen Systems getäuscht zu haben. Auf meine Frage, ob wir sehenden Auges in den Abgrund stürzen müssten, machte er Andeutungen über im Gange befindliche Bemühungen, für den Fall einer schweren Krisis eine Aufnahmeposition zu schaffen; er schien mir aber nichts Wirkliches zu wissen.“ 1

Ulrich von Hassell, national-konservativ, nach Kriegsbeginn im Widerstand gegen Hitler engagiert, wäre 1944 nach einem erfolgreichen Attentat und einem Regimewechsel mit großer Wahrscheinlichkeit Außenminister in einem Kabinett eines Reichskanzlers Carl Goerdeler geworden. Beide, von Hassell und Goerdeler bezahlten ihren Widerstand gegen das verbrecherische NS-System, wie wir wis- sen, mit ihrem Leben.

Anders als Ulrich von Hassell zunächst vermutete, wusste Robert Bosch durch- aus sehr viel „Wirkliches“. Denn den früheren Leipziger Oberbürgermeister Goer- deler verband mit dem Hause Bosch ein Beratervertrag. Bei dieser Zusammen- arbeit ging es indes weniger um die geschäftlichen Interessen des Unternehmens, sondern um Goerdelers konspirative Aktivitäten, vor allem um aufwändige Aus- landsreisen, auf denen er in London, Paris, Brüssel, Washington D.C. und Mont- real vor Hitlers Expansionskurs warnte und für eine frühzeitige, unmissverständ- liche Politik der Abschreckung gegenüber dem III. Reich warb. Dahinter stand das Kalkül: Würde Hitler bei einem neuerlichen aggressiven Bluff in den zwischen- staatlichen Beziehungen von den Westmächten nicht weiter durch eine Politik des Appeasement ermutigt, sondern durch eine demonstrative, glaubwürdige Politik der Stärke ausgebremst, würde der damit verbundene spektakuläre Ansehensver- lust und die Entlarvung des „Führers“ als Kriegstreiber, der gegen die Interessen des deutschen Volkes agiert, zu einem dramatischen Legitimitätsverlust nach in- nen und dann zur Implosion des Regimes führen. Später stöhnte ein führender General: „Was sollen wir gegen ihn machen, es gelingt ihm ja alles!“

Genau diesen Teufelskreis der Politik des Appeasements wollten Goerdeler und weitere Köpfe des sich formierenden Widerstands aufbrechen: Hitler droht, Lon- don und Paris weichen zurück, Hitler setzt sich durch und seine internen Gegner ins Unrecht. Robert Bosch half dem Widerstand, im Hintergrund. Das Kalkül war keineswegs naiv: von Kriegsbegeisterung der Massen konnte in Deutschland in den 30er Jahren keine Rede sein.

Mit der Unterstützung Carl Goerdelers war also Robert Bosch, gemeinsam mit einigen Mitgliedern des engeren Führungskreises seines Unternehmens tief in den Widerstand gegen das NS-Regime verwickelt.

Als der Krieg da war, traf sich Ulrich von Hassell im Dezember 1939 erneut mit Robert Bosch, und schrieb nach der Unterredung in sein Tagebuch: „Dann zu Bosch. Großartiger alter Feuerkopf “. 2 Der Feuerkopf war mit leitenden Mitarbei- tern auf verschiedene Art und Weise für den Widerstand aktiv. Bei der Unterstüt- zung Carl Goerdelers ging es um erhebliche Summen aus Firmenmitteln und aus dem Privatvermögen von Robert Bosch, Gelder, mit denen Goerdeler unter dem Deckmantel harmloser geschäftlicher Aktivitäten der Konspiration gegen das Ter- rorregime nachgehen konnte.

Widerstandsähnliches Verhalten, besser: Resistenz konnte sich auch symbo- lisch äußern, indem etwa die Mehrung des Führer-Charismas unterbunden oder die wirkungsvolle öffentliche Inszenierung der Partei und ihrer Bonzen sabotiert wurde. 1936, zum 50. Firmenjubiläum, zugleich das Jahr des 75. Geburtstages des Unternehmensgründers, erschien eine umfangreiche Festschrift. Nun gehört es ja zum Wesen totalitärer Regime, dass die Machthaber sich aufdringlich als Nutznie- ßer einzuschleichen pflegen in die Feier bedeutender Errungenschaften. Was gut und erfolgreich ist, muss immer auch als Ergebnis einer angeblich segensreichen Diktatur erscheinen. Damit werden Leistungen aus der Mitte der Gesellschaft ge- wissermaßen enteignet, parasitär besetzt, propagandistisch von Partei und Staat konfisziert und ausgeschlachtet.

Doch die Führung des Unternehmens verweigerte sich diesem Spiel, indem sie den „Führer“ und sein Regime in der Festschrift schlicht ignorierten und den selbst erarbeiteten Erfolg des Unternehmens, seine technologische Innova- tionskraft sowie seine fortschrittliche Sozialpolitik in den Mittelpunkt stellte und sodann der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik, dem Autarkiewahn, der Abkopplung vom Weltmarkt, dem „Zurücksinken in primitive Zeiten der Natu- raltauschwirtschaft“ 3 ein vernichtendes Zeugnis ausstellte.

Dies wurde von der NS-Presse auch verstanden, die den Dank an den Führer wortreich vermisste. Auffallend war auch die Festaktregie. Die Werkszeitung druckte ein Foto von der Veranstaltung mit einer bemerkenswert ironischen Bild- unterschrift. Die obligatorische Hakenkreuzfahne war „im Rücken der Gäste“, schrieb der Bosch-Zünder, angebracht und die Bildunterschrift lautete hämisch: „So / mit der Hakenkreuzfahne im Blick / sah der Chor / und eben nur dieser / den prächtig geschmückten Raum.“ 4

Ungleich handfester, keineswegs nur symbolpolitisch angelegt waren die Akti- vitäten des Bosch-Kreises gegen die Verfolgung der jüdischen Mitbürger, gegen Terrormaßnahmen, die Robert Bosch scharf verurteilte. Das Unternehmen galt als Zufluchtsstätte verfolgter jüdischer Angestellter und Arbeiter. Sogenannte jü- dische Mischlinge konnte das Unternehmen vor der Deportation retten, indem es sie für betrieblich unabkömmlich erklärte. Bosch unterstützte mit heimlichen Spenden drangsalierte und bedrohte jüdische Familien, um ihnen die Auswan- derung zu ermöglichen bzw. sie dazu zu bewegen. Auch die Reichsvertretung der Deutschen Juden mit dem Rabbiner Leo Baeck an der Spitze wurde über ein pri- vates Auslandskonto von Robert Bosch mit Finanzmitteln ausgestattet.

Das Engagement für das Verbergen und die Auswanderung jüdischer Mit- bürger*innen fand 1972 auch den Dank und die Anerkennung Israels. Zu Ehren und noch zu Lebzeiten von Hans Walz, dem Nachfolger von Robert Bosch in der Unternehmensleitung, wurde in der Gedenkstätte Yad Vashem in der „Allee der Gerechten“ ein Baum gepflanzt, weil sich der Manager in besonderer Weise für den Schutz und die Rettung jüdischer Mitbürger*innen eingesetzt hatte. Hans Walz wurde damit aufgenommen „in den Kreis der Gerechten“, die mit hohem Risiko dem Regime die Stirn geboten hatten. Und Hans Walz hat als der führen- de Manager des Hauses alle Schritte zur finanziellen Unterstützung, zum Schutz und zur Rettung jüdischer Mitbürger*innen in tiefstem Einvernehmen mit sei- nem Chef unternommen, der bis zu seinem Tod im Jahre 1942 mit Bitterkeit be- klagte, dass kein Gewaltstreich gegen den Diktator in Sicht war. Er hatte offenbar kein Verständnis für Offiziere, die sich durch ihren Eid an den Führer gebunden und damit zur Untätigkeit verurteilt wähnten. Für Bosch war klar, dass es sich bei Hitler um einen Verbrecher handelte, der unter den obwaltenden Umständen nur mit Gewalt ausgeschaltet werden konnte, um weiteres Unheil von der Menschheit fernzuhalten: „‚Ja, warum‘, rief er im hohen Alter im Kreis der Familie aus, ‚bringt denn den Kerle niemand um?‘“ 5

Widerständiges Handeln ist erklärungsbedürftig. Wir müssen uns auf die Suche nach Konstellationen, Handlungsmustern, Denkfiguren, nach Erlebnissen, Inter- aktionen und Traditionen begeben, die eine Lebensführung begünstigen und er- möglichen, in der widerständiges Denken und Agieren zum Verhaltensrepertoire und zum Habitus gehören, die aktiviert werden, wenn die Umstände dies aus der Sicht der Person erforderlich machen.

Da ist bei Robert Bosch zunächst die politische Welt, in der die Familie lebt. Vom Vater übernimmt er das Motto „Sei Mensch und ehre Menschenwürde“. Der Vater, Servatius Bosch, stand politisch im Lager der Demokraten in der Re- volution von 1848. Robert Bosch berichtet: „In religiöser Hinsicht wurden wir sehr freisinnig erzogen.“ Wohin das führen konnte, werden wir noch sehen. Poli- tisch-geistig konnte der Vater, belesen und kultiviert wie auch die Mutter, Vorbild sein für bürgerlich-freiheitliche Selbstbestimmung, für intellektuelle Unabhän- gigkeit, auch für ein robustes Selbstbewusstsein gegenüber behördlichen Auto- ritäten. 6 Ich zitiere aus den Lebenserinnerungen: „Eines Tages kam jemand zu meinem Vater und erzählte, dass in einer Wirtschaft Leute über die Polizeistunde hinaus gesessen hätten. Der Büttel sei gekommen und habe die Gesetzesverächter aufgeschrieben, und der Ortsgewaltige habe nur einen, einen armen Besenma- cher, ins Loch gesteckt, sowas sei doch Unrecht! Mein Vater ging ins Haus des Büt- tels. Dieser war nicht da, und die Büttelin gab meinem Vater auf sein Verlangen hin den Gefängnisschlüssel. Mein Vater ließ den Besenmacher heraus und büßte diese Eigenmächtigkeit mit drei Wochen Asperg.“ 7

Bei den württembergischen Demokraten, deren Werte Servatius Bosch ver- trat und verkörperte, auch durch sein Freimaurertum, standen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, nach der gescheiterten Revolution von 1848 weiter die Postulate einer freiheitlichen Entwicklung auf der politischen Agenda. Dazu gehörte der Primat des Verhandelns vor dem absolutistischen Octroi, das Prinzip föderalen Zusammenwirkens anstelle zentral gesteuerter Hierarchie, die Ablehnung jegli- chen militaristischen Gerassels und damit ein rational verwurzeltes Plädoyer für friedliche Beziehungen in der Staatenwelt. Man kann eine gewisse geistige Wahl- verwandtschaft beobachten zwischen dem Bürger Robert Bosch und dem für die damaligen politischen Verhältnisse aufsässigen demokratischen schwäbischen Politiker Ludwig Pfau, der schrieb: „Wie der Staat überhaupt nicht Zweck, son- dern Mittel und nur dazu vorhanden ist, dem Individuum die Ausübung seiner Menschenrechte zu garantieren, so ist auch die staatliche Einheit nicht der na- tionale Zweck, sondern nur das politische Mittel, die Selbständigkeit der Nation in ihren Stämmen und Gemeinden nach innen wie nach außen sicher zu stel- len. Denn das absolute Ziel aller sozialen Einrichtungen ist die Entwicklung der Menschheit, d. h. die Verwirklichung der Humanität durch die Herrschaft des Ge- meinwohls – das ist mit einem Wort die Freiheit als die Bahn zur Gerechtigkeit.“ 8

Einiges spricht dafür, dass Entwicklung und Karriere von Robert Bosch auch etwas zu tun haben mit seinem Verhältnis zur naturräumlichen Lebenswelt. Die Familie besaß und bewirtschaftete ein bedeutendes, ertragreiches landwirtschaft- liches Anwesen mit Feldern, Großvieh und Wäldern, mit Brauerei, Fuhrbetrieb und Gasthof, eher Gut als Hof. Bosch wäre nach eigenem Bekunden gerne Botani- ker geworden, eignete sich eine stupende Kenntnis der Pflanzen- und Tierwelt an. Natur, das scheint immer wieder durch, war für ihn nicht einfach nur Gegenstand der Beherrschung, Bewirtschaftung, Unterwerfung und Verwertung, sondern vor allem der zugewandten Hege und Pflege, ja des Respekts und der Achtsamkeit. Damit hängt zusammen, dass er lebenslang ein Anhänger der Homöopathie war, für die er später in Stuttgart ein Krankenhaus bauen ließ und der Allgemeinheit spendete. Dies jedoch übrigens nicht in dogmatisch-exklusiver Absicht, also etwa im Sinne der Errichtung eines Monopols für nur eine therapeutische Orientie- rung, sondern als fachliche Alternative zur sog. Schulmedizin, die sich im Wett- bewerb zu bewähren habe.

Widerstand setzt Reflektieren über die normativen Grundlagen des Handelns und der eigenen Lebensführung voraus. Was sachlich richtig oder falsch ist, konn- te Robert Bosch in seiner Ausbildung zum Feinmechaniker und Elektrotechni- ker lernen  –  nicht aber ohne weiteres, was recht und legitim ist. Wie man zur Urteilsbildung in normativen Fragen kommen kann, diskutiert er 1885 von New York aus brieflich mit seiner Braut Anna in Obertürkheim, ein bemerkenswer- ter Briefwechsel zur „Gretchenfrage“. Anders als Anna kann Robert die religiöse Überlieferung keinen normativen Halt geben. Er wälzt mit Anna das Problem der kirchlichen Verheißung einer „Wiedervergeltung im Himmel“: „Der Gläubige sagt, der gute Arme hat es im Himmel gut, umso besser, je schlechter es ihm hier auf Erden erging, was ist es dann aber mit dem guten Reichen, der hier im Über- fluss schwamm, und Gutes that, was er konnte, kommt der in die Hölle?“ 9

Indes wurde Robert Bosch darüber nicht zum überzeugten Atheisten, sondern er bewahrte sich seine Skepsis gegenüber schlichten Antworten. Als die Abord- nung eines „Bundes der Gottlosen“ ihn in späteren Jahren aufsuchte, um für Mit- gliedschaft und Spenden zu werben, konfrontierte er die Besucher mit der Frage: „Ja, wissen Sie denn ganz bestimmt, dass es keinen Gott gibt?“ 10 Er hat sich also durchaus nicht für eine ihrerseits dogmengestützte Alternative entschieden, die ja bei genauerer Betrachtung auch auf einem Akt des Glaubens beruht.

Man kann die geistige Entwicklung des jungen Technikers unschwer als Beispiel für den Prozess religiöser Entzauberung und Säkularisierung beschreiben. Bei ihm geraten, exemplarisch für diesen vielfach untersuchten Prozess „das rationale empirische Erkennen und die religiöse Überlieferung in einen grundsätzlichen Konflikt“. 11 Robert Bosch beschreibt sich als „Materialist vom reinsten Wasser“. 12 Und dies löst seinen Zweifel aus an der religiösen Überlieferung, am Glauben an eine ordnende Ausgleichskausalität in einem jenseitigen Heil, in den Worten Max Webers: „Wo immer aber rational-empirisches Erkennen die Entzauberung der Welt mit deren Verwandlung in einen kausalen Mechanismus konsequent voll- zogen hat, tritt die Spannung gegen die Ansprüche des ethischen Postulats, dass die Welt ein gottgeordneter, also irgendwie ethisch sinnvoll orientierter Kosmos sei, endgültig hervor.“ 13

Robert Bosch erkennt für sich, dass die religiöse Überlieferung ihm kein Leit- seil für seine ethische Selbstfindung und Orientierung sein kann. Nun kann man in der Geschichte des Entzauberungsprozesses beobachten, dass nicht selten an die Stelle der Werte spendenden Instanzen in einem geglaubten Jenseits dies- seitige Ersatzinstanzen treten. Man glaubt dann nicht mehr an Gott, sondern es kommt zur Wiederverzauberung irdischer Objekte oder imaginierter Kollektive. Dies kann die Wissenschaft sein  –  dann wird aus untersuchtem Sein ein ethi- sches Sollen „abgeleitet“ – als könne man auf normative Fragen wissenschaftliche Antworten geben. Es kann aber auch schlimmer kommen, wenn etwa von Men- schen konstruierte Gebilde wie die Nation oder gar Kategorien wie die Rasse zum Maßstab bei sittlichen Entscheidungen erklärt werden – oder – für Historiker*in- nen besonders kritisch bedenkenswert, weil lange gedankenlos rhetorisch mit- geschleppt – die ominöse „Geschichte“, vor der wir uns zu verantworten hätten.

Robert Bosch geht diese Wege nicht. Es spricht viel für die Annahme, dass der Weg zu einer aufgeklärten Verantwortungsethik und damit die Fähigkeit und Be- reitschaft zum Widerstehen eng damit verbunden ist, wie Personen mit der Gret- chenfrage umgehen, ob sie, einmal entzaubert, sich auf die Suche nach Ersatzgöt- tern begeben, um ihnen zu huldigen – oder ob sie das eigene Gewissen erforschen und versuchen, sich im Dschungel kollidierender Werte zu orientieren und das Leben aus freier eigener Entscheidung nach Prüfung des Gewissens zu führen.

Auch Habitus, Auftreten und Lebensführung von Robert Bosch deuten hin auf eine gewisse Widerständigkeit, ja Widerspenstigkeit: Im Ersten Weltkrieg will der König von Württemberg die Bosch-Werke besichtigen, in der ja auch Rüstungs- güter für das Reich produziert werden, Aufträge, für die sich Bosch übrigens nicht beworben hat und deren Gewinnerträge er für gemeinnützige Zwecke spendet. Bosch weigert sich, dem Ansinnen der Hofbeamten zu folgen und den König im Frack zu begleiten. Für ihn war es nicht akzeptabel, in dieser festlichen Aufma- chung an seinen schwer arbeitenden Leuten vorbei zu schreiten. 14

Die Korrespondenz, seine publizistischen Texte sind explorativ, erkundend angelegt, nicht überredend. Robert Bosch ist von nichts hingerissen, weder von Ideologien und Programmen noch von Personen oder Gruppen, vor allem auch nie von sich selbst.

Als Hotelgast, überliefert sein Biograph Theodor Heuss, schreibt er einmal auf den Meldezettel, wo „Stand“ verlangt wird, also etwa „Fabrikant“ oder „Hofrat“: „MENSCH“. 15 Auch dies, die kritische Prüfung überlieferter Konventionen halte ich für eine wichtige Voraussetzung, um in Grenzsituationen Kurs zu halten, Nein sagen zu können – und andere beim Neinsagen zu ermutigen.

Ich erwähnte, dass Robert Bosch die genannten Briefe an seine Braut von New York aus schrieb. Dorthin war er gereist, um bei Thomas Alva Edison zu lernen, dem berühmten Pionier der Elektrotechnik. New York war noch in anderer Hin- sicht ein Lernort. In der brodelnden Metropole mit 1,2 Millionen Einwohner*in- nen erfuhr Robert Bosch anschaulich die Wechselfälle des dramatischen sozialen und wirtschaftlichen Wandels einer Gesellschaft auf dem Weg in die Hochindus- trialisierung. Zwischen 1860 und 1900 wuchs das amerikanische Nationalvermö- gen um 550 %, das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen zwischen 1860 und 1890 um 150 %. Der junge Techniker erlebte, das brachten die zyklischen Wirt- schaftskrisen mit sich, in New York auch, wie er schrieb, „schlechte Zeiten“, näm- lich Arbeitslosigkeit. Und deshalb schloss er sich einer gewerkschaftsähnlichen Verbindung an, er wurde Genosse der Knights of Labor , die für die Interessen der abhängig Beschäftigten kämpften, für den Achtstundentag und gegen Kinderar- beit. Gegenüber Anna Kayser bekannte er freimütig: „Siehst Du, ich bin Sozialist“. Zugleich beschrieb er sein intellektuelles Entwicklungsziel, nämlich „die Fähigkeit zu selbständigem Denken“. 16

Es war das politische Bekenntnis zu einem Sozialismus, wie er ihn verstand, als Konsequenz aus der Beobachtung sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit, wie er sie sah und erlebte, die ihn dann in die Frage nach der Geltung der Ausgleichs- kausalität trieb. Die Suche nach einer Gesellschaftsordnung, in der zu leben sich lohnt – und zwar für alle, diese Suche begleitete Robert Bosch weiter.

Als junger Mann, als „Socialist“ folgt er nicht ausformulierten Doktrinen, son- dern in seinem politisch-sozialökonomischen Weltbild finden sich Bausteine aus Postulaten frühsozialistischer Konzeptionen und Utopien. Der junge Robert Bosch imaginiert eine Gesellschaftsordnung, in der die Herrschaft des Menschen über den Menschen abgelöst wird durch die brüderliche Erzeugung von Gütern, deren zunehmend arbeitssparende Produktion „bei noch größerer Vervollkomm- nung der Maschinen“ 17 ungeahnte soziale Spielräume erschließen werde.

In einer solchen Gesellschaftsordnung würden Herrschaft und Ausbeutung durch Qualifikation und Integrität ersetzt. An die Stelle des Warentauschs tritt die Vergabe der “nöthigen Anzahl Stunden-Schecks“ und ein fürsorglicher Staat kann „Nahrungssorgen und Hunger“ zum Verschwinden bringen – auch für die- jenigen, die nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten. Der junge Robert Bosch stellt sich die Gesellschaft als einen Verband solidarischer Genossen in einem sehr radikalen Sinne vor. Sein „Socialismus“ hat auch eine internationale Dimension, denn Solidarität ist ihm auch ein Wert in den zwischenstaatlichen Gesellschaftsbeziehungen: „Da alles international ist, wird Europa Amerika, dieses Asien usw. aushelfen.“ 18 Dies wird nicht vertieft, aber er- kennbar ist doch: die antihegemonial-föderalistische Programmatik der frühen württembergischen Demokraten wird von ihm fortgesponnen zur Vision einer solidarischen Völkergemeinschaft.

Dieses Denken in Kategorien der internationalen Kooperation steht quer zu jedweder Verherrlichung der eigenen Nation und zur rücksichtslosen Durchset- zung eigener Machtinteressen. Kooperation durchzieht als Leitmotiv auch sein politisches Denken im weiteren Sinne, nachdem er sich 1886 in Stuttgart beruflich selbstständig gemacht hat. Er beginnt als Start-up-Unternehmer und weiß, dass der zu seiner Zeit vielfach prägende Herr-im-Hause-Standpunkt in einem tech- nisch orientierten Betrieb nicht ernsthaft eingenommen werden kann. Aus den frühen utopisch anmutenden Forderungen nach einem „Socialismus“ wird das Plädoyer für eine zukunftsfähige Sozialverfassung, womit er sich als Naumannia- ner zu erkennen gibt. Von Friedrich Naumann, dem Anwalt eines sozialen Libera- lismus, stammt die Forderung: „Aus Industrieuntertanen müssen Industriebürger werden.“ 19 Dazu gehört auch ein Ensemble politischer Programmpunkte, für die Naumann wirbt: konstruktive Zusammenarbeit mit reformbereiten Kräften in der Sozialdemokratie, gleiches Wahlrecht für alle Gebietskörperschaften des Reiches, eine parlamentarisch verantwortliche Reichsregierung.

Uns müssen hier nicht die Einzelpunkte der politischen Diskussion in den Jah- ren des Kaiserreichs näher interessieren. Wesentlich ist, dass Robert Bosch als Un- ternehmer, Bürger und Stifter seinem Grundmotiv der „Anpassung“ treu bleibt. Anpassung meint für ihn gerade ausdrücklich nicht, sich behäbig mit den Gege- benheiten abzufinden. Sondern es bedeutet, auch unangenehmen Tatsachen ins Auge zu sehen, Gewohnheiten zu ändern, mit einem frischen Blick auf die Realität zu sehen. Sehr charakteristisch ist die Diagnose, die Bosch am Ende dem unterge- henden Kaiserreich ausstellt: „Was bei uns gefehlt hat, das war der gute Haushalter, der im Haus herumläuft und in jeden Winkel hineinsieht und hineinriecht, ob es nicht stinkt. Das wäre seinem Beruf gemäß der Kaiser gewesen.“ 20

Das kritische Hineinleuchten in die weniger sonnigen Ecken der Gesellschaft mündete bei Robert Bosch in ein sehr umfangreiches, vielgestaltiges gesellschaft- liches Engagement als Stifter. Man kann die verbreiteten narzisstischen Moti- ve – auch nicht illegitim – des Mäzenatentums hier getrost ausschließen. Bosch verstand sein Stiften in denkbar uneitler Weise als Beitrag zu gradualistischen Re- formen, auch zur „Linderung von allerhand Not“ wie er später schrieb, allerdings nicht als huldvoll dargereichte Almosen, sondern als Anschub für strukturelle Verbesserungen.

Das Antitotalitäre in seinem Denken und Handeln zeigte sich schließlich in seinen Stellungnahmen zu der in seiner Lebensspanne letztlich alles umspan- nenden Grundfrage: Frieden oder Krieg? Er warnte im Ersten Weltkrieg vor der sich aufschaukelnden Verhetzung der öffentlichen Meinung, der Verteufelung der Gegner und vor absurden Annexionsphantasien. Er forderte von den politischen und militärischen Autoritäten offensive, ernsthafte Angebote für einen Verstän- digungsfrieden. In der Republik suchte er den Dialog mit namhaften Vertretern des Pazifismus und erkannte in einer Aussöhnung der Nachbarn am Rhein, in der deutsch-französischen Verständigung den Schlüssel zur nachhaltigen Befriedung des Kontinents in einem zusammenwachsenden Europa, ein Fernziel, zu dem er sich öffentlich bekannte.

Dass die Geschichte die Lehrmeisterin des Lebens sei, diese pathetische Hoff- nung ist sicherlich unergiebig, wäre auch anmaßend und intellektuell recht be- quem. Wir wissen ja spätestens seit Max Weber, dass uns keine Wissenschaft der Welt lehren kann, was wir wollen und tun sollten. Aber wir sollten uns auch nicht ahnungsloser stellen als wir sein müssen. Die Biographie von Robert Bosch, sein Leben in seinem Kontext ist gewiss kein handlungssteuerndes Orakel. Aber niemand kann uns daran hindern, diachron vergleichend, historisch informiert zurückblickend den eigenen Standort zu beschreiben und zu bestimmen – und dabei eben auch auf historisch Erforschtes zurückzublicken im Sinne eines „Re- servoirs von Möglichkeitsbewußtsein“ (Jürgen Kocka).

In diesem Sinne kann auch die Biographie von Robert Bosch beitragen zu Bil- dungsprozessen, die Widerständigkeit begünstigen und freisetzen. Die frühen Konfessionen zu Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ergeben keine Programm- schrift. Sie ergeben auch keinen Auftrag an die Nachwelt, etwa an die Stiftung, die seinen Namen trägt und für die er die rechtlichen, ideellen und wirtschaftlichen Fundamente gelegt hat. Diejenigen, die sein Erbe in die Zukunft zu führen ha- ben, können sich nicht an den Stifter und Unternehmer als Propheten und Orakel wenden – dies wäre kaum verträglich mit der Lebensführung und den Werten, für die Robert Bosch steht. Sie müssen, darauf hat er besonderen Wert gelegt, der Forderung des Tages in reflektierter Weise, im Geiste einer aufgeklärten Verant- wortungsethik moralisch und berufspraktisch genügen.

Literatur

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Ulrich Schlie

Der 20. Juli 1944 und das Traditions- verständnis der deutschen Bundeswehr

1 Stauffenberg und der 20. Juli 1944

Militärische Tradition hilft den Soldaten bei der Bestimmung ihres Berufs- und Selbstverständnisses. 1 * Sie dient der Selbstvergewisserung, ordnet ihr Handeln in den größeren Zusammenhang der Geschichte ein, gibt Orientierung für militä- risches Führen und Handeln. Hans Meier-Welcker, der erste Amtschef des Mi- litärgeschichtlichen Forschungsamtes, hat dies einmal prägnant auf die Formel gebracht, dass der Soldat nur in der Geschichte erfahren könne, was sein Beruf dem Wesen nach sei. 2 Die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert hat es in ihrem Verlauf denjenigen, die sich für soldatisches Dienen als Beruf entschieden haben, nicht einfach gemacht. Der Missbrauch des Soldatenethos, die Pervertierung des Staates, die Kriegführung ohne Humanität und die Missachtung des Völkerrechts in der Zeit des Nationalsozialismus bildeten nach 1945 eine schwere Hypothek und beeinträchtigen das Bild des Soldaten. Fast jede deutsche Familie hatte im Krieg Gefallene zu beklagen, und die Wehrmacht hat in einem viel stärkeren Maße, als es sich viele lange Zeit eingestanden haben, den Vernichtungskrieg im Osten durch eine radikale Kriegführung mit zu verantworten. Für nicht wenige Deutsche, wie Ulrich de Maizière, Generalinspekteur der Jahre 1966 bis 1972, die Haltung von der Bundeswehr kritisch gegenüberstehender Landsleuten zusam- menfasste, „verkörpert sie daher stellvertretend die grenzenlose Schuld des ‚Drit- ten Reiches‘“. 3 Und selbst die wenigen positiven Momente in der dunklen Zeit der Diktatur, wie der Staatsstreichversuch vom 20. Juli 1944, sind in ihrer Entstehung, ihren Motiven und Abläufen komplex genug, um in der Auslegung bis heute auch unterschiedliche Deutungen hervorzubringen.

Der 20. Juli 1944 in Deutschland war zunächst eine nationale Tragödie; er war und ist indes zugleich ein europäisches Ereignis, weil er als Fanal weit über seine Zeit hinausreicht. 4 Der 20. Juli war eine nationale Tragödie, weil Staatsstreich und Attentat gescheitert sind. Danach hat es noch fast zehn qualvolle Monate gedau- ert, bis das Hitlerregime fiel und der Krieg in Europa ausgekämpft war. Allein im Zeitraum zwischen dem 20. Juli 1944 und dem 8. Mai 1945, dem Kriegsende in Europa, haben genauso viele Menschen mit ihrem Leben für den Wahn von Hitlers rassenideologischem Vernichtungskrieg bezahlt, wie in allen Kriegsjahren zuvor zusammengenommen. Hätte der Krieg durch eine bedingungslose Über- gabe am 21.  Juli 1944 abgekürzt werden können, wäre auch zahlloses Leid er- spart geblieben. Stattdessen triumphierte das Regime. Es folgten in den Mona- ten danach vor dem Volksgerichtshof grausam-würdelose Schauprozesse gegen einen breit gezogenen Kreis derer, die an der Vorbereitung beteiligt oder auch nur mit dem Staatsstreichgedanken sympathisiert hatten. Beim Staatsstreichversuch des 20. Juli 1944 handelte es sich dabei um eine zivil-militärische Erhebung, ge- wissermaßen den Kulminationspunkt „der deutschen Opposition gegen Hitler“ 5 seit 1933, die in der öffentlichen Wahrnehmung für lange Zeit als pars pro toto das Bild vom deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus insgesamt geprägt hat. Dabei hat sie auch die Wahrnehmung anderer Neuordnungsbemü- hungen im deutschen Widerstand überlagert, wurde zudem  –  wiederum nicht völlig historisch korrekt – oftmals auf den Aufstand der „Offiziere gegen Hitler“ 6 verkürzt, bisweilen auch als „Militäropposition“ diffamiert und zudem mit dem Urteil „falsch und zu spät“ 7 apostrophiert.

Bis heute hat es immer wieder Versuche gegeben, Stauffenberg auf die völlig unzutreffende Formel des Attentäters zu reduzieren oder, wie Richard Evans dies schon vor einigen Jahren tat, als „falschen Heiligen“ zu diffamieren. 8 Thomas Kar- lauf etwa schildert Stauffenberg in seiner jüngsten Biographie als Wirrkopf, stan- desbewussten Vertreter des Adels und Nationalisten, der zeit seines Lebens unter dem Eindruck der Gedanken Stefan Georges gestanden, zudem bis 1942 in den außenpolitischen Zielen mit Hitler übereingestimmt und erst, als sich die militä- rische Niederlage abzeichnete, zur Opposition gefunden habe. 9 Karlauf übersieht indes dabei, dass – wie Hans-Bernd von Haeften dies vor dem Volksgerichtshof in großer Klarheit gesagt hat – in der Opposition gegen Hitler keine Treuepflicht mehr bestanden hatte, weil die Gruppe vom 20. Juli in Hitler einen Vollstrecker des Bösen in der Geschichte gesehen hatte. Hitler selbst war es, der zuvor tausend- fach den Eid gebrochen hatte. Wenn Karlauf einen Keil zwischen Stauffenberg und die zivil-militärischen Gruppen vom 20. Juli 1944 zu treiben versucht, so ist dies sein Narrativ, das es ihm ermöglicht, Stauffenbergs Charakter auf die Prägung durch George zu verengen, und er nimmt dafür einen Geschichtsrevisionismus in Kauf, der nicht bei der Beurteilung Stauffenbergs halt machen wird, sondern auf das gesamte Bild des 20. Juli und die gängige Erinnerungspraxis zielt. Auf dieser Folie müsste Stauffenberg dann folgerichtig jede beispielgebende Rolle abgespro- chen werden. Karlaufs Sichtweise der Motive Stauffenbergs und seiner politischen Urteile ordnen ihn in eine Gesamtdeutung ein, die der historischen Figur nicht gerecht wird.

In der deutschen Geschichte ist Stauffenberg für politischen Missbrauch und eine verzerrende Sichtweise immer besonders anfällig gewesen. Dies fing schon mit der durchsichtigen Diffamierung durch die nationalsozialistischen Machtha- ber unmittelbar nach dem Scheitern von Staatsstreich und Attentat an. Bis heute muss das Stauffenberg-Bild diesen Widerspruch aushalten, ja vermutlich ist die- ser Widerspruch bereits in seiner Person angelegt. Er wollte provozieren, und die Konsequenz war, dass er bisweilen den Hochkonservativen als Nationalsozialist und den Nationalsozialisten als Hochkonservativer galt.

Dem steht die hohe Bedeutung, die der 20. Juli für die Geschichte der Bundesre- publik hatte, gegenüber, wie sie sich insbesondere in einer Reihe von staatstragen- den Würdigungen niedergeschlagen hat. Bundespräsident Theodor Heuss hatte mit seiner Rede am 19. Juli 1954 im Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin den Ton gesetzt und vom „Vermächtnis“ gesprochen, „das durch das stolze Sterben dem Leben der Nation geschenkt wurde.“ 10 Seitdem zählt die Würdigung des 20. Juli zum wiederkehrenden Repertoire der Republik, die sich auf die von Bundeskanzler Helmut Kohl geprägte Formel über die Bedeutung der Männer und Frauen vom 20. Juli für die Geschichte der Bundesrepublik – „Es waren nicht viele, aber es waren die Besten” 11  – auf den Punkt bringen lässt. 12 Diese Frauen und Männer haben sich mit der ganzen Person eingesetzt, und sie haben es für ihr Land getan, das damals Deutsches Reich hieß und doch etwas ganz anderes als das von Hitler ausgerufene Dritte Reich war. Sie wollten nicht, dass Willkürherrschaft, Unrecht und Missachtung der Menschenwürde das letzte Wort der Geschichte ge- wesen sein sollten. Mut, Weitsicht und Entschlusskraft sind ihre hervortretenden Eigenschaften. Viele von ihnen haben für ihre Überzeugung mit dem Leben be- zahlt. Andere wurden verhaftet, verhört, eingesperrt, auch gefoltert und sind nur mit Glück dem Tod entkommen. Stauffenbergs Handeln, seine Tat, kann nicht isoliert betrachtet werden. Sie ist nicht das Ergebnis des Wirkens eines einzel- nen. Stauffenbergs Tat war im Gegenteil nur möglich, weil ein verschwiegener Kreis gleichgesinnter Freunde, Militärs und Zivilpersonen, zusammenwirkten, in mühevoller Vorbereitungsarbeit einander verbunden und entschlossen, dem na- tionalsozialistischen Unrechtsregime ein Ende zu setzen. Von vornherein war der 20. Juli auch als symbolisches Handeln angelegt, denn die Verschwörer konnten nicht damit rechnen, Erfolg zu haben; sie konnten nur darauf hoffen. Bereits un- mittelbar nach Staatsstreichversuch und Attentat ist der 20. Juli dann auch zum Symbol geworden. Vor diesem Hintergrund schließt die Frage nach dem Verhält- nis des 20.  Juli 1944 für das Traditionsverständnis der deutschen Bundeswehr mehrere Teilfragen ein, die auf Aussagen über das staatliche Selbstverständnis genauso wie über das Geschichtsbild der Deutschen zielen. Es empfiehlt sich des- halb, bei der Beantwortung schrittweise vorzugehen.

2 „Richtiges“ Traditionsverständnis der Bundeswehr

Zunächst zur Rolle und zum Verständnis von Tradition in den deutschen Streit- kräften. 13 Jede Erörterung über Tradition in den Streitkräften muss dabei den Wandel des gesellschaftlichen Verständnisses von der Rolle des Soldatischen be- rücksichtigen, und sie erfolgt insbesondere vor dem Hintergrund des spezifischen Verlaufs der jeweiligen Nationalgeschichte. Es zählt deshalb zu den Grundgege- benheiten für die Stellung von Streitkräften in Staat und Gesellschaft im Deutsch- land von heute, dass die immer engere internationale Verflechtung der Vertei- digungspolitik der Nationen  –  insbesondere auf Grund der Zugehörigkeit zum Nordatlantischen Bündnis – dazu führt, dass sich durch die gemeinsamen Erfah- rungen in den Auslandseinsätzen im Rahmen der friedenssichernden und frie- denschaffenden Missionen der Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der Nordatlantischen Allianz und die damit verbundene täglich erlebte Wirklich- keit der integrierten Stäbe und militärischen Kommandobehörden des Bündnis- ses internationale Standards herausbilden. Die Orientierung bei der Streitkräfte- aufstellung und -planung vollzieht sich dabei mehr und mehr in der Ausrichtung an den Bündnispartnern. Für die deutsche Bundeswehr bringt dies mit sich, dass die Herausforderung der Auslandseinsätze immer stärker das berufliche Selbst- verständnis bestimmt. Gleichwohl hat die Internationalisierung nicht zugleich auch zu Anpassungen an das Traditionsverständnis der Allianzpartner geführt. Daraus erwachsen Spannungen innerhalb der Bundeswehr, und dies führt zu einem noch nicht abgeschlossenen und erhöhten Klärungsbedarf, der auch und gerade die Haltung der Bundeswehr zum 20. Juli betrifft. Die Einsicht etwa, dass Tradition auch heute unersetzbar für das Selbstverständnis von Streitkräften ist, würde in Großbritannien, den Vereinigten Staaten oder Frankreich Verwunde- rung auslösen, da dies dort als Selbstverständlichkeit betrachtet wird. In Deutsch- land ist diese Einsicht hingegen weniger weit verbreitet, und das hat vor allem mit dem schwierigen Verhältnis der Deutschen zum Militärischen als Konsequenz der Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tun.

Ein distanziertes, bisweilen auch misstrauisches, zumindest aber zurückhalten- des Verhältnis von Staat, Gesellschaft und dem Militärischen hat sich in Deutsch- land bis heute erhalten. Dies hängt zunächst auch mit den nachwirkenden Er- fahrungen der Weimarer Republik und ihrem Scheitern zusammen, die nach 1945 auch zu Mißtrauen gegenüber der Rolle der Reichswehr und Fragen nach deren Loyalität zum Staat von Weimar Anlass gegeben haben, und sie hängen vor allem mit dem Missbrauch des Soldatischen und des nationalen Pathos in der nationalsozialistischen Zeit zusammen. Die politische und moralische Katastro- phe des Zweiten Weltkrieges war so total, dass neben der von den Siegermächten auferlegten Demilitarisierung auch das Bewusstsein, in einem bis dahin nicht ge- kannten Ausmaß Tod und Zerstörung in die Welt gebracht zu haben, äußerste Zu- rückhaltung gegenüber allem Militärischen zu einem weit verbreiteten Phänomen werden ließ. Es hat mit dieser Geschichte und diesen Erfahrungen zu tun, dass die Bestimmung von Tradition und ihre Pflege in der Bundeswehr seit ihrer Be- gründung im Jahr 1955 nie einfach war, vielmehr immer wieder Anlass zu Fragen gegeben und bisweilen zu Missverständnissen und Unsicherheiten im Umgang mit diesen geführt hat. 14

Die Niederlage von 1945 war eine „militärisch-politische Totalkapitulation“ (Andreas Hillgruber). In der Konsequenz der von den Siegermächten den Deut- schen auferlegten Bedingungen hat es über zehn Jahre gedauert, bis überhaupt wieder Streitkräfte aufgestellt werden konnten. Die Bundeswehr erblickte das Licht der Welt in Gestalt eines eigenen Verteidigungsbeitrags im Rahmen des Nordat- lantischen Bündnisses, und dieser Beitrag war vor allem anderen den Erforder- nissen einer spezifischen weltpolitischen Situation geschuldet. Das Bekenntnis zum Grundgesetz und das Einverständnis mit einem inneren Gefüge, das sich an den Grundsätzen demokratischer Gepflogenheiten orientierte, fiel manchen schwer. Groß war auch das Misstrauen derjenigen, die sich aus grundsätzlichen Erwägungen gegen eine „Wiederbewaffnung“ gewandt hatten. Die Erfahrung des Missbrauchs von Idealismus und Vaterlandsliebe in der Zeit der nationalsozialis- tischen Diktatur saß tief. Die unsichere Weltlage, hie und da auch die Illusion vom „dritten Weg“ als Wiedervereinigungsoption um den Preis einer Neutralisierung Gesamtdeutschlands, die Wunschvorstellung, Mitte oder Brücke zwischen Ost und West sein zu können, haben auch dazu geführt, dass die Skepsis gegenüber dem deutschen Streitkräftebeitrag vernehmlich artikuliert wurde, auch wenn sie dabei nie auf die Mehrheit der Deutschen zählen konnte. Jene Soldaten, die am 12. November 1955 – an Scharnhorsts 200. Geburtstag – in einer zugigen Fahr- zeughalle in der Bonner Ermekeilstrasse in einem bescheidenen militärischen Ze- remoniell vereidigt wurden, waren Inbegriff einer in ihrem nationalen Selbstbe- wusstsein zutiefst erschütterten Nation, die beinahe gänzlich auf die äußerlichen Attribute staatlicher Machtentfaltung verzichtete und die seitdem gerade in ihrem Verhältnis zu allem Militärischen immer wieder von Bescheidenheit, Zurückhal- tung, nicht selten auch Misstrauen geprägt gewesen ist. Die unheilvolle Gleich- setzung zwischen nationalsozialistischer Aggressionspolitik und preußischem Militarismus  –  eine bleibende Folge der skrupellosen Indienstnahme Preußens im Dritten Reich  –  hat das Ihre dazu beigetragen, dass das Militärische in der Bundesrepublik von Anfang an einen schweren Stand hatte.

Die Frage, was nun als ein tradierungswürdiges Vorbild anzusehen sei, ist vor diesem Hintergrund in der Bundeswehr besonders schwer zu beantworten, denn die Vorbilder, die aus der jüngeren Vergangenheit zur Verfügung standen, ver- fügten alle über eine persönliche Biographie mit einem Vorleben. Wie aber sollte Tradition begründet werden, wenn man sich mit Vorbildern so schwer tun muss- te? An welche Tradition anknüpfen und wie die Erinnerung wach halten?

Die Pflege der Tradition ist seit jeher an Geschichtsbewusstsein und die Exis- tenz fester Orientierungspunkte gebunden. Deshalb ist der Platz der Militärge- schichte in der soldatischen Ausbildung herausgehoben. Militärgeschichte bildet die Grundlage für eine solide historische Bildung, und sie gehört wesentlich zu einer wertegebundenen Traditionspflege. Für die Militärgeschichte gilt im Be- sonderen, was für Geschichte als Wissenschaft im Allgemeinen zutrifft: Die Ge- schichte entnimmt ihre Fragestellungen der jeweiligen Gegenwart, und sie dient letztlich dem tieferen Verständnis der Gegenwart. Bei der Traditionspflege sind ganz besonders Einheitsführer und Kommandeure gefordert. Denn sie stellen sicher, dass Soldatinnen und Soldaten sich hinreichend mit der deutschen und europäischen Geschichte befassen und ihr Bewusstsein dafür schärfen, welche Er- eignisse und Persönlichkeiten beispielgebend auch und gerade für Streitkräfte in der Demokratie sein können. „Die Tradition der Bundeswehr ist der Kern ihrer Erinnerungskultur“, lautet der erste Satz des neuen Traditionserlasses der deut- schen Bundeswehr von 2018. Weiter heißt es dort: „Mit ihrer Tradition überliefert und pflegt die Bundeswehr die Erinnerung an Ereignisse, Personen, Institutio- nen und Prinzipien aus der Gesamtheit der deutschen (Militär)Geschichte, sofern diese vorbildlich für ihren heutigen Auftrag sind.“ 15 Der einschränkende Zusatz, so notwendig er vor dem Hintergrund der deutschen Militärgeschichte auch sein mag, verdeutlicht das ganze Dilemma des den Streitkräften verordneten „richti- gen“ Traditionsverständnisses. Es geht um die treffende Auswahl, und es geht um moralische Richtungsentscheidungen. Können wir aber mit unseren Maßstäben von heute weiter zurückliegende Ereignisse bewerten, also sie auf eine frühere Zeit übertragen? Verrät sich hier nicht ein eklektisches Geschichtsverständnis? Und wer stellt sicher, dass wir im Heute über den richtigen Kompass verfügen, der uns dazu befähigt, die richtige Unterscheidung zu treffen?

„Tradition ist Überlieferung“, heißt es im Erlass von 1982, der Traditionspfle- ge als „Teil der soldatischen Erziehung“ begriff. 16 Der Traditionserlass von 1982 ist sowohl in seiner definitorischen Aussage, dass Tradition die Überlieferung von Werten und Normen sei, als auch in seiner daraus abgeleiteten Folgerung, Tradition verbinde die Generationen, sichere Identität und schlage eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, völlig eindeutig, ohne indes für die sich in der Praxis daraus ergebenden Problemstellungen Handlungsanweisungen zu geben. Diese sind später nachgereicht worden. Einen Hinweis auf Staatsstreich und Attentat vom 20.  Juli 1944 sucht man im Traditionserlass des Jahres 1982 vergebens. Und auch der im Jahr 2018 verabschiedete Nachfolgeerlass, bleibt in den entscheidenden definitorischen Fragen unklar. Die Vorstellung, mit einem Erlass dem moralischen Dilemma des historischen Beurteilens entgehen, also dauerhaft gültige Regeln aufstellen zu können, mag außerhalb von Streitkräften gelegentliches Kopfschütteln hervorrufen. In den Streitkräften bilden Dienstvor- schriften und Erlasse das Gerüst des Handelns. Sie werden herangezogen, wenn Maßstäbe der Beurteilung benötigt werden. Der Traditionserlass in seiner letzt- gültigen Fassung aus dem Jahr 2018 versucht die Festlegung zu umschiffen, indem er empfiehlt, vor allem die eigene Geschichte der Bundeswehr bei der Suche nach Traditionswürdigkeit in den Blick zu nehmen.

Streitkräfte sind immer Spiegelbild der Gesellschaft, und dass ein wachsendes Geschichtsbewusstsein in unserer unruhigen, sich immer schneller wandelnden Welt der Gegenwart nützt, mag unbestritten sein. Es ist in seinen Formulierungen, mit seinen offenen Fragen zugleich auch ein Indikator für die heutige Diskus- sion über das Militärische. Die Fallstricke des neuen Traditionserlasses werden sichtbar, wenn die Formulierungen zur Traditionswürdigkeit der älteren Militär- geschichte einer Textexegese unterzogen werden. Der Erlass wählt hier einen libe- raleren Zugang, indem er die Auswahlentscheidung darüber, was „vorbildlich und richtungsweisend“ für den heutigen Auftrag sei, an den Einheitsführer delegiert. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass dies im Resultat dazu führen wird, dass die deutschen Streitkräfte beim Traditionsverständnis an ihre britischen oder ameri- kanischen Kameraden anschließen können und die Pflege der älteren deutschen Militärgeschichte künftig vertiefend gelehrt und herzangezogen wird.

Der Traditionserlass des Jahres 2018 ist in vier Teile gegliedert: zunächst Grund- sätze, sodann historische Grundlagen, gefolgt von einem Abschnitt über das Tra- ditionsverständnis der Bundeswehr, und schließlich, als vierter Teil, Ausführun- gen zur „Traditionspflege in der Bundeswehr“. Wie schwierig es ist, auf dichtem Raum in wenigen Worten eine für jüngere Soldaten weitergabefähige Geschichts- sicht zu formulieren, zeigt besonders der Abschnitt über die historischen Grund- lagen. Zu den „deutschen Streitkräften zwischen 1919 und 1945“ finden sich dort ganze fünf Sätze, wovon zwei der Reichswehr in der Weimarer Republik und drei den 1935 in „Wehrmacht“ umbenannten Streitkräften im nationalsozialistischen Deutschland gewidmet sind. Die dort gewählten Formulierungen sind zwar nicht falsch, laden in ihrer Verdichtung jedoch auch nicht zu einer differenzierten Be- trachtungsweise ein und sind wohl kaum geeignet, das moralische Dilemma des Soldatseins in den (Kriegs)Zeiten des Missbrauchs des Militärischen durch eine ideologisch verblendete, verbrecherische Staatsführung zu beleuchten. Bundes- präsident Heuss hatte dazu in seiner ersten Rede an der Führungsakademie der Bundeswehr im Jahr 1959 auf die Grundfrage, woran denn die Tradition der Bundeswehr anknüpfen solle, ausgeführt, dass, obwohl „von einzelnen Heerfüh- rern, von einzelnen Verbänden außerordentliche Leistungen militärischer, strate- gischer, taktischer Natur“ vollbracht worden seien, „das Verbluten einer einfach überforderten Armee“ eine Tradition nicht begründen könne. 17 Dem stellte er die „Märtyrer“ des 20. Juli entgegen, „deren Erhebung hoffen machte, dem Vaterland die völlige Verwüstung zu ersparen“: „in ihrem Scheitern, in ihrem Ende wurde auch ein Kern der inneren anständigen Tradition der Armee, die Ritterlichkeit gegenüber dem Besiegten, vernichtet.“ 18

3 Der 20. Juli 1944 in der Traditionspflege der Bundeswehr

Wie kein zweites Thema eignet sich deshalb die Frage der Einordnung des 20. Juli in die Geschichte der Bundeswehr, um jenes Verhältnis zur Wehrmacht und die Frage der Traditionswürdigkeit besonders deutlich zu stellen. Für die Bundeswehr war die Haltung zum 20. Juli die Kardinalfrage, an der das Verhältnis zur eigenen Tradition gespiegelt werden konnte. Die Bundeswehr musste von Anfang an mit dem Grundproblem leben, dass sie von Soldaten der Wehrmacht aufgebaut wur- de. Fast jeder der Geburtsjahrgänge 1927 und älter, und dies waren bei der Auf- stellung der Bundeswehr alle über 28-Jährigen, war auf die ein oder andere Weise von der Wehrmacht im Weltkrieg gezogen worden. Gleichwohl bestand seit der Begründung der Bundeswehr Einvernehmen darüber, dass die Wehrmacht nicht traditionsbildend sein könne. Für die Entwicklung der Haltung der Bundeswehr zum 20. Juli darf es wohl als Glücksfall gewertet werden, dass bei ihrer Begrün- dung maßgebliche Offiziere aus dem Umkreis des 20. Juli eine Rolle gespielt ha- ben. Bereits in den Vorläuferorganisationen, der „Zentrale für den Heimatdienst“, waren mit Major a.D. Axel von dem Bussche, Oberst a.D. Johann Adolf Graf von Kielmannsegg, Major a.D. Achim Oster und Generalmajor a.D. Hans Speidel vier Angehörige des 20. Juli vertreten. Auch der leitende zivile Beamte der „Dienststel- le Blank“, Ernst Wirmer, hatte als Bruder des im Zusammenhang mit dem 20. Juli hingerichteten Rechtsanwalts Josef Wirmer einen familiären Bezug. Der vom Deutschen Bundestag im Sommer 1955 eingesetzte Personalgutachterausschuss, hatte, ganz in Übereinstimmung mit den Überlegungen im Amt Blank, die Be- wertung des 20. Juli 1944 zutreffend und in weiser Vorausschau als den „Prüf- stein für eine sorgfältige Auswahl des Führerkorps aller Ebenen“ 19 identifiziert, als der er sich in der Praxis entwickeln sollte. Bereits 1956 wurde die einstige NS-Ordensburg Sonthofen in Generaloberst-Ludwig-Beck-Kaserne umbenannt. Es war indes vor dem ersten dort einberufenen Lehrgang für höhere Offiziere, dass im darauffolgenden Jahr der vom Ministerium ausgesuchte Referent, Ma- jor Trentzsch, in seinem Vortrag über „Der Soldat und der 20. Juli“ 20 in seiner Beurteilung der Erhebung indifferent blieb und daraus die Folgerung zog, dass dem Soldaten von heute kein Urteil über die Männer vom 20. Juli vorgeschrieben werden könne. 21

Aus diesem Missverständnis der Indifferenz wurde die Bundeswehr erst dauer- haft befreit, als der erste Generalinspekteur der Bundeswehr, General Adolf Heu- singer, in seinem Tagesbefehl zum 20.  Juli 1959 unmissverständlich klarstellte, dass der 20. Juli 1944 ein Lichtpunkt in der dunkelsten Zeit Deutschlands gewe- sen sei. Der am 15. Jahrestag der Erhebung an die Truppe gerichtete Tagesbefehl endete mit den Worten: „Wir Soldaten der Bundeswehr stehen in Ehrfurcht vor dem Opfer jener Männer, deren Gewissen durch ihr Wissen aufgerufen war. Sie sind die vornehmsten Zeugen gegen die Kollektivschuld des deutschen Volkes. Ihr Geist und ihre Haltung sind uns Vorbild.“ 22 Heusinger, der selbst als am Staats- streich Unbeteiligter und in seiner Eigenschaft als Chef der Operationsabteilung Vortragender bei der „Führerlage“ am 20. Juli 1944 beim Attentatsversuch in der Wolfsschanze beinahe ums Leben gekommen wäre, und Bundespräsident Heuss entzogen mit diesen klaren Worten aufkeimenden Diskussionen den Boden. Als Berufungsgrundlage von großer Hilfe erwies sich dabei, dass Bundespräsident Theodor Heuss kurz zuvor in einer Rede in der Führungsakademie der Bundes- wehr am 12. März 1959 davon gesprochen hatte, dass die Wehrmacht ihre Märty- rer in den Soldaten des 20. Juli gefunden habe. 23

Die Diskussion über Verräter oder Patrioten, die mit Blick auf die Männer des Widerstands in den 1950er Jahren in Deutschland noch leidenschaftlich geführt wurde, war in der Bundeswehr von da an eindeutig beantwortet. Es kann deshalb zu Recht festgehalten werden, dass die Bundeswehr damit schon sehr früh, näm- lich zu einer Zeit, als bei nicht wenigen Deutschen noch immer die nationalsozia- listische Propagandaformel von der „kleinen, verbrecherischen Adelsclique von verschwörerischen Offizieren“ Wirkung zeigte, die Erinnerung an den „20. Juli“ gepflegt und das Handeln der „Männer vom 20. Juli“ in ihr Leitbild vom „Staats- bürger in Uniform“ aufgenommen hat. Gleichwohl hat insbesondere die Diskus- sion um „Eid und Verrat“ gerade in den Anfangsjahren der Bundeswehr eine gro- ße Rolle gespielt, und auch die damals im deutschen Volk noch weit verbreitete Sichtweise Stauffenbergs als Verräter wird in der Bundeswehr in den Anfangs- jahren ihre Anhänger gefunden haben. Die kontroverse Diskussion über den Eid, wie sie dann im „Gesetz über die Rechtsstellung der Soldaten“ (Soldatengesetz) schließlich in die Wiederaufnahme aller bisherigen Eidinhalte – freilich mit Aus- nahme des 1934 eingeführten persönlichen Eids auf Adolf Hitler – mündete, war auch dem Ziel geschuldet, eine rechtliche Gleichstellung zwischen Soldaten und Beamten zu erwirken. Der Grundsatz des „gewissenhaften Gehorsams“ und die Innere Führung mit ihrer Bindung des soldatischen Dienens an die Normen und Werte des Grundgesetzes setzten einen engen Rahmen, auf dessen Einhaltung von Deutschem Bundestag und öffentlicher Meinung aufs Genaueste geachtet wurde.

Die Werteordnung des Grundgesetzes bildet damit den Rahmen, in dem Tra- ditionspflege in der Bundeswehr vertieft, ja überhaupt erst entstehen kann, und sie macht deutlich, dass die Bundeswehr als Armee in der Demokratie eine Neu- schöpfung und keine Fortsetzung der Wehrmacht ist. Denn erst die Gewissheit, dass sich die Streitkräfte auf eine funktionierende Ordnung, auf ein demokrati- sches Gemeinwesen verlassen können, ist wesentliche Voraussetzung dafür, dass sich Bindung, Vertrauen und auch demokratische Grundsätze nach Innen entfal- ten können. Sie ist damit der zentrale Gedanke, der in den öffentlichen Rekruten- gelöbnissen und im Eid der Berufssoldaten und der Soldaten auf Zeit im Zentrum steht. Nichts anderes hat der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt gemeint, als er am 20. Juli 2008 in einer bemerkenswerten Rede aus Anlass des Öffentlichen Gelöbnisses vor dem Reichstag den Grundwehrdienstleistenden zurief: „Dieser Staat wird Euch nicht missbrauchen.“ 24 Es hat mit den spezifisch deutschen Dis- kussionen, die auch Nachwirkungen zur nationalsozialistischen Zeit sind, zu tun, wenn immer wieder auch ein (selbst)kritischer Blick zurück auf die „Vergangen- heitsbewältigung“ und „Traditionsstiftung“ fällt. So hat vor diesem Hintergrund Claus Donate bereits 1976 in einer Dissertation die Auffassung vertreten, dass es der Bundeswehr „trotz der behaupteten ‚Ahnherrschaft‘ des Widerstandes“ nur unzureichend gelungen sei, eine eigene Tradition aufzubauen. 25

Mit der Wiedervereinigung und dem größeren zeitlichen Abstand zur politi- schen, militärischen und moralischen Niederlage des Jahres 1945 wurde die Aus- einandersetzung um den Themenbereich „Bundeswehr und Tradition“ breiter. Seit 1994 ist der Bendlerblock, wo einst das Amt Canaris und das Reichsmarine- amt saßen und 1944 das Zentrum des Staatsstreichs war, Berliner Amtssitz des Bundesministeriums der Verteidigung, und die Bundeswehr erinnert Jahr für Jahr mit einem öffentlichen Gelöbnis am 20. Juli an die schicksalsvollen Ereignisse des Jahres 1944. Dieses öffentliche Gelöbnis hat inzwischen einen festen Platz im Ka- lender der Republik und bietet eine gute Gelegenheit, die Bedeutung des 20. Juli für die Tradition der Bundeswehr herauszustellen. Auch der Umstand, dass einer der Söhne des Attentäters, Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, bereits 1956 in die Bundeswehr eintrat und bis zu seinem Ausscheiden als Generalmajor im Jahr 1994 in ihr diente, ist vor dem Hintergrund des Bekenntnisses der deutschen Streitkräfte zum Vermächtnis des 20. Juli nicht hoch genug einzuschätzen. Gerade in jüngster Zeit hat es mit der Begründung der Witzleben-Gesellschaft in Erinne- rung an Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben, eines frühen, überzeugten Hitler-Gegners, einen bemerkenswerten Impuls für die Traditionspflege gegeben. Der Gründungsvorsitzende der Witzleben-Gesellschaft und der Ehrenvorsitzende der Stiftung 20. Juli 1944, Rüdiger von Voß, sprach beim Schlussappell anlässlich der ersten Verleihung des Witzleben-Preises an der Offiziersschule des Heeres in Dresden im Dezember 2017. 26

All diese Initiativen dürfen freilich nicht den Blick darauf verstellen, dass sich viele Angehörige der Bundeswehr trotz aller positiven Entwicklungen und for- melhafter Bekenntnisse bis heute damit unverändert schwertun, die tiefere Be- deutung des 20. Juli in ihrem soldatischen Selbstverständnis zu leben. Dies wird auch daran ersichtlich, dass bis heute keine einzige Liegenschaft der Bundeswehr nach Ewald Heinrich von Kleist, Axel Freiherr von dem Bussche, nach Werner von Haeften, Stauffenbergs Adjutanten, oder nach dem Rechtsanwalt Ernst Wir- mer, dem führenden zivilen Beamten der Dienststelle Blank, benannt ist. Dabei sind gerade die Entscheidungssituationen und Gewissenskonflikte der jüngeren Offiziere wie Phillip von Boeselager, Ewald Heinrich von Kleist oder Axel von dem Bussche besonders geeignet, den heute jungen Offizieren den staatsbürger- lich-moralischen Impetus des 20. Juli nahezubringen und eine Verbindung zum soldatischen Handeln heute herzustellen. Woran mag es liegen, dass dies nicht erfolgt? An einem Mangel an historischer Bildung? An Desinteresse? An einem taedium historiae ? Oder an der Unsicherheit im Urteil bei der Bestimmung von historischen Vorbildern? Gerade die Beschäftigung mit der Genese der Traditi- onserlasse zeigt die Schwierigkeiten der Urteilsbildung, auch die Sehnsucht nach Leitplanken und formelhaften Anleitungen zum richtigen Umgang mit der Mili- tärgeschichte.

Für die Auseinandersetzung mit dem Vermächtnis des 20.  Juli indes ist ein formelhafter Umgang am wenigsten geeignet. Denn hierbei kommt es ganz we- sentlich auf näheres Hinsehen an, darauf, mit Blick auf jede einzelne Biographie Phasen von Anpassung und Widerstand, von Verblendung und Hellsicht unter- scheiden zu können. Gerade das Beispiel der angelsächsischen Länder zeigt, wie wichtig die Orientierung an einzelnen herausragenden militärischen Führern für die Herausbildung des soldatischen Selbstverständnisses ist. Montgomery, MacArthur, Eisenhower oder Patton, ihre militärfachlichen Leistungen und ihre Bewährung im Einsatz waren und sind in den britischen und amerikanischen Streitkräften  –  unabhängig von ihrer politischen Bewertung  –  für ganze Gene- rationen von jungen Soldaten beispielgebender Ansporn. In der Kontrastierung dazu zeigt sich besonders deutlich die durch den tiefen Einschnitt der beiden Weltkriege begründete Erschütterung der deutschen Streitkräfte und die daraus resultierende Unsicherheit.

Geschichtliches Bewusstsein lässt sich nicht dekretieren, es muss wachsen, und es setzt die Pflege der historischen Bildung, eine gelebte Diskussionskultur und die Bereitschaft, das eigene militärische Handeln in einem größeren Zusammen- hang zu sehen, voraus. Gerade jüngere Offiziere und Mannschaften müssen in die Lage versetzt werden, selbst Maßstäbe zu entwickeln. Dies ist eine der zentralen Lehren, die aus der Beschäftigung mit dem 20. Juli gewonnen werden kann und wird am besten gelingen, wenn Kenntnisse und Verständnis für Militärgeschichte vertieft werden und die Einsicht in Charakter, Motive und Planungen der Ange- hörigen des 20. Juli in den Streitkräften und darüber hinaus weiter fortschreiten. Die Kenntnis der Militärgeschichte bildet dabei die Folie, vor der diese Selbstver- gewisserung erfolgt, das Urteil geschult und die Scheidung der Geister ermöglicht werden. Wer das Vermächtnis und die Bedeutung des 20. Juli erfassen will, muss sich – zur Abgrenzung – weiterhin auch vertieft mit den anderen, „klassischen“ Fällen der Militärgeschichte des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzen, etwa mit den Feldmarschällen Manstein und Kesselring oder dem Fall des Generalobersten Guderian, die bei allem militärfachlichen Können zuallererst als Hitlers Generale sowie als missbrauchte Werkzeuge einer zügellosen Eroberungspolitik in die Ge- schichte eingegangen sind und durch ihr Versagen, gegen die Kriegführung ohne Humanität im Osten ihre Stimme zu erheben und sich dem Aufstand des Gewis- sens, dem militärischen Widerstand gegen Hitler, anzuschließen, das geschicht- liche Urteil über ihr Handeln (und ihr Unterlassen) gefällt haben.

Ein besonderer Schwerpunkt sollte dabei gerade auf „Grenzfälle“ gelegt werden. Die Kontroverse um die Beurteilung von Generalfeldmarschall Erwin Rommel ist dafür ein gutes Beispiel. 27 Die Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag hat die Vorstellung eines frühen Entwurfes des Traditionserlasses durch Bundes- ministerin von der Leyen zum Anlass genommen, in einer Kleinen Anfrage im Deutschen Bundestag Korrekturen bei den Kasernennennungen einzufordern und die – sehr zum Verdruss der politischen Linken – bis heute existierende Rom- melkaserne umzubenennen. 28 Generalfeldmarschall Erwin Rommel war zweifels- ohne einer der populärsten militärischen Führer im Zweiten Weltkrieg. Er wurde nach erfolgter alliierter Invasion und aufgrund mutmaßlicher Nähe zu den Atten- tätern des „20. Juli“ im September 1944 von Hitler zum Selbstmord gezwungen und, heuchlerischer Höhepunkt, mit einem Staatsbegräbnis beigesetzt. Rommel wäre auf Grund seiner militärischen Erfolge noch am ehesten dafür geeignet ge- wesen, doch sein einst gläubiges Verhältnis zum Nationalsozialismus, die bereit- willige Vereinnahmung durch die nationalsozialistische Propaganda und die von der Geschichtswissenschaft bis heute ungeklärte Frage nach seiner Haltung zu Staatsstreich und Attentat gegen Hitler lassen es als geboten erscheinen, Rommel zum Schwerpunkt weiterer wissenschaftlicher Studien zu wählen.

4 Lehren für heute

Staatsstreich und Attentat vom 20.  Juli 1944 sind eine permanente Anfrage an Politik, Wissenschaft und Bildungsarbeit zugleich: Wie hätten wir uns damals ver- halten? Wo sehen wir heute beiseite, ohne dass uns dafür Konsequenzen drohen würden? Wie tragen wir zum nationalen und europäischen Zusammenhalt bei? Wie viel Kraft verwenden wir für die Bewahrung unserer Demokratie? Die Ge- schichten vom 20. Juli können uns dabei helfen, Maßstäbe zu finden, unser Urteil zu schärfen und Orientierungspunkte für verantwortliches Handeln zu identi- fizieren; sie ragen noch immer in die Gegenwart hinein. Auch daraus erwächst Spannung. Für die Bundeswehr wird es dann am besten gelingen, den 20. Juli 1944 noch stärker in die gelebte Tradition einzubeziehen, indem die handelnden Per- sonen weniger abstrakt, sondern ganz konkret auch als vorbildhafte militärische Führer begriffen und gewürdigt werden. Was für die Bundeswehr als den Streit- kräften in der Demokratie gilt, trifft auch auf Deutschland als Ganzes zu. An der Frage, wie die Deutschen in Bundeswehr, Staat und Gesellschaft mit diesem Erbe umgehen, es für das Europa von heute nutzbar machen, wird auch das Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte insgesamt ablesbar sein. Das Vermächtnis des deut- schen Widerstands gilt fort, die Verpflichtung daraus bleibt bestehen. Es ist an den heutigen und an den kommenden Generationen, dieses Vermächtnis einzulösen. In dem Maße, in dem die Bundeswehr diese europäische Dimension des 20. Juli erfasst, leistet sie zugleich auch ein Beitrag für ein gemeinsames europäisches Verständnis zu einer europäischen Erinnerung, die die zeitlose Lehre in Erinne- rung ruft, dass Mut und Zivilcourage heute so nötig sind wie damals, dass Recht, Freiheit und Demokratie, wenn es darauf ankommt, verteidigt werden müssen und dass die Grenzen von Partei, Konfession und auch Nation nicht mehr zählen, wenn es um diesen Einsatz geht.

Literatur

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Jürgen Müller-Hohagen

Widerstände gegen Widerstand

1 Einleitung

Das Wort „Widerstand“ hat viele Bedeutungen: elektrischer Widerstand, Rei- bungswiderstand, Luftwiderstand, Erkenntniswiderstand  … Hier ist der politi- sche Widerstand gegen Hitler und sein Regime gemeint. Er gehört zu den größten und bewegendsten Momenten der Menschheitsgeschichte.

Natürlich gab es damals nicht den „einen“ Widerstand. Da waren Kommunis- ten, Sozialdemokraten, Liberale, Konservative, Christen, Atheisten, Adlige, Zivi- listen und Militärs, es gab Widerstand als Planung des Umsturzes und ein Wider- stehen im Alltag ohne solche weitreichenden Zielsetzungen und Möglichkeiten, etwa indem man keine Fahnen hinausgehängt hat. 1 Doch alle diese Menschen einte auf jeden Fall ihre kritische Einstellung zum NS-Regime.

Sodann soll wenigstens erwähnt werden, dass politischer Widerstand keines- wegs ein „geschützter Begriff “ ist, vielmehr manchmal gegnerische Seiten sich beide als Widerstand sehen und dann die anderen als „Terroristen“, „Staatsfeinde“ usw. deklarieren und sich selbst zum Verfechter „wahrer Menschlichkeit“ ma- chen. Lüge und Manipulation finden sich hier zuhauf, damals, aber auch heute. So hat es derzeit unter Rechtspopulisten und -radikalen Konjunktur, sich im „Wider- stand“ zu sehen.

Warum haben die verschiedenen Formen von Widerstand und Widerstehen gegenüber Hitler und seinem Regime es bis heute schwer, umfassend, also gerade auch im Alltag anerkannt zu werden? Diese Frage steht im Mittelpunkt meines Beitrags. Ich werde mich dem mit psychologischen Mitteln zu nähern versu- chen und dabei auf den psychoanalytischen Begriff des Widerstands zurückgrei- fen – also noch eine weitere Bedeutung dieses Wortes.

2 Nach 1945: Ablehnung des Widerstands

Zunächst seien einige konkrete Beispiele wiedergegeben. Sie beziehen sich auf Deutschland West, während die anders gelagerte Situation in der ehemaligen DDR hier nicht berücksichtigt wird.

1. Ich erinnere mich, das war Mitte der 80er Jahre, an mein großes Erstaunen, als uns jemand aus unserem persönlichen Umfeld erzählte, wie die ganze Familie lange Jahre in ihrem Dorf geschnitten wurde als Vaterlandsverräter. Mitglieder der Familie waren am Umsturzversuch des 20. Juli beteiligt gewesen, ein Onkel wurde deshalb umgebracht, viele andere verfolgt. Zu dieser Familie zu gehören, bedeutete doch eine große Ehre, so dachte ich damals naiv. Gern hätte ich mit ihnen getauscht. Auch dieser Wunsch zeugte von Ahnungslosigkeit, wie ich dann beschämt feststellte. Nie hätte ich gedacht, welche Last das alles auch nach 1945 bedeuten konnte. Die Schrecken der Verfolgung waren enorm gewesen, das war mir klar, aber eine danach erfolgte Ausgrenzung, gegen die nicht ein- mal ein traditionsreicher adliger Name oder ehrenwerte berufliche Tätigkeiten ankamen, hatte ich nie für möglich gehalten.

2. Ebenfalls in dieser frühen Zeit meiner Beschäftigung mit NS-Zeit-Folgen fiel dieser Satz: „Das Leben an sich fühlt sich für mich nicht als etwas Positives an.“ Er wurde gesagt von der Enkelin eines prominenten NS-Gegners, der lange in- haftiert war und schließlich umgebracht wurde. Nur wegen ihres Sohnes hatte sie psychologische Hilfe gesucht. Doch als Zusammenhänge mit dem riesigen verfolgungsbedingten Schatten über ihrer Familie sichtbar wurden, meinte sie nicht anders zu können als sich zurückzuziehen. Sonst hätte sie mir, wie sie auf eine spätere Nachfrage hin sagte, „Unsinn“ erzählen müssen, nur um nicht an die eigentlich bedeutsamen Punkte rühren zu müssen.

3. Oder da war die Mutter einer Klientin. Sie erlitt einen Herzanfall und musste in die Klinik, nachdem ihre Tochter sie gebeten hatte, mir einige Erlebnisse aus der Nazizeit zu erzählen. „Da helfe ich Ihnen“, so hatte meine Klientin ge- sagt, als sie mitbekam, dass ich an einem Buch über seelische Nachwirkungen der NS-Zeit schrieb. Was hätte die Mutter zu berichten gehabt? Etwa, dass ihre Eltern keine Fahnen heraushängten und dass ihr Vater zur Gestapo vorgela- den wurde wegen einer unbedachten Äußerung. Deshalb aber jetzt noch solch ein Schrecken beim Gedanken, dies nach außen zu tragen, und sei es nur ins Sprechzimmer eines Psychotherapeuten?

4. Meine Frau begleitete vor ein paar Jahren eine Schulklasse durch die Dachauer KZ-Gedenkstätte. Da bat ein Schüler sie beiseite und eröffnete ihr, sein Groß- vater sei auch hier gewesen als Gefangener und sei hier gestorben. Das dür- fe aber niemand wissen. Warum nicht? erwiderte meine Frau. Wieso könne er nicht stolz sein auf den Großvater? Die Eltern hätten es verboten, und der Nachbar habe gesagt, der Großvater sei nicht gehorsam gewesen.

5. Ich denke an eine bestimmte Klientin, Frau  B., über die ich in Wagnis Soli- darität genauer berichtet habe. Beide Großväter hatten sich den Nazis wider- setzt, der eine wurde umgebracht, der andere schmerzlich degradiert. Doch statt dass die Familie stolz gewesen wäre auf deren beispielhafte Haltung, war genau das Gegenteil der Fall: „Ein geringes Selbstwertgefühl, das hatten meine beiden Eltern. Was meine Mutter betrifft, so […] war (sie) ein gekränktes, un- sicheres Wesen.“ Und: „Wir haben es nicht geschafft, als Familie in Solidarität zu leben.“ Und: „Wir sind eine beschämte Familie.“ „Wieso das?“ fragte ich. „Ich bin durch die Wohnung gerannt und habe mir Vorwürfe gemacht, wieso ich mir jahrzehntelang um all das keine Gedanken gemacht habe, vor allem nicht um Oskar Fischer.“ Das war der im KZ brutal ermordete Großvater. Sie weinte. „Das hat etwas mit Scham zu tun. Mein Vater hat sich geschämt, un- ehelich zu sein. Und irgendwie hat er als Kind aufgeschnappt, dass mit seinem Vater Lebensgefahr verbunden war. Und dann im Westen hat er gemerkt, dass es ein No-Go war, einen kommunistischen KZ-Vater zu haben. Das forcierte das Tabu noch. Also hat er noch mehr geschwiegen – und sich geschämt. Das ist doch eine dicke Schamthematik.“ 2

6. Und mir steht ein 12-jähriger Junge von heute vor Augen, den es umtreibt, dass mehrere Vorfahren umgebracht wurden im Zusammenhang mit dem 20. Juli , und noch mehr, dass es niemandem gelang, Hitler zu töten. Wenn er selber doch sein Leben dafür hingeben könnte! Er spürt in der Schule keine Auf- nahmebereitschaft für die Gründe seiner Unruhe. Stattdessen wird die Mutter immer wieder hinzitiert wegen „Verhaltensauffälligkeiten“. Wäre das alles, was den Jungen so beschäftigt, denn kein Thema für eine Schule von heute? Wie ließe sich davon wenigstens einiges kommunizieren?

7. Eine seit Langem sich äußerst engagiert mit den seelischen Nachwirkungen der NS-Zeit befassende Gruppierung von Psychotherapeutinnen und Therapeuten stellte kürzlich mit Erstaunen und Beschämung fest, das Thema Widerstand bislang „übersehen“ zu haben.

8. Zusammen mit zwei Referentinnen des Evangelischen und des (katholischen) Münchner Bildungswerks habe ich seit 2012 eine Veranstaltungsreihe „Die langen Schatten der Kriege“ ins Leben gerufen, die auf große Nachfrage stößt. Dabei mussten aber die beiden in diesem Spektrum angebotenen Veranstal- tungen über den Widerstand und seine andauernden Folgen ausfallen wegen mangelnder Anmeldungen. Zufall? Wieso kein Interesse? Oder lag es an unse- ren Ausschreibungen? Wie aber müssten diese aussehen, um für die Bedeutung dieses Menschheitsthemas zu sensibilisieren?

Dies alles vor uns hingestellt, und das auch nur in einigen wenigen Beispielen – es ist doch eine Schande! Wie konnte und wie kann man so mit Menschen umgehen, deren Handeln zu den größten und bewegendsten Momenten der Menschheits- geschichte gehörte! Was war und ist denn nur los mit uns in der deutschen Mehr- heitsgesellschaft?

Dieses Erschrecken und diese Beschämung sind für meinen Beitrag Motivation und roter Faden. Zugleich gibt es auch anderes. Z. B.: Meine Frau ist dem Jungen wiederbegegnet, der sich ihr in der KZ-Gedenkstätte wegen seines Großvaters an- vertraut hatte. Sie begleitete einen Zeitzeugen an diese Schule, zweihundert Kin- der und Jugendliche, viele Lehrkräfte waren versammelt. Da tauchte kurz vor Be- ginn jener Junge bei ihr auf: „Ich habe es allen gesagt!“ Das war eine beglückende Erfahrung für sie und ebenso für mich. Wenn Resonanz da ist, dann können sich auch noch über Generationen hinweg verschreckte Menschen hervortrauen, die eigentlich so Wichtiges mitzuteilen haben. Dabei mitzuhelfen, ist die noch wich- tigere Motivation für diesen Beitrag.

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3 Erkenntniswiderstände gegen den Widerstand – ein psychoanalytisch inspirierter Zugang

Die zuvor gegebenen Beispiele aus meiner persönlichen Erfahrungsperspektive beleuchten ein großes Ausblenden des Widerstands im bundesrepublikanischen Alltag. Auch wenn inzwischen 20. Juli , Weiße Rose , Exponenten des Widerstands wie Dietrich Bonhoeffer weithin bekannt sind, so scheint doch das allgemeine Bewusstsein davon nicht sehr berührt zu sein, jedenfalls wenn es konkret werden könnte.

Meine Frau und ich haben in Dachau durch unser zeitgeschichtliches Engage- ment zahlreiche ehemalige Häftlinge aus dem KZ kennengelernt. Diese Erfahrun- gen bilden die Grundlage unseres Buches Wagnis Solidarität. Zeugnisse des Wi- derstehens angesichts der NS-Gewalt . Dabei haben wir uns intensiv mit der Frage befasst, wieso der Widerstand in der Nachkriegszeit so lange, zum Teil bis heute, beiseitegeschoben wurde. Wir haben dies, angelehnt an Ralph Giordanos Aus- druck „der große Frieden mit den Tätern“ bezeichnet als „das große ‚Vergessen‘“. Wir haben dort geschrieben:

Was mich immer an Freuds Psychoanalyse angezogen hat und es weiterhin tut, ist ihre Kapazität als kritische Wissenschaft. Das ist insbesondere ihre Lehre von den Abwehrvorgängen, mit denen Unliebsames oder (zeitweilig) nicht Erträgliches in unbewusste Bereiche abgeschoben wird. Gerade durch seine Unbewusstheit kann das dann im weiteren Verlauf sehr problematische Wirkungen entfalten.

Das ist durchaus auch dann möglich, wenn es sich dabei nur um einen von vielen jeweils beteiligten Faktoren handelt. Selbst wenn dieser z. B. nur 2 % aus- machen sollte, wird das unter Umständen entscheidend: 49 zu 51  % führen zu ganz anderen Ergebnissen als 51 zu 49 %. Das ist ein Vergleich, der mir gerade im Hinblick auf die Langzeitfolgen aus der NS-Zeit in den Sinn kommt und mit dem ich Einwendungen begegne, das alles sei doch „so lange“ her.

Und sehr wichtig an Freuds Psychoanalyse ist mir die von ihm geübte Selbstre- flexion, also das Einbeziehen der eigenen Psyche in die wissenschaftlichen Unter- suchungen. Diese Selbstreflexion bot ihm erste Zugänge zu bis dahin verschlosse- nen Bereichen des Unbewussten. Seine Analyse des Traums von Irmas Injektion in der Traumdeutung ist dafür der eindrücklichste Beleg.

Erfahrungen aus Theorie und Praxis der Psychoanalyse brachte ich mit, als ich 1982 mit meiner Familie nach Dachau kam, weil uns in München die Wohnung gekündigt worden war. An diesem Ort stellte ich mit erheblicher Beschämung fest, dass mir trotz zeitgeschichtlichen Interesses und intensiver Eigen- und Lehr- analysen ein tieferer Zugang zur NS-Geschichte versperrt geblieben war. Sogar mehr noch als das Wissen um meine persönliche Abstammung aus einer so ge- nannten Mitläuferfamilie betraf das die berufliche Seite. Bezüge zu den NS-Ver- brechen und dem Zweiten Weltkrieg waren hier nie thematisiert worden. Dies alles zu erkennen, löste eine erhebliche Identitätskrise aus.

Im Kontakt mit ehemaligen Häftlingen und zeitgeschichtlich Forschenden, in verschiedenen Aktivitäten in Dachauer Vereinen zur Zeitgeschichte, in gemein- samer Auseinandersetzung mit meiner Frau sowie in intensiver Selbstreflexion absolvierte ich dann so etwas wie eine erneute Lehranalyse.

Und ich habe praktische Konsequenzen gezogen und begonnen, mich in mei- ner psychologischen und psychotherapeutischen Tätigkeit mehr für mögliche seelische Nachwirkungen der NS-Zeit zu öffnen. Es war erstaunlich, was sich damals in meiner Arbeit am Kinderzentrum München, dem Sozialpädiatrischen Zentrum, alles zeigte, das heißt in Beratung und Therapie von Familien, die nicht wegen solcher Hintergründe gekommen waren. Während meiner Tätigkeit an ei- ner Münchner Erziehungs- und Familienberatungsstelle in diakonischer Träger- schaft von 1986 bis 2011 setzte sich diese Perspektive nahtlos fort. Das gleiche gilt für meine nebenbei geführte psychotherapeutische Privatpraxis. Für diesen Weg gewann ich wichtige Orientierungen gerade durch den Blick auf eigene Abwehr- vorgänge – Verleugnungen, Bagatellisierungen, Fehlleistungen.

Insgesamt bin ich auf diese Weise innerhalb meiner „normalen“, also nicht auf diese Themen gerichteten psychologischen Arbeit mit sämtlichen Hintergründen aus Krieg und Gewaltherrschaft befasst worden, also Verfolgtsein, Widerstand, Täterschaft, Mitläuferschaft, Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung, Soldatenvä- ter, Vergewaltigungen, Zwangsarbeit, allgemeine Desorientierungen. Das Span- nungsfeld im Hinblick auf diese Hintergründe ist enorm. Vieles wird heute gese- hen, manches aber noch zu wenig. Dazu gehört das Thema des Widerstands gegen Hitler und den Nationalsozialismus.

Im Folgenden werde ich versuchen, jenes fortwirkende „Vergessen“ des Wider- stands mit Hilfe des psychoanalytischen Widerstandskonzepts näher zu ergrün- den. Dabei benutze ich diesen Ansatz, der sich auf die therapeutische Situation bezieht, als Analogie.

In einem klassischen Werk zur psychoanalytischen Neurosenlehre steht kurz und bündig: „Widerstände drücken sich auf vielfältige Weise aus. Alles, was den Patienten daran hindert, unbewußtes Material zutage zu fördern, gilt als Wi- derstand.“ 4 Genau das ziele ich an: Indem ich jenes „Vergessen“ im Sinne eines Widerstands betrachte, möchte ich dahinter liegendes „unbewusstes Material“ sichtbar werden lassen. Weiter heißt es dort: „Ziel der Analyse ist es, dem Pa- tienten die störenden Reste der Vergangenheit in seinen gegenwärtigen Gefühlen und Reaktionen zu zeigen und die Gegenwart mit der Vergangenheit in Zusam- menhang zu bringen.“ 5 Auch hierzu gehe ich analog vor: Ich schaue auf heute noch vorkommendes „Vergessen“ (siehe die oben gegebenen Beispiele) und su- che nach Linien zur Vergangenheit. Was steckt hinter dem als Widerstand ge- sehenen „Vergessen“?

Widerstände werden also  –  ganz im psychoanalytischen Sinne  –  nicht aus- schließlich als etwas Negatives und deshalb zu Beseitigendes verstanden, sondern als mögliche Hinweisgeber auf Abgewehrtes, das dann vielleicht überwunden werden kann. Es geht mir dabei nicht um ein abstraktes Reich eines überzeitlichen Unbewussten, sondern um konkrete Vorgänge, die seinerzeit unbewusst gemacht wurden und die bis heute ein untergründiges Leben führen.

4 Verborgen Gehaltenes hinter den Widerständen gegen den Widerstand

Die real so katastrophale Lebenssituation nach Kriegsende, die Rolle der Besat- zungsmächte, den bald beginnenden Kalten Krieg, dabei besonders auch den zugespitzten Antikommunismus – diese historischen Hintergründe habe ich als Wirkfaktoren für die Ausgrenzung von Widerstand im Bewusstsein. Das waren aber offen sichtbare Umstände, die nichts mit ins Unbewusste abgeschobenen Vorgängen zu tun haben, um die es mir im Folgenden auf der psychologischen Ebene geht.

Vor was scheuen wir als NS-Nachfolgegenerationen auch heute noch zurück, wenn wir dem Widerstand von damals begegnen? Gesellschaftlich und indivi- duell? Was von unseren eigenen Untergründen soll dabei nicht sichtbar werden? Meine langjährigen Erfahrungen aus Therapien, Lektüre, verschiedensten Begeg- nungen lassen mich vor allem an die folgenden vier Bereiche denken.

4.1 Strukturelle Lügenhaftigkeit

Als Therapeuten sind wir eher wenig mit dem Thema des Lügens konfrontiert – so meinen wir. Menschen, die zu uns kommen, suchen ja gerade nach ihnen bisher verborgen gebliebenen Wahrheitszusammenhängen. Sie mögen immer noch viel verdrängen, verleugnen, abspalten – aber warum sollten sie lügen?

Wie sehr das NS-Reich ein einziges Feld der Lüge war, wird in der Allgemein- heit immer noch zu wenig gesehen. Die schlimmste und folgenreichste Lüge, auf der es aufbaute, war gar nicht von Hitler erfunden, aber er hat sie extrem zuge- spitzt, und viele Millionen sind ihm dabei gefolgt. Hermann Langbein, österrei- chischer Widerstandskämpfer – und das war er sogar noch an zentraler Stelle in den KZ Dachau und Auschwitz – hat es prägnant so gefasst:

Das alles basierte völlig auf Lüge. Hier war die Grundlüge, auf der ganz viel wei- tere Lügenhaftigkeit aufbaute. Im Wissen darum haben meine Frau und ich in unserem Buch Wagnis Solidarität von „struktureller Lügenhaftigkeit“ gesprochen. Wir meinten dies sowohl im Sinne einer allgemein-gesellschaftlichen Matrix als auch, in enger Wechselwirkung damit, einer individuellen Verhaftung im Lügen. Wir beschrieben es mit Blick auf das NS-Reich und die Folgen so:

Mir steht zu diesem Thema besonders plastisch das leider immer noch unver- öffentlichte Manuskript Rückblick auf Dachau des 1954 gestorbenen Karl Ludwig Schecher vor Augen. Als Jurist hatte er sich gegen das NS-Reich gewandt und kam deshalb 1935 ins KZ Dachau und musste dort bis zur Befreiung bleiben. Nur knapp entging er dem Tod. Schließlich wurde er Schreiber der Sicherheitswerk- stätte und bekam in dieser Funktion ungewöhnliche Einblicke in das Lagerleben. Das hat er nachher genau beschrieben. Dabei sind seine Mitteilungen über die abgrundtiefe Verlogenheit ganz vieler SS-Leute, vom Wachmann bis zum Kom- mandanten, von höchster Bedeutung. Nur ein Zitat: „Fast die ganze SS aller Kate- gorien mit wenig Ausnahmen war oder wurde immer mehr käuflich. […] Nicht nur in allen Werkstätten wurde schwarz gearbeitet oder wie es in der Lagersprache hieß „gepfuscht“ […]. Das Stehlen und Organisieren im Lager nahm unglaubliche Ausmaße an.“ 8 Die „Währung“ dafür bestand hauptsächlich aus den Lebensmit- teln, die dem Lager zugeteilt waren, also ergab sich: „Daß diese Schieberei letzten Endes zum größten Teil auf Kosten der Ernährung der Häftlinge ging, war die üble Kehrseite dieser Zustände.“ 9 Also wieder einmal: Andere, Schwächere hatten zu bezahlen.

Und nochmals verstärkte sich das System des Lügens, als das Ende des NS- Reichs absehbar wurde. Das Schweigen und Leugnen nach dem 8. Mai, hier hatte es schon seine Vorbereitung.

Basierend auf der zuvor angesprochenen tiefsten Lügenhaftigkeit des „Dritten Reichs“ sind diese hier nur anzudeutenden „Zustände“ aus dem KZ Dachau ein Abbild der strukturellen Lügenhaftigkeit im damaligen Alltag. Das durchdrang alle Bereiche.

Was aber sind die Folgen von alldem? Gerade indem diese völlig abgründige Verlogenheit des NS-Reichs nachher – auch von den Kirchen – weitgehend un- ter den Teppich gekehrt wurde, besteht einiges davon untergründig weiter, ge- sellschaftlich, aber auch in uns und zwischen uns in unseren Beziehungen. Die verbreitete Ablehnung, den damaligen Widerstand wirklich anzuerkennen, dient dazu, Fortführungen von Lügenhaftigkeit aus dem Bewusstsein auszublenden.

4.2 Kontinuitäten der Gewalt

Weiterwirkungen von Traumatisierungen auch über Generationengrenzen hin- weg sind inzwischen bis in die Allgemeinheit ein vielbeachtetes Thema. Ganz an- ders sieht es aus, wenn die Frage gestellt wird, ob nicht auch auf Seiten der Täter und ihrer Nachkommen Analoges bestehen könnte als transgenerationale Weiter- gabe von Gewaltsamkeit. Täter haben weitergemacht, wo es für sie gefahrlos mög- lich war, also besonders im „Schoß der Familie“. 10 Das ist die Quintessenz meines Buches von 1994 Geschichte in uns . In dessen Mittelpunkt standen Klientinnen, die sexualisierte Gewalt durch ihre Väter oder auch Großväter hatten erleiden müssen. Diese Erkenntnisse stießen damals in der öffentlichen Wahrnehmung auf einige Zustimmung, aber auch heftige Ablehnung – und vor allem auf Schweigen.

Eher noch polarisierter wurde dann gut zehn Jahre später die These aufgenom- men, es könne auch so etwas wie Kontinuitäten von Täterhaftigkeit bzw. entspre- chende transgenerationale Weitergaben geben. Gemeint war dies zusätzlich zu der mittlerweile bekannten Tatsache, dass sich aus dem Erleiden von Gewalt später häufig eigene Gewaltausübung entwickelt – die Opfer werden dann selber zu Tä- tern. Hinter jener These stand als auslösende Erfahrung das Bild eines Mannes, zu dessen Identität es zentral zu gehören schien, eine bestimmte Szene der kriege- rischen Gewaltausübung seines Soldatenvaters zu wiederholen, natürlich in Ab- änderungen, aber in einer Kontinuität von Gewaltsamkeit.

Noch eine Stufe weiter: In einem Buchprojekt, das gerade zur Veröffentlichung kommt 11 , haben zwei Soziologinnen, eine Künstlerin, eine Psychoanalytikerin und ich in einer intensiven gemeinsamen Arbeit verborgene Gewaltdimensionen von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ in ihrem spezifischen NS-Bezug unter- sucht. Wir sprechen von fatalen, das heißt zutiefst tötungs- bzw. vernichtungsori- entierten Männlichkeiten und damit eng verwobenen kollusiven Weiblichkeiten.

Dabei sind wir – leider – an Hitler nicht vorbeigekommen. Wir stießen in den Quellen auf so furchtbare Äußerungen von ihm, dass es eines großen Zusammen- stehens untereinander bedurfte, um davor nicht wegzulaufen. Nur so konnten wir den Widerstand, uns damit näher zu befassen, Schritt für Schritt überwinden. Das war ein sehr beklemmender, dann aber auch befreiender Prozess.

Es ging nicht „nur“ um Tötung, sondern von vornherein um Vernichtung. Freuds Konzeption unbewusster Todeswünsche ist schon „ungemütlich“ genug und wird deshalb oft „vergessen“. Doch Hitler hat von vornherein Vernichtung angezielt. Hier liegt ein fundamentaler Unterschied. 12

Zugleich ging uns auf: Unsere Vorfahren haben von Hitlers eiskalten Absichten wissen können, denn die meisten von ihnen hat er öffentlich kundgetan, etwa in Mein Kampf . Die Äußerungen, die wir untersuchten, nahmen wir allesamt aus der Zeit von vor 1933. Also sind ihm die vielen Millionen, die ihm bis dahin in freien Wahlen ihre Stimme gaben, trotz dieses tatsächlichen oder zumindest irgendwie ahnbaren Wissens gefolgt. Sie haben, wie deutlich oder unklar auch immer, diese Absichten billigend in Kauf genommen. Das ist unheimlich bis heute. Auch mit Blick auf uns selber. Was davon hat Wirkungen bis heute? Gerade wegen der nach 1945 erfolgenden Verleugnung der Vernichtungsbereitschaft?

Bei solchen Fragen setzen häufig automatisierte Entschuldungsrituale ein. Da steht mir als Kontrast der junge Arbeiter Sepp Schober vor Augen. Er machte sich in den 20er Jahren selbst ein Bild, ging in Versammlungen der verschiedenen Parteien:

„Und nachdem ich dann Hitlers Buch ‚Mein Kampf ‘ gelesen hatte (vor allem dieses Kapitel 14 ‚Ostpolitik‘), da war mir ganz klar: Wenn die nur einen Teil des- sen, was in dem Buch gestanden hat, verwirklichen wollten, dass es dann ganz einfach zum Krieg, zur Katastrophe kommen musste. Das war für jeden Leser un- missverständlich.“ 13 Sepp Schober wurde Sozialdemokrat, kämpfte nach 1933 in der Illegalität gegen die Nazis, kam von 1935 bis 1937 ins KZ Dachau. Nach 1945 war er ein großes Vorbild auch für die Jüngeren in Gewerkschaft und SPD.

4.3 Schlechtes Gewissen, zerstörte Identität

„‚Das habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht getan haben‘ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich  –  gibt das Gedächtnis nach.“ 14 Mit diesem bekannten Nietzsche-Zitat wird auch das Thema des Gewissens scharf be- leuchtet. Wie sind „gewissenhafte“ Menschen nach 1945 mit ihrer Verstrickung in das NS-System und seine Verbrechen umgegangen? „Gewissenhaft“ meine ich im doppelten Wortsinn, nämlich als gründlich, genau, vor allem aber als „mit Gewissen behaftet“. Und wie wirkte sich das dann auf ihre Wahrnehmung bzw. Ausblendung des Widerstands aus? Konnte dabei unter Umständen ihre Gewis- sen-Haftigkeit später sogar eine Quelle sein, der Wahrnehmung des Widerstands aus dem Weg zu gehen? In der Psychoanalyse wird das Über-Ich sowieso schon seit Langem als teilweise unbewusst begriffen. Um wieviel mehr dürfte das hier gelten.

Ich bin meinem kreativen Unbewussten sehr dankbar für einen erschreckenden Traum, den es mir in den Anfangszeiten meiner Beschäftigung mit den NS-Zeit- Folgen bescherte. Ich wusste im Traum, dass ich einen Menschen getötet hatte. Schlagartig war mir klar: Das verändert mein Leben von Grund auf; ich bin nicht mehr derselbe wie vorher, und nie werde ich dorthin zurückkehren können. Nie mehr werde ich ein gutes Gewissen, ein gutes Gefühl von mir selbst haben. Der Traum zeigte also einen tiefen Bruch in meiner Identität auf. Sie war zerstört. Die- ser Traum eröffnete einen plastischen Zugang zu dem, wie es eigentlich in Millio- nen ehemaliger „Volksgenossen“ hätte aussehen müssen – nur wurde es von den allermeisten radikal beiseite und ihren Nachkommen zugeschoben. 15

Das ansatzweise psychologische Verstehen allerdings ist nicht mit einem Ent- schuldigen zu verwechseln. Im Gegenteil: Den „Preis“ für diese „Entsorgungs- aktion“ hatten in allererster Linie die überlebenden Verfolgten in Form ihrer Aus- grenzung zu zahlen. Für die ehemaligen Volksgenossen war die Leugnung eigener Nazi-Beteiligung gefährdet durch die Existenz von Menschen, die tatsächlich widerstanden oder sich widersetzt hatten. Und das kann wirksam sein bis heute und sich unter Umständen in den verschiedensten Beziehungen auswirken. Noch nach Generationen scheinen in Nachkommen der Täterseite Alarmglocken an- zuschlagen, wenn ihnen Anzeichen von Widerstandslinien aus dem Damals ent- gegentreten.

Allerdings: Oft fühlen sich gerade nicht diejenigen schuldig, die dafür den meis- ten Grund hätten, also in diesen Zusammenhängen Täter*innen im engeren Sinn. Das haben dann andere zu übernehmen. Zu denken ist hier besonders an be- drückende Gefühle so genannter „Überlebensschuld“ auf Seiten ehemaliger Ver- folgter.

Flucht vor dem Gewissen , so heißt ein Buch des bedeutenden Psychoanalyti- kers Léon Wurmser. Darin beschreibt er auf der Grundlage langjähriger thera- peutischer Erfahrungen die Rolle des Über-Ichs beim Zustandekommen schwerer seelischer Störungen. Zentral sind hier die vielfältigen Konflikte innerhalb und rund um diese Gewissensinstanz. Vieles davon ist ins Unbewusste abgedrängt und entfaltet gerade deshalb zerstörerische Kräfte. Die ganze Persönlichkeit ist eingeschlossen. Ebenso sind es die interpersonellen Kontakte. Flucht vor dem Gewissen, dieser Ausdruck beschreibt treffend, was Millionen ehemaliger Volks- genossen nach 1945 vorgenommen haben. Dazu gehörte auch ihr Umgang mit überlebenden Verfolgten. Nicht nur aus „Gewissenlosigkeit“ schoben sie diese weitgehend ins gesellschaftliche Abseits, nein, oft waren es gerade die ihnen un- aushaltbar vorkommenden Stimmen ihres Gewissens, die sie zu diesem Mittel greifen ließen – auf Kosten anderer. Aber das hatte ja sowieso Tradition.

„Er war der mildeste Mensch, den ich je erlebt habe.“ So äußerte sich ein Klient über seinen Großvater. Zugleich teilte er mit, dass dieser Mann an einer Schalt- stelle des NS-Terrors tätig war einschließlich eigener Ausführung von Morden. Wie sich auf Nachfragen herausstellte, handelte es sich um einen von Haus aus sehr gebildeten und sicherlich „gewissenhaften“ Mann. Sein Sohn hat von der Verbrechensbeteiligung erst relativ spät Kenntnis bekommen und das auch erst durch die spät erfolgenden Gerichtsverfahren, sei aber selber ein „Meister des Verdrängens“, so sagt es der Enkel, mein Klient. Erst dieser hat genau nachge- forscht. Tiefe Schatten liegen über seinem Leben, persönlich, beruflich, finanziell. Da sind Selbstzweifel, Einsamkeit, Depressionen, extreme Aggressionshemmun- gen, Suizidalität …

Hier ist etwas sehr Beklemmendes angesprochen: Auch in manchen „eiskal- ten Tätern und Täterinnen“ hatte es eine ausgeprägte Gewissensbildung gegeben. Gerade aus deren Ausrichtung auf „höhere“, auf absolut gesetzte Ziele resultierte es dann oft, gnadenlos „im Dienst an Führer, Volk und Vaterland“ Mitmenschen zu vernichten. 16 Sehen wir eigentlich, wie sehr das, was wir für unser Gewissen halten, immer noch von solchen Linien kontaminiert sein kann? Und dass unser Beiseiteschieben des Widerstands, der zu den größten und bewegendsten Mo- menten der Menschheitsgeschichte gehört, genau darauf verweisen kann? Dabei geht es nicht nur um massive Täter wie jenen Großvater, vielmehr stehen mir aus Therapien auch Vorfahren vor Augen, die das Glück hatten, nicht direkt an Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Aber auch hier konnten sich Gewissens- brüche über Generationen fortpflanzen und dann noch bei ganz liberalen und aufgeschlossenen Zeitgenossen die Berührung mit Menschen und Nachkommen des Widerstands erschweren.

4.4 Bezüge zum Mitmenschen oder: „Us and Them“ oder: Verweigerte Liebe

Ein britischer Künstler, Ivan Riches, mit dem ich zusammenarbeite, plante ein Projekt zum Thema „Us and Them“. Er wollte Interviews in Deutschland führen über Familienerinnerungen an die zerrissenen 20er Jahre und in England zu Be- findlichkeiten angesichts des Brexits. Seine Installation sollte beides in Bezug zu- einander setzen. Das war eine hochinteressante, aber zu ambitionierte Idee. So wurde daraus schließlich „Surroundings“, also „Umgebungen“ oder auch „Behei- matungen“.

Da mich das ursprüngliche Thema aber nicht losließ, forschte ich etwas in der Literatur nach und stieß auf Jason Stanleys Buch How Fascism works. The Politics of Us and Them . Darin wird dargelegt, wie gerade das Aufteilen von Menschen in „us“ and „them“, in „wir“ und „die da“ ein zentrales Merkmal faschistischer Politik ist, und zwar weltweit und schon seit Langem, auch in den USA. 17 Diese weite Perspektive einzunehmen, ändert allerdings nichts an der Beispiellosigkeit des Nationalsozialismus.

Den Bezug zum Mitmenschen als eine grundlegende Verbundenheit haben die Nazis so extrem zerstört, dass es vielfältige Wirkungen bis heute hat. Aber bei den Menschen, die damals widerstanden, hat wohl gerade dieser Bezug zum An- deren eine zentrale Bedeutung gehabt. Widerstehen und Widerstand gegenüber dem NS-Regime erfolgte aus den verschiedensten Beweggründen. Als Psychologe fokussiere ich hier auf die individuellen Motive, ohne allerdings die politischen Zielsetzungen zu übersehen. Was bewegte diese Menschen ganz persönlich? Vor allem dabei in ihrem ethischen Empfinden? In ihrer Einstellung zu den anderen Menschen? Und liegt nicht gerade in ihrem Einsatz für die Mitmenschen ein zen- traler Grund für das Wegschieben, das „Vergessen“ des Widerstands von damals? Bis hin zu verweigerter Liebe?

5 Jenseits der Widerstände – Stimmen von Verfolgten

Einige solche Stimmen wurden bereits genannt. Auch wenn entsprechend dem gewählten Thema die andere Seite, die der Abwehr, den meisten Raum in diesem Beitrag einnimmt, so bilden doch Zeugnisse der Verfolgten sein Zentrum, mit ihrem Einsatz für andere, ihrer Weitsicht, ihrer Liebe …

„Das größte Problem ist die Wiederherstellung des einfachen menschlichen Anstands.“ Dieser Satz von Carl Friedrich Goerdeler stammt aus einer Bespre- chung mit Dietrich Bonhoeffer.

„Das ‚Du sollst nicht töten‘ ist das erste Wort des Antlitzes. Das aber ist ein Gebot. In der Erscheinung des Antlitzes liegt ein Befehl, als würde ein Herr mit mir sprechen. Dennoch ist das Antlitz des Anderen zur gleichen Zeit entblößt; hier ist der Elende, für den ich alles tun kann und dem ich alles verdanke. Und ich, wer immer ich auch bin, aber ich als jemand ‚in der ersten Person‘, ich bin derjenige, der über die Mittel verfügt, um auf diesen Ruf zu antworten.“ 18 Das stammt von dem französischen Philosophen Immanuel Lévinas, der in einem deutschen Gefangenenlager war und zahlreiche Angehörige im Holocaust ver- loren hat.

„Wärme und Liebe können sich nur dort entwickeln, wo klare Verhältnisse bestehen, wo wirklich miteinander geredet wird, ohne die Belastungen aus der Vergangenheit auszuklammern. Anders geht es nicht.“ So hat es die aus Ungarn stammende Auschwitz-Überlebende Hanna Mandel im Jahr 2000 in einem Ge- spräch ausgedrückt. Verfolgt war sie als Jüdin, und ihre ganze Familie wurde dort umgebracht. Widerstand konnte sie als damals 12-Jährige nicht leisten, aber man kann sagen, sie hat es in ihrem ganzen weiteren Leben getan, indem sie nach- forschte, wie es zu dieser Menschheitskatastrophe kommen konnte. Dabei hat sie sich viele Gedanken über Erziehung gemacht. Etwa diese:

6 Schlussfolgerungen: Bildung zum Widerstehen?

Es gibt nicht nur transgenerationale Weitergaben von Traumata, sondern eben- so von Täterbezügen, von Schuld und Wegschauen – und auch von Linien des Widerstehens. Nur werden diese bisher wenig wahrgenommen. Solche Über- mittlungen verlaufen nicht immer geradlinig nur auf einer der Spuren, sondern es können vielfältige Mischungen oder Überlagerungen auftreten. Wie vollzie- hen sich diese Weitergaben? Das kann bis in körperliche Vorgänge im Sinne der Epigenetik gehen und vor allem in verschiedenen Stadien der Entwicklung erfolgen in Form von Internalisierungen und Identifizierungen. Und es ist auch an das lernpsychologische Konzept des Lernens am Modell zu denken. Was sind nun vor diesen Hintergründen Möglichkeiten einer Bildung zum Wider- stehen?

1. Im Sinne des in diesem Beitrag Dargestellten sind strukturelle Lügenhaftigkeit, Verstrickung in extreme Gewalt, Korrumpierung des Gewissensbereichs, ver- weigerte Mit-Menschlichkeit als Einflussfaktoren zu berücksichtigen, die ein Widerstehen gegenüber Menschenfeindlichkeit verhindern.

2. Prägungen aus der Familiengeschichte sind kein blindes, unveränderbares „Schicksal“. Nur auf sie zu fokussieren, würde heutige Einflussmöglichkeiten ausblenden – und die gesellschaftliche Verantwortung.

3. Was heißt hier aber „Einfluss“? Letztlich doch Pädagogik mit dem Zeigefinger, die „gut gemeinte Konzepte des Widerstehens“ überstülpt? Nein, gefragt ist vor allem Selbstreflexion, und das auch auf Seiten der „Bildenden“.

4. Gerade in der Massivität der angesprochenen Faktoren – strukturelle Lügen- haftigkeit, Vernichtungsorientierungen, zerstörtes Gewissen, verweigerte Lie- be – liegt ein entscheidendes Argument für solche Selbstreflexion. Sie verleiten zwar dazu, mit dem Finger auf andere zu zeigen, aber das erweist sich meist als wenig hilfreich. Anders ist es, wenn wir uns damit auseinandersetzen in einer immer wieder neu zu erringenden Balance von Fremd- und Selbstbetrachtung. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um sich menschenfeindlichen Aktivitäten authentisch entgegenzustellen.

5. Dafür braucht es so etwas wie eine haltende, freundliche Umgebung, in der wir uns trotz dunkler Seiten grundsätzlich akzeptiert fühlen können – aber unter der Voraussetzung, dass wir ihrer gewahr sind. Dann können auch Nachgebo- rene der Täterseite das Zeugnis der Menschen aus dem Widerstand aushalten und gemeinsam mit dessen Nachkommen daran arbeiten, dieses humane Erbe zu sichern und weiterzutragen.

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Literatur

Bildung zum Widerstand – eine Herausforderung für heute
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Juliane Beate Sagebiel

Widerstand ... in Liebe zur Welt nachdenken

1 Einleitung

Schlägt man die Zeitung auf oder lädt die aktuellen News, dann geht es um die Themen Klimawandel, Datensicherheit, politisch motivierte Gewalt, Fremden- hass und wieder einmal um Antisemitismus, manchmal auch um Frauenrechte und Geschlechtergerechtigkeit. Die Welt scheint gespalten zwischen progressi- ven und konservativen Kräften, die an die Herrschenden die Machtfrage stellen. Überall in der Welt demonstrieren die Menschen für ihre Rechte – in Hongkong, Paris, Berlin, Lateinamerika, Afrika und Osteuropa. Das zugrundeliegende Mus- ter in den geschilderten Szenarien ist Widerstand gegen empfundenes Unrecht, verbunden mit der Vorstellung, dass eine bessere Welt möglich und machbar ist. Denn „überall in der Welt glauben die Menschen an politische Ideen. Weil sie arm sind, sich abgehängt fühlen, hassen oder sich eine bessere Zukunft wünschen.“ 1 Die Menschen haben das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der Politi- ker*innen verloren ebenso wie in die Fairness der Wirtschaft und in die Unab- hängigkeit der Wissenschaft, deren bemühte Erklärungsversuche für die komple- xen Zusammenhänge unverstanden bleiben. 2 Sie sind verunsichert, fühlen sich bedroht und finden sich in der Welt nicht wieder. Ihre Lebenswelten haben sich verändert, sie sind von einer gerechten Verteilung des Reichtums ausgeschlossen und müssen zusehen, wie die Mächtigen die Umwelt ausbeuten und zerstören. Die Stimmungslage bildet den idealen Nährboden für Demagog*innen und Popu- list*innen, die in der Rückkehr zur alten Ordnung die Lösung der Krise sehen. Ihre simplifizierenden Welterklärungen sind geprägt von einer pikanten Mi- schung aus Nationalismus, Rassismus, Antifeminismus und Anti-Globalisierung. Gegen die völkische Rebellion und ihre Heilsversprechen formiert sich aber auch lautstarker Widerstand in der Zivilgesellschaft. Sie bewegt die Sorge, „dass es um die demokratischen Verhältnisse nicht gut bestellt sei“ 3 und die Demokratie ver- teidigt werden muss.

Um was es da geht, ist eine deutliche Veränderung der politischen Kultur durch das Erstarken rechter und nationalkonservativer Kräfte in der Republik, durch die Erosion alter Volksparteien, den Verlust des Vertrauens in die Politik und in ihre Institutionen. Widerstand gegen die Angriffe auf die Demokratie durch die erneut zur einflussreichen politischen Kraft erstarkten Rechten füllt die Feuil- letons mit Beiträgen bekannter Publizist*innen und Intellektueller. Nur mit der durchschlagenden Kraft der Vernunft sei, wie Adorno es in seinem Vortrag 1967 über „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ (Neuauflage 2019) angesichts des damaligen Einzugs der NPD in sechs Landesparlamente beschrieb, der Gefahr rechter Ideologien und Bewegungen entgegenzutreten. Seine Gedanken zu den gesellschaftlichen Voraussetzungen für das Erstarken der rechten Kräfte zeigen erstaunliche Parallelen zum Wahlerfolg der AfD, die mit 91 Sitzen im Bundestag vertreten ist. Selbstbewusst bemerkt der Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland nach den Landtagswahlen 2019 in Sachsen (Wahlergebnis für die AfD: 27,9 %) und Brandenburg (23,5 %) in der Talk-Runde Anne Will am 2. September 2019: „Wir sind die neue bürgerliche Volkspartei“, denn „wir sprechen aus, was andere Parteien nicht sagen“. Sprache, Worte und Symbole sind die strategischen Mit- tel, mit denen die Rechte das Denken, die Einstellungen, die Emotionen und das Verhalten ihrer Wähler und Wählerinnen beeinflussen. Diese politische Strategie ist schlichte Propaganda: Durch Verfälschung, Vereinfachung, Generalisierung, plumpe Lügen, Dramatisierung politischer Zustände werden Ängste geschürt, Untergangszenarien heraufbeschworen und Kritiker*innen der Bewegung als Feinde diffamiert. Das Konzept des Rechtspopulismus (wobei die Grenzen zum Rechtsradikalismus fließend sind) teilt die Welt in „wir“ und die „anderen“, in „die da oben“, die das Volk betrügen, und „die da unten“, die nicht gehört werden, darum muss gegen das politische Establishment Widerstand geleistet werden –  es- tablishment-bashing .

2 Aus aktuellem Anlass – Was ist Widerstand?

Der Widerstand der Brexiteers gegen die EU hat zum Erfolg geführt. Boris Jon- sons Triumph, so schreibt Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung am 14./ 15. Dezember 2019 im Leitartikel, „ist das Ergebnis seines über Jahre währenden Fischzugs durch die Gewässer der Unzufriedenen und Lamentierenden.“ 4 Und weiter: „Die Brexit-Jahre haben gezeigt, was Polarisierung und Radikalisierung mit einer Demokratie anstellen: Sie haben das britische Klassen- und Machtsys- tem grundlegend verändert.“ 5 Es bleibt abzuwarten, ob sich in absehbarer Zeit Wi- derstand gegen Johnsons Politik regt. Auch in den USA durchzieht eine Spaltung die Gesellschaft. Die Demokraten streben ein Amtsenthebungsverfahren gegen den amtierenden Präsidenten Donald Trump an. Sie üben mit rechtlichen Mitteln Widerstand, während die Republikaner ihre Macht in Gefahr sehen und gegen dieses Vorhaben vehement zu Feld ziehen. Die deutsche Regierung verabschiedet Maßnahmen gegen die rechte Hetze im Netz angesichts des antisemitischen Vor- falls in Halle, sie will der Gefahr von Rechts widerstehen und die demokratische Grundordnung schützen.

Der antisemitische Gewaltakt gegen die Synagoge Halle hat gezeigt, zu welchem Widerstand rechtsextreme Kräfte in ihrem Hass gegen das System (die Demokra- tie) entschlossen und fähig sind. Der Täter benannte seine Motive zweifelsfrei als antisemitisch, antifeministisch und rassistisch, unbestritten die Grundgedanken faschistischer Ideologie. 6 Die Republik ist mit der Gewalt von Rechts herausgefor- dert wie auch von radikalen Protesten der Linken. So störten die Proteste linker Aktivisten im Oktober 2019 die Vorlesung des AfD-Mitbegründers und Wirt- schaftsprofessors Bernd Lucke an der Universität in Hamburg mit dem Slogan „Kein Recht auf Nazipropaganda“ derart, dass die Vorlesung abgebrochen werden musste. Ist die Meinungsfreiheit als Grundrecht bedroht? Kommunalpolitiker*in- nen rechter wie linker Couleur werden Opfer von Beschimpfungen, rassistischen Hassbotschaften im Netz und tätlichen Angriffen. Die Zahlen aus verschiedenen Bundesländern zeigen, dass die AfD am stärksten von Angriffen auf Mitarbei- ter*innen und von Sachbeschädigungen betroffen ist. 7 Im Januar 2019 wurde der AfD-Bundestagsabgeordnete Frank Magnitz in Bremen von Unbekannten ange- griffen und verletzt.

In der tagesschau vom 11. Dezember 2019 ist von durchschnittlich drei An- griffen pro Tag die Rede. Die politische Gewalt gegen Vertreter*innen des Staa- tes nimmt zu und schreckt auch nicht vor Mord zurück. So wurde am 2. Juni 2019 der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von einem vermutlich rechtsextremen Täter wegen seiner Äußerungen zur Aufnahme von Flüchtlin- gen ermordet. Bundespräsident Steinmeier sieht in den Bedrohungen von Kom- munalpolitiker*innen eine Krise der Demokratie, denn es fehle an Akzeptanz für staatliche Strukturen, und er betont, „dass es nicht Angriffe auf einzelne Personen sind, sondern dass die Wurzeln der Demokratie angegriffen sind.“ 8 Gegen den Widerstand der Rechten und Neonazis wie auch den der Linksradi- kalen und Autonomen, der sich beispielsweise regelmäßig am 1. Mai in Berlin und Hamburg äußert, hat der Staat das Recht und die Pflicht, diesen abzuweh- ren. Denn Gruppen, die ideologische, völkische oder nationalistische Positio- nen vertreten, lehnen den demokratischen Pluralismus ab und verstoßen damit gegen die Grundrechte der Verfassung, insbesondere gegen Art.  1 Abs.  1  GG („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) und Art. 3 Abs. 1 („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“).

Ein weiteres Beispiel für ein spannungsreiches Kräfteverhältnis, das Widerstand auf Seiten neokonservativer und fundamental-religiöser Gruppen auslöst, sind die Themen Feminismus und Gleichstellungspolitik. „Um den Fachbegriff Gender ist ein neuer Kulturkampf entbrannt, neokonservative und rechte Kräfte ziehen europaweit gegen eine liberale Geschlechterpolitik zu Felde.“ 9 Gendergerechte Sprache ist für sie Meinungszensur und eine Gängelung der verhassten Elite. Sie fordern die Rückkehr zu einem traditionellen Familienbild und propagieren ein biologisch determiniertes Rollenmuster der Geschlechter. Dagegen positionieren sich liberale und feministische Kräfte, die die Errungenschaften der Frauenbewe- gung vehement verteidigen.

Rechte Kreise propagieren eine Rückwärtsgewandtheit, die in der Politik und im Kulturbetrieb ihren Ausdruck findet, beispielsweise in Nostalgiefilmen wie „Ku’damm 56“, in der Architektur des Wiederaufbaus des Berliner Schlosses, in der Konjunktur dystopischer Literatur wie „Der Circle“ und auch in der Mytho- logisierung nationaler Geschichte. 11

Und dann ist da noch der Kampf ums Klima. Am Rande der Klimakonferenz in Madrid 2019 demonstrierten Jugendliche der Bewegung „Youth for Future“ vehe- ment gegen die Ignoranz der Regierenden und sogenannten Klimadiplomaten, deren Entscheidungen und halbherzigen Kompromisse sich primär an nationa- len ökonomischen Interessen orientieren. Der Widerstand der Klimaverunreini- gungsprofiteure ist ebenso vehement. Da verabschiedet sich die USA von den Kli- mazielen des Pariser Abkommens, Vereinbarungen werden nicht eingehalten, auf Konferenzen verhärten sich die Fronten, sodass überhaupt keine klimarelevanten Absprachen (mehr) möglich werden, und die Jugendlichen von „Fridays for Futu- re“ werden angemahnt, am Freitag nicht die Schule zu schwänzen.

Diese Beispiele zeigen nur – und sie wären um viele weitere Szenarien zu er- gänzen, in denen gegensätzliche Interessen und Überzeugungen aufeinanderpral- len –, dass Widerstand eine Fülle von Fragen aufwirft, die es nicht leicht macht zu beurteilen, ob der Widerstand legitim oder illegitim ist und was Widerstand ist.

Widerstand kann allgemein als eine Form der politischen Auseinandersetzung mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen beschrieben werden, in der Gruppen oder Einzelne für ihre Rechte und Anliegen streiten oder für die verletzten Rechte anderer. Bei näherer Betrachtung zeigt der Begriff ein vieldeutiges Bild. Er wird sowohl vom rechten wie vom linken politischen Spektrum in Anspruch genom- men. Alle, ob Klimaschützer*innen, Europabefürworter*innen oder Autonome, bezeichnen die Motive und Ziele ihres Widerstands als gerechtfertigt. Aber auch radikale, gewaltbereite Gruppen wie die RAF, der NSU oder der IS sehen sich im Recht, wenn sie mit Gewalt das „verhasste“ System vernichten wollen. Was sie trotz ihrer gegensätzlichen politischen oder ideologischen Haltung eint, ist der gewaltlose oder gewalttätige Widerstand gegen herrschende Verhältnisse, die sie als ungerecht, unmoralisch oder freiheitsbegrenzend wahrnehmen. PEGI- DA-Anhänger berufen sich ebenso auf das Recht zum Widerstand wie ihre Geg- ner. Doch wer leistet legitimen, wer illegitimen? In der Bundesrepublik Deutsch- land ist das Recht auf Widerstand in Art. 20 GG garantiert. Widerstand ist dann zulässig, wenn es um die Wahrung und Einhaltung verbriefter Rechte für die Bürger*innen geht, bedroht durch die Politik (Vorenthaltung von Rechten), be- droht durch wirtschaftliche Interessen (Konzernkonzentration) oder die Religion (Herrschaftsanspruch bestimmter Werte). 12 Illegitimer Widerstand ist jener, der die Grund- und Freiheitsrechte beschneidet, die Menschenwürde verletzt und die Meinungsfreiheit durch Hassparolen (auch und heute vor allem in den sozialen Netzwerken) missbraucht. Zivilgesellschaftliches Engagement steht nicht selten den Interessen und Privilegien der Eliten gegenüber, doch „Gesellschaften ent- wickeln sich dadurch weiter, dass Privilegien bekämpft und abgebaut werden, die Veränderungen blockieren und bekämpfen.“ 13 Die Feudalherrschaft der Aristo- kratie in Frankreich wurde mit Gewalt gestürzt; Amerika, Afrika und Asien führ- ten Befreiungskämpfe gegen die europäischen Kolonisatoren. Sie alle wurden von den Herrschenden ihrer Zeit als Terroristen bekämpft. Im historischen Rückblick jedoch waren sie die Triebkräfte, die den sozialen Wandel in der Gesellschaft hin zu Demokratie und einklagbaren Rechten unabhängig von Stand, Geschlecht und religiöser Zugehörigkeit beschleunigt haben. Auch die sozialen Bewegungen des 19. und 20.  Jahrhunderts wie die Arbeiter- oder Frauenbewegungen erreichten durch ihren Widerstand gegen die Eliten die Abschaffung der Kinderarbeit, die Verkürzung der Arbeitszeiten, den Zugang zu Bildung für alle, die Einrichtung eines Gesundheits- und Sozialfürsorgewesens. Aber in ihrer Zeit wurde ihr Pro- test von den Herrschenden (Männern) als illegitimer Widerstand gegen Sicher- heit und Ordnung wahrgenommen und kriminalisiert. Zu fragen wäre an dieser Stelle, was motiviert Akteure des Widerstands zu ihrem Widerstand?

3 Widerstand als Verantwortung für eine bessere Zukunft

Auch die Akteure der neuen sozialen Bewegungen wie die Friedensbewegung, Attac, Greenpeace und Amnesty können aus demokratischer Perspektive als Pro- tagonisten des sozialen Wandels gesehen werden. Ihre Empörung basiert auf der Vorstellung einer gesellschaftlichen Utopie, dass eine bessere Zukunft möglich ist. Die Enthüllungen der Whistleblower wie Edward Snowden und Julian Assange über weltweite Überwachungspraktiken und Datenmissbrauch durch Regierun- gen zeigen Missstände auf, die von öffentlichem Interesse sind, aber ihr Wider- stand wird von den betroffenen Regierungen als illoyaler, staatsfeindlicher Akt verurteilt. Doch mit ihren Enthüllungen und kritischen Beiträgen tragen sie zu mehr Datensicherheit und zur Wahrung der Privatsphäre bei. In autokratischen und diktatorischen Regimen werden Journalist*innen verfolgt und ermordet, weil sie den Mut haben, Rechts- und Menschenrechtsverletzungen anzumahnen. Im „Jahr 2018 sind weltweit 63 Journalisten in Ausübung ihrer Tätigkeit getötet worden.“ 14 Auch wenn die Herrschenden und ihre Profiteure Andersdenkende wegsperren, mit ihren Ideen und ihrem Handeln zeigen sie, dass eine andere Rea- lität als die bestehende möglich ist. Damit sind sie Wegbereiter des Wandels in der Gesellschaft, der, wie die Geschichte zeigt, nur zwischenzeitlich aufzuhalten ist. Brecht hat einmal gesagt: „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“ 15 und Willy Brandt: „Wo die Zivilcourage keine Heimstatt hat, reicht die Freiheit nicht weit.“ 16

In den Sozial- und Politikwissenschaften und der Philosophie finden sich zahl- reiche Bestimmungen (oder Definitionen) zum Begriff des Widerstands. Für Antonio Gramsci ist Widerstand eine gesellschaftliche, revolutionäre Utopie zur Befreiung aus Abhängigkeitsverhältnissen, die sich dadurch ausbreitet, dass sie durch die Subjekte in die Köpfe der Menschen und in die Gesellschaft getragen wird. „Der Widerstand, der der Kampf um Hegemonie ist, braucht ‚die Herzen und die Köpfe‘ der Individuen: die Subjekte sind der Ausgang der Veränderung, auf der Grundlage des bewusst handelnden Menschen.“ 17 Für Pierre Bourdieu entsteht Widerstand dann, „wenn die Konkurrenzkämpfe überwunden werden zugunsten von Kämpfen, die die herrschende Ordnung in Frage stellen: durch reale, effektiv mobilisierte Kräfte, praktische Klassen, die kollektiv und öffentlich im sozialen Feld zu agieren beginnen.“ 18 Anknüpfend an Hanna Arendts Über- legungen zur persönlichen Verantwortung in einer Diktatur ist zu fragen, wo heu- te die Herausforderungen liegen, Verantwortung zu übernehmen und sich dem Mainstream zu widersetzen. 19

Mit der systemtheoretischen Perspektive von Niklas Luhmann ließe sich – ver- einfacht – Widerstand als Kommunikation zwischen sozialen Systemen beschrei- ben. Da jedes soziale System nach seiner eigenen Logik Entscheidungen trifft, können diese von der Umwelt als Gefahr wahrgenommen werden, gegen die sich Widerstand formiert. Wenn z.  B. das politische System sein Handeln deutlich mehr an den Erwartungen der Wirtschaft als am Umweltschutz orientiert, werden diese Entscheidungen in Teilen der Bevölkerung als Gefahr für das Klima ver- standen. Interessant an dieser Sichtweise ist der Hinweis auf die Beobachterper- spektive: Widerstand ist eine bestimmte Position, von der aus Handlungen und Entscheidungen beobachtet und bewertet werden. Wenn die Energiewirtschaft weiterhin in fossile Energiegewinnung investiert und die Politik nicht begrenzend interveniert, dann wird diese Entscheidung als Gefahr für das Recht auf Leben in der Zukunft wahrgenommen und erzeugt Widerstand. Folgerichtig muss Wider- stand so kommuniziert werden, dass die entscheidenden Systeme den Protest ver- stehen. Erfolgreiches Widerstehen setzt also voraus, in der Logik und der Sprache des Systems zu kontern. Im Fall der Klimaproteste „Fridays for Future“ ist das gelungen durch massive mediale Präsenz und moralische Kommunikation.

Eine andere Perspektive auf den Widerstand bietet Michel Foucault. Wider- stand als Angriff auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse bewegt sich immer auch in den Macht- und Herrschaftsverhältnissen, in denen er stattfindet. Widerstand und Macht bedingen einander wechselseitig wie Pole eines Magnetfeldes. „Darum gibt es im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der Großen Weigerung – die Seele der Revolte, den Brennpunkt der Rebellionen, das reine Gesetz des Revolu- tionärs. Sondern es gibt einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahr- scheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromissbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände, die nur im strategischen Feld der Machtbeziehungen existieren können.“ 20 In die- sem Feld der Macht- und wechselseitigen Kräfteverhältnisse können sich Wider- standskulturen entwickeln, z. B. als Ausdruck der Unzufriedenheit mit als unge- recht empfundenen Lebensverhältnissen, als Ausdruck der Abgrenzung von der saturierten Welt der Erwachsenen oder als Ausdruck gesunder Lebensweise. So prägen Jugendkulturen wie Punks ihre eigene Mode, Sprache und Musikstile und Codes aus, über die sie im öffentlichen, medialen Raum erkennbar sind in ihrer Kleidung, ihrer Sprache, ihren Symbolen und ihrer unangepassten Lebensweise. Das kreative Potential der Jugendkulturen wird, so hat es Adorno 21 eindringlich beschrieben, von der Kulturindustrie einverleibt und vermarktet, sodass das ur- sprünglich widerständige Potential zur Ware (Hip Hop, Rap …) wird. Mit ande- ren Worten, der zur Kultur geronnene Widerstand verliert seine Kraft, er gliedert sich in das herrschende (kapitalistische) System ein.

4 Was können wir tun?

Menschen, die soziale Missstände und Gefahren für Gesellschaft oder Umwelt nicht mehr schweigend hinnehmen, übernehmen Verantwortung, sie handeln aus ethischer Überzeugung selbstlos zum Wohle anderer. Nicht selten riskieren sie dabei Ausgrenzung, Beschimpfung (als Nestbeschmutzer) oder ihre berufliche Existenz. Es ist höchst unbequem, sich aus der Komfortzone und Scheinattrak- tivität von Konsum und „Wohlstand“ herauszubegeben und Ärger einzuhandeln. Widerstand ist Hinschauen, nicht Wegsehen. Widerstand bedeutet zu widerspre- chen, nicht einverstanden zu sein, kreativ zu denken, Verantwortung zu über- nehmen und zu handeln, statt die postulierte Alternativlosigkeit zu akzeptieren. Für Harald Welzer ist Widerstand die Urteilskraft der moralischen Intelligenz in Anlehnung an die fundamentale Gesellschaftskritik in Adornos „Minima Mora- lia“. 22 Welzer wendet sich gegen die Gleichgültigkeit gegenüber (vermeintlichen) Sachzwängen, gegen die verwaltete Welt, in der alles zur Ware verkommt, in der Konsum mit Leben verwechselt wird, in der Sensibilität und Moral verfallen, kurz, das „Leben […] zur Ideologie seiner eigenen Abstinenz geworden“ 23 ist. Morali- sche Intelligenz als Kraft des Urteils und der Unterscheidung dagegen bedingt die rationale Einsicht, dass ein Sachverhalt oder Geschehen nicht dem Gemeinwohl dient, sondern nur wenige privilegiert auf Kosten der Mehrheit. Moralische Intel- ligenz ist eine mitfühlende, fürsorgliche und schützende Haltung, sich zu empö- ren und verantwortlich zu fühlen. Doch, wie Welzer richtig bemerkt, braucht es auch „moralische Phantasie“, sich „vorstellen zu können, dass eine andere Zukunft denkbar ist.“ 24

Um Ideen als Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zu entwickeln, in der Frei- heit, soziale Gerechtigkeit und Frieden in einer „gesunden“ Natur möglich sind, braucht es Utopien, die über das Bestehende hinausreichen und die es erlauben, das noch Unvorstellbare zu denken. Mit dem Utopiebegriff wird allgemein die Vorstellung einer idealen Gesellschaftsordnung unabhängig von zeitgenössischen und historisch-kulturellen Rahmenbedingungen gedacht. Jede Religion verfolgt ein anzustrebendes Ideal mit Vorstellungen von paradiesischen Zuständen. „Je nach Ausrichtung zeigen sich unterschiedliche Menschenbilder in den politischen Utopien: menschenfeindliche Ideologien wie der Faschismus stehen dem Grun- de nach humanitären Ideologien wie der Demokratie oder dem Kommunismus gegenüber.“ 25 Versuche, Utopien umzusetzen, führen häufig zu einer Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, sind aber als Fernziel auf eine „bessere“ Zukunft un- erlässlich, weil sie Hoffnung und Motivation stiften, in welche Richtung Verände- rung gehen könnte. „Ohne Glauben an eine bessere Welt helfen weder Widerstand noch Taktik und Strategie. Nicht die Wege sind das Ziel […]. Vielmehr: Ohne das Ziel eines bunten, glücklichen und gerechten Lebens für alle ist jeder Weg ein Irrweg im Bestehenden.“ 26 Für Frigga Haug kann eine Utopie als visionäre Per- spektive eine Anleitung für Realpolitik sein 27 in Form eines produktiven Umgangs mit Widerständen. Diese können sowohl begeisterten Zuspruch als auch zornigen Widerspruch bei Gegner*innen hervorrufen, denn Utopien haben immer auch eine emotionale Komponente von Hoffnung auf Befreiung und Angst vor Verlust.

Ob Widerstand in Form von eingreifen, sich einsetzen, sich wehren, nicht ein- verstanden sein gelingt, erfordert Wissen zur Analyse der Tatsachen, Gefühls-, Urteils- und Entscheidungskraft, mutige Entschlossenheit, Selbstvertrauen, 28 Können und Vernetzung mit Gleichgesinnten. In einer Demokratie, in der Wi- derstand garantiertes Bürgerrecht ist, sind die Erfolgsaussichten günstig und die Risiken kalkulierbar. In totalitären Regimen wie dem Nationalsozialismus oder Diktaturen wie in Nordkorea, Saudi-Arabien oder der ehemaligen DDR gestaltet sich Widerstand ungleich schwieriger, riskanter, wenn nicht gar lebensbedroh- lich. Vielfalt und Pluralität von Lebensentwürfen und kulturellen Unterschieden stellen eine Herausforderung für die Politik und im täglichen Leben dar. In einer heterogenen Gesellschaft mit demokratischem Staatsverständnis existieren kul- turelle und religiöse Vielfalt mit all ihren unterschiedlichen Lebensentwürfen gleichwertig nebeneinander. Das Prinzip der Pluralität, d.  h. der Anerkennung und Garantie von individueller Einzigartigkeit im Verhältnis zu anderen, „be- deutet nicht den Verlust der individuellen (oder kollektiven) Freiheit, sondern garantiert sie erst.“ 29 „Das Faktum menschlicher Pluralität, die grundsätzliche Be- dingung des Handelns wie des Sprechens, manifestiert sich auf zweierlei Art, als Gleichheit und als Verschiedenheit. Ohne Gleichheit gäbe es keine Verständigung unter den Lebenden“ 30 und ohne Verschiedenheit bräuchte es keine Sprache zur Verständigung. Denn was den Menschen nach Hannah Arendt zum politischen Wesen macht, ist seine Fähigkeit zu handeln. „Handelnd und sprechend offenba- ren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die Personale Einzigartigkeit ihres Wesens; treten gleichsam auf die Bühne der Welt, auf der sie vorher nicht sichtbar waren.“ 31 Widerstand im Sinne von Arendt ist der Zusammenschluss von verschiedenen Menschen, die Verantwortung fühlen und übernehmen und mit ihrem Handeln einen Neuanfang beginnen. Verständigung gelingt durch Dialog, einer Art des Sprechens, in der die Unterschiede zwischen den Menschen Wert und Bedeutung haben und das Interesse am anderen vorhanden ist.

Der Dialog ist eine besondere Form des Gespräches, der über den Austausch von Argumenten hinausgeht. Er setzt die innere Bereitschaft des Zuhörens vo- raus, Urteile, Emotionen, Meinungen und Annahmen in der Schwebe zu halten. Dieses In-Schwebe-Halten bedeutet die zeitweilige Aufhebung von Standpunkten, gegen oder für etwas zu sein, um einen Raum zu schaffen, in dem Gedanken ei- nander kreativ beeinflussen können und in dem Zuhören ohne Widerstand zur Realität wird. Dialog erübrigt sich allerdings „innerhalb hergestellter Einheiten, denn wenn verschiedene Menschen ‚auf die Zahl Eins zusammenschrumpfen‘ und zum Singular werden […] identisch und deckungsgleich mit dem umgebe- nen Wir, dann brauchen sie den Aufwand des Dialogs untereinander nicht mehr zu leisten.“ 32 Der Dialog setzt eine entdeckende Haltung voraus, denn es gilt, die Bandbreite tiefsitzender, tradierter Wertvorstellungen, Gefühle, Erfahrungen und Denkmuster zu erkunden. Dieser Prozess „ rüttelt notwendigerweise an tiefsitzen- den Annahmen in Bezug auf Kultur, Bedeutung und Identität. In seinem tiefsten Sinn ist der Dialog also eine Einladung, die Lebensfähigkeit traditioneller Defi- nitionen dessen zu überprüfen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, und kollek- tiv das Potential für weitere menschliche Entwicklung zu erforschen.“ 33 Sinn des Dialogs ist nicht, Probleme zu lösen, sondern zunächst Einsichten zu schaffen, die dann zur Problemlösung beitragen. Statt zwischen zwei konträren Kräften zu ver- mitteln, entsteht eine dritte Kraft, die die beiden ursprünglichen Positionen obso- let macht. Auf diese Weise könnten vielleicht rechtskonservative Gruppen wieder in das demokratische Geschehen eingebunden werden. Denn die Erfahrung zeigt, politische Belehrungen oder Argumente, wohlmöglich noch Fakten, moralische Appelle oder Schuldzuweisungen verändern selten Standpunkte und Positionen. Dies gilt insbesondere für Zeiten der postfaktischen Verunsicherung, in der ge- fühlte Wahrheiten 34 zum Gegenstand der Politik werden und Fakten mit „alter- nativen Wahrheiten“ konkurrieren. Argumente erreichen die Menschen nicht da, wo sie stehen. Was hilft, um die Demokratie lebendig (Pluralität) zu halten, ist, die Lebenswelten und Lebenslagen der Menschen zu sehen, ihre Anliegen zu hören, ihnen Anerkennung und Respekt zu zollen, ihre Ängste ernst zu nehmen, mit ihnen zu sprechen und zu handeln, um so eine andere Sichtweise zu eröffnen, um alte Denkmuster in Frage zu stellen – Denken ohne Geländer – und Neues erfahr- bar zu machen.

Für Hannah Arendt wird im Dialog – der Verständigung zwischen den verschie- denen Menschen und dem Austausch ihrer unterschiedlichen Sichtweisen – die Welt verständlich. „Diese Verschiedenheit anzuerkennen, ist angewiesen auf die Liebe zur Welt , die sich in der Verantwortlichkeit für die von verschiedenen Men- schen bewohnte Welt zeigt, einer Welt, die den verschiedenen Menschen Heimat geben soll.“ 35 In den Erzählungen der Sprechenden und Zuhörenden offenbaren sich die unterschiedlichen Hoffnungen, Ideen, Wünsche und Befürchtungen der „vieldimensionalen Realität“ 36 . Dialog macht Arbeit, er ist anstrengend und zeit- aufwendig, er verlangt allen Beteiligten Offenheit für neue Perspektiven auf die Welt ab. Denken, kritisches Denken bildet die Grundlage des dialogischen Prin- zips, „was allein uns wirklich helfen kann […] ist Nachdenken“, so formuliert es Hannah Arendt in einem Interview 1973. 37 Gruppen, in denen eine Weltanschau- ung und eine Welterklärung propagiert wird (rechts wie links), in der Verschie- denheit auf ein kollektives Ganzes nivelliert wird, das Andersdenkende ausgrenzt, wird Nicht-Denken gefährlich. Wohin Gedankenlosigkeit führt, hat Hannah Arendt 1973 im Eichmann Prozess als die „radikale[n] Abwesenheit einer den- kenden Zuwendung zur Welt“ 38 bezeichnet. Es ist der eklatante Verlust an Unter- scheidungsfähigkeit und Urteilskraft zu erkennen, welche Unterschiede welchen Unterschied machen, um darauf basierende reflektierende und reflektierte Urteile zu fällen. 39

Es gibt viele Geschichten von Menschen, die mit ihrer denkenden Zuwendung zur Welt Neues begonnen haben. Die Tageszeitung „taz“ verleiht seit 2005 jedes Jahr den taz Panter Preis an Bürger*innen, die „mit Mut und Phantasie etwas in der Gesellschaft bewegen und sich aktiv gegen politische und gesellschaftliche Missstände eingesetzt haben.“ 40 Mut machen zu wider-sprechen kann auch über das Weitererzählen von Erfolgsgeschichten und über Vorbilder des Widerstandes geschehen. 41 Eine solche Geschichte erzählt der Spielfilm „Der Staat gegen Fritz Bauer“. Der jüdische Staatsanwalt Fritz Bauer kämpfte gegen die von ehemaligen Nationalsozialisten dominierte deutsche Justiz in den 1950er Jahren für die Auf- deckung der Naziverbrechen und die strafrechtliche Verfolgung der Täter. Sein einsamer Widerstand gegen eine Mauer des Schweigens ermöglichte die Aufnah- me der Auschwitzprozesse und die Festnahme von Adolf Eichmann. Oder Carola Rackete, eine deutsche Kapitänin, die im Juni 2019 Flüchtlingen aus Seenot ret- tete, als sie entgegen der Weigerung der italienischen Regierung, die Menschen aufzunehmen, diese nach wochenlangem Warten in Lampedusa sicher an Land brachte. Eine ganz andere, aber ebenfalls erfolgreiche Widerstands-Geschichte ist die der GRÜNEN: Von einer teils militanten Protestbewegung insbesondere von Umweltschützer*innen formierten sie sich zur mittlerweile zweitstärksten politi- schen Partei. Glaubt man den Prognosen, könnte es sein, dass die GRÜNEN den oder die nächste Bundeskanzler*in stellen. 42

All diese Geschichten zeigen, Widerstand, ziviler Ungehorsam, entsteht dann, wenn eine andere Version der Gegenwart gedacht wird und dieses Denken in eine soziale Praxis mündet. Aber über die Kraft und moralische Überzeugung des Einzelnen hinaus setzt Widerstand auch Bedingungen in der Umwelt voraus, die diesen überhaupt möglich machen, seien es politische, ökonomische, soziale oder kulturelle. Wenn z.  B. die ökonomischen Bedingungen in der Region schlecht sind, Arbeitslosigkeit herrscht, die Jugend abwandert, dann stehen die Chancen für einen Dialog ebenso schlecht wie die Chancen zur Integration von Flücht- lingen.

Und zum Schluss noch eine Utopie: Stellen Sie sich vor, liebe Leser und Lese- rinnen, sie schlagen morgen früh die Zeitung auf (digital oder analog) und der erste Aufmacher lautet: „die Industrienationen haben einen ‚green deal‘ gefunden, in dem sie sich verpflichten, die Reduktion von Treibhausgasen um 20 % in den kommenden 10 Jahren mit allen notwendigen Maßnahmen ab sofort umzusetzen. Eine unabhängige Kommission wurde ins Leben gerufen, die autorisiert ist, die einzelnen Nationen bei der Einhaltung der Maßnahmen zu überwachen. Bis Ende des Jahrhunderts sollen die Treibhausgasemissionen auf Null gebracht werden. Den Bewegungen ‚Youth for Future‘ und ‚Fridays for Future‘ wurde für ihr be- harrliches Engagement gedankt.“ Die folgende Nachricht lautet: „Die Proteste der ‚Sardinen‘ in Italien haben die Regierung veranlasst, ihre Häfen für die Flüchtlinge zu öffnen. Nach langen Verhandlungen haben sich im Gegenzug die osteuropäi- schen Länder bereit erklärt, Flüchtlinge aufzunehmen und Integrationsprogram- me in den Bereichen Bildung und auf dem Arbeitsmarkt aufzusetzen. Die nächste Nachricht lautet: … und hier können Sie weiterdenken in Liebe zur Welt.

Literatur

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Helmut Danner

Bildung zum Widerstand gegen Populismus

Am 2. Juni 2019 nach Mitternacht wird Walter Lübcke, Kasseler Regierungsprä- sident, erschossen.

Er hat im Oktober 2015 bei einer Bürgerversammlung zu einer geplanten Flüchtlingsnotunterkunft an die Adresse einer örtlichen PEGIDA-Gruppe gesagt: „Wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dies Land verlassen.“

Nach dem Mord an Lübcke meinen zwei Wochen lang manche Polizisten, ein rechtsextremer Hintergrund der Tat sei auszuschließen.

Dann nimmt die Polizei einen Verdächtigen fest. Dieser war früher in der NPD aktiv, war 2009 bei einem Raubüberfall von Rechtsradikalen auf eine Gewerk- schaftsdemonstration beteiligt; 1993 verübte er einen Sprengstoffanschlag auf Ge- flüchtete.

2015 wird die Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker, von einem Rechtsradikalen mit einem Messer schwer verletzt, ebenso 2017 Andreas Hollstein, der Bürgermeister von Altena, beide wegen ihrer liberalen Flüchtlingspolitik.

Täter erfahren im Internet von einer Sympathisantenszene Applaus, so der Mörder von Walter Lübcke: „Wieder eine widerliche Ratte weniger“, „vaterlands- loses Schwein“, „Drecksau“, „Volksverräter“, „Polit-Bakterium“.

Bundespräsident Steinmeier bemerkt dazu: „Wo die Sprache verroht, ist die Straftat nicht weit“.

Der bayerische AfD-Abgeordnete Ralph Müller verweigert bewusst das Toten- gedenken für Walter Lübcke und bleibt während einer Gedenkminute sitzen.

Henriette Reker: „Je stärker unsere Vielfalt angegriffen wird, desto mehr müs- sen wir sie verteidigen“. 1

Das sind einige wenige Schlaglichter auf die gegenwärtige Situation in Deutsch- land. Ideologisch begründete Gewalttaten werden von den einen unterstützt und verherrlicht; sie schockieren und deprimieren andere. Zu beobachten ist eine zu- nehmende, auch ideologische Verrohung; die angeführten Beispiele stehen für viele andere Verbrechen ähnlicher Art, von denen die Medien beinahe täglich berichten. Ihr ideologischer Nährboden kann mit ‚Populismus‘ in Verbindung ge- bracht werden, wenngleich dieser nicht immer Mord bedeutet. Doch im Namen einer populistischen Gesinnung wird gelogen, beleidigt, ausgegrenzt, benachtei- ligt, tätlich angegriffen und schließlich gemordet. Nicht nur Politiker*innen sind betroffen, sondern gerade auch die Verachteten und Gehassten, die Flüchtlinge, Juden, Muslime.

Dies spaltet die Gesellschaft in Hassende und in Betroffene, in jene, die aus- schließen wollen, und in die, die eine Bereicherung in der Vielfalt der Gesellschaft wahrnehmen und die sich jenes Hasses schämen, die sich durch den Zerfall des normalen Anstandes, der Sprache und einer humanen Gesinnung beunruhigt und verletzt fühlen. Notwendig ist eine Verteidigung von gesellschaftlicher Viel- falt, wie Henriette Reker fordert, und damit eine Bestimmung des politischen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Und diese Verteidigung ist nicht nur eine Aufgabe der Politik, sondern der gesamten Gesellschaft, letztlich jedes Einzelnen. Denn diese Verteidigung beginnt mit der Wahrung des Anstands, dem Umgang mit der Sprache, der Besinnung auf Humanität, letztlich mit der Unterstützung einer liberalen Demokratie.

Mit dem Blick auf die Rolle der Einzelnen bei der Auseinandersetzung mit Po- pulismus stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen man zu dieser Ausei- nandersetzung bereit wird und in der Lage ist. Das verweist auf die Persönlichkeit, auf das Werden und die Einstellungen der Einzelnen, im Letzten auch auf die persönliche Bildung. Das führt zur zentralen Frage: Welche Bedeutung hat Bildung für einen Widerstand gegen Populismus?

Das Folgende ist der Versuch einer Antwort auf diese Frage. Dazu soll zunächst dem unscharfen Begriff des Populismus Kontur gegeben werden: Wogegen ist Widerstand erforderlich? Welches sind die gesellschaftlichen und politischen Be- reiche, in denen er sich zeigt? Welche Methoden wenden Populisten an? Welche Rolle spielt Bildung bei dem notwendigen Widerstand? Geht es nur um eine Bil- dung zum Widerstand als eine Befähigung? Oder müssen wir Bildung so verste- hen, dass ihr –  als Bildung – Widerstand eignet?

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1 Die Gesichter des Populismus
1.1 Volk gegen Nicht-Volk

Die Vorlesungen, die in diesem Band wiedergegeben werden, befassen sich mit Populismus unter vielerlei Perspektiven. Deshalb reicht es hier, auf Erscheinungs- formen von Populismus lediglich im Überblick einzugehen, um einerseits Wie- derholungen zu vermeiden; aber andererseits soll doch der Gegenstand skizziert sein, auf den Bildung eine Antwort geben sollte.

Was unter Populismus normalerweise verstanden wird, ist vage und vielschich- tig. Die politische Orientierung eines Populismus kann ‚links‘ und ‚rechts‘ verortet sein. Aktuell birgt in Deutschland insbesondere ein Rechtspopulismus die Gefahr der Unterminierung von Demokratie und der Leugnung von Menschenrechten; dies gilt insbesondere für die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD). Dieses politische und ideologische Spektrum soll der Hintergrund unserer auf Bildung bezogenen Überlegungen sein.

Dem Wort ‚Populismus‘ entsprechend steht das ‚ Volk‘ im Zentrum dieser Ideo- logie. So setzt sich das angeblich moralisch reine Volk von der unmoralischen, korrupten, parasitären Elite ab 2 . Das ‚Volk‘ soll sich aber auch von den ‚Anderen‘, die nicht zum ‚Volk‘ gehören, abgrenzen: von den Migranten, Muslimen, Juden. Die Eliten sind unter anderem auch deshalb ‚Volksverräter‘, weil sie jene ‚Ande- ren‘ nicht ausgrenzen, sondern offen sind für sie und sie unterstützen. Deshalb musste Lübcke sterben, deshalb wurden Reker und Hollstein schwer verletzt. Für rechtspopulistische Politiker*innen und ihre radikalen Anhänger*innen gilt: „Wir – und nur wir – repräsentieren das wahre Volk“ 3 . Mudde und Kaltwasser definieren:

Diese Definition muss ergänzt werden durch den Anti-Pluralismus der Populisten, durch deren Abgrenzung von den ‚Anderen‘, die nicht zum ‚Volk‘ gehören. Das ‚Volk‘ soll sich wehren gegen die verräterischen Eliten und gegen jene, die nach populistischem Selbstverständnis das Nicht-Volk ausmachen.

1.2 Populistisches Terrain

Populismus kennt unterschiedliche Formen und Inhalte. Die meisten Populisten verbinden ihre Gesinnung mit einer oder mehreren Gast-Ideologien 5 . Ein wesent- liches Merkmal ist jedoch die Abgrenzung von Anderen, insbesondere von Frem- den. Diese Abgrenzung beschränkt sich aber nicht auf eine neutrale, rationale Ablehnung, sondern sie ist emotional geladen, schlägt um in Feindseligkeit, Hass und Rassismus. Carolin Emcke hat eindringlich ein Beispiel beschrieben, das den Fremdenhass gegen Flüchtlinge zeigt: In Clausnitz terrorisieren Demonstrierende zwei Stunden lang Flüchtlinge, die in einem Bus zu einer Unterkunft gebracht worden sind 6 . Anderswo werden Häuser, in denen Flüchtlinge wohnen, in Brand gesteckt; Flüchtlinge werden verletzt; die rechtsextreme Gruppe „Nationalsozia- listischer Untergrund“ (NSU) tötet neun Migranten und eine Polizistin.

Eine Form der Fremdenfeindlichkeit richtet sich gegen Muslime . Sie kann die religiös bedingte Lebensweise und die äußere Erscheinung – wie etwa das Kopf- tuch der Frauen – nicht akzeptieren; in falscher Verallgemeinerung wird islamisti- scher Terror zur Verurteilung aller Menschen muslimischen Glaubens gewendet. 7

Antisemitismus erscheint zum einen als eine Konstante der abendländischen Zivilisation; bereits in der Antike gab es die Feindschaft gegen Juden aufgrund ihres monotheistischen Glaubens; dann sahen Christen in Juden die ‚Gottesmör- der‘. Es wurde ein Schritt vom Antijudaismus zum Antisemitismus gemacht, als die religiöse Begründung der Feindschaft gegen Juden zur biologischen und völ- kischen wurde. Im 19. Jahrhundert wurden Juden als „biologische Schädlinge“ gebrandmarkt 8 . Zum anderen nahm ihre Verfolgung und Ausgrenzung durch europäische Pogrome und Ghettos in Nazi-Deutschland mit der systematischen Ermordung von 6  Millionen Juden ein unbegreifliches Ausmaß an  –  dennoch vom AfD-Vorsitzenden Gauland als ein „Vogelschiss der Geschichte“ abgetan. Antisemitismus nimmt in den letzten Jahren in Deutschland und Europa wieder zu. 9

Populismus als eine rückwärtsgewandte Ideologie zeigt die Tendenz, sich an der unrühmlichen deutschen Vergangenheit zu orientieren . Am offenkundigsten wird dies bei den Neonazis, zu denen unter anderem die Gruppe des NSU gehört. Es ist beunruhigend, welche Faszination offensichtlich der Nationalsozialismus auf ei- nige, besonders auch junge Menschen immer noch ausübt. Eine ‚Entnazifizierung‘ ist nach dem Krieg nur langsam und zäh geschehen.

Schließlich sei noch auf zwei weitere Bereiche verwiesen, zu denen Populis- mus eine Affinität hat: auf Nationalismus und Verschwörungstheorien . Die Euro- päische Union wird von Populist*innen in Frage gestellt; das gilt für die AfD in Deutschland wie etwa für den Front National in Frankreich oder für die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) in Polen; ein Rückzug auf den Nationalstaat sei angesagt. 10 Insbesondere in Verbindung mit Antisemitismus werden Verschwö- rungstheorien entworfen  –  etwa: die Juden seien Kriegstreiber und sie regier- ten die Finanzwelt; oder: die Zivilgesellschaft werde von ausländischen Agenten ferngesteuert. 11

1.3 Vom Stammtisch bis zum Mord

Populisten verstehen sich zum wahren Volk gehörig – im Gegensatz zu Politikern und Fremden. Dieses Bewusstsein, diese Gesinnung zeigt sich in vielfältiger Wei- se. Oder es zeigt sich gerade nicht, ist unterschwellig virulent. Man könnte von einem „schlafenden Populismus“ sprechen 12 . Diese Gesinnung taucht in Andeu- tungen auf, als ein Murren gegen die Gesellschaft, die wirtschaftlichen Verhält- nisse, gegen ‚die Politiker‘. Die Akzeptanz von rechtsextremen Aussagen zeigt sich beispielsweise dann, wenn mitgelacht wird, weil jemand einen ausländerfeindli- chen Witz macht – und keiner schreitet ein. Der Stammtisch und seine abfälligen, unzufriedenen und besserwissenden Bemerkungen könnten als eine Chiffre für das latente populistische Bewusstsein stehen.

Populismus tritt aber auch aus dem Verborgenen aggressiv in die Öffentlich- keit; dann werden jene, die nicht zum ‚wahren Volk‘ gehören, ausgegrenzt, an- gefeindet, gehasst; gegen sie wird Angst geschürt. 13 Beispiele hierfür sind Kund- gebungen etwa von PEGIDA oder die oben erwähnte verbale und physische Bedrohung von Flüchtlingen in Clausnitz. In Deutschland lebende Migranten und Juden fühlen sich zunehmend bedroht, weil sie verbal und körperlich an- gegriffen werden.

Populismus als eine zunächst unterschwellig existierende Mentalität und Hal- tung äußert sich in verschiedener Weise aggressiv bis hin zum radikalen Rechts- extremismus, der nicht vor Gewalt, Zerstörung und Mord zurückschreckt – der eingangs erwähnte Mord an Walter Lübcke ist nur ein Fall.

Die skizzierten Inhalte und Erscheinungsweisen des Populismus haben in jün- gerer Zeit eine enorme Unterstützung durch die sozialen Medien erfahren. Fielitz und Marcks sprechen von einem „digitalen Faschismus“. Dieser erhalte seine Dy- namik weniger von organisierten Strukturen – etwa von Parteien –, sondern von digitalen Hass-Kulturen. Dort sind die Massen der Motor ihrer eigenen Manipu- lation. Es wird suggeriert, dass eine gefährdete Gesellschaft durch außerordent- liche Maßnahmen neu geschaffen werden müsse. Die Mythen der gesellschaftli- chen Bedrohung verbreiten sich insbesondere unter digitalen Bedingungen 14 . Das ist zum Teil eine Erklärung dafür, dass das Ausmaß des Judenhasses wie nie zuvor angestiegen ist.

Zugleich etabliert sich Rechtspopulismus in der Politik. Dabei wenden Popu- listen eine bestimmte Herrschaftstechnik an und pflegen einen eigenen Stil ihres Auftretens verbunden mit einem moralischen Alleinvertretungsanspruch – „Wir sind das Volk!“. Der populistische Antipluralismus zeichnet sich aus durch „die Vereinnahmung des gesamten Staates, Loyalitätsbeschaffung durch Massenklien- telismus“ und durch die „Unterdrückung der Zivilgesellschaft und, wenn möglich, der Medien“. Dabei wird das ‚wahre Volk‘ bevorzugt nach dem Motto „Everything for my friends; for my enemies, the law“. 15

Zudem muss man das Taktieren seiner Vertreter*innen durchschauen und ernst nehmen. Es ist jedoch auf jeden Fall grundlegend, die Spaltung der Gesellschaft und die Gefahren für die liberale Demokratie durch den Populismus zu erken- nen. Dem einhergehenden Wertezerfall kann und muss mit einer Besinnung auf Grundwerte begegnet werden – etwa mit Verweis auf die Artikel 1 bis 5 des Grundgesetzes. Diese basieren auf einer inklusiven Ethik – im Gegensatz zur tri- balistischen Ausgrenzungsmoral der Populisten. Widerstand gegen Populisten bedeutet unter dieser ethischen Perspektive, einzustehen für das Recht aller, das heißt, jedem – wirklich jedem  – seine Würde zuzugestehen. Entscheidend ist, dass Widerstand gegen Populismus in der Politik sowie die gesellschaftliche Auseinan- dersetzung mit ihm im Letzten angewiesen bleiben auf Personen, die öffentlichen Widerstand leisten. Es kommt immer auf Individuen an, die die populistische Ideologie durchschauen , die in der Lage sind, diese ethisch zu verorten , und die den Mut zum Handeln aufbringen.

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2 Welche ‚Bildung‘ kann dem Populismus Widerstand leisten?

Unsere Überlegungen zielen also auf die Frage nach der Person, die in der Lage und bereit ist, Widerstand gegen Populismus zu leisten. Und das mündet nun in unsere eingangs gestellte Frage: Welche Bedeutung hat Bildung für einen Wider- stand gegen Populismus? Da nun aber der Begriff Bildung sehr unterschiedlich, ja widersprüchlich im Alltag, aber auch in der Erziehungswissenschaft verwendet wird, müssen wir präziser fragen: Welche ‚Bildung‘ kann dem Populismus Wider- stand leisten?

Doch bevor wir näher hierauf eingehen, sind einige allgemeinere Anmerkun- gen notwendig: Erstens kann Bildung nur eine Antwort auf Populismus geben, obgleich eine notwendige; Populismus ist ein vielfältiges Phänomen und Pro- blem, worauf politisch, gesellschaftlich, aber auch juristisch und ökonomisch reagiert werden muss. Bildung ist zweitens ein langwieriger Prozess; sie kann weder pädagogisch hergestellt werden, noch verspricht sie eine schnelle Lösung des Problems. Wie wir gesehen haben, kennt drittens Populismus zahlreiche Er- scheinungsformen und Verhaltensweisen – von Rassismus über Antisemitismus und Nationalismus zu Verschwörungstheorien. Kann mit Bildung auf jegliches geantwortet werden? Oder ist nicht vielmehr eine Antwort nur auf bestimmte populistische Kernprobleme und Phänomene durch Bildung erforderlich und möglich? Viertens verlangen daher zahlreiche populistische Erscheinungsfor- men, dass auf sie durch öffentliche Institutionen reagiert wird. Allerdings ist es nicht nur hilfreich, sondern im Letzten erforderlich, dass auch deren Vertreter nicht nur Technokraten, sondern Gebildete sind. Der Widerstand gegen Populis- mus, der aufgrund von Bildung entstehen kann, richtet sich wohl, fünftens, vor allem gegen eine populistische Mentalität , gegen den Nährboden von ausgren- zenden Haltungen und verletzenden Handlungen, die die Demokratie zerstören. Es geht um die Befähigung zum Widerstand hiergegen, um eine Bereitschaft und den Mut hierzu.

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2.1 ‚Schulbildung‘ oder Kompetenztraining oder Bildung?

Die Frage lautet nun, welche Bedeutung Bildung beim Widerstand gegen Populis- mus haben kann. Da aber Bildung als Begriff vieldeutig und darum vage ist, be- darf es einer Klärung, wovon wir überhaupt sprechen wollen.

Eine Vielzahl von Wortkombinationen mit ‚Bildung‘ begegnet uns, wenn wir fragen, was das ‚Bildungs-Wesen‘ ausmacht. Es wird reguliert von der Bil- dungs-Politik und den Bildungs-Gesetzen; Behörden wie die Bildungs-Ministe- rien verwirklichen und verwalten die Bildungs-Pläne; schließlich gibt es eine gro- ße Zahl von Bildungs-Institutionen. Die Bildungs-Einrichtungen sollen ‚Bildung‘ vermitteln – Wissen und Fertigkeiten, Ausbildung und Training.

Vereinfachend sollen hier die Aufgaben und Tätigkeiten der Bildungs- Einrich- tungen im Rahmen des Bildungswesens als ‚ Schulbildung im weitesten Sinn‘ be- zeichnet werden. Sie macht auf der einen Seite die Organisation der Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten aus, auf der anderen Seite die erziehungswissen- schaftlichen und schulpädagogischen Inhalte dieser Vermittlung. Dabei tritt ‚Bil- dung‘ in vielerlei Bezügen als Begriff auf. Aber – geht es in diesem Bildungs-We- sen und in der ‚Schulbildung‘ tatsächlich immer um Bildung?

Worum denn sonst, mag man einwenden. Doch an dieser Stelle treffen wir auf eine bildungspolitische und erziehungswissenschaftliche Streitfrage: Kann ‚Bildung‘ ohne weiteres mit ‚Bildung‘ gleichgesetzt werden? Ganz unmissver- ständlich stellt Andreas Dörpinghaus fest, dass trotz der öffentlichen Diskus- sion über Bildung nicht mehr gefragt wird, was sie denn sein solle. „Stattdessen werden im Handstreichverfahren die Schulen und Universitäten reformiert und zu Orten der Verdummung gemacht, indem sie der lückenlosen Verwaltung und der permanenten Kontrolle unterworfen werden.“ Die Verdummung zeige sich an drei Lügen: Kompetenzen werden als Bildung verkauft; die Illusion, gebildet zu sein, verhindert die Frage nach Bildung; das Bildungssystem verspricht eine Gleichheit aller durch Bildung. „Es geht nicht um den Einzelnen, nicht einmal um Bildung, sondern darum, das Bildungssystem und mit ihm die Gesellschaft leistungsfähiger zu machen.“ Der Effekt sei „ein unpolitisches Bildungssystem, das Anpassungsverhalten als Verhüllung des ‚blinden Gehorsams‘ befördert, zur Unmündigkeit erzieht und nützliche Kompetenzen als grundständige ‚Volksbil- dung‘ vermittelt“. 17 Kompetenzorientierte ‚Bildung‘ führt darum zu Verdum- mung.

„Kompetenzorientierung ist keine Lösung, sondern das Problem“; so beant- wortet Jochen Krautz die Frage: „Kompetenz statt Bildung?“ und führt wichtige Gründe an, warum das so ist. Unter anderem sagt Krautz: „Die Inhalte werden zweitrangig. Sie haben keinen Wert an sich, sondern dienen nur als Mittel zur Zielerreichung“, nämlich zum Erwerb von Fähigkeiten und von Verhalten. „Man plant das Training von Fertigkeiten und geht von den dazu passenden Methoden, nicht vom Inhalt aus.“ Zudem vernachlässige die Kompetenzorientierung die Förderung von kritischem Urteilsvermögen und Moralität . Doch „ohne Inhalte kommen keine Prozesse der Urteils- und Wertebildung in Gang.“ Kompetenzen sind nur funktional; darum sind sie ethisch neutral. Kompetenzorientierung dient rein ökonomischen Interessen; es geht um ökonomische Rationalität und Effizienz. Dabei werden die Grundlagen der Demokratie untergraben. Denn diese lebt von mündigen Bürger*innen, „die im Dialog die Sachfragen verhandeln und klären können und sich dabei am gemeinsamen Wohl orientieren. Es untergräbt die eu- ropäische kulturelle Tradition, die in der Idee der Menschenwürde und der Men- schenrechte gründet und die Selbstbestimmung des Einzelnen mit Gerechtigkeit und sozialer Verantwortung verbindet.“ 18

Gerade diese letzten Schlussfolgerungen, die sich aus der Auseinandersetzung mit der Kompetenzorientierung ergeben, verdeutlichen, dass diese pädagogisch nicht geeignet ist, für Widerstand gegen Populismus zu befähigen. Schulbildung im weiteren Sinne soll und kann ihrem pädagogischen Auftrag gerecht werden, wenn sie mehr ist als Kompetenztraining und wenn sie durch bildendes Lehren und verstehendes Lernen die Bildung der Einzelnen anregt und fördert. Das wie- derum wirft die Frage auf: Was macht Bildung im eigentlichen Sinn aus?

Darauf soll noch ausführlicher eingegangen werden, um die Notwendigkeit von Bildung (im engeren Sinne) zu entfalten. Hier geht es zunächst um die Klärung von Bildungsbegriffen und -vorstellungen, um zu eruieren, worauf es ankommt, wenn von einem Widerstand gegen Populismus die Rede sein kann: Schulbildung im weiteren Sinne hat aus der Perspektive eines Bildungsideals die Aufgabe, so zu lehren und zum Lernen zu ermutigen, dass Bildung des Einzelnen möglich und angeregt wird, eine Bildung, die über den Erwerb von Wissen und Fertigkeiten, von ‚Kompetenzen‘, hinausgeht. Wenn Schulbildung aber reduziert wird auf Kom- petenztraining oder auf einen mechanischen Prozess, der einem Maschinenpro- gramm vergleichbar ist 19 , dann nimmt sie ihren Bildungs auftrag nicht wahr – und verfehlt damit ihre Chance, Bildung zum Widerstand zu sein.

2.2 Bildung zum Widerstand

Bildung muss unter diesen beiden Aspekten gesehen werden: Sie ist Bilden als die pädagogische Bemühung von Erzieher*innen und Lehrer*innen: eine Auf- forderung, Unterstützung und Ermutigung; und sie ist das Sich-Bilden der Ein- zelnen als das persönliche Annehmen jenes pädagogischen Angebots und ein selbsttätiges Verwirklichen. Unsere eingangs gestellte Frage: Welche Bedeutung hat Bildung für einen Widerstand gegen Populismus?, verlangt nun, die Möglich- keiten von ‚Schulbildung‘ und Bildung – im dargestellten Sinn – im Hinblick auf einen Widerstand gegen Populismus aufzuzeigen. Der Hinweis, dass Bildung als die pädagogische Bemühung und als das persönliche Bemühen verstanden wer- den muss, erlaubt auch, beim Widerstand gegen den Populismus zwei Aspekte zu unterscheiden: eine Bildung zum und eine Bildung als Widerstand. Obgleich beide  –  sowohl das pädagogische Angebot als auch die persönliche Verwirkli- chung – aufs Engste verquickt sind, besteht auf der pädagogischen Seite die Ten- denz und der Wunsch, Widerstand gegen Populismus zu bewirken , während die aktive individuelle Bildung dieser Widerstand ist. Bildung kann von Dritten wohl angeregt, aber nicht hergestellt werden; Bildung ist im Letzten die Entscheidung und Verantwortung des Einzelnen.

Wie kann also ‚Schulbildung‘ zum Widerstand gegen Populismus beitragen? Populisten berufen sich auf ihre Zugehörigkeit zum ‚reinen‘ Volk, das sich be- haupten muss gegen die ‚korrupte‘ Elite und vor allem gegen diejenigen, die nicht zum ‚Volk‘ gehören – Fremde, Juden, Muslime, Flüchtlinge. Ideologisch verbinden sich Populisten dann auch mit einem Nationalismus und nicht zuletzt mit der na- tionalsozialistischen Ideologie; ihr Weltbild unterstützen sie mit Verschwörungs- theorien.

Das Gemeinsame von populistischen Varianten sind im Wesentlichen wohl diese Momente: Populisten leben in einer Welt der Imagination ; sie interpretie- ren die Wirklichkeit auf der Basis ihrer Vorurteile: Politiker sind korrupt, Fremde jeglicher Art (zer)stören ihre Identität. Die moralische Orientierung der Populis- ten leitet sich hiervon ab: Das ‚Volk‘ ist im Gegensatz zum ‚Nicht-Volk‘ ‚rein‘ und muss ‚rein‘ erhalten werden, wobei tribalistisch das ‚Volk‘ aber nur einen Teil der gesamten Bevölkerung ausmacht. Es bleibt nicht bei einer populistischen Mei- nung und einer ideellen Auseinandersetzung, sondern es wird aktiv gegen das ‚Nicht-Volk‘ gehetzt, ausgegrenzt.

Wenn diese Charakteristika des Populismus zutreffen, dann ergeben sich die folgenden pädagogischen Herausforderungen: Unsere Wahrnehmung soll sich auf ideologiefreie Wirklichkeit richten; Erzieher*innen und Lehrer*innen, aber auch Medien aller Art, müssen zu deren Erkenntnis verhelfen und sie darstellen, und sie müssen zugleich ‚fake news‘ und fantastische Vorstellungen bloßstellen. Wie kommen wir der Erkenntnis der Wirklichkeit nahe, und wie vermeiden wir die Falle der ‚fake news‘? Kants Antwort hierauf war 1785: „ Habe Mut, dich dei- nes eigenen Verstandes zu bedienen!“ 20 Kant fordert auf, selbst zu denken, eigen- ständig auf das zu schauen, was ist. Das sollte auch die Aufforderung aller Erzie- her*innen und Lehrer*innen sein. Dazu gehört, sich das Unwesen des Populismus bewusst zu machen.

Die ethische Orientierung der gesamten Gemeinschaft und des Einzelnen bedarf einer nicht-tribalistischen, humanen Basis; ihr Denken und Handeln muss sich an Menschenrechten und Menschenwürde orientieren oder wie oben angedeutet an den Prinzipien des Grundgesetzes – und nicht an ideologischen Gruppeninte- ressen. Für Adorno ergibt sich die ethische Orientierung mit Blick auf den Holo- caust: „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung […] Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, daß Auschwitz nicht sich wiederhole. Es war die Barba- rei, gegen die alle Erziehung geht.“ 21 Das steht frontal gegen Gaulands Bezeich- nung der Verbrechen des Dritten Reichs als „Vogelschiss der Geschichte“. Diesen unüberbrückbaren Gegensatz bewusst zu machen, ist pädagogische Aufgabe, aber auch, in welch gefährlicher Nähe zur Verharmlosung der Geschichte sich heute Populismus bewegt. Dazu gehört der Hinweis auf den Hass, den Populisten schü- ren, und diesem Hass entgegenzutreten. 22

Dies – die Orientierung an der Wirklichkeit und an Humanität – soll sich wi- derspiegeln am Verhalten und am Handeln des Einzelnen und der Gesellschaft.

Was kann der pädagogische Beitrag zur Verwirklichung solcher Prinzipien sein? Pädagogische Möglichkeiten im Widerstand gegen Populismus stehen zunächst im gesamtgesellschaftlichen Kontext. Der pädagogische Beitrag ist in seinen Mög- lichkeiten zum einen spezifisch und zum anderen begrenzt; er muss die politi- sche und gesellschaftliche Verantwortung wohl unterstützten, kann sie aber nicht ersetzen. Darum ist es in der Auseinandersetzung mit dem Populismus wichtig, dass beispielsweise die deutsche Regierung Gesetze verabschiedet, die den Hass im Netz, Internet-Taten, aber auch Waffen für Rechtsextreme kontrollieren und eindämmen sollen. Kritiker*innen halten dies für verspätet. Vermutlich wurde Rechtsextremismus von Sicherheitsbehörden und Politiker*innen zu lange nicht ernst genug genommen. Der Mord an Walter Lübcke und der Anschlag auf die Synagoge in Halle mussten erst geschehen, damit diese politische Verantwortung wahrgenommen wird. Das verweist wiederum darauf, dass Bildung  –  auch als ‚Schulbildung‘  –  ihrerseits grundlegend ist für politisches und gesellschaftliches Handeln; Vertreter*innen der Gesellschaft müssen im Sinne von Bildung in der Lage und bereit sein, Rechtsextremismus zu erkennen und darauf angemessen zu reagieren; sie müssen Gebildete sein, um ihre Verantwortung wahrnehmen zu können.

Das Bildungswesen hat mit seinen Institutionen die pädagogische Verantwor- tung, Bürger*innen so zu bilden, dass sie im Sinne der genannten Prinzipien fähig sind, kritisch und eigenständig zu denken und zu urteilen, sich an Maßstäben friedlichen und respektvollen Zusammenlebens zu orientieren und schließlich entsprechend in Verantwortung zu handeln. Letzteres verweist auf einen Aspekt, der eher im Rahmen einer individuell verwirklichten Bildung erörtert werden muss. Die pädagogische Verantwortung der Schulbildung kann in bestimmten Bereichen besser als in anderen wahrgenommen werden  –  besser etwa im Ge- schichts-, Literatur-, Ethik- oder Sozialkundeunterricht als etwa im Physikunter- richt. Gerade wegen der expandierenden Verwendung von sozialen Medien hat die Aufklärung über und die Auseinandersetzung mit ihnen besondere pädagogi- sche Bedeutung bekommen.

‚Schulbildung‘ ist ambivalent; das heißt, sie mag sich auf ‚Lernen‘ im oberfläch- lichen Sinn beschränken, auf ‚Kompetenztraining‘ und mechanische Aneignung von Wissen. Schulunterricht, Lehre an der Universität, aber auch Erwachsenen- bildung erfüllen aber nur dann einen Bildungs auftrag, wenn sie verstehendes Ler- nen anregen. Lehren in allen Bereichen sollte bildendes Lehren sein, das heißt Bildung anregen.

Die Frage also, welche Bildung gemeint ist, wenn von Bildung zum Widerstand gegen Populismus die Rede sein kann, verlangt auch nach einer Klärung und Aus- einandersetzung im Rahmen der Erziehungswissenschaft . Wenn Lernen und Bil- dung nur als psychologischer Prozess, nur als ein Aspekt der Sozialisation, gar als einem Maschinenprogramm analoger Vorgang oder als Kompetenztraining interpretiert werden und an die Machbarkeit von ‚Bildung‘ geglaubt wird, dann wird ein entscheidender Vorgang außer Acht gelassen, der Bildung charakteri- siert, nämlich die Anregung zu individueller Auseinandersetzung mit dem Ge- lernten, mit der persönlichen Stellungnahme zu ihm, letztlich mit einer offenen Entscheidung für oder gegen es. Das hat zur Folge, dass Schulfächer und Curricula nichts oder wenig zu einer wirksamen Auseinandersetzung mit Populismus bei- tragen, wenn sinn-frei und wert-frei gelehrt und gelernt wird. 23 Genau dies muss erziehungswissenschaftlich und bildungspolitisch geklärt werden: Welche ‚Bil- dung‘ braucht es, um Populismus zu entgegnen? Vertreter*innen von Politik und Gesellschaft müssen als Gebildete verstehen, worauf es hierbei ankommt.

Hier ist nicht der Ort, praktische Anweisungen für eine Bildung zum Wider- stand im Detail zu formulieren. Lediglich einige Gesichtspunkte seien exempla- risch erwähnt. Im Rahmen einer politischen Bildung kann eine Aufklärung über das Unwesen des Populismus damit begonnen werden, seine Erscheinungsformen aufzuzeigen und sie in ihrer Problematik bewusst zu machen – so wie hier im ers- ten Kapitel darauf hingewiesen worden ist. Die Problematik wird bewusst, wenn populistische Einstellungen und populistisches Verhalten konfrontiert werden mit den Werten einer offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie. Bedeutsam ist, deren Gefährdung aufzuzeigen sowie die Folgen für das persönliche Leben.

Populismus zeigt sich nicht nur extremistisch mit Brandanschlägen auf Flücht- lingswohnungen und mit Attentaten gegen Politiker und Juden, sondern auch hinter vorgehaltener Hand, durch unbegründete Meinungsäußerungen, in Vor- urteilen. Die Chiffre für dieses Phänomen ist der Stammtisch. „Stammtischpa- rolen sind markant und bekannt. Und trotz der Schlichtheit ihres Gehalts ist es nicht einfach, sie spontan zu widerlegen. Stammtischparolen drücken auch im- mer eine Doppeldeutigkeit aus. Sie sind Mutmacher und Wutmacher.“ 24 Ihr de- fizitärer Wahrheitsgehalt ist gekennzeichnet durch das Vorurteil . Allport definiert es kurz so: „Von anderen ohne ausreichende Begründung schlecht denken.“ 25 Vorurteile sind nicht etwas Harmloses; sie enthalten Sprengkraft. „Allport gibt die folgende Skala von immer stärker werdenden Handlungsmöglichkeiten an: 1. Verleumdung, 2. Vermeidung (des Kontaktes), 3. Diskriminierung, 4. körper- liche Gewaltanwendung, 5.  Vernichtung.“ 26 Pädagogisch geht es darum, für die Phänomene der Stammtischmentalität und der Vorurteile zu sensibilisieren und zu helfen, diese zu durchschauen. Dies bietet sich in vielen Formen und Bereichen des Lehrens an. Ähnlich verhält es sich mit dem Umgang mit der Sprache. Stefano- witsch zeigt den Zusammenhang von Sprache und Moral auf. 27 Unser Gebrauch von Sprache gibt an, wie wir zueinander stehen; Sprachgebrauch ist Teil der päd- agogischen Verantwortung.

Populismus zeichnet sich durch die Ablehnung von Fremden aus. Tatsache ist auf der anderen Seite, dass mehr als ein Viertel der in Deutschland Leben- den einen Migrationshintergrund hat. Der daraus entstehende Konflikt erfordert unter anderem auch eine pädagogische Auseinandersetzung. Lange bestand die Lösung in „interkultureller Pädagogik“ oder „interkultureller Bildung“ und da- rin, Ausländerkinder zu ‚integrieren‘, das heißt, den deutschen Lebensgewohnhei- ten anzupassen. So sehr dies in pragmatischer Hinsicht erforderlich sein mag, so einseitig ist es, wenn die kulturellen Eigenarten der Herkunft von Migrant*innen missachtet werden; vieles mag Deutschen dabei befremdlich sein. Die pädagogi- sche Herausforderung besteht im Sinne einer interkulturellen Bildung neben der einseitigen Integration der Fremden darin, dass Deutsche lernen, aufgeschlossen auf sie zuzugehen, sich mit dem Fremden vertraut zu machen und vor allem: sich nicht abzuschließen, sondern Fremden zu begegnen. Bastian Berbner beschreibt „Geschichten gegen den Hass“, in denen Begegnung geschieht, aber auch schei- tert. 28 Pädagogisch sollte und kann Begegnung ermöglicht werden; ob dadurch aber Ängste und Vorurteile sich auflösen, ist pädagogisch im Letzten nicht her- stellbar.

Damit stellt sich die Frage nach Bildung erneut.

2.3 Bildung als Widerstand

Das Aufregende aller Pädagogik und insbesondere des Bildungsprozesses liegt in der Person, auf die sich Erziehung und Bildung richten. Erzieher*innen und Lehrer*innen, die bestrebt sind, Bildung anzuregen, bieten Lerninhalte, Wissen an; sie fordern zu moralischer Gesinnung auf; sie ermutigen zum Handeln. Das Milieu, das sie dabei bereitstellen, der persönliche Bezug zum Heranwachsen- den, die Methoden und die Qualität, mit denen all das geschieht, spielen eine wesentliche Rolle und haben Einfluss auf Erziehungs- und Lehrerfolg. Dennoch ist gerade dieser Erfolg nicht garantiert. Die letzte Entscheidung, das pädago- gische Angebot anzunehmen oder auch nicht, liegt beim zu Bildenden. Darin besteht die Unverfügbarkeit des Bildungsprozesses, sofern er als Akt der betrof- fenen Person verstanden wird; es handelt sich um den Hiatus, der sich zwischen (pädagogischem) Angebot und (persönlicher) Annahme auftut. Jeder ‚Gebildete‘ ist er selbst, ist, was er aus sich selbst macht. „Alle Bildung hat ihren Ursprung allein im Innern der Seele, und kann durch äußere Veranstaltungen nur veran- lasst, nie hervorgebracht werden“, so formuliert Wilhelm von Humboldt diesen Sachverhalt 29 . Das bedeutet nun keine Ohnmachtserklärung der Pädagogen; es ist der bildungstheoretische Einwand gegen eine vermeintliche Allmacht der Pä- dagog*innen. Das gilt nun auch für eine Bildung zum Widerstand gegen Populis- mus.

Wenn Bildung mit Humboldt „ihren Ursprung allein im Innern der Seele“ hat, dann müssen wir versuchen zu verstehen, was als Bildungsprozess in der einzel- nen Person vor sich geht. Bildung beruht dann auf dem, wozu sich die Person entschieden hat. Bildung ist kein blindes, ohnmächtiges Reagieren auf äußere Ein- wirkungen, sondern das entschiedene Antworten hierauf.

Ohne Wissen gibt es keine Bildung. Doch der gebildete Umgang mit Wissen, das mehr ist als Information, fordert zur Stellungnahme auf. Das beginnt mit der Unterscheidung zwischen Wirklichkeit einerseits und Phantasie und Lüge ande- rerseits. Bildung bedeutet Unterscheidungs- und Kritikfähigkeit. Kant forderte als „Wahlspruch der Aufklärung“: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu be- dienen!“ 30  – nämlich deines kritischen Verstandes.

Doch die kritische Auseinandersetzung mit dem Geschehen und den Tatsachen, mit denen jeder täglich konfrontiert wird, kann nicht bei der Unterscheidung zwischen wahr und falsch stehenbleiben. Es geht immer auch um die Frage des moralisch Akzeptablen, um eine Entscheidung für Normen und Werte. Bildung bedeutet darum auch das Wachhalten der Frage nach ethischer Orientierung.

Sofern der Einzelne bei seiner sachlichen Kritik und ethischen Orientierung auf Widersprüche trifft, provoziert das logischerweise und ‚anstandshalber‘ seinen Wi- derstand: „Dieses kann nicht wahr sein; jenes darf nicht sein“. Bildung ist als Bildung widerständig. ‚Anstand‘ ist hier verstanden im Sinne von Carl Goerdeler: „Das größ- te Problem ist die Wiederherstellung des menschlichen Anstands.“ 31 Gemeint ist der Respekt vor dem und den Anderen, die Achtung von Normen und Regeln des zivi- lisierten Zusammenlebens. Andreas Dörpinghaus beschreibt Bildung als „ein refle- xives Verhältnis, das wir gewinnen, wenn wir über uns, andere Menschen und die Welt ins Nachdenken geraten. Sie ist als Verzögerung widerständig und negativ, also eine Unterbrechung des bisher Gedachten, eine Brechung des Horizontes.“ 32

In ihrem Vortrag „Bildung ist auch Widerstand!“ geht Ursula Frost von der These aus, dass Bildung „gemäß dem Ertrag der für sie in einer Jahrhunderte langen Geschichte erstrittenen Ansprüche niemals auf Lernen als Anpassungs- leistung zu reduzieren [ist], sondern […] ihren charakteristischen Eigenwert auch und vor allem als Widerstand [zeigt].“ Frost verweist darauf, wie Bildung als Widerstand verstanden worden ist: bei Platon als Widerstand der Wahrheits- frage gegen den Wissensbetrieb; bei Kant als der Widerstand des Selbstdenkens gegen die Fremdsteuerung; bei Humboldt als der Widerstand der Humanität ge- gen Verzweckung; und bei Nietzsche als der Widerstand der Individualität gegen die Massenproduktion. 33

Nun erschöpft sich Bildung aber nicht in dem „so nicht!“ des Widerstandes. Vielmehr hat der Widerstand des Gebildeten zur Folge, dass er Verantwortung übernimmt. Dabei geht es jedoch nicht um eine juridische Verantwortung im Sin- ne der Pflichterfüllung, sondern darüber hinaus um eine existentielle Verantwor- tung. 34 Das heißt, wer Verantwortung übernimmt und aktiv Widerstand leistet, der verfügt nicht immer über vorgegebene, eindeutige Verhaltensanweisungen. Die besten Beispiele für diese Situation geben jene, die im Dritten Reich Wider- stand geleistet haben. Sie mussten sich etwa gegen einen, sie verpflichtenden Eid entscheiden und zum einen sich auf einen höheren Wert berufen, auf eine Norm, die jenseits des gesellschaftlich Anerkannten und politisch Vorgeschriebenen lag. Und sie gingen zum anderen ein Risiko ein. Existentielle Verantwortung bedeu- tet situative Normfindung und -setzung und zugleich das Risiko des Scheiterns, in extremen Situationen das Risiko des Verlusts des eigenen Lebens. ‚Situative Normfindung‘ öffnet jedoch nicht Tür und Tor für Anarchie. Denn aktiver Wider- stand im Sinne existentieller Verantwortung bleibt rückgebunden an Werte, Nor- men und Rechte, die jeden einschließen, nicht nur Mitglieder einer sich selbst er- wählenden Gruppe, etwa des ‚Volks‘ im Sinne des Populismus. Was Dörpinghaus für Bildung im Allgemeinen sagt, erhält besondere Brisanz in der Situation des aktiven Widerstands: „Der Mensch hat […], sofern er mündig sein will, für sein Leben keine Betriebsanleitung“ 35. Er muss sich nicht nur entscheiden, sondern sei- ner Entscheidung auch eine Orientierung geben, die er verantworten kann.

Bildung als Widerstand erfordert Mut. Und darin ist der Gebildete allein.

Was besagt nun eine Bildung als Widerstand im Hinblick auf den Populismus? Die pädagogischen Bemühungen, Bildung zum Widerstand anzuregen, können aufzeigen, aufklären, sensibilisieren, ermutigen: die Realität ideologiefrei wahr- zunehmen; mit eigenständigem Denken Vorurteile, Lügen und Verschwörungs- theorien zu durchschauen; das Verletzen von Anstand, das Schüren von Angst und Hass, das Ergreifen von Gewalt abzulehnen aufgrund von Werten des res- pektvollen Zusammenlebens. Doch damit Widerstand tatsächlich geschieht, dazu braucht es jene, die die pädagogischen Bemühungen für sich selbst zulassen und sie übernehmen; es bedarf in diesem Sinne Gebildeter, die sich des Wesens und Unwesens des Populismus bewusst sind.

Bis hierhin reicht möglicherweise die pädagogische Einflussnahme. Denn wem gezeigt worden ist, was Populismus charakterisiert, kann nicht behaupten, davon nichts ‚gewusst‘ zu haben. Gebildete Auseinandersetzung mit Populis- mus sollte sich aber darin auszeichnen, das gesellschaftlich und moralisch Un- akzeptable daran eigenständig beurteilen zu können. Außerdem sollten Gebilde- te dazu in der Lage sein, eigenständig und kreativ populistische Mentalität und Handlungsweisen zu erkennen, ohne von außen darauf hingewiesen worden zu sein. Diese Kreativität ist auch Kennzeichen von ‚existentieller Verantwortung‘: unter einem hohen ethischen Anspruch eine risikoreiche Entscheidung zu tref- fen. Das kann bedeuten, populistische Äußerungen mutig zurückzuweisen und möglicherweise auch gegen fremdenfeindliche oder antisemitische Handlungen einzuschreiten.

Ursula Frosts Schlussfolgerung ihrer Interpretation der Widerständigkeit, die sich nach Platon, Kant, Humboldt und Nietzsche ergibt, lautet: „Widerständige Bildung muss politisch sein“. 36 Populismus spaltet und zerstört die Gesellschaft; der Mord an Walter Lübcke ist nur ein Beispiel. Darum ist Widerstand gegen Po- pulismus eine politische und gesellschaftliche Herausforderung; und diese ist auf Gebildete angewiesen.

Literatur

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Veronika Hilzensauer

Adorno weitergedacht: Zur Aktualität einer Erziehung zur Mündigkeit als widerständige Haltung

1 Mündigkeit zwischen leerer Pathosformel und Hoffnungsschimmer

„Erziehung zur Mündigkeit“ 1 lautet der Titel eines Rundfunkgesprächs zwischen Theodor W. Adorno und Hellmut Becker, welches 1969 stattfand. Doch trotz des halben Jahrhunderts, das seither vergangen ist, scheint die Frage nach der Mündig- keit nichts an Dringlichkeit verloren zu haben. Im Gegenteil, angesichts schwer- wiegender gesellschaftlicher Problemstellungen, wie dem menschengemachten Klimawandel, dem zunehmenden offen gelebten Rassismus oder dem wachsen- den Nationalismus, werden die Rufe nach einer Erziehung zur Mündigkeit lauter. Die Forderung nach einer Erziehung zur Mündigkeit ist aufgrund dessen nicht selten die Antwort auf gesellschaftliche Probleme und so wird bspw. für die För- derung einer ‚politischen‘, ‚digitalen‘, ‚umweltbewussten‘ oder ‚arbeitsmarktre- levanten‘ Mündigkeit plädiert. 2 Mit Blick auf diese Debatten wird deutlich, dass Mündigkeit ein „normativer Orientierungspunkt“ 3 ist, der das Selbstverständnis postmoderner Gesellschaften prägt. Es gilt nicht nur als erstrebenswert, ‚mündig‘ zu werden, um in den Besitz der vollen Bürger*innenrechte zu gelangen und sein Leben selbstbestimmt gestalten zu können, sondern auch, weil Mündigkeit als Vo- raussetzung für die Verwirklichung einer Demokratie erachtet wird:

Doch die derzeitigen politischen sowie philosophischen Debatten zeugen nicht von einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Begriffskonzept. Mündig- keit ist zu einer leeren Pathosformel geworden, weil die Beförderung derselben all- gemeinhin anerkannt ist und somit einer unbedenklichen Forderung entspricht, die man ‚schnell und einfach‘ als eine Antwort auf gesellschaftliche Probleme aus- geben kann. Dieser unreflektierte, weil übereilte und undifferenzierte Umgang spiegelt sich auch in den Erziehungswissenschaften sowie in den Bildungsinsti- tutionen wider. 5 So wird Mündigkeit zwar im theoretischen Kontext zu einem normativen Leitziel von Bildung oder Erziehung 6 erkoren, doch die Praxis zeugt nicht davon  –  zumindest nicht, wenn Adornos Bestimmung von Mündigkeit grundgelegt wird. Anstatt die Menschen in einer „Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand“ 7 zu fördern, wie Adorno betont, werden diese  –  damals wie heute – dazu erzogen, sich an Leistungsnormen anzupassen. Doch auch im zeitgenössischen philosophischen Diskurs findet die Thematik kaum Beachtung, denn die Überlegungen von Adorno zur Mündigkeit werden zwar stellenweise rezipiert, aber kaum kritisch-konstruktiv weitergedacht und im Bereich der So- zialphilosophie oder Bildungsphilosophie fortgeführt. Diese unkritische Begriffs- verwendung und die genannten gesellschaftlichen Herausforderungen machen eine philosophische Auseinandersetzung umso dringlicher. Der vorliegende Text möchte einen Beitrag leisten, indem er Adornos Mündigkeitskonzeption für ein breites Publikum rekonstruiert, um es anschließend konstruktiv zu erweitern. Mündigkeit besteht – so die hier vertretene These – in einer Haltung der gelebten widerständigen Auseinandersetzung. Im Sinne dieses Vorhabens wird zuerst ge- zeigt, wie Adorno Mündigkeit definiert und wie eine Erziehung zur Mündigkeit gestaltet werden kann (2). Ausgehend davon wird ein modifiziertes und erweiter- tes Mündigkeitsverständnis unterbreitet (3). Abschließend wird gefragt, wie eine Bildung zur widerständigen Haltung gefördert werden kann (4).

2 Adornos Konzeption von Mündigkeit

Nicht zuletzt veranlasst durch die Erfahrungen mit dem totalitären System des Nationalsozialismus, sieht Adorno in der Förderung von Mündigkeit eine not- wendige Voraussetzung für Demokratie. Doch angesichts der Tatsache, dass „die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen [in der Nachkriegsgesellschaft] fortbestehen, die den Faschismus zeitigten“ 8 , ist für Adorno Mündigkeit und so- mit auch Demokratie erst zu entwickeln. Um diese Frage näher zu beantworten, muss ganz im Sinne der kritischen Theorie geklärt werden, welcher gesellschaft- liche Kontext überhaupt die Frage veranlasst. Woher rührt die Unmündigkeit?

2.1 Gründe für die bestehende gesellschaftliche und individuelle Unmündigkeit

Wie Kant definiert Adorno das Ziel der Philosophie in einer Befreiung der Menschen aus ihrer Unmündigkeit. Aber während Kant seine Hoffnung in eine Aufklärung durch die Vernunft legt 9 , vermutet Adorno gerade in der kantisch gedachten Aufklärung eine „Selbstzerstörung der Aufklärung“ 10 , weil mit der aus- schließlichen Einnahme der individuellen Perspektive die gesellschaftlichen Be- dingungen der Aufklärung unterschlagen werden. So verstehe sich der Mensch im Laufe der Geschichte immer mehr als einer, der sich (scheinbar) mithilfe der Vernunft alles Begegnende zu eigen machen könne. Jenes verobjektivierende und identifizierende Vorgehen hat nicht nur zu einer Beherrschung der Natur geführt, sondern auch zu einer Selbstverdinglichung, die eine Selbst- und Weltentfrem- dung zur Folge hat. Die Selbstentfremdung, die mit einer „Zerstörung individuel- ler Persönlichkeitsfähigkeiten“ 11 einher geht, führt bis zur umfänglichen Hetero- nomie des Subjekts 12 . Zugleich spiegelt sich jene sozialpsychologisch analysierte Entfremdung in entscheidender Weise auf gesellschaftlicher Ebene in Form einer „(ökonomischen) Organisation“ 13 wider, wie z. B. in der zunehmenden Bürokrati- sierung, Technokratisierung und „Kulturindustrie“ 14 . Entgegen dem Versprechen der Aufklärung wird auf diese Weise nicht Mündigkeit, sondern eine „Schein- mündigkeit“ 15 etabliert. Eine moderne Massengesellschaft entsteht, die sich über die Herrschaft der Objektwelt identifiziert und alles Begegnende unterschieds- los zu einer instrumentell-objektivierbaren Ware macht. Dieses Strukturprin- zip, welches die Menschen immer mehr zur Anpassung zwingt und somit ihre einzigartige Individualität übergeht, führt zugleich zu einer Vereinzelung der Individuen. Angesichts dessen konstatiert Adorno, dass dieser eindimensionale Aufklärungsprozess bis heute anhält und der Grund für die Unmündigkeit ist.

2.2 Welche Erziehung zu welcher Mündigkeit?

Einen Ausweg aus der Unmündigkeit sieht Adorno in der Begründung einer „all- gemeine[n] Aufklärung, die ein geistiges, kulturelles und gesellschaftliches Klima schafft“ 16 , einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die zu einem umfassenden Lebenswandel führt. Doch aufgrund des enormen Anpassungsdrucks hält Ador- no einen solchen umfassenden Wandel für nahezu unmöglich. In einer Förderung der individuellen Mündigkeit liegt deshalb die Möglichkeit, die allgemeine Auf- klärung quasi ‚von unten‘ her, d. h. von den mündig werdenden Menschen, zu ent- wickeln 17 . Dies kann durch eine „Erziehung“ 18 erreicht werden. Wie eine solche Erziehung gestaltet werden sollte, kann erst gesagt werden, wenn die Frage nach dem „wozu?“ 19 von Erziehung, d. h. der Mündigkeit, beantwortet ist. Wie definiert Adorno Mündigkeit?

Mündigkeit als widerständiges Denken: Widerspruch und Widerstand

Ganz im Zeichen von Kants Aufklärungsansatz steht Adornos Mündigkeitsver- ständnis, insofern er festhält, dass eine Erziehung zur Mündigkeit eine zur Auto- nomie bedeutet. 20 Mittels kritischer Reflexion entfaltet der Mensch sukzessive Au- tonomie, die Widerspruch und Widerstand ermöglicht. Mündigkeit ist demnach „dynamische[r] Kategorie“ 21 , weil sie prozesshaft entwickelt wird und nur im Voll- zug zu ‚haben‘ ist. Jene individuell ablaufende Entwicklung ist die Voraussetzung für eine verwirklichte Demokratie:

Unter Widerstand versteht Adorno aber mehr als nur den tätigen Widerstand, denn dieser beginnt bereits mit der Differenzierung von Erkenntnis und Konven- tion und für die Entscheidung für Ersteres:

Ein Subjekt erweist sich als mündig, wenn es selbstständig und differenziert denkt und sich dadurch widerständig ins Verhältnis zu sich und anderen setzt. In der Folge kann es Kritik oder Widerstand üben. Dies lässt den Schluss zu, dass Ador- no ‚Widerstand‘ notwendigerweise als einen kognitiven Akt auffasst. Als wider- ständig kann das Denken bei Adorno insofern interpretiert werden, als es sich erstens von konventionellen, hegemonialen, vorurteilsbehafteten und d.  h. we- sentlich allgemeinen Aussagen (von Personen oder Institutionen) absetzt – worin zugleich der normative Anspruch besteht. Zweitens ist der Mündigkeitsvollzug selbst ein ‚wider-ständiger‘: Er beschreibt ein relationales Geschehen, welches sich dadurch auszeichnet, dass es sich mit dem Gegenüber auseinandersetzt, sich eben ‚wider’ gegenüber etwas setzt. Deutlich macht das Zitat auch, dass Zivilcourage im Gegensatz zur geläufigen Deutung zunächst nicht als eine Handlung gedeutet wird, sondern als ein Denken gegen „die sich ausbreitende Heteronomie“ 25 . Eine widerständige Handlung ist nicht immer möglich, weil der Anpassungsdruck zu hoch ist. Doch was möglich ist, ist ein gedanklicher Widerstand. Für Adorno ist es selbstverständlich, dass es nicht das Ziel von Erziehung sein kann, sich völlig aus dem Anpassungsdruck zu befreien. Es ist eine soziale Überlebensnotwendigkeit, sich anzupassen. 26

142 Mündigkeit als Bewusstmachung und Selbstaufklärung

Mit dem widerständigen Denken geht eine „Bewußtmachung“ 27 einher, die wie- derum die Entfaltung einer „autonomen Subjektivität“ 28 befördert. Das „richtige Bewußtsein“ stellt einen Gegenentwurf zu dem konstatierten, allgegenwärtigen „verdinglichten Bewußtsein“ 29 dar. Der Ausdruck bezeichnet Menschen, die sich und in der Folge auch andere zu einem bloßen Objekt machen und sich über (scheinbare) ‚Fakten‘ definieren, anstatt anhand „lebendige[r] Beziehungen“ 30 . Paradigmatisch für solche Menschen sei es, dass sie sich nicht als Gewordene be- greifen würden, sondern ihre eigene Bedingtheit ausblenden und sich unhinter- fragt als absolut setzen:

Sich selbst als ein gewordenes Subjekt zu verstehen, ist auf individueller als auch auf intersubjektiver Ebene von Bedeutung. Nur wer den Bezug zu anderen zulässt, kann auch eine gelingende „Ich-Bindung“ 32 entwickeln, sich mit anderen ausei- nandersetzen und seine Autonomie entfalten. Zugleich kann die Anerkennung der eigenen (gesellschaftlichen) Gewordenheit als gesamtgesellschaftlich relevant gedeutet werden, denn sie fördert das Demokratiebewusstsein. Das Subjekt kann auf diese Weise nicht nur die „gesellschaftlichen Betrüge“ 33 erkennen, um sich davon zu distanzieren, sondern es kann sich zugleich als ein lebendiger Teil dieser Gesellschaft erfahren.

Eine der Thesen, die mit der Rekonstruktion von Adornos Mündigkeitsver- ständnis gewonnen werden kann, lautet daher: Nur wer sich selbst als ein Sub- jekt begreift, welches die gesellschaftlichen Lebensbedingungen immer schon mitbedingt, kann sich auch gegenüber diesem Tun in Form eines Begreifens oder sogar eines Handelns widersetzen. Auf diese Weise transzendiert Adorno die Vorstellung eines individuellen Selbstbewusstseins immer schon hinsicht- lich einer gesellschaftlichen Vorstellung. Der Prozess der Bewusstmachung wird als der Vorgang gedeutet, sich selbst als ein politisches Subjekt zu begreifen, dessen Denken und Handeln nie rein privat, sondern auch öffentlich ist – und genau darin drückt sich Mündigkeit wesentlich aus. Angesichts dessen wird die Forderung Adornos nach (mehr) Mündigkeit als ein Plädoyer für Widerspruch und Widerstand verstanden. Widerspruch und Widerstand sollen einerseits gegenüber der individuell ablaufenden „Überidentifikation der Subjekte mit den Zwangsverhältnissen“ 34 geleistet werden. Zum anderen sind sie Antwort auf die gesellschaftlich organisierte Eingliederung der Menschen in eine homogene Massengesellschaft.

2.3 Erziehung zur Mündigkeit?

Wie kann dieser Prozess zur Mündigkeit laut Adorno erzieherisch gefördert wer- den? Der angesprochene bewusstseinsverändernde Prozess kann sowohl von dem Subjekt selbst ausgehen, als auch von außen angestoßen werden. Einerseits soll sich demnach das Subjekt aus sich heraus eigenständige Gedanken machen. 35 In Anlehnung an Kant hält Adorno dementsprechend fest, dass sich das Subjekt ohne Leitung eines anderen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befrei- en solle, in dem es sich selbst zur Aufklärung verhelfe. 36

Andererseits sei dieser Prozess auch durch eine „Erziehung des ‚Madigma- chens‘“ 37 zu unterstützen. Eine solche Erziehung bestehe darin, die Betreffen- den  –  z.  B. durch angeleitete Medienanalysen  –  dazu anzuregen, bisher liebge- wonnene Inhalte zu hinterfragen, um ihnen bewusst zu machen, inwiefern sie durch die Kulturindustrie ideologisch vereinnahmt werden. 38 Letzte Zielpers- pektive jeglicher Erziehungsmaßnahmen bleibt aber stets der Imperativ, dass Ausschwitz nicht noch einmal sei und die Menschen für die Motive, die zu dem Grauen geführt haben, zu sensibilisieren. 39 Aufgrund der Tatsache, dass diese Mo- tive gesamtgesellschaftlich wirken, ist es für Adorno unumgänglich, den bewusst- seinsverändernden Prozess bei allen Menschen anzuregen. Eine Weichenstellung sieht er deshalb auch in einer Reformierung der Lehrer*innenausbildung, da die „geistige Verfassung“ 40 der Lehrer*innen, einem totalitären Denken ähnlich ist. Die Lehrer*innen sollten in ihrer „Kraft des Widerstands durchs eigene Denken“ 41 anstatt in der „bornierten Aneignung von Kenntnissen“ 42 befördert werden. Doch gerade in der Ausbildung der Lehrer*innen zum „Fachmenschen“ 43 sieht Adorno eine problematische Dialektik. So seien die werdenden Lehrer*innen dazu ange- halten, ihre Persönlichkeit aus dem Schulalltag auszusperren und bestimmte vor- gegebene Inhalte (scheinbar) objektiv zu vermitteln. Dies hat aber zur Folge, dass sich weder die Schüler*innen mit den Lehrer*innen identifizieren können, noch, dass sich die Lehrer*innen mit einem (für sie interessanten) Fachgebiet auseinan- dersetzen können. 44 Zudem wird der Lehrberuf durch die mangelnde gesellschaft- liche Anerkennung und aufgrund von Vorurteilen erschwert. Dies gründet u. a. in der Strukturlogik der Schule selbst. So habe die Schule die immanente Tendenz, sich als Sphäre des eigenen, abgeschlossenen Lebens zu etablieren und sich da- durch gegenüber jeglicher Kritik von außen zu immunisieren. Die Schule stellt sowohl für die Schüler*innen als auch für die Lehrer*innen eine Zwangssituation dar, wie z. B. sich an die geltenden Leistungsnormen anzupassen. 45 Aufgrund die- ser Situation „ist die Schule für die Entwicklung des Einzelmenschen fast der Pro- totyp gesellschaftlicher Entfremdung überhaupt.“ 46 Weiterhin veranlassen Ador- no Tatsachen, wie z. B., dass die Schule stark durch einen Wettbewerbsgedanken geprägt ist, an einem Autoritätsprinzip der Lehrer*innen und einem falschen Be- gabungsbegriff festhält, sowie dreigliedrig organisiert ist und dadurch klassenspe- zifische Ungleichheiten reproduziert, zu der Annahme, dass die Institution Schu- le nicht Mündigkeit befördert, sondern Unmündigkeit zementiert. 47 Um dieser Tendenz auf institutioneller Ebene etwas entgegenzusetzen, fordert Adorno zum einen eine „psychoanalytische Schulung und Selbstbesinnung“ 48 der Lehrer*innen und zum anderen eine Neukonzeptuierung des Unterrichts, im Sinne eines erfah- rungsbasierten, offenen, angstfreien und politischen Lernens. Bei allen konkre- ten Vorschlägen zur Umgestaltung von Bildungsinstitutionen bleibt für Adorno jedoch die Frage offen, ob Einrichtungen, wie die Schule, überhaupt einen Ort darstellen können, um auf gelingende Weise Mündigkeit erzieherisch zu fördern. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass eine Erziehung zur Mündigkeit laut Adorno gerade in der Selbstaufklärung sowie in einer Aufklärung durch andere besteht, weil sie zu einem Bewusstsein der eigenen gesellschaftlich gewordenen Individualität führt. Diese erwirkt wiederum ein widerständiges Denken und ermöglicht Widerspruch und Widerstand. Mündigkeit drückt sich auf der Sub- jektebene in einem seiner selbst bewussten und autonomen Individuum aus. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene besteht Mündigkeit hingegen in einer Demokratie als „Gesellschaft von Mündigen“ 49 , die auch durch Bildungsinstitutionen gestärkt werden sollte.

146
3 Mündigkeit als gelebte Auseinandersetzung mit sich selbst und anderen: vom widerständigen Denken zur Haltung des Widerstands

Jegliches Nachdenken über eine Erziehung zur Mündigkeit macht nur Sinn, wenn diese auch tatsächlich gefördert werden kann. D. h. im Umkehrschluss, dass auch nur von einer Tendenz 50 zur Unmündigkeit ausgegangen werden kann, nicht aber von einem Verlust der Mündigkeit. Wird Mündigkeit konsequent dynamisch ge- dacht, so bedeutet dies nicht nur, dass sich der Mensch von Geburt an im Prozess der Mündigwerdung befindet, sondern auch, dass Mündigkeit nicht identitär ge- fasst werden kann. Somit muss auch die Frage „Was ist Mündigkeit?“ zu Gunsten der Frage „Wie gestaltet sich Mündigkeit?“ fallen gelassen werden.

Wie gestaltet sich also Mündigkeit? Indem diese Frage beantwortet wird, wird zugleich auch noch deutlicher, warum es wichtig ist, Mündigkeit als einen Pro- zess zu denken. Laut Adorno besteht Mündigkeit in einer Selbstaufklärung, in Bewusstmachung sowie in Widerspruch und Widerstand. Doch hinsichtlich des Mündigkeitsverständnisses als Selbstaufklärung ohne Leitung durch andere tun sich weitere Widersprüche auf. Hier wird das Bild von einem Menschen skizziert, welcher sich rein aus sich heraus durch ein quasi autark vernünftiges Denken (d. h. ohne sich dabei auf andere oder/ und anderes zu beziehen) selbst aufklärt. Was soll das aber konkret heißen? Denken wir bspw. an eine Jugendliche, die sich dafür entscheidet, aktiv an einer Demonstration im Rahmen der Klimaproteste teilzunehmen. Nehmen wir weiterhin an, sie trifft diese Entscheidung, ohne sich in irgendeiner Phase der Entscheidungsbildung mit anderen auszutauschen oder von anderen dazu aufgefordert zu werden. Dennoch trifft sie diese Entscheidung bewusst. Sie hat sich mit den globalen Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels beschäftigt und sie weiß um die schwerwiegenden Folgen für sie und andere, jetzt und in der Zukunft. Das Fallbeispiel kann aufgrund des wider- ständigen Denkens und Handelns der Jugendlichen als ein Fall von Mündigkeit geltend gemacht werden. Aber es stellt sich die Frage, inwieweit dieses Fallbeispiel von einer Selbstaufklärung zeugt. Es macht deutlich, dass die Jugendliche zum Demonstrationsbesuch nicht verleitet wurde (im Sinne einer Fremdsteuerung), doch dies heißt nicht, dass sie dies ganz ohne Leitung tat. Vielmehr, und dies macht Adorno deutlich, findet jedes menschliche Denken und Handeln in einem gesellschaftlich normierten Kontext statt: Der Mensch ist (– möchte man diesen mehr als fraglichen Dualismus anwenden – geistig wie leiblich bzw. im Denken und Handeln) immer schon gesellschaftlich bzw. durch, mit und von anderen Menschen geprägt. Darüber hinaus ist der Mensch für eine gelingende psychoso- ziale Entwicklung auf die Auseinandersetzung mit anderen angewiesen. Er sucht nach (negativen wie positiven) Vorbildern, nach Leitung und Orientierung. Dies lässt den Schluss zu, dass es eine Selbstaufklärung im Sinne eines identitären, au- tarken Vollzugs nicht gibt. Denn letztlich beschreibt jeder Auseinandersetzungs- vollzug mit sich selbst und anderen immer schon ein relationales Verhältnis, und jene Verhältnisse sind eben immer schon implizit wie explizit durch andere und anderes geprägt. Es bleibt festzuhalten, dass die kantisch inspirierte Vorstellung eines sich selbst, allein durch sich selbst aufklärenden Subjekts fallen gelassen wer- den muss.

Im engen Zusammenhang zu der Vorstellung eines sich selbst aufklärenden Menschen steht auch die Annahme, dass Mündigkeit darin bestehe, sich aus einer selbstverschuldeten Lage zu befreien. Doch liegen die Gründe für ein unmündi- ges Denken und/ oder Handeln wirklich ausschließlich bei der Person? Gerade Adorno betont doch immer wieder, dass es eben die gesellschaftlich gewachsenen Strukturen sind, die die Menschen (tendenziell) unmündig sein lassen. Führen wir uns also nochmals das Beispiel der Jugendlichen vor Augen. Nehmen wir diesmal an, dass sie nicht auf die Demonstration geht – trotz aller öffentlichen Bewerbung. Stattdessen entscheidet sie sich für einen Kinobesuch mit Freund*in- nen. Wenn wir ihre Entscheidung als unmündig auffassen würden – was fraglich bleibt, kennen wir nicht den spezifischen Kontext der Situation – würden wir die Gründe wirklich nur bei der Jugendlichen selbst suchen? Viele Stimmen würden hierin einen Fall von selbstverschuldeter Unmündigkeit sehen, der exemplarisch für eine (scheinbare) „politikverdrossene Jugend“ steht, die nur an ihrem eige- nen Wohl interessiert sei. 51 Doch diese Erklärung greift zu kurz. Denn es stellt sich die Frage: In welchen gesellschaftlichen Kontext ist diese spezifische Situ- ation gestellt? 52 Inwiefern verhandelt dieses Beispiel einen exemplarischen Fall, der modellhaft  –  als Ausdruck einer allgemein wirkenden gesellschaftlichen Situation  –  gelesen werden kann? So könnte man bspw. fragen, inwiefern wird es Jugendlichen, wie dieser jungen Frau, in dieser Gesellschaft erschwert, in die politische Auseinandersetzung (wie z.  B. bei einer Demonstration) zu gehen? Gründe hierfür lassen sich unzählige anführen und alle verweisen sie auch auf gesellschaftliche Zusammenhänge. Angefangen von mangelndem Erfahrungs- wissen, was es heißt eine Demonstration zu besuchen, der Angst, nicht von den anderen Jugendlichen anerkannt zu werden, wenn sie auf die Demonstration geht, anstatt diese im Kino zu treffen, oder auch dem Gefühl der Desillusionierung in Form eines ‚Nicht-Gehört-Werdens‘. Werden die Gründe für Unmündigkeit ein- zig den individuellen Umständen zugeschrieben, führt dies nicht nur dazu, dass dem Menschen eine enorme Selbstverantwortung auferlegt wird. Es wird einem gefährlichen politischen Relativismus Tür und Tor geöffnet. Dieser negiert jede gesellschaftliche Verantwortung und macht auch die Forderung nach Bildungs- maßnahmen (die immer auch gesellschaftlicher Natur sind) obsolet. Mehr noch, wenn Mündigkeit in einer Bewusstmachung und einem widerständigen Denken besteht, kann der Grund für Unmündigkeit nicht allein in individuellen Gründen aufgehen, denn eine solche Definition wäre selbst ein unmündiger Vorgang und als ein performativer Fehlschluss zu bewerten. Mündigkeit als Bewusstmachung und widerständiges Denken kann überhaupt nur aufgrund einer tatsächlichen gesellschaftlichen Bedingtheit (die stets prozesshaft abläuft) konstituiert werden. Zudem wird an dieser Stelle auch deutlich, dass es schwer nachzuvollziehen ist, wie Adorno, in Anlehnung an Kant, davon auszugehen, Unmündigkeit resultiere aus einem Entschluss (zumindest, wenn man einen Entschluss als Ausdruck von Mündigkeit definiert). So verstanden kann ein unmündiger Vorgang nicht da- rin bestehen, sich dafür zu entscheiden, sich nicht seines Verstandes zu bedienen. Dies würde nämlich einen Entschluss voraussetzen und somit einen mündigen Vorgang bezeichnen.

Angesichts dieser Überlegungen wird deutlich, was Mündigkeit nicht sein kann. Sie kann weder in einer Selbstaufklärung bestehen, noch rührt Unmündig- keit allein von einer Selbstverschuldung her. Doch wie gestaltet sich dann Mün- digkeit? Mit Blick auf Adorno wird deutlich, dass sie in der Bewusstmachung, im Widerspruch und Widerstand besteht. Um einer Antwort auf die Frage nach der Gestaltung von Mündigkeit näher zu kommen, sollte das Phänomen aber noch näher betrachtet werden, welches zu verwischen droht, wenn man allgemein und in substantivierter Form über Mündigkeit spricht. Betrachten wir zum dritten Mal das Ausgangsbeispiel der Jugendlichen, die auf die Demonstration geht. In Ausgang von Adorno kann die (bereits im Vorfeld) stattfindende, kognitive Aus- einandersetzung mit dem Thema ‚Klimawandel‘ als widerständiges Denken und somit als mündig erachtet werden. Dies geht freilich nur, wenn es sich um eine gelebte Auseinandersetzung handelt – und dies meint weniger eine vernunftge- mäße logische Abwägung von Gründen, sondern ein relationales Verhältnis, das existentiell eingenommen wird. Stellt sich die Jugendliche bspw. die Frage, inwie- fern die Klimaerwärmung in Zusammenhang mit ihrem individuellen Leben und umgekehrt steht oder mit allgemeineren Worten: ‚Was hat eine bestimmte Situ- ation X mit mir zu tun und was habe ich mit der Situation X zu tun?‘ Stellt sich der Mensch existentiell in diese Frage, so bedeutet dies nichts anderes, als sich als politisches Wesen zu verstehen, d.  h. anzuerkennen, dass alles, was man denkt und tut, auch immer gesellschaftlich geprägt ist bzw. man auch die Gesellschaft prägt. Halten wir uns in dieser gemeinsinnorientierten Frage auf, so kann dies als ein mündiges Denken verstanden werden. Machen wir unseren Widerspruch darüber hinaus öffentlich, wie z. B. verbal gegenüber der allgemeinen Meinung, dass der deutsche Staat genug gegen die Klimaerwärmung tut, so schalten wir uns im Sinne Arendts in die Welt ein 53 , legen in diesem Moment ein mündiges Zeugnis ab. Nehmen wir öffentliche 54 Plätze leiblich ein, fühlen uns verbunden mit denjenigen, die sich mithilfe einer Demonstration um ein Gehörtwerden bemühen und setzen uns ab von denjenigen, die meinen, es werde genug gegen den Klimawandel unternommen, so leisten wir aktiven Widerstand in Taten und Worten, sind mündig im Vollzug. Möchte man an Adornos Mündigkeitskonzept in Form des widerständigen Denkens, Widerspruch und Widerstand konsequent festhalten, so muss Mündigkeit relational gefasst werden. Alle drei Formen kön- nen nur aufgrund ihrer relationalen Bezogenheit als solche definiert werden, denn Mündigkeit findet notwendigerweise in Bezug zu einem selbst und zu anderen statt. Somit besteht Mündigkeit stets im mehrfach relationalen Vollzug, was wie- derum bedeutet, dass sie nur prozesshaft gedacht werden kann. Weiterhin zeigt sich Mündigkeit hinsichtlich eines spezifischen Bezugs. D. h. gestaltet sie sich je nach Kontext, Situation und beteiligten Menschen anders. Dies bedeutet zugleich, dass ein allgemeines Fragen nach abstrakter Mündigkeit ins Leere führt, weil die Frage selbst noch, wie Adorno sagt, viel zu abstrakt ist. 55 Doch Mündigkeit besteht nicht nur darin, in den Bezug, in die gelebte Auseinandersetzung zu sich selbst und anderen zu gehen, sondern bedeutet auch, sich zu verorten, in Form eines (wachsenden) Bewusstseins oder Spürens der eigenen gesellschaftlichen Gewor- denheit und Verwobenheit mit der Welt. Zugleich liegt in der gelebten Beziehung zu anderen die einzige Bedingung zur Möglichkeit, sich selbst in seiner einzigarti- gen Vielfalt zu erfahren und anzuerkennen. Dies hat weitreichende Folgen, denn die Unterdrückung der Individualität und damit der Möglichkeit, in Bezug zu sich und anderen Menschen zu treten, kann zu einer Unterdrückung der Widerstands- kraft führen und somit auch der Mündigkeit selbst:

Das erhellende Moment dieser Beobachtung liegt darin, sich darüber im Klaren zu sein, dass dort, wo die Forderung nach Mündigkeit mit einem individualis- tischen Autonomiebegriff einhergeht und keine relationale Auseinandersetzung mit anderen beschreibt, auch keine faktische Mündigkeit entstehen kann. Auf- grund dieser Einsicht kann das derzeitig individualistisch orientierte und an die zweckrationale Leistungsnorm anpassende Bildungssystem kritisiert und für eine „lebendige Bildung“ 57 plädiert werden, die eine erfahrungsbasierte Auseinander- setzung mit sich und anderen fördert.

Ausgehend von der Deutung des Mündigkeitsverständnises Adornos als relatio- nale, widerständige Auseinandersetzung wird dafür plädiert, Mündigkeit als eine widerständige Haltung zu interpretieren. Dies ist dem Philosophieverständnis von Adorno angemessen, da eine Haltung erstens keine Fähigkeit an dem Subjekt identifiziert, sondern einen Prozess der Einübung beschreibt, der nur durch und mit anderen erfahren und eingenommen und eben nicht vermittelt werden kann. Zweitens erscheint die Forderung nach einer Haltung auch in Adornos Sinne, weil er jedwede Ethik oder Moralphilosophie, verstanden als Anleitung einer guten oder richtigen Lebensführung, ablehnt. Eine solche kann es in einer verwalteten Welt nicht geben. Der Mensch ist dazu aufgefordert, sich mit dieser Welt aus- einanderzusetzen und einen politischen Umgang mit ihr zu begründen, worin auch die einzige ‚quasi-moralische‘ Forderung besteht. Die widerständige Hal- tung kann zum einen als eine, oder gar die einzige, Möglichkeit gedeutet werden, sich – trotz der „blockierten systembedingten Emanzipation“ 58  – auf individuel- ler Ebene mit der verwalteten Welt kritisch und ‚moralisch‘ auseinanderzusetzen. Zum anderen – und hier wird die These Adornos konstruktiv erweitert – erscheint die Begründung einer widerständigen Haltung die einzige Möglichkeit, sich über- haupt in den Prozess der Mündigkeit zu begeben und sich selbst sowie die Welt (positiv) zu verändern. Jedwede vorweggenommene, positivistische Forderung nach der Durchsetzung von Normen, Moralvorstellungen oder Sollvorgaben ver- unmöglicht eine kritische Auseinandersetzung mit der jeweiligen Situation, weil diese übergangen wird und nicht in ihrem immanenten Zusammenhang gesehen werden kann. Als einzige konstitutiv-konstruktive ‚Lösung‘ kann die Forderung angegeben werden, sich in einen Prozess der Mündigkeit zu begeben, der eine widerständige Haltung abverlangt. Dies bedeutet, sich auf den jeweiligen Kontext einzustellen und responsiv statt reaktiv auf die Mitwelt einzugehen, ohne diese schon kontextübergreifend vorwegnehmen zu wollen.

Mit Blick auf den derzeitigen Mündigkeitsdiskurs sowie auf Adornos Konzep- tion wird deutlich, dass der kognitivistische Aspekt stark betont wird. Eine solche Deutung kann auf das kantische Autonomieverständnis zurückgeführt werden, das jemanden als mündig erachtet, wenn sie oder er sich aufgrund der Vernunft selbst aufklärt. Allerdings wurde gerade jenes individualistische Autonomiever- ständnis als eine Engführung kritisiert, da es die relationale Grundverfassung des Menschen nicht berücksichtigt. Mit Blick auf die vielfältigen, menschlichen, widerständigen Praktiken wird deutlich, dass sich Mündigkeit in weit mehr aus- drücken kann, als nur in einer gedanklichen Auseinandersetzung. 59 Eine Haltung verweist auch immer auf eine leibliche Verfassung. So spüren wir eine kritisch-wi- derständige Haltung emotional-leiblich und drücken sie aktiv wie passiv aus. Wir stehen für diese mit unserem Körper ein 60 , gleich ob wir dies nun öffentlich tun oder von anderen ungesehen: Das Individuum spürt sich stets in seiner Haltung auf sinnlich-sinnhafte Weise. Spätestens bei dieser Überlegung kommt die drän- gende Frage auf, was Menschen dazu veranlasst, mündig oder widerständig zu handeln. Ein rein kognitivistisches Erkennen scheint hier bei weitem nicht auszu- reichen, wie man bspw. mit Blick auf den derzeitigen (Verdrängungs)Umgang mit dem Klimawandel sieht. Es wird deutlich, dass es weder möglich noch sinnvoll ist, Mündigkeit – zumindest dem Grundverständnis von Adorno nach – als einen ‚reinen‘ kognitiven Akt zu beschreiben. Umso verwunderlicher ist, dass jene kog- nitivistische Definition von Mündigkeit kaum im erziehungswissenschaftlichen 61 noch philosophischen 62 Diskurs diskutiert oder kritisiert wird.

Eine kritisch-widerständige Haltung erfordert einen Dreischritt. Das Subjekt muss sich sinnlich-sinnhaft auf die Welt beziehen (a), um sich selbst sowie das Gegenüber als Besondere, als Andere, – eben als ‚ Wider -ständige‘ – zu erfahren (b), und um sich schließlich – in einem Akt (c) – mit sich oder dem Gegenüber auseinanderzusetzen. Der Akt (c) kann sich dabei in Form einer gedanklichen Auseinandersetzung oder auch in Form eines kreativen, leibhaften Ausdrucks oder einer (nonverbalen) Handlung, wie der des Widerspruchs oder des Wider- standes, äußern. Zu betonen ist, dass jedwede widerständige Haltung stets auch eine kritische Auseinandersetzung des Subjekts mit sich selbst erfordert, um sich dadurch zugleich explizit wie implizit gesellschaftlich zu verorten. Gelingende Bildung wird im besten Fall als eine Bildung zur Mündigkeit aufgefasst, die aber weniger im Zeichen einer Normierung an gesellschaftliche Vorstellungen steht, noch als Befreiung aus ihnen verstanden wird, sondern als die Auseinanderset- zung mit ihnen.

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4 Ausblick: Zur Situation der Institution Schule in Deutschland im Sinne einer Bildung zur widerständigen Haltung

Doch was heißen die hier angestrengten Überlegungen zur Mündigkeit für die heutige Situation der Gesellschaft? Nimmt man die Definition von Mündigkeit als widerständige Haltung ernst, so muss man davon absehen, Mündigkeit ein- deutig definieren zu wollen. Auf die Frage hin, wie dann Mündigkeit institutionell gefördert werden kann, lautet daher die vielleicht zunächst entmutigende Ant- wort, dass kein noch so gutes Bildungskonzept die Förderung von Mündigkeit garantieren kann. Die Einübung einer widerständigen Haltung ist ein lebenslan- ger Prozess und somit unverfügbar. Aber was getan werden kann, ist, den Pro- zess zur Mündigkeit zu fördern. Doch mit Blick auf das derzeitige Schulsystem kann – ähnlich zu Adorno – festgehalten werden, dass nicht Mündigkeit gefördert wird, sondern Unmündigkeit. Die Gründe liegen in dem grundsätzlichen Mangel an gelebten Beziehungen zwischen den Schüler*innen und Lehrer*innen. So wird an den regulären Schulen ein Faktenlernen gefördert, dass auf einem einseitigen Vermittlungsprozess von Lehrer*innen zu Schüler*innen beruht anstatt auf der erfahrungsbasierten Auseinandersetzung zwischen allen Beteiligten. Mündigkeit kann nicht vermittelt werden, wie etwa Vokabeln auswendig gelernt werden kön- nen. Sie bedarf der erfahrungsbezogenen, sinnlich-sinnhaften Einübung, einer Einübung, die zwischen den Menschen stattfindet. Doch das derzeitige Dogma der individuellen Leistungsförderung an Schulen ist kein Ausdruck einer Erzie- hung zum Widerstand, sondern einer zur Anpassung unter ökonomisch definier- ten Gesichtspunkten. Freilich geht mit jeder Bildungsinstitution auch eine Erzie- hung zur Anpassung an bestimmte gesellschaftliche Regeln und Normen einher. Doch die Schüler*innen unterstehen einer derart „instrumentelle[n], auf Leistung und mehr noch auf Erfolg orientierte[n] Erziehungspraxis“ 63 , sodass ihnen ein zweckrationaler Umgang 64 mit sich selbst und anderen vermittelt wird, anstatt sie in der Einnahme eines sinnlich-sinnhaften Selbst- und Weltbezuges und somit in einer widerständigen Haltung zu fördern. Jener zweckrationale Umgang führt aber in ein fremd- und selbstverdinglichendes Verhalten, was die Schüler*innen mehr und mehr in die Entfremdung treibt. So sind die Schüler*innen derart damit beschäftigt, gute Noten zu erhalten (weil gute Noten zur Hauptform und ‚Wäh- rung‘ für Anerkennung geworden sind), dass sie nicht dazu angehalten werden, sich mit den anderen Schüler*innen auseinanderzusetzen und gemeinsam einen Bildungsweg zu gehen. Die Schule befördert auf diese Weise nicht die Stärkung der Sozialität, sondern Asozialität und somit eine Atomisierung der Menschen. Doch überall dort, wo die Menschen von sich entfremdet sind, können sie sich weder selbst noch andere in ihrer einzigartigen Vielfalt sehen. Doch wer sich und andere auf diese Weise nicht anerkennen kann, der kann sich auch nicht aufeinan- der beziehen, sich wider -einander bzw. mündig verhalten. Wie sähe eine mündig- keitsfördernde Schulbildung aus?

Wie deutlich geworden ist, sollte der einseitige Leistungsdruck zu Gunsten von Räumen für Begegnungen auf Augenhöhe eröffnet werden. Dies kann nur umge- setzt werden, wenn die einseitige und negativ-wertende Notenvergabe abgeschafft wird. Anstatt Fakten zu vermitteln, sollte auf ein Lehrkonzept gesetzt werden, welches auf das bereits bestehende Erfahrungswissen der Schüler*innen baut und sie in einem sinnlich-sinnhaften und d.  h. wesentlich auch ganzheitlichen Ler- nen fördert. Doch zuallererst müsste die Systemlogik geändert werden. Nicht die Schüler*innen und Lehrer*innen sind es, die auf das Schulsystem angepasst wer- den müssen, sondern das System muss sich an die Menschen anpassen – ganz im Sinne des Ausspruchs von Adorno: „Die Verwaltung von Dingen, aber nicht die von Menschen ist notwendig.“ 65 Das System den Menschen gemäß zu gestalten, würde – zumindest dem common sense in Deutschland nach – bedeuten, Demo- kratie zu stärken. Dies führt uns wieder direkt zur Wichtigkeit von Mündigkeit. In diesem Sinne sollte die Frage danach, was Mündigkeit jeweils heißt, offen gestellt und verhandelt werden. In dem Moment, in dem wir uns in diese Frage stellen, sind wir zugleich dabei, uns in eine widerständige Haltung zu begeben und uns als politische Wesen zu verstehen. Auf diese Weise wird die Verwaltungslogik aufge- brochen, in welcher die Menschen die Demokratie nur als ein „Funktionierendes“ betrachten, um sich stattdessen selbst „als Subjekte der politischen Prozesse [zu] wissen“ 66  – eben als widerständige Subjekte in einer gestaltbaren Welt.

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Literatur

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Klaus Mertes SJ

Bildung und Widerstand

Der Schreiner Georg Elser versuchte im November 1939 auf eigene Faust, die NS-Führung durch ein Attentat auszuschalten und dazu eine Bombe im Münch- ner Bürgerbräukeller zu zünden. Der Versuch scheiterte. Elser wurde festgenom- men und nach Folter und mehrjähriger Einzelhaft am 9. April 1945 im KZ Da- chau ermordet. Die Nazis hielten ihn so lange fest, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass Elser, ein „ungebildeter“ Arbeiter, auf eigene Faust gehandelt habe. Sie hielten ihn für eine Marionette ausländischer Geheimdienste und suchten deswegen nach Netzwerken und Drahtziehern hinter ihm, die es nicht gab. Auch nach 1945 konnte man sich nicht vorstellen, ein einfacher Schreiner könne so viel politische Urteilskraft haben, um aus eigener Einsicht schon vor 1939 vorhersehen zu können, dass Hitler und die Nazis auf Krieg zusteuerten, den es zu verhin- dern galt. Noch im Jahre 1999 war der Vorwurf gegen Elser in seriösen Kreisen zu hören: Elser habe mit seiner Tat seine „politische Beurteilungskompetenz“ über- schritten. „Konnte aber ein Durchschnittsbürger nach dem Münchner Abkommen im Herbst 1938 … begründet mutmaßen, dass ein Krieg, für den Hitler verantwort- lich sein wird, ‚unvermeidlich‘ sein wird?“ 1

Offensichtlich ist es nicht einfach Bildung im bürgerlichen Sinne des Wortes, die Widerstands-Kompetenz hervorbringt. Vielmehr waren es auch große Tei- le der gebildeten Schichten in der Weimarer Republik bis hin zu renommierten Intellektuellen und Universitätslehrern, die Hitler und dem Nationalsozialismus ideologisch auf den Leim gingen oder ihn taktisch falsch einschätzten, für be- herrschbar und steuerbar hielten. Umgekehrt hatten oft einfache Leute von An- fang an das richtige Gespür und leisteten im Alltag Widerstand. 2 „Bildung“ muss also mehr bedeuten als nur Teilhabe an einem Wissenskanon, der sozialen Auf- stieg ermöglicht, wenn der Zusammenhang von Bildung und Widerstand in den Blick kommen soll. Es geht um Herzensbildung.

1 Herzensbildung

Herzen lassen sich nicht „bilden“, oder theologisch gesprochen: Nur Gott kann Herzen bilden. Herzensbildung ist keine Kompetenz, die auf planbare und mess- bare Leistungen zielt. Den messbaren Output namens Widerstandskompetenz gibt es nicht. Die „raisons du coeur“ (Blaise Pascal) entziehen sich der Steuerung von außen. Steuerung der Herzensgründe durch äußere Instanzen ist vielmehr Manipulation. Sofern Pädagogik Widerstandkompetenz als ansteuerbares Ziel verfolgen würde, befände sie sich im Selbstwiderspruch.

Das Herz kann sich nur selbst bilden. Darauf weist auch die in der deutschen Sprache gängige Unterscheidung zwischen Bildung und Ausbildung hin: „Sich zu bilden ist tatsächlich etwas ganz anderes als ausgebildet zu werden. Eine Aus- bildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine be- stimmte Art und Weise in der Welt zu sein.“ 3 Ähnlich wird in der Resonanz- pädagogik zwischen „Aneignung“ und „Anverwandlung“ unterschieden: „Unter Aneignung verstehe ich ein Begehren nach dem Haben eines Dinges: So, das habe ich jetzt. So kann ich mir auch Kompetenzen aneignen. Ich kann das Ge- dicht interpretieren und habe das richtige Reimschema erkannt. Oder ich kann in Mathematik oder Physik eine Formel anwenden. Aneignung ist also eine Art von Bereicherung im Sinne von Kompetenz- und Ressourcenerweiterung. Ich verfüge dann über eine Ressource, die ich instrumentell einsetzen kann. Anver- wandeln bedeutet hingegen, ich mache mir eine Sache so zu eigen, dass sie mich verwandelt.“ 4

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2 Die Warum-Frage

Die Bedeutung von messbaren Kompetenzen und abrufbarem Wissen ist damit nicht aufgehoben, sondern nur in die richtige Ordnung gesetzt. Die binären Kate- gorien „richtig“ und „falsch“ behalten ihre begrenzte Gültigkeit; „gebildet“ aber ist eine Person erst dann, wenn sie über die Frage Rechenschaft abzulegen bereit und in der Lage ist, warum sie eine Aussage als richtig oder falsch beurteilt, oder warum sie diese oder jene Kompetenz erwerben will. Mit der Frage nach dem Warum setzt das Subjekt der Autorität der Verhältnisse die Autorität der eigenen Erkenntnisfähigkeit entgegen – nicht unbedingt rebellisch, sondern zunächst in der Selbstverständlichkeit, mit der das Subjekt seine eigene Autorität erfährt, die in seiner Freiheit gründet, selbst erkennen zu können; rebellisch allerdings dann, wenn die äußeren Autoritäten sowie die Autorität der Verhältnisse vom Subjekt verlangen, sich unabhängig von dem Anspruch eigener Erkenntnis unterzuord- nen und die Warum-Frage zurückzunehmen.

Die Öffnung für die Warum-Frage ist der Anfang der Herzensbildung, weil sie eine Freiheitserfahrung enthält. 5 Herzenseinsichten entwickeln sich nur in Frei- heit. Mit der Warum-Frage wenden sich bereits Kinder gegen die Selbstverständ- lichkeiten, in denen sie aufwachsen, mehr als sie es selbst intentional beabsichti- gen. Dasselbe Prinzip gilt für das ganze Leben eines Menschen. Die Warum-Frage taucht im Herzen auf, bevor sie im Kopf bedacht wird. Die Anverwandlung der Antwort kann mit Zustimmung oder mit Ablehnung der befragten Wirklichkeit einhergehen. Wichtig für die Herzensbildung ist nur, dass die Antwort vom Sub- jekt selbst erkannt wird.

Welche Lebensentscheidungen eine Person trifft, welche tiefen Überzeugun- gen sie sich zu eigen macht, welche tiefen Überzeugungen sie  –  im Sinne von Reue und Umkehr – korrigiert, kann sie nur selbst entscheiden. Für die kirchliche Tradition formuliert Ignatius von Loyola aus dieser Erkenntnis heraus exempla- risch das Zurückhaltungsgebot für die Pädagogik: „Der die Übungen gibt, darf nicht den, der sie empfängt, mehr zu Armut oder einem Versprechen als zu deren Gegenteil bewegen noch zu dem einen Stand oder der einen Lebensweise mehr als zu einer anderen. Denn […] es ist in diesen geistlichen Übungen beim Suchen des göttlichen Willens angebrachter und viel besser, dass der Schöpfer und Herr selbst sich seiner frommen Seele mitteilt, indem er sie zu seiner Liebe und zu seinen Lobpreis umfängt und sie auf den Weg einstellt, auf dem sie ihm fortan besser dienen kann. Der die Übungen gibt, soll sich also weder zu der einen Seite wenden oder hinneigen noch zu der anderen, sondern in der Mitte stehend wie eine Waage unmittelbar den Schöpfer mit dem Geschöpf wirken lassen und das Geschöpf mit seinem Schöpfer und Herrn.“ 6

3 Zurückhaltende Pädagogik

Eine zurückhaltende Pädagogik, die Freiheits- und damit Erkenntnisräume er- öffnet, macht die Rolle des Pädagogen oder der Pädagogin keineswegs überflüs- sig. Im Gegenteil: Erkenntnis, gerade auch Herzenserkenntnis, bedarf unbedingt der Begegnung von Personen. Im pädagogischen Diskurs hat die lehrende Person zwei Funktionen: Zum einem gibt sie „Stoff “ vor 7 , also Übungen, Methoden und auch Inhalte, zum anderen ist sie selbst als Person „Stoff “, Objekt der Reflexion und Lerninhalt, mehr als ihr selbst bewusst ist. Pädagog*innen prägen gerade da besonders nachhaltig – positiv wie negativ –, wo sie ganz bei sich, bei dem be- wussten oder unbewussten Ausdruck ihrer eigenen Präferenzen und Überzeu- gungen sind.

Nicht jeder Dauernörgler und auch nicht jeder unbelehrbare Besserwisser ist schon ein potentieller Widerstandskämpfer. Vielmehr kommt ein inhaltliches Kriterium hinzu, um von Widerstandskompetenz in der Tradition derjenigen Männer und Frauen sprechen zu können, die sich gegen Diktatur und menschen- verachtende Ideologien wandten und dabei ihr Leben riskierten. Um diese inhalt- liche Dimension im pädagogischen Prozess in den Blick zu bekommen, liegt es zunächst nahe, die Biographien der entsprechenden Personen als „Stoff “ in den pädagogischen Diskursen einzugeben. Die pädagogische Falle besteht darin, sie dabei zu Helden zu stilisieren. An Lichtgestalten dürfen keine kritischen Fragen gestellt werden. Autoritäre Systeme sind bekanntlich voll von Helden und den Kulten, die sie umgeben. Je mehr die Männer und Frauen des Widerstandes in ihren eigenen riskanten, fehlbaren Prozessen der Selbsterkenntnis und auch der Selbstkorrektur sichtbar werden und auch sichtbar werden dürfen, umso mehr können sie Reflexionsprozesse bei denjenigen auslösen, die sich mit ihnen befas- sen, und sie zu tieferer Erkenntnis führen.

Doch es geht um mehr: Das Herz ist der Ort der Gefühle. Gefühle werden durch innere oder äußere Erfahrungen ausgelöst. Herzenspädagogik soll Ge- fühle nicht steuern, aber die Kompetenz fördern, Gefühle zu reflektieren. Dabei ist es durchaus angebracht, der Reflexion durch Fragestellungen eine Richtung für die Aufmerksamkeit zu geben, und zwar in Richtung Empathie. Empathie ist bei den Männern und Frauen des Widerstandes der entscheidende Auslöser für ihren Weg in den Widerstand – und auch dafür, im Widerstand empathisch zu bleiben.

4 Empathie-Kompetenz

In der Goldenen Regel – „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“ – ist nach biblischer Auffassung „das ganze Gesetz“ zu- sammengefasst (vgl. Mt 7,12). Dieser Regel lässt sich der pädagogisch relevante Hinweis entnehmen, woraufhin die Aufmerksamkeit zu richten ist, wenn ich „das Gesetz“ finden will – nicht bloß das Gesetz als äußere, schriftlich fixierte Regel, sondern als Ruf des Herzens, als Stimme des Gewissens (Paulus, Röm 1,24), als Imperativ der „praktischen Vernunft“ (Kant). Der Hinweis lautet: Fühle Dich in die Situation deines Nächsten ein  –  und gestehe ihm zu, diejenigen Erwartun- gen haben zu dürfen, die Du Dir in seiner Situation selbst zugestehen würdest. Der Begriff des „Nächsten“ ist dabei nicht ausgrenzend zu verstehen. „Liebe den Fremden wie dich selbst. Denn Du warst selbst Fremder in Ägypten.“ (Lev 19,33)

Die grundlegende Empathie-Übung besteht in der Arbeit an der eigenen Vor- stellungskraft. Pädagogik, die Widerstandkompetenz fördern will, muss also an der ästhetischen Kompetenz ansetzen – an der Wahrnehmungskompetenz, ein- schließlich der Selbstwahrnehmungs-Kompetenz. Das hat eine unterrichtliche und eine außerunterrichtliche Dimension, eine kreative und eine kritische. Im Fall der Fälle geht es dabei nämlich auch um die Überwindung von Wahrneh- mungsblockaden. 8 Je mehr jedenfalls ein Mensch darin geübt ist, seine Vorstel- lungskraft zu aktivieren, umso eher wird er sich in andere Situationen beziehungs- weise in die Situationen von Anderen einfühlen können. Ästhetische Kompetenz ist Empathie-Kompetenz.

Auch die disziplinarische Funktion ist im Fall der Fälle grundlegend für die Überwindung von Wahrnehmungsblockaden. Es ist gerade Sinn und Zweck von disziplinarischen Maßnahmen, Grenzen zu setzen, wo sie nicht mehr gespürt und deswegen überschritten werden – Grenzen, die die Freiheit und Intimsphäre des Nächsten schützen sollen. Nur durch eine funktionierende disziplinarische In- stanz können schließlich auch Wahrnehmungsblockaden bei „Tätern“ überwun- den werden. 9

5 Wahrnehmungsblockaden

Wahrnehmung kann auf zweierlei Weise blockiert sein: Entweder – erstens – wer- den Grenzen tatsächlich nicht gespürt und deswegen vermeintlich gar nicht über- schritten, z. B. – im schulischen Alltag – in Form von Scherzen, die keine Scherze sind. Ein Blick in das Genre der „Abi-Bücher“ mag als Anschauungsmaterial für das hier Gemeinte genügen. Die disziplinarische Autorität hat die Möglichkeit und im Fall der Fälle auch die Pflicht zu intervenieren, indem sie Position be- zieht und die Wahrnehmungsblockade zu Gunsten des Schutzes von Betroffenen konfrontiert: In gewisser Weise lebt die pädagogische Autorität dadurch selbst ein Ethos des Widerstandes vor, wenn sie – z. B. bei rassistischen, sexistischen oder anderen diskriminierenden Äußerungen – gerade nicht mehr im Sinne eines er- gebnisoffenen Dialoges bloß moderiert, sondern sich zur Handlung, zur Inter- vention entscheidet, um überhaupt wieder eine Situation herzustellen, in der Aus- tausch von Argumenten und Abwägung möglich sind.

Grenzen werden – zweitens – überschritten, wenn der Hass die Wahrnehmung trübt. „Lamech sagte zu seinen Frauen: […] Einen Mann erschlage ich für eine Wunde, und einen Knaben für eine Strieme. Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenundsiebzigfach.“ (Gen 4,23) Es ist die Dynamik der archaischen Stammesmoral, die hier zum Tragen kommt, in alltäglicher Gewalt zwischen Ju- gendlichen ebenso wie in den Mythen der Völker bis auf den heutigen Tag. Aus erfahrener Unterlegenheit oder erlittener Gewalt wird das Recht auf Rache ab- geleitet; der Stamm der „Täter*innen“ verliert alle Rechte, die ihn vor ungerechter Vergeltung schützen; er hat den Anspruch auf Einfühlung, auf Empathie verwirkt. Opfer und Täter*innen verstricken sich so im Kreislauf der Gewalt.

Das Gegenprogramm dazu ist das Konzept der Feindesliebe, das auch vom Op- fer erwartet, vom Täter nur das zu verlangen oder zu erwarten, was einem Op- fer zugestanden wäre, erwarten oder verlangen zu dürfen, wenn es selbst Täter wäre. Einfühlungskompetenz als Kernkompetenz von Herzensbildung ist immer unverzichtbar, gerade auch dann, wenn es um den Umgang mit der eiternden Wunde geht, die von der erlittenen Gewalt herrührt. Für die Ausprägung von Einfühlungskompetenz bei Jugendlichen ist es deswegen wichtig, dass die diszi- plinarische Autorität hinzukommt und handelt, wenn Täter und Opfer sich bis zur gegenseitigen Nichterkennbarkeit ineinander verstricken. Denn je mehr sie sich ineinander verstricken, umso tiefer trübt sich ihr Blick für die Grenzen – mit der langfristigen Wirkung von Herzenshärte und Herzensblindheit, wie sie in der kollektiven Verblendung ganzer Gesellschaften zum Zuge kommt und kam, gegen welche die Männer und Frauen des Widerstandes antraten: „Sehen sollen sie, sehen, aber nicht erkennen; hören sollen sie, hören, aber nicht verstehen.“ (Jes 4,12)

165
6 Fridays for Future

Zu den Paradoxa des Verhältnisses von Widerstand und Bildung gehört, dass Wi- derstand, der diesen Namen verdient, mit Regelbrüchen – formeller oder infor- meller Regeln – einhergeht und im Fall der Fälle mit Sanktionen aus dem System heraus zu rechnen hat. Das ist ja gerade die Erfahrung der Männer und Frauen des Widerstandes, dass sie Verbotenes planten und durchführten: Kritische Flugblät- ter verteilen, Feindsender hören, Eid auf den Führer brechen, Geheimnisse verra- ten, und so weiter. Es gibt keinen billigen Widerstand – und in Drucksituationen auch keinen billigen Widerspruch, zumal auch dieser meist einsam macht bis hin zu Ausgrenzungen aus Zugehörigkeiten. 10 Diese Erfahrungen können Jugendli- che, die sich gegen den Strom stellen, auch schon im schulischen Alltag machen. Widerständige Persönlichkeiten sind jedenfalls in der Regel nicht daran erkenn- bar, dass sie auf einer Welle der Zustimmung reiten. Die Zustimmung kommt meist erst im Rückblick: „Ihr errichtet den Propheten Grabstätten […] und sagt dabei: Wenn wir in den Tagen unserer Vorfahren gelebt hätten, wären wir nicht wie sie am Tod der Propheten schuldig geworden.“ (Mt 23,29)

Es gibt auch in pädagogischen Institutionen Regelbrüche, die in voller Kenntnis und Anerkennung der Regel vollzogen werden  –  quasi Vorformen von zivilem Widerstand. 11 Der bekannteste Fall dafür ist aktuell die Fridays-for-Future-Bewe- gung: Schule schwänzen für den Kampf gegen den Klimawandel. Ich vermute, dass es für die Prägung einer Generation wichtig ist, wie die zuständigen schu- lischen Autoritäten in diesen Wochen und Monaten darauf reagieren. Dazu be- darf es einer grundsätzlichen Selbstbesinnung von Schule auf das Verhältnis von Bildung und Widerstand.

Paternalistisches Schulterklopfen ist ebenso unangemessen wie die Gleichset- zung dieses Typus bewusster Regelverletzung mit den üblichen disziplinarischen Verstößen. Schulpflicht ist eine wesentliche kulturelle Errungenschaft, um Kin- dern und Jugendlichen den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Ihr Sinn wird auch von denen nicht grundsätzlich in Frage gestellt, die sie im Falle von Fridays for Future eigenmächtig aussetzen. Man könnte sogar sagen, dass die Aussetzung angesichts der Bedeutung des Anliegens ein Zeichen von gelungener Bildung ist. Aber indem Schüler*innen die Schulpflicht eigenmächtig aussetzen, stellen sie das System zugleich vor die Frage, wie es darauf reagieren soll. Wenn das System ein- fach vor der Regelverletzung kapituliert, macht sie die Regelverletzung billig und nimmt den Jugendlichen das weg, was die Pointe ihres Handelns ausmachen soll: Die Grenzüberschreitung. Die Grenze, die sie überschreiten wollen, würde ein- fach weggezogen. So klopft das System den Jugendlichen auf die Schultern und macht sie wieder zu dem, was sie gerade nicht sein wollen, nämlich zu braven, systemkonformen Protestierern für ein Anliegen, dass alle gut finden.

Aber auch die andere Option ist schwierig, die bloße Exekution der Strafe für den Regelbruch. Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen denjenigen, die „herzensblind“ auf Kosten anderer Regeln der Fairness und des Anstandes überschreiten oder aus bloßem Eigeninteresse sinnvolle Regeln eigenmächtig für sich aussetzen, und denjenigen, die ein Anliegen verfolgen, das tatsächlich das Allgemeinwohl betrifft – Trittbrettfahrer ausgenommen. Vorformen von zivilem Widerstand, wie Fridays for Future eine ist, fordern das System heraus, das An- liegen aufzugreifen und sich zu bewegen.

Im Falle der klassischen Widerstands-Situation bedeutet Herzensbildung die Bereitschaft, den Kampf gegen das System einer Diktatur aufzunehmen. In Dik- taturen unterwerfen sich die Bildungsinstitutionen, insbesondere Schulen, der Logik diktatorischer Systeme. Schule in einer demokratischen Gesellschaft muss also offen sein für Widerspruch und im Fall der Fälle auch für eine differenzierte Sicht auf Regelbrüche. Andererseits funktioniert Schule auch in demokratischen Systemen nicht ohne Zwang. Daraus ergibt sich die Frage, die Kant klassisch so formuliert: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ 12 Die zynische Ant- wort lautet: „Lasst ihn [den Zögling] immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht.“ 13 Die andere, ebenfalls zynische Ant- wort bestünde darin, den Zwang einfach aufzuheben und junge Menschen nur noch in „Treibhäusern der Zukunft“ wachsen zu lassen. 14 Zwischen diesen beiden Gräben verläuft der schmale Pfad zu einer Herzensbildung, die junge Menschen vorbereitet auf Situationen des Widerspruchs oder gar des Widerstandes, die nie- mand vorwegnehmen kann.

Literatur

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Wolfgang Neuser

„Donald Trump, Werkzeug Gottes“ – Die Herausforderung des Evangelikalismus

1 Rückkehr der Religion in die Politik

In den USA stellen die evangelikalen Christen mit rund 30 % der Bevölkerung die größte religiöse Gruppierung dar. 81 % der weißen Evangelikalen haben 2016 Donald Trump zum Präsidenten gewählt. 1 Viele von ihnen sehen in seiner Präsi- dentschaft Gottes starkes Eingreifen in die Geschicke ihres Landes, weswegen DIE ZEIT in ihrer Silvesterausgabe 2019 einem ganzseitigen Artikel über die Evange- likalen in den USA diese Überschrift gibt: „Donald Trump, Werkzeug Gottes“ 2 . Damit provoziert sie natürlich Empörung, Widerspruch und Kopfschütteln. Die Entrüstung über eine derart vergötternde Zuschreibung dürfte gerade bei den Leser*innen besonders groß sein, die ihr Gottesglaube zum entschiedenen Pro- test gegen den Populismus Trumps treibt. Dagegen werden sich weniger religiöse Menschen vermutlich in ihrem Agnostizismus oder Atheismus einmal mehr be- stätigt sehen. Alle könnten dabei jedoch übersehen, dass es in den USA auch die anderen 20 % Evangelikaler gibt, die der ZEIT-Artikel ebenso zu Wort kommen lässt. Mit Blick auf die politischen Kräfteverhältnisse in der deutschen (frei)kirch- lichen Landschaft ist anzunehmen, dass umgekehrt etliche rechtspopulistische Christen aus Protestantismus und Katholizismus der Artikelüberschrift zustim- men würden – wenn auch vermutlich weniger als 20 %.

Der Einfluss der Religion auf die Politik ist jedenfalls im 21. Jahrhundert nicht etwa zurückgegangen, sondern hat sich im Zuge der Globalisierung erheblich ver- stärkt, wie Johannes Müller bereits 2007 feststellt. 3 Er konstatiert mit anderen die „Rückkehr der Religion in die Politik“. 4 Dies ist nicht nur an der Ausbreitung isla- mistischer Bewegungen oder etwa der wachsenden Dominanz des Hindu-Natio- nalismus ( Hindutva ) in Indien ablesbar, sondern eben auch am Evangelikalismus, insbesondere in Nord- und Südamerika.

Wie alle Religionen in Geschichte und Gegenwart hat auch die Bewegung des Evangelikalismus zwei Gesichter. Einerseits widersteht sie kirchlicher Erstarrung und staatlicher Ungerechtigkeit, andererseits begünstigt sie Missionarismus, Po- pulismus und Nationalismus. Wie sich diese Ambivalenz zeigt, soll einschließlich der geschichtlichen Wurzeln und des Rechtsrucks des Evangelikalismus im nächs- ten Kapitel (2) markiert werden. Der darauffolgende Teil (3) fordert mit drei theo- logischen Argumenten zum Widerstand gegen Biblizismus und Fundamentalis- mus auf, dem Nährboden von Konservatismus, Populismus und Nationalismus.

2 Evangelikalismus zwischen Protestantismus und Fundamentalismus
2.1 Die Ambivalenz des Evangelikalismus

Der Begriff evangelikal ist eine relativ junge aus dem Englischen abgeleitete Wort- schöpfung, die man genauso wie evangelisch mit evangeliumsgemäß übersetzen kann. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bezeichnete evangelical im englischsprachi- gen Raum bereits inneranglikanische und -protestantische Strömungen, die der durch die Aufklärung hervorgebrachten liberalen Theologie entgegentraten. 1846 hatte sich in London die Evangelische Allianz als ein Netzwerk von Personen aus Pietismus, Freikirchen und Erweckungsbewegungen gegründet, die „den großen Kirchen ein Zeugnis unverfälschten Glaubens entgegensetzen“ 5 wollten. Im Deut- schen wurde der Begriff evangelikal erst in den 1960er und 1970er Jahren ge- bräuchlich, z. B. dadurch, dass im Zuge der Großevangelisation von Billy Graham in der Dortmunder Westfalenhalle 1970 („Euro 70“), Grahams Übersetzer, Peter Schneider, evangelical mit evangelikal übersetzte. Der damalige Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz, Fritz Laubach, 6 führte ihn dann als Identifika- tionsmerkmal für „fromme“ bzw. pietistisch-erweckte Christen gegenüber bloßen Taufscheinchristen ein.

Heute wird der Begriff in Deutschland vor allem vom Informationsdienst der Deutschen Evangelischen Allianz ( idea ), der sich aber mit seiner Konservativi- tät und penetranten Kirchenkritik von dieser längst abgekoppelt hat, verwen- det. Aber auch die explizit „bibeltreue“ Freie Theologische Hochschule Gießen (FTH) begründete im staatlichen Akkreditierungsverfahren als Hochschule ihre Existenzberechtigung ausdrücklich mit der Selbstkennzeichnung „evangelikale Hochschule“. Dagegen wird der Begriff in der Dachorganisation des deutschen Pietismus, dem Gnadauer Gemeinschaftsverband, eher sparsam bis gar nicht ge- braucht.

Auch in der Glaubensbasis der Deutschen Evangelischen Allianz in der über- arbeiteten Fassung vom 16. April 2018 kommt der Begriff nicht vor. Zum grund- legenden Kennzeichen aller Evangelikalen, nämlich dem Verständnis der Bibel als göttlich inspiriert, formuliert der Text: „Sie [die Bibel] ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“ 7 Hier ist jedoch nicht von Verbalinspiration oder Irrtumslo- sigkeit der Bibel die Rede, wie dies im Schrift-Fundamentalismus (etwas modera- ter auch im Biblizismus) der Fall ist, wo das buchstäbliche Verständnis etwa der Schöpfungsgeschichte (Kreationismus) gegen die Evolutionstheorie in Stellung gebracht wird. Fundamentalismus und Evangelikalismus sind zu unterscheiden. Zentrales Merkmal des Fundamentalismus ist der Glaube an den Wortlaut der Bi- bel (Unfehlbarkeit) in einer Radikalität, die zu Konsequenzen führt, die rationaler Argumentation nicht mehr zugänglich sind, z. B. an Exorzismus grenzender „Be- freiungsdienst“, körperliche Züchtigung von Kindern, Schulverweigerung, Krea- tionismus und christlicher Zionismus. Die Journalist*innen Oda Lambrecht und Christian Baars haben 2009 in ihrem Report über Fundamentalistische Christen in Deutschland eine Fülle von verstörendem Material zusammengetragen, differen- zieren jedoch nicht ausreichend zwischen evangelikal und fundamentalistisch. 8 „Eine Gleichsetzung ist weder historisch noch phänomenologisch gerechtfer- tigt“, stellt der Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Reinhard Hempelmann, fest, aber auch, dass der Fundamentalismus die Gefähr- dung des Evangelikalismus sei! 9

Ein weiteres Kennzeichen der Evangelikalen ist das Bekehrungserlebnis, auch Wiedergeburt („born again“) oder Lebensübergabe genannt. Gemeint ist, dass die Kindertaufe noch keinen Christen macht, was bereits Martin Luther beton- te 10 , sondern eine bewusste und öffentliche Entscheidung des religionsmündigen Menschen für den Glauben an Jesus Christus dazugehört. Entsprechend reichen die evangelikalen Positionen zur Taufe von der Säuglingstaufe bis zur Gläubigen- taufe.

Um zu diesem bewussten individuellen Glauben einzuladen, verfolgen die Evangelikalen ein starkes missionarisches Anliegen. Die Parole lautet: Evangeli- sation – entweder im persönlichen Gespräch oder in Großveranstaltungen, wie etwa „ProChrist“ oder durch zahlreiche Missionswerke, z. B. die „Deutsche Zelt- mission“. So kommt es auf den internationalen Missionsfeldern durchaus vor, dass verschiedene evangelikale Missionen um dieselben „Unbekehrten“ konkurrieren.

Ein weiteres Merkmal evangelikaler Christen sind ihre konservativen ethischen Positionen, z.  B. zum Schwangerschaftsabbruch, zur Homosexualität und zum Gender-Diskurs. Der titelgebende ZEIT-Artikel berichtet, dass sich im US-Wahl- kampf 2016 evangelikale Gemeindeleiter mit Donald Trump trafen und von die- sem gefragt wurden, was sie sich von ihm wünschen: „Dass das verpflichtende Schulgebet wieder eingeführt wird […] Dass Verhütungsmittel nicht mehr von Krankenversicherungen bezahlt werden. Dass Trump nur Richter ernennt, die gegen Abtreibung sind […]“ 11 Auch gelebte Homosexualität wird von Evangeli- kalen häufig abgelehnt. Vor diesem Hintergrund berät die evangelikale Organisa- tion „Wüstenstrom“ 12 Menschen, die ihre gleichgeschlechtliche Orientierung nicht ausleben wollen. Es gibt aber auch evangelikale Vertreter*innen einer liberalen Haltung, etwa die Gruppe „Zwischenraum“ 13 . Zu ihr gehört die Ärztin Valeria Hinck, die in ihrem Buch „Streitfall Liebe“ darlegt, warum homosexuell und gläu- big kein Widerspruch ist. Sie verweist darauf, dass es in den USA und England „schon lange explizit evangelikale Vereinigungen von und für Homosexuelle wie z. B. ‚Evangelicals Concerned‘, ‚Evangelical Fellowship of Lesbian an Gay Chris- tians‘ oder ‚Courage‘“ gibt. 14

Schließlich kennzeichnet den Evangelikalismus ein starkes soziales Engage- ment. Mission wird als Einheit von Wort und Tat verstanden. Diakoniewerke sind ebenso zahlreich anzutreffen wie Missionswerke. Der ZEIT-Artikel porträtiert Tess Clarke in Dallas, die mit ihrem Mann eine Hilfsorganisation für Flüchtlinge leitet und bei der nächsten US-Präsidentenwahl den demokratischen Kandidaten wählen wird. 15 Sozialethische Themen und entsprechende Aktionen stehen auch bei der Evangelischen Allianz auf der Tagesordnung. Dies zeigt sich z. B. in der Micha-Initiative Deutschland bzw. Micah Challenge , 16 die von der World Evange- lical Alliance gegen extreme Armut und für globale Gerechtigkeit ins Leben geru- fen wurde. Der Name bezieht sich auf die markante Botschaft des Propheten Mi- cha (6,8): „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ Auch in der Erklärung der Deutschen Evangelischen Allianz „Suchet der Stadt Bestes – Zur Verantwortung der Christen in Staat und Gesellschaft“ vom 22. Mai 2009 sind Frieden, Umwelt, Armut, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung als originäre Verantwortungsbereiche der Christen benannt. Dieses politische En- gagement ist z. T. so bezeichnend, dass man von Linksevangelikalen spricht, z. B. bei dem Theologen, Autor und politischen Aktivisten Jim Wallis, der in einem Ar- menviertel von Washington D.C. die Kommunität und das Netzwerk Sojourners gegründet hat. 17 Er schildert in seinen Büchern seine „doppelte Bekehrung“, zu- nächst als 6-Jähriger zur Frömmigkeit der elterlichen Brüdergemeinde; als Teen- ager stellte er dann irritiert fest, dass es keine Schwarzen in seiner Gemeinde gab; als Antwort erhielt er dort die Auskunft, dass Rassismus eine politische Frage sei, die mit dem persönlichen Glauben nichts zu tun habe. Daraufhin wandte er sich ab und schloss sich der Bürgerrechts- und Studentenbewegung an, wo er aber zu- nehmend die spirituellen Ressourcen seines früheren Glaubens vermisste. Nach Jahren kehrte er zurück und verbindet seitdem evangelikale Frömmigkeit mit aus- geprägtem sozialem und politischem Engagement. 18 Dazu gehören beispielsweise Protestkundgebungen innerhalb der Bannmeile des Weißen Hauses mit den ent- sprechenden strafrechtlichen Folgen.

Als letztes Kennzeichen des Evangelikalismus sei die Endzeitprophetie erwähnt, die in Millionenauflagen den evangelikalen Buchmarkt überschwemmt und vor allem in Amerika verschlungen wird: von Hal Lindseys Alter Planet Erde, wo- hin? Im Vorfeld des Dritten Weltkriegs (1971) über Klaus Gerth: Der Antichrist kommt . Die 80er Jahre – Galgenfrist der Menschheit? (1981) bis zu Tim LaHayes Finale – Die letzten Tage der Erde, Bd. 1 bis 12 (1995–2006). Alles ist hochgradig spekulativ und Angst erzeugend, und natürlich treten die als unmittelbar bevor- stehend geschilderten Ereignisse nicht ein.

Ich fasse die Merkmale evangelikaler Theologie und Praxis zusammen: 19 Der Hauptstrom der Evangelikalen neigt zu Biblizismus mit der Gefahr des Funda- mentalismus mangels besseren Wissens. Man sieht durch liberale Theologie, die oft mit der historisch-kritischen Bibelauslegung gleichgesetzt wird, Kernaussagen des christlichen Glaubens, wie Schöpfung, Auferstehung, Wiederkunft Jesu, gefährdet. Evangelikale betonen das geistliche Leben, das sich insbesondere im persönlichen Bibelstudium und Gebet äußert, zugleich können Mission und der Aufruf zur Be- kehrung aufdringlich oder gar aggressiv ausfallen. Die konservativen ethischen Positionen und das soziale Engagement zeigen einmal mehr die Janusköpfigkeit der Bewegung. Schließlich korreliert die Attraktivität der Endzeitspekulationen mit dem Glauben an Verschwörungstheorien im populistischen Spektrum.

2.2 Die Wurzeln des Evangelikalismus und seine weltweite Verbreitung

Man kann die Geschichte des Evangelikalismus auch als Chronik des Widerstan- des immer neuer Dissidentengruppen gegen kirchliche Autoritätsanmaßung oder geistliche Lethargie schreiben. Seine Anfänge reichen in die Reformationszeit zu- rück. Neben den großen Reformatoren Luther und Zwingli sowie etwas später Calvin traten radikalreformatorische Täufer auf, z.  B. Menno Simons, den Na- mensgeber der Mennoniten. Er wollte auch die Kindertaufpraxis hin zur Gläubi- gentaufe reformieren. Trotz grausamer Verfolgung durch Kirche und Staat hielten die Mennoniten an der Glaubenstaufe fest und bilden heute eine weltweit ver- breitete protestantische Freikirche. Einen gewissen Bekanntheitsgrad haben die mennonitischen Untergruppierungen Amish People und Hutterer durch ihre am Wortlaut der Bibel orientierte weltabgewandte Lebensweise erlangt. 20 Die Menno- niten zählen wie die Kirche der Brüder ( Church of the Brethren ) und die Quäker zu den historischen Friedenskirchen, die am urchristlichen Pazifismus festhalten und den Kriegsdienst verweigern. 21

Als sich die beiden großen reformatorischen Kirchen, Lutheraner und Refor- mierte, etabliert hatten, drohten sie in ihrer Orthodoxie zu erstarren und riefen den Widerstand einfacher Gläubiger hervor, die den Mut hatten, sich durch ge- meinsames Bibelstudium in sogenannten Konventikeln ihre eigene Meinung über die praxis pietatis , die Frömmigkeitspraxis in persönlichem Gebet und tätiger Liebe, zu bilden und diese den gelehrten Pfarrherren zu deren Missfallen vor- zuhalten. So entstanden ab Ende des 17. Jahrhunderts die Bewegung des Pietis- mus innerhalb der großen protestantischen Kirchen sowie manche Freikirche wie die Baptisten, Methodisten, Darbysten usw. – allesamt Widerstandsnester gegen kirchliche Amtsherrlichkeit in Europa, die weitere Wurzeln des heutigen Evange- likalismus darstellen. Als angelsächsische Parallele zum Pietismus kann die puri- tanische Bewegung gelten, die „gegen die katholisierende liturgische Praxis und Theologie der Anglikanischen Hochkirche vorging, indem sie sie ‚purifizieren‘, reinigen, wollte.“ 22

Während etwa die amerikanischen Mennoniten in den beiden Weltkriegen „große Opfer für die Aufrechterhaltung ihrer pazifistischen Grundsätze“ 23 brach- ten, ist die Geschichte der Freikirchen in Deutschland im Dritten Reich weniger rühmlich. Weithin sympathisierte man mit den Ideen des Nationalsozialismus und zog dem Widerstand gegen das Hitler-Regime, der ein Verbot der Gemeinde zur Folge hätte haben können, die relative Freiheit vor, in der man einigerma- ßen unbehelligt weiter missionieren konnte. Dagegen schloss sich der pietistische „Gnadauer Gemeinschaftsverband“ bereits 1934 der „Bekennenden Kirche“ an. Diese Oppositionsbewegung gegen die Gleichschaltung der Deutschen Evangeli- schen Kirche mit dem Nationalsozialismus hatte sich mit der Verabschiedung der Barmer Theologischen Erklärung auf der Bekenntnissynode der evangelischen Kirchen Deutschlands vom 15. bis 31. Mai 1934 in Wuppertal-Barmen gegründet. Die Synode hatte klare Worte gegen die „Irrtümer der Deutschen Christen und der gegenwärtigen Reichskirchenregierung“ gefunden, z.  B. in der 2. These des Bekenntnisdokuments: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche un- seres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären […]“ 24 Damit spaltete sich die evangelische Kirche in Deutschland schon früh in die rechtsnationalen „Deutschen Christen“ und die „Bekennende Kirche“. Zur Judenverfolgung schwieg man jedoch im Pietismus weithin ebenso wie in der Bekennenden Kirche. 25 Nach 1945 rangen sich die deutschen Freikirchen nach und nach zu Schuldbekenntnissen durch, z. B. der Bund Evangelisch-freikirch- licher Gemeinden 26 erst 1984: „[…] [W]ir haben uns nicht öffentlich mit dem Kampf und Leiden der bekennenden Kirche verbunden und ebenso versäumt, eindeutig den Verletzungen göttlicher Gebote und Ordnungen zu widerstehen. Es beugt uns, dass wir als deutscher Bund der ideologischen Verführung jener Zeit oft erlegen sind und nicht größeren Mut zum Bekenntnis für Wahrheit und Ge- rechtigkeit bewiesen haben. […]“ 27

Ich rechne zum Evangelikalismus neben Freikirchentum und Pietismus auch die sogenannten „Neuen Religiösen Bewegungen“, unter denen der Pentekostalis- mus schon rein quantitativ hervorsticht. Dieser ist zu unterteilen in die klassische Pfingstbewegung seit Anfang des 20.  Jahrhunderts und neuere charismatische Aufbrüche, die quer durch die traditionellen Kirchen gehen. Die Bezeichnung kommt vom griechischen pentēkonta (fünfzig) für das Pfingstfest ( pentekostē) , das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes fünfzig Tage nach Ostern. Kenn- zeichnend für diese Frömmigkeitsrichtung ist das Praktizieren der Geistesgaben ( Charismen ), die der Apostel Paulus in seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth im 12. und 14. Kapitel beschreibt. Dazu zählen die Zungenrede ( Glosso- lalie ) – ein geistgewirktes Reden in einer fremden existierenden oder nicht existie- renden Sprache, das von einem anderen Gemeindeglied ebenfalls durch geistliche Eingebung übersetzt wird –, die prophetische Rede – zu verstehen als Zeitansagen zu gemeindlichen und gesellschaftlichen Themen – sowie die Gabe der Heilung. Es gibt Auswüchse, z. B. Heilungsgottesdienste, Exorzismus oder das sogenannte „Wohlstandsevangelium“, das dem „wahren“ Christen materiellen Reichtum ver- spricht. Auf der anderen Seite finden Menschen in den enthusiastischen Pfingst- gemeinden, insbesondere auf den amerikanischen Kontinenten, eher als in den traditionellen Kirchen neuen Halt, hören beispielsweise auf zu trinken und be- kommen beruflich wie finanziell wieder Boden unter die Füße. In Deutschland sind überdies etwa in der „Geistlichen Gemeindeerneuerung“ ( Charismatische Bewegung ) in der katholischen und evangelischen Kirche selbstverständliche Of- fenheit für Homosexuelle sowie ein starkes soziales Engagement anzutreffen.

Innerhalb des globalen Christentums gilt der Evangelikalismus inzwischen als die zweitgrößte Realität nach der römisch-katholischen Kirche. 28 Die Angabe der Mitgliederzahlen schwankt zwischen 300 und 600 Millionen. 29 In den USA zählen sich 25 bis 35 % der Bevölkerung zu den Evangelikalen, in Brasilien schon 20 %, 30 während sich die Schätzung in Deutschland nur auf ca. 1,7 Millionen Gläubige, hauptsächlich aus Landes- und Freikirchen, also ca. 2  % der Bevölkerung be- läuft. 31 Der Evangelikalismus ist weltweit in rasantem Wachstum begriffen. Beson- ders großen Zulauf verzeichnet der Pentekostalismus, allerdings überwiegend in seiner rechtskonservativen Ausprägung, in Lateinamerika. 32 In Afrika zählen Tei- le der größeren protestantischen Kirchen wie Lutheraner, Mennoniten, Baptisten sowie „Afrikanisch-Unabhängige Kirchen“ und auch hier die Pfingstbewegung zum Evangelikalismus. Blickt man nach Asien, so springen die Mega Churches etwa in Singapur und Süd-Korea ins Auge. 33 Neuere globale Aufbrüche sind die Lausanner Bewegung für Weltevangelisation seit 1974 und Gemeinschaften wie die Jesus Freaks , die Willow Creek Community Church und die Emerging Churches .

2.3 Der Rechtsruck des Evangelikalismus und seine Gründe

Nun ist das Erschrecken groß, wenn man erfährt, dass heutige Evangelikale so- wohl die Wahl Trumps in den USA als auch die Wahl Bolsonaros in Brasilien entschieden haben. Damit stützen sie die „We-first-Politik“ beider Präsidenten, tolerieren ihre menschenverachtenden Tiraden gegen Homosexuelle, Behinderte, Andersgläubige und ihre Missachtung des Klimawandels  –  Agitationen, denen andere Christen genauso entschieden widersprechen. Die Bewegung ist in Nord- und Südamerika politisch wesentlich einflussreicher als in Deutschland, aber auch hierzulande sympathisieren manche Evangelikale mit der AfD oder haben dort ihr politisches Zuhause gefunden. 34

Donald Trump lässt sich gefallen, dass seine Person und Präsidentschaft reli- giös überhöht werden: Im Interview mit dem „Christian Broadcasting Network“ sagte Trumps Sprecherin im Weißen Haus, Sarah Sanders, am 31. Januar 2019: „‚Ich denke, dass Gott wollte, dass er Präsident wird.‘ Trump sei ein geborener Anführer, der sich den Problemen widme, die ‚den Bürgern wahren Glaubens‘ nachts den Schlaf rauben.“ 35 Auch wenn die Übersetzung von „people of faith“ mit „Bürger wahren Glaubens“ etwas tendenziös ausfällt, gibt sie doch die Tat- sache wieder, dass sich Evangelikale als die besseren Evangelischen gerieren. Die Süddeutsche Zeitung hatte bereits am 2. März 2018 aus Anlass des Todes des gro- ßen evangelikalen Evangelisten Billy Graham vermeldet, der älteste Sohn Gra- hams sehe „in Trumps Wahl und Wirkung im Weißen Haus ‚Gottes Hand‘ am Werk“. 36

Jair Messias Bolsonaro, so ironischerweise sein voller Name, geht bei der Er- klärung seines Wahlsieges in der Instrumentalisierung des Glaubens noch wei- ter. Er hatte bei seiner ersten Rede als Präsident Brasiliens am 28. Oktober 2018 symbolträchtig die Bibel und die Verfassung vor sich liegen. 37 Er „bedankte sich mehrfach bei Gott und gab seinem Wahlsieg eine religiöse Deutung […]“. 38 Diese Interpretation seiner Wahl als Gottes Werk und Erlösung für sein Land ist für andere Christen darum so bestürzend, weil Bolsonaro bekanntermaßen „durch frauenfeindliche, homophobe und rassistische Äußerungen sowie die Verteidi- gung der Militärdiktatur“ 39 menschenverachtende Positionen vertritt, die andere auf derselben Glaubensgrundlage nur verabscheuen können. Mit der Bibel lässt sich offenbar so ziemlich alles begründen.

Der Rechtstrend der Evangelikalen in den USA und in Deutschland begann in der 1960er Jahren. „Im amerikanischen ‚Bible Belt‘ lag die evangelikale Wähler- schaft bis in die 1960er Jahre hinein fest in der Hand der Demokraten.“ 40 Noch 1976 wurde der Demokrat Jimmy Carter als erster evangelikaler Präsident ge- wählt. Aber der Unmut über die gesellschaftliche Liberalisierung, z. B. die „sexu- elle Revolution“ und die Frauenrechtsbewegung, führten zur „Verschmelzung von sozialem Konservatismus mit ökonomischem Liberalismus und Konsumkultur“, wie Ulrike Elisabeth Stockhausen unter Berufung auf den Historiker Axel Schäfer diagnostiziert. 41 Es folgte in den 1980er Jahren die Moral Majority Bewegung des Fernsehpredigers Jerry Fallwell, die den republikanischen Präsidentschaftskan- didaten Ronald Reagan unterstützte; schließlich hatte die 1990 von Pat Robert- son gegründete Christian Coalition bereits maßgeblichen Anteil am Wahlerfolg George W. Bushs. 42 In Deutschland gründete sich 1966 die Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“, die der „Entstellung“ der biblischen Botschaft durch die historisch-kritische Forschung und der Säkularisierung der Evangelischen Kirche widerstehen wollte. Heute berufen sich rechtskonservative Christen evan- gelikaler, aber auch römisch-katholischer Provenienz häufig auf die Lehre von den sogenannten Schöpfungsordnungen, z. B. Kirche, Staat, Wirtschaft und Familie. Entsprechend machen sie die Themen Volk, Ordnung sowie Ehe und Familie stark. 43

Damit kristallisieren sich zwei Gründe für den heutigen rechtspopulistischen Trend der Evangelikalen heraus, die sich wechselseitig bedingen: das subjektiv wahrgenommene Bedrohungsszenario des gesellschaftlichen Pluralismus und die Gegenreaktion des Biblizismus. Die Unübersichtlichkeit der pluralisierten Lebensformen und -welten, die Relativierung ethischer Maßstäbe, die Globali- sierung und die Digitalisierung verunsichern offenbar in hohem Maße. Es greift die Angst um sich vor Auflösung, 44 Orientierungslosigkeit und Identitätsverlust. Wenn alles gleich gültig ist, befürchtet der Mensch, dass sich in seinem Bedeu- tungsgewebe Risse auftun und er ins Bodenlose fallen könnte, und dann ist er für die Schwarz-weiß-Malerei und die Parolen von Populisten höchst empfänglich. Er toleriert sogar die gelegentliche Verbiegung der Wahrheit oder gar die Lüge, solange eine politische Autorität das Versprechen der machtvollen Führung ver- körpert. Man denke beispielsweise daran, wie George W. Bush den Irak-Krieg mit falschen Behauptungen und Gottes Auftrag begründete. 45

Der andere Grund für den Aufschwung der religiösen Rechten, besonders in den USA, ist die feste Überzeugung, dass die Bibel eindeutige Aussagen zu allen Fragen des Glaubens und der Lebensgestaltung liefere. Denn wenn man an einer Stelle, etwa der Schöpfungsgeschichte, die Historizität und Autorität des Wort- lauts anzweifle, so ein Argument, würde man bald auch alle anderen Aussagen „der Schrift“ in Frage stellen, was dem Glauben seine Grundlage entzöge. In die- sem wörtlichen Verständnis der Heiligen Schrift haben z. B. der Kreationismus, die Ablehnung der Homosexualität und die Verwehrung von Leitungsämtern für Frauen ihren Ursprung.

Ein weiteres befremdliches Beispiel mit politischer Brisanz liefern die christ- lichen Zionisten, deren Zahl auf immerhin etwa 30  Millionen geschätzt wird, eine nicht unbeträchtliche Teilmenge der Evangelikalen. 46 Sie „haben inzwischen mehr Einfluss auf die Israel-Politik der USA als die [dortige] jüdische Gemein- de.“ 47 Christliche Zionisten, seien sie „messianische Juden“ oder „Heidenchristen“, sehen in der Staatsgründung Israels 1948 die Erfüllung der Rückkehrverheißung an alle verstreuten Israeliten in das „Heilige Land“ (Jer. 16,14f.; 23,7–8) und unter- stützen darum den Bau von israelischen Siedlungen auf Palästinensergebiet. Diese evangelikalen Christen begeben sich allerdings mit ihrer wörtlichen Bibelinter- pretation in einen eklatanten Widerspruch, den sie nicht zu bemerken scheinen oder nicht bemerken wollen. Denn die israelische Siedlungspolitik enteignet auch die arabisch-palästinensischen Glaubensgeschwister der Evangelikalen. Für deren Wohnrecht auf deren ebenfalls seit Jahrtausenden angestammten Gebiet müssten Christen jedoch gemäß den neutestamentlichen Weisungen zur Geschwisterliebe (z. B. Gal. 6,10) eintreten. Das hermeneutische Problem liegt in der direkten An- wendung heilsgeschichtlicher biblischer Aussagen auf den säkularen Staat Israel, der mit dem Reich Gottes gleichgesetzt wird. 48 Die israelische Siedlungspolitik zu Gottes Handeln zu erklären, stellt die gleiche Instrumentalisierung Gottes für machtpolitische Zwecke dar, wie Donald Trump zum Werkzeug Gottes zu ver- klären.

3 Evangelikal verbrämtem Populismus widerstehen

Mindestens drei Gründe sprechen für den entschiedenen Protest gegen die über- wiegend rechtspopulistische Haltung des Evangelikalismus in Amerika: die Mehr- deutigkeit der religiösen Quellen, die Mehrzahl der Wahrheit und die Unverfüg- barkeit Gottes.

3.1 Heilige Schriften sind immer mehrdeutig

Das Kernproblem des Evangelikalismus liegt m.  E. in seinem Bibelverständnis. Evangelikale gehen davon aus, dass der Wortlaut der Bibel mehr oder weniger direkt von Gott eingegeben (geoffenbart) ist und darum mehr oder weniger ein- deutig in das persönliche und gesellschaftliche Leben spricht. Für sie ist die Bi- bel Gottes Wort und höchstens nachrangig auch Menschenwort. Je buchstäbli- cher das Verständnis der Bibel, desto mehr scheinbaren Halt gibt sie in der Angst vor Orientierungs- und Traditionsverlust. Jedoch zeigt die Tatsache, dass sich die Christenheit sowie ausnahmslos alle Religionen in unzählige Konfessionen, Denominationen, Richtungen und Sekten fragmentieren, und zwar aufgrund ab- weichender Auslegungsvarianten, dass alle heiligen Schriften eindeutig vieldeutig sind. Die katholische Deutsche Bischofskonferenz spricht sogar „von gegenwärtig 35 000 sich christlich nennender Kirchen weltweit“. 49 Auch die Evangelikalen sind sich, insbesondere in den USA, durchaus nicht einig; ihre Positionen zerfallen entsprechend den traditionellen Gemeindeprofilen sowie entlang den Kriterien Bibelverständnis, „Taufe im Heiligen Geist“, soziales und politisches Engagement sowie Homosexualität in unterschiedlichste Bekenntnisse. Rechte und linke Evan- gelikale vertreten etwa in sexualethischen Fragen, in der Anerkennung des Klima- wandels, in der Aufnahmebereitschaft für Geflüchtete usw. entgegengesetzte Auf- fassungen aufgrund derselben Heiligen Schrift. In Deutschland kann man grob Bekenntnis-Evangelikale („Kein anderes Evangelium“), moderatere Allianz-Evan- gelikale, Charismatische Evangelikale und Links-Evangelikale unterscheiden.

Wenn die „Christen in der AfD“ ihre rechtskonservativen, ordnungspolitischen Standpunkte zu Migration, Nation, abendländischer Kultur, Islam, Ehe, Erzie- hung, Gender-Mainstreaming usw. mit dem Konstrukt der „Schöpfungsordnung“ begründen, dann übergehen sie, dass dieser Maßstab aus dem biblischen Text ex- egetisch nicht eindeutig zu erheben ist und darum ihre Reihe unbestimmt bleibt. Abstrus wird es nämlich, wenn der lutherische Theologe und „Deutsche Christ“ Emanuel Hirsch sogar den Krieg als Schöpfungsordnung ins Gespräch bringt. 50

Die Zersplitterung der Religionen und die oft gegensätzliche Auslegung der heiligen Schriften lassen keine andere Schlussfolgerung als die Interpretationsof- fenheit der schriftlichen Quellen zu. Perfektion und Irrtumslosigkeit kann weder für die Textgrundlage noch für ihre Deutung beansprucht werden. Neben aller möglichen göttlichen Inspiration bei der Abfassung sind immer auch Menschen am Werk gewesen, und die sind nicht perfekt und irrtumslos. Und es sind immer Menschen mit ihrer jeweiligen soziokulturellen Prägung, die die Interpretation vornehmen.

In den heiligen Schriften spiegelt sich vielmehr die „Mannigfaltigkeit der Welt“ (Humboldt). Es ist eine Bildungsaufgabe, die Entstehung der religiösen Quellen nachzuzeichnen, ohne auf der einen Seite in den Historismus, als wäre nur das wahr, was historisch nachweisbar ist, oder auf der anderen Seite in den Funda- mentalismus zu verfallen. Beide Extreme gehen in gleicher Weise an dem Wahr- heitsreichtum heiliger Schriften vorbei. In den Texten aller Religionen finden sich Antworten auf die Fragen des Menschen nach Gott und der Wahrheit, nach Sinn und Orientierung, nach Zeit und Ewigkeit. Es gilt, sie auszuschöpfen in der Spannung von Verbindlichkeit und Offenheit, damit ihre Symbole nicht als überholte Relikte aus dem tragenden Bedeutungsgewebe der Gläubigen elimi- niert werden, aber auch nicht mit exklusivem Wahrheitsanspruch gegen andere gerichtet werden.

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3.2 Wahrheit gibt es nur in der Mehrzahl

Denn es gibt nicht nur eine Wahrheit. Und doch ist es konstitutives Merkmal jeder Religion, ihre Wahrheit für allgemeingültig zu halten. Mit dieser unumstößlichen Tatsache, dass Andersglaubende so fest von einer anderen Wahrheit überzeugt sind, wie man selbst von der eigenen, muss sich jede und jeder Gläubige auseinan- dersetzen und leben. Für Christen, nicht nur für Evangelikale, gilt: Jesus Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. (Joh. 14,6) Dieses klare Bekenntnis gibt jedoch keinen Anlass, anderen das Recht auf ihre andere Wahrheit abzusprechen. Aber nach dem Johannes-Evangelium fügt Jesus unmissverständlich hinzu: „Nie- mand kommt zum Vater denn durch mich.“ Der Ausschließlichkeitsanspruch ist unüberhörbar. Er begründet die Mission, ebenso wie der Missionsbefehl Jesu am Ende des Matthäus-Evangeliums: „Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker!“ (Matth. 28,19) Auf diesen Auftrag beruft sich allerdings auch der Missionarismus, der mit seiner Gewaltgeschichte, etwa in Lateinamerika, eine „grauenhafte Spur religiösen Vernichtungswahns“ 51 durch die Jahrhunderte gezogen hat. Hat Jesus das gemeint und gewollt? Hat Jesus den Ausschließlichkeitsanspruch und den Missionsauftrag wirklich so ausgesprochen, dass er auch derart katastrophal miss- verstanden werden konnte, oder drückt sich darin der missionarische Übereifer der Evangelien-Autoren aus, in dem sie Jesus diese Worte in den Mund legten?

Tatsache ist, dass die Ich-bin-Worte Jesu im Johannes-Evangelium, z. B. auch: „Ich bin das Licht der Welt“ (8,12), „Ich bin das Brot des Lebens“ (6,35) usw., historisch äußerst umstritten sind, und zwar aus einem einfachen Grund: Wenn Jesus diese prägnanten Aussagen selbst getroffen hätte, warum um alles in der Welt haben dann die anderen drei Evangelisten kein einziges dieser gewaltigen Worte überliefert? Das bedeutet nicht, dass die Ich-bin-Worte nicht grundlegende Wahrheiten über Jesus vermitteln – er hat sich ja als Weg, Wahrheit und Leben erwiesen –, aber es bedeutet, dass der Ausschließlichkeitszusatz wohl nicht von ihm stammt. Und beim matthäischen Missionsbefehl macht schon die Tatsache, dass das griechische Wort matheteusate ebenso mit lehret wiedergegeben werden kann, klar, dass Jesus niemals eine aggressive Mission wollte. So übersetzt auch die 2017er-Revision der Lutherbibel Matth. 28,19: „Darum gehet hin und lehret alle Völker  …“ und nicht mehr „machet zu Jüngern“. Außerdem ist es wie bei Johannes möglich, dass erst der Autor des Evangeliums den ausdrücklichen Mis- sionsauftrag eingefügt hat, denn als er sein Evangelium etwa zwischen 70 und 80 n.  Chr. verfasste, war die bis zu den Heiden ausgreifende Missionstätigkeit des Apostels Paulus bereits erfolgt.

Evangelikale, die ihre Bibeltreue als unbedingtes Festhalten am vorgefundenen Wortlaut verstehen, können dieser Argumentation natürlich nicht folgen. Sie wer- den weiterhin versuchen, Angehörige anderer Religionen genauso vom christli- chen Glauben zu überzeugen wie Agnostiker und Atheisten. Falls sie für einen interreligiösen Dialog überhaupt etwas übrig haben, könnte er ihnen gar als Tar- nung für ihre missionarischen Bemühungen dienen. Offensive Mission betreiben natürlich auch andere Religionen, insbesondere die Mormonen und der Islam. Die Welt wird in Gläubige und Ungläubige aufgeteilt, in Wahrheit und Irrtum.

Auch hier hilft Bildung. Sie kann Gläubigen, welcher Couleur auch immer, die Erschütterung nicht ersparen, die Peter Bieri in seinem berühmten Vortrag „Wie wäre es, gebildet zu sein?“ benennt: „Zu erfahren, daß Milliarden von Menschen offenbar nicht den richtigen Glauben haben und also einer schlimmen Zukunft entgegensehen – das muß ein Schock sein.“ 52

Johannes Müller hat die indonesische Gesellschaft vor Augen, in der die große Mehrheit von Muslimen in der Regel friedlich mit immerhin über 20 Millionen Christen zusammenlebt, wenn er warnt: „Manche fundamentalistische islamische und christliche Gruppierungen, die in ihrem Missionseifer rücksichtslos und ag- gressiv vorgehen, gefährden damit […] den sozialen Frieden“. 53 Und Karl-Josef Kuschel weist darauf hin, dass das Ziel von Mission die Bekehrung sei, also die Abkehr von der angestammten Religion. Mission wolle weder Dialog noch Tole- ranz. Er plädiert stattdessen für den echten Religionsdialog „von aufgeschlossener Person zu aufgeschlossener Person“. 54 Im Missionsbefehl sieht er die Aufforderung zur Verkündigung allein an Ungläubige, nicht an Angehörige anderer Religionen. Im echten Dialog darf jede*r zu ihrer/ seiner Wahrheitsüberzeugung stehen, denn niemand ist im Besitz der Wahrheit. Religiöse Wahrheit kann nur bezeugt und ge- lebt, aber nicht bewiesen und schon gar nicht aufgezwungen werden.

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3.3 Gott ist unverfügbar

Die Aufgabe besteht darin, den Religionen einerseits ihren absoluten Wahrheits- anspruch zuzugestehen, der für ihr Selbstverständnis konstitutiv ist, und an- dererseits extremen oder gar fanatischen Deklamationen dieses Anspruchs zu widerstehen. Es ist also nicht nur der Fundamentalismus, sondern ebenso der Relativismus schädlich für einen Dialog, der den Frieden fördern soll. Von ex- tremen Stand punkten gehen in der Regel keine Lösungsvorschläge oder Versöh- nungsinitiativen aus. Dies wären jedoch Kriterien für die Bewertung politischer Arbeit.

Niemand kann beurteilen, ob Donald Trump oder Papst Franziskus oder Aya- tollah Khamenei Gottes Werkzeug sind oder nicht, ob ihre Worte Gottes Stimme wiedergeben oder nicht. Wer sich zu einer solchen Vergöttlichung eines Menschen versteigt und autorisiert wähnt, leidet unter einer gefährlichen religiösen Verblen- dung. Denn derjenige, der für Gottes Werkzeug und Stimme gehalten wird, wird sakrosankt über das staatliche Gesetz gestellt; damit sind der (theokratischen) Diktatur Tor und Tür geöffnet. Er kann sich alles erlauben, denn womit sollte man „Gott“ widersprechen können? Er kann sich seinerseits alles zum Werkzeug ma- chen, z. B. die Justiz, was Trump auf erschreckende Weise tut. Auch Hitler war we- der der von Gott gesandte Retter, als den ihn nicht wenige Verblendete bejubelten, noch Gottes Strafgericht über die Sünden des deutschen Volkes, wofür ihn andere hielten. Was er tat, kam nicht von Gott, sondern aus seinem dämonischen Herzen.

Das entscheidende Merkmal Gottes ist doch, in seinem Wesen und Tun gera- de nicht begreifbar und verfügbar zu sein, sonst könnte er für jede dogmatische, moralische und politische Meinung instrumentalisiert und missbraucht werden. Niemand kann Gott besitzen. Hingegen kann jede und jeder beurteilen, ob das, was Trump, Franziskus und Khamenei sagen und tun, lebensdienlich und frie- densstiftend ist oder nicht.

Wer sich mit den heiligen Schriften auseinandersetzt – zwischen den Extremen Relativismus und Fundamentalismus, zwischen Beliebigkeit und Buchstabengläu- bigkeit – wer sich hörend und zweifelnd auf ihre Botschaft einlässt, bildet sich. Und dieser Bildungsprozess befähigt, auf den Besitz des Wortes, den Besitz der Wahrheit und den Besitz Gottes zu verzichten. Erst dadurch erschließt sich das Friedens- und Gerechtigkeitspotenzial der heiligen Schriften. Es wäre ein Segen, wenn die in diesem Sinne gebildeten Evangelikalen jedem religiös verbrämten Populismus und Nationalismus widerstehen und entsprechend auf ihre Glaubens- geschwister in Nord- und Südamerika einwirken würden – z. B. auf der Plattform der World Evangelical Alliance .

Literatur

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Karin Hutflötz

Zur Rolle von Kunst und Ästhetik für eine Bildung zum Widerstand

Die These, dass Kunst und Ästhetik einer Bildung zum Widerstand nicht nur zu- träglich seien, sondern entscheidend dazu beitragen können, werde ich hier ver- treten. Dabei gilt es, zu klären, von welcher Art ästhetischen Bildung hier gespro- chen wird, woran sich eine Bildung zum Widerstand durch Kunst im Denken und Handeln letztlich bemisst, und was das sowohl im geschichtlichen Rückblick wie in der gegenwärtigen Verortung für uns heute bedeuten mag.

Denn Kunsterfahrung als wesentlicher Teil dessen, was wir unter humanis- tischer oder ‚höherer‘ Bildung verstehen, bildet zunächst nur die „ästhetische Urteilskraft“ 1 , nicht notwendig die ethische oder politische. Selbst die intensive Beschäftigung mit Kunst und Kultur ist kein Garant für humanistische Haltung und Handeln, noch führt sie zu widerständigem Denken im Sozialen und Po- litischen. Das liegt schlicht daran, dass Ästhetik als Bildungsziel im neuzeit- lichen Sinn eine Denk- und Erkenntnisschulung im Dienst eines kultivierten Geschmacks und stilsicheren Urteils meint, insofern a-sozial und apolitisch ver- fasst ist. Es geht hier um ein dezidiert subjektives, aber objektbezogenes Urtei- len im Hinblick auf künstlerische Werke und die Beurteilung deren Qualität im Vergleich. Diese erfolgt aber, wenn sie objektiven Gehalt beanspruchen will, immer innerhalb eines bestimmten Mediums (z. B. in der Musik) unter den Kri- terien von Zeitgeist und Mode und in der Sprachspiel-Immanenz der jeweiligen Experten.

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1 Bildung zum Widerstand – mit welchem Ziel?

Eine Bildung zum Widerstand aber muss die ganze Person betreffen, das Urteilsver- mögen in diverser Hinsicht bilden können – und zwar in der Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen und geschichtlichen Situation und dem personalen, sozialen, und insofern auch politischen Kontext. Sie erfordert, wie Kant es an anderer Stelle beschrieb, „ein Heraustreten aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ 2 , aus dem Gewohnten und Eingerichteten einer bestimmten Zeit und Welt, aus ihren schein- baren Selbstverständlichkeiten und aus der eigenen Stimm- und Ausdruckslosigkeit angesichts dessen, was geschieht – und erst recht angesichts dessen, was als wider- sprüchlich oder unstimmig erfahren und als ungerecht oder inhuman erachtet wird.

Widerständiges Denken und mündiges Handeln, das bestenfalls aus einer Bil- dung zum Widerstand erwächst, zeigt sich daran, dass eine/ r sich unabhängig von autoritären Vorgaben an humanitäre Ideale und ein Ethos des sozialen Mitein- anders halten kann. Oder dass eine/ r angesichts erfahrener Ungerechtigkeit, Ab- wertung oder Demütigung (seiner/ ihrer selbst oder Anderer), dafür Stimme und Ausdruck findet und bestenfalls Gründe dagegen.

Das erfordert meist, die Erwartung zu brechen, scheinbar Selbstverständliches in Frage zu stellen und dadurch für alle Beteiligten eine neue, personale wie so- ziale Erfahrung zu ermöglichen – ganz im Sinne Walter Benjamins, der vor der gesellschaftlich verbreiteten „Erfahrungsarmut“ 3 als Signum der Zeit warnt. Da- mit meint er nicht, dass Menschen heute weniger oder keine Erfahrungen mehr machen, sondern ‚nur‘ dass es zu wenig Reflexion darauf und Ausdruck dafür gäbe. Als Gegenbewegung gilt es, sich gerade darüber mitzuteilen, Widersprü- che anzusprechen und Unstimmigkeiten wie Konflikte oder Unausgesprochenes in den Blick zu rücken. Oder auch erst sichtbar und spürbar zu machen (und sei es nur via negationis ), worum es in einer geschichtlichen Situation und Kontext geht – auch im Hinblick auf eine gemeinsame Fluchtpunktperspektive. Denn wo Bildung zum Widerstand geschieht, werden implizit immer grundlegende Fragen der conditio humana mit verhandelt: Worum geht es letztlich im menschlichen Miteinander? Was geht gar nicht, was darf man Menschen nicht zumuten oder antun, und was ist aus humanen Gründen dringend geboten? Was macht Mensch- sein zuerst oder zuletzt aus, „wer wir am Ende auch seien“ 4 .

Auch wenn dies nie ein für alle Mal festzuschreiben und ins Wort oder Werk zu bringen ist, sind wir nicht nur mit einem situativen Sinn für das Stimmige und Unstimmige ausgestattet, sondern mit mehreren: sei es mit Gewissen, Klugheit und Urteilskraft (für das moralisch Fragwürdige) oder logische Urteilskraft für Widersprüche im Denken, aber auch mit ästhetischer Urteilskraft für das Wahr- nehmen. Das heißt im Griechischen Aisthesis , und Ästhetik von daher verstan- den, bedeutet die Lehre von der Wahrnehmung bzw. vom sinnlichen Anschauen. Es betrifft demnach alles, was unsere Sinne bewegt (nicht nur Schönes, Hässliches, Angenehmes oder Unangenehmes), sondern jede Art wahrnehmbarer Stimmig- keit und Unstimmigkeit. Alle Sinne dafür zu schulen und in ihrem Zusammenspiel für zwischenmenschliche Konflikte, politische und soziale Schlüsselsituationen diversitätssensibel zu bilden, wäre erste Aufgabe einer Bildung zum Widerstand.

2 Inwiefern gibt es eine Kunst oder Ästhetik des Widerstands? Eine kritische Analyse

Nimmt man dies ernst und beim Wort, dann folgt daraus die zentrale Rolle der Kunst und Ästhetik für eine Bildung zum Widerstand. Das hat auch der Dramatiker Peter Weiss erkannt, dessen Roman-Essay „Die Ästhetik zum Widerstand“ (1971– 1981) bis heute als Standardwerk zum Thema gilt, obwohl es – wie ich hier zu zei- gen versuche – auch deutlich argumentative und begriffliche Schwächen hat. Trotz vieler lesenswerter Detailanalysen, verstellt er, im Ganzen betrachtet, den Blick auf eine stimmige Antwort zur Frage, die uns hier auch bewegt, nämlich welche Rolle Kunst und Kultur als Nährboden für politischen Widerstand nicht nur, aber vor allem in totalitären Systemen habe. Er fragt in umfassender Weise, wie bestimmte Kunstwerke oder ästhetische Theorien (er nennt z. B. das Manifest des Dadaismus und des Surrealismus) den Wenigen, die sich dem Faschismus widersetzten, Kraft und Orientierung vermitteln und das politische Bewusstsein schärfen konnten.

Nur legt er damit das Missverständnis nahe, dass es bestimmte Werke der Kunst und Kultur gäbe, die grundsätzlich aufrüttelnd seien und per se Wider- stand evozieren, gar Kunst(werke), die uns zu besseren Menschen machen („Wo gesungen wird, da lass dich nieder, …“). Doch die historische Erfahrung bezeugt in vielfältiger Weise, dass dem leider nicht so ist. Dass kein kausaler Trost und Bil- dungs-Automatismus durch den Zugang zu Kunst und noch so ‚wertvoller‘, ästhe- tischer Erfahrung (gemäß dem Ranking im Bildungskanon) zu erwarten sei, zeigt sich in allen Epochen und an zahlreichen Biographien durchaus ‚Gebildeter‘ und nicht zuletzt an den Schergen und Drahtziehern des Faschismus. Von Himmler bis Mengele entstammten viele dem hochgebildeten und kunstaffinen Bürgertum. Vor, nach und während ihrer Verbrechen konnten sie sich problemlos, insofern skrupellos dem Genuss und der Beschäftigung mit Kunstwerken und der Verfei- nerung ihres Geschmacks in diversen Feldern des Ästhetischen widmen. Sie hör- ten Mozart und Beethoven (deren Musik gern ein besonders humanistisches und widerständiges Potential zugeschrieben wird), lasen Schiller und liebten Rilke, so auch Sophie Scholl. Aber was war es, was sie zum Widerstand brachte und all die anderen in dieser Zeit gerade nicht? Was bildete ihren Sinn für Widerstand und bestärkte sie in dem Mut zu widerständigem Handeln, auch zu einem hohen Preis? Umgekehrt findet sich auch unter den Helden des Dritten Reichs viele, die schein- bar ohne nennenswerte Kunsterfahrung und verfeinerte ästhetische Bildung ihren Weg in den Widerstand und zu mutigem und mündigem Agieren fanden.

Eine genauere Betrachtung von Peter Weiss’ Zugang und Intention soll im Fol- genden verdeutlichen, warum eine „Ästhetik des Widerstands“ sich nie inhaltlich an bestimmter Kunst oder speziellen Werken, geschweige denn an ausdrücklich ‚politischer Kunst‘ (in politisch-widerständiger Absicht) festmachen lässt, son- dern wenn, dann nur hinsichtlich der Form ihrer Erfahrung bestimmbar ist. Aber wodurch kann dann (welche Art?) ästhetische Erfahrung zu einer Bildung zum Widerstand beitragen?

Mit der hier formulierten Kritik an einer Verklärung bestimmter Werke der Kunst als solche des Widerstands wird nicht geleugnet, dass bestimmte Werke im historischen Rückblick oft eine zentrale Rolle beim Erstarken oder Ermögli- chen von politischem Widerstand innehatten. Dazu gehört die Musik der Beatles in den 60er Jahren mit ihrer Rolle für die 68er-Bewegung vielleicht genauso wie der Aufbruch der Kunst in der Moderne und deren Bedeutung für den radikalen Wandel der Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg. Und sicher auch der Perga- monaltar in Berlin für den 1917 geborenen Autor Peter Weiss, der durch diese äs- thetische Erfahrung maßgeblich auch auf seinen Weg zum Widerstand und gegen den Faschismus im Kontext seiner Zeit gebracht wurde.

Dem umfangreichen Beitrag zur „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss muss man sicher zugutehalten, dass es kein Sachbuch ist zum Verhältnis von Kunst, Wahrnehmungstheorie und Politik, wie der Titel nahelegt. Stattdessen handelt es sich um einen sehr umfangreichen, essayistischen Roman in drei Bän- den, der die Lebens-, Bildungs- und Entwicklungsgeschichte eines (durchgehend namenlos bleibenden) deutschen Arbeiterjungen in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, sowie dessen Widerstandskampfes aus einer fiktiven Ich-Pers- pektive erzählt. Die gewählte Form verweist darauf, dass Weiss sich als (Auto)Bio- graph der proletarischen Widerstandskämpfer gegen den Faschismus und ihres Ringens um Bildung versteht, vor allem aber als kritischer Chronist und Zeuge dieser geschichtlichen Epoche und sozialen Klasse. Dabei vertritt er einen schein- bar hohen, implizit aber eher totalitären Anspruch, nämlich „die Epoche in ihrer Totalität zur Darstellung zu bringen […] und dies durch Spiegelung in Bewusst- sein und Sprache eines einzigen Zeitgenossen […] zu tun“ 5 .

Sein Einstieg in die Handlung geschieht mit einer wortreichen Beschreibung des Pergamonaltars, ausgestellt im Berliner Pergamonmuseum, die zugleich einen Vorgriff auf den Inhalt nimmt und seiner These von beispielhaften Werken einer Ästhetik des Widerstands literarisch Ausdruck verleiht:

Dieses Beispiel einer intensiven, ästhetischen Erfahrung, auch als maßgebliche Bildungserfahrung gedeutet, wird am Ende des Romans nochmal aufgegriffen, so dass es die Erzählung rahmt und zum Leitmotiv für seine Frage zum Zusammen- hang von Kunst, Bildung und Widerstand wird.

So ansprechend und literarisch mitreißend das klingen mag, so unstimmig oder unwahr ist es der Sache nach philosophisch betrachtet. Genauer besehen, enthält diese Schilderung mehrere Fehler, falsche Annahmen und fragwürdige Folgerun- gen. Dies resultiert, so scheint mir, aus einem Mangel an genauem Blick und an einer Wahrheitsliebe, die sich auf das „jeweilige und jemeinige“ 7 Hier und Jetzt fo- kussiert. Ein solcher Wahrheitsanspruch, der eingedenk bleibt der Faktizität und Geschichtlichkeit einer erfahrenen Situation und ihrer individuellen, daher stets besonderen, wie einmaligen Auslegung, wendet sich wider die in der Theorie allzu oft und so auch bei Weiss vertretene, abstrakte Wahrheitsliebe, die in bester Ab- sicht, die Dinge zu klären und zu erkennen, zu der Verallgemeinerung einer Sicht und erfahrenen Einsicht greift („ Wir hörten die Hiebe der Knüppel … Wir blickten in eine Vorzeit zurück … “), damit implizit für andere mitdenkt und ‚die Wahrheit‘ erst zum Singular macht, dann ein für alle Mal in einer gemeinsamen Perspek- tive festhalten will. Problematisch ist nur, dass diese scheinbar Evidenz basierte ‚Wahrheit‘ in dem Fall nicht gemeinsam im Austausch und Gespräch einzelner, konkreter Perspektiven gewonnenen ist, sondern nur als ‚gemeinsame‘ deklariert wird. Die hier so zum Ausdruck gebrachte, abstrakte Wahrheitsliebe (im Gegen- satz zu der hier angemahnten konkreten Wahrheitsliebe im Hier und Jetzt) ist der „Fernsten-Liebe“ 8 Nietzsches formal nah verwandt, die er dem christlichen Ge- danken und Impetus der Nächstenliebe entgegenstellt.

3 Das Einmalige und Besondere ästhetischer Erfahrung – und dessen Mehrwert für eine Bildung zum Widerstand

Die hier geübte Kritik an der so harmlos wie großartig zugleich wirkenden Darstel- lung von Peter Weiss’ literarischen Schilderung einer Kunst-Erfahrung als Beispiel einer Ästhetik des Widerstands, soll im Folgenden näher begründet werden. Sie zielt darauf, dass das „Wir“ als Subjekt der hier geschilderten, ästhetischen Erfah- rung des Pergamonaltars genau genommen falsch verwendet sei. Ein solches WIR existiert faktisch nicht, gibt es bestenfalls als sehnsuchtsbedingter Euphemismus, den sich Kunst, wird sie ernstgenommen, aber gerade nicht leisten kann – und zwar aus politischen Gründen, da sie so indifferent wird gegen den Nährboden des Faschismus. Auch dieser ist getragen von einem angeblich das Gleiche füh- lenden WIR, ein Corps-Geist, der formal vorgibt, dass in jedem Individuum (und zu einer beliebigen Zeit, Situation, Kontext) derselbe innere Film und Wirkung hervorgebracht, die gleichen Bilder und Botschaften angesichts eines Bildes pro- duziert würden. Doch einen solch eindeutigen ‚Film‘, eine Vorhersagbarkeit und Reproduzierbarkeit der Wirkung von Kunstwerken (und allgemein gegenüber dem, was begegnet), gibt es nicht, weder intra personal (I) noch inter personal (II), was im Folgenden näher begründet werden wird. Stattdessen zeugt die ästhetische Erfahrung von einer situativen Einmaligkeit und individuellen Spontaneität beim Hervorbringen und Deuten innerer Bilder, Gefühle, Gedanken und Intentionen.

Zu (I): Auf intra- oder innerpersonalen Ebene betrachtet, bedeutet das, dass ein Mensch niemals genau dasselbe ‚sieht‘, empfindet und erlebt wie vorher (oder nachher), sondern das Erleben ein und derselben Person ist von Augenblick zu Augenblick ein anderes. Das gilt erst recht angesichts eines Kunstwerks, aber selbst angesichts eines gewohnten, ‚normalen‘ Bildes, geläufiger Sprache oder abgegrif- fener Worte, die scheinbar das immer Gleiche evozieren und doch je andere Be- deutung haben, assoziativ andere Gefühle und Gedanken, innere Bilder und neue Bezüge generieren, egal wie oft man in derselben Weise hinsieht oder hinhört. Martin Heidegger nennt diese „Spontaneität des lebendigen Selbst“ das „letzte Phänomen des Daseins“ 9 . Deshalb zeitigt sich das Dasein und damit (Selbst)Er- fahrung für jeden Menschen in jedem Augenblick neu, ist jeweilig und jemeinig, also zeitlich situativ, ein anderes. Das heißt aber nicht, dass sich das Selbst je neu aus dem Nichts schöpft (wie schlicht verstandener Existenzialismus nahelegt!), sondern nur, dass es zu Anderen und zu sich selbst (gemäß seiner inneren Viel- falt) – in einer bestimmten Situation und Kontext – je neu in ein anderes Verhält- nis tritt. Dies kennzeichnet die relationale Bedingung von Pluralität auf gesell- schaftlicher und politischer Ebene, und weist ästhetische (Bildungs)Erfahrung als stets einmalige und besondere aus.

Das belegen derzeit auch eindrucksvoll die Experimente der Hirnforschung, die im Forschungsgebiet des „Brain-Reading“ sich mit der Frage befassen, ob und wie aus Hirnprozessen einer Person, die mit bildgebenden Verfahren aufgezeichnet werden, auf ihre Gedankeninhalte geschlossen werden könne. 10 Ein Nebenpro- dukt dieser Forschung – und nur dieses interessiert hier – ist die Einsicht, dass eine bestimmte Person in jedem Augenblick etwas Neues sieht, denkt und fühlt, selbst angesichts eines immer gleichen Bildes, Objekts oder Reizes. Zeigt man je- mandem immer mal oder immer wieder z.  B. das gleiche Bild eines Elefanten, so zeugt das jeweils neurologische Geschehen, als visueller Hirnscan dargestellt, doch stets ein anderes und assoziatives Geschehen. Wenn das selbst auf stereo- type, einfache Testobjekte zutrifft, dann erst recht auf Kunstwerke, die aufgrund ihrer nie eindeutigen Deutung sich semantischer Kategorisierung entziehen, stets neue Gedanken und Assoziationen evozieren – auch für einen selber.

Wie ein Kunstwerk auf einen wirkt, was es an Widerstand in einem Menschen bewirkt, oder inwiefern es gar zum politischen Widerstand anregen oder bilden vermag, hängt eben nicht nur von der Person ab (und von ihrem Bildungshinter- grund oder sonstigen statisch-feststellbaren Aspekten), sondern nicht minder von der biographisch und sozial je anderen Situation und Konstellation. Ein Bild oder Literatur z. B., die einen heute bewegt und ‚die Augen öffnet‘ für die Notwendig- keit von Widerstand, ließ einen vielleicht vor Jahren kalt, als man es schon mal sah oder las.

Zu (II): Das gilt erst recht interpersonal betrachtet: Kein Mensch ‚sieht‘, emp- findet, erlebt je genau dasselbe wie der Andere – und das wird angesichts eines Kunstwerks am deutlichsten. Oder umgekehrt formuliert: Dass eine/ r z.  B. an- gesichts desselben Bildes, Landschaft oder Szene möglichst genau dasselbe wie ein/ e Andere/ r sieht, empfindet und erlebt, dazu bedarf es krasser Mittel der syn- ästhetischen und emotionalen Gleichschaltung, wie es heute im kommerziellen Kino oder bei einem Pop-Konzert standardisiert geschieht. Was hier geschieht, ist eine gezielte Manipulation der Wahrnehmung, so dass man kaum mehr in si- tuativ einmaliger und individueller Weise ein Bild, eine Szene oder ein Musik- stück eigens wahrnehmen und deuten kann. Die Blaupause für diese Zurichtung von Wahrnehmung und Gleichschaltung von Gesellschaft ist die Ästhetik des Fa- schismus, deren künstlerischen Mittel und manipulative Sprache sich die Film-, Werbe- oder Popindustrie bis heute hemmungslos und meist kritiklos bedient. Wie nah die Wirk-Prinzipien und die Medien-Ästhetik heutiger Pop-Kultur oder Sportberichterstattung den im Faschismus generierten ist, zeigt eindrucksvoll die lehrreiche Dokumentation „Ewige Schönheit“ (2005) von Marcel Schwierin.

Was hier wie dort zeitgleich geschieht und bezweckt wird, ist die (Re)Produk- tion einer Masse, die dann scheinbar zum Subjekt eines solch gemeinsam er- fahrenden WIR wird. Denn „der massenweisen Reproduktion [nicht zuletzt von Kunstwerken] kommt die Reproduktion von Massen besonders entgegen.“ 11 Dies ist der Fall in allen massiv sinnlich-manipulativen Inszenierungen, sei es bei ritu- ellen Fangesängen im Fußball-Stadion, beim Nürnberger Reichsparteitag oder im heutigen Blockbuster-Kino z. B. So wenig vergleichbar diese Formate einer solch inszenierten WIR-Erfahrung sind, so ähnlich sind sich der Form nach die Mittel und Strategien, die gezielt zum Einsatz und Wirkung kommen. 12 Formal gemein- sam ist diesen sehr unterschiedlichen Veranstaltungen, sowohl „die Ausrichtung auf die Massen“ 13 , wie das krasse Setting der emotionalen Gleichschaltung aller Sinne und damit der Vorstellungskraft, unter gezielter Aushebelung kritischen Denkens und widerständigen Handelns. Ein solches kann sich umgekehrt nur bewähren am Widerstand gegen das, was Benjamin „die Zertrümmerung“ 14 des Einmaligen und Besonderen nennt.

Dass kein Mensch genau dasselbe wie der Andere – auch in gleicher Situati- on und Kontext – sehen oder hören, empfinden und erfahren kann, wird ange- sichts eines Kunstwerks am deutlichsten. Dass es folglich das imaginäre ‚Wir‘ als Subjekt der Wahrnehmung faktisch nicht gibt, ist aber – wie hier gezeigt werden soll – kein Mangel (wie man im entfremdeten, angstbesetzten, da tendenziell iso- lierten Zustand gern meint), sondern ganz im Gegenteil ein Gewinn und unse- re Chance. Denn gerade das legitimiert erst Pluralität und begründet die Quelle geistigen Reichtums sowohl im Einzelnen, als auch kulturell betrachtet. Dieser Gewinn besteht gerade darin, dass jede einzelne Person mit ihrem Blick und eige- nen Ausdruck einen neuen Anfang setzt, Welt und Dinge je neu verstehen und anders sehen kann im Augenblick. Hannah Arendt sieht darin das Grundprinzip der Conditio Humana und des politischen Handelns und nennt es das Prinzip der Natalität: „Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein An- fang und Neuankömmling in der Welt ist, kann er Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.“ 15

Differenzerfahrung schafft erst Lebendigkeit und liefert erst den Grund, wa- rum das kommunikative sich Verhalten zu Anderen und in Bezug und Austrag zu gehen lohnt, weshalb die Entstehung von Sprache und Gespräch als sich gegen- seitiges Mitteilen (von je eigener als anfänglicher, da neuer Erfahrung) erst Sinn macht.

4 Was wären qualitative Maßgaben einer heutigen Bildung zum Widerstand?

Für eine Bildung zum Widerstand hat eine solch grundlegende Besinnung auf anthropologische und sozialphilosophische Aspekte konkrete Folgen. Denn an- gesichts dessen, reicht es nicht, dass einer vor dem Pergamonfries steht und seine ihn bewegenden Eindrücke und Gedanken zum Widerstand festhält, die Andere dann bildungswirksam lesen. Konsequenterweise müsste man zudem eine Ge- schichtsstunde oder ein Ethikseminar zu Fragen von Krieg und Frieden, Humani- tät und deren Verlust, für alle vor Ort und angesichts des genannten Kunstwerks (vielleicht auch in Auseinandersetzung mit Peter Weiss’ Text dazu) machen. Ziel wäre es, dann genau nachzufragen und zu hören, was die Einzelnen sehen und wahrnehmen, sich dazu denken. Transformative Bildung zum Widerstand be- ginnt damit, eine Anleitung zum Selbstbezug und zu gemeinsamer Reflexion zu geben, um Zeugnisse der Vergangenheit je neu zu lesen und in eigene Worte zu bringen, um hier und heute eigens Sprache zu finden für das, was gegenwärtig zum Widerstand bewegt. Das gilt auch und nicht zuletzt in Bezug auf Texte.

Wie Peter Bieri in seiner vielfach zitierten Rede zum Thema „Wie wäre es, ge- bildet zu sein?“ betont, sei es weniger entscheidend, was, sondern vielmehr, wie etwas gelesen werde, in welchen Selbstbezug sich der Lesende dazu setzt. 16 Eine Bildung zum Widerstand hieße, so zu lesen, dass Bücher, die man liest, wie Dinge, die man lernt, einen verändern und insofern wandeln, dass sie einen Eindruck hinterlassen, dem man mit je eigenem Ausdruck entspricht. 17 Bildung zum Wi- derstand hieße demnach, so zu lesen, oder: Denken und Kunst so zu rezipieren, dass das, was man liest, oder Dinge, die man sich aneignet, einen verändern kön- nen und einen verwandelt denken, agieren und handeln lassen. So dass eine Per- son in ihrer Situation und in geschichtlichen Konstellation mit wacheren Augen da sein kann und differenzierter zu sehen vermag, was und wie etwas geschieht. Das verweist darauf, dass solch ein Aufbruch, Auseinandersetzung und Verwand- lung genuin als relationale Bildungsprozesse stattfinden, sowohl im Hinblick auf personale wie soziale Entfaltung der Person, nicht nur als Persönlichkeitsbildung im vereinfacht vorgestellten Humboldt’schen Sinn, als maximale Aneignung von Welt – als sei Welt ein konsumierbares Produkt, und nicht eine Vielfalt von ge- lebten und ungelebten Möglichkeiten; als sei der einzelne Mensch sich zur freien Selbstgestaltung im Bildungsauftrag gegeben in einer „Gesellschaft der Singulari- täten“ 18 , und nicht vielmehr der Mensch als radikal soziales Wesen, dessen eigent- liche Aufgabe sein je eigener Beitrag zur Gestaltung einer gemeinsamen Welt und per se offenen Zukunft ist.

Hier zeigt sich die zentrale Rolle von Kunst in einer Bildung zum Widerstand, insofern sie Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten eröffnet, die sich in einem grundsätzlichen Sinn kritisch auf die soziale Wirklichkeit beziehen. Zu- gleich erlaubt sie individuelle Entfaltung und mündigen Ausdruck als „Anver- wandlung von Welt“, aber in einer „Form, die sich nicht fügt“, in einer „Formge- bung, die sich nicht aus der verwalteten Welt ableiten lässt.“ 19

Jeder Mensch ist zudem von Anfang an einmalig und im Laufe seiner Bildungs- biographie stets ein Anderer, da sich jeder vielfältig transformiert, seinen Weg und seine Aufgaben in eigener Weise in einer kommenden Welt und offenen Zu- kunft finden muss. Das ist die paradoxe wie utopische Ausgangssituation von Bil- dung und Erziehung. Daher ähnelt jeder Bildungs- und Entwicklungsprozess des Menschen einem künstlerischen Prozess mehr als einem Herstellungsmodell des Werdens und Machens. In diesem Sinn ist Joseph Beuys berühmtes wie umstrit- tenes Diktum zu verstehen: „Jeder Mensch ist ein Künstler“ und „zu erkennen als zugehörig einer künstlerischen Aufgabenstellung.“ 20 Denn zusammen gestalten wir Welt, Gesellschaft und Sprache als ‚ein Werk‘ und gemeinsame Zukunft. Der Künstler und Vordenker einer Bildung zum Widerstand als und durch Kunst, Jo- seph Beuys, verstand unter ‚Kunst‘ eine gelebte Praxis des kommunikativen Ge- staltens, die als Modell für gesellschaftlichen Wandel dienen sollte. Die Gesell- schaft als Ganzes müsse wie eine Skulptur gestaltet werden, und jeder einzelne sollte sich berufen fühlen, die „Soziale Plastik“ 21 mitzugestalten.

Die hier vertretene These ist eine dreifache und versucht zu zeigen, dass es un- umgänglich sei, wenn gesellschaftlicher Widerstand Bildungsziel sei, sich (I) ei- nerseits mit historisch geleistetem Widerstand als Modell und Vorbild zu befassen, sich (II) andererseits auseinanderzusetzen mit aktuellen, (bildungs)politischen Widersprüchen, heutige soziale Missständen und Tabus , die von uns meist mit- getragen und gedeckt werden; zudem (III) gelte es Widerstand faktisch zu ini- tiieren   –  durch Bildung zu komplexer, vernetzter Wahrnehmungsfähigkeit und vielfältigen wie individuellen Ausdruck. Das wäre nötig, um neue Formen und Weisen gemeinsamen Widerstands je nach Situation und Kontext zu entwickeln: mit neuen Formen widerständigen Denkens und Handelns experimentieren und sie mit anderen zu initiieren. Dazu gehört sicher auch, aktuelle Werke und künst- lerische Wege wahrzunehmen und zu würdigen, insofern Gesinnungsgenossen und Gefährten zur Umsetzung finden. Die ersten beiden, hier genannten Schritte (I und II) sollen noch genauer erläutert werden.

5 Widerstand bildende Kunst: nicht am Werk festzumachen, sondern an der Form ihrer Erfahrung

Sich philosophisch und kritisch mit historisch geleistetem Widerstand zu befas- sen, hat den Vorteil, politische und soziale Prinzipien und Kriterien des (Nicht) Gelingens zu erkennen und für heute fruchtbar zu machen; es kann zudem indi- viduelles Vorbild und moralische Inspiration sein. Wenn es aber nur dabei nur bleibt, ohne Schritt (II) und (III), dann birgt eine solche Betrachtung nicht nur die Versuchung bloßer Historisierung, sondern auch die, sich in moralisch sicherer Warte einzurichten im „Wahn der Kontemplativen“, wie Nietzsche es nennt und folgendermaßen erläutert: dass man glaubt, man sei als Einzelner wie ein „Zu- schauer vor das Schauspiel des Lebens gestellt.“ 22 Exemplarisch zeugt von dieser fragwürdigen Haltung Ernst Jüngers berühmte Schilderung der Bombardierung von Paris in seinem Kriegstagebuch „In Stahlgewittern“ 23 .

Er selbst, zu der Zeit in Paris stationiert, stand seinerzeit auf dem Balkon eines Hotels, mit einem guten Rotwein in der Hand, und betrachtete den Luftangriff der Deutschen Wehrmacht und die Zerstörung von Paris in dieser Nacht. Er schildert das Szenario als faszinierend-erhabenes Feuerwerk, spricht von der Schönheit der Farben, wohl wissend, dass gerade Tausende dabei sterben, Leid und Elend über Generationen generiert wird, und gemeinsame Kulturstätten Europas fraglos ver- nichtet werden. 24 Er kann das trotz aller Kultiviertheit und humanistischen Bildung, weil er sein Erleben maximal ästhetisiert, das heißt, es als Bild oder szenische Dar- stellung auf der Bühne des Lebens betrachtet. Dabei nimmt er sich selbst als Person heraus – aus der Verortung im Hier und Jetzt und seiner selbst als soziales Wesen. Er kappt imaginativ den (faktisch natürlich unumgänglichen) Bezug zur Menschen- gemeinschaft und seinem immer schon (und erst recht als Soldat im Krieg) Verwo- bensein in die Welt durch politisches Handeln, das Hannah Arendt „das Bezugsge- webe der menschlichen Angelegenheiten“ 25 nennt. Er katapultiert sich geistig weit hinaus aus der gemeinsamen Welt und Wirklichkeit, zugunsten wovon?

Was er einnimmt, ist eine fiktive Perspektive von außen, die eigentlich „the view from nowhere“ 26 ist, die irreale Position eines imaginären Gottesauges, das aus der Zuschauer-Perspektive und ästhetischen Distanz das Geschehen betrachtet. Aber er betrachtet es als Bild , nicht als Geschehen, in das er notwendig involviert ist per zeitlicher und geschichtlicher Existenz, und wird damit seiner realen Position (nicht nur Perspektive!) als Mensch unter Menschen nicht gerecht.

Versteht man also das Thema Kunst und eine (mögliche) Ästhetik zum Widerstand so, dass gefragt würde, WIE muss ein Kunstwerk sein, damit es zum Widerstand bil- det, dann ist die Frage falsch gestellt. Denn wer so fragt, geht implizit von zeitlosen, immer gültigen Kriterien oder Widerstand hervorbringenden Eigenschaften des Werks aus (wie Peter Weiss bei der Schilderung des Pergamon-Altars). Aber je nach geschichtlicher Situation, individueller Wahrnehmung der Person und relationalem Kontext macht die Frage nach einer Ästhetik des Widerstands erst Sinn, die sich dann aber nicht inhaltlich vom Werk und dessen Eigenschaften her definieren lässt.

Wenn sich Kunst und Ästhetik, die zum widerständigen Denken und Handeln im Kontext einer Zeit bilden kann, als solche bestimmen lässt, dann nicht an ma- terialen oder zeitlosen Eigenschaften von Werken, sondern durch die Form ihrer Erfahrung, insofern diese offene Fragen als solche evozieren kann, eine conditio sine qua non für widerständiges Handeln. Diesem geht auch stets Neugier und Staunen, Denkfreude oder Weitung der Vorstellungskraft durch Bruchstellen des Rationalen voraus. Entscheidend scheint auch die Rolle von Humor und Ironie zu sein, um aktuelle (bildungs)politische Widersprüche, soziale Missstände und Ta- bus – die von uns allen oft unbesehen mitgetragen und gedeckt werden. Ziel wäre es, diese wahrnehmen, befragen und offenlegen zu können durch (Selbst)Refle- xion, Dialog und Diskurs – und nicht zuletzt durch künstlerische Interventionen.

Diese braucht es vor allem zum Offenlegen von gesellschaftlichen Tabus. Aber gibt es überhaupt in unserer heute scheinbar enttabuisierten Zeit noch politische oder soziale ‚Tabus‘ – und wie wären sie zu erkennen? Unter einem ‚Tabu‘ ver- steht man das, was in einer bestimmten, geschichtlichen Situation und sozialem Kontext wie selbstverständlich nicht angesprochen, noch besprochen, geschwei- ge denn ernsthaft und neu(gierig), insofern frei befragt werden kann oder darf: schon gar nicht auf seine inhärenten Widersprüche und Ambivalenzen hin. Denn dies schürt unklare Ressentiments und Angst, sobald es in den Blick tritt oder in Frage kommt. Insofern ist ein Tabu jeweils der Ort, wo gesellschaftlich abgespro- chen (aber unausgesprochen) Erfahrung verwehrt wird, wo in der Folge Bild und Sprache dafür fehlt, „wo das Wort gebricht“ – wie es treffsicher in dem Gedicht von Stefan George heißt: „So lernt ich traurig den verzicht: / Kein ding sei wo das wort gebricht.“ 27

Ein gutes Beispiel dafür ist das schon genannte und hier näher zu betrach- tende Werk „Schwarzer Kubus“ von Gregor Schneider (2005). 28 Es handelt sich um einen 14 Meter hohen und 13 Meter breiten schwarzen Würfel, der an das schwarze Quadrat als dreidimensionale Weiterführung von Malewitsch ebenso erinnert, wie die Kaaba in Mekka, das Heiligtum des Islam. Wäre diese künst- lerische Arbeit vor 9/ 11 und der politischen Situation seit 2001 entstanden, wäre es kein relevantes Kunstwerk und hätte gesellschaftspolitisch keinerlei Wirkung erzielt. Im Jahr 2005 wurde es aber – ausgestellt (bis heute) vor der Hamburger Kunsthalle – zu Deutschlands umstrittensten Kunstwerk. Es löste massive Kon- flikte in Kunst und Politik aus, die Biennale in Venedig (2005) und der Ham- burger Bahnhof in Berlin (2006) hatten das Projekt „aus politischen Bedenken“ davor abgelehnt. Grund waren so starke wie dubiose Ängste der Veranstalter vor unvorhergesehenen Ereignissen (vielleicht würde man religiöse Befindlichkeiten stören, politische Proteste, sogar Anschläge provozieren), obwohl der Künstler ausdrücklich keine politische Botschaft damit verband 29 , noch die Muslime ein Problem damit hatten, wenn sie gefragt wurden, was aber nur im Nachhinein und zögerlich geschah. „In Venedig und Berlin wurde der Kubus verboten, ohne dass die Verantwortlichen mit einem einzigen Moslem gesprochen haben“, sagte Schneider. Und der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Nadeem Elyas, betonte: „Es ist nicht verboten, die Kaaba darzustellen. Es gibt Darstellun- gen in Hülle und Fülle“. 30

Das Werk und seine Wirkung im Kontext der Zeit und unserer politischen Si- tuation entlarvte vor allem die Ignoranz des Westens gegenüber dem Islam, ob- wohl der öffentliche Blick zugleich wie gebannt darauf lag. Es zeigte, wie wenig wir wissen und noch weniger in der Lage sind, offen zu fragen und ins Gespräch zu treten, wenn es um den Islam und seine angstdiktierte Tabuisierung geht. Es zeigte auch, wie wenig Muslime als Gesprächspartner auf Augenhöhe faktisch ge- sehen werden, und wie sehr ihre Lebenswelt und Religion im Westen tabuisiert statt akzeptiert ist, nicht als gleichwertig betrachtet wird, geschweige denn von ge- meinsamem Interesse zu sein scheint. Dem widerspricht aber die Zahl und kultu- rell prägende Bedeutung der hier lebenden Muslime, ganz abgesehen von der Tat- sache, dass Europa geschichtlich wie gegenwärtig eng mit dem Islam verschwistert und vielseitig verbunden war und ist.

Insofern das Werk dies in seiner gelebten Widersprüchlichkeit und politischen Ambivalenz aufzeigte, war es ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Kunst und ästheti- sche wie politische Auseinandersetzungen dazu zum Widerstand bilden können. Denn was dem Werk bemerkenswerter Weise gelang, und das ohne Absicht und ohne gewollt politische Botschaft, war es, den Teufel an die Wand des Westens zu malen: Es gab der Angst und ihrer unheimlichen Fratze, der gewollten Ignoranz gegenüber dem Fremden und Unbekannten, ein Gesicht. Es legte ein Tabu offen, das als solches erst in dem ausgelösten Diskurs zu Tage trat. Es eröffnete in der Folge aber auch neue Räume des Gehörtwerdens und des Austauschs, damit in- direkt mündige Teilhabe für Muslime und Themen des Islam. 31

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6 Zum positiven Gehalt von Widersprüchen und Tabus: was in Kunst zum Ausdruck kommt

Darum geht es auch in der Kunst: ‚den Teufel‘, das vermeintlich Böse und vorgeb- lich Falsche einer Zeit so genau wie möglich an die Tafel oder Wand der öffentli- chen Wahrnehmung zu malen. An solchen Tafeln findet vielleicht mehr Bildung statt als an den schulischen, wo meist nur Faktenwissen Platz findet: scheinbar ein für alle Mal identifizierte Sachverhalte und widerspruchsfreies Wissen, also das, was Kinder und Jugendliche abschreiben können, sonst macht sich der Pädagoge angreifbar. Dagegen halte ich – mit meinem Plädoyer für Bildung durch Kunst und eine hier skizzierte Ästhetik des Widerstands – das Diktum Simone Weils, dass sich erst am Widerspruch das Denken entzünde. 32 Damit das geschieht, müs- sen Widersprüche aber spürbar und erfahrbar werden, es reicht nicht, faktisch da- von zu ‚wissen‘. Es bedarf einer leibhaften Herausforderung, sei es durch gesehenes oder erfahrenes Unrecht oder Unstimmigkeit in der Begegnung, oder durch Werke der Kunst, wie das exemplarisch hier Dargestellte und seine Rezeption.

Wie leicht wir uns heute davon abschneiden und damit eine Chance auf Bil- dung zu widerständigem Denken und Handeln als Kern demokratischer Lebens- form vergeben, zeigt sich exemplarisch am Verhalten der ehrwürdigen New York Times , die vor kurzem beschloss, politische Karikaturen in der internationalen Ausgabe komplett einzustellen. 33 Der Hintergrund war ein Streit Wochen zuvor um eine  –  so steht in Frage  –  antisemitische Zeichnung. Was für die einen so wirkt, wird von anderen nicht empfunden. Doch ungeachtet der Inhalte und vor aller Parteinahme in der Sache, wäre die ernsthafte Auseinandersetzung darüber für die weltweite Debatte, die Ikonografie des Rassismus und eine weitere Sensi- bilisierung für Antisemitismus wertvoll und wichtig. Denn jeder Wertekonflikt ist ein ausgezeichneter Bildungsort, insofern es gelingt, dass alle Beteiligten Gehör und Anerkennung finden, in dem, was ihnen jeweils wertvoll und wichtig ist.

Das Aufzeigen der Möglichkeiten für uns alle im Einzelnen, gemeinsame Welt und Bedeutung der Dinge mitzugestalten, nimmt gerade die Angst vor der of- fenen Zukunft und entmachtet die Ohnmacht, scheinbar keine Denk-Alterna- tiven und Handlungsperspektiven zu haben. Genau letzteres suggerieren aber die schnellen Antworten und unbedachten Trost-Versprechen der Politik oder die schlichten Entwürfe utopischer oder dystopischer Erlösungsphantasien (wie z.  B. der Transhummanismus heute). Hier zeigt sich exemplarisch, was Kunst als Gegengewicht dazu vermag: Als „Zufluchtsstätte des Unverfügbaren“ 34 führt sie an die Tabus und Umbruchstellen der Zeit  –  und macht einen erweiterten Möglichkeitsspielraum sichtbar. Das zieht ins Helle und gibt Einzelnen, je auf ihre Art und in dem sie am meisten oder gerade ansprechendem Medium, Grund und Anlass zum widerständigen Denken und Mut zum humanen Handeln, auch gegen Widerstände. Erlaubt erst mündiges Gestalten gesellschaftlicher Realität, die den Fluchtpunkt der Zeit im Blick behält: Worum geht es hier und jetzt ? Was steht wirklich auf dem Spiel? Wer wollen wir sein, wie zusammen leben und wie wohnen zukünftig auf Erden? Erst im Gesichtsfeld dieser Fragen ist es möglich, hinreichend individuell, aber auch vielfältig perspektivisch und relational zu antworten. Aufgrund ihres utopischen Charakters erlaubt Kunst in neuer Form eigens Sprache zu finden und Antworten zu können auf die Widersprüche und Aufgabenstellung der Zeit. Bildung mittels Kunst und ästhetischer Erfahrung in diesen vernachlässigten Kategorien des Widerstands zu stärken, scheint mir da- her das Gebot der Stunde.

Literatur

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Lena Schützle

Radikales Mitgefühl als widerständige Praxis

1 Was hat Mitgefühl mit Widerstand zu tun?

Als weiße Deutsche, die studieren konnte (und wollte), nur kurze Phasen ihres urbanen Lebens realistische Geldsorgen hatte und durch die weitere Familie christlich geprägt ist, bin ich auf der Suche nach Wegen, wie Menschen mit ihrem ganzen Sein für ihre Werte eintreten können. Wie können Menschen dabei flexi- bel und weitsichtig bleiben und effektiv etwas in der Welt verändern? Immer mehr bahnt sich ein Verständnis davon den Weg in mein Herz und Verstand, was es be- deuten könnte, radikales Mitgefühl zu leben. Radikale Liebe zu sein. Dabei werde ich von buddhistischen Lehrer*innen und speziell von jenen Menschen inspiriert, welche „trotz“ enormer Diskriminierungserfahrungen den Weg der Liebe 1 gehen und dadurch Widerstand leisten und gesellschaftliche Strukturen verändert ha- ben 2 . Wenn ich diesen Menschen zuhöre, eröffnen sich für mich neue Perspekti- ven auf das Menschsein und die Hoffnung auf eine friedvollere Gesellschaft.

Der vietnamesische buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh sagt, dass Mittel und Ziel zusammengehören, bzw. eins sind. 3 Wenn eine Bewegung also für eine Zukunft mit weniger Unterdrückung und Gewalt kämpft, sollte der Weg dorthin bereits von diesen Werten geprägt sein. Diesen Gedanken weiterführend könnte man sagen, dass eine Bildung zum Widerstand bereits widerständig sein muss. Was könnte das bedeuten? Dass wir eben nicht nur Bücher über Achtsamkeit oder Widerstand lesen, sondern dass wir zusammenkommen und ausprobieren, prak- tizieren. Neue Lernräume gestalten, Lernziele verändern, Leistungsdruck trans- formieren, kritisches Denken üben und konstruierte Dualismen wie die Trennung von Geist und Körper überwinden.

An den Menschen, die ich hier als Widerstandsaktivist*innen aufführe, beein- druckt mich vor allem ihre fraktale Betrachtungsweise von Widerstand, die davon ausgeht, dass vermeintlich simple Aktionen große Wirkung entfalten können. 4 Fraktal heißt in diesem Zusammenhang, dass sich Muster der individuellen Ebe- ne auf der kollektiven Ebene widerspiegeln und umgekehrt. 5 Daraus folgt, dass wenn auf der persönlichen Ebene alte Wunden geheilt werden, sich auch kollekti- ve Strukturen verändern können.

In diesem Artikel gebe ich Beispiele, wie etwa Thich Nhat Hanh und die ameri- kanische Bürgerrechtsaktivistin 7 Valarie Kaur sowohl politischen, organisierten Widerstand unterstützen, als auch eine alltägliche widerständige Praxis kultivieren.

Während es im englischsprachigen Raum bereits zahlreiche Literatur zu diesem Thema gibt 8 , fehlt es im Deutschen an entsprechenden Quellen und populären Vorbildern. Deswegen möchte ich einige Impulse und Beispiele zusammentra- gen, was mit radikalem Mitgefühl gemeint ist und inwiefern die Einübung einer solchen Haltung widerständig sein kann. Dafür beleuchte ich zunächst kurz mein Verständnis von Widerstand und warum widerständiges Handeln heute aus mei- ner Sicht erforderlich ist (1). In Kapitel 2 definiere ich Mitgefühl im Kontext von Achtsamkeit anhand eines Modells aus den Sozialen Neurowissenschaften, um anschließend vier wesentliche Elemente von radikalem Mitgefühl zu besprechen (3). Schließlich fasse ich zusammen, was unter radikalem Mitgefühl als widerstän- dige Praxis verstanden werden kann und benenne offene Fragen (4).

2 Was ist Widerstand und warum gilt es heute, widerständig zu handeln?

Widerständiges Handeln findet im Kontext von Diskursen statt, die Machtverhält- nisse prägen. 9 In diesem Verständnis können Bedeutungsräume durch die Wor- te, Taten und Präsenz von Einzelnen und Kollektiven verändert werden, indem sie entweder den dominierenden Diskurs oder den weniger dominanten Diskurs stärken oder neue Diskurse eröffnen. Widerstand leisten Menschen, wenn sie sich einem Herrschaftssystem, dem dominierenden Diskurs, widersetzen und aktiv Gegenentwürfe zu dem bestehenden System entwickeln und leben. Dies sind z. B. Menschen, die sich in Kriegssituationen für Frieden einsetzen, die gegen totalitäre Regime protestieren, sogenannte Whistleblower , die Informationen an die Öffent- lichkeit bringen, um Grundrechte zu schützen, und Menschen, die gegen kapita- listische Systeme kämpfen, indem sie z. B. dem Bau einer Dakota Access Pipeline die eigene Präsenz entgegensetzen. 10 Passend erscheint mir die Erläuterung von Christopher Daase, einem deutschen Politikwissenschaftler:

Es gibt viele verschiedene Formen des Widerstands und letztlich lässt sich nicht sagen, dass eine spezielle Form, wie bspw. die Sitzblockade, das Merkmal für wi- derständiges Handeln sei. Ob ein Verhalten widerständig ist oder nicht, kann nur mit Blick auf den Gesamtzusammenhang diskutiert werden.

Lebten alle Wesen in Frieden, in intakten Ökosystemen, im Einklang mit al- len Ressourcen, die wir und die Erde für uns bereithalten, lebten alle Wesen frei und verbunden zugleich, bräuchte es womöglich keinen Widerstand. Mir scheint jedoch die „aktuelle Lage der Welt“ Anlass genug zu geben, sich mit widerständi- gem Handeln zu beschäftigen. Ich möchte grob einige der Themenfelder skizzie- ren, die aus meiner Perspektive Motivation widerständigen Handelns sein kön- nen. Grundlage hierfür ist der Wunsch, dass alle Wesen glücklich sein mögen.

1. Im Jahr 2019 befanden sich 70,9 Millionen Menschen auf der Flucht. 12 An Europäischen Grenzen starben 13 im selben Jahr mehr als 1300 Men- schen. Viele fliehen vor Krieg und Vertreibung, immer mehr verlassen ihre Heimat, weil der Klimawandel ihre Lebensgrundlage zerstört. Ge- waltvolle Konflikte und systemische Unterdrückung rauben die Freiheit und Sicherheit vieler Menschen. Rassismus, Sexismus, Antiziganismus und andere Unterdrückungssysteme wirken intersektional und struktu- rell, sie prägen den Alltag vieler Individuen.

2. Der weltweit steigende Konsum von Fleisch- und Milchprodukten wird u. a. durch Massentierhaltung ermöglicht. Allein in Deutschland wurden 2019 rund 59,7 Millionen Schweine, Rinder, Schafe, Ziegen und Pferde ge- tötet und der Milchertrag von Milchkühen wurde seit 1990 verdoppelt (im Jahr 2019 waren es durchschnittlich jährlich 8200 kg pro Milchkuh). 14 Hier geht es nicht „nur“ um das Tierleid und um die emotionale Last, die auf einer Gesellschaft liegt, die solche Tierrechtsverletzungen zulässt. Es geht auch um die damit einhergehende zusätzliche Belastung für das Klima. 15

3. Einige der planetaren Grenzen unseres Ökosystems sind bereits drama- tisch ausgereizt, was wiederum Auswirkungen auf die anderen Bereiche hat. So führt z. B. die globale Erderwärmung zur Beschleunigung des Ar- tensterbens. 16 Das Überschreiten planetarer Grenzen ist derzeit vor allem für arme Bevölkerungsschichten und marginalisierte (Insel)Staaten spür- bar. Das heißt jedoch nicht, dass allein die Menschen, die dort das Leid erfahren, Widerstand leisten müssten. Vielmehr braucht es gerade das En- gagement derjenigen, die momentan in der privilegierten Position sind, genug Nahrung und Sicherheit für sich und ihre Kernfamilie zu haben.

Dies sind nur einige Schlaglichter, die zweierlei aufzeigen sollen. Erstens: Es ist an der Zeit zu handeln! Und zweitens: Die Probleme, denen wir gegenüberste- hen sind miteinander verbunden, verstärken einander und sind nicht auf einzelne feindliche Institutionen, geschweige denn, die intrinsische Bösartigkeit einzel- ner Menschen zurückzuführen. Vielmehr ist es das Handeln und Denken vieler Menschen, welches das oben skizzierte Leid hervorbringt. bell hooks fasst die Ursache vieler der oben genannten Probleme in dem Begriff „imperialist white supremacist capitalist patriarchy“ 17 (dt. imperialistisches, weiß-vorherrschaftli- ches, kapitalistisches Patriarchat) zusammen. Hinzufügen könnte man wohl noch „speciecist“ (dt. speziesistisch) und „anthropocentric“ (dt. anthropozentrisch). Ziel dieses Neologismus ist nicht, die multiplen Ursachen mit einem Begriff zu erklären und damit reduktionistisch vorzugehen, sondern die Komplexität der Ursachen sichtbar und benennbar zu machen. Denn tatsächlich wirken mehrere Unterdrückungssysteme gleichzeitig. Jedes dieser Systeme konstituiert du alistische Bezüge, die die Welt in Gut und Böse , Wir und die Anderen , etc. aufteilen. 18 Valarie Kaur machte während der Arbeit in verschiedenen politischen Organisationen die Erfahrung, dass Kampagnen, die gegen Systeme gerichtet waren, positive Ver- änderung mit sich brachten, während Kampagnen, die gegen Menschen gerichtet waren, erfolglos blieben. 19 Obwohl es faktisch Menschen sind, die ausbeuten und töten, sind es nicht die einzelnen Personen, gegen die Widerstand geleistet werden muss. Es sind die Taten, die gestoppt werden müssen und es sind die Strukturen, die es zu verändern gilt.

3 Radikales Mitgefühl

Die Kultivierung von Mitgefühl hat das Potential, diese dualistischen Systeme zu überwinden. Um diesem Gedanken zu folgen, erläutere ich zunächst, was ich unter Mitgefühl verstehe: Mitgefühl ist eine Seinsweise oder Haltung, die als Same in allen Menschen vorhanden ist und durch gezielte Übungen zum Erblühen ge- bracht werden kann. Das wird zum einen von buddhistischen Mönchen und Nonnen seit über 2500 Jahren praktiziert und gelehrt und zum anderen neuer- dings auch durch Forschungen der Sozialen Neurowissenschaften, wie z. B. dem ReSource-Projekt am Massachusetts Institute of Technology (MIT), bestätigt. 20 In dem Forschungsprojekt wird Mitgefühl als eine Seinsweise betrachtet, die als ein Zusammenspiel aus drei Teilkomponenten beschrieben werden kann: Präsenz , die ich an dieser Stelle mit Achtsamkeit übersetze, Perspektivenübernahme auf sich selbst und andere sowie Affekt . Letzteres beschreibt eine wohlwollende, prosozia- le Haltung zu sich selbst, den eigenen Emotionen und anderen gegenüber. Jeder dieser drei Teilaspekte von Mitgefühl kann trainiert werden. Dass ist möglich, da sich Gehirnstrukturen verändern, je nachdem auf was wir unsere Aufmerksam- keit richten – dieses Phänomen wird als Neuroplastizität bezeichnet. 21

Im Folgenden werden die drei Komponenten von Mitgefühl Achtsamkeit, Per- spektive und Affekt etwas genauer beleuchtet: Achtsamkeit ist das Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks. Dabei können innere Phänomene, wie Gedan- kenströme und Körperempfindungen, sowie äußere Phänomene, wie Geräusche und Gerüche, wahrgenommen werden. Achtsamkeit kann auf unterschiedliche Arten und Weisen geübt werden. Im Grunde kann das gesamte Leben als Acht- samkeitsübung gedacht und praktiziert werden, da es immer wieder eine Übung darstellt, den gegenwärtigen Augenblick wahrzunehmen, inklusive der eigenen Empfindungen, Körperregungen und der Eindrücke, die von außen „auf uns ein- prasseln“. Da im Alltag viele Eindrücke gleichzeitig zu verarbeiten sind, üben viele Menschen Achtsamkeit, indem sie im Sitzen oder Gehen ihren Atem wahrneh- men und diesen über die gesamte Länge des Ein- und Ausatmens beobachten. Dabei schweifen die Gedanken immer wieder ab. Statt sich über diesen durchaus menschlichen Prozess zu ärgern, wird versucht, die Aufmerksamkeit sanft wieder zum Atem zurückzubringen. 22 Die Fähigkeit, achtsam im Augenblick zu verwei- len, öffnet die Sinne für die erfahrbare Lebendigkeit des gegenwärtigen Moments: Wir bekommen mit, was um uns herum passiert, wir können Einsichten über Zu- sammenhänge gewinnen und bemerken, welche Gefühle, Gedanken uns antrei- ben. Allein diese Wahrnehmungsfähigkeit könnte als widerständiger Akt gewertet werden, wenn man sich vor Augen hält, wie viel Ablenkung im öffentlichen Raum und in den (sozialen) Medien durch Werbung oder andere Arten der Information dieses Gewahrsein erschweren. 23 Das Wahrnehmen allein kann jedoch auch zu Überforderung oder Isolierung führen. Deshalb, so schlägt es das Forschungs- team vor, sollten parallel die Teilkomponenten Perspektive und Affekt trainiert werden. 24

Bei der Kultivierung der Komponente Perspektive geht es im Wesentlichen da- rum, die Erfahrung zu machen, mit anderen Menschen und der Natur verbunden und kein separates Selbst zu sein. Dazu muss die Perspektive auf sich selbst und andere erweitert werden. Durch bewusstes Wahrnehmen der eigenen Gedan- ken und durch den Blick auf sich selbst und andere können Menschen ihre Co- Abhängigkeit von anderen Menschen und der Welt erfahren. Dadurch entwickelt sich ein Gefühl der Verbundenheit. Thich Nhat Hanh hat für diese Co-Abhängig- keit den Begriff Interbeing (dt. Intersein) geprägt. 25 Der Wunsch, dazu beizutra- gen, dass alle Wesen in Frieden leben können, ist auf Grundlage dieser Erfahrung weniger eine anstrengende moralische Haltung, ergibt sich vielmehr auf natürli- che Art aus dem Selbst- und Weltbild. 26 Gleiches gilt für die mitfühlende Haltung sich selbst gegenüber, die sich logisch aus der Einsicht in das Nicht-Selbst ableiten lässt: Aus dem Verständnis, dass mein Wohlergehen mit dem der anderen zu- sammenhängt, gepaart mit der Motivation, das Leid anderer Wesen zu mindern, entwickelt sich eine Motivation, sich gut um die eigenen Bedürfnisse zu sorgen.

Die dritte Teilkomponente Affekt besteht wiederum aus drei Teilaspekten: Aus dem Wunsch, dass das Gegenüber oder ich selbst frei von Leid sei, der prosozialen Motivation, etwas für das Glück des Gegenübers zu tun und der Emotionsakzep- tanz, welche die Fähigkeit beschreibt, Gefühle wahrnehmen und erleben zu kön- nen, ohne sie verändern oder festhalten zu wollen. 27 Um diese Teilkomponente zu stärken, kann z. B. regelmäßig mit einer sogenannten Metta-Meditation der „Mit- gefühlsmuskel“ trainiert werden. In dieser Meditation werden nacheinander gute Wünsche gesendet, erst an sich selbst, dann an eine befreundete Person, an eine Person, mit der man gerade einen Konflikt hat, und schließlich an alle Wesen. 28

Wie bereits beschrieben, wird durch die Kultivierung von Achtsamkeit , Perspek- tive und Affekt nicht nur das Mitgefühl für andere Menschen und Wesen gestärkt, sondern auch das Selbstmitgefühl. Dies ist ein elementarer Grund, warum m. E. Mitgefühl die Basis widerständigen Handelns sein sollte. Die Psychologist4Futu- re erkennen das hohe Burnout-Risiko von Klimaaktivist*innen und bieten Be- ratung und Unterstützung für junge Aktivist*innen an. Hierbei scheint neben der Kultivierung von Mitgefühl auf individueller Ebene eine Auseinandersetzung mit (Leistungs)grenzen und auf kollektiver Ebene die Stärkung von Netzwerken und Gemeinschaften entscheidend zu sein. 29 Aktivist*innen in den USA unterstützen sich gegenseitig dabei, ihre inneren Ressourcen zu stärken, da sie spätestens nach der Präsidentschaftswahl 2016 merken, wie wichtig es ist, nachhaltig mit den eige- nen Kräften hauszuhalten. Justin Michael Williams hat in diesem Sinne im Wahl- jahr 2020 in den USA das Buch Stay Woke – A Meditation Guide for the Rest of Us geschrieben, das speziell die Menschen, die täglich Diskriminierung erfahren, dazu aufruft, zu meditieren. Seiner Meinung nach ist Meditation revolutionär, weil sie einen Ausweg aus der geistigen Gefangenschaft von negativen Gedanken, geringem Selbstwertgefühl und Unterdrückung aufzeigt. 30 Diese Beispiele sollen nicht den Eindruck erwecken, dass mit einer Ladung Selbstmitgefühl alles erle- digt sei. Vielmehr sehe ich Selbstmitgefühl und Selbstsorge als ersten Schritt, aus dem Kraft für die politische Arbeit außerhalb der Komfortzone geschöpft werden kann.

Wenn Tara Brach von radikalem Mitgefühl spricht 31 , meint sie die konsequente Übung der oben beschriebenen mitfühlenden Haltung – nicht nur auf dem Medi- tationskissen, sondern in jedem Augenblick unseres Lebens. Radikales Mitgefühl hat dann zum Ziel, Gewaltstrukturen an der Wurzel entgegenzuwirken, indem jedem Menschen (auch sich selbst) Mitgefühl entgegengebracht wird und in je- dem Moment versucht wird, den Menschen und sein Leiden hinter seinen Taten zu erkennen. Diese Haltung zu bewahren, obwohl die Taten anderer Menschen verletzend, zerstörerisch oder ignorant sind, ist widerständig. Denn der Dynamik der Gewalt wird damit widerstanden und eine Bewegung hin zu einem friedli- chen Miteinander initiiert. Martin Luther King Jr. sagte, dass „die Menschen einen Weg finden müssen, Unterdrückung und Gewalt zu überwinden, ohne wiederum Gewalt und Unterdrückung anzuwenden“. 32 Valarie Kaur schlägt dafür die Praxis „see no stranger“ 33 (dt. Sieh kein/ e Fremde/ n) vor. Dabei versucht sie sich daran zu erinnern, dass ihr ein Mensch gegenübersteht, der im Grunde ein Teil von ihr ist, auch wenn sie das in diesem Moment nicht erkennen kann. 34 Es ginge darum, beidem Aufmerksamkeit zu schenken, den eigenen Wunden und den Wunden des Aggressors. Laut Dalai Lama forderte auch Martin Luther King, „dass Menschen für sich selbst eintreten sollten, aber mit Liebe und Verständnis jenen gegenüber, die sich ihnen entgegenstellten“. 35

An dieser Stelle möchte ich vier, mir wesentlich erscheinende Aspekte von radi- kalem Mitgefühl als widerständiger Praxis hervorheben: die Gewaltfreiheit, den Umgang mit starken Gefühlen, die Gemeinschaft und die eigene Praxis.

3.1 Gewaltfreiheit

Die Idole verschiedener Widerstandsbewegungen, wie Thich Nhat Hanh mit Sis- ter Chân Không, Martin Luther King Jr. und Mahatma Gandhi 36 , haben gemein, dass sie zu gewaltfreiem Widerstand aufgerufen haben. Dabei bedeutet „gewalt- frei“, weder passiv zu sein noch sich nicht zu schützen, sondern so lange wie mög- lich den Weg der Liebe, der Verbindung und der Verständigung zu gehen. „Ge- waltfreiheit ist“ mit Martin Luther Kings Worten „keine reine Passivität, sondern eine machtvolle moralische Kraft, die zu Sozialer Transformation führt.“ .37

Kazu Haga, Trainer für Gewaltfreiheit, Aktivist und Autor, gibt in seinem Buch „Healing Resistance“ die Lehren Martin Luther Kings wieder und überträgt sie auf sein eigenes Leben und aktuelle globale Herausforderungen. Dabei bezieht er sich auf die sechs Prinzipien der Gewaltfreiheit: Erstens braucht es Mut, den Weg der Gewaltfreiheit zu gehen, zweitens braucht es Gemeinschaften, um Zukunft zu gestalten, drittens soll nicht gegen Menschen, sondern gegen „böse Kräfte“ 38 gekämpft werden, viertens muss Leiden für das gemeinsame Ziel ohne Rache- gedanken akzeptiert werden, fünftens soll auf physische und psychische Gewalt verzichtet werden und schließlich ist sechstens davon auszugehen, dass das „Uni- versum auf der Seite der Gerechtigkeit steht“. 39 Am Ende des Buches finden sich zudem Hinweise, wie jede*r einzelne Gewaltfreiheit im Alltag üben kann. In seinem Buch wird besonders deutlich, dass Gewaltfreiheit sowohl individuell als auch kollek- tiv geübt werden muss, um die antrainierten Muster der Gewalt und Gegengewalt zu unterbrechen.

Derzeit wird von Forschungsteams wie dem von John Dovidio oder john a. powell an der Frage gearbeitet, wie durch geistige Übungen Vorurteile und Fremdzuschreibungen verlernt werden können. Das Common Group Identity Mo- del von Dovidio und Gaertner beschreibt, wie eine Erweiterung der Eigengruppe (Re-Kategorisierung) dazu führen kann, dass die Versuchspersonen mehr pro- soziale Motivation der anderen Person gegenüber empfinden. 40 Die Erweiterung kann man sich so vorstellen, dass ich bspw. mein Gegenüber in der U-Bahn nicht nur als „der Andere“ wahrnehme, weil die Person einen anderen Kleidungsstil hat als ich, sondern dass ich mir vorstelle, dass mein Gegenüber, genau wie ich, einen anstrengenden Tag hinter sich hat und sich auf ein warmes Abendessen freut. Meine Eigengruppe wurde dabei von „Menschen, die meinem Kleidungs- stil entsprechen“ zu „Menschen, die nach einem anstrengenden Tag auf dem Weg nach Hause sind“ erweitert. Meine wohlwollende Haltung gegenüber der anderen Person wird sehr wahrscheinlich steigen. john a. powell argumentiert in ähnlicher Weise: „If we see someone or something as outside of the select group of connec- tedness, we are far less likely to extend the concerns regarding suffering to that being or nonbeing.“ 41 Er forscht daran, inwiefern ein verändertes Verständnis von der Beziehung zwischen sich und anderen mit einer Verminderung von Fremd- zuschreibungen korreliert. In Racing to Justice spricht er von dem westlichen Selbst als ein Selbstverständnis, das durch rassistisches Denken als isoliertes, ab- getrenntes Selbst konstruiert wurde und noch heute wirkt. 42 Dieses Getrennt-sein prägt das Denken vieler Menschen und verhindert Friedensprozesse weltweit. Es kann – laut powell – durch Liebe überwunden werden. „Liebe fordert das Ego, bzw. das Selbst, heraus, über seine Grenzen hinauszuwachsen.“ 43 So kann es gelin- gen, das unbekannte Gegenüber als einen Teil des eigenen Selbst anzuerkennen. 44

219
3.2 Dem Schmerz begegnen

Die Protestbewegung Extinction Rebellion (dt. Aufstand gegen das Aussterben) versucht durch den öffentlichen Ausdruck von Trauer auf die Dringlichkeit hin- zuweisen, die sie in Bezug auf das Artensterben wahrnimmt. In Ihrem Selbstver- ständnis schreibt die Bewegung:

Wenn wir nicht trauern, versperrt sich auch der Weg zur Liebe. Joanna Macy be- schreibt Gleichgültigkeit und Apathie als die „grösste Gefahr (sic)“ 46 , wenn es da- rum geht, eine sozial-ökologische Transformation mitzugestalten. In ihrer Arbeit, die wieder verbindet , (engl. the work that reconnects) vereint Joanna Macy indige- nes Wissen, buddhistische Lehren und die Systemtheorie. In der Methode Wahr- heitsmandala haben Teilnehmer*innen ihres Workshops die Möglichkeit, ihrer Trauer, Wut, Leere und Angst Ausdruck zu verleihen. Nach einem Sharing-Circle von ca. einer Stunde würdigt sie all diese Gefühle, da sie im Grunde Ausdruck lebensbejahender Gefühle sind: Die Trauer ist Ausdruck der Liebe, die Wut ist Ausdruck des Strebens nach Gerechtigkeit, die Angst ist Ausdruck für den Mut, diesen Ängsten zu begegnen, und das Gefühl des Verlustes zeigt an, dass Raum für Neues da ist. 47 Valarie Kaur ermutigt ebenso dazu, schwierigen Gefühlen wie Wut Raum zu geben. Jedoch nicht willkürlich. Starke Gefühle brauchen speziel- le „Container“ 48 , also einen geschützten Raum, damit keine neuen Verletzungen durch die Entladung passieren. 49 Gemeinschaftsprozesse, Seminare, Therapie und Freundschaften können solche Container darstellen.

Das emotionale Erfahren globaler Krisen kann überfordernd sein. Je nachdem wie eine Person positioniert ist und in welcher Situation sie sich befindet, kann auch genau das Gegenteil des aktiven Fühlens überlebenswichtig sein: Dissozi- ieren. Viktor Frankl beschreibt in seiner Autobiographie eine Art Selbst-Distan- zierung als eine Überlebensstrategie, die er selbst in den Konzentrationslagern Theresienstadt, Auschwitz, Kaufering  III und Türkheim anwendete: „Ich habe wiederholt versucht, mich von all dem Leid, das uns umgab, zu distanzieren, indem ich es zu objektivieren versuchte.“ 50 Durch die Objektivierung des Leids konnte Frankl Schmerzen und Sorgen für Augenblicke ausblenden und über- leben.

3.3 Gemeinschaft leben

Ein wichtiges Element des Radikalen Mitgefühls ist die Gemeinschaft, in der sich Menschen gegenseitig unterstützen und inspirieren. Allein alltägliche Entschei- dungen wie die Reduktion des eigenen Fleischkonsums oder die Einführung einer Achtsamkeitspraxis können Menschen leichter in ihr Leben integrieren, wenn sie um eine unterstützende Gemeinschaft wissen. Aber auch alternative Strukturen wie solidarische Landwirtschaften, nachhaltige Banken oder intergenerationale Wohnmodelle können nur gemeinsam etabliert werden. Der Gemeinschaftsge- danke beinhaltet auch die Weisheit des Interseins : Denn Person A könnte nicht so leben, wie sie es tut, wenn es Person B, C, D, … nicht gäbe. Diese Einsicht kann helfen, das trügerische Bild des aktivistischen Helden oder der widerständigen Heldin aufzuweichen und die eigenen Fähigkeiten, Erfahrungen und Privilegien in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Als Martin Luther King Jr. 1964 den Friedensnobelpreis entgegen nimmt, tut er dies im Namen der gesamten Be- wegung („on behalf of a movement“ 51 ). Er war sich dessen bewusst, dass es viele andere Menschen im Hintergrund gab, die für die Gerechtigkeit, für das Ziel der Bürgerrechtsbewegung litten und dass er ohne diese Unterstützung nicht in der Lage gewesen wäre, in die Geschichte der U.S.A. einzugehen. adrienne maree brown beschreibt mit dem Begriff Emergent Strategy , wie syste- mische Veränderung in und durch politische Bewegungen initiiert bzw. begleitet werden kann. 53 Dabei arbeitet sie mit Analogien aus der Natur und der Perma- kultur. Beispielsweise greift sie das Schwarmverhalten von Vögeln auf und hebt dabei hervor, dass es in Vogelschwärmen keine*n Anführer*in gibt, sondern die Führung als Kollektiv oder durch sich abwechselnde Individuen übernommen wird. Die Kompetenz, die es demnach zu erlernen gilt, ist die „intendierte An- passung“ 54 und das dahinter liegende Verständnis ist das der Interdependenz. 55 Neben weiteren Einsichten aus ihrer Arbeit als Moderatorin und Organisatorin in politischen Nachhaltigkeits- und Gerechtigkeitsbewegungen betont sie, dass es bei der Bildung von Gemeinschaften und Bewegungen mehr darum gehen sollte, sich zu vernetzen und die Verbindung zwischen den einzelnen Akteur*innen zu stärken („inch wide mile deep“), statt auf Anhieb die „breite Masse“ erreichen zu wollen („mile wide inch deep“ 56 ).

222 3.4 Die eigene Praxis

Um überhaupt ein aktiver Teil einer Gemeinschaft zu sein, um überhaupt wider- ständig sein zu können, müssen die eigenen Kraftreserven aufgefüllt sein. Und dies kann, je nach Mehrfachbelastung und persönlichen Voraussetzungen mehr oder weniger Raumzeit einnehmen. Wie schon bei der Beschreibung von Mit- gefühl als trainierbare Seinsweise klar wird, ist das Üben ein wichtiger, grundle- gender Teil von radikalem Mitgefühl. Dieses Üben kann religiöse Praxis sein, wie sie es u. a. bei Thich Nhat Hanh und Martin Luther King ist. Thich Nhat Than re- formierte den Theravada Buddhismus, mit dem er in Vietnam aufgewachsen war und brachte ihn durch sein Exil in Frankreich nach Europa. Martin Luther King ist Sohn eines Baptistenpredigers und war selbst als Pfarrer tätig. Beide schöpf- ten ihre Kraft für die politische Arbeit aus ihrer Spiritualität und der religiösen Gemeinschaft. Natürlich gibt es auch andere Kraftquellen, aus denen Menschen schöpfen, um ihre mitfühlende Haltung zu stärken.

In dem Podcast Healing Justice werden Organisationen und Personen vorgestellt und miteinander vernetzt, die in den USA, in Kanada und über Ländergrenzen hinaus für sozialen Wandel und kollektive Heilung arbeiten. 57 Dabei wird besonde- ren Wert auf das Teilen von Praktiken gelegt, die diesen Prozess unterstützen kön- nen. Besonders beeindruckend ist m. E. die Verknüpfung von (spiritueller) Praxis, körperlicher und geistiger Heilung, Gemeinschaftsbildung und klaren politischen Forderungen. Die Akteur*innen sind lebende Beweise dafür, dass viele Tätigkeiten politisch, widerständig und transformativ sein können, je nachdem, mit welcher Haltung und Absicht sie durchgeführt werden. In einer der ersten Episoden spricht die Moderatorin Kate Werning mit Mitgliedern des Third Root Community Health Centers, einem ganzheitlichen Gesundheitszentrum in Brooklyn, New York. 58 In dem Gespräch erläutern sie, dass seit der Präsidentschaftswahl 2016 Selbstsorge nicht mehr als Luxus, sondern als tägliche Routine angesehen werden sollte („de- spa-ifying“ 59 ). Denn systemische Unterdrückung zeigt sich u. a. durch körperliche Symptome wie Kopfschmerzen, Verspannungen und Stress. Neben dem Einblick in ein Gesundheitszentrum mit politischer Haltung wird den Zuhörer*innen von Geleni Fontaine eine kurze Übungssequenz zur Verfügung gestellt. 60 So verbindet jede Folge des Podcasts den systemischen Blick auf gesellschaftliche Missstände und transformative Lösungsansätze mit Tipps für die persönliche Praxis.

4 Radikales Mitgefühl ist widerständige Praxis

Radikales Mitgefühl bedeutet, sich selbst und andere mit wohlwollendem Blick zu sehen, die Ursachen von gewalttätigen Handlungen zu erkennen und die Motivation zu entwickeln, das eigene Leid und das Leid anderer zu minimieren. Diese Haltung zu kultivieren, scheint ein andauernder Prozess des Ausbalancierens, der Reflexion, der Auseinandersetzung und der Übung – individuell und kollektiv – zu sein. Durch diese Praxis wird ein Verständnis von Selbst entwickelt, welches die Trennung zwi- schen mir und anderen aufhebt, bzw. durchlässiger werden lässt. Der Weg der Ge- waltfreiheit kann als ein zentrales Element dieser Haltung verstanden werden.

Radikales Mitgefühl ist eine widerständige Praxis, wenn Menschen sich dadurch Herrschaftsnormen und -systemen widersetzen, Gegenentwürfe zum bestehenden System entwickeln und nach diesen leben. Die Formen, in denen radikales Mitge- fühl praktiziert wird reichen von kontemplativen Übungen, alltäglichen Handlun- gen, Bildungsarbeit, Protest und zivilem Ungehorsam. Anstatt zu unterscheiden, welche der Formen wichtiger ist als die andere, ist festzuhalten, dass es alle diese Ebenen braucht, um gewaltfrei Veränderung zu bewirken. Durch Widerstandsak- tivist*innen wie Martin Luther King, Joanna Macy, Thich Nhat Hanh, Valarie Kaur und adrienne maree brown können wir ein Verständnis von Widerstand gewin- nen, welches fern von Gewalt und Held*innentum verortet ist. Das Verständnis von Interdependenz oder Intersein bildet die Basis für diese Art des Widerstands.

Trotz vieler inspirierender Persönlichkeiten, Bewegungen und Forschung zum Thema (radikales Mitgefühl) ist bei der Wortwahl und Definition Vorsicht gebo- ten: Mitgefühl und Achtsamkeit sind mittlerweile populäre westliche Begriffe und somit hegemonial unterwandert. Es braucht Übung, Gemeinschaft und die Rück- bindung an Menschen, die schon lange praktizieren, um zum „wahren Kern“ die- ser Lehren vorzudringen. Sonst besteht die Gefahr, Samen der Selbstoptimierung und des Egozentrismus zu wässern oder radikales Mitgefühl auf eine Praxis der Selbstsorge zu reduzieren. Auch der Umgang mit Definitionen und Konzepten ist es ein dauerhafter Prozess der Selbsthinterfragung und kritischen Beschäftigung mit den Quellen, aus denen wir Inspiration ziehen.

Schließlich bleiben einige Fragen offen. Zum einen solche, die nicht oder nur individuell beantwortbar sind, wie: Welche Form des widerständigen Handelns ist für wen am besten geeignet? Welche Formen werden zukünftig noch neu entwi- ckelt werden? Und zum anderen Fragen, die sich aus dem Vorstehenden ergeben: Welche Perspektiven werden in diesem Diskurs ausgeschlossen? Welche Dualis- men werden unterschwellig manifestiert? Inwiefern können/ dürfen Angehörige der weißen Mehrheitsgesellschaft von Strategien von People of Color lernen, um ihre eigenen und kollektive Wunden zu heilen? Schließlich gibt es Fragen bzgl. des Themas, die es an anderer Stelle und durch die eigene Praxis zu beantworten gilt: Welche Herausforderungen bringt das Kultivieren von radikalem Mitgefühl mit sich? Gibt es Situationen, in denen radikales Mitgefühl zu mehr Verletzungen und Gewalt führt? Was kann Gesellschaften dabei unterstützen, den „Weg der Liebe“ zu gehen?

Schließen möchte ich mit einem Zitat von Tara Brach, weil es den aktuellen Augenblick für mich so treffend beschreibt:

Literatur

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Markus Vogt

Scientists for Future: Wissenschaft im Widerstand gegen mangelnde Zukunftsverantwortung

1 Die Kluft zwischen Wissen und Handeln

Die Erfahrung der mangelnden Handlungskonsequenz des Wissens im Kontext des Klimawandels hat eine kontroverse Debatte um die gesellschaftliche Wirkung und das Selbstverständnis von Wissenschaft ausgelöst. Weltweit sind zahlreiche Wissenschaftler*innen aktiv geworden, weil sie nicht mit ansehen können und wollen, wie die Gesellschaft wider besseres Wissen in die Klimafalle läuft. Die Initiative „Scientists for Future“ hat sich seit März 2019 zu einem starken inter- nationalen Netzwerk entwickelt, das durch die Unterstützung der Klimastreiks „Fridays for Future“ gesellschaftliche Bedeutung gewonnen hat. 1 Die verschiede- nen „For-Future“-Initiativen haben sich zu einer weltweiten, politisch und me- dial höchst dynamischen Bewegung formiert. Man kann sie als Widerstand gegen mangelnde Zukunftsverantwortung angesichts des Klimawandels verstehen.

Ungewohnt und reflexionsbedürftig für die Wissenschaftler*innen (ebenso wie für die Schüler*innen) ist dabei vor allem die aktive Rolle im Eintreten für ge- sellschaftliche Transformation. Dieses mündet fast zwangsläufig immer wieder auch in die Auseinandersetzung mit bestehenden Machtstrukturen. Der Wider- stand richtet sich aber auch gegen Nebenwirkungen der gegenwärtig dominieren- den Lebens- und Wirtschaftsform, für die scheinbar niemand zuständig ist. Das ist für eine Widerstandstheorie insofern irritierend, als es nicht leicht ist, dafür einen konkreten „Gegner“ zu identifizieren. Gerade die systemische Anonymi- sierung von Verantwortung, die die Suche nach rechenschaftspflichtigen Hand- lungssubjekten ins Leere laufen lässt, ist ein markantes Problem. Zudem sind in den komplexen Handlungsketten zumindest als Konsumenten fast alle beteiligt, so dass der Widerstand auch zum Widerstand gegen eigene Gewohnheiten und Abhängigkeiten wird.

Für die Wissenschaft besonders herausfordernd ist die sich seit einigen Jah- ren weltweit ausbreitende Verachtung der Vernunft, für die sich das Adjektiv „postfaktisch“ als Kennzeichen etabliert hat. Diese ignoriert nicht nur die Klima- forschung, sondern sucht die wissenschaftliche Rationalität insgesamt zu mar- ginalisieren. In den USA haben Wissenschaftler*innen in der Form von science marches dagegen protestiert. Die Veränderung der gesellschaftlichen Stimmungs- lage lässt sich jedoch nicht hinreichend mit Demonstrationen bekämpfen. Der Widerstand gegen die Marginalisierung von Klimawissen hat exemplarischen Charakter für die Frage, warum und in welchen Formen die Mitgestaltung der Gesellschaft als Aufgabe von Wissenschaft und Bildung verstanden werden soll. 2 Es geht um den Zusammenhang von Wissen und Verantwortung sowie unter- schiedlicher Formen von Rationalität und Emotionalität in den diversen Sub- systemen spätmoderner Gesellschaft. 3 Sollen die Argumente der Wissenschaft mehr Gehör finden, muss über die Generierung von Wissen hinaus auch eine Kultur des Vertrauens auf Vernunft dialogisch gefördert werden. Wir leben in einer Wissensgesellschaft, die zur Lösung der von ihr erzeugten Probleme auf innovative Forschung angewiesen ist.

2 Die ambivalente Rolle der Wissenschaft

Es ist absehbar, dass der Druck der Straße trotz aller Erfolge nicht ausreichen wird, um das aus umwelt- und sozialethischer Sicht gut begründete 1,5-Grad-Ziel im Klimaschutz zu erreichen. Auch das 2-Grad-Ziel ist kaum noch realistisch. Nicht einmal eine Umkehr der Dynamik des scheinbar unaufhaltsam expandierenden Naturverbrauchs ist absehbar. Beunruhigend ist dabei für die Wissenschaft ins- besondere ihre ambivalente Rolle: Sie ist nicht nur Teil der Lösung, sondern auch Teil des Problems, nämlich treibender Faktor der globalen Entwicklung zu einer immer effizienteren Expansion der Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Versuche der Begrenzung scheinen demgegenüber eine nachgeordnete Wirkung zu haben. Einen Richtungswechsel bringen sie nicht zustande. Die Wissenschaft ist selbst Teil und Quelle der Expansionslogik sowie der fragmentierten Rationalität, der ein integrierender Blick für systemische Wechselwirkungen sowie für die An- erkennung von Grenzen und kategorischen Werten abhandengekommen zu sein scheint.

Angesichts dieser Ambivalenzen und blinden Flecken steht die Wissenschaft vor der Aufgabe, sich selbst zu wandeln und kritisch zu prüfen, wo sie von Denkmo- dellen und Organisationsformen geprägt ist, die den gegenwärtigen Herausfor- derungen nicht gerecht werden. Zu fragen ist, wie sie im nötigen Maß zu neuem Denken und Widerstand gegen die „mentalen Infrastrukturen“, die dem gegen- wärtigen Kollisionskurs zwischen Natur und Gesellschaft zugrunde liegen, befä- higen kann. Ernst Ulrich von Weizsäcker und Anders Wijkman bezeichnen dies in ihrem Club-of-Rome-Bericht 2018 „Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen“ als „Aufklärung 2.0“. Gemeint ist eine neue Phase der Aufklärung, die sich kritisch mit den Entwicklungen und Verengungen neuzeit- licher Rationalität in den westlichen Gesellschaften auseinandersetzt und für die Lebensbedingungen einer „vollen Welt“ befähigt. 5

Dies ist eine zutiefst philosophische Herausforderung, die eine Einübung in kri- tisches Denken und Widerstand gegen eingeschliffene Modellannahmen sowie Gewohnheiten der Wahrnehmung, Wertung und Weltdeutung erfordert. Dies bedarf einer Auseinandersetzung mit der strukturellen Verfasstheit von Wissen- schaft als Teil einer Expansionslogik, die aus Sicht der jeweiligen Subsysteme (z. B. der Sicht der Ökonomie oder der Entwicklungspolitik) stimmig erscheint, die aber das Wohl des Ganzen nicht hinreichend im Blick hat und insofern als eine fragmentierte Expansionslogik charakterisiert werden kann. Es geht darum, die Zuordnung von Wissen und Verantwortung neu zu vermessen und die Freiheit der Wissenschaft im Anspruch der Nachhaltigkeit wirksam zu verteidigen. Dies erfordert aktiven Widerstand gegen vielfältige Anreizsysteme, Gewohnheiten und Strukturen der gegenwärtigen Verfasstheit von Wissenschaft.

3 Gesellschaft im Wirkungsraum ökologischer und sozialer Kipppunkte

Nach den Analysen der Erdsystemforschung können wir wissen, dass sich das Fenster der Gelegenheit“ für einen proaktiven Umwelt- und Klimaschutz, der es ermöglicht, innerhalb der „planetaren Grenzen“ 6 des „ safe and just space “ für die menschliche Zivilisationsentwicklung zu bleiben, sehr bald schließen wird. 7 Öko- logisch und soziokulturell sind Teile der Weltgesellschaft bereits im Wirkungs- raum der tipping points . Wir müssen uns darauf vorbereiten, mit Kollapsphäno- menen und disruptiven Wandlungsprozessen zurechtzukommen. 8 Diese treffen jedoch zuerst die Menschen im globalen Süden. Insofern hat der Ressourcenver- brauch der „Externalisierungsgesellschaft“ 9 Züge eines ökologischen „Neokolo- nialismus“ 10 .

Angesichts des tiefen Grabens zwischen Wissen und Verantwortung „entsteht der Eindruck einer bleiernen Fantasielosigkeit in der Mitte der Gesellschaft, die sich daran gewöhnt hat, ihre demokratische Aufgeklärtheit in der Geste des Maßvol- len und Panikfreien manifestiert zu sehen.“ 12 Man streitet lieber um Details der Klimaprognosen und glaubt an die Versprechungen eines grünen Wachstums, als sich ernsthaft mit dem absehbaren Ende des gegenwärtigen Wohlstandsmodells auseinanderzusetzen. Unterschätzt werden nicht nur die Tiefe der Veränderungen und der enge Zeitkorridor, um Lösungen zu finden, sondern auch die Trägheit der Machtstrukturen, die einen proaktiven Wandel verhindern. „Vergangenheits- und Gegenwartsinteressen sind besser organisiert als Zukunftsinteressen. Struktur- wandel zur Nachhaltigkeit ist daher auch eine Frage von Interessenskonflikten.“ 13 Für die Wissenschaft ist die entscheidende Frage, welche Rolle sie bei der Ent- stehung neuer Akteurskonstellationen, die zukunftsfähige Entwicklungen ermög- lichen, spielen kann und sollte.

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4 Katalytische Wissenschaft

Im Schatten des Klimawandels wird derzeit das Verhältnis zwischen Wissen- schaft und Gesellschaft neu vermessen. Die Debatte wird unter verschiedenen Überschriften geführt, wobei insbesondere das Konzept „Transformative Wissen- schaft“ heftig umstritten ist. 14 Breiter akzeptierte Ansätze sind „Forschen in gesell- schaftlicher Verantwortung“ und „Nachhaltigkeitswissenschaft“ („ Sustainability in Science “) 15 . Weitere Facetten der Debatte spiegeln sich in den Begriffen „Trans- disziplinarität“ 16 , „ citizen science “ 17 , „dialogisches“ und „integrales Hochschulsys- tem“ 18 , „ third mission “ 19 , „oppositionelle und emanzipatorische Wissenschaft“ 20 oder „katalytische Wissenschaft“ 21 .

Gemeinsam ist den verschiedenen Ansätzen, dass sie für Orientierung und Konfliktbewältigung in dem vielschichtigen Spannungsfeld der gegenwärtigen Umbruchprozesse eine aktive Rolle der Wissenschaft einfordern. Wissenschaft solle transdisziplinär, dialogisch und kontextsensibel Wissen für eine gerechte und zukunftsfähige Gestaltung der Gesellschaft erarbeiten und einbringen. Aus meiner Sicht fasst das Konzept der „catalytic science“ von Ortwin Renn die ver- schiedenen Aspekte am prägnantesten zusammen:

Das Modell der „Katalytischen Wissenschaft“ hat weitreichende Konsequenzen für das wissenschaftliche Selbstverständnis. Es bringt die Wissenschaft in die Rol- le einer Vermittlerin „zwischen konkurrierenden Wahrheitsansprüchen, Hand- lungsoptionen und moralischen Rechtfertigungen von Verteilungsschlüsseln für öffentliche Güter und Belastungen“ 23 . Die Wahrnehmung dieser Rolle setzt eine für alle Beteiligten verständliche Aufbereitung des Wissens, die die unterschied- lichen Problemsichten und Wertvorstellungen integriert, voraus. Darüber hinaus bedarf es einer verständigungsorientierten Kommunikation, in der auch nichtwis- senschaftliche Akteure mit hoher Sozialkompetenz und robustem Prozesswissen sowie einem wachen Blick für bestehende Machtasymmetrien und soziopolitische Kontextbedingungen eine aktive Rolle spielen. 24 Katalytische Wissenschaft zielt auf eine „ko-creative“ 25 Erarbeitung sachgerechter und für die Gesamtgesellschaft wertangemessener Lösungsoptionen. 26

Der Begriff der „ catalytic science“ bringt zentrale Aspekte des Konzeptes der transformativen Wissenschaft auf den Punkt und präzisiert die Rolle der Wissen- schaft für gesellschaftliche Transformationsprozesse, indem er diese begrenzter aber nicht weniger anspruchsvoll als Katalysator beschreibt: Wissenschaftler-*in- nen sollten sich dabei nicht als Motor verstehen, jedoch ihr Wissen als eine un- verzichtbare Aktivierungsenergie einbringen, um Denk- und Prozessblockaden aufzulösen und wünschenswerte Transformationen in Gang zu bringen. In der (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit hat sich jedoch der Terminus „Transforma- tive Wissenschaft“ als programmatischer Leitbegriff der Debatte etabliert, viel- leicht gerade weil er so umstritten ist und dadurch konzeptionelle Debatten an- geregt hat.

In der Debatte stellt sich mit neuer Dringlichkeit die alte Frage, ob Wissen- schaft sich damit begnügen kann, die Welt zu denken, oder ob sie auch unmittel- bar danach streben sollte, die Welt zu verändern. Ist ihre Rolle eher diejenige einer Beobachterin oder vielmehr diejenige einer Akteurin? Darauf gibt es aus meiner Sicht durchaus unterschiedliche Antworten, die jeweils gute Gründe für sich an- führen können. Die sich hier zeigende Spannung hat einen ethisch-wissenschafts- theoretischen Kern im Konzept der Nachhaltigkeit: Dieses hat sich vor allem in der Sphäre des Politischen etabliert und ist zunächst ein gesellschaftspolitisches und kein wissenschaftliches Konzept. Es ist ein Verantwortungsdiskurs, dessen starke normative Aufladung in seiner Tiefenstruktur keineswegs zu gängigen Vor- stellungen von Freiheit, Autonomie und wissenschaftlicher Exzellenz der Hoch- schulen passt. Sein integrativer Anspruch steht quer zum Prozess zunehmender Ausdifferenzierung. 27

Der normative Anspruch der Nachhaltigkeit wird teilweise als Widerspruch zur Freiheit der Wissenschaft interpretiert. Um dies zu vermeiden, kommt es darauf an, das Adjektiv „nachhaltig“ nicht unvermittelt mit „gut“ gleichzusetzen, sondern seine ethische Dimension analytisch zu erschließen, z. B. durch das Zu- rückführen auf Gerechtigkeitsprinzipien, das Aufzeigen von Dilemmastruktu- ren und Zielkonflikten sowie von begründeten Prioritäten und Verfahren. 28 Die normativ aufgeladene Ganzheitlichkeitssemantik der Nachhaltigkeit sollte nicht gegen die Notwendigkeit fachspezifischer Ausdifferenzierung und Pluralität aus- gespielt werden, sondern als Frage der Zuordnung verschiedener Teillogiken wissenschafts- und normtheoretisch reflektiert sowie praktisch operationalisiert werden. Mit anderen Worten: Der normative Anspruch von Nachhaltigkeit ist dann wissenschaftsfähig, wenn er nicht einfach als unhinterfragte Prämisse vo- rausgesetzt, sondern durch eine kritische Diskussion seines Zustandekommens sowie der mit ihm verbundenen Zielkonflikte und Grenzen analytisch erschlos- sen wird.

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5 Wahrheit als oppositioneller Begriff

Letztlich geht es bei der Suche nach einer „engagierten“ Rolle der Universitäten in der Gesellschaft, die sie nicht nur als Beobachter, sondern stärker auch als „ change agents “ in Anspruch nehmen will, um Grundlagen des Verständnisses von Wis- senschaft und Ethik. Nach der Auffassung des französischen Soziologen Geoffroy Lagasnerie haben wir schon angefangen, uns zu engagieren , sobald wir anfangen, Ideen und Diskurse zu produzieren. 29 Wahrheit sei nicht eine neutral beschrei- bende Perspektive, sondern ein „oppositioneller Begriff “, der zeige, wie und wa- rum eine Praxis oder eine Institution falsch sei. 30 Im Hintergrund dieses Wissen- schaftsverständnisses steht das Konzept einer Soziologie als Infragestellung von Ideologien, Institutionen und gesellschaftlichen Rahmenstrukturen: 31

Wissenschaft bewegt sich demnach nie in einem moralfreien Raum reiner Theo- rie, sondern ist immer auch als Praxis zu begreifen. Demnach ist dann auch die Ethik nicht eine Frage nachgelagerter Anwendung, sondern eine begleitende Re- flexion der Praxis. Sie kann ihre Aufgabe einer Befähigung zu Verantwortung in den Wissenschaften nur dann angemessen wahrnehmen, wenn sie von Anfang an als konstitutiver Bestandteil derselben mitgedacht wird. Lagasnerie vergleicht das Verständnis der Wissenschaft als „ l ’ art pour l’art “ mit der wirtschaftstheoretischen Vorstellung vom Profit um des Profits willen. Sie sei „eine Art Ethik des Rückzugs, der Entpolitisierung, die einem potenziell subversiven Wirken eine gesellschaft- liche und politische Harmlosigkeit verpasst und so die Reproduktion der beste- henden Ordnung und ihrer Grundwerte ermöglicht.“ 33 Das Beharren darauf, dass Wissenschaft ein fester Beruf, ein in sich abgeschlossenes Reich innerhalb des ge- sellschaftlichen Ganzen darstelle, gebe das eigene Wesen des Denkens preis. 34 Es beruhe auf einem naiven Verständnis des vielschichtigen Nexus von Theorie und Praxis und verkenne, dass Wissenschaft immer auch als eine Form von Praxis zu betrachten ist. 35

Wenn man Nachhaltigkeit in dieser ursprünglichen Verknüpfung von Theorie und Praxis verortet, dann ist sie nicht ein von außen angelegter Maßstab utilitaris- tisch auf ökosozialen Nutzen bezogener Folgenwertung, sondern stellt ein inhä- rentes Moment der Praxis des Wissens dar. Es geht um einen Gegenpol zur hohen Selbstreferenzialität der Wissenschaft, die sich insbesondere in den Geisteswis- senschaften durch eine Flut von Fußnoten zunehmend auf sich selbst bezieht und damit ein geschlossenes System bildet, das sich von der Außenwelt abzukoppeln scheint. 36 Nachhaltigkeit in den Wissenschaften ist ein Reflexionsraum des öko- sozialen impact von Forschung, Lehre und universitärer Praxis. Sie ist Aufklärung über Voraussetzungen und Folgen der Wissensproduktion – und damit eine Er- weiterung des Horizontes von Rationalität und nicht eine Form ihrer moralischen Gängelung. Sie ist Ausdruck von selbstreflexiver Freiheit.

Man sollte vor dem Hintergrund der nicht auflösbaren Spannung unterschiedli- cher wissenschaftstheoretischer Modelle den Anspruch verantwortlicher Wissen- schaft nicht primär als Moralappell auslegen, sondern ihn zunächst wissenschafts- und normtheoretisch reflektieren: Die Zuordnung empirischer, normativer und transformativer Anteile des Wissens bedarf stets der kritischen Reflexion und methodischen Transparenz. 37 Wenn Wissenschaft den Widerstand gegen man- gelnde Zukunftsverantwortung als ihre Aufgabe begreift, muss sie sorgfältig da- rauf achten, sich nicht in gesellschaftlichem Aktivismus zu verlieren. Sie sollte sich auf ihre eigenen Ambivalenzen konzentrieren und sich ihrer Ergänzungs- bedürftigkeit durch andere Formen der (praktischen) Vernunft bewusst bleiben. Der spezifische Beitrag der Wissenschaften im Kampf um eine klimaverträgliche Transformation der Gesellschaft wird vor allem dann deutlich, wenn sie mit einer methodisch fundierten Reflexion ihrer eigenen Organisation ansetzt.

6 Universitäten als „strukturpolitische Akteure“

Universitäten stehen einer Vielfalt heterogener Rollenerwartungen gegenüber: Ausbildung einer stetig wachsenden Zahl von Studierenden, Produzenten*innen von innovativem Wissen für die Wirtschaft, Ort des kritischen Denkens. Durch die Vielzahl der Erwartungen entsteht ein erheblicher Druck. Autonomie kann dabei helfen, die spezifischen Produktivitäts- und Effizienzpotenziale subsidiär zu mobilisieren. Häufig ist sie jedoch eine Scheinautonomie, da sie lediglich dazu ge- nutzt wird, die faktischen Ressourcenzwänge mit einem Spektrum an naheliegen- den Managementinstrumenten, die meist einem betriebswirtschaftlichen Ratio- nalitätsmodell folgen, zu beantworten. 38 Die Steigerung universitärer Autonomie durch Befreiung von staatlichem und politischem Einfluss mündet nicht selten in eine Vereinnahmung durch andere Teilsysteme (z. B. durch die Wirtschaft als Drittmittelgeber).

Die Sicherung der Autonomie bedarf einer kritischen Auseinandersetzung mit den eigenen institutionellen Handlungsbedingungen. Hochschulen sind struktur- politische Akteure, d. h. Institutionen, die durch ihr Handeln nicht ausschließlich auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen reagieren, sondern mit ihren Strate- gien auf diese aktiv einwirken. 39 Dafür müssen sie die multiplen Anforderungen an Hochschulen als Chance ihrer Weiterentwicklung wahrnehmen und zu gesell- schaftlichen Brückenbauern zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen werden. Autonomie bedeutet, sich im Feld pluraler Ansprüche frei zwischen den Systemen zu bewegen. Dies wird nur gelingen, wenn die Span- nungsfelder im Sinne eines intelligenten Dilemma-Managements, einer hohen Ambiguitätstoleranz sowie im Sinne von Transparenz und Glaubwürdigkeit be- wältigt und in ein produktives Verhältnis gesetzt werden. 40

Angesichts der Komplexität der ökologischen Herausforderungen, die nur mit wissensbasierten Strategien angemessen erfasst und eingedämmt werden können, sind auch hier die Intellektuellen besonders zu aktivem und öffentlichem Handeln als „ change agents “ herausgefordert.

Sie ist Ausdruck wissenschaftlicher Selbstreflexivität und Transparenz hinsicht- lich der Klärung der eigenen Voraussetzungen und determinierenden Rahmen- bedingungen, Einflussgrößen und Prämissen.

7 Neugestaltung von Diskursräumen

Transformative Wissenschaft relativiert den Stellenwert der disziplinären Fach- community als Abgrenzung diskursiver Räume und Zugehörigkeiten. Die ver- meintliche Autonomie und Neutralität durch fachbezogene Zugehörigkeit erzeugt nach Lagasnerie eine dualistische Zwei-Welten-Konstellation: einerseits die der akademischen Fachdiskurse und andererseits jene der Öffentlichkeit in Medien, Politik und Gesellschaft. 42 Emanzipatorische Wissenschaft überwinde diesen Du- alismus, indem sie im gemeinsamen Ringen um Gerechtigkeit situativ Diskus- sionsräume erzeuge und ein inklusives Verhältnis von Intellektuellen zu Politik und Öffentlichkeit herstelle:

Man kann die Neujustierung der Beziehung zwischen Wissenschaft und Ge- sellschaft auch als Überwindung einer Zwei-Zeiten-Chronologie umschreiben. Das alte Modell sieht zunächst eine ‚interne‘, der jeweiligen Disziplin vorbehal- tene Diskussion und Wissenserzeugung vor, der dann in einem zweiten Schritt eine Begegnung mit der ‚Außenwelt‘ in einem wie auch immer gearteten Dialog gegenübergestellt wird. 44 Modelle der „ public science “ 45 , „ citizen science “ 46 und der „dialogischen Wissenschaft“ 47 dagegen verstehen die Öffentlichkeit sowie das Alltags- und Praxiswissen der vermeintlichen Laien als stets im Prozess der Wissenserarbeitung präsent. Daraus ergebe sich ein heterogener geistiger Raum, dem Aktivist*innen, Kunstschaffende und Wissenschaftlern*innen mit ganz un- terschiedlichen Horizonten angehören 48 , in dem das Denken stattfinde und der einen öffentlichen Außenraum darstelle, auf den sich Wissenschaft beziehe, bevor sich die Praxis des Wissens herausbilde. Das Zusammentreffen von Alltagserfah- rungen und wissenschaftsspezifischen Zugängen im Rahmen der citizen science kann neue, oft unbequeme und verdrängte Fragestellungen generieren. Wer un- bequeme Fragen zu etablieren sucht, hat stets mit vielfältigem, oft eher latentem als offenem Widerstand zu rechnen.

8 Wissenschaft als „honest broker“ in Konfliktlagen

Der methodisch am differenziertesten ausgearbeitete und seit langem etablier- te Leitbegriff für die Neugestaltung wissenschaftlicher Diskursräume ist Trans- disziplinarität . Diese ist ein Hybrid von drei Konzepten der Wissenschaft: dem klassischen, das mit Hilfe systematischer Analysen komplexer Zusammenhän- ge Orientierungshilfe anbietet, dem instrumentellen, das zielbezogen mit Hilfe von Szenarien problemlösende Handlungsoptionen formuliert, und dem kataly- tischen, das auf der Basis eines prozeduralen Designs ko-kreativ zur Steuerung von Entscheidungs- und Kommunikationsprozessen beiträgt. 49 Der Erfolg wis- senschaftlicher Gesellschafts- und Politikberatung zu den aktuellen Transforma- tionsprozessen und Governance-Problemen im Kontext von Klimawandel, Digi- talisierung und Nachhaltigkeit hängt wesentlich davon ab, ob eine Synthese dieser drei Strategien auf dem Niveau von „ high quality knowledge “ 50 gelingt und sich Wissenschaft als „ honest broker “ 51 , als ehrliche Maklerin der Vermittlung in kom- plexen Konfliktlagen etabliert. Voraussetzung dafür ist, dass sie kommunikative Intelligenz in heterogenen Diskursräumen als integralen Bestandteil ihres Selbst- verständnisses und ihrer Arbeitsmethode pflegt und fördert. Bezogen auf die Fra- ge des Widerstands bedeutet diese Rollenzuschreibung, dass sich die Wissenschaft nicht als Konfliktpartei ins Spiel bringen sollte, sondern als Vermittlerin, die auf formale Transparenz in der Konfliktbearbeitung drängt. Auch in dieser Funktion muss sie jedoch bisweilen mit heftigen Widerständen rechnen, wie beispielsweise die Debatte um atomare Endlager in Deutschland gezeigt hat.

Um die anspruchsvolle Rolle als honest broker angemessen wahrnehmen zu kön- nen, braucht katalytische Wissenschaft Orte und Arenen, in denen ihre gesellschaft- lich produktive Wirkkraft erfahrbar wird und erprobt werden kann. 52 Ebenso sind institutionelle Innovationen und Ressourcen wichtig, um die starken Beharrungs- kräfte im Wissenschaftssystem zu überwinden und die transdisziplinären Diskurs- räume mehr als bloß punktuell oder unter Qualitätsverlust zu erschließen. 53 Schließ- lich geht es nicht zuletzt um ein gewandeltes Selbstverständnis der Wissenschaft als Kompass für eine wissens- und wertebasierte Katalysatorfunktion in den vielschich- tigen Transformationsprozessen der gegenwärtigen Weltgesellschaft. 54 Wenn man ernst nimmt, dass Wahrheit ein oppositioneller Begriff ist, dann ist eine freie, nur der Wahrheit verpflichtete Wissenschaft stets unbequem. Sie hat mit Widerständen zu rechnen. Ein anschauliches Beispiel hierfür aus dem Bereich der Katholischen Kirche ist die seit nunmehr 50  Jahren geführte Debatte um Sexualethik. Erst im Schatten des sexuellen Missbrauchs wird der beispiellose Versuch, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zu unterdrücken, langsam aufgeweicht.

9 Leaderships für eine kulturelle Revolution

Das Wissenschaftssystem reflektiert Informationen höchst selektiv in spezifischen Codes, die Komplexität reduzieren und somit Effizienz, Effektivität und Über- prüfbarkeit garantieren. Dies ermöglicht Spezialisierung und Dynamisierung, hat jedoch zugleich den Preis einer entsprechend beschränkten Wahrnehmung. 55 Teilsystemfremde Nebenfolgen werden produziert, meistens aber nicht erkannt und deshalb auch nicht adäquat bearbeitet. Im Sinne einer reflexiven Moderne wird es jedoch darauf ankommen, gesellschaftliche Nebenwirkungen technischer und sozioökonomischer Innovationen von Anfang an systemisch mitzudenken. Dafür sind die sich rasant wandelnden Wissensgesellschaften auf eine prospektive Verantwortung der Wissenschaftsinstitutionen angewiesen. Letztlich geht es um eine „kulturelle Revolution“:

Das ist ein starker Anspruch: Die Universitäten sollen zu einem Paradigmen- wechsel im Verständnis von Fortschritt beitragen. Man kann die hier skizzierte Aufgabe auch mit dem Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen als „Große Transformation“ für einen neuen Gesellschaftsvertrag umschreiben. 57 Dies ist nicht nur das Postulat einiger Wissenschaftler*innen, sondern bereits po- litische Beschlusslage: Mit den SDGs und dem Klimavertrag von Paris hat sich die Weltgemeinschaft faktisch auf eine solche Revolution verpflichtet. Indem diese Dokumente gleichermaßen die alten und neuen Industrieländer sowie die Länder des Globalen Südens adressieren und die planetaren Grenzen als rahmengebende Leitplanken akzeptieren, verabschieden sie sich von dem Entwicklungskonzept, das die UNO bis dahin weitgehend geprägt hat. 58 Allerdings ist dieser Abschied nicht konsequent vollzogen, so dass sich in der Spannung zwischen ökologischen und sozioökonomischen Zielen zahlreiche Widersprüche ergeben. 59 Das Bewusst- sein dafür, was die Konsequenzen der SDGs für den Alltag von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wären, scheint noch nicht so recht angekommen. Die damit ver- bundenen Konfliktpotenziale werden erheblich unterschätzt und harmonisierend eingeebnet.

Die Umsetzung der SDGs ist nicht ohne einen Wandel der kulturellen Mus- ter und Leitwerte der Gesellschaft zu haben. Diese können nicht per Beschluss von oben geändert werden, sondern wandeln sich in der Regel nur allmählich in einem komplexen Zusammenspiel von Wertewandel, institutioneller Gestaltung von Rahmenbedingungen und Pionieren transformativer Praxis. Unverzicht- bar sind auf allen Ebenen die von Papst Franziskus angesprochenen Leaderships. Deren Kernaufgabe ist das Aufzeigen von Wegen für ein neues Verständnis von Fortschritt. Aber auch personale Qualitäten, die das päpstliche Schreiben nennt, wie charakterliche Integrität, Verwurzelung des Nachdenkens in Kontemplation, Dialogbereitschaft sowie Offenheit für inter- und transdisziplinäres Arbeiten, sind für alle Wissenschaftler*innen relevant.

Indem Papst Franziskus den notwendigen Wandel als kulturelle Revolution kennzeichnet, verleiht er ihm auch die Dimension des Widerstandes: Der Wan- del geschieht nicht von alleine und nicht bloß durch kleinschrittige inkrementelle Veränderungen. Er führt auch zu Brüchen und braucht Aufbrüche. 60 Er wird sich in der nötigen Tiefen- und Breitenwirkung, die noch immer weitgehend unter- schätzt wird, nicht ohne massive Machtkonflikte durchsetzen. Genau das ist es, was in den bisherigen politischen und gesellschaftlichen Bemühungen und Ver- handlungen um Klimaschutz bisher fehlt: Sie geschehen weitgehend im Modus der eingeschliffenen Muster politischer Verhandlungen, Akteurskonstellationen und Denkmuster. Es ist jedoch absehbar, dass dies bei weitem hinter dem Nötigen zurückbleibt. In der Wortwahl „Revolution“ schwingt bei Papst Franziskus ein be- freiungstheologischer Hintergrund mit. Nicht von ungefähr gehört „Macht“ zu den häufigsten Lexemen der Enzyklika ‚Laudato si‘ (69 Mal). Die Reflexion und proaktive Gestaltung von ökologischen Machtkonflikten gehört zu den am meis- ten vernachlässigten Aspekten des bisherigen Nachhaltigkeitsdiskurses. Sowohl auf UNO- wie auf EU-, Nationalstaats- und Länderebene wird er weitgehend als eher idealistischer Diskurs über wünschenswerte Ziele und messbare Indikato- ren geführt. Das Versprechen des Green New Deal, der allen alles verspricht und die Interessens- und Machtkonflikte weitgehend im Dunklen lässt, führt zu einer Aufweichung ökologischer Ziele. Die Vielschichtigkeit des Widerstands gegen den Wandel wird unterschätzt. Dies ist die größte Glaubwürdigkeitslücke des gegenwärtigen Klima- und Nachhaltigkeitsdiskurses.

Aus der Sicht politischer Ethik ist es freilich ratsam, mit der Vokabel „Revolu- tion“ vorsichtig umzugehen: Was Papst Franziskus meint, ist kein gewaltsamer Umbruch, sondern vielmehr eine Revolution im Denken und in den Wertmus- tern. Man kann dies wesentlich im Bereich der Bildung verorten und als Bildung zum Widerstand kennzeichnen, die dann freilich auch im Politischen und Insti- tutionellen ihren Ausdruck finden muss. Dabei werden disruptive Veränderun- gen nicht ausbleiben. Die Alternative besteht jedoch nicht darin, ob man diese will oder nicht, sondern ob man die unvermeidlichen Transformationsprozesse reaktiv erleidet oder proaktiv vorausschauend, kooperativ und gerecht zu gestal- ten sucht. Transformation by disaster oder transformation by design nennen Bernd Sommer und Harald Welzer die Alternativen. 61

Die Ausbildung von leaderships für eine kulturelle Revolution ist im Kern eine Befähigung zum eigenständigen philosophischen Denken, die immer neu da- rauf ausgerichtet ist, scheinbar selbstverständliche und unreflektierte Prämissen zu hinterfragen. Eine solches „selbst denken“ charakterisiert Harald Welzer als „eine Anleitung zum Widerstand“ 62 . Education for Future braucht eine Emanzi- pation von passiven Ideen zugunsten „aktiver Ideen“, die durch je individuelle Aneignung von Wissen, Werten und Können zu einer gedanklichen Vitalität und Kultiviertheit befähigt, die aus sich heraus stets neu zum unabhängigen Weiter- denken anregt und empfänglich ist für die Schönheit der Natur und die Gefühle der Menschlichkeit. 63

Wissenschaft für die Zukunft ist beständiger Widerstand gegen die Gedanken- losigkeit eines auf Zweckrationalität und messbare Daten verengten, reduk- tionistisch-linearen, systemblinden und zukunftsvergessenen Denkens. Sie ist Widerstand gegen die Entkoppelung der Wissenschaft von einem umfassenden Verständnis von Klugheit. 65 Sie zielt auf Mündigkeit in der modernen Welt und wehrt sich gegen die Verkürzung der Universitäten auf unpolitisch gedachte bloße Ausbildungsstätten für Employability und maximalen Output von verwertbarem Humankapital. Sie gibt der „Eigensinnigkeit personaler Selbstentfaltung“ 66 Raum und zielt auf die Herausbildung einer souveränen Persönlichkeit. Eine so verstan- dene Bildung ist das täglich neue Ringen um die Emanzipation von inneren und äußeren Abhängigkeiten. Sie ist Bildung zum Widerstand. Die Verbindung von Fridays-, Students- und Scientists for Future ist gegenwärtig eine der weltweit markantesten Emanzipationsbewegungen zugunsten von Zukunftsverantwor- tung. Woher sollte die Befähigung hierzu kommen, wenn nicht aus dem Feld von Wissenschaft und Bildung?

Literatur

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Patrick Zoll SJ

Wie Faschismus funktioniert – Analysen und Handlungsvorschläge aus der Politischen Philosophie

1 Einleitung

Jüdische Zeitzeugen wie Viktor Klemperer oder Ilse Stanley, die den Übergang der deutschen Gesellschaft von einer Demokratie zu einer faschistischen Diktatur in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts selbst miterlebt haben, warnen über- einstimmend vor einem verstörenden Phänomen, das typisch für solche Über- gangsphasen zu sein scheint: die Tendenz von Gesellschaften, das einst Unsagbare zu normalisieren, sich an die Überschreitung und sukzessive Verschiebung von roten Linien zu gewöhnen . 1

Wenn wir nun selbst heute in einer solchen Übergangsphase leben, für die die- ses Phänomen charakteristisch ist – ich werde im Folgenden ausreichend Belege für diese These bringen –, so stellen sich im Anschluss an diesen besorgniserre- genden Befund zwei Fragen. Erstens: Wie gelingt es faschistischen Akteuren, das einst Unsagbare zu normalisieren und die Gesellschaft an eine Überschreitung und sukzessive Verschiebung von roten Linien zu gewöhnen? Welche Techniken und Strategien kommen hier zum Tragen? Zweitens: Wie kann dieser Tendenz widerstanden werden? Was kann dagegen getan werden, vor allem auch von Mul- tiplikatoren in der Bildung?

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2 Faschistische Täterstrategien: Widerstand durch Bildung, die zur Ent-täuschung befähigt
2.1 Eine methodische Anleihe aus der Bildungsarbeit

Beginnen wir mit der Beantwortung der ersten Frage, in der ich methodisch zu- nächst auf eine Erfahrung zurückgreifen möchte, die Bildungsinstitutionen im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch gemacht haben. Bei der Aufarbeitung des Geschehenen hat sich herauskristallisiert, dass viele Täter bewusst und stra- tegisch vorgehen, indem sie gezielt Missbrauch begünstigende Schwachstellen in der Struktur und „(Un)Kultur“ von Bildungsinstitutionen identifizieren und ausnutzen. 2 Als zentral hat sich hierbei insbesondere die Strategie erwiesen, die Verletzung von Grenzen und die sukzessive Überschreitung von roten Linien im Umgang mit Schutzbefohlenen zu „normalisieren“ und zu verschleiern, indem dies durch einen Bezug auf die Werte und Ideale der entsprechenden Institution umgedeutet und uminterpretiert wird. Daraus gelernt hat man, dass die Kenntnis dieser und anderer Täterstrategien wesentlich für eine erfolgreiche Präventions- arbeit ist. Missbrauchsprävention ist eine genuine Bildungsaufgabe , denn sie ist umso erfolgsversprechender, je besser man in der Lage ist, typische Strategien und Taktiken von Tätern zu identifizieren und zu entlarven.

Im Folgenden werde ich dafür argumentieren, dass dieser Fokus auf Täterstra- tegien zwar furchtbar ist, sich aber als äußerst fruchtbar erweist, um zu verstehen wie es faschistischen Akteuren gelingt, das einst Unsagbare zu normalisieren und die Gesellschaft an eine Überschreitung und sukzessive Verschiebung von roten Linien zu gewöhnen. Inhaltlich werde ich hierzu hauptsächlich auf die Analysen zurückgreifen, die Jason Stanley jüngst in seinem oben schon erwähnten Buch How fascism works vorgestellt hat.

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2.2 Begriffliche Vorklärung: Was ist „Faschismus“ und „faschistische Politik“?

Stanley definiert „Faschismus“ als einen ethnisch, religiös, oder kulturell moti- vierten Ultranationalismus, in der die „Nation“ oder das „Volk“ durch einen auto- ritären Führer repräsentiert wird, der direkt für sie oder es spricht. 3 Das Erstarken eines solchen mehr oder weniger neuen rechten Ultranationalismus erleben wir derzeit in Ländern wie Russland, Ungarn, Polen, Indien, Türkei, Italien, Spani- en, den USA und leider auch bei uns. Ein solcher rechter Ultranationalismus hat oftmals stark populistische Züge, d. h. er lehnt bewährte demokratische Institu- tionen zugunsten einer direkten Repräsentation und Kommunikation des autori- tären Führers oder der Partei mit dem Volk ab. 4 Jene Institutionen werden mit Begriffen wie „Lügenpresse“, „Fake News“, oder „Altparteien“ nicht nur diffamie- rend abgewertet, sondern ihre Rolle und Funktion wird als „Feind“ des Volkes und wahrer Demokratie undemokratisch umgedeutet. Jan-Werner Müller nennt dies das „imperative Mandat“: Der politische Auftrag des autoritären Führers und seiner Partei leitet sich direkt und eindeutig aus dem Volk ab. 5

„Faschistische Politik“ wird von Stanley als Sammelbegriff für verschiedene Strategien und Taktiken verwendet, die auf politische Machtgewinnung abzielen. 6 Im Unterschied zu „demokratischer Politik“ – die natürlich mit ihren Strategien und Taktiken auch auf Machtgewinn aus ist – sind die Strategien und Taktiken faschistischer Politik normativ zu missbilligen. Sie sind normativ zu missbilligen, weil die Anwendung dieser Strategien und Taktiken in einem prinzipiellen Sinne demokratische Werte oder Ziele unterminiert. 7 Charakteristisch für faschistische Strategien und Taktiken zur Machtgewinnung ist z. B., dass ihre Anwendung im Widerspruch steht zu für demokratische Gesellschaften konstitutiven Grund- werten wie Gleichheit, Freiheit und Pluralität. Die Unterminierung und Infrage- stellung dieser Grundwerte bzw. Normen ist nicht nur normativ zu missbilligen, sie ist auch gefährlich, weil sie typischerweise einhergeht mit dem Versuch, be- stimmte Teile der Bevölkerung (z. B. Asylsuchende, Homosexuelle, Flüchtlinge, Muslime) zu entmenschlichen und zu Bürgern zweiter Klasse zu machen oder am besten ganz aus der Gesellschaft auszuschließen. 8 Dieser Ausschluss führt zu einer Verminderung von Empathie – es geht um „die“, die nicht Teil von „uns“ sind –, welche wiederum eine unmenschliche Behandlung, Unterdrückung und in extremen Fällen die massenhafte Vernichtung der Ausgesonderten rechtfertigt. 9 Die Anwendung faschistischer Strategien und Taktiken geht ethnischen Geno- ziden, wie sie in Nazideutschland, Ruanda oder Myanmar geschehen sind, ge- wöhnlich voraus. 10

Ein Hauptcharakteristikum faschistischer Politik – also der Strategien und Tak- tiken der politischen Machtgewinnung, die liberale und demokratische Werte unterminiert – ist ein polarisierendes und antagonistisches „Freund-Feind-Den- ken“ (Carl Schmitt), welches die Bevölkerung durch einen Bezug auf ethnische, religiöse, oder kulturelle Unterschiede klar in ein „Wir“ und „Die“ zu trennen versucht. 11 Das entsprechende Ziel faschistischer Politik ist dementsprechend die Herstellung eines Zustands von Homogenität , in der die „unnatürliche“ Spaltung überwunden wird. 12

2.3 Die Diskreditierung der Gegenwart durch den Bezug auf eine mythische Vergangenheit

Ein derartiges Ziel von Homogenität widerspricht natürlich klar der faktischen Pluralität gegenwärtiger demokratischer Gesellschaften. Entsprechend muss die Pluralität der Gegenwart als eine Verfallsform einer glorreichen homogenen Ver- gangenheit dargestellt werden. Der entsprechende Zaubertrick gelingt aber nur, wenn erfolgreich verschleiert werden kann, dass es sich bei dieser Vergangenheit um ein Konstrukt, einen „Mythos“ handelt, ein geschichtliches Stadium, was es so nie wirklich gegeben hat. 13 Wie bei Trumps Slogan „Make America great again“ ist das „again“ eine Leerstelle, in die hinein der Adressat seine Phantasien und Sehnsüchte projizieren kann. Es ist völlig unklar, „wann“ genau Amerika „great“ war und warum bzw. was Amerika „great“ gemacht hat. Ein utopisches Stadium religiöser, ethnischer oder kultureller Reinheit wird irgendwo in der Vergangen- heit verortet und zur Projektionsfläche nostalgischer Sehnsucht und Verklärung. 14 Entscheidend für das Funktionieren des Illusionstricks ist also die Erzeugung nos- talgischer Gefühle im Publikum, die zudem helfen sollen, die Gegenwart im Sin- ne faschistischer Ziele zu verändern. 15 Der Bezug auf eine mythische glorreiche Vergangenheit ist nichts anderes als eine emotionale Überwältigungsstrategie, um z.  B. eine ultranationalistische Politik in der Gegenwart („America first“) oder eine restriktive Flüchtlingspolitik zu rechtfertigen. 16

Einer derartig unreflektierten und unkritischen Verherrlichung der mythischen Geschichte der eigenen Nation bzw. des eigenen Volkes steht natürlich die his- torische Wahrheit und die historische Erinnerung im Weg. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass gerade rechtspopulistischen Politikern eine reflektierte Erin- nerungskultur und die historische Wahrheit ein Dorn im Auge ist. Ein geschultes Auge lässt sich eben nicht so leicht täuschen. Folgerichtig muss die historische Wahrheit durch eine Geschichte der Nation bzw. des Volkes ersetzt werden, die deren Sünden und dunklen Flecken relativiert oder gänzlich eliminiert als „Vogel- schiss der Geschichte“. 17 Diese Metapher ist im Übrigen entlarvend. Vogelschiss ist etwas, das beschmutzt. Er gehört entfernt. In einer Rede im September 2017 sprach Alexander Gauland deshalb offen davon, dass das deutsche Volk eine fal- sche Erinnerungspolitik pflegt, die zu einem falschen Blick auf die Vergangenheit und einer falschen Bewertung dieser geführt habe und letztlich zur Ausbildung einer falschen Identität geführt habe. 18 In gleicher Weise äußerte sich Björn Höcke im selben Jahr mit seiner Forderung einer „180 Grad Wende“ in unserer Erinne- rungskultur. 19 Ähnliche Tendenzen sind auch in Frankreich zu beobachten, wo Marie Le Pen sich ebenfalls im Herbst 2017 weigerte anzuerkennen, dass französi- sche Polizisten an der Festnahme und Deportation von 13 000 Juden im Juli 1942 beteiligt waren. 20 Während derartigen Versuchen in Deutschland bisher kein grö- ßerer Erfolg beschieden ist und KZ-Gedenkstätten sogar einen vermehrten Zu- lauf registrieren, wurde in Polen ein Gesetz verabschiedet, welches es illegal macht auf Verstrickungen polnischer Bürger mit den Nazis hinzuweisen und in der Tür- kei ist die Nennung des Genozids an den Armeniern bekanntermaßen strafbar.

2.4 Die anti-intellektualistische Diskreditierung von Leitmedien, Bildung, Bildungsinstitutionen und der Autorität von Experten- und Faktenwissen

Eine zweite charakteristische Strategie faschistischer Täter ist die anti-intellektua- listische Diskreditierung von Leitmedien, Bildung, Bildungsinstitutionen und der Autorität von Experten- und Faktenwissen. 21 Diese werden diskreditiert, weil das Ziel faschistischer Propaganda nicht ist, den Verstand zu überzeugen , sondern den Willen zu bewegen . 22 Der rationale Diskurs soll bewusst „abgekürzt“ werden. 23 Und dies funktioniert dann am besten, wenn der öffentliche Diskurs so emotiona- lisiert wird, dass ein Austausch von Argumenten substantiell unterminiert wird. Das Ziel ist erreicht, wenn die politische Debatte auf den Austausch von emotio- nalisierenden Slogans reduziert ist. Schon Viktor Klemperer warnte davor, dass eine solche Vereinfachung und Komplexitätsreduktion und die damit verbundene Verarmung politischer Sprache ein entscheidendes Kriterium faschistischer Spra- che ist. 24 Dass dies das erklärte Ziel faschistischer Akteure ist, hat Steven Bannon in einem Interview im Februar 2018 pointiert auf den Punkt gebracht: „Wir wur- den gewählt aufgrund von ‚Trocknet den Sumpf aus‘, ‚Sperrt sie ein‘, ‚Baut eine Mauer‘ … Das war pure Wut. Wut und Angst ist das, was Menschen zu den Wahl- urnen bringt.“ 25

Insofern erklärt sich das anti-intellektualistische Pathos faschistischer Politik: Kritische Leitmedien und Bildungsinstitutionen müssen diskreditiert werden, gerade weil sie für eine Wertschätzung für Fakten und Differenzierung stehen, die einer emotionalisierenden Unterminierung des öffentlichen Diskurses ent- gegenwirken. 26 Und natürlich stehen diese Institutionen faschistischen Zielen auch deshalb im Weg, weil sie zentral für die Vermittlung historischer Fakten und Wahrheit sind, die der revisionistischen Geschichtsklitterung und Mythisierung der Vergangenheit der eigenen Nation bzw. des eigenen Volkes entgegenstehen.

Doch können Faschisten natürlich nicht offen für die Abschaffung jeglicher Bil- dung oder Medien eintreten. Dies ist auch gar nicht in ihrem Sinne. Vielmehr sollen Schulen und Universitäten gleichgeschaltet und in den Dienst der Verteidi- gung des einzig legitimen Standpunkts gestellt werden, nämlich des Standpunkts der Nation bzw. Volkes. 27 Das entscheidende Merkmal eines faschistischen An- ti-Intellektualismus ist also nicht ein Plädoyer für eine Abschaffung von Schulen und Universitäten etc., sondern ein Angriff auf die Unabhängigkeit dieser Institu- tionen. Angriffe richten sich deshalb auf die Curricula und das Lehrpersonal von Bildungsinstitutionen.

Ein gegenwärtiges Beispiel dafür, wie massiv Schulen und Universitäten an- gegriffen und in den Dienst der eigenen nationalistischen Ideologie gestellt wer- den, ist wiederum Ungarn, wo Orban dies damit rechtfertigt, dass in diesen In- stitutionen eine liberale Indoktrination erfolge. 28 Unter seiner Regie wurde das Schulsystem nationalisiert, was zur Folge hatte, dass es nun keine unabhängige Schulaufsicht mehr gibt. Vielmehr wurde eine Lehrerorganisation geschaffen, der Lehrende beitreten müssen und sich dabei verpflichten müssen, den „Interessen der Nation“ zu dienen. 29 Des Weiteren wurde ein neues Kerncurriculum einge- führt, welches die Werke antisemitischer ungarischer Schriftsteller umfasst und Schulen werden angehalten, zu Aktivitäten zu ermutigen, die geeignet sind, die glorreiche mythische Vergangenheit der ungarischen Nation wieder aufleben zu lassen: z. B. Reiten oder das Singen ungarischer Volkslieder. 30 Und begleitet von einer deutlich antisemitischen Kampagne hat Orban erst kürzlich die Schließung der Zentralen Europäischen Universität in Budapest erreicht, sowie die Wissen- schaftsfreiheit de facto abgeschafft, indem er die ungarischen Akademie der Wis- senschaften unter die Aufsicht eines staatlichen Gremiums gestellt hat, in dem Vertreter seiner Partei die Mehrheit haben. 31

Ein weiteres trauriges und sehr besorgniserregendes aktuelles Beispiel für die Gleichschaltung nicht nur der Medien, sondern auch der Bildung und Bildungs- einrichtungen durch faschistische Politik ist die Türkei. Von 2016 bis Mitte 2019 wurden Tausende von Akademikern entlassen und teilweise inhaftiert, immer mit der dubiosen Begründung einer Nähe zur Gülen-Bewegung. Und 2017 nach dem Gewinn des Referendums über den massiven Ausbau präsidialer Befugnisse wurde auch ein neues Curriculum für Schulen eingeführt, welches die säkularen Gründungsideale der türkischen Demokratie relativiert und z. B. untersagt, wis- senschaftliche Theorien zu unterrichten (z. B. die Evolutionstheorie), die religiö- ser Ideologie zu widersprechen scheinen. 32

Natürlich kann man derartige Angriffe auf die Unabhängigkeit von Bildung und Forschung und letztlich auf die Meinungsfreiheit nicht als solche ausgeben, denn dies ist würde offensichtlich machen, dass man nicht für demokratische Werte und Ideale einsteht. Die besonders perfide propagandistische Strategie faschisti- scher Politik ist deshalb demokratische Meinungsfreiheit unter dem Deckman- tel des demokratischen Ideals von Meinungsfreiheit selbst zu attackieren und zu unterminieren, insbesondere um Freiheiten von Minderheiten einzuschränken. 33 Der faschistische Wolf präsentiert sich ein weiteres Mal im Schafspelz demokrati- scher Werte und Ideale.

So werden Angriffe auf die Curricula von Schulen und Universitäten und deren Lehrpersonal typischerweise als Maßnahmen deklariert, die sich gegen eine soge- nannte „political correctness“ wenden, weil diese für die liberale Meinungsfreiheit abträglich sei. Derartige Strategien kommen in den USA schon länger zur Anwen- dung, indem z. B. Listen mit „linken“ oder „liberalen“ Professoren veröffentlicht werden. 34 In unseren Breitengraden wurden sie jüngst von der AfD kopiert, mit ihrer Aufforderung an Schüler, „voreingenommene Lehrer“ auf einer Plattform öffentlich zu denunzieren. 35 Um sprachliche rote Linien verschieben zu können, wird das Hinweisen auf entsprechende Grenzen und Grenzverletzungen als „po- litical correctness“, als Zensur, oder als Meinungsdiktatur gegeißelt, die wahrer demokratischer Freiheit und Meinungsfreiheit entgegenstehe.

Um den anti-demokratischen und anti-liberalen Charakter solcher Manöver fa- schistischer Politik entlarven zu können, bedarf es einer Verständigung darüber, was die Funktion von Meinungsfreiheit ist. Hierzu ist es zunächst einmal wichtig festzuhalten, dass Meinungsfreiheit nicht zu verwechseln ist mit einem Freibrief, alles sagen zu können und zu dürfen, wonach einem der Sinn steht. Beleidigende, rassistische, oder sexistische Äußerungen oder die Verbreitung von Lügen können sich gegen Kritik nicht auf „Meinungsfreiheit“ berufen, weil derartige „Debatten- beiträge“ im Widerspruch zu dem stehen, was Meinungsfreiheit schützen will und soll, nämlich einen möglichst fairen, sachlichen und der Wahrheit dienenden Austausch von Argumenten im politischen Diskurs. 36

Faschisten können sich also nicht auf einen rein formalen Begriff von Mei- nungsfreiheit berufen, sondern müssten argumentieren, dass die Nichtzulassung bzw. tadelnde Ächtung des Inhalts ihrer Meinungsäußerungen schädlich für einen fairen, sachlichen und der Wahrheit dienenden Austausch von Argumenten im politischen Diskurs ist. Mit anderen Worten: Faschisten müssten argumentie- ren, dass Lügen und Meinungsäußerungen mit sexistischem, rassistischem oder schlicht beleidigendem Inhalt förderlich für politische Debatten in Demokratien sind und einem fairen, sachlichen und der Wahrheit dienenden Austausch von Argumenten dienen. Doch das entbehrt jeglicher Plausibilität, denn Lügen, Be- leidigungen und rassistische oder sexistische Herabsetzungen von Diskursteil- nehmenden zerstören die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit eine vertrauensvolle und möglichst gewaltfreie Kommunikation überhaupt möglich ist. Anders gesagt: Die Voraussetzungen gelingender Kommunikation (z. B. die Akzeptanz der Gleichheit, Freiheit und unveräußerlichen Würde jedes Diskurteil- nehmenden) dürfen und können nicht durch den Inhalt der jeweiligen Kommu- nikationsbeiträge verletzt und in Frage gestellt werden, sonst bricht die Kommu- nikation als solche zusammen. 37

2.5 Sich als Opfer und Märtyrer für liberale Werte und Ideale inszenieren (und Identitätspolitik usurpieren)

Eine weitere Parallele zur Missbrauchsthematik in pädagogischen Institutionen ist, dass Faschisten wie Missbrauchstäter sich der Täterstrategie bedienen, sich als das eigentliche Opfer zu inszenieren. Dies kann gut illustriert werden an der rech- ten Usurpation und Vereinnahmung einer ursprünglich liberalen Identitätspolitik für faschistische und anti-demokratische Ziele.

Identitätspolitik ist liberal, wenn sie auf die Realisierung liberaler Ziele ausge- richtet ist und diesen dient. Historisch gesehen ist sie eine Antwort unterdrück- ter Gruppen auf Diskriminierung. 38 Identitätspolitik ist ein bewährtes Mittel, um auf die Diskriminierung der eigenen Identität mittels Selbst-Stigmatisierung zu antworten, indem man die bedrohte und unterdrückte Identität in besonderer Weise öffentlich affirmiert. Man wertet das, was öffentlich geringgeschätzt wird, um, indem man das Geringgeschätzte als etwas präsentiert, dessen man sich nicht schämen und es verbergen muss, sondern auf das man stolz sein kann und zu dem man sich offen bekennen kann. Eine solche Identitätspolitik ist nicht faschistisch, weil bzw. wenn sie sich gegen Unterdrückung und Diskriminierung richtet und auf die Gleichheit bzw. die Anerkennung von Identitäten als gleichbehandlungs- würdig abzielt. 39 Im Gegensatz dazu gründet sich rechte Identitätspolitik immer in irgendeiner Form auf die Überzeugung, dass die eigene Identität, Tradition, Nation anderen überlegen ist. 40

Die faschistische Täterstrategie besteht nun darin, die emotionale und moti- vierende Kraft von Identitätspolitik zu nutzen, um sie sich für rechtsnationale Ziele zu eigen zu machen. Identitätspolitik, die sich ursprünglich gegen Unter- drückung und Diskriminierung richtet und auf Freiheit und Gleichheit abzielt, wird für die Rechtfertigung ungerechter, diskriminierender und ungleicher Ver- hältnisse herangezogen. Wie geschieht dies genau und warum funktioniert dies? Entscheidend ist hier ein sozialpsychologisches Phänomen, gemäß dem Men- schen leicht subjektiv empfundene Unterdrückung und Diskriminierung mit ob- jektiver Unterdrückung und Diskriminierung verwechseln. Hierbei ist es jedoch wichtig zu betonen, dass der subjektiv empfundene Schmerz, bzw. das subjektiv empfundene Gefühl „Opfer“ zu sein, real ist. 41 Ein Beispiel dafür: Die ökonomi- sche Ungleichheit zwischen Weißen und Schwarzen ist objektiv und hat sich nicht wesentlich verändert in den letzten 100 Jahren in den USA: auf 100 Dollar Er- spartes einer durchschnittlichen weißen Familie kommen 5 Dollar Erspartes einer schwarzen Durchschnittsfamilie. 42 Hingegen sieht die subjektiv gefühlte Ungleich- heit und Unterdrückung bei Weißen wie folgt aus: 45 % der Trump-Unterstützer glauben, dass die Weißen die am stärksten diskriminierte ethnische Gruppe sind. Und 54 % glauben, dass Christen die am meisten verfolgte religiöse Gruppe sind. 43 Diese Diskrepanz zwischen objektiv begründbarer Unterdrückung, Ungleichheit und Diskriminierung und gefühlter Ungleichheit, Unterdrückung und Diskrimi- nierung hat zur Folge, dass rechtsnationale Politik (z. B. eine rigidere Migrations- politik) eine wachsende Unterstützung durch vorher politisch nicht festgelegte weiße Amerikaner erfährt. 44

Wie kommt es zu dieser Diskrepanz zwischen gefühlter Wahrnehmung der Re- alität und der Realität? Wiederum handelt es sich um das gut untersuchte sozial- psychologische Phänomen, dass eine wachsende Präsenz von Mitgliedern tradi- tioneller Minderheitsgruppen von den bisher dominanten Mehrheitsgruppen in einer Gesellschaft als Bedrohung wahrgenommen wird. 45 Mehr noch: Mitglieder dominanter Gruppen fühlen sich als Opfer bei der Aussicht, dass sie Macht – zu der sie bisher einen privilegierten Zugang hatten  –  in gleichen Teilen mit Mit- gliedern der Minderheitsgruppen teilen oder werden teilen müssen. 46 Zu diesem Schock gesellt sich dann gerade für Mitglieder dieser Gruppen noch ein Schmerz, der durch die Korrektur historisch gewachsener Ungleichheit und Ungerechtigkeit ausgelöst wird und insbesondere Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft betrifft, weil gerade sie es waren und sind, die von solchen Ungleichheiten, Diskriminie- rungen, Unterdrückungen und Ungerechtigkeiten in besonderem Maße profitiert haben. 47

Es ist dieser reale Schmerz und dieses subjektive Gefühl des „Opferseins“, wel- ches eine faschistische Politik für rechte Identitätspolitik instrumentalisiert und kanalisiert. Gefühle, die mit dem Verlust von Dominanz und privilegiertem Status einhergehen, werden manipulierend verstärkt und verfestigt mit der Einnahme einer verbitterten „Opferrolle“, die sich im rechten Kampf um Gerechtigkeit und gegen Unterdrückung weiß. 48 Maßnahmen, die darauf abzielen, strukturelle Un- gleichheiten zu beseitigen, werden dementsprechend als Mittel linker Liberaler diffamiert, ihre eigene ethnische und politische Agenda  –  zum Preis der „hart arbeitenden weißen Arbeiterklasse“ – durchzusetzen. 49

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2.6 Das Opfer zum Täter machen (durch kriminalisierende Sprache)

Zielte die dritte Täterstrategie darauf ab, sich als das eigentliche Opfer zu inszenie- ren, so besteht eine vierte Täterstrategie darin, die Opfer als Täter anzuprangern. Das bewährteste Mittel hierzu ist, die anvisierten Opfer zu kriminalisieren. Auch hier wird das eigentliche faschistische Ziel, nämlich der Verlust von Empathie und Solidarität einer Mehrheitsgesellschaft mit einer Minderheit dadurch verschleiert, dass man eine Sprache verwendet, die auf liberale und demokratische Werte und Ideale Bezug nimmt. In diesem Fall sind es die Werte wie „Recht und Ordnung“, die benutzt werden, um unliebsame Minderheitsgruppen – vorzugsweise Migran- ten – zu kriminalisieren. Wohlgemerkt sind die Kriminellen immer „die anderen“, von denen „wir“ – die Recht und Ordnung respektierenden Bürger*innen – sich unterscheiden. Wenn wir etwas Kriminelles machen, dann sind das „b’soffne Ge- schichten“, „Machogehabe“ oder eben eine „Serie von Einzelvorkommnissen“. 50 Wenn sie aber etwas Kriminelles machen, dann lässt das nicht nur Rückschlüsse auf den Charakter des Einzelnen, sondern eben auf eine ganze Gruppe von Men- schen zu. So rechtfertigt eben ihre Kriminalität ihre Ablehnung bzw. Abschiebung.

Dies kann z. T. groteske Züge annehmen. Z. B. wäre 2016 die SVP in der Schweiz fast mit einem Referendum zur „Deportation krimineller Migranten“ erfolgreich gewesen, welches „Immigranten“, d. h. auch in der Schweiz Geborene der zweiten und dritten Generation, ausweist, wenn sie falsch geparkt haben. 51 Wie kann der Erfolg dieser Strategie erklärt werden?

Faschistische Sprache macht sich hier das sozialpsychologische Phänomen sogenannter „Gruppenvorurteile“ zunutze, welches wie folgt funktioniert: Wir beschreiben die Handlungen von denjenigen, die wir als zu „uns“ gehörig be- trachten, anders als die Handlungen derjenigen die wir als zu „denen“ zugehörig erachten. 52 Wie oben schon erwähnt: Wenn wir etwas Kriminelles tun, dann wird das konkrete Tun oder Handeln betont. Wenn die etwas Kriminelles tun, dann wird nicht vom konkreten Tun oder Handeln geredet, sondern vom Sein, vom Charakter der Person. Wenn z. B. einer „von uns“ eine Tafel Schokolade stiehlt, so beschreiben wir die Handlung konkret: Mein Freund Peter hat eine Schokola- dentafel geklaut. Stiehlt jedoch jemand „von denen“ eine Tafel Schokolade, so be- schreiben wir die Handlung abstrakt und attribuieren demjenigen, der sie stiehlt, eine schlechte Charaktereigenschaft zu: Klaus ist ein Dieb.

Bei guten Handlungen ist es umgekehrt: Wenn jemand von „uns“ eine gute Tat tut, so erklären wir dies durch seine guten Charaktereigenschaften: Wenn Peter dem Kind eine Tafel Schokolade schenkt, so ist das ein Beispiel für seine Groß- zügigkeit. Wenn jemand von „denen“ dies tut, so wird das in konkreten Worten beschrieben: Dieser Typ hat dem Jungen eine Tafel Schokolade gegeben. 53

Dies ist relevant, weil linguistische Analysen zeigen, dass ein Publikum daraus, ob die Handlungen von jemand in abstrakten oder konkreten Begriffen beschrie- ben werden, rückschließen kann, ob die beschriebene Person als „zu uns“ oder „zu denen“ angesehen wird. 54 Ergo: Jemanden als „Kriminellen“ zu beschreiben, beschreibt dessen Handlungen in abstrakten Begriffen und signalisiert der Zu- hörerschaft zum einen, dass diese Person einen bestimmten Charakter hat und zugleich, dass diese Person nicht „zu uns“ gehört. „Die“ sind Kriminelle, „wir“ machen lediglich Fehler! Kriminalisierende Sprache zu gebrauchen ist also nicht unschuldig: Wenn ganze Personengruppen (z. B. Migrant*innen) als „Kriminelle“ bezeichnet werden, dann schreibt man ihnen bestimmte Charaktereigenschaften zu, vor denen sich die meisten Menschen fürchten. 55 Zugleich präsentieren sich diejenigen, die dies äußern, als Beschützer vor eben diesen gefährlichen Grup- pen. So werden dann bei Alice Weidel aus Migrant*innen, die wohlgemerkt zum großen Teil aus Kriegsgebieten wie Syrien flüchten, „Burkas, Kopftuchmädchen, alimentierte(n) Messermänner(n) und sonstige(n) Taugenichtse(n)“. 56 Eine solche kriminalisierende Sprache zielt ganz bewusst darauf ab, die Empathie und Solida- rität mit schutzbedürftigen Minderheiten zu eliminieren. Sie ist aber nicht nur aus diesem Grund abzulehnen. Eine solche Sprache untergräbt den demokratischen Prozess vernünftiger Entscheidungsfindung, denn sie ersetzt ihn durch Furcht und Angst und führt in der Konsequenz zu desaströsten politischen Ergebnissen, die auch Recht und Ordnung selbst unterminieren. 57

2.7 Sich als Retter anbieten: Der Angriff auf Freiheit und Gleichheit im Namen von Sicherheit und durch das Schüren von sexueller Angst

Wenn nun Opfer von Gewalt, Krieg, Sexismus, Rassismus und jahrzehntelanger Ungerechtigkeit die eigentlichen Täter sind, die nicht nur kriminelle Handlungen begehen (wie z. B. aus Not illegal in ein Land einreisen), sondern Kriminelle sind , so ist es naheliegend, dass eine fünfte Täterstrategie darin besteht, sich als Retter anzubieten. Damit die rettende faschistische Hand aber auch wirklich ergriffen wird, bedarf es noch einer emotionalisierenden Verstärkung der empfundenen Bedrohung durch die kriminellen Anderen. Diese Verstärkung wird durch das Schüren sexueller Angst erreicht: Migranten werden so zu Vergewaltigern und die sogenannte liberale Genderideologie, die sich gegen die Diskriminierung von Frauen und Homosexuellen und für sexuelle Minderheitsidentitäten einsetzt, wird zur Bedrohung für die Identität und den Bestand des Volkes bzw. der Na- tion. Ein für Faschisten erfreulicher Nebeneffekt einer solchen Politik sexueller Angst besteht darin, dass sie diesmal die Unterminierung von liberalen Werten wie Freiheit oder Gleichheit mit Bezug auf liberale Werte wie Sicherheit und Schutz maskieren können. 58 Deren Freiheit und Gleichheit müssen empfindlich eingeschränkt werden, denn sie sind oder mit ihnen einher geht eine massive Be- drohung unserer Sicherheit und sexuellen Integrität. Die robuste Präsenz einer Politik sexueller Angst ist deshalb eines der sichersten Zeichen für die Erosion einer liberalen Demokratie. 59

Und leider ist eine derartige Politik nicht nur in Russland, Polen, oder Ungarn präsent, sondern auch bei uns vermehrt zu finden. Analysiert man z. B. die Äu- ßerungen von Politikern zur Kölner Silvesternacht oder die Reaktionen auf Ver- gewaltigungsfälle durch Flüchtlinge, so sieht man, dass diese instrumentalisiert werden, um eine generalisierte sexuelle Angst zu schüren. Wie bei beim Gebrauch kriminalisierender Sprache werden Einzelfälle generalisiert und abstrakt beschrie- ben, um ganzen Gruppen von Menschen das Vorhandensein bedrohlicher Cha- raktereigenschaften zuzuschreiben. Björn Höcke warnte z. B. davor, dass durch Migranten „Angsträume für blonde Frauen größer werden“. 60 Interessanterweise hat das Faktum, dass die Angsträume für hier lebende Juden größer werden, so dass schon der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung davon abrät, im- mer und überall die Kippa zu tragen, meines Wissens so gut wie kein Echo und keine Empörung in der AfD hervorgerufen. Dies legt offen, dass Sicherheit und Schutz im öffentlichen Raum wohl kein allgemeines Anliegen der Partei sind, son- dern darauf nur dann Bezug genommen wird, wenn es der eigenen politischen Agenda dient. In ähnlicher Weise äußerte sich die ehemalige AfD-Vorsitzende Frauke Petry: „Massenhafter Missbrauch in Köln erinnert an rechtlose Zustän- de zum Kriegsende“. 61 Dieser Versuch einer historischen Analogie ist entlarvend, denn er vergleicht die Übergriffe der Silvesternacht mit der Situation deutscher Frauen nach Kriegsende, die Opfer von Vergewaltigungen durch einrückende Sol- daten wurden. Die Metapher hinter diesem Vergleich: Ein zerstörtes, ohnmächti- ges Deutschland ohne Führung und (männliche) Autorität, die in der Lage wäre, deutsche Frauen vor dem Feind auf heimischem Territorium zu schützen.

Die bedrohlichen „Anderen“ sind aber nicht nur Flüchtlinge, die sexuell über- griffig werden, sondern auch Transgender und homosexuelle Individuen werden zu Feinden. Warum? Nun, wenn der Faschist der mit männlicher Stärke, Autorität und Führungskraft ausgestattete Retter ist, dessen vornehmste Aufgabe es ist, die Würde und sexuelle Integrität der deutschen Frau zu bewahren, dann entspricht dies einer Übertragung der Rolle des „pater familias“ ins Politische. 62 Die sexisti- sche ideologische Hintergrundüberzeugung, dass das Verhältnis der Geschlechter „natürlicherweise“ hierarchisch geordnet ist, unterstützt hier einen hierarchischen Politikstil. 63 Und eine Politik sexueller Angst ist insbesondere dort erfolgreich, wo traditionelle männliche Rollen – wie die des Familienversorgers – unter starkem ökonomischen Druck stehen. 64 Wo dies der Fall ist, kann eine liberale Identitäts- politik – die sich gerade auch für sexuelle Minderheiten stark macht – gegen eine klassische Familienpolitik ausgespielt werden.

Derartige propagandistische Techniken sind natürlich nicht neu: 1919 ver- teilte Deutschland tausende von Flugblättern, die angebliche Massenvergewalti- gungen deutscher Frauen durch schwarze Soldaten der französischen Besatzung des Rheinlands anprangerten. Diese Propaganda hatte Einfluss auf Hitler, der sie glaubte und zudem behauptete, dass hinter diesen Vergewaltigungen eine jüdische Verschwörung steckt mit dem Ziel, die weiße Rasse zu zerstören. 65 Ein ähnliches Narrativ wird heute von Orban verwendet, der immer wieder die sogenannte „So- ros-Verschwörung“ bemüht, um seine anti-demokratische Politik zu rechtfertigen und seinerseits großzügige Kinderprämien durchgesetzt hat mit dem ausdrück- lichen Ziel der Erhaltung und Vermehrung des ungarischen Volkes. Und sexuell konnotierte Auslöschungsängste stehen natürlich auch im Hintergrund bei Sarra- zins „Deutschland schafft sich ab“ oder der Identitären Bewegung mit ihrer These der „Umvolkung“.

Nun könnte man das Schüren von sexueller Angst und den Angriff auf Freiheit und Gleichheit im Namen von Sicherheit und Schutz als einen skurrilen Spleen abtun. Allerdings unterschätzt dies die schrecklichen und völlig irrationalen Kon- sequenzen, die das Spielen auf der Klaviatur sexueller Angst haben kann, denn diese kann mitverantwortlich sein für Genozide. So ging ein massives Schüren sexueller Angst den Genoziden in Ruanda und jüngst in Myanmar voraus. 66 Dass solche Kampagnen aber auch in unseren Breitengraden erfolgreich sein können, zeigte sich 2016, als russische Propaganda Fake News über die Vergewaltigung ei- ner 13-Jährigen in Berlin durch Migranten aus dem mittleren Osten verbreitete. 67 Dies führte zu einem Aufruhr in den sozialen Medien und zu einem Aufruhr in der russischstämmigen deutschen Bevölkerung, die in einen öffentlichen Protest mit 700 Teilnehmenden mündete. 68

3 Was tun? – Die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Klimapolitik

Damit komme ich zur Beantwortung der zweiten Frage, die ich eingangs aufge- worfen habe: Wie kann dieser Tendenz widerstanden werden? Ich möchte hier drei Punkte erwähnen: Erstens ist es, wie oben schon erwähnt, eine genuine Bil- dungsaufgabe, Menschen dazu zu befähigen, derartige Täterstrategien zu entlar- ven. Was wir brauchen ist also eine Bildung, die zur Ent-täuschung befähigt.

Zweitens ist in meinen Ausführungen zu Täterstrategien schon mehrfach ange- klungen, dass derartige Techniken nur deshalb so erfolgreich sein können, weil sie sich ideologische Hintergrundüberzeugungen rassistischer, sexistischer, anti-de- mokratischer, oder anti-liberaler Natur zu Nutze machen. Derartige Überzeugun- gen machen uns blind und helfen Tätern, uns zu täuschen. Im Bild gesprochen: Die Konzentration auf Missbrauchstäter und ihre Strategien reicht nicht aus. Was es braucht, ist ein Blick auf die systemischen Schwachstellen einer Institution und vor allem auf die Gründe des Wegschauens und Gewährenlassens der Öffentlich- keit. Übertragen: Warum sind wir so anfällig für faschistische Versprechungen, für faschistische Zaubertricks? Welche gesellschaftlichen Schieflagen und sozial- politischen Versäumnisse bereiten den fruchtbaren Boden für faschistische Über- zeugungen und Ideologie? 69 Es ist also zu differenzieren zwischen faschistischen Taktiken und Täuschungsmanövern zur politischen Machtgewinnung  –  der fa- schistischen Bühnenshow – und den Faktoren, die erklären, warum wir so leicht geneigt sind, die Illusion für Realität zu halten – die Verfasstheit und Konstitution des Publikums. Bei aller Klarheit im Benennen von faschistischen Täterstrategien sollte man seinerseits nicht der Versuchung erliegen zu meinen, dass Faschismus etwas ist, was nur die , aber nicht auch uns betrifft.

Insofern möchte ich abschließend für die These argumentieren, dass es nicht nur eine Bekämpfung faschistischer Ideologie braucht, sondern vielleicht noch viel dringlicher eine Bekämpfung rassistischer, sexistischer, anti-liberaler, anti-de- mokratischer gesellschaftlicher Verhältnisse. Es ist die Praxis, die die Ideologie gebiert, welche dann nachträglich die Praxis und die daraus resultierenden Ver- hältnisse zu rechtfertigen versucht. 70 Das Potential dieser These möchte ich ab- schließend anhand zweier Beispiele von Stanley illustrieren.

Hannah Arendt machte in einem Artikel von 1945 auf folgendes Phänomen aufmerksam: Die Nazis waren sich bewusst, dass das Ausland ihre Propaganda, dass die Juden ein Pack von heimatlosen Bettlern seien, die nur als Parasiten in anderen Nationen überleben könnten, wenig überzeugend finden würden. Sie prophezeiten jedoch schon vor Ausbruch des Krieges, dass die öffentliche Mei- nung des Auslands ihnen in ein paar Jahren Recht geben würde, nämlich dann, wenn die Juden aus Deutschland vertrieben worden sind und als Flüchtlinge um Aufnahme in andere Nationen betteln müssen. 71 Im Anschluss an Arendt illustriert dieses Beispiel für Stanley, dass das Problem derartiger faschistischer Propaganda nicht ihre Falschheit ist, sondern die konkrete faschistische Politik , die dazu geführt hat, dass deutsche Juden während und nach dem Krieg in der Tat als Bettler im Ausland Zuflucht suchen mussten. 72 Die Realität ist also durch konkrete politische Maßnahmen so verändert worden, dass die ideologische und rassistische Überzeugung auf einmal plausibler erscheint. Einer entsprechenden Ideologie kommt lediglich die Aufgabe zu, die Beraubung und Vertreibung jüdi- scher Mitbürger, die diese erst zu heimatlosen Bettlern gemacht hat, im Nachhi- nein zu rechtfertigen. Ergo: Es ist der Rassist, der durch seine rassistische Politik eine rassistische Realität schafft, die rassistische Stereotypen bestätigt, die wie- derum seinen Rassismus rechtfertigen und als Antwort auf reale Probleme er- scheinen lassen.

Ein zweites auf Stanley zurückgehendes Beispiel ist das Phänomen der Massen- inhaftierung in den USA, welches an sich schon problematisch ist, jedoch noch viel problematischer wird angesichts der Disproportion hinsichtlich der Haut- farbe der Inhaftierten. Während die amerikanische Bevölkerung zu zwei Dritteln aus Weißen und zu einem Drittel aus Nicht-Weißen besteht, besteht die Gefäng- nispopulation fast zu zwei Dritteln aus Nicht-Weißen und einem Drittel aus Wei- ßen. 73 Die Wahrscheinlichkeit für weiße Amerikaner, einmal in ihrem Leben im Gefängnis zu landen, liegt bei 1 zu 17, für schwarze Amerikaner hingegen bei 1 zu 3. 74 Und natürlich macht ein Gefängnisaufenthalt in der Biografie es bedeutend schwieriger, einen Job zu finden. Gemäß einer Studie reduziert dies in den USA die Chance zu einem Vorstellungsgespräch bei weißen Amerikanern von 34 % auf 17 % und von 14 % auf 5 % bei Schwarzen. 75 Ergo: Bei „falscher“ Hautfarbe und Gefängnisstrafe wird die Chance, einen Job zu finden, so gut wie aussichtslos! Und durch die hohe Arbeitslosigkeit wird nun auf einmal das rassistische Stereotyp plausibler, dass Schwarze faul sind bzw. unfähig und unwillig, Arbeit zu finden. Dies verschleiert aber, dass es konkrete rassistische Maßnahmen waren – eine so- genannte „law-and-order-Politik“ – die zu einer unverhältnismäßig hohen Inhaf- tierungsquote von schwarzen Amerikanern geführt hat. 76 Und so kann ein mehr oder weniger offener Rassismus wiederum den Eindruck suggerieren, er sei als Antwort auf reale Probleme zu rechtfertigen.

Diese beiden Beispiele illustrieren, wie wichtig es ist, neben der Entlarvung und Delegitimierung faschistischer bzw. rassistischer Ideologie und Sprache auch jene politischen Verhältnisse und politischen Praktiken zu bekämpfen und zu verän- dern, die den Nährboden für die Plausibilität einer solchen Ideologie und Sprache bereiten. Bildungspolitik kann also niemals neutral sein, sondern muss immer eingebettet sein in eine Sozial- und Gesellschaftspolitik, die darauf abzielt, dass die sozialen und politischen Verhältnisse immer mehr demokratischen Werten und Idealen wie Gleichheit, Freiheit und Pluralität entsprechen.

Literatur

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Michael Reder

Philosophie des Widerstands

In der (politischen) Philosophie war lange Zeit nicht viel von Widerstand die Rede. Dies ist nicht zuletzt in dem seit der Neuzeit vorherrschenden Philosophie- verständnis begründet. Denn die Philosophie zielt, so die oft implizite These, auf vernünftige Argumente und universale Prinzipien, denen alle Menschen nach entsprechender Reflexion und Diskussion zustimmen können. Die politische Phi- losophie ist dann z. B. eine reflexive Anleitung, die zur Einsicht in eben solche grundlegenden Normen, Werte und politische Ideen führen soll. Der Philosophie geht es nach der Ansicht von Jürgen Habermas dann beispielsweise um die Be- gründung von Normen und politischen Ordnungsformen, denen alle Betroffenen nach einem zwanglosen Diskurs vernünftiger Weise zustimmen können. Wider- stand richtet sich dann ‚nur‘ gegen das diskursiv nicht Begründbare.

Dieser Blick auf das vorherrschende Verständnis von Philosophie mag erklären, wieso die Philosophie nicht viel über Widerstand nachgedacht hat, auch wenn Philosoph*innen wie Habermas selbst eine große Sensibilität für Gewalt kenn- zeichnet. Die Philosophie auf reflexive Zustimmungsfähigkeit zu gründen, ist im Kern auf die Überwindung von Gewalt ausgerichtet. Die Mittel auf dem Weg zu einer friedlichen oder gerechten Welt sind dann aber eben v. a. die argumentativ begründete Zustimmung  –  mit Ausnahme des Widerstandes in extremen Un- rechtsregimen. In diesen Fällen sind sich fast alle Philosoph*innen einig, dass Wi- derstand auch mit den Mitteln der Gewalt legitim ist; teilweise werden die Über- legungen flankiert mit Narrativen des gerechten Krieges, um die Gewalt allerdings auch einzuhegen.

Das philosophische Nachdenken über Widerstand geht jedoch über die Abwä- gung von Gewalt in autoritären Regimen hinaus. Der Fokus auf Wiederstand geht davon aus, dass gesellschaftliche Situationen entstehen können, in denen vorherr- schende Normen oder politische Mechanismen so dominierend sind, dass sie sich jenseits diskursiver Zustimmung verselbstständigen. Dies gilt auch für Normen, denen scheinbar alle vernünftigen Menschen zustimmen können müssten, weil diese trotz ihrer Vernünftigkeit problematische Konsequenzen für die Menschen implizieren können. Rahel Jaeggi hat in ihrer Analyse des Ideologiebegriffs von Marx den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit eine solche Ambivalenz attes- tiert. 1 Vor diesem Hintergrund will das Konzept des Widerstandes die Wirkmäch- tigkeit solcher Deutungsrahmen oder politischen Systeme grundsätzlich kritisie- ren, transformieren und teilweise auch überwinden.

Die theoretische Zurückhaltung gegenüber dem Thema Widerstand ändert sich in den vergangenen zehn Jahren allerdings deutlich. Es finden sich zahlreiche Tagungen, Workshops und Publikationen, die von unterschiedlicher Perspekti- ve aus Widerstand zum Thema der Philosophie machen. 2 Gerade in einer global vernetzten Welt, in der viele Krisen durch scheinbar unveränderbare Strukturen befördert werden, gewinnt das Thema also an Bedeutung. Dabei bezieht sich das Nachdenken über Widerstand einerseits auf politische Gegenbewegungen gegen- über autoritären Regimen. Andererseits wird der Topos des Widerstandes aber auch deutlich weiter gefasst. Es geht dann beispielsweise um Widerstand gegen das kapitalistische System oder eine Ignoranz der Politik gegenüber den Klima- folgen.

Widerstand ist heute auch gesellschaftlich in aller Munde – und zwar in ganz unterschiedlichen Stoßrichtungen: Occupy besetzte öffentliche Plätze als Zei- chen des Widerstandes gegen eine bestimmte Form des globalen Kapitalismus, Extinction Rebellion will als Widerstandsgruppe gegen die Ignoranz der Politik gegenüber Klimafolgen kämpfen, die Demonstrationen im arabischen Frühling verstanden sich als Widerstandsformen gegen autoritäre Regime im arabischen Raum und auch islamistische Terrorbewegungen wie Al-Qaida rekurrierten auf den Topos des Widerstandes, und zwar als Brechung einer US-amerikanischen Vormachtstellung. Schon diese kurze Liste macht deutlich, dass sich die Gruppie- rungen, die sich teils durch Selbst- oder Fremdzuschreibung unter dem Topos des Widerstandes versammeln, qualitativ massiv unterscheiden, sowohl nach Form, Struktur und Zielsetzung. Dabei kann man auch das Verhältnis des Widerstandes zur (vor)herrschenden Struktur bzw. Macht als Unterscheidungskriterium heran- ziehen. Denn die Gruppierungen differieren, ob sie sich als Widerstand innerhalb von demokratischen Institutionen, gegen Autokratien oder gegen globale Systeme richten. Zuletzt unterscheiden sie sich auch hinsichtlich der politischen Mittel, die sie für den Widerstand als legitim erachten – v. a. ob Gewalt als ein begründbares Mittel angesehen wird.

Sowohl die gesellschaftliche Bedeutung des Widerstandsthemas als auch die große Heterogenität der Gruppierungen, die sich als Widerstandsbewegungen verstehen, zeigt den Klärungsbedarf des Themas an. Was genau meint Widerstand und wie lässt sich Widerstand von anderen Konzepten wie denen des Protests oder des zivilen Ungehorsams unterscheiden? Was für ein Verständnis des Politi- schen liegt einer Philosophie zugrunde, die sich mit Widerstand beschäftigt? Und was sind legitime, was illegitime Formen des Widerstands?

Die Philosophie kann zur Klärung dieser Fragen beitragen. Diese Klärung soll im Folgenden in drei Schritten vorgenommen werden. In einem ersten Schritt werden einige begriffliche und systematische Unterscheidungen eingeführt wer- den, um den Begriff des Widerstandes von anderen Phänomenen abzugrenzen (1.). Im darauffolgenden Schritt werden zwei Traditionen des Nachdenkens über Widerstand miteinander in Verbindung gesetzt, die für eine systematische Re- flexion besonders relevant erscheinen: zum einen Antonio Gramscis marxistisch inspirierte Theorie des Widerstandes und, aus der aktuellen Debatte, radikalde- mokratische Impulse, v. a. von Judith Butler (2.). In einem abschließenden Fazit werden fünf Merkmale einer Philosophie des Widerstandes paradigmatisch zu- sammengefasst bzw. herausgearbeitet (3.).

1 Historische und begriffliche Sondierungen

Die Ursprünge des Nachdenkens über Widerstand in der politischen Philosophie der Neuzeit fokussieren v. a. auf die Frage des Rechts auf Widerstand. Kant ist eher skeptisch gegenüber einem solchen Recht auf Widerstand, weil dieses der Uni- versalität moralischer Gesetze, zu denen jeder vernünftige Mensch verpflichtet ist, entgegensteht. Widerstand wird hier als ein Rückfall in Ichbezogenheit, in die Verabsolutierung subjektiver Standpunkte interpretiert, wodurch das Wohl aller aus dem Blick gerät. Widerstand, so seine Einschätzung, steht immer in der Ge- fahr partikulare Positionen jenseits der Vernunft zu verabsolutieren. 3 John Locke gilt demgegenüber eher als ein Befürworter des Widerstandsrechts. Weil Men- schen im Naturstand frei sind, haben sie auch das Recht sich gegen Übergriffe anderer zu wehren. Widerstand wird in dieser Hinsicht als Abwehrrecht des Ein- zelnen gedeutet, gerade um seine Freiheit zu sichern. 4

Einschneidend für die Frage des Widerstandes ist dann v. a. im 19. Jahrhundert Karl Marx und im Gefolge Autor*innen, die sich auf ihn beziehen. Marx’ Theorie des Widerstandes ist verbundenen mit seiner Analyse und Kritik kapitalistischer Formationen. 5 Die Moderne zeigt sich, so sein Argument, so stark verformt durch das kapitalistische System, dass den Arbeiter*innen keine andere Möglichkeit als die des Widerstandes bleibt. Anders kann die Macht der Kapitalist*innen nicht gebrochen werden. Marx und seine Interpret*innen sprechen allerdings mehr von Revolution als von Widerstand. Revolution richtet sich nicht nur gegen das beste- hende politisch-ökonomische System, sondern impliziert auch einen Gegenent- wurf, in diesem Falle die kommunistische Gesellschaft. In der aktuellen Debatte greifen einige Autor*innen wieder verstärkt diese marxistische Widerstandstheo- rie auf und formulieren sie als eine globale Kritik am Neoliberalismus als vor- herrschendem kapitalistischen Paradigma. Vor diesem Hintergrund plädiert bei- spielsweise Alan Badiou für eine globale kommunistische Gesellschaft. 6

Nach 1945 haben sich dann Theorien herausgebildet, die in verschiedener Wei- se Dimensionen des Widerstandsthemas verarbeiten. Dabei ist zuerst die kritische Theorie zu nennen, die besonders mit Blick auf das nationalsozialistische Regime das Widerstandsrecht als legitimes und wichtiges Instrument des politischen Um- bruchs interpretiert. Interessant ist jedoch, dass in der Weiterentwicklung der kri- tischen Theorie, beispielsweise bei Jürgen Habermas, aber auch bei verwandten Autor*innen wie Hannah Arendt, die Frage nach dem Widerstand mehr unter dem Topos des zivilen Ungehorsams verhandelt wird. 7

Eine zweite, mit der kritischen Theorie verwandte Tradition, ist die der Fou- cault’schen Diskurskritik. Michel Foucault argumentiert, dass Diskurse als um- fassende sprachliche Geschehen so wirkmächtig sein können, dass Menschen darauf angewiesen sind, nach Möglichkeiten zu suchen, sprachliche Strukturen zu durchbrechen, um selbstbestimmt handeln zu können. In dieser Perspektive geht es also um Widerstand gegen gesellschaftliche Diskursmächte. 8 Judith Butlers Theorie der Verwirrung der Geschlechter kann als ein Beispiel hierfür zählen. Butlers Forschungen kreisen mittlerweile explizit um den Begriff des Widerstan- des als eine Form der rücksichtslosen Kritik bestehender (Diskurs)Ordnungen. 9

Vor diesem historischen Hintergrund lassen sich nun in analytischer Perspek- tive einige wichtige Unterscheidungen markieren. Dabei gilt es zwischen Protest, zivilem Ungehorsam, Widerstand und Revolution als vier zusammenhängende Topoi zu unterscheiden. In besonders prägnanter Weise hat dies der politische Theoretiker Bernhard Ladwig getan, dessen Überlegungen für die folgenden Un- terscheidungen als Orientierung dienen. 10

Die Frage nach dem Protest ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten v. a. inner- halb der interdisziplinären Zivilgesellschaftsdebatte angesiedelt. 11 Protest versteht sich meist als eine kollektive, öffentliche Äußerungsform, die auf gesellschaft- liche und politische Missstände aufmerksam machen will, ohne dabei das vor- herrschende (politische, ökonomische, kulturelle) System als Ganzes in Frage zu stellen. Fridays for Future kann in dieser Perspektive als eine Protestbewegung angesehen werden, die auf eine Veränderung der Klimapolitik hinzuwirken ver- sucht, ohne das demokratische System als Ganzes zu kritisieren. Eine zentrale Frage mit Blick auf Protestbewegungen ist, wie vernünftig der Protest sein muss und wie konsistent die politischen Vorschläge sein müssen. Eine Frage, die schon hinsichtlich der Occupy -Bewegung diskutiert wurde und gegenwärtig mit Blick auf die Klimaproteste wieder diskutiert wird.

Zweitens gilt es, den Begriff des zivilen Ungehorsams davon zu unterscheiden. Dieser bezieht sich in einer eher juristischen Perspektive auf einzelne Bürger*in- nen, die mit ihren Handlungen gegen bestehende Regeln verstoßen, um damit ihren Protest zum Ausdruck zu bringen. Ungehorsam beruft sich dabei, so Lad- wig, auf die Autonomie und Vernunftfähigkeit der Bürger*innen. Jede Bürger*in hat das moralische Recht, bestehende Gesetze darauf hin zu überprüfen, ob sie wirklich dem Gemeinwohl dienen, wie sie vorzugeben scheinen. Dabei fühlen sich diese Personen immer mit dem Gemeinwesen eng verbunden, auch wenn sie sich gegen dieses wenden. Die Person, die zivilen Ungehorsam ausübt, „betrachtet daher ihr ausnahmsweise irreguläres Handeln als Ausdruck von Loyalität. Durch Inkaufnahme einer Strafe für Überzeugungen, deren allgemeine Beachtung das eigene Gemeinwesen verbessern würde, zeigt sie sich mit diesem verbunden.“ 12 Allerdings bleibt auch trotz dieser Verbundenheit für den zivilen Ungehorsam der Kant’sche Einspruch gegen das Widerstandsrecht bestehen. Denn die individuelle Prüfung von Gesetzen (meist durch das Gewissen) steht immer in der Gefahr, subjektive Einschätzungen absolut zusetzen und damit die Legitimität des Geset- zes zu unterlaufen.

Einige liberale Autor*innen haben sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- derts mit der Frage auseinandergesetzt, ob und inwiefern trotz dieses Kant’schen Einspruches ziviler Ungehorsam legitim und auch legal sein kann. Als ein Beispiel hierfür kann Richard Dworkin dienen. 13 Er argumentiert, dass Recht nicht nur einfach gegeben, sondern immer auch anerkennungswürdig sein muss. Ziviler Ungehorsam basiert auf dieser Anerkennungswürdigkeit des Rechts und gibt den einzelnen Bürger*innen das moralische Recht zur Prüfung. Dieser Prozess trägt auch zur Reflexivität und damit Legitimität der Rechtsordnung insgesamt bei. Da- bei sollte ziviler Ungehorsam, so argumentiert Ladwig mit Blick auf Dworkin, öffentlich, verhältnismäßig, argumentativ und – in einem Rechtsstaat – gewaltlos sein, wenn er legitim und legal sein will.

Widerstand baut auf den Phänomenen des Protests und zivilen Ungehorsams auf und geht gleichzeitig über beide hinaus. Widerstand impliziert erstens ein kri- tisches Verhältnis zu bestehenden Ordnungen; er richtet sich jedoch nicht nur gegen die Rechtsordnung. Im Vergleich zum zivilen Ungehorsam ist Widerstand zweitens meist kollektiv geformt und begründungslogisch weniger an der einzel- nen Bürger*in orientiert. Er zielt drittens weniger auf eine verändernde Reform von Politik, wie dies Protestbewegungen oftmals tun, denn ein transformieren- der Protest reicht angesichts der Trägheit und Macht bestehender Ordnungen nicht aus – ja Protest kann sogar instrumentalisiert werden, um das System selbst zu stützen. Während Protest also kommunikativ ist, ist Widerstand eher „di- rekt verhindernd“ 14 und zielt auf eine grundlegende Veränderung herrschender Ordnungssysteme ab. Die Gretchenfrage des Widerstandes ist die nach der Ge- walt – und hier unterscheiden sich die Widerstandsbewegungen deutlich.

Die Revolution ist schlussendlich das weitreichendste Konzept. Sie kritisiert nicht nur bestehende Systeme, sondern zielt auf eine neue Herrschaftsordnung, die durch politischen Kampf (und oftmals auch mit Gewalt) hergestellt werden soll. Revolutionstheorien implizieren deshalb immer umfassende Konzepte po- litischer Ordnung. Zudem gehen sie mehr als die anderen Konzepte mit einer geschichtsphilosophischen Teleologie oder gar Finalität einher. Die Revolution möchte die politische Geschichte einer Gesellschaft auf ein bestimmtes Ziel hin verändern, das als ein Ideal teilweise auch als ein idealer Finalitätspunkt gedeutet wird.

Damit sind vier zentrale Begriffe und Konzepte unterschieden. Als Abschluss dieser historischen und begrifflichen Sondierungen soll der Blick auf zwei unter- schiedliche Kontexte gelegt werden, die für die Einordnung des Widerstandsver- ständnisses besonders wichtig sind, und zwar auf Widerstand in Demokratien (a) und auf Widerstand gegen globale Strukturen (b). Mit diesem Vergleich kann die Klärung des Widerstandskonzepts noch einmal weiter vorangetrieben werden. 15 Außer Acht gelassen werden im Folgenden Widerstandsbewegungen gegen au- toritäre Regime innerhalb eines Landes, weil sie begründungstheoretisch am we- nigsten umstritten sind.

(a) Widerstand innerhalb von Demokratien ist, wie bereits angedeutet, meist eng an den Topos des zivilen Ungehorsams gebunden. Es geht dann v. a. um die Frage nach den Grenzen demokratischer Legitimität und der berechtigten Kritik. Ladwig argumentiert, dass die politische Autonomie auf der theoretischen Ebene den Kern von Demokratien bildet. Der demokratisch verfasste Volkswillen setzt dabei immer verschiedene Formen der Aggregation seiner Bürger*innen voraus. Denn die in der Terminologie Rousseaus müssen die Einzelwillen in einen Ge- meinwillen übergehen – in Demokratien geschieht dies zuallererst durch Wahlen. Doch politische Entscheidungen der durch Wahlen legitimierten Vertreter*innen sind nie restlos rationalisierbar. Es gibt immer Entscheidungen, die Einzelne für sehr unvernünftig halten. Zudem entstehen auch durch demokratischen Verfah- ren Verzerrungen, weil die Mehrheit immer auch gegen die Meinungen Einzel- ner stehen kann. „Das gerechte Wollen eines Demos lässt sich niemals definitiv erkennen.“ 16 Ergeben sich daraus ein unbeschränktes Recht auf Widerstand und zivilen Ungehorsam? Wie weit darf Widerstand gehen und welche Instrumente darf er einsetzen?

Offensichtlich ist, dass Demokratien nicht ein unbeschränktes Recht auf Wi- derstand implizieren. In ausdifferenzierten und komplexen Gesellschaften er- möglichen vielmehr demokratische Verfahren das Ausbalancieren verschiedener Meinungen. In Demokratien gehört die Akzeptanz scheinbar unvernünftiger Ent- scheidungen durch alle Bürger*innen notwendig dazu. Wenn sich jedoch über einen längeren politischen Zeitraum keine Veränderung ergibt und eine immer größer werdende Gruppe die politische Entscheidung im Spannungsfeld zu den normativen und rechtlichen Grundlagen der Demokratie sieht, so kann Wider- stand auch in Demokratien normativ berechtigt sein. Ladwig nennt hierfür fünf Voraussetzungen 17 : Der Widerstand muss gute moralische Argumente für seine Ziele vorbringen können, die Bewegung muss sachlich begrenzt sein, verhältnis- mäßig und aussichtsreich. Schlussendlich darf sie nie grundsätzlich gegen das Ge- waltmonopol des Rechtsstaates und das Grundgesetzes gerichtet sein und bedarf immer auch einer kommunikativen Öffnung in die Öffentlichkeit hinein, d. h. sie darf nicht geheim agieren.

(b) Hinsichtlich globaler Strukturen muss die Frage nach dem Widerstand an- ders gefasst werden, denn es gibt auf globaler Ebene kein demokratisch-rechts- staatliches Gegenüber, hinsichtlich dessen sich der Widerstand rechtfertigen könnte. Zudem weisen globale Strukturen teils eine enorm hohe Eigendynamik auf, so dass auch das, wogegen Widerstand geleistet wird, oft deutlich abstrakter ist als auf der nationalstaatlichen Ebene. Teils formiert sich globaler Widerstand deshalb innerhalb demokratischer Kontexte und richtet seine Aktivitäten gegen den demokratisch legitimierten Staat, obwohl es sich um eine globale Problemlage handelt. Die Fridays for Future Bewegung wäre hierfür ein Beispiel. Sie adressiert eine globale Problemlage, richtet ihre Forderung allerdings vielfach an die jeweili- gen demokratisch legitimierten Vertreter der Nationalstaaten.

Darüber hinaus gibt es Formen des globalen Widerstandes, die ganz explizit nationalstaatliche Grenzen überschreiten. Michael Hardt und Antonio Negri ha- ben in ihren Werken nach solchen Formen globalen Widerstands gefragt. Hin- tergrund ihrer Überlegungen sind im weitesten Sinne marxistische Ideen. 18 Ihre Ausgangsthese ist, dass die kapitalistische Ordnung und Lebensweise heute das Leben weltweit prägen. Der Kapitalismus wird in einer bestimmten neoliberalen Spielart damit zu einer hegemonialen Sozialform, die bis weit in das Sozialleben aller Menschen hinein Einfluss nimmt. Diese ökonomische Form des Denkens und Handelns, so Hardt und Negri, prägt die Produktion von Subjektivität, die Gestaltung sozialer Netzwerke und auch menschliche Kommunikation.

Gegenüber dieser hegemonialen ökonomischen Strukturen ist jedoch ihrer An- sicht nach heute eine Vervielfältigung von Subjektivitäten zu verzeichnen. Damit ist gemeint, dass an ganz unterschiedlichen Orten und in verschiedenen Formen menschliche Handlungs- und Denkweisen entstehen, die sich gegen diese Hege- monie des neoliberalen Kapitalismus zu stellen versuchen. 19 Sie nennen dieses diffuse Netzwerk von widerständigen Subjekten Multitude . Diese ist Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach Frieden, Demokratie bzw. Gerechtigkeit und gleichzeitig der Ursprung von Widerstand.

Vor diesem theoretischen Hintergrund rekonstruieren Hardt und Negri viel- fältige Formen des Widerstandes gegen globale Hegemonien und Gewalt. In einer historischen Perspektive zeigen sie z. B. auf, wie sich Widerstandsbewegungen in der Nachkriegszeit zuerst als Guerilla Gruppierungen manifestiert haben, bevor daraus dezentrale Formen des Widerstandes entstanden sind. Es sind heute weni- ger einzelne Menschen als hoch dynamisch agierende Netzwerke, die Widerstand leisten – angefangen von der global agierenden NGO bis hin zu gewalttätig agie- renden Terror-Netzwerken. Damit nimmt der Widerstand polyzentrische Formen an, die schnell kommunizieren und professionalisierte Mechanismen der Selbst- organisation entwickeln. Das zentrale inhaltliche Merkmal ist der Widerstand gegen vielfältige Formen des Kriegs und gegen die neoliberalen Formungen des globalen Kapitalismus. Diese Bewegungen prägt meist ein utopisches Ideal, das sie dieser hegemonialen Struktur entgegenzusetzen versuchen.

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2 Widerstand gegen hegemoniale Strukturen: Über Gramsci und Butler

Antonio Gramsci ist einer der führenden Köpfe der marxistischen Theorie Italiens der 20er und 30er Jahre des 19. Jahrhunderts. Nach dem Krieg sind seine Über- legungen lange Zeit wenig beachtet worden. Dies ändert sich seit gut 20 Jahren. Grund hierfür ist eine verstärkte Rezeption Gramscis durch poststrukturalistische Autor*innen wie Ernesto Laclau oder Chantal Mouffe. Judith Butler ist ebenfalls dieser poststrukturalistischen Tradition zuzuordnen und auch wenn sie sich nicht explizit mit Gramsci auseinandersetzt, so zeigen viele ihrer Überlegungen eine Nähe zu seinen Argumentationsfiguren. 20 Im Folgenden soll deshalb in der Ver- bindung beider Ansätze ein philosophisches Verständnis von Widerstand entwi- ckelt werden, das den eben skizzierten Dimensionen des Phänomens entspricht.

Um zu verstehen, wie Gramsci Widerstand denkt, ist es zuerst wichtig, seine Modelle des Menschen und der Gesellschaft in den Blick zu nehmen: Menschsein deutet Gramsci als einen tätigen Prozess und weniger als eine feste Entität. Der Mensch ist Teil komplexer gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen viele Aktivi- täten eng zusammenhängen. Die organische Teilhabe des Menschen an der Ge- sellschaft verändert ihn dabei auch selbst. Jeder Mensch verändert sich, indem er die Gesellschaft tätig verändert.

Der Gesellschaftsbegriff ist in zwei Dimensionen unterteilt, und zwar in die Zivil- und die politische Gesellschaft. In Anlehnung an Hegel versteht Gramsci Zivilgesellschaft als den Bereich der ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnisse. Die politische Gesellschaft ist demgegenüber der institutionelle und bürokrati- sche Apparat des Staates, der mit Zwangsgewalt ausgestattet ist. In der Gesell- schaft des 20. Jahrhunderts instrumentalisiert der Staat die Zivilgesellschaft seiner Ansicht nach auf einer sehr fundamentalen Ebene für kapitalistische Zwecke. Die Interessen der einzelnen Bürger*innen werden in die kapitalistische Logik des Staates absorbiert. Die Zivilgesellschaft stützt so den Staat, übernimmt teilweise seine Aufgaben und wird damit Teil einer hegemonialen Struktur. Ein Beispiel der Gegenwart wäre, wenn der Staat basale Gesundheitsvorsorge nicht mehr über- nimmt, sondern diese in die Verantwortung des Einzelnen überträgt, der dann entsprechend der eigenen ökonomischen Ressourcen staatliche Funktionen selbst ausübt.

In einer für heute etwas eigenartig anmutenden militärischen Logik formuliert Gramsci dieses Argument in Anlehnung an Rosa Luxemburg folgendermaßen: Die Ökonomie ist die Artillerie, durch welche die Hegemonie der politischen Ge- sellschaft durchgesetzt wird, und zwar indem sie die Zivilgesellschaft für ihre Zwe- cke formt und damit instrumentalisiert. Dies gilt auch für die liberale politische Ordnung, die der Rhetorik nach auf die freie Selbstbestimmung der Bürger*in- nen abstellt, bei genauerer Analyse ihren Fokus aber auf Institutionen richtet, die Zwang ausüben und die Zivilgesellschaft zu vereinnahmen versuchen. „Auch der Liberalismus [ist] eine ‚Regulierung‘ staatlicher Natur, eingeführt und aufrecht- erhalten auf dem Wege der Gesetzgebung und des Zwanges: er ist eine Tatsache des sich der eigenen Ziele bewussten Willens und nicht der spontane, automati- sche Ausdruck der ökonomischen Tatsache. Darum ist der Liberalismus ein poli- tisches Programm, dazu bestimmt, bei seinem Triumph das Führungspersonal eines Staates und das Wirtschaftsprogramm des Staates selbst auszuwechseln, das heißt, die Verteilung des Nationaleinkommens zu verändern.“ 21

Sozialphilosophisch betrachtet impliziert Butlers Ansatz, ähnlich wie Gramsci, ein relationales Konzept des Sozialen. Butler deutet dabei das Subjekt als eines, das in ein unaufhörliches Wechselspiel des Angesprochen-Seins und Antwortens eingebunden ist. Das Angesprochen-Sein formt das Subjekt, wohingegen das Antworten den Raum des freien Handelns eröffnet. Das Politische ist dann nicht die Summe der Handlungen einzelner Subjekte, sondern ein dynamisches Bezie- hungsgeschehen. Das politische Subjekt steht damit vor einem grundsätzlichen Paradox: Einerseits erfährt es sich als Handelndes, andererseits muss es sich selbst voraussetzen als etwas, das schon immer gesellschaftlich geformt ist. Butler be- zeichnet dieses Phänomen als Subjektivation und meint damit den Prozess „des Unterworfen-Werdens durch Macht und zugleich den Prozess der Subjektwer- dung.“ 22 Soziale Strukturen prägen das Subjekt schon immer, z.  B. indem eine Kultur ein bestimmtes Vokabular zur Selbstdeutung vorgibt. Gleichzeitig sind es immer Subjekte, die innerhalb dieser Strukturen handeln und damit Machtbezie- hungen aufbrechen können.

Ein Unterschied zwischen den beiden Philosoph*innen besteht darin, dass But- ler das Konzept der Relationalität theoretisch noch radikaler denkt als Gramsci. Denn Gramscis Teilung in Zivil- und politische Gesellschaft impliziert letztlich ein (marxistisches) Stufenmodell von Gesellschaft. In Butlers Perspektive durch- zieht Gesellschaft aber immer eine Vielfalt diskursiver Prozesse, in die das Subjekt relational eingebunden ist und die nicht in einem solchen, klar gegliederten Mo- dell erfasst werden können. Welche Auswirkungen dies auf das Verständnis von Widerstand hat, wird im Folgenden zu zeigen sein.

Das Konzept des Widerstands, das Gramsci von diesen Grundannahmen aus entwickelt, ist eng mit dem Konzept der Hegemonie verbunden. Der (neoliberale) Kapitalismus wird als prägende Hegemonie mit universaler Deutungsmacht ver- standen, gegen die es Widerstand zu leisten gilt, um Selbstbestimmung für die Einzelne zu ermöglichen. Widerstand ist deshalb für Gramsci als Primat der Poli- tik eine Form des Anti-Ökonomismus und als solcher nicht nur eine Aufgabe der Theorie, sondern eine politische Praxis. Ziel ist die Etablierung einer Gegenhege- monie als kulturelle Gegenmacht zur herrschenden politischen Gesellschaft. Der Fokus liegt dabei auf der politischen Praxis, d. h. der Entwicklung widerständiger Praktiken, die sich der kapitalistischen Logik entziehen und diese transformie- ren. 23

Auch Butler analysiert solche hegemonialen Strukturen, die Gesellschaft prä- gen. Dabei zeigt sie auf, dass auch auf den ersten Eindruck positive Diskursstruk- turen problematische hegemoniale Schließungen produzieren können. Ein Bei- spiel hierfür ist für sie die Philosophie selbst. Denn diese fragt im 20. Jahrhundert im Anschluss an John Rawls’ Nachdenken über Gerechtigkeit v. a. nach universa- len Normen, die sie durch abstrakte Argumentationsfiguren zu begründen sucht. Genau dadurch werden jedoch hegemoniale Strukturen gebildet, die der Fragilität des Gegenübers nicht gerecht werden. Philosophie missachtet damit sowohl das Besondere als auch die Relationalität von Wirklichkeit und droht damit inhuman zu werden, so Butler. Wenn die Philosophie Normativität in möglichst eindeutige und abstrakte Ideale zu fassen versucht, steht sie deshalb immer in der Gefahr, selbst hegemonial und letztlich sogar gewalttätig zu werden. 24

Die Aufgabe einer Philosophie des Widerstandes ist es deshalb, sowohl in der Perspektive von Gramsci als auch Butler, gesellschaftliche und normative Struk- turen und Hegemonien kritisch zu reflektieren und gleichzeigt praktisch wirksam zu werden. Ziel ist eine tätige, die Gesellschaft verändernde Philosophie. Dabei versteht Gramsci jeden Menschen als eine*n Philosoph*in. Philosophie ist in der Sprache bzw. dem Alltagsverstand selbst angelegt, insofern alle Menschen zur Kritik fähig sind. Einerseits gehören alle Menschen immer schon zu einer (hege- monialen) Sprache einer Gruppe, andererseits können sie diese durch die Spra- che geformte Weltauffassung kritisieren. Philosophie des Widerstands als Praxis bedeutet dabei die Aufhebung vorangegangener Denkweisen und grundlegende Kritik, Transformation oder gar Brechung vorherrschender politischer Hegemo- nien. Das Potenzial dazu finden alle Menschen in ihrem Alltagsverstand.

Philosophie des Widerstandes ist deshalb für Gramsci, so lassen sich diese Überlegungen zusammenfassen, vor allem Kritik. Oder wie er es selbst formuliert: Stärkung des Geistes der Abspaltung , worunter er einen kritischen Bewusstseinser- werb über die geschichtliche Kontextualität versteht. „Der Geist der Abspaltung, das heißt der fortschreitende Erwerb des Bewusstseins der eigenen geschichtli- chen Persönlichkeit, ein Geist der Abspaltung, der bestrebt sein muss, sich von der protagonistischen Klasse auf die potentiellen verbündeten Klassen auszuweiten: all das verlangt eine komplexe ideologische Arbeit, deren erste Bedingung die ge- naue Kenntnis des Feldes ist, das leergemacht werden muss von seinem mensch- lichen Massenelement.“ 25 Es geht ihm beim Nachdenken über Widerstand also im Kern um eine grundlegende Gesellschaftskritik im Sinne einer Befähigung zum gesellschaftlichen Streit und der Entwicklung von neuen Denkwegen und gesell- schaftlichen Formationen jenseits wirkmächtiger (globaler) Hegemonien.

In ihrer Auseinandersetzung mit Autor*innen wie Michel Foucault spielt genau dieser Topos der Kritik auch für Butler eine zentrale Rolle beim Nachdenken über Widerstand. Wie Gramsci versteht sie Kritik als einen dialektischen Prozess, der auf der Gegebenheit sozialer Diskurse aufsetzt und gleichzeitig über diese hinaus- greift, um neue Handlungsmöglichkeiten performativ zu schaffen. 26 Der normative Kern dieser Kritik ist die (negative) Erfahrung des Gefährdet-Seins menschlichen Lebens, des Nichtangesprochen-Werdens oder des Ausschlusses von politischer Praxis. Widerstand als Gesellschaftskritik schenkt deshalb genau dieser Verletz- barkeit menschlichen Lebens besondere Beachtung. Der Fokus auf das gefährdete Leben wird damit zum Nukleus einer Philosophie des Widerstands.

Dies gilt insbesondere in einer globalisierten Welt, in der gegenwärtig viele (neue) Ausschlussmechanismen produziert werden. Widerstand ist normativ be- trachtet dann der Ort der Kritik im Sinne des Demos der global Ausgeschlos- senen. 27 Dabei erweist sich der Vollzug der Kritik als das Eröffnen von neuen Möglichkeitsräumen jenseits traditioneller politischer Denk- und Sprachmuster. Das Ziel vieler gegenwärtiger, widerständiger Bewegungen ist genau eine solche, fundamentale Kritik bestehender hegemonialer Strukturen im Feld des Sozialen, Politischen und Ökonomischen. Die widerständigen Praktiken setzen dabei an den etablierten Strukturen an und versuchen, diese gleichzeitig zu überwinden. 28 Das Ziel des Widerstandes ist eine andere Welt, allerdings nicht gefasst in abs- trakten Normen wie der philosophischen Rede von Gerechtigkeit, sondern als ein konkretes politisches Geschehen mit einer besonderen Sensibilität für das gefähr- dete Leben. 29

Ein letztes Mal zurück zu Gramsci: Vor dem Hintergrund seines Verständnisses von Widerstand als Kritik ist für ihn der Zusammenhang von Widerstand und Bildung von zentraler Bedeutung. Bildung dient seiner Ansicht nach zu einem besseren Verständnis historisch-gesellschaftlicher Prozesse und schafft damit die Möglichkeit, deren historischen Bedingungen zu kritisieren. Dabei ist auch die Bildung immer schon Teil hegemonialer Strukturen – ein Spiegelbild der äuße- ren gesellschaftlichen Verhältnisse. Als Teil kultureller Hegemonien arbeiten Bil- dungsprozess und -institutionen mit an der kulturellen Mentalität und damit am gesellschaftlichen Konformismus.

Gleichzeitig ermöglicht Bildung aber auch Mündigkeit im Sinne eines kriti- schen Widerstandspotenzials. Die Basis dafür ist ein sehr basaler menschlicher Impuls, der darin besteht, dass jeder Mensch sich selbst bestimmen will, so Gram- sci. Menschen wollen nicht vorgegebene Hegemonie nur reproduzieren, sondern diese immer auch kritisch übersteigen. Das Ziel von Bildung sollte deswegen die Verarbeitung der vielfältigen Erfahrung von Sozialität genauso sein wie die kri- tische Durchdringung und Reflexion ihrer historischen Bedingungen. Dadurch werden Menschen befähigt, die Kontingenz ihres Schicksals in eine selbstbe- stimmte Gesetzmäßigkeit zu übersetzen. Dies nennt Gramsci Autonomie.

Auch Butler verweist in vielen ihrer Werke auf die Bedeutung von Bildung. Bildung als Gesellschaftskritik hat deshalb immer auch etwas Verwirrendes, was sie beispielsweise in ihren Werken zu Geschlechterverhältnissen herausarbeitet. 30 Dabei betont sie, dass jede Form von Kritik immer auch ein kollektives und kör- perliches Geschehen ist. Indem Menschen auf die Straße gehen, sich persönli- chen Risiken aussetzen und öffentlich Ausgeschlossene hörbar machen, bekommt Gesellschaftskritik erst ihre widerständige Dimension. Menschen stellen sich im wahrsten Sinne des Wortes entgegen. Widerstand wird durch körperliche Prä- senz öffentlich und wirkt dadurch transformativ. Jede Widerstandsform ist dabei allerdings immer nur ein Ausschnitt und kann immer auch ambivalente Züge an- nehmen, wie Butlers Ansicht nach der Arabische Frühling zeigt. 31 Deswegen gilt es immer wieder neu, auch die Widerstandspraxis der Kritik zu unterziehen. Der normative Fokus auf das Gefährdet-Sein erweist sich auch in dieser Hinsicht als zentral.

3 Fazit: Fünf Merkmale einer Philosophie des Widerstands

Die vorangegangenen Überlegungen haben sowohl gezeigt, wie sich der Wider- stand philosophisch von anderen Phänomenen begrifflich unterscheiden lässt, als auch rekonstruiert, wie mit Gramsci und Butler Widerstand gefasst werden kann. Vor diesem Hintergrund sollen einige zentrale Überlegungen noch einmal zu- sammengefasst werden, um damit grundlegende Merkmale einer Philosophie des Widerstands benennen zu können.

(a) Als erstes ist es, mit Gramsci und Butler gesprochen, wichtig, ein angemes- senes Verständnis des Sozialen zu gewinnen, um das Phänomen des Widerstandes denken zu können Das Soziale ist dabei weder eine Ansammlung von Individuen noch eine homogene Einheit, sondern ein relationales dynamisches Geschehen. Relationalität ist grundlegend für das, was Menschen ausmacht und woraus sich auch erst normative Ansprüche begründen. Relationalität gilt es dabei immer auch global und zeitlich zu denken, z. B. als Verbundenheit mit zukünftigen Ge- nerationen. Diese Relationalität ist in der liberalen Logik des methodischen Indi- vidualismus nicht zu fassen, auch aufgrund der epistemologischen Implikationen dieses universal ausgerichteten Konzepts. Stattdessen votieren Philosoph*innen wie Butler für die Anerkennung von Erkenntnisgrenzen als Ausdruck von Huma- nität und für politische Kreativität jenseits eines methodischen Individualismus.

(b) Zweitens machen sowohl Gramsci als auch Butler darauf aufmerksam, dass sich im Sozialen immer wieder hegemoniale Strukturen herausbilden, die es zu kritisieren gilt. Gramsci fasst dabei den Begriff enger und fokussiert ihn auf seine ökonomische Dimension. Im Sinne David Graebers hat sich – mit Gramsci ge- sprochen – die Effektivität neoliberaler Hegemonien in den vergangenen Jahren noch einmal erhöht, was gleichzeitig mit einer Entpolitisierung der Gesellschaft einhergeht. Gramsci hatte dies bereits in seinen Überlegungen zur ökonomischen Instrumentalisierung der Zivilgesellschaft angedeutet. Die kapitalistische Logik scheint heute vor diesem Hintergrund politisch alternativlos. Sie beschränkt die Vision von Autonomie auf Konsumismus. Genau dagegen sollte sich nach Gram- sci Widerstand richten. 32

Angesichts vielfältiger Diskurshegemonien erscheint ein ausschließlicher Fo- kus auf ökonomische Hegemonien jedoch zu kurz gegriffen, denn hegemoniale Strukturen kennen heute bei aller berechtigten Fokussierung auf ökonomische Verzerrungen vielfältige hegemoniale Prägungen. Auf diese Weitung kann insbe- sondere Butler aufmerksam machen. Gramsci und Butler sind sich jedoch einig, dass Philosophie primär ein Modus der Kritik ist im Sinne einer Rekonstruktion bestehender Kontexte und gleichzeitig eines Überstiegs über diese hinaus. Eine so verstandene Kritik ist das Fundament einer Philosophie des Widerstands, die eng mit dem Begriff der Bildung verbunden ist. Kritik meint dabei nicht nur trans- formierenden Protest, sondern zielt grundsätzlich auf diskursive Verschiebungen des Sozialen. Der normative Fokus einer so verstandenen Kritik kann dabei mit Butler als die Erfahrung des Gefährdet-Seins und der Verletzbarkeit interpretiert werden.

(c) Wer auf diesen theoretischen Grundlagen über Widerstand nachdenkt, plä- diert drittens für ein weites Verständnis des Politischen. Damit wird der demo- kratietheoretische Fokus im Vergleich zu Debatten über zivilen Ungehorsam ver- schoben. Es geht weniger um die Frage der institutionellen Einbindung oder des Verhältnis individueller Handlungen zum Recht. Sondern in einer so verstande- nen Philosophie des Widerstandes geht es um die Frage, wie der hegemoniale Dis- kurs durchbrochen, verschoben oder überwunden werden kann. Der Kontext für diese hegemonialen Stabilisierungen und Gegenhegemonien ist heute dabei meist die kapitalistische Prägung gegenwärtiger Gesellschaften – allerdings wie gezeigt nicht nur. Bei der Etablierung von Gegenhegemonien als Widerstandpraktiken geht es also nicht nur um eine Reform von Institutionen, sondern im Kern wie- derum um eine kritische Haltung. In radikaldemokratischer Sprache von Mouffe geht es um die Stärkung eines gesellschaftskritischen Widerstandspotenzials. 33 Diese Haltung gilt es ständig neu zu erlernen und zu erweitern.

Die dahinterliegende Intuition ist allerdings auch in den Konzepten des zivilen Ungehorsams impliziert. Hannah Arendt macht z. B. deutlich, dass demokrati- sche Institutionen wie Wahlen niemals einen umfassenden Konsens der Gesell- schaft herstellen können. Zudem kann der Geist von Gesetzen oder demokra- tischen Institutionen der Idee der Teilnahme aller Bürger*innen grundlegend entgegenlaufen. Deswegen gibt es für Arendt immer ein Recht auf Dissens, das sie bereits in der Betonung freiwilliger Vereinigungen bei Tocqueville grundgelegt sieht. Öffentlichkeit bzw. Zivilgesellschaft ist dann der Nukleus des zivilen Un- gehorsams, man könnte sagen: Basis des Widerstandes gegen Verzerrungen des demokratischen Systems. Im Sinne Gramscis geht es beim zivilen Ungehorsam verstanden als Widerstand allerdings nicht nur um das Infragestellen einzelner Gesetze, sondern eben um den Widerstand gegen politisch-ökonomische Hege- monien als Ganze. Damit zeigt sich noch einmal der in theoretischer Hinsicht wichtige Unterschied zwischen zivilem Ungehorsam und Widerstand.

Autor*innen in der Tradition Gramscis (wie beispielsweise Hardt und Negri) konzeptualisieren Widerstand als Kritik (der Multitude) am Kapitalismus und als eine Herstellung von Gegen-Öffentlichkeiten. Chantal Mouffe kritisiert daran zu Recht, dass damit politische Wirklichkeit jedoch zu sehr auf dem Bereich des Öko- nomischen begrenzt und Politik zudem auf ein technisch-operatives Verständnis reduziert wird. 34 Widerstand, und hier spiegeln sich deutlich Butlers Überlegun- gen wider, ist nur sinnvoll denkbar als Verwirrung von hegemonialen Strukturen, die sich quer durch alle Gesellschaften ziehen. Das Politische ist nur als ein plu- raler und dynamischer Streit zwischen Differenzen überzeugend konzeptualisier- bar. Widerstand ist kein Exodus; denn es gibt kein gelobtes Land. Widerstand ist ständig neu vollzogener politischer Streit im Modus der Kritik.

(d) Eine solche Philosophie des Widerstands impliziert viertens ganz offen- sichtlich ein Verständnis des Normativen, das sich beispielhaft am Nachdenken über den Demos festmacht. Mit der Frage nach dem Demos ist philosophisch nämlich immer die Nachfrage verbunden: wer gehört zum Demos? Butler ant- wortet im Sinne Gramscis: Demos ist die Stimme der Exkludierten. Genau darin zeigt sich der Fokus des Widerstandes auf das prekäre Leben. Der Demos ist dabei immer bezogen auf die Auseinandersetzung darüber, wer dazugehört. Im Sinne des Widerstandes ist dies eine unauflösbare Herausforderung.

(e) Fünftes gilt es immer wieder neu Wege zu suchen, wie ein widerständiges politisches Subjekt entsteht bzw. gestärkt werden kann – gerade in einer global vernetzten Welt. Auf diese Frage geben Philosoph*innen ganz unterschiedliche Antworten: Badiou hält den Aufstand gegen den Kapitalismus geleitet durch die Idee des Kommunismus’ für den sinnvollen Weg 35 , Slavoj Zizek plädiert dafür, dass die Staatsmacht erobert und radikal geändert werden kann 36 und Noah Chomsky plädiert für eine Vielfalt von Widerstandsformen, die notfalls auch Gewalt als Mittel einsetzen müssen. 37 Bei allen berechtigten Argumenten, die in diesen Vorschlägen stecken mögen, scheinen alle Ansätze jedoch stärker in eine Revolution münden zu wollen als die Idee des Widerstandes ernst zu nehmen. Im begrifflich-konzeptuellen Kontinuum zwischen Protest, zivilem Ungehorsam, Widerstand und Revolution verschieben die genannten Autor*innen damit die widerständige Praxis an ihr radikalisiertes Ende und setzen sich damit dem Ein- spruch Kants aus: wie lässt sich die subjektive Falle der Verabsolutierung von Ein- zelmeinungen damit umgehen?

Sicherlich richtig ist, dass in einem globalisierten Kontext „die Multitude [die] soziale Grundlage, der Demos, das politische Subjekt“ 38 ist. Die Multitude ist al- lerdings immer herausgefordert von der Negation zur Affirmation überzugehen, um Wandel – auch in einem widerständigen Sinne – zu ermöglichen. Costas Dou- zinas argumentiert deshalb vor dem Hintergrund der Ereignisse der vergangenen 15 Jahre in Griechenland einerseits für eine Strategie des Konflikts im Sinne einer performativen (und körperlichen) Präsenz als Widerstandspraxis, die hegemonia- le Strukturen grundlegend kritisiert. Andererseits sollte diese widerständige Pra- xis kein absolutes Gegenüber zum Staat, keinen zweiten Staat schaffen, sondern vielmehr die widerständige Praxis als Kern des Politischen verstehen. Douzinas plädiert deshalb für eine zweifache Strategie, die „gesellschaftliche Mobilisierung und parlamentarische Präsenz, direkte und repräsentative Demokratie gegen den und im Staat“ 39 verbindet. Im Sinne Jacques Derridas geht es um eine ständig neue Öffnung des Politischen, die allerdings immer auch innerhalb der Institutionen ihren Widerstand umzusetzen versucht. Erst in dieser doppelten Ausrichtung kann Widerstand wirklich wirkmächtig werden.

Literatur

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Franz-Josef Overbeck

Weiße Rose Ethik des Widerstandes – gestern und heute

1 Gewissensfrage

Die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus hat angesichts eines grausamen Krieges und eines entsetzlichen Völkermords an den europäischen Juden Men- schen in schwere Gewissenskonflikte gestürzt: Ist es richtig, den Gewaltherrscher, der auf unmenschlichste Weise regiert, zu töten, dabei aber gegen das sogenannte Tötungsverbot zu verstoßen? So die Frage. Nicht handeln und damit das eigene Gewissen stumm schalten? Oder doch Widerstand leisten, wenn eine Kollektiv- strafe die mögliche Folge ist?

Solche Fragen stellen sich Menschen immer wieder in Situationen, in denen sie politischer Gewaltherrschaft ausgesetzt sind. Ihre Zwangslage besteht in der Entscheidungsnot. Denn auf die eine oder andere Weise scheint ein Rechtsbruch unausweichlich: Gehorcht jemand dem Gesetz des Staates, bricht er ein anderes Gesetz – das Gebot Gottes, das der Menschlichkeit, das des Gewissens. Folgt einer jedoch seiner Gewissensstimme, verletzt er geltendes „Recht“ – und geht damit Risiken für Leib und Leben für sich und andere ein. 1

Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg – sein Name steht heute gleichsam synonym für den militärischen Widerstand gegen Adolf Hitler – beschreibt den Konflikt im Jahr 1944: „Es ist Zeit, dass jetzt etwas getan wird. Derjenige aller- dings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterlässt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem Gewissen.“ 2 Und weiter: „Ich könnte den Frauen und Kindern der Gefallenen nicht in die Augen sehen, wenn ich nicht alles täte, dieses sinnlose Menschenopfer zu verhindern.“ 3

Gibt es in einem Staat keinen oder kaum Raum für legale Opposition, kann Wi- derstand der einzige Ausweg sein. Je totalitärer der Staatsapparat ist, umso größer ist das einzugehende Risiko – für den Handelnden wie auch ggfs. für seine Fami- lie, Freunde und andere.

Denen, die Widerstand gegen das nationalsozialistische Terrorregime wagen, ist diese Gefahr bewusst. Sie sind bereit, das Risiko auf sich zu nehmen, um ihrem Gewissen und ihren Überzeugungen zu folgen. In der Abwägung zwischen dem Recht des Staates und der Stimme des Gewissens folgen sie ihren moralischen Prinzipien. Angesichts der Wahrnehmung von eklatantem Unrecht und Repres- sion empfinden sie es als unausweichlich, gegen das herrschende System vorzu- gehen.

Auch unter den Bedingungen des totalitären, auf Denunziantentum ausgerich- teten Unterdrückungssystems finden Männer und Frauen Möglichkeiten zu han- deln. Dabei gehen sie ganz unterschiedliche Wege des Widerstandes. Gemeinsam ist ihnen die Stoßrichtung gegen die bestehende Herrschaftsordnung und die Macht, die von ihr ausgeht. 4

Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Henning von Tresckow und weitere Of- fiziere aus der Wehrmacht entschließen sich zum Umsturzversuch, weil sie die Niederlage abwenden wollen. Ihren Entschluss befördert, dass sie von Kriegsver- brechen, Erschießungskommandos und Massentötungen an der Ostfront Kennt- nis hatten.

Eng arbeiten die militärischen Akteure mit zivilen Widerstandskreisen, allen voran dem um Friedrich Carl Goerdeler, zusammen. Mit Berthold Goerdeler ha- ben wir heute einen Nachfahren einer der bedeutsamsten Personen des zivilen Widerstands unter uns. Einige der Beteiligten – wie z. B. Stauffenberg – argumen- tierten für das Attentat und die Bildung einer Übergangsregierung, andere – wie etwa der katholische Zentrumspolitiker Eugen Bolz – für die Verhaftung Hitlers und einen rechtsstaatlichen Prozess.

Gefasst wird der Plan, am 20. Juli 1944 im Hauptquartier der Wehrmacht Wolfs- schanze im damaligen Ostpreußen eine Bombe zu zünden. Der Anschlag tötete mehrere Menschen, nicht aber Hitler. Tausende Regimegegner wurden in den Ta- gen danach durch die Gestapo festgenommen, Hunderte, auch Stauffenberg und Goerdeler, hingerichtet.

Beim militärischen Widerstand handelt es sich – gemäß einer klassischen Ty- pologie von Widerstand in der politischen Ethik – um aktiven Widerstand: Die Offiziere entschließen sich zum Einsatz von Gewalt – in diesem Fall in seiner ex- tremen Form, der Tötung des Diktators. 5 Anschließend wollen sie die wichtigs- ten Posten im Staat neu besetzen, handeln demnach gleichsam „von oben“. Auch wenn der Umsturz nicht gelingt, wird ihr Kampf heute dahingehend gedeutet, dass ein anderes Deutschland für möglich gehalten wurde und Menschen sogar bereit waren, für diese Option ihr Leben einzusetzen. 6

2 Die Aktionen der Weißen Rose

Diesen Glauben an eine andere Zukunft haben auch die Mitglieder der Wider- standsgruppe Weiße Rose. Es sind Studentinnen und Studenten der Ludwig-Ma- ximilians-Universität: die Geschwister Sophie Scholl und Hans Scholl, die Freun- de Alexander Schmorell und Willi Graf, ihr Mentor Professor Kurt Huber und weitere Unterstützer. Eine letzte Überlebende, Traute Lafrenz, wurde im Mai 100 Jahre alt.

Von ihren regimekritischen Aktionen sind die Flugblätter sicher die bekann- testen. Zwischen Juni 1942 und Februar 1943 verfassen sie sechs unterschied- liche Schriften, um ihre Mitmenschen aufzurütteln. Obwohl ihnen – anders als uns heute – keinerlei soziale Netzwerke zur Verfügung stehen, finden sie Mittel und Wege, ihre Botschaft zu verbreiten. Dafür vervielfältigen sie ihre Entwürfe und verteilen sie im Lichthof der Universität oder verschicken sie an Schriftsteller, Professoren, Buchhändler, Freunde und Studienkollegen. Aber auch mit Teerfarbe machen sie ihren Appell publik: „Nieder mit Hitler“ und „Freiheit“, schreiben sie an Hauswände und das Universitätsgebäude.

In ihren Flugblättern weisen sie das Bürgertum auf seine staatspolitischen Pflichten hin: „Leistet passiven Widerstand – Widerstand – wo immer ihr auch seid“ 7 , heißt die Forderung im ersten Flugblatt. Denn, so die Verfasser: „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwor- tungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique ‚regieren‘ zu lassen.“ 8 Genau diesen Widerstand sind die Mitglieder der Weißen Rose bereit zu leisten, allen Gefahren zum Trotz. Ihren Mitbürgern geben sie Anweisungen zur Sabota- ge für alle Bereiche des öffentlichen und politischen Lebens weiter. So im dritten Flugblatt: „Wir haben keine reiche Auswahl an solchen Mitteln, nur ein einziges steht uns zur Verfügung – der passive Widerstand.“ 9 Dazu fordert die Weiße Rose an gleicher Stelle alle Menschen auf – von den Arbeitern in den Rüstungsbetrie- ben bis zu den Journalisten in den Zeitungsredaktionen.

Das Vorgehen der Weißen Rose war damit eindeutig ein Handeln „von un- ten“. Nach seiner Verhaftung durch die Gestapo sagt Alexander Schmorell aus, dass sich die Gruppe mit den Flugblättern und Inschriften hauptsächlich an die Masse des Volkes wenden wollte. 10 Indem sie die Bürger informiert, plant sie, alle Deutschen zum widerständigen Handeln zu ermutigen. Wer still Unrecht ertrage, anstatt es zu bekämpfen, trage Mitschuld. „Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen; die Weiße Rose lässt Euch keine Ruhe!“ 11 , endet das vierte Flugblatt. Das Besondere am Widerstand der Weißen Rose liegt somit in dem Ziel, den Mitbürgern ihre moralische Verpflichtung zum Widerstand vor Augen zu führen.

In der Typologie der politischen Ethik ist dieser Widerstand schwer einzuord- nen. Er ist nicht aktiv im Sinne von Gewalteinsatz und nicht passiv im Sinne von Nichtkooperation. Der Sozialethiker Konrad Hilpert begreift die Weiße Rose als „zivilen Widerstand“ – als „gezielte Nadelstiche, die einzelne Bürger als Indivi- duen bzw. in einer Gruppe an empfindlichen Stellen setzen, um das System spü- ren zu lassen, dass es – seinem Anspruch zum Trotz – nicht alles unter Kontrolle hat“ 12 . Das Ziel besteht nach Hilpert darin, die Menschen zu bewegen und zu er- mutigen, ihre bisher gelebte Konformität mit dem System hinter sich zu lassen.

Auch für Hans Scholl und seine Gefährten sind die Fronterfahrungen prä- gend. Hans Scholl studiert in München Medizin. Im Zuge dessen wird er erst als Sanitäter an der Front in Frankreich eingesetzt, dann mit seinen Freunden Willi Graf und Alexander Schmorell zur „Front-Famulatur“ nach Russland abkom- mandiert. Er ist dort Sanitätsfeldwebel auf einem Hauptverbandsplatz, pflegte zugleich auch Kontakte mit der Bevölkerung vor Ort. Dabei hilft der Weiße-Ro- se-Freund und Kamerad Alexander Schmorell, der aus Russland stammte und Russisch sprach. So machen die Sanitätssoldaten ihre Erfahrungen mit dem Vernichtungskrieg und der Besatzungspolitik der Wehrmacht. Sie erleben den Krieg als menschenverachtend und wollen ihm schnellstmöglich ein Ende be- reiten. 13

3 Widerstand – Haltung und Handlung

Stauffenberg und die Attentäter des 20. Juli 1944, Hans und Sophie Scholl und die Weiße Rose – dies sind sehr unterschiedliche Formen von Widerstand. Es gäbe weitere Geschichten von Widerständigen – ohne den Mythos zu nähren, eigent- lich wären alle gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime gewesen. Was ha- ben ihre Handlungen im Kern gemeinsam?

Etymologisch deutet der Begriff „Widerstand“ auf die Bewahrung eines Stand- punkts hin, auf eine Form der charakterlichen Haltung oder der Tugend, auf ein Sich-entgegenstellen gegen etwas, das als Unrecht und Übermacht wahrgenom- men wird. Unser Sprachgebrauch verdeutlicht aber zugleich seine gesellschaftli- che Dimension, denn Widerstand wird nicht gemacht, Widerstand wird geleistet, so wie Hilfe, Beistand oder Dienst. Das zeigt die Größe und die Tragweite, die mit dieser Haltung verbunden ist.

Per definitionem bezeichnet Widerstand – ich greife hier auf den Politikwissen- schaftler Christopher Daase zurück – „soziales Handeln, das gegen eine als ille- gitim wahrgenommene Herrschaftsordnung oder Machtausübung gerichtet ist“. 14 Stauffenberg und seine Mitstreiter, die Geschwister Scholl und ihre Unterstützer eint diese Wahrnehmung des Unrechts. Insbesondere durch die Fronterfahrung wird der verbrecherische Charakter der politischen Führung für sie unüberseh- bar. Es gilt, die gute, von den nationalsozialistischen Machthabern pervertierte Ordnung wiederherzustellen, unabhängig von ihren konkreten politischen Aus- prägungen. 15 Politischer Widerstand wird da notwendig, wo für Opposition kein Raum mehr ist, weil sich die Herrschenden in ihrer Machtausübung nicht an Recht binden. Dann ist Widerstand zulässig, wenn nicht sogar geboten.

4 Kriterien des Widerstandsrechts

In der Geschichte des Widerstandsrechts haben sich folgende Prüfkriterien für dessen Legitimität herauskristallisiert: Es muss sich um einen Akt sozialer Not- wehr gegenüber einer verbrecherischen Obrigkeit handeln. Das ist dann anzu- nehmen, wenn die Staatsmacht fundamentale Grund- und Menschenrechte un- geschützt lässt. Widerstand kommt nur in Betracht, wenn alle friedlichen und legalen Mittel ausgeschöpft sind. Um Widerstand Legitimität zu verleihen, muss außerdem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein. Notwendig ist, dass es begründete Aussicht auf ein Gelingen gibt. Und schließlich: Widerstand darf nur um des Rechts willen geleistet werden, nicht zugunsten persönlicher In- teressen. 16 Folglich ist es inakzeptabel, wenn aktuell mehr oder weniger radikale Gruppierungen, mehrheitlich von rechts, den Begriff Widerstand und ihr Recht darauf für sich beanspruchen.

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5 Übergesetzliches Recht

Mit dem Konflikt zwischen dem positiven Recht und der Gerechtigkeit setzte sich auch der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch auseinander. Gemäß der nach ihm benannten „Radbruch’schen Formel“ beanspruchen positive Gesetze zwar grund- sätzlich Verbindlichkeit; sie müssen sich aber am Maßstab eines übergesetzlichen Rechts messen lassen. Man kann diese Richtschnur als Naturrecht, göttliches Recht oder Vernunftrecht bezeichnen. Als ein solcher Maßstab lässt sich eben- so die Menschenwürde, lassen sich die Menschenrechte zugrunde legen. Wider- spricht das gesetzte Recht der Gerechtigkeit in einer Weise, die unerträglich ist, muss das Gesetz der Gerechtigkeit weichen. Das Gesetz ist dann nicht nur „un- richtiges Recht“, sondern entbehrt überhaupt der Rechtsnatur. In diesem Sinne lässt sich dann natürlich auch der Widerstand gegen das verbrecherische national- sozialistische Regime als gerecht charakterisieren. 17

Das Grundgesetz billigt uns heute ein Recht auf Widerstand zu. Im Anschluss an die Verfassungsgrundsätze ist in Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes festgehalten: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deut- schen das Recht zum Widerstand.“ 18 Es geht dabei um Angriffe, die die grund- gesetzliche Ordnung als solche bedrohen, wie ein Militärputsch oder die Macht- übernahme einer politischen Gruppe. Auch dann wird dieses Recht erst gültig, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Der Staatsrechtler Josef Isensee definiert das Widerstandsrecht als „letztes Aufgebot zum Schutz der Verfassung“ 19 .

6 Gewissensbildung

Blickt man auf die Motivation aller genannten Akteure, so ist ein Begriff zen- tral mit dem Widerstand verbunden: das Gewissen bzw. die Stimme des Gewis- sens – oder die Gewissensentscheidung. „Ich habe gehandelt, wie ich aus einer inneren Stimme heraus handeln musste“ 20 , formuliert es Professor Kurt Huber, dem Kern der Weißen Rose zugehörig.

In der Gewissensstimme, in dieser inneren Stimme, ist für den Menschen ein unbedingter Sollens-Anspruch vernehmbar, über den Kardinal John Henry New- man schreibt: „Das Gewissen ist mehr als der Mensch selber. Der Mensch hat es nicht in der Gewalt oder nur mit äußerster Schwierigkeit. Er hat es nicht gemacht, er kann es nicht zerstören. Er kann es in besonderen Fällen und Hinsichten zum Schweigen bringen, er vermag seine Äußerungen zu verzerren, aber er vermag sich nicht von ihm frei zu machen. Er kann ungehorsam dagegen sein, er kann sich weigern, von ihm Gebrauch zu machen. Dennoch verbleibt es.“ 21

Für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ist das Gewissen die letzte Urteilsinstanz. Einen für ihr Gewissen unzumutbaren Befehl müssen sie nicht be- folgen. Er ist für die Soldatinnen und Soldaten unverbindlich. Damit wird aus dem Schicksal der Attentäter vom 20. Juli 1944 eine wesentliche Lehre gezogen.

Die prominente Stellung, die man dem Gewissen der Soldatinnen und Soldaten einräumt, geht allerdings einher mit der (lebenslangen) Pflicht zur Gewissens- bildung: Man muss sich nicht nur vor seinem Gewissen verantworten, sondern ist auch verantwortlich für sein Gewissen.

Dies verweist auf die hohe Relevanz von ethischer Bildung, von Charakterbil- dung in der Bundeswehr, wie auch in den Streitkräften weltweit. Oftmals geht eine Gewissensentscheidung mit der Bereitschaft einher, für diesen bedeutsamen Schritt Nachteile in Kauf zu nehmen. Wie viele Angehörige des militärischen Wi- derstands, so müssen auch die Mitglieder der Weißen Rose für ihren Weg mit dem Tod bezahlen, viele Unterstützer Haft und Folter erdulden. Insbesondere der Name Sophie Scholl steht heute für „lautere Gesinnung, mutiges Eintreten für die eigene Überzeugung unter größter Gefahr und für die Übernahme von Ver- antwortung“ 22 .

Die Rechnung der Nationalsozialisten, mit dem Todesurteil gegen die Mit- glieder der Weißen Rose auch die Erinnerung an ihre Mission auszulöschen, geht – wie wir nicht zuletzt an der heutigen Veranstaltung sehen – nicht auf.

Vielmehr erfüllt sich die Prophezeiung des Schriftstellers Thomas Mann in einer Radioansprache von 1943: „Brave, herrliche junge Leute. Ihr sollt nicht umsonst gestorben, sollt nicht vergessen sein.“ 23

7 Bleibende Fragen

Es bleibt immer wieder zu diskutieren, was von den Vorbildern des zivilen und militärischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus für die Gegen- wart – für unsere Haltung und ein Handeln zu lernen ist, das für den Schutz einer demokratischen Grundordnung und ihrer Prinzipien essenziell ist. Wie kann der Widerstand von damals heute motivieren, alarmierenden Entwicklungen welt- weit  –  wie den wachsenden Nationalismen, Egoismen oder populistischen und rechtsradikalen Stimmen – entgegenzutreten?

Und schließlich: Inwiefern müssen wir den Begriff des Widerstandes heute neu denken – in Zeiten von Globalisierung und von neuen, digitalen Formen der In- formationsgewinnung und -vermittlung? Was bedeutet dies z. B. für die Mobili- sierung von Widerstand? Fragen, die ein weites Feld öffnen und einer intensiven Diskussion würdig sind.

Literatur

Markus Vogt

Erinnerung im Dienst einer Ethik des Widerstands

Gedanken zur Veranstaltung „Weiße Rose. Ethik des Widerstands – gestern und heute“ am 15. Juli 2019 in München

Warum und wie sollen wir der Weißen Rose gedenken? Die Dokumentation hier- zu an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) heißt „DenkStätte“: Sie will nicht nur dem historischen Geschehen ein Andenken bewahren, sondern zum Denken anregen, zum Nachdenken darüber, wie wir uns heute in der stets neu ge- forderten Verteidigung von Freiheit und Gerechtigkeit verhalten. Sollen die Mit- glieder der Weißen Rose nicht umsonst gestorben sein, dann ist ihre Hinrichtung Auftrag zu einer Ethik des Widerstands.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die damalige Situation unter einer totalitären Herrschaft, in der Widerstand den todesmutigen Einsatz des eigenen Lebens for- derte, nicht mit der heutigen Situation in Deutschland als einem liberalen Rechts- staat gleichzusetzen ist. Erinnerung denken heißt auch, die unterschiedlichen Kontexte und Dimensionen im Blick behalten. Unter dieser Prämisse lassen sich jedoch auch heute zahlreiche Situationen entdecken, in denen es darauf ankommt, widerständig und mutig zu sein, statt angepasst mitzuschwimmen und sich weg- zuducken. Zivilcourage ist die kleine Münze des Widerstands. Ohne diese wird es auch im Großen keinen Widerstand gegen die je unterschiedlichen Formen von Intoleranz, Ausgrenzung und Ideologie geben. Kritische Zeitgenossenschaft, aufrichtiges Menschsein und Zivilcourage einzuüben ist eine fundamentale Bil- dungsaufgabe – so die Leitthese der Ringvorlesung „Bildung zum Widerstand“, deren Abschluss und Höhepunkt die Veranstaltung „Weiße Rose. Ethik des Wi- derstands – gestern und heute“ bildet.

„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ sagt der Talmud. Dem heb- räischen Konzept von Erinnern ( zakar ) eignet eine ursprüngliche Kraft, die die verschiedenen christlichen und säkularen Traditionen des Erinnerns bereichern

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kann: Erinnern ist demnach darauf ausgerichtet, möglichst genau zu verstehen, wodurch sich Schicksale entscheiden, wie Konflikte, Unglück und „Exil“ entstehen. Nur wer sich erinnert, ist fähig zu lernen und sich aus den oft lange nachwirkenden Verstrickungen zu befreien. Vor diesem Hintergrund sollten wir die Mitglieder der Weißen Rose in der Erinnerungskultur nicht einfach auf einen Sockel heben, so dass sie weit von uns entfernt sind, sondern sie in ihren spezifischen Handlungs- kontexten und Suchprozessen zu verstehen suchen. Nur dann werden sie zu Figu- ren, die auch für uns anschlussfähige Vorbilder sein können. In der katholischen Tradition der Selig- und Heiligsprechung werden die Geehrten nicht selten zu zeitenthobenen Idealgestalten, sodass die Verbindung zu Konflikterfahrungen des eigenen Alltags kaum anschaulich wird. Vielleicht könnte die Weiße Rose Anstoß sein, dass sich die verschiedenen Kulturen des Erinnerns wechselseitig bereichern. Die Tatsache, dass ihre Mitglieder den drei großen christlichen Konfessionen an- gehörten, ist Chance und Auftrag für eine ökumenische Erinnerungskultur.

Die Stärkung einer Tradition des Erinnerns als Auseinandersetzung mit den Licht- und Schattenseiten der eigenen Geschichte ist auch eine grundlegende Auf- gabe des Militärs in Deutschland. Die Tatsache, dass wir in Deutschland keine ungebrochene Militärgeschichte haben und die deutsche Bundeswehr in einem spannungsreichen Verhältnis zur Wehrmacht steht, ist Auftrag für eine Erinne- rungskultur ganz eigener Art.  Die besondere Distanz zu heroischem Nationa- lismus ermöglicht eine erhöhte Sensibilität gegenüber den Ambivalenzen der Macht, der Gewalt und der Siegermentalität. Dies kann heute in vielschichtigen Konflikten etwa in Afghanistan enorm hilfreich sein, insofern hier eine entschei- dende Erfahrung gerade darin liegt, dass militärische Stärke allein keineswegs hinreichend ist, um dauerhaft Frieden und Sicherheit zu gewährleisten. Aus der Sicht des christlichen Glaubens und des Paradigmas „Gerechter Friede“ scheint es notwendig, verstärkt Kompetenzen des Widerstands gegen ideologische Auf- rüstungen aller Art zu integrieren und auch zivilgesellschaftlich zu schulen. Für Denk- und Bildungsprozesse in diesem Feld sind kritische Auseinandersetzun- gen mit der eigenen Geschichte und das Erinnern des Widerstands unverzichtbar. Solche Ansätze können als ethische Bildung in den Streitkräften das Profil des deutschen Militärs maßgeblich befruchten.

Ethik des Widerstands ist ein anspruchsvolles Konzept. Der Widerstand wird erst dann zu einer Tugend, wenn er nicht einfach ein Mangel an Loyalität, Eid- Treue und Gehorsam ist, sondern aus der Tiefe einer Gewissensentscheidung

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kommt. Widerstand und Loyalität sind komplementär als sich wechselseitig er- gänzende Gegenpole zu denken, die beide ihre Berechtigung und Notwendigkeit haben. Erst im situationsspezifischen Ringen darum, welcher Aspekt jeweils Prio- rität hat, gewinnen sie ihre ethische Qualität.

Die Inanspruchnahme der Weißen Rose für eine pauschale Kritik des vermeint- lich verantwortungslosen Systems des gegenwärtigen Staates von Seiten der AfD (Ortsverband Schwerin im September 2018), deren Vertreter bei Demonstratio- nen das Symbol der Weißen Rose trugen und aus deren Flugblättern zitierten, ist ein schwerer Missbrauch.

Widerstand wird erst dann ethisch qualifiziert, wenn er durch die Verteidigung der Menschenrechte motiviert ist. Dies war bei den Geschwistern Scholl in sehr eindrucksvoller Weise in ihrem intensiven Ringen um die rechte Haltung zum Nationalsozialismus der Fall. Dabei spielte auch der christliche Glaube eine we- sentliche Rolle, nicht als fertige Antwort, sondern als Ort der Gewissensbildung und der Suche nach Orientierung und Unterscheidung. So sind die Geschwister Scholl beispielsweise in die Münchner Benediktinerabtei Sankt Bonifaz gegangen und haben sich vom dortigen Bibliothekar die moraltheologischen Erörterungen zur Bewertung des Tyrannenmordes zeigen lassen. Sie haben sich in Gesprächs- kreisen mit führenden Intellektuellen der Zeit auseinandergesetzt (insbesondere im Haus von Karl Muth, dem Gründer der katholischen Kulturzeitschrift „Hoch- land“), wobei christlich geprägte Literatur (z. B. Augustinus, Kierkegaard, Pascal, Newman, Guardini) eine zentrale Rolle spielte. Es geht nicht darum, sich mit der Erinnerung an die Weiße Rose zu schmücken, um sich kirchlicherseits als Teil des besseren Deutschlands zu fühlen, sondern darum, zu verstehen, welche Motive, Beziehungen und Denkwelten Quelle des Widerstands waren.

Die entscheidende Antwort auf das moralische Versagen im Nationalsozialis- mus hat das deutsche Grundgesetz 1949 formuliert. „Die Mütter und Väter des Grundgesetzes trugen – wenn man so will – dem letzten Willen Wilhelm Grafs Rechnung: weiterzutragen, was die Weiße Rose begonnen hatte. Die unverletz- liche Würde des Menschen als Grundlage einer neuen Rechtsordnung. Auf dieser Grundlage basiert unser Staat. Er bekennt sich in Art. 1 des Grundgesetzes zur unverletzlichen Würde des Menschen. Nicht die Volksgemeinschaft, sondern das Individuum ist der Referenzrahmen.“ (Heribert Prantl) Weil die Geschichte ein ständiger Verstoß gegen die eigenen Werte ist, sind wir unablässig aufgefordert, unser Handeln zu hinterfragen. „Jede Generation muss sich immer wieder neu darüber verständigen, wie die Wertordnung des Grundgesetzes mit Leben gefüllt werden kann.“ (Wolfgang Schäuble) Wer kann von sich sagen, dass er nicht häu- fig bloß Mitläufer ist und schweigt, wenn Unrecht geschieht? Jahrzehnte haben wir in der Katholischen Kirche weggeschaut angesichts des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen, der weltweit geschah und geschieht. Es geht auch darum, das Versagen als systemisches Problem zu begreifen. Das gilt für viele Be- reiche und stellt neue, komplexe Fragen der Definition von Verantwortung und der Organisation von Rechenschaftspflichten.

Eine zentrale Herausforderung des moralischen Versagens der gegenwärtigen Generation ist der Klimaschutz: Die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln ist hier unübersehbar. Wir alle sind Teil einer Lebens- und Wirtschaftsform, von der wir wissen, dass sie die Lebenschancen von Millionen von Menschen mas- siv beeinträchtigt – heute und in noch viel größerem Umfang in der Zukunft. Es sind in der Gegenwart erstaunlicherweise junge Frauen (wie Sophie Scholl), die zu Symbolfiguren des Widerstands geworden sind: Greta Thunberg angesichts der mangelnden Verantwortung im Klimaschutz, Carola Rackete und Pia Klemp im Widerstand gegen das inhumane Wegsehen, wenn tausende von Migrant*innen im Mittelmeer ertrinken, weil sich Europa nicht auf eine faire Solidarität im Um- gang mit Flüchtlingen einigen kann. Die Zivilcourage dieser jungen Frauen ist bewundernswert. Gleichwohl sollte man die Unterschiede der historischen Kon- texte nicht übersehen. Widerstand braucht auch Räume differenzierter ethischer Urteilsbildung.

Die Flugblätter der Weißen Rose bieten prägnante Reflexionen, die zeitüber- greifend relevant sind und deren ethischer Gehalt je neu in die Gegenwart zu übersetzen ist. In ihnen stehen Worte, „die vieles gutmachen, was in gewissen un- seligen Jahren an deutschen Universitäten gesündigt worden ist“ (Thomas Mann). Zugleich sprechen sie von einem tiefen Versagen der Eliten, denen eine Schlüssel- stellung für die Ermöglichung von Verantwortung des Volkes zukomme. Dies hat die Aufführung der Oper „Weiße Rose“ von Udo Zimmermann in der Schlusssze- ne eindringlich hervorgehoben. Universitäten sollten nicht nur Exzellenz in der akademischen Selbstdarstellung produzieren, sondern Verantwortungseliten her- anbilden, die ihr Wissen in den Dienst der Gesellschaft stellen und ihre besondere Freiheit auch als Raum der Charakterbildung, der Verdichtung des Einzelwissens zu Orientierung und der Einübung von Verantwortung nutzen.

Autor*innenverzeichnis

Helmut Danner Dr. Helmut Danner, promoviert in Philosophie und habilitiert in Pädagogik, ist im Ruhestand nach Lehrtätigkeiten an Universitäten in München, Trier, Edmon- ton (Kanada) sowie Augsburg und nach 19 Jahren politischer Erwachsenenbil- dung in Ägypten, Kenia und Uganda. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Theorie der Bildung, Hermeneutik und Interkulturalität. Berthold Goerdeler

Berthold Goerdeler ist Rechtsanwalt, Steuerberater und Partner i.  R. der KPMG-Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Er ist auch Logotherapeut (Viktor Frankl) und zertifiziert in „Ethik“ an der Hochschule für Philosophie, München. Er arbeitet in vielen gemeinnützigen Stiftungen, z. B. in der Stiftung 20. Juli 1944, Berlin, mit und ist Vorstand der Stiftung Logos und Ethos, München. Kernpunkt seiner derzeitigen Arbeiten ist der zivile Widerstand. Veronika Hilzensauer

Veronika Hilzensauer (M.A.) ist Promovendin an der Hochschule für Philosophie München und arbeitet zu den Konzepten ‚Widerstand‘ und ‚politisches Handeln‘ bei Adorno und Arendt aus sozialphilosophischer Sicht. Sie studierte Philosophie und Soziale Arbeit in München und Manila.

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Dr. phil., Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut. Jürgen Mül- ler-Hohagen hat seit den 80er Jahren in psychotherapeutischer und beratender Arbeit seelische Nachwirkungen der NS-Zeit erforscht und darüber veröffentlicht. Er ist wohnhaft in Dachau und dort seit 2017 Vize-Präsident der Lagergemein- schaft Dachau, die von ehemaligen Häftlingen des KZ gegründet wurde. Näheres: www.dachau-institut.de Karin Hutflötz

Dr.  phil. Karin Hutflötz ist Gastprofessorin an der Akademie der Bildenden Künste in München für „Mensch und Bildung im Dispositiv des Digitalen“ und Habilitandin an der KU Eichstätt. Sie forscht und lehrt zu Bildungsphilosophie und Phänomenologie des Selbstwerdens, zu Persönlichkeitsbildung und Werte- bildung, zur Rolle von Kunst und Philosophie in Bildung. Klaus Mertes SJ

Klaus Mertes SJ ist Direktor am Kolleg St. Blasien und Mitglied der Jesuitenzeit- schrift „Stimmen der Zeit“. Er publiziert zu bildungspolitischen, religionspädago- gischen sowie aktuellen kirchlichen und theologischen Themen. Wolfgang Neuser

Dr. phil. Wolfgang Neuser, MBA, ist evangelischer Pfarrer und war Generalsekre- tär des CVJM-Gesamtverbandes in Deutschland sowie Professor für Religions- und Gemeindepädagogik und Rektor der CVJM-Hochschule Kassel. Er arbeitet zu theologisch, religionsphänomenologisch und philosophisch relevanten The- men wie Spiritualität und Wahrheit.

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Franz-Josef Overbeck

Dr. theol. Franz-Josef Overbeck wurde im September 2017 zum Bischof geweiht und war Weihbischof in Münster. Seit Oktober 2009 ist er Bischof von Essen und seit Februar 2011 Katholischer Militärbischof für die Deutsche Bundeswehr. 2010 erfolgte die Ernennung zum Vorsitzenden der Unterkommission für Kontakte mit Lateinamerika (insbesondere ADVENIAT) und durch Papst Benedikt  XVI. die Berufung in die Päpstliche Kommission für Lateinamerika. Im März 2014 wur- de er Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz und Papst Franziskus ernannte ihn zum Mitglied des Päpstlichen Rates für die Kultur. Seit Februar 2018 ist er Delegierter der deut- schen Bischöfe in der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Union (COMECE) und wurde Vizepräsident. Michael Reder

Dr. phil. Michael Reder ist Professor für Praktische Philosophie (mit dem Schwer- punkt Völkerverständigung) an der Hochschule für Philosophie München und Leiter des dortigen Instituts für Ethik und Sozialphilosophie. Er studierte Philo- sophie, kathol. Theologie und Volkswirtschaftslehre in München, Tübingen und Fribourg/ Ch. Seine Forschungsschwerpunkte sind aktuell Grundlagen der Sozial- philosophie, Begründungsnarrative von Normativität jenseits traditioneller Gren- zen, politische Philosophie im globalen Kontext, Demokratietheorie und Umwelt- ethik (mit Fokus auf zukünftige Generationen). Juliane Beate Sagebiel

Dr. phil. Juliane Beate Sagebiel, Dipl.-Päd., Dipl. Soz.-Päd. (FH), ist Professorin für Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule München, Fakultät für angewand- te Sozialwissenschaften und stellvertretende Frauenbeauftragte der Hochschule. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Geschichte und Theorien der Sozialen Arbeit, Sozialarbeitswissenschaft, Systemtheorien, Machttheorien, Internationalisierung Sozialer Arbeit (Rumänien, Vietnam).

Dr. phil. Barbara Schellhammer ist Professorin für Intercultural Social Transfor- mation an der Hochschule für Philosophie, München und Diplom-Sozialpädago- gin. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Kulturphilosophie, Inter- kulturelle Philosophie, Personale Identität, Phänomenologie des Fremden, Native American Philosophy, Friedensbildung und Konflikttransformation. Ulrich Schlie

Historiker, Ministerialdirektor a. D., von 2005 bis 2014 Leiter Planungsstab und Politischer Direktor im Bundesministerium der Verteidigung, Berlin; seit 2015 In- haber des Lehrstuhls für Diplomatie II an der Andrássy Universität Budapest, ab 1. April 2020 Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn, Professor of Practice; zahlreiche Veröffentlichungen zur europäischen Geschichte, zu Strategie und Sicherheitspolitik. Lena Schützle

Lena Schützle (M. A.) ist Projektkoordinatorin am Zentrum für Globale Fragen der Hochschule für Philosophie München (HFPH) und arbeitet freiberuflich als Referentin für Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) sowie als Prozess- begleiterin. Nach ihrem B. S. in Maschinenwesen folgte die Weiterbildung Um- weltbildung und BNE (Umweltbildung Bayern) und das Studium Interkulturelle Bildung an der HFPH; Titel der Masterarbeit „Mitgefühl und Achtsamkeit – He- rausforderungen und Chancen für Lehrer*innen“. Peter Theiner

Dr. phil. Peter Theiner ist Historiker, war Wissenschaftlicher Assistent für Neuere Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Leiter Unternehmens- kommunikation der Carl Duisberg Gesellschaft, Programmdirektor der Deut- schen Management Akademie Niedersachsen, Bereichsdirektor Völkerverstän- digung der Robert Bosch Stiftung. Seit 2008 ist er Lehrbeauftragter für Neuere Geschichte an der Universität Stuttgart. Gegenwärtig forscht er zum Widerstand gegen das NS-Regime. Markus Vogt

Dr. theol. MA phil. Markus Vogt ist Ordinarius für Christliche Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität Mün- chen; seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind theologische Grundlagen der Ethik sowie Umweltethik, Friedensethik und Gerechtigkeitsfragen. Patrick Zoll SJ

Dr. phil. Patrick Zoll SJ ist Dozent für Metaphysik und Politische Philosophie an der Hochschule für Philosophie, München. Im Bereich der Politischen Philoso- phie liegt sein Schwerpunkt auf gegenwärtigen Theorien des Liberalismus und Perfektionismus und insbesondere der Frage, inwieweit perfektionistische Grün- de eine Rolle in der öffentlichen Rechtfertigung politischer Maßnahmen spielen dürfen. Derzeit arbeitet er an der Fertigstellung seiner Habilitation, in der eine thomistische Seinsmetaphysik mit gegenwärtigen Theorien der Existenz ins Ge- spräch gebracht wird.