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: Der aufeinander einspielende Takt

Der aufeinander einspielende Takt

Hüter leiblicher Würde

Inhalt

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Vorspiel

Eine Gruppe von Sportstudierenden ist in der Seminarpause inmitten einer Plau-derei über alltägliche universitäre Angelegenheiten, als sich eine deutlich durchtrai-nierte, sonnengebräunte Studentin unvermittelt einer eher schmächtigen, blassen Kommilitonin mit der Frage zuwendet: „Kannst du mir mal erklären, wieso jemand wie du Sport studiert?“

Da fällt aus heiterem Himmel eine Frage in den Raum, und von einem Moment auf den anderen trübt sich die zwischenmenschliche Lage ein. Wo gerade noch un-gezwungen miteinander geplaudert wurde, da herrscht jetzt eine spannungsgelade-ne Pause. Die Angesprochene erstarrt, senkt still den Blick zu Boden, die Fragende wendet sich schulterzuckend ab. Manche aus der Gruppe schütteln den Kopf oder schneiden Grimassen, andere bleiben regungslos. Niemand spricht. Befangenheit kommt auf. Die Gruppe strebt auseinander, als sich eine Kommilitonin zu der Ge-troffenen stellt. Sie fängt die Frage auf, macht sie zu ihrer eigenen, und wirft sie zurück in die Gruppe. Es gelingt ihr, an den Plauderton anzuknüpfen und die Lage etwas zu entspannen.1 Der gelegentliche Takt

Der moderne zwischenmenschliche Verkehr ist voller Vorfälle. Niemand weiß vor und oft noch inmitten einer Umgangslage genau zu sagen, wie diese verlaufen, die gemeinsame Angelegenheit sich entwickeln wird. Keiner aus der Gruppe der Stu-dierenden kennt den exakten Ablauf der zusammen bespielten Lage. Sie verkehren dort miteinander ohne allgemeine Wegleitung, weshalb sie negativ wie positiv von-einander überrascht werden, sich ungünstige wie „günstige Gelegenheiten“2 für sie und füreinander ergeben können. Mit dem Unberechenbaren rechnend, stehen sie zugleich vor der Frage, wie sich damit in konkreten Umgangslagen rechnen lässt: Wie können sie „auf vermintem Gelände“3 noch zusammenkommen, ohne zusam-menzustoßen? Der zweite Teil der Frage ist rasch beantwortet: Sie halten Abstand, rücken einander nicht auf den Leib. Bei Grenzverstößen verweisen sie auf ihre per-sonale Zone, weisen den anderen in seine Umgangsschranken oder umgehen weit-räumig mögliche Kollisionsgefahren, indem sie im Umgang Klartext vermeiden, ihre ungefilterten Wahrheiten anderen gar nicht erst zumuten. So kann verborgen bleiben, was sie denken, während sie freundlich lächeln.4 Hätte also die schlagfer-tige Sportstudentin ihre nackte Wahrheit sprachlich nett eingekleidet, dann wäre ihre Kommilitonin nicht erschüttert zurückgeblieben. Aber so leicht ist die Antwort nicht zu haben. Da der moderne Alltag über Vieles vermittelte, vielfältige und be-wegliche Grenzen kennt, erscheinen den Beteiligten die Zusammenstöße, Verstöße und Anstößigkeiten je nach individuellen, kulturellen, kontextuellen Hintergrün-den mehr oder weniger bis gar nicht als solche. Zudem zeigen sich ihnen zwischen-menschliche Krisengebiete oft erst dann, wenn sie bereits mittendrin sind. Fügt man den ersten Teil der Frage dazu, wird es noch schwieriger, da mögliche Anschlüsse an Gemeinsames nicht selten opak bleiben. Aber immerhin sind dem Umgangs-leben für derartige Anlässe überbrückende Praktiken verfügbar, locker bindende Formen, Regeln, Rituale der Verständigung, Floskeln der Höflichkeit, liebenswür-dige Phrasen, freundliche Redensarten, diplomatische Gesten, mit denen sie sich aneinander still und sachübergreifend binden, füreinander verbindlich machen.

Aber was passiert in undurchsichtigen Lagen, in denen solche Hilfen gerade nicht zugänglich sind, nirgends ein stiller Pakt in Sicht ist? Wie verlaufen Um-gänge, in denen die Umgangsformen deutlich voneinander abweichen: die einen dort Zurückhaltung erwarten, wo andere leidenschaftliche Nähe kennen, das Munter-drauflos-Plappern des einen zum beschämten Schweigen des anderen führt oder eine stille Geste Gleichgültigkeit und menschliche Kälte vermittelt, so dass der Umgangsnebel dicht und das Ungefähre bestimmend bleibt? Was wird aus schon belasteten Verhältnissen, in denen Fachleute schlechte Nachrichten in fachlichem Ton überbringen oder leidenschaftliche Empathie verbreiten, wo Betroffene ein dem Moment geschuldetes mitmenschliches Verständnis erwar-ten? Wie verlaufen Kontakte, welche „Anredeszenen“5 laufen zwischen Eltern und Kindern, Paaren, Lehrpersonen und Lernenden, Betreuern und Betreuten, Trainern und Trainierenden, Kranken und medizinisch-pflegerischem Personal, wenn dort ein Machtgefälle herrscht, das aus Gründen der Ökonomie, des Eigen-nutzes, der Unbedachtheit gehalten wird? Was geschieht im Miteinander, wenn für das konkret Vorfallende, das Geschehnis als das Unberechenbare, mit dem immer und überall zu rechnen ist, gemeinsame Umgangsspielräume zugunsten von einsamen Kampfplätzen gesperrt werden? Wer im zwischenmenschlichen Nebel wild herumstochert oder sein Bewegen einstellt, anstatt sich auf Sicht da-rin umher zu bewegen, hat gute Chancen, mit Worten und Taten voll daneben zu treffen, so dass die davon Getroffenen leicht irritiert bis entgeistert zurück-bleiben, erschrecken, erstarren, verstummen, erbleichen oder erröten, mimisch entgleiten, sich angegriffen, gekränkt, brüskiert, verletzt bis entwürdigt fühlen. An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an, um sich mit dem Takt einer Umgangspraxis zu widmen, die in einer besonderen Beziehung zu den konven-tionellen Umgangspraktiken zu stehen scheint, nämlich an sie gebunden zu sein, aber nicht fest, und von ihnen frei zu sein, aber nicht ganz. Für diesen gebun-den-freien Takt wird hier positiv angenommen, dass sich einander begegnende Menschen in allgegenwärtige Tretminengefahren begeben können, ohne sich vor allem Auftreten über abrufbereite Umgangsantworten ausweichen zu müs-sen: Wie die Kommilitonin, die den plötzlichen kommunikativen Schlag für die Getroffene mit übernommen, sie damit entlastet und darüber für ein weiteres Miteinander gesorgt hat. Mit Takt können in der und für die Umgangslage „ge-spannte Stimmungen verhandelbar“6 werden, insofern sich die Menschen darin voneinander bewegen und berühren lassen, um einander dort zu treffen und zu einem gemeinsam geteilten Umgangssinn zu kommen. Damit ist schon mal gesagt, dass der Takt eine Praxis unter Mitmenschen ist, der „eine körperlich-leibliche und eine soziale Seite“7 hat, worüber sie sich aufeinander einspielen, indem sie nicht sich oder den anderen, vielmehr einander schonen, aber auch ermöglichen. So soll es sein: mit dem aufeinander einspielenden Takt für situativ umgänglich werdende Umgangsverläufe, ein würdiges und einander würdigen-des Miteinander, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Vorarbeiten, Aufbau, Vorgehen

Der vorliegende Text schließt an eigene Vorarbeiten zum Takt an,8 in denen seine ungern gesehene bis abgewiesene Verwandtschaft zur Taktik aufgenommen und gestärkt wurde. Der Weg dort war, das von Michel de Certeau in der „Kunst des Handelns9 vorgestellte Taktieren, als eine die Gesellschaftsordnungen traktierende Alltagspraxis, mit dem, über tadelloses Verhalten im öffentlichen Leben wachen-den, Takt zu konfrontieren, wie er bei Helmuth Plessner in den „Grenzen der Ge-meinschaft“10 herausgelesen werden kann. Dabei herausgekommen ist ein Takt, der mit den vorliegenden Umgangsordnungen spielt, anstatt sie einzuhalten. Die Probleme für die Praxis liegen mit einem Takt, der sich nicht festlegen lässt, auf der Hand, weshalb die Arbeit auf theoretischem Boden geblieben ist und sich mit Arbeiten über ihn beschäftigt hat: Die bei den ausgewählten Takt-Interpreten ent-deckten Schreib- und Lektüretaktiken wurden aufgedeckt und für einen reflexiven, taktierenden oder auch taktisch weisen Takt produktiv gemacht, der erstmal nichts weiter zu tun hat, als sich in den jeweils vorliegenden Ordnungen gut auszukennen und darin gelegentlich kommunikative Brücken zu schlagen, auf dass des Geistes Spannung sich erhält, das Denken und Bedenken nicht zur Ruhe kommt. Seither sind Jahre vergangen, in denen das theoretische Interesse am Takt stark gestiegen ist, wovon die vorliegende Arbeit entsprechend profitiert hat. In ihrem Fokus liegen jetzt noch einmal Anliegen an den Takt, die sich vom leibhaftigen Leben her für ihn ergeben, aus den bis unter die Haut gehenden zwischenmenschlichen Verkehrs-lagen im „Reich der Alltäglichkeit, der wertäquivalenten Situationen“,11 also dort, wo es bei aller vorliegender Umgangsordnung, allgemein zugänglichen Regeln, Ri-tualen, Konventionen im Umgang nicht voll versichert zugeht, untereinander im-mer auch unwägbar bleibt.12

Das erste Kapitel (I) beginnt mit der Lektüre von Plessners „Hygiene des Takts“,13unter Berücksichtigung seines Entwurfs zur Exzentrizität des Menschen, um dar-aufhin den zwischen bestimmender Ordnung und unbestimmtem Leben verlaufen-den begrifflichen Wegen des Takts nachzugehen. Die dort herausgelesenen Unstim-migkeiten werden in exemplarischen Takt-Betrachtungen14 etwas nachgezeichnet und anhand ausgewählter Mystifikationen mit der Frage nach einem radikalen oder medialen Takt ausgeführt. Um den vom modernen Leben herkommenden Blick mit Leben zu füllen, geht das zweite Kapitel (II) weiter in die Alltäglichkeit, ins Reich „lauter einzelner Fälle“,15 um sich über drei Fallbeschreibungen der häufig sichtbar bei Umgangsleuten ankommenden, unangenehm bis schmerzhaft berührenden, Taktlosigkeit zu nähern. Will der Anfang auf einen Takt aufmerksam machen, der die Ordnung füreinander lebendig hält, so soll in der Mitte ein differenziertes Ver-ständnis des Taktlosen und darüber eine erweiterte Praxis des Takts entstehen. Das dritte Kapitel (III) schließlich nimmt den um die Taktlosigkeit gestreckten taktisch weisen Takt, um ihn über seinen Sinn für Berührung als „Leitfaden der leiblichen Würde“16 weiterzuführen und auf einen gesichtswahrenden Takt zu kommen, der konkret kontaktierende und darüber Gemeinsamkeiten bildende Wege schafft. Zum Ende wird das Hygieneanliegen als das situativ füreinander Hilfreiche und Heilsame des Takts noch einmal aufgegriffen, dabei konzentriert auf die zu erhal-tende geistige Spannung durch das Bewegliche wie wechselseitig Berührbare im Verkehrsleben: mit Takt gegen bloß eigensinnig betriebene Reibungslosigkeiten, für Umgänge, in denen sich die Menschen nicht umgehen, vielmehr fallweise aneinan-der reiben. Hierfür geht die Arbeit gelegentlich mit Polaritäten ins spannungserhal-tende Spiel, um theoretisch Anschlüsse für das praktische Feld sicher zu stellen, in dem der aufeinander einspielende Takt seinen Lebensmittelpunkt hat. So bleibt sie zwar auf theoretischem Boden; aber: „Theorien sind Anschauungen“17 und damit Theoretikerinnen wie Theoretiker18 dieses-oder-jenes Anschauende, „mitsamt dem Blick, der es so oder anders nimmt“,19 wodurch beim Theoretisieren nicht gründlich erkennbare oder unergründliche Reste bleiben, die es hier als Spannungselemente für das theoretische wie praktische Feld des Takts unbedingt zu erhalten gilt. Einblicke in die Forschungslage

Der Takt gehört nicht gerade zu den Themen, die einen festen und gut besuchten Platz in philosophischen Debatten haben, aber er ist ein philosophisches Thema. So kommt er im Historischen Wörterbuch der Philosophie20 gleich in drei Versionen vor: als „Takt I“ in ethisch-moralphilosophischer sowie hermeneutischer und als „Takt II“ in pädagogischer Hinsicht. Der Eintrag ist insofern wegweisend, als er den Be-griff in ein Spannungsfeld stellt, in dem er in blinder Umsichtigkeit für seine mora-lischen, methodologischen wie erzieherischen Angelegenheiten Ausgleiche schafft. Es bleibt ein Takt, der in der und für die Praxis das Richtige zu tun weiß, ohne auf Reglements zurückzugreifen. Für das Miteinander bleibt er ein verdeckter Ermittler von Umgangswahrheiten und so eine höchstens individuelle, situativ zufällige, dif-fus gefühlsgetragene Antwort des einen auf andere, die hoffentlich nicht in kämpfe-rischer Absicht miteinander verbunden sind. Die Forschungslage ist entsprechend von einem spannungsentladenen und entstörenden Takt geprägt. Der nachfolgende kurze Gang durch die Forschungslandschaft beginnt im Hinblick darauf mit dem Takt bei Plessner, kommt dann über den philosophischen zum pädagogischen Takt.

In der Literatur zu Helmuth Plessner befasst sich keine Arbeit mehr als bruch-stückhaft und gerne in der Lesart einer kalten, sozial panzernden Verhaltenslehre mit dem Takt.21 Höchstens Bruno Accarino geht auf den „Spuren des Hofstaates“ (2002) einem modern gewendeten Takt etwas mehr nach, betont dessen taktisch weisen Charakter, allerdings weniger mit Plessner, eher mit Rudolf von Jhering ar-gumentierend.22 Heike Kämpf stellt in ihrer Einführung zu Plessner (2002) die „Lo-gik des Takts im Medium unbestimmter Öffentlichkeit“ vor, in der er kreativ und intuitiv vor Würdeverlusten schützt, wenn die Menschen im Umgang von „Intellekt und Natur verlassen“ (S. 96) werden. Der sozialwissenschaftliche Beitrag von Ar-nold Zingerle (2014) befasst sich wieder ausführlicher mit dem Takt in der Grenz-schrift, erkennt dort auch Wege in Plessners spätere Anthropologie, um ihn dann aber weit über Plessner hinaus als differenzbewältigendes, universalethisches Um-gangsphänomen aufzustellen. Auch Matthias Schloßberger(2019) sieht in seiner materialen Anthropologie eine ethische Relevanz des Takts bei Plessner. Ihm geht es mit dem Takt um das Erreichen eines „idealen Gleichgewichts“ (S. 160) im ab-standhaltenden Ausdruck, wobei Plessner eigentlich eher von geschickten Überein-künften und labil bleibenden Balancen spricht, die nach einem Ausgleich aussehen, um Anschlüsse und neue Spielfelder zu bieten. In den philosophischen Zugängenzum Takt sind häufig, später genauer zu betrachtende, mystifizierende Bestim-mungen zu finden, die ihn gern einseitig, zumeist auf das gute oder schöne Gefühl für die richtige Ordnung festlegen. Thorsten Sindermann (2009) etwa zeigt einen anerkennenden und emotional intelligenten, zwar humornahen, aber keinesfalls mit der Taktik verwandten Takt. In dem von Günter Gödde und Jörg Zirfas (2012) herausgegebenen Aufsatzband über „Takt und Taktlosigkeit“ ist es Andreas Brenner, der dem Taktvollen einen natürlichen und selbstbildenden Sinn für Angemessen-heit zuschreibt, wie Johannes Oberthür(2012), der ihn einen ethisch-ästhetischen Intakt-Macher sein lässt. Ganz anders verfährt Martin Seel(2012) in der „philoso-phischen Revue“ der „111 Tugenden, 111 Laster“, wenn er den zart sozial berühren-den Einsatz des Takts lobt, ihn aber auch tadelt, sobald durch ihn ein Rühr-mich-nicht-an mit Berührungsangst folgt. Wenn Heike Kämpf (2016) in ihrem Aufsatz die Frage nach der „ethischen Bedeutung des Taktgefühls“ stellt, dann findet sie mit dem Takt wieder eher einen, über implizites Wissen und Improvisation laufenden, Garanten für den anerkennenden Umgang mit den Fremden. Ebenfalls um An-erkennung geht es Christoph Paret (2018), der an der Hand von Erving Goffman ei-nen wegschauenden, abschirmenden Takt als psychotechnische Maßnahme für den Erhalt personaler Räume aufruft. Wer seinen Platz im wissenschaftlichen Diskurs leichter gefunden und bis heute sehr gut gehalten hat, ist der pädagogische Takt, was unter anderem an dem starken Taktkonzept von Johann Friedrich Herbart liegt, das für Praktiker wie Theoretiker durch seinen Ansatz der Vermittlung von Praxis und Theorie interessant geblieben ist. Die Erfahrung jeder erzieherischen Praxis zeigt, dass keine Methode der Gewalt konkreter Lagen gründlich gerecht werden kann, weshalb die Theorie immer nach Lückenfüllern sucht, seien sie nun formaler oder intuitiver Art. So kommen denn auch die neuesten Arbeiten aus dem bildungswis-senschaftlichen Feld: Thomas Senkbeil (2020) bedenkt ihn reflexiv-anthropologisch und poststrukturalistisch als fragil bleibende „pädagogische Denk- und Praxisfi-gur“ (S. 121), mit der sich ein entsprechend „grenzenloses Denken als Paradigma des Lebens“ (ebd.) sichern lässt. Mit Jan Volmer(2019) erhält die sozialpädagogi-sche Praxis einen schönen und guten, emotional und körperlich treffsicheren Takt der beziehungsregulierenden Nähe. Daniel Burghardt(2018) bespricht den Takt im Kontext moderner Lebenskunst, erkennt für beide ein bloß systemtragendes und daraufhin korrigierendes, wenig systemkritisches Anliegen mit der darin liegen-den Gefahr „heteronomer Überfrachtung“ (S. 96). Während er die um Selbstfür-sorge bemühte Lebenskunst schon derart überladen sieht, soll der kleine Bruder Takt noch davor geschützt werden, als Mittel zum schlechten Zweck einer päda-gogischen oder auch anderen Ordnung missbraucht zu werden. Er und Jörg Zirfas (2019) machen deshalb im Kontext einer reflexiven pädagogischen Anthropologie

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etwas anderes mit ihm: Sie beschreiben ihn in historischer, anthropologischer, ethi-scher, wahrnehmungstheoretischer Hinsicht, mit Blick auf pädagogisches Handeln, Urteilen und Fremdverstehen, um ihn auf dem Weg aus seinen Antwortpflichten zu entlassen und als „Problemformel“ aufzustellen, die aus der praktischen Not sei-ner auf Dauer gestellten Unstetigkeit und Unordentlichkeit die theoretische Tugend seiner Reflexionskraft und Beziehungsfähigkeit macht. Dies gilt für den modernen europäischen, nicht für den japanischen Takt, der ein Leben in festen Umgangsord-nungen führt und daher ein guter Antwortgeber für die erzieherische Praxis ist. Im Vorfeld zu dieser umfangreichen Arbeit ist ein Aufsatzband erschienen (Burghardt et al. 2015), der sich dem Takt auch empirisch nähert, unter anderem, um der ge-zielt gesetzten, reflexiven Taktlosigkeit, etwa in erwachsenbildenden Kursen, Raum zu geben. Davon hat sich der fallbezogene Arbeitsteil anregen lassen, ebenso wie von dem besonnen verletzenden Takt, der schon von Michael B. Buchholz (2009; 2012) ausgeführt, aber auch von Günter Gödde (2018, S. 53), Daniel Burghard und Jörg Zirfas (2019) erwähnt wird, angelehnt an den psychoanalytischen Takt von Sandór Ferenczi(1939), auch von Léon Wurmser, die Klienten in therapeutischen Ausnahmesituationen mit einem umsichtig nicht schonenden Takt bis auf den Leib rücken, für die Ermöglichung von Leiden, was hier zum Ende des letzten Arbeits-teil für den wechselseitig kontaktierenden, auch über den Tastsinn laufenden, Takt aufgegriffen wird.23

Der kurze Einblick in die Forschungslage lässt erkennen, dass der Takt im Wis-senschaftsbetrieb durchaus einen Platz hat, auch in der Philosophie und überall dort, wo man nach Praktiken für umgängliche Umgänge verwundbar Geborener sucht. Nur wird er dort kaum als situativer Antwortfinder, eher als schöner und guter Antwortgeber thematisiert, der tugendhaft, gefühlsverständig, herzenswarm, auch meisterhaft und stets mit feinem Sinn auf Schonung getrimmt auftritt; der schon weiß, was er wann wie zu tun hat, wenn er mit seinem natur- oder kultur-begabten Sinn für Angemessenes, dem Unangemessenen zwischenmenschlichen Tuns verhalten entgegentritt, um in schonungsloses Nahverhalten Abstände, in un-gerührte Abstandnahmen Nähe einzuziehen. Anders der aufeinander einspielende Takt: Er hält die Spannweiten der Angemessenheit für unmessbar, wie die Über-gänge von Nähe und Abstand für unbestimmbar, selbst die Antworten des Körpers für unsicher,24 abgesehen davon, dass er in allem Geschehen auch ein Erleiden er-kennt.25 Sein Terrain ist vielmehr „die ewig unauflösbare Spannung zwischen Norm und Leben“26, der mit dem Unberechenbaren rechnende Umgangsverlauf, was ihm zwar die Last des Wissens und Fühlens vor aller Gewalt konkreter Lagen nimmt, nicht aber die vielfältigen Lasten darin.

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I Der taktisch weise Takt

Angenommen, in der Seele wie im Körper und Geist geht es nicht nur friedlich, widerstandslos, brüderlich, sondern ebenso riskant, kriegerisch zu, „hart am of-fenen Konflikt vorbei, in dem die physische Macht entscheidet“.2 Dann ringen die Menschen nicht nur körperlich und geistig, auch psychisch beim Umgang miteinander mit kultivierten Mitteln situativ um ihr „Sosein“.3 Hierfür bedie-nen sie sich eines „Hygienesystems der Seele“,4 das ihnen einen miteinander übereinkommenden Kontakt mit ihrer Umgebung ermöglicht oder anders: „aus dem Geist des Taktes, der Verhaltenheit, der Güte und der Leichtigkeit das ver-krampfte Gesicht dieser Menschheit von heute in einer Kultur der Unpersön-lichkeit“5 entkrampft wird. So soll es hier sein, der gemeinhin als Schonvokabel anerkannte Takt um die Lesart eines gewaltbereiten, die Umgangsgrenzen erpro-benden Miteinander-ins-Spiel-Gehens ergänzt und im exzentrischen Umgangs-leben eingesetzt werden.

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1 Der heilsame Takt bei Plessner

Soziale Radikale sind schroff, angriffslustig, ungeduldig, „freudig, aber nur zum Gro-ßen, andächtig, aber nur zum Gewaltigen, puristisch, daher pharisäisch, prinzipiell, daher verdrängerisch, fanatisch, daher zerstörend“. In all ihrem Tun bauen sie auf die „Heilkraft der Extreme“.6 Grundsätzlich Gründliche im Umgang mit Mensch-und-Welt, übersehen sie „die ewige Undurchsichtigkeit der konkreten Situationen“,7ob sie nun mit ihrem Geist oder Gefühl auf einen vollen Durchblick bestehen. Wer dagegen sehen kann, dass er eine Umgangslage nie ganz durchschauen wird, setzt eher auf „die kleinen Dinge und Schritte“,8 auf behutsam unangreifbar machende Verkehrsformen. Plessner verortet sie in einer „Philosophie des Psychischen“,9 über-trägt dem Takt darin die umgangsleitende, keine heilende, aber doch heilsame oder „heilwirkende“10 Rolle und hinterlässt dessen Spuren überall in der Grenzschrift, auch in einem eigenen, mit der Diplomatie geteilten Kapitel.11 Der Takt übernimmt seine große Aufgabe, der Verletzlichkeit des risikobereiten Seelenlebens im ebensolchen Gesellschaftsleben für den Bestand beider beizustehen, in jedem Rauam zwischen-menschlichen Verkehrs, nicht nur im Geselligen, wo es eigentlich nur „einfachen Verkehr ohne Zweck, Unterhaltung um der Entspannung und Erhöhung des Lebens willen zu pflegen gilt“,12 sondern auch im Geschäftlichen, dem Heimatort der Diplo-matie, wo es eigentlich nur um Übereinkünfte zur Wahrung öffentlicher Gesichter, um Scheinlösungen für Funktionsleute geht, er gilt sogar im vertrauensbevorschussten Privaten, wo er eigentlich nicht gebraucht wird – in Wirklichkeit hat der Takt überall ein haltungsanreichendes, differenzierendes letztes Wort:

So gesehen mag der Takt seinen Heimatort in der Geselligkeit haben; solange sie als „unbestimmt weite Sphäre, die in alle sozialen Beziehungen hineinreicht“,14 gilt, sind überall „Taktbeziehungen“15 und „Taktsituationen“16 zwischen Umgangsleuten, die so versehrbar wie verschieden und in einer konkreten Lage nicht selten in meh-reren Umgangsrollen gleichzeitig zueinander stehen: Besprechen Eltern auf dem Schulhof mit ihren Kindern einen akuten Vorfall, treten sie zumeist auch als Paar auf, kommen Mitschüler und Lehrpersonen der Kinder dazu, bewegen sich diese nicht mehr nur als Kinder-ihrer-Eltern, aber auch nicht nur als Mitschüler oder Schüler. Wollen hier alle schadlos zusammenkommen, zwingen sie sich und andere bestenfalls weder nach Art sozialer Radikale, aber auch nicht unbedingt ausschließ-lich über diplomatische Finessen in Sieg-oder-Niederlage hinein, sondern kommen mit Takt nach Art sozialer Mediale hier-und-jetzt, für diese-und-nicht-jene Gele-genheit überein:

Ist es so, dass die oberen Beteiligten über Rollen- oder Funktionsverträge mitei-nander verbunden sind, so begegnen sie sich spontan in verschiedenen Rollen oder Funktionen. Fehlen klare Direktiven, zeigt sich der ewig unauflösbare Gegensatz von „Situation und Norm und Privatperson und „Amts“person, Mensch und Funk-tionär“18 in verschärfter Form – und alle müssen entscheiden, ob sie die Undurch-sichtigkeit der Lage sehen, das Verletzliche und Verschiedene anerkennen, ihre An-gewiesenheit auf eine Übereinkunft erkennen können und wollen, um wenn, dann mit Takt, vorzugehen:

Das sieht auf den ersten Blick nach einem tugendlasterhaften Takt aus, der sich nicht entscheiden kann, ob er schamhaft verzagt oder naiv unbefangen sein soll,20weshalb er den Weg zur goldenen Mitte auspendelt: Lenken die Eltern im Gespräch über den akuten Vorfall mit ihren Kindern das Gespräch woandershin, dann sieht es so aus, als hätten sie ihren ersten ansprechenden Schritt mit dem zweiten ein-lenkenden Schritt wieder zurückgenommen. Das ist allerdings zu grob gedacht, da es die Bewegung beider Schritte in ihren spannungshaltenden Übergängen ver-nachlässigt: Wer in einer Kletterwand hängt, der bewegt sich in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden zwischen Tasten und Sichern. Ebenso handhaben es Um-gangsleute im Alltag, die sich dort inmitten einer Vielfalt von Schwierigkeitsgra-den so elastisch wie entschieden begegnen, damit ihr Miteinander nicht abstürzt, da jeder Absturz sie derart verletzen kann, dass es ihre Würde trifft, anschaulicher gesagt: sie ihr Gesicht verlieren,21 so dass sie sich auf weitere Beeinträchtigungen oder Beschädigungen einzustellen haben. Soll gelten, dass Menschen in einer „zum Antasten verlockenden Unantastbarkeit“22 leben, mit Verletzungen ihrer Würde immer und überall rechnen müssen, dann sind Umgangsleute zu schützen: vor einer „Kultur der Seelenlosigkeit, die nur mit Ponderabilien und Eindeutigkeiten fertig werden kann, weil sie […] keine Zeit mehr für die Nuancen hat“ – und damit vor einer „Ethik der Taktlosigkeit“,23 die eigensinnig auf ein Entweder–Oder ver-gewaltigt. Damit ist nebenbei gesagt, dass dieser Takt von der Bühne abgehen kann, sobald die Menschen am Schutz der Würde herumdrehen, denn „was man nicht des Schutzes für wert hält, braucht man nicht zu schützen“.24 Bis dahin lebt er in den diversen Umgangsräumen mit seiner auch ethisch relevanten Aufgabe, sich „in prinzipieller Wertferne an die konkrete Situation und ihre Forderungen“25 zu hal-ten, Gegensätze nicht gleichzumachen, sondern zu nuancieren, soziale Radikale zu entschärfen, das hier-und-jetzt Unentscheidbare auf „bestimmte (diese, und nicht jene, nicht aber beliebige) Anschlüsse bzw. Weiterentwicklungen“26 abzusuchen, da-mit der „Reichtum des Daseins an Möglichkeiten zwischen Mensch und Mensch“27und die vielen wertäquivalenten, nicht wertindifferenten, Alltagssituationen eine Überlebenschance haben. Es zeigt sich, dass Plessner mit einem solchen heilsamen Takt kein einfaches Verständnis von Schutz-und-Schonung vorlegt, sondern damit auch eine Ermöglichung-von verbunden ist:

Es liegt spontan wenig nahe, die konkret werdende Gewalt mit einem Verhalten aus dem Reich des Unwägbaren zu beantworten. Aber Plessner sieht etwas anderes: Wer hier gewissenhaft und gründlich Antworten gibt, etwa als Eltern die Kinder im Beisein anderer Rechenschaft ablegen lässt, oder als Lehrperson daraufhin stumm die Szene verlässt, der will es wissen oder geht in Deckung. Beide Reaktionen wollen weniger situative Richtigkeit, eher unbedingte Wahrheit, womit sie riskieren, dass sich die Umgangsgewalt verschärft. Ihr dagegen mit einem Impuls zu begegnen, be-deutet nun aber nicht, sich ihr unvermittelt hinzugeben, vielmehr „Methoden der Indirektheit“29 wie den Takt einzusetzen, gegen die „Aufhebung der Intimsphäre“ und damit für die „Möglichkeit zu einer gesellschaftlichen Kultur in den engsten Grenzen persönlichen Lebensstils wie in den weitesten politisch-diplomatischer Verkehrsformen“.30 So nehmen etwa die Eltern aus seinem Geist,was sie für den konkreten Fall an Praktiken gegen jedes totale Ausleuchten mobilisieren können, kaschieren gezielt, was existiert, wovon gewusst wird, und überspielen ihren Ärger über das schulische Fehlverhalten des Kindes im Beisein der Freunde und Mitschü-ler, indem sie vor allen anderen einen allgemeinen Ärger daraus machen. Wer ein-ander etwas vorspielt, mag sich an Grenzen der Lüge entlang bewegen, aber die hat viele Gesichter. Dies gilt, solange beim Miteinander nicht an das rein Unmittelbare, nur Natürliche, höchstens an eine „Art Renaturalisierung der Künstlichkeit“31 ge-dacht wird und in diesem Sinne der Takt als „Witterung für den anderen Menschen und zugleich die Fähigkeit, es ihn nicht merken zu lassen“,32 zu verstehen ist.

Für Plessner kann das Seelenleben im Gesellschaftsleben nur bestehen, wenn sich einander begegnende Menschen füreinander öffnen, aber nicht voreinander offen-legen, damit deren Gesichter gewahrt bleiben, die „nicht ein für allemal festleg-baren, sondern offenen Entwicklungsmöglichkeiten des individuellen Menschen und der Menschheit“.33 Und genau dafür steht der Takt: eine Praxis unter Men-schen, also Mitmenschen, die im „Ich/Du-Wir-Verhältnis“34 zueinander stehen, zuhause in der „Mitwelt“, die „vom Menschen als Sphäre anderer Menschen erfaß-te Form der eigenen Position“.35 Fordert hier die Gewalt einer konkreten Situation von den darin verwickelten Umgangsleuten, sich ihr zu stellen, dann ist der Takt auch dann gefragt, wenn ritualisierte, besänftigende Umgangspraktiken in unmit-telbarer Nähe sind. Er ist keine Samtpfötchen-Strategie für gebildete Verzagte, die einander unbedingtes Wohlbefinden, ein Normalisieren von unbequem erschei-nenden Umgangsangelegenheiten verschrieben haben. Vielmehr ist mit ihm da-ran gedacht, die sich bietende Gelegenheit beim Schopf zu packen, Kontakt zur Lage aufzunehmen, sich berühren, verwickeln zu lassen, das dort vorherrschende „labile Gleichgewicht“36 zu erkennen, eine Weile zu halten, um dann über „Fern-fühlung, Ferntastung“37 Spielräume für ein weiteres Miteinander zu erkunden. We-der voll auf Flucht noch auf Angriff festgelegt, schaut er nach guten Bedingungen für das Herstellen kontaktierender Übergänge, damit sich alle für diesmal, nicht für allemal, auf Anschlüsse begegnen können. Diese ermöglichende Taktseite legt einen erweiterten Fokus auf den beanspruchten Aspekt der Schonung: von bloßer Zurückhaltung zugunsten anderer auf den mitmenschlichen „Zauber, der enträt-selt und doch nicht enträtselt sein will“,38 auf das Fassbare und doch nicht ganz zu Fassende, ewig Unergründliche, Schleierhafte, dabei unerschöpflich Vielfältige der Menschenleben. Sie wird von Plessners allgemeinem Verständnis dessen angelei-tet, „was Menschenantlitz trägt“.39 Exkurs: Der Exzentriker

„Es muss offenbleiben, um der Universalität des Blickes willen auf das menschliche Leben in der Breite aller Kulturen und Epochen, wessen der Mensch fähig ist.“40So entwirft ihn Plessner mit Blick auf seinen lebendigen Stand in der Mitwelt, sein Tun und Lassen, seine Ausdrücklichkeit, denn er muss tun und lassen, sich ausdrü-cken, um sein Leben zu führen und sich zu dem zu machen, was er immer schon ist: unbestimmt zu sich stehend, mächtig und als „offene Frage“,41 der von den Ant-worten anderer so lebt wie er selber Antworten gibt und verantwortet, geschichts-bedingt wie geschichtsbedingend, insofern unauflösbar verschränkt selbst- und fremdbestimmt, „das Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und sei-ner Aktionen, seiner Initiative“, wissend und wollend, „auf Nichts gestellt“. Men-schen stehen dann im Zentrum ihres Stehens, in vermittelter Unmittelbarkeit zu sich und ihrem Ineinander, Umeinander, Miteinander; als Lebendige sind sie Körper, „im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blick-punkt, von dem aus er beides ist“.42 Das ist Exzentrizität, so kann man als Mensch die Menschen verstehen und ansprechen, muss es aber nicht.43 So verstanden und angesprochen, ist inmitten von allem immer auch der Mensch selbst zu se-hen, der findet, erfindet, denkt, weiß, meint, glaubt, will, macht, fühlt, ein im Leben unkündbarer „Schöpfer, der freilich an seine eigenen Kreaturen gebunden ist und ihnen untertan wird“.44 Nichts ist natürlich, was nicht auch künstlich ist, „eine überkommene, gelehrte und gelernte, sorgsam gehütete, unter Umständen zäh verteidigte oder nach Erneuerung verlangende Natürlichkeit“,45 vermittelt über soziale Entwürfe, die den Mitmenschen verfügbar sind, damit sie sich ein-ander jetzt so zeigen und derart erkannt werden. Jenseits des Gezeigten gibt es hier nichts Ursprüngliches, wohl aber Mitlaufendes zu erkennen, zu fürchten oder zu erhoffen: Wer anderen das Biest vorspielt, zeigt sich tatsächlich biestig, nicht eigentlich fürsorglich, vielleicht sind aber auch in der konkreten Situation noch Spuren der Fürsorge, denn die einander etwas Vorspielenden sind voller „nicht unmittelbar gegebener, weil sorgfältig dem Blick der Welt verborgener Ei-genschaften“, wie auch das Vorspiel voller „unmerklicher, aber aufschlußreicher Dinge im dauernden Umschwung der Lagen des sozialen Milieus“46 ist. Darauf kann man es beim Umgang ankommen lassen, damit sind alle von Wertferne getragenen Taktbeziehungen und Taktsituationen befasst: keine Übereinkunft, sondern ein Übereinkommen als mutig-besonnene Dauerbewegung zwischen Ordnung und Leben, Realität und Irrealität, Theorie und Praxis, Norm und Ge-fühl, ob der Stimme der Vernunft oder des Herzens, den vorauseilenden Wahr-heitsgefühlen oder einem nachlaufenden Ordnungssinn, Wünschen oder Tat-sachen gefolgt wird, denn Plessner „destruiert die konstitutive Differenz von erhabener Idealität und profaner Realität“47:

Der Takt in Händen des Exzentrikers ist eine füreinander heilsame und hilfreiche Praxis, die im und für den Umgangsverlauf stets eine „Differenz als Ambivalenz“49oder anders: den „Ruf des Entstehenden taktil werden“50 lässt, Umgangsradikalis-men entgegen und zwar nicht, um daraus ein neues Radikal zu machen,51 welches es dann wieder-und-wieder zu überwinden gilt. Insofern er für einen Umgang in Würde mit zuständig ist, bei dem es nur um zu wahrende, nicht einzig wahre, Men-schengesichter geht, gehört er zu den auch leiblich relevanten „Methoden der Ge-sichtswahrung“,52 der auf zwei begrifflichen Wegseiten unterwegs ist, einer taktie-renden und einer kontaktierenden, ohne die eine zugunsten der anderen aufgeben zu müssen.

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2 Takt, Taktik, Taktgefühl

Takt – das klingt nach Anstand, korrektem Benehmen oder unbedingter Diskretion, nach „Ritter in der Rüstung samt Ehrenkodex“,53 auch nach rechter Mitte,54 einem Ver-meiden von zwischenmenschlichen Kollisionen und erzwungener Harmonie, kurz: seichtem Drumherum, einer Schummelei anstatt Tacheles. Der Begriff ist polysem, sein Wortfeld weit abgesteckt: „Takt“, „Kontaktieren“, „das Taktile“, selbst „Taktieren“ verwei-sen auf einen Takt, der als soziale Geste das Miteinander regelt, mit einem Sinn für das Feine und Umsichtige, aber auch für die angemessene Ordnung und den passgenauen Moment. Der Begriff hat zwei und konträr stehende Herkünfte: Die eine verweist auf seinen tätigen Gefühls- und Tastsinn, auf Berührung und Kontakt,55 die andere folgt den Künsten des Krieges und der Musik.56 Dort ist er ein ordnendes Prinzip, etwa im trügerische Sichten vermittelnden Kriegsnebel zuständig für das klug berechnete Auf-stellen und Vorgehen der miteinander Streitenden, „um mit dem Takte [ihres] Urteils die Wahrheit herauszufühlen“.57 In der Musik sorgt er für das geordnete Zusammen-spiel, orientiert an systemstabilisierenden Ordnungsprinzipien wie Harmonie oder Rhythmus,58 zunächst geleitet und kontrolliert vom einzelnen Musiker, später vom tak-tierenden Dirigenten. Während sich das Feld des Kampfes für den Takt zugunsten der nahe liegenden Taktik deutlich schließt und als negativ konnotiertes Taktieren Einfluss auf das soziale Terrain nimmt, bleibt das Feld der Musik für den Umgangstakt offen, was sich an solchen begrifflichen Wendungen ablesen lässt wie „keinen Takt im Lei-be haben“, auch “den richtigen Ton finden“, „sich aufeinander einstimmen“.59 Es ist mit Blick auf den weiteren Umgang mit dem Begriff auffällig, dass weniger der musikalisch ordnende, laut schlagende und entsprechend gut hörbare Takt in das soziale Gedächt-nis eingegangen ist; vielmehr lebt dort eher eine geniale Version, die mit der Zeit etwas blind und taub geworden ist, aber von eigener und sicherer Hand geleitet wird und da-bei nicht nur das zeitlich und örtlich Angemessene zu tun weiß, sondern darüber hinaus auch die guten Gründe für sein Tun kennt:

Hier wird ein Takt fokussiert, der gebraucht wird und legitim ist, weil der Einzelne mit-ten in einer Vielzahl von anerkannten und gelebten Verhaltensmöglichkeiten einem erhöhten Verletzungsrisiko ausgesetzt ist, sobald Rituale als regelgeleitete Verkehrsfor-men nicht verfügbar sind. Da auf Schutz-und-Schonung anderer keinesfalls verzichtet werden soll, wird der Takt als stets einsatzbereiter, sich in Aktion bescheiden zurückhal-tender, dabei zwingend erfolgreicher Abwehrspieler und darüber hinaus als dem Wesen des Menschen wesentlicher Fremdschoner und Verlustkompensator aufgestellt:

Diesem wesenhaften, fest auf herbeizuführende Ordnung im latent verunsicherten und anpassungsgestörten Seelen- und Gesellschaftsleben gebuchten, Takt schei-nen Zeitpunkt, Aufgabe und Ziel seines Einsatzes fraglos klar zu sein, auch wenn eigentlich aufgrund seines verhaltenen Auftretens niemand sehen und lernen kann, woher das daraufhin abgestimmte Einsatzwissen gerade kommt. Soll er von sich aus, zudem umsichtig und zartsinnig, den vielen Umgangsbeschwernissen etwas zur Erleichterung anderer entgegenbringen, so bleibt unklar, wie er diese Aufgabe bewältigen will, bzw. wieso sie ihm überhaupt derart zugemutet werden sollte, denn bei dieserart Vorgehen könnte es durchaus passieren, dass er gegen soziale Kontakte immun macht, eine zwischenmenschliche Berührungsangst forciert.62 Ein kurzer Blick in die Entwicklung seines musikalischen und komplimentierenden Stands kann hier ein paar erhellende Antworten geben.63 2.1 Tonangeber und Tonhalter

Bei der Frage, was in einer konkreten Situation im Miteinander zu tun ansteht, haben sich auf dem Weg in die Moderne mehr, zudem mehrdeutige, individuelle Antworten ergeben. Eine der Reaktionen auf weniger reglementierte Umgangsver-hältnisse sind erhöhte Selbstkontrollen, ein größerer „gesellschaftliche[r] Zwang zum Selbstzwang“.64 Die Rolle des Takts erlebt in diesem Prozess einen Wandel vom Tonangeber zum Tonhalter, vom Initiator von Umgangslagen zu deren Überwa-chung. Folgt man den begriffsgeschichtlichen Hinweisen und nimmt die musika-lische Herkunft des Takts genauso ernst wie seinen Stand im sozialen Feld, dann fragt sich mit Blick auf die noch immer im Taktverständnis steckengebliebenen Unstimmigkeiten, welche bedeutungsverschiebenden Wege er genommen hat. Angenommen,65 den Anfang macht der Takt in der Musikszene als „laut geschla-gene, ordnende Einheit“,66 dabei orientiert am Ziel eines harmonischen Zusam-menspiels. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wird aus dem „lärmenden Taktieren des Dirigenten“,67 der seinen massiven Taktstock hart auf den Boden aufschlagen lässt, das „lautlose Taktieren“,68 ein eher tätschelndes, zurückhaltendes und feinfühliges Schlagen mit zwei Taktstöckchen. Es folgt dann der abzweigende Spurwechsel des Takts aus der musikalischen in die soziale Szene. Die Frage, ob er als sozialer Takt noch ästhetisch oder schon moralisch zu verstehen ist, wird mehr und mehr zu-gunsten eines moralischen Takts beantwortet. Innerhalb weniger Jahrzehnte wech-selt der Begriff den Ort, verlässt das strenge Zeitmaß, schließt mit dem lärmenden Taktieren – und wird zur unauffälligen, zurückhaltenden, feinsinnigen Geste, mit der sich in einer gegebenen Lage in stiller Sicherheit das passende kommunikative Maß finden lässt, um selbstverständlich vortrefflich, klug und dabei gleichermaßen schnell wie besonnen zu handeln. Taktvolles Benehmen wird nicht dem Zufall über-lassen, sondern erwartet. Es ist zu erbringen, und zwar spontan, intuitiv wie kreativ, situativ und einmalig. Eine Taktlosigkeit, verstanden als des Takts „Gegenspieler“,69ist im Gegenzug nichts, was erwartet wird. Sie ist nur eine unschöne Geste, deutlich im moralischen, auch im ästhetischen Sinn, und als Takt- oder Geschmacklosig-keit entsprechend auszuschließen. Am Ende dieser Entwicklung ist die Wandlung des ordentlichen, tongebenden Takts in den tonhaltenden, „unordentlichen Takt“70komplett. Mit Takt ist fortan nichts weiter zu tun, als in aller spontan-kreativen und unmerklichen-uneigennützigen Zartheit die auftretende Unordnung in der Gesell-schaft zwischen den Menschen wieder in Ordnung zu bringen.

Die vier Bedeutungsverschiebungen stellen einen plausiblen Verlauf vor, ohne sich mit Fragen möglicher Auslassungen aufzuhalten. Die hier für die Musiksze-ne vorgestellte These, nach der die gut hörbare Ordnung, das lautstarke Taktieren, vollständig abgelöst wird durch ein lautloses Taktieren, also eine eher erfühlte Ordnung, muss sich beispielsweise gegen die starke Idee verteidigen, dass im musi-kalischen Taktbegriff beide Bedeutungsrichtungen angelegt bleiben, wie im Musik-Begriff selber: Er „bezeichnet keinen fest umrissenen Gegenstand, sondern existiert eher in Form eines semantischen Feldes, dessen Elemente zu verschiedenen Zeiten in bestimmter Gewichtung hervortreten, ohne dass die anderen deshalb ein für al-lemal verschwinden“.71 So verhält es sich auch mit dem Takt, dem sowohl die kreuz-und-quer-laufende Beweglichkeit, mag sie ungestüm, schleichend oder quer dazu sein, und das deshalb eingeführte, den beteiligten Akteuren visuell oder auditiv zugängliche, zeitlich ordnende Prinzip zu eigen ist. Offen bleibt dann nur, welche Ordnung er gerade erfüllt und welcher Spielraum für den freien Umgang damit gegeben ist. Im Tanz wird etwa besonders deutlich, dass sich Körper nach einem fest vorgegebenen Takt bewegen und diesen auch selber mit herstellen, um daraus etwas Individuell-Konventionelles zu machen. Was Solisten nicht unbedingt nötig haben, sich über Konventionen aufeinander einzustimmen, das ist für Ensembles meist zwingend. Hier haben die Bewegungsabläufe einen stärker koordinierenden, strukturierenden, auch anleitenden und kontrollierenden, also ordentlichen, Takt nötig, damit Zusammenspiel und Empfang sicher sind, wobei kein Spiel ohne die Unordentlichen, die „freien additiven Verfahrensweisen“72 auskommt, die verhin-dern, dass das Aufzuführende chronometrisch erstarrt. Bei aller Gebundenheit er-möglichen sie, dass das Stück offen bleibt für diese-oder-jene Abweichung:

So gesehen ist das Prinzip Ordnung in der Geschichte des musikalischen Takts zwar stark, lebt dort aber im Bunde mit den freien Beweglichen oder auch gezielt Taktlosen, damit das Stück lebendig bleibt, einerseits. Andererseits sind und blei-ben sie eine beständige Gefahr für die gerade vorherrschende Ordnung. Die sich aufdrängende Frage ist so bekannt wie die möglichen Antworten: Wie geht der mu-sikkonsumierende Mensch mit der Spannung zwischen Ordnung und Lebendigkeit um, wie findet er sich darin zurecht? Wie lassen sich Melodie und Rhythmus lesen, wenn der einst affekthinzufügende dichterische Text auf einmal wegfällt? Es kann nahe liegen, wortlose Musik als „reine Sprache der Empfindung“74 zu verstehen, die Empfindungen selber aufzuwerten – und gleichzeitig umzudeuten. Werden frei be-wegliche Empfindungen in die öffentliche Ordnung integriert, dort auf einen nicht messbaren und zugleich der geltenden Moral zuträglichen Wahrheitswert hin er-zogen, so weiß jeder wie von selbst, was er zu tun hat: wahr empfinden. Aus der musikalischen Krise folgt dann ein affekttragender Takt, der als Feingefühl, „jene Fähigkeit, sich in unklaren, krisenhaften Situationen auf die Natur, die Empfindung und das Gefühl als feste Konstanten zurückzubesinnen“,75 bis heute seine Heimat im sozialen Feld hat. Dieser gefühlssinnig gemachte Takt gibt in unebenen zwischen-menschlichen Lagen keine neuen Töne an, sondern hält den Ton der gültigen Ord-nung, besänftigt, dämpft, glättet, balanciert aus – eine Rolle, die immer noch gerne dem weiblichen Geschlecht überlassen wird. 2.2 Gebildete Natürlichkeit

Die gefühlssinnige Rolle des Takts wird deutlicher, wenn man die Entwicklung jener komplimentierenden Lehrstücke überfliegt, die den Umgang mit gegebe-nen Reglements anleiten sollen.76 War die Kunst des Komplimentierensim frü-hen 17. Jahrhundert noch deutlich von rhetorischen Traditionen mit dem Ziel getragen, den Welt- oder Hofmann heranzubilden, so wendet sie sich auf ihrem Weg in die Moderne immer mehr umgangsethischen Stilen zu. Verhaltensre-gulative Elemente werden dabei nicht ganz aufgelöst, aber aufgelockert und zu solchen der leichteren Verständlichkeit umgeschrieben, um auf die veränderten gesellschaftlichen Anforderungen gezielter reagieren zu können. Ein Beispiel ist Adolph Knigges „Kunstlehre des zwischenmenschlichen Umgangs“,77 der „keine schematisch zu vollziehenden Regeln ohne persönlichen Dispositionsspielraum lehren78, höchstens „Bruchstücke, vielleicht nicht zu verwerfende Materialien, Stoff zu weiterm Nachdenken“79 anbieten wollte. Diese Umgangskunst erhebt an die Menschen ihrer Zeit einen doppelten Anspruch: Sie sollen an den fremden, verunsichernden Verhältnissen orientiert sein und in der Reaktion darauf bei sich selbst, also innerhalb der eigenen charakterlichen Möglichkeiten bleiben. Konnten die Vormodernen etwa gepflegt in Ohnmacht fallen oder andere simu-lierende Strategien anwenden, um konkret werdende Gefahren im gesellschaft-lichen Feld abzuwehren, bei bereits erlittenen Gesichtsverlusten mit wiederher-stellenden, etwa genugtuenden, Gesten abrechnen, so müssen die Modernen zwischenmenschlich seismographisch unterwegs sein, wollen sie hier noch un-gestört navigieren. Da ihnen die alten Umgangsrezepte, die formellen und oft aufwändigen Rituale einer manierlichen Begegnung immer weniger verfügbar sind, sind sie frei und gehalten, die irritierenden bis zu prekären Stimmungen einer mitmenschlichen Lage selbsttätig zu erfassen, zu deuten und entschärfend zu bearbeiten. Anders gesagt, führt das emanzipatorische Bestreben zunächst dahin, vormals fest installierte Verhaltensgeländer in ihren Grundfesten zu lo-ckern, um den informelleren Bedürfnissen der Gesellschaft mehr Spielraum zu geben. Es wird daraufhin der Einzelne in die Pflicht genommen, sich selbst in entsprechenden Situationen auf eine Verhaltensauswahl hin festzulegen, wobei seine Wahl selbstverständlich der richtige Treffer in Sachen dessen sein sollte, was konkret zu tun ansteht. Auf diesem Weg verschieben sich die im sozialen Feld auftretenden Unsicherheiten von den objektiven Begebenheiten hin zu der subjektiven Treffsicherheit im Umgang mit ihnen. Ein Misslingen im menschli-chen Miteinander, sei es beim mündlichen oder auch schriftlichen Kontaktieren, wird dann gleichgesetzt mit einem Mangel des Einzelnen an charakterstarker Gewandtheit, Geschmeidigkeit oder fehlender Kunstfertigkeit im Umgang mit sich und einander. Moderne haben den Umgangsauftrag, stets wahr zu handeln, einander richtig zu behandeln, ohne dabei falsch zu sein:

Die vormals künstliche Ordnung wird unkommentiert in den Status einer natür-lichen Ordnung gehoben, in der dann die von selbst laufenden, sich ungenau be-rührenden Gedanken als Verhaltensgeländer untergebracht sind. Es dirigiert nicht mehr gut hörbar der eingewöhnte Sinn für das Anstehende. Die Modernen arbeiten mit einem still ins Innenleben abgewanderten, dort blind treffenden Umgangs-gespür. Wird darüber hinweggesehen, dass das polare Paar künstliche und natür-liche Ordnung selbst gesetzt, nicht etwa naturgegeben ist, so kommt man leicht auf die schon erwähnte Gleichung der Oberfläche mit seinem strategischen oder taktischen Gebaren und von dort zu dem eigenartigen Schluss, dass all das zu den Verschleierungen dessen gehört, was an Wahrheit im Natürlichen des oberen Sinns liegt. So sind die einfältig gefälligen Gedanken unter der Voraussetzung ihrer unter den Teppich des Vergessens gekehrten Herkunft nicht nach jener richtigen oder dieser falschen Seite hin frei. Vielmehr wird das Natürliche als das Unverschleierte das an sich Vernünftige, eigentlich Maßvolle. Erst die mühelosen Reden, die frei-laufenden Gedankengänge, die von dort weiter fließenden Schriften können wahr sein oder anders: Falsche verbale oder nonverbale Ausdrücke können an sich nicht natürlich sein; sie sind naturgemäß künstlich. Mit einer gebildeten Natürlichkeit und entsprechenden Richtigkeit lässt sich in zweierlei Hinsicht weiterarbeiten: Die eine Sicht ist und bleibt tatsächlich blind für das Verfahren der Produktion von Na-türlichkeit: Ein natürlicher und natürlich richtiger zwischenmenschlicher Umgang stellt sich wie von selbst ein, ist unverstellt, ohne Schmeichelei, Farce und anderes mehr. Die andere Sicht tut nur so, gibt etwas vor. Sie reflektiert die Produktion als solche und ihren eigenen produzierenden Stand darin. Durch ihre Brille geschaut ist nichts natürlich, was nicht auch künstlich ist, so wie es Exzentriker halten, wenn sie sich mit dem das Reale irreal haltenden Takt im ewig unauflösbaren Spannungs-feld zwischen bestimmender Ordnung und unbestimmtem Leben umherbewegen.

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3 Im Spannungsfeld von Ordnung und Leben

Immer und überall, wo Menschen im Umgang miteinander sind, geht es auch un-wägbar und entsprechend gespannt zu, was nach ritualisierten Verkehrsformen rufen lässt, damit es untereinander wägbarer wird, eine Gelegenheit als günstige oder ungünstige erkannt und Umgänge entspannt werden können. Im modernen praktischen Leben aber,

Dieser zwischenmenschlich klippenumschiffende Takt arbeitet mit zwei Werkzeu-gen: Er tritt reflexartig in und reflexiv nach der Situation auf, blind und richtig tref-fend. Weit offen ist, wie seine glücklichen Treffer zustande kommen. Nachfolgend werden deshalb ausgewählte Betrachtungen zum Takt, von Lavater und Kant über Herbart, Jhering, Helmholtz und Gadamer bis zu Goffman und Luhmann, mit der Frage traktiert, wie er sich im „Spannungsfeld zwischen strenger Ordnung und frei-em Gefühl“83 positioniert.84 Ein Ziel ist, seine tastende und sichernde, aushandelnde oder aufeinander einspielende Seite zu markieren, die blinden „Organe des Takts“85im Sinne von nahsinniger „Berührung“86 etwas sehen und so geistesgegenwärtig sein zu lassen, denn Strenge und Freiheit, Ordnung und Leben sind ein gutes Team, den Umgangskollisionen mit Würde zu begegnen, für jetzt, nicht für immer. 3.1 Der physiognomische, mystische und logische Takt

Eine Idee, dem Spürsinn die Blindheit zu nehmen und sehend zu werden, kommt aus Versuchen, über das Gesicht des Menschen und dessen Mienenspiel Wesens-erkenntnisse und Umgangsvorteile zu gewinnen:

Die Antwort liegt für den Physiognomiker Lavater in einem speziellen Miteinander von Entdecken, Beobachten, Messen und Empfinden, Fühlen, Spüren, das den rich-tigen und schließlich in der und für die Praxis berichtigten Takt ausmacht. Lavaters Vorbild ist hier nicht Dürer, der nur gemessen, sondern Raffael, der auch gefühlt hat. Das eigene mitmenschliche Gesichtsumfeld studieren, um vergleichende Er-fahrungen zu machen und außerdem sein „vorauseilendes Wahrheitsgefühl“88 ein-zusetzen, das sind Aufgaben des Physiognomikers. Sie haben zum Ziel, dass sich Beobachtungen, Sprache, Zeichnungen optimieren, um so die Physiognomik lern-barer und lehrbarer zu machen, die in ihrem optimalen Zustand dann aber „keine Wissenschaft mehr“ sein soll, „sondern Empfindung, schnelles Menschengefühl!“89Der Weg ist also, dass die Empfindungen bloße Ahnungen überwinden, sobald in einem ersten Schritt über zeichenhafte Erfahrung zusammen mit „dem Geschma-cke, dem Gefühle, dem Genius“90 das durchaus Lern- und Lehrbare der Physiogno-mik gebildet wird, was sich mit der Zeit und durch Übung ganz wie von selbst, in einem zweiten und rückbildenden Schritt aus dem Wissenschaftlichen wieder he-raus entwickelt, um nur noch mit dem physiognomischen Takt zu urteilen, andere zu beurteilen: „Es lebe also die Philosophie aus Gefühlen, die uns gerade zur Sache selbst führt!“91

Ein derartiges Vorgehen, die Sache, das Richtige nicht über begriffliches Ver-nünfteln, sondern mit der „vorgegebenen Fühlbarkeit eines Gegenstandes“92 fin-den zu wollen, muss für den Aufklärer Kant und Kritiker Lavaters ins Reich der Hirngespinste gehören, des eigensinnig bleibenden Unsinns, denn „wie kann man empfinden, was noch nicht ist?“93 Nach Kant kann man nur empfinden, was schon ist, sei es nun hell oder dunkel, und da gerade „das Feld der dunklen Vorstellungen das größte im Menschen“94 ist, sollte dieses Nebulöse nicht noch mystifizierend eingekapselt werden:

Das Dunkle kann überhaupt nur relevant sein, wenn es als prinzipiell bearbeitbarer Stoff für das erhellende Spiel damit aufgenommen wird. Dies gilt in pragmatischer Hinsicht und vorausgesetzt, der „logische Eigensinn“96 wird derart begrenzt, dass kein „Verlust des Gemeinsinnes“97 eintritt, was das „einzige allgemeine Merkmal der Verrücktheit“98 ist. Im unverrückten Normalfall bleiben Zusammenhänge erkenn-bar, so dass der eigene Verstand an den der anderen anschließen kann und es zu entsprechenden Urteilen kommt. Da der Gemeinsinn den Fokus auf den produktiv werdenden Einzelfall legt, steht er für eine situative Klugheit im direkten Umgang mit gesellschaftlich gegebenen Reglements, Ritualen, Normen. Damit grenzt er sich von einer rein spekulativ aufgestellten Wissenschaft ab, aber auch von jedwedem schwärmerisch-mystischen Vorgehen:

Dabei bleibt der logische Takt innerhalb der Erfahrung einer vielfältigen Praxis. Werden in seinem Namen auf ihrer Grundlage über „Versuch und Erfolg“100 Urteile gefällt, so können beide daran wachsen, auch wenn sich ein ins stimmige Verstehen kommendes Tun nicht garantieren lässt. So sind auch Irrtümer denkbar, wenn aus dem Reservoir allgemeiner Regeln nicht das Richtige zur richtigen Zeit herausge-holt werden kann. Aber diese Irrtümer bleiben hier im Rahmen seiner klaren Auf-gabe, sich der gegebenen Begriffe zu bedienen, um eine Gemeinschaft im Denken zu schaffen101 und dafür den logischen Eigensinn zu bändigen. So dient der logische Takt als Türöffner für die urteilende Vernunftstimme, somit auch als Bremse bei der Neigung der Menschen, ihrem „einmal gewohnten Gedankengange, auch in der Beurteilung fremder Gedanken zu folgen und so jenen in diese hineinzutragen“.102Andersherum unterstützt er dabei, vorurteilsfrei und aktiv, anstelle jedes anderen, sowie konsequent, einstimmig mit sich selber103 zu denken, was jenseits unbegreif-lich anmutender Sphären an versuchende Begriffe gebunden bleibt. Nur etwas we-niger gebunden ist der ästhetische Gemeinsinn und ein daran angelehnter Takt als ein subjektives Vermögen zur Beurteilung dessen, was das „Gefühl an einer gege-benen Vorstellung ohne Vermittelung eines Begriffs allgemein mitteilbar macht“:

Ergibt sich eine gedankenmitteilende Umgangslage und springt als allererste orien-tierende Instanz bei fehlenden Worten nicht der Verstand ein, so mag die „soziale Einbildungskraft“105 hier so viele Besuche machen, wie sie will; die Türen öffnen sich ihr nur, wenn man vorhat, gemeinsam mit anderen den eigenen Einbildungs-unsinn auf einen gemeinen Einbildungssinn zu bringen, also gemeinsam danach zu beurteilen, was hierbei die Regel sein könnte. 3.2 Der vermittelnde und regelelastische Takt

Sind Herzensbildung und Moralappelle zwei Auswege aus dem erzieherischen Para-dox, den Lernenden Selbsttätigkeit in verbleibender Heteronomie abzufordern, für die sich ein antwortgebender Takt einspannen lässt, so setzt der Pädagoge Herbart auf einen vermittelnden Takt als notwendiges „Mittelglied der Verknüpfung und des Übergangs“ vom Feld der Theorie zu dem der Praxis, denn „zu dem Verstandes-begriffe, welcher die Regel enthält, muß ein Aktus der Urteilskraft hinzukommen, wodurch der Praktiker unterscheidet, ob etwas der Fall der Regel sei oder nicht“106:Die Frage ist, wie der „Takt als Medium“108 oder auch als „Bindeglied des Notwendi-gen“109 seiner vermittelnden Tätigkeit nachkommt:

Die passende Gemütsstimmung samt Vorbegriffen für die Praxis erhält der Takt aus der Theorie. Ein guter Erzieher führt also den Takt dicht an der Theorie aus, was er aber nur dann schafft, wenn sich dieser in der Praxis in ihm so-und-nicht-anders ausbildet, „durch die Einwirkung dessen, was wir in dieser Praxis erfahren, auf unser Gefühl“:

Ein taktvolles Erziehen nimmt sich der vieldeutigen Praxis an und gibt den Prak-tikern die Freiheit, sich davon berühren zu lassen. Ziel ist, sich in der Praxis für die Praxis durch die Theorie gefühlsmäßig derart stimmen zu lassen, dass dadurch der richtige Takt die Erziehungssachen erfolgreich richtet. Herbart geht aber noch einen deutlichen Schritt weiter, wenn er sich selber in seiner Lehrrolle über das theoretisierende Feld hinaus in ein gemeinsames Übungsfeld mit pädagogischen Theoretikern, hier Studierenden, begibt, die auf dem Weg zu pädagogischen Prak-tikern sind:

Versuchend verlässt die Lehrperson ihren autoritären Standort als Wissen zügel-fest handhabende Figur und schlüpft stattdessen in die Doppelrolle des übenden Übungsleiters, der seine Ideen an sich und den Lernpersonen erprobt, ohne ihnen die Ideen vor allem Tun offenzulegen. Die Erfolge oder Misserfolge der Übungen sollen sich allen Übenden im Tun und Erleben ergeben, die Resultate über Selbst-beobachtung wie Menschenkenntnis abfragbar werden. Solche Szenarien, etwa als taktvolles Herstellen von Negativerfahrungen, lassen sich in allen gesellschaftlichen Proberäumen herstellen, wo es nicht gerade um nichts, aber auch nicht um alles geht. Übungen isolieren und fokussieren Details, sie experimentieren mit ihnen und lassen sie mit anderen Augen sehen, womit das Gesamtkonzept in ein anderes Licht gerückt werden kann.113

Einen bewegungssinnigen Takt schlägt auch der Rechtswissenschaftler von Jhe-ring in seinen Erwägungen zum sozialen Sinn von gesellschaftlichen Umgangsfor-men vor. Hier sind Höflichkeit, Anstand und Takt der Moral zuarbeitende „Zweck-schöpfungen des menschlichen Geistes“,114 ohne die das gesellschaftliche Leben im Allgemeinen, das Rechtsleben im Speziellen nicht auskommen kann. Jede der drei Umgangsformen erhält bei Jhering einen eigenen Platz, wobei Höflichkeit in der konkreten Begegnung von Personen für deren positive Fürsorge, Anstand für einen negativen Schutz steht, also für das Unterlassen des sittlich Anstößigen. Bei-de arbeiten über Regelkorsagen. Der Takt ist dagegen „nicht Sache der Regel – es gibt Anstands- und Höflichkeitsregeln, aber keine Taktregeln –, sondern Sache des Gefühls, das die Regeln zu ergänzen hat“,115 also ein sich im Handeln bewährender Zuarbeiter des in einer Umgangslage unbestimmt bleibenden Anstands, der sich zudem nicht als „Finder oder Pionier“ erweist. Er „erschöpft sich im einzelnen Fall und wirft nichts für eine künftige Regel ab“,116 höchstens „die Personifikation seiner selbst: das Vorbild“, über das sich „die richtige Empfindung für dasjenige, was einen anderen verletzen könnte“,117 idealerweise einstellen mag:

Da ob der Vielfalt mitmenschlichen Lebens dasjenige, was zu tun ansteht, nicht überall ein für allemal festgelegt werden kann und soll, mit sachlichen wie stilis-tischen Lücken bei bestimmten Anstandsregeln und daraus entstehenden Um-gangsgefahren immer gerechnet werden muss, steht der Takt hier im Wächter-amt:

Unanständig ist demnach, was für das Gefühl der Menschen in ihrer Zeit, in ihrem kulturell gewachsenen Raum als Verletzung gilt, beispielsweise das Auftischen von vergammeltem Fleisch, unpassend dagegen muss der geruchsintensive Sonntags-braten den Vegetariern vorkommen. Unpassend ist, was aus bestimmten Gründen nicht in den Zusammenhang hineinpasst, wie Milch in Wein, ebenso wie quer zu der bestimmten Stimmung aufzutreten, wie der Missgelaunte beim Kindergeburtstag, oder sich quer zu Raum und Zeit zu verhalten, wie die einseitigen Endlosplauderer zu Unzeiten. Auch unpassend ist, den Ton nicht zu treffen, wie beste Freundschaftsgesten bei Vorgesetzten, oder auch den Gesprächsstoff an falscher Stelle zu platzieren, wie die muntere Rede über die Leiden von Scheidungskindern in Anwesenheit von frisch Getrennten. Was passend ist, zeigt sich als „Treffer des Gefühls in Dingen des Anstandes“,120 womit nicht gemeint ist, dass der treffende Takt von einer besonde-ren Empfindungsfähigkeit getragen wird:

Das Gefühl bekommt hier gleichwohl sein Recht, aber nicht als blind allgemeine Wahrheit ertastendes Organ. Wer mit Takt vorgeht, der kennt sich aus mit der Fra-ge, was im Augenblick eigentlich zu tun anstehen würde, er vermag also das eine vom anderen zu unterscheiden. Unterscheiden passiert mit Worten, über Reflexion, wohingegen für das vorher oder zeitgleich ablaufende nichtbegriffliche Verstehen das Erfindungsvermögen einspringt. Das im zwischenmenschlichen Miteinander entstehende Unpassende bedarf also eines Takts, der sich situativ findig zeigt, was vor allem dort stärker zum Tragen kommt, wo dem Regelapparat Elastizität bereits eingeschrieben ist, wie etwa im Recht, bei den mit Strafspielräumen arbeitenden Gesetzen. Genauer betrachtet, sind allerdings viele Bereiche mitmenschlichen Le-bens derart vom Unbestimmten bestimmt:

Der Zugang zum Takt setzt voraus, dass Menschen im Umgang miteinander Regel-werke schon kennen, damit sie auch erkennen, an welcher Stelle sie versagen. Sie müssen also schon irgendwie fündig geworden sein, um daran anschließend etwas zu erfinden, was sie für die konkrete Situation ersetzen, ergänzen oder variieren können. Wie gesagt, hat der Takt gerade nicht das Verbessern gegebener oder Fin-den neuer Regeln im Sinn. Er will demnach kein erneutes Verfestigen des momen-tan Verunsicherten, sondern hält sich selber in Elastizität bzw. Unvollkommenheit, womit er immer wieder neu einsetzbar bleibt, ohne sich „selber sein eigenes Grab graben“123 zu müssen. Im Stil seines schriftlichen Nachdenkens über den Takt zeigt sich Jhering ähnlich elastisch,124 so wie es für Rechtssätze gilt, die nur durch das richterliche Urteil fallbedingt erstarren, mit der festen Erwartung, dass sie es – im Recht für vorbildhafte Rechtsregeln, im Sozialen für vorbildhafte Anstandsregeln – stets mit Takt tun. 3.3 Der psychologische und hermeneutische Takt

Hermann von Helmholtz125 bringt mit dem psychologischen Takt die Frage ein, wie die voneinander geschiedenen Geistes- und Naturwissenschaften zu einem recht-schaffenen Resultieren gelangen können. Angenommen, die Geisteswissenschaft bewegt sich in den durch sie selber eingeführten Ordnungen, dann muss unklar bleiben, wie über das reine Abfragen dessen, was Regeln, Gesetze, Schemata an-bieten, mit den einzelnen Erkenntnissen, die zu einem „klar begrenzten Begriffe“126zusammengeführt werden sollen, umzugehen ist, da sich hier mit Gewissheit nichts bestimmen lässt. Sobald ein über das reine Schließen hinaus gehendes Erkennen, Verstehen und Urteilen sein soll, bedarf es einer Instanz, die ohne klar definierte Regeln auskommt und dabei Erkenntnisse austrägt, die ihrem Gegenstand trotzdem gerecht werden, was nur mit „einem gewissen psychologischen Tacte“127 gesichert scheint. Der Takt, eine Art von künstlerischer Induktion, nach der zunächst die ge-gebenen Quellen mittels instinktiver Anschauung und gebildeter Wiedergabefähig-keiten auf Glaubwürdigkeit, Motive auf Plausibilität oder auch Textinhalte auf den dort eingeschriebenen Sinn überprüft werden:

Wer schnell einander wesentlich Ähnliches herauszufinden, von Unähnlichem zu unterscheiden vorhat, der benötigt ein breites und gutes Gedächtnis, eine „fein und reich ausgebildete Anschauung der Seelenbewegungen […], nicht ohne eine gewisse Wärme des Gefühls und des Interesses an der Beobachtung gewis-ser Seelenzustände Anderer“,129 was wiederum die Teilnahme am lebendigen All-tag voraussetzt. Dieses Taktgefühl spielt auch in den Naturwissenschaften eine wichtige Rolle.130 Darüber laufen alle Arten von Induktion, „welche nicht bis zur vollendeten Form des logischen Schließens, nicht zur Aufstellung ausnahmslos geltender Gesetze durchgeführt werden“,131 wozu das Systematisieren, Katalogi-sieren in der Tier- und Pflanzenwelt ebenso gehört, wie das deutende Einordnen von menschlichen Sinneswahrnehmungen und von psychologischen Abläufen, deren Verstehen von vielen Faktoren abhängt, wie dem Charakter, dem situa-tiven Gemüt oder dem Willen. Nur für das Feld der reinen Mathematik erkennt von Helmholtz die volle Option allgemeiner Gesetze mit unbedingter Gültigkeit, hier hat die „eiserne Arbeit selbstbewussten Schließens“132 keine Konkurrenz vom künstlerisch-psychologischen Takt.

Das Gedächtnis als Quelle und Werkzeug für wissenschaftliches Tun ist auch für den Hermeneutiker Gadamer von großer Bedeutung. Aber er hat hier eine andere Antwort als von Helmholtz bei seiner Frage, wie in diesem Feld erkannt, verstanden, geurteilt werden kann. Gadamers Grundidee heißt Bildung im Sinne von „Menschenbildung“,133 weshalb das Gedächtnis auch keine „bloße Fähigkeit“ ist, den versammelten Stoff zur richtigen Zeit auf die richtigen Schlüsse hin zuei-nander zu bringen, vielmehr ein über Erinnern, Behalten und Vergessen gebildeter „Wesenszug des geschichtlich-endlichen Seins des Menschen“.134 Der im Leben wie „in den Geisteswissenschaften wirksame Takt erschöpft sich nicht darin, ein Ge-fühl und unbewusst zu sein, sondern ist eine Erkenntnisweise und eine Seinsweise zugleich.“135 Ein gutes Textverständnis wie eine gute Menschenkenntnis sind dem-nach nicht nur über reglementierende Seziermesser erlernbar, da die Reglements der Praxis ebenso wie jene der Theorie zu wünschen übrig und nach Takt rufen lassen. Das so gesehen Unvollkommene vollkommener zu machen, setzt aber wie schon gesagt voraus, dass dem ersetzenden Takt ein Wissen darüber zu eigen ist, woraufhin er ersetzen, hier sogar vervollkommnen, soll. Er muss also die nirgends naturgemäß herumliegenden, sondern irgendwo festgehaltenen, allgemein geteil-ten, Ideen von dem Wahren bereits gut kennen, einen Sinn im Sinne eines Bewusst-seins dafür entwickelt haben:

Wissenschaftliches Tun fordert demnach ein Herangehen an die gehörte oder ge-lesene Sprache mittels zweier Werkzeuge: des expliziten Bewusstseins oder Wissens sowie des implizit verlaufenden Sinns oder Gefühls, das über das richtige Verste-hen, das Werten und Unterscheiden im konkreten Fall entscheidet. Auch bei Ga-damer dürfen die jeweils gewählten guten Gründe selber im Gemütsdunklen ver-bleiben. Die Frage ist, ob es bei den nicht nur wissend, auch empfindend fürwahr genommenen Zeichen nur darum geht, in das gezielte, wissentliche Entschlüsseln auch Intuitionen einfließen zu lassen, oder ob darüber hinaus daran gedacht ist, die hinter dem Text verborgene Ausdrucksabsicht des Autors von dem deutenden Ge-fühl eines Rezipienten wie einen Schatz zu bergen. Die Antwort liegt in Gadamers Verständnis von Bildung: Solange gewusst wird, worauf das Erkennen, Verstehen und Urteilen hinausgehen soll, haben vage bis selbstsicher herausgefühlte Wahr-heiten zwar ihren Raum, werden aber auf einen durch Bildung daraufhin beweglich gehaltenen Geist selber gebildet und entsprechend in Schach gehalten. Den Takt bindet er also von zwei Seiten an den Begriff der Bildung, womit er mit ihm aus der Sphäre der Deutungen in die der Zwischenmenschlichkeit geht, denn Menschen bilden sich, um aus den jeweiligen theoretischen Grundlagen heraus praktisch wer-den zu können; die sich Bildenden bedürfen des Takts, um einen beweglichen Geist zu formen, der sich im zwischenmenschlichen Feld, „für Situationen und das Ver-halten in ihnen, für die wir kein Wissen aus allgemeinen Prinzipien besitzen“, 137empfindungsfähig zeigt:

Aufmerksam für die Gegebenheiten einer einzelnen Lage, beruft sich der mit Takt Vorgehende auf seinen „Geschmack für den besonderen Fall“139 und vermag aufgrund dessen das jeweils Richtige als ein Wahrscheinliches zu tun, auch ohne Gründe an-geben zu können, die sich auf Wahrheit hin verallgemeinern lassen. Für Gadamer bilden die mit Takt gewonnenen Erkenntnisse zurückgeführt wiederum den Faktor Bildung und damit das Sein des Menschen darin aus. Er ist also für das theoretische wie praktische Feld als Korrektor und Kontrolleur durchaus schöpferisch tätig und damit von gewisser Elastizität. Das aus der Theorie in die Praxis und wieder zurück zu verlebendigende Worauf-hin bleibt dabei allerdings weitgehend unhinterfragt und damit starr. 3.4 Der psychoelastische und schamhaltende Takt

In seiner Arbeit zur „Elastizität der psychoanalytischen Technik“140 betont der Ana-lytiker Ferenczi, dass mit dem Einführen der zweiten psychoanalytischen Grundre-gel der persönliche Stil des angemessen deutenden Analytikers im Umgang mit den Patienten zurückgegangen ist: Da jede Person, die eine andere analysieren will, sich zunächst selbst der Analyse zu unterziehen hat, kann seither von einem größeren allgemeingültigen Analysebesteck ausgegangen werden, mit dem willkürliche, indi-viduelle oder unbestimmte Maßnahmen seitens des Analytikers gebremst werden. Und dort, wo von ihm ausgehend noch Gefahren einer freien analytischen Fahrt lauern, ist es

Der Takt ist eine Kunst der gütigen Einfühlung in die vielfältigen sowie beweglichen Seelenlagen der Patienten, aber nicht als ein dem Analysierenden frei überlassenes Tun, sondern auf der allgemeineren Grundlage jenes analytischen Wissens, das durch die zergliedernde Arbeit an der eigenen und anderen Seele entsteht. Für Freud dagegen ist der Takt zunächst ein technikfreier, rein persönlicher Umgangs-stil des Analytikers, für dessen spontane Einsätze bei Versagen der gültigen, auf Schonung gebuchten Analyseregeln. Takt bedeutet bei ihm: auf keinen Fall eine Taktlosigkeit. Aber er kommt Ferenczi etwas entgegen, wenn er den Takt als „vor-bewusst bleibende Abwägung“ bedenkt, der mit der situativen Dynamik auch er-möglichend arbeitet und so „seines mystischen Charakters“142 entkleidet. Das Ent-mystifizieren gehört zu den Hauptanliegen von Ferenczi: Gegen bloß intuitive Ideen soll der Takt als elastische Technik stark werden, auf dass dadurch die „bewusste Abschätzung der dynamischen Situation“143 zwischen dem Patienten und dem Ana-lytiker einen angemessenen Raum erhält. Der Takt als „Einfühlungsregel“144 steht dabei fest in der Aufgabe, mit den Widerständen des Patienten so umzugehen, dass sie in keinem Fall übermäßig gereizt, bestenfalls immer weniger werden, wobei das zur Analyse dazugehörige Leiden möglich bleiben muss. Ein solcher therapeuti-scher Eiertanz gelingt umso besser, je versierter, also beweglicher, der Therapeut im Umgang mit den vielen freien Assoziationen des Patienten ist und je weniger er in seiner Rolle hierarchisiert. Ein solches Tun, das auch in anderen von Deutungs- und Beziehungskünsten getragenen Bereichen bedeutsam werden kann, „kostet keine Energie, sondern nur Präsenz“.145 Mit dem eiertanzenden Takt lässt sich für alle nachvollziehbar arbeiten; mit ihm dürfen alle offen irren, in der Sache und im Ein-kleiden derselben über Sprache, Mimik und Gestik auch daneben liegen. Eine Ana-lyse ist kein stetes Bauen nach Plan, es wird zu einem „immerwährenden Oszillieren zwischen Einfühlung, Selbstbeobachtung und Urteilsfällung“,146 mit dem Ziel, dass die Patienten eigenständig mit den Ergebnissen der Analyse und mit den für sie in ihrer Lebenspraxis relevanten Reglements elastisch umgehen. Die Analyse im Sin-ne von Ferenczi arbeitet mit einem Takt, der fest in ein elastisches Deutungs- und Beziehungsband eingebaut ist, auf dass kein Analytiker in der Analysesituation in wilde Aktivität oder starre Passivität fällt. So sind auch die Gefahren gebannt, die Freud für jenen Takt gesehen hat, dem alles überlassen wird, was über voll versi-chernde Analysetechniken nicht negativ geregelt ist. Damit der sinnvolle Umgang mit Elastizität sicher gelingen kann, muss der Analytiker eine Haltung der Beschei-denheit wie Sympathie dem Patienten gegenüber entwickeln, die ihm nicht zur Pose werden darf;147 zugleich hat er in den Techniken gut ausgebildet zu sein. Derart kundig beim Einfühlen und Abschätzen, kann er die Freiheit ausschöpfen, die mit jeder Form von sozialer Elastizität einhergeht und in seinem sparsam deutenden Verstehen der Analysesituation den eigenen Ideen wie den Ansichten des Patienten hinreichend Raum geben, schweren therapeutischen, d. h. dem gedachten Seelen-heil nicht dienlichen, Taktmängeln entgegen.

Die hohe Relevanz des Takts für die Analysesituation, bzw. in derselben, ob nun dem Talent des Analytikers und damit eher dem Zufallstreffer überlassen oder als reflektierte Analysetechnik fest eingebaut und verlässlich abrufbar, sollte deutlich ge-worden sein. Auch in den psychologischen Arbeiten von Wurmser148 spielt der Takt eine wichtige Rolle, selbst wenn er dort, wie bei den meisten Takt-Interpreten, nur bruchstückhaft über das Werk verteilt vorkommt. Der Takt allgemein und speziell in der Analysesituation gehört für Wurmser zu den unerlässlichen Haltungen und Tech-niken des Analytikers. Zudem ist er das Sicherheitsnetz, in das sich sämtliche Analy-sedeutungen und -beziehungen bedenkenlos hineinfallen lassen können. So hat er die Hauptrolle des großen Achtgebers, aufpassend, dass es zu keinen Gesichtsverlusten kommt, die durch das Missachten von Schamgrenzen auf radikalen Wegen entstehen:Jenseits dieses allgemein erwartbaren Takts hat die Analysesituation den „analyti-schen Takt“150 nötig, dem ein doppelter Schutz- oder Regulierungsauftrag zu eigen ist: Mit ihm sorgt der Analytiker auf der Sachebene dafür, dass sich die Patienten in der Situation hinter ihren Masken verbergen, ihr Seelenleben ebenso vor den Zudringlichkeiten des Analytikers wie vor den eigenen neugierigen Blicken schüt-zen dürfen, und zugleich muss die konkrete Situation für die Patienten so gestaltet werden, dass deren dort erscheinendes Erleben, beispielsweise von Angst, Schuld, Schmerz, Trauer, Gefahr, also Formen des Leiden, im Analysemoment einen pas-senden Platz erhält. Auf der Beziehungsebene schließlich reguliert der Takt das Verhältnis zwischen Therapeuten und Patienten daraufhin, dass Besonnenheit und Rücksicht, vor allem aber Achtung vor jedwedem zum Ausdruck gebrachten Erle-ben des Patienten, herrscht – was, mit Blick auf die Relevanz des Umgangs mit Leid, in Ausnahmefällen für sie sogar bis dahin gehen darf, „das Gesicht zu verlieren, aber die Tränen zu gewinnen“151:

Soll die Analysesituation „den Narzißmus des Patienten vor ungebührlicher Verlet-zung bewahren und damit seine Neugierde vergrößern“, braucht der Analytiker eine Sprache, über die er „die Neugierde des Patienten stimuliert, aber gleichzeitig auch eine schmerzliche Wahrheit, die bisher verborgen und abgewehrt wurde, zu enthül-len vermag“.153 Damit ein solcher Spagat gelingt, ist die therapeutische Atmosphäre so zu gestalten, dass sich alle im konkreten Zusammensein absolut aufeinander ver-lassen können. Dabei geht es zunächst um das Gewährleisten der äußeren Sicher-heit für die Patienten in ihrem potentiell beschämenden Kontakt mit dem Analy-tiker, damit ihre innere Sicherheit in der Analysesituation sicher ist, um dann ihre Neugier auf sich selber strapazieren und entsprechend therapieren zu können. Erst in abgesichert-ermöglichenden Atmosphären kann die Schaulust-auf-sich derart angeregt werden, dass sich das bislang Verborgene im erträglich-zuträglichen Maße entbergen kann. Da es in der Analysesituation offenbar nicht ausreicht, dem Patien-ten mit besonnenen und besonnen verletzenden Gesten zu begegnen, sondern dazu der richtige Moment für all das abzupassen ist, kommt dem Takt hier noch die Rolle des Timing-Garanten zu, auf dass mit den im rechten Augenblick besonnen einge-setzten sprachlichen, gestischen, mimischen Zeichen wie von selbst „alles andere in seinen rechten Platz [fällt]“:

Es versteht sich, dass alle Analysetechniken zu vermeiden sind, die ohne Takt aus der Theorie in die Praxis gehoben werden: dozierende, überredende, kommentie-rende oder sonstige starr gehaltene Untertöne sind fraglos fehlplatziert. Bei der Technikfrage legt Wurmser den Fokus deshalb auf eine reflexive und atmosphäri-sche Praxis:

Arbeitet der Takt als Grundhaltung schonend und als Technik auch grenzstrapa-zierend, bis hin zu Gesichtsverlusten-mit-Tränengewinn, dann ist es eine offene, da nur fallweise zu beantwortende, Frage, wie die beiden Takte in einer Analysesitua-tion für die herzustellende Atmosphäre des Vertrauens zusammenfinden, da jedes Erleben mit dem Ziel, Synthesen nicht von anderen anleiten, sondern am eigenen Leib erfahren zu lassen, uneingeschränkt zugemutet werden soll. Setzt der scham-haltende Takt auf das sich-selbst-herstellende Selbst, sei es als wagemutiges oder vorsichtiges, kann er hier nur insofern von analytischer Intelligenz sein, als sich der Analytiker mit ihm stets die Grenzen seines eigenen professionellen Schaffens bewusst hält, was bei zunehmender Komplexität der Diagnostik und entsprechen-der Analysewerkzeuge „mehr, nicht weniger Takt und Vorsicht“156 bedeutet, damit sein Hören, Verstehen und Sagen auch „zum gegebenen Material des Augenblicks passen“157 und als Erklärungen Permanenz bekommen. 3.5 Der statushaltende und systemische Takt

Mit ganz anderen Augen auf den Takt schaut der Soziologe Goffman, der seinen hohen Schutzfaktor gegen Statusverluste einsetzt, womit die in einer misslungenen Darstellung verloren gegangenen öffentlichen Selbstbilder gemeint sind: Suizidale Klienten und Therapeuten, mental retardierte Schüler und Sonderpädagogen, Leh-rende und Lernende dürfen voraussetzen, in ihrem gemeinsamen Aktionsfeld als solche und nicht als andere gesehen und behandelt zu werden, außerhalb dessen als andere, nicht als diese. Sie alle müssen umso mehr davon ausgehen, als bei aller Statuskontrolle im mitmenschlichen Verkehr mit einer Vielzahl von unbeabsichtig-ten, aber auch gezielten, darstellungsschädigenden Gesten zu rechnen ist, die meist jenseits der Möglichkeit situativer Richtigstellung liegen. Da aber die Studierenden wünschen, dass die Lehrperson ihren lehrenden Part durchhält, so wie Therapeuten, Sozialpädagogen mitsamt ihrer Klienten sich erhoffen, nicht voneinander an der Nase herumgeführt zu werden, sind alle Darsteller gleichermaßen bereit, die Darstellungen des anderen zu schützen.158 So denkt es Goffman und setzt dafür einen soufflierenden Takt ein, der für eine erfolgreich und reibungslos verlaufende Rolleninszenierung zu sorgen hat. Seine konkrete Aufgabe ist der Schutz des fremden sozialen Gesichts, sein Einsatzort die gemeinsame Umgangslage. Auf diese Weise bewahrt er das mit einem druckreifen Skript ausgestattete Umgangsstück vor Rollenversagern, deren grobzügi-ge Rollengesichter sich erst im Spielverlauf, im Ausführen einer Handlung mehr oder weniger gut ausgeführt zeigen. Wenn er sich also dafür einsetzt, dass der spontan aus der Systemreihe Tanzende seinen Platz als Ensemblemitglied oder auch der so ge-nannte Außenseiter seinen angestammten Platz als Außenseiter immer wieder finden kann, dann unternimmt er diese Anstrengung einzig, weil er weiß, dass im Leben alles seine Ordnung hat und die dies Darstellenden zwar verschieden motiviert, aber alle gleichermaßen daran interessiert sind, diese-und-nicht-jene Ordnung aufrecht-zuerhalten. Der Takt als Schutzmanöver bleibt dabei stets etwas Hingehauchtes; die Darstellungsstörung wird dem Störenfried immer nur leicht angedeutet, manchmal auch behutsam übersehen oder zart umgelenkt. Dazu sind nicht nur die Protago-nisten des Stücks aufgerufen; auch das Publikum hat hier das Recht und die Pflicht, solche nicht im Skript stehenden Szenen zu verhindern. Selbst eine Regung wie die temporär auftretende Schüchternheit kann hier als größere Unruhen verhindernder Personenschutz brauchbar werden, ebenso wie leicht scherzhaftes Darstellen, damit bei einer Störung ein Entschuldigen, Ausweichen oder anderes noch erlaubt ist. Die Vorstellung eines über den manipulierenden Takt laufenden Schutzkonzepts für das soziale Gesicht zeigt bei aller Theaterbegrifflichkeit eine Schwere, die kaum Spielräu-me für Bewegungen innerhalb des Drehbuchs vorsieht:

In privater Gesichtsnacktheit bereitet sich der Mensch auf seine öffentliche Auf-gabe vor: die zur Lage und zur Person passende Maske zu finden und zu tragen. Sie darf weder zur unglaubwürdigen Pose werden noch sich von sich selbst ent-fremden oder gegen andere misstrauisch werden. Während bewegliche Rollen auch riskierende Spielräume zulassen, sind die eindrucksmanipulierenden Rollen schon drehbuchgemäß festgeschrieben, bevor das Spiel überhaupt begonnen hat. Der Takt schützt nur noch das schon fertig ausgemalte öffentliche Gesicht, egal, welche Aus-drücke es in der konkreten Situation zeigt oder zu zeigen vermag.

Ein ähnliches Beziehungsgefüge wie das von einem Patienten und dem Analy-tiker, ist das von einem Vorgesetzten und dem Untergebenen, nur dass hier die Autoritätsrolle sichert, wo sie dort verunsichert. Die Problematik des neuen Chefs160mitsamt der Rolle des Takts zeigt für den Systemtheoretiker Luhmann eine ge-sellschaftliche Lage, die mit ihren von sachlicher wie personaler Unstetigkeit be-herrschten, an Erfolg orientierten Teilsystemen genötigt scheint, immer wieder neue Reglements aufzustellen, bzw. diese an vorhandene anzupassen. Dies führt zu erhöhter Ambivalenz oder Wertpolarität sowie bei den im jeweiligen System Han-delnden zu mehr Unsicherheit und Irritation auf der Bühne der zu meisternden Situationen:

Der Erfolg zwischenmenschlicher Umgänge ist also davon abhängig, ob die Betei-ligten sich hier mit „subtilen Taktiken“ auskennen. Sie müssen zu Täuschungsma-növern in der Lage sein, um dem Ziel, die systemtragenden Wege für alle begehbar zu halten, gerecht zu werden: Ist der Chef in einer bestimmten Angelegenheit deut-lich langsamer als seine Mitarbeiter, so können sie ihm über rhetorische Finessen das Gegenteil vorspielen, ihn etwa verdeckt „an der langen Leine laufenlassen“:162So geht es mit Takt um eine Art von „Offenlassen der Entscheidung, von der je-der weiß, daß sie entschieden ist“, und zwar über eine „geistreiche Indirektheit, die schön gesagte Falschheit, die die Richtigkeit des Gegenteils erraten lässt“.164 Das Ziel eines solchen Vorgehens ist, ein offenes Moralisieren und damit einen offenen Kon-flikt zu umgehen, so dass das System ungestört läuft, alle darin ihr Gesicht wahren können. Hier sind beispielsweise Lehrpersonen so freundlich, Lernenden gegen-über nicht offenzulegen, dass sie nur bedingt frei sind, diese wiederum verschwei-gen, dass sie davon wissen:

Für Luhmann ist der Einsatz des Takts das Mittel zum Zweck, die jeweils übernom-menen und nicht in Frage gestellten, unbearbeiteten Rollen gesichtswahrend halten zu können. Dies gilt vor allem in Situationen,

Alle, die in Lagen geraten, die von der „Verschiedenheit der sozialen Stellung, also des Ranges, des Vermögens, sogar der Klugheit und Bildung“,167 geprägt sind, haben somit einen ordnenden Takt nötig, der zwischenmenschliche Abstürze verhindert. Dies gilt aber nur für moderne, aufgeklärt-abgeklärte, nicht für streng hierarchi-sche Machtgefüge. Ein Alleinherrscher, ob er seine Macht aus Neigung oder Über-zeugung demonstriert, muss nicht subtil agieren.168 Ihm und seinen Untergebenen stellt sich die Taktfrage nicht. Soll es dagegen in Gefügen und Gefällen von Macht um Anschlussstellen für ein weiteres Systemhandeln gehen, so ist allererst selbst- und fremdgeschaffene Mehrsinnigkeit zu erkennen, damit ein Taktinteresse aller überhaupt entstehen und umgesetzt werden kann.

Wer im Umgang mit anderen wissen darf, was er tut und davon wissen darf, der deckt das unauflösbare „Paradox von Kausalität und Freiheit“169 auf, um es dann über „taktvolle Kommunikation“170 wieder abzudecken: „In der Sache geht es dann um den Versuch, Einfluß zu nehmen, ohne die freie Selbstbestimmung des anderen offensichtlich in Frage zu stellen“, also beispielsweise im Erziehungsalltag ein Leis-tungsverhalten zu erwarten und gleichzeitig den Kindern gegenüber so zu tun, als wäre das erbrachte Leistungsverhalten nicht fremdbestimmt, sondern selbstmoti-viert. Wer das System nicht zu stürzen vorhat, für das er mit seiner jeweiligen Rolle verbindlich engagiert ist, der kommuniziert „eindeutig mehrdeutig und wirkt auch so“.171 Eine taktvolle Kommunikation bedeutet, in bestehenden und zu erhaltenden Systemen explizit von etwas zu wissen, von dem man besser nichts wissen soll, um sich dann darauf zu einigen, dieses Wissen immer wieder zu verdecken, also kleine Fluchten aus der drohenden Gefahr eines radikalen Entweder–Oder zu finden oder zu erfinden. Solche Fluchten sind nicht heuchlerisch oder feige, vielmehr durch-aus mutig im gekonnten Spiel mit den jeweiligen Gegebenheiten. An dieser Stelle kommt eine Frage auf, die Luhmann selbst nahelegt: Werden für die vielfältigen Wege des Takts „keine allgemeinen Rezepte, aber eine Differenz zwischen den klei-nen Tricks und der großen Linie“172 gesehen, so ist doch zu erwägen, ob ein System nicht zugunsten seiner weiteren Beweglichkeit und Berührbarkeit oder Weltoffen-heit zuweilen eine etwas größere Linie ziehen muss. Was ist zu tun, wenn sich ein System wie beispielsweise das der Erziehung und Bildung von seinem großen in-neren Widerspruch befreien will, auf Freiheit und Mündigkeit hin zu erziehen und hierfür Erziehungsleitungen und Bildungsprogramme aufzustellen?

Wird jedes zwischenmenschlich relevant werdende Paradox als kognitives Problem erkannt, also weder voll hingenommen noch aufgelöst, sondern in ein umarbei-tendes Spiel miteinander gebracht, so erscheint es vordergründig wie ein am Reiß-brett geplanter Aufstand; im Hintergrund ist allerdings das durchgängig Vermittelte des Menschenlebens am Werk, mit dem man vernünftigerweise immer nur so weit geht, wie aus einer Unordnung wiederum Ordnung, aus Unmoralischem erneut Moralisches entstehen kann, jedenfalls für Exzentriker als reflektiert Takthafte, hier sich mit Takt taktvoll und taktlos aufeinander Einspielende, auch wenn letztere Ver-suche Luhmann wenig rentabel erscheinen:

Immerhin lässt Luhmann dem Taktlosen einen kleinen Raum, indem er das Experi-ment, etwa den grenzstrapazierenden Witz, darin aufnimmt, was besonders dann von Relevanz werden kann, wenn der auf Mündigkeit verpflichtete Mensch als ab-hängig gehaltener Körpermensch auftritt, etwa in medizinisch-pflegerischen, psy-chosozialen oder auch sportlichen Situationen. Mit einem experimentellen Takt ist also durchaus einiges zu erreichen – weil er nicht mehr, aber auch nicht weniger zu tun hat, als durch spontanes Irritieren, Vibrieren, Stören das zwischenmenschliche Miteinander situativ eine kürzere oder längere Weile zu halten oder woandershin umzulenken, auf diese-oder-jene gesichtswahrende Wege zu navigieren.

4 Mystifikationen

Die bisherigen Betrachtungen haben einen Takt durchblicken lassen, der irgendwo im Dazwischen von äußerer Ordnung und innerem Gefühl einen frei gewählten festen Platz einnimmt, um von dort das Spannungsfeld zu entspannen. Mystifika-tionen sind dann etwa dort zu finden, wo die freie Platzwahl verschleiert und der Takt mit dem Geist am Geist vorbei zum zwischenmenschlichen Verkehrspolizisten wird, der über eine in die Innenwelt des Einzelnen gelegte, intuitive wie subjek-tive Treffsicherheit die als allgemein betrachtete Ordnung der Außenwelt wieder-herstellt oder aufrechterhält. Dieser Takt ist als Vermögen und Mittel zum Zweck für ein heiles Seelenleben im heilen Gesellschaftsleben zuständig, da sich niemand sonst als die Gesellschafter selbst mit den Zumutbarkeiten der Seele befassen und auf mehr oder weniger davon festlegen. Wer dagegen daran denkt, dass die See-le ebenso wie Geist-und-Körper Nähe und Distanz, Ruhe und Aufregung, Frieden und Kampf anstrebt, also durchaus risikofreudig unterwegs ist, nicht nur rundher-um sichernd, erkennt etwas andere Ordnungswidrigkeiten und Aufgabenfelder des Takts als diejenigen, die sie vollständig auf Samt betten. So gesehen kann der Auf-ruf zur Schonung der Innenwelt auch ein Vorwand für die zu schonende Außen-welt sein, was besonders dann schwer wiegt, wenn ein gezielt oder versehentlich opak gehaltenes inneres Vermögen dafür herhalten muss und darüber ein Druck auf Erfolg aufgebaut wird, der mit nichts als der Ziellinie arbeitet. Was allerdings auch einem Takt passieren kann, der sich an der arbeitssamen Seele vorbei eher auf die Werkzeuge eines tätigen Geistes stützt, um sich darüber in ein gesellschaft-liches Bühnenstück hineinzuschreiben, in dem er sämtliche Rollenbeschreibungen kennen sowie auswendig vorsagen muss, womit er selber nur noch erfolgreiche, also störungsfreie, Aufführungen verantwortet. Wie am Beispiel der taktvollen Kommunikation bei Luhmann bekommt er hier zwar etwas Platz für Reflexion und darüber hinaus, wenn auch ungern, Spielräume für das Ausleben seiner Bewe-gungssinnigkeit bis hin zum erwägenden Umschreiben von Begrifflichkeiten, aber letztlich fährt er im zwischenmenschlichen Verkehr mit angezogener Handbremse und navigiert, wenn auch nicht wie von Zauberhand, möglichst ohne große Um-wege auf das Anstehende zu. Geht es demnach eher um Auflösung im Sinne von Erlösung einer zwischenmenschlichen Spannung, so zeigen sich verstärkt mysti-fizierende Bestimmungen des Takts, die nachfolgend anhand ausgewählter Varian-ten noch etwas nachgezeichnet werden, zum einen, um die ihn intuitiv treffenden Vorurteile175 präsenter zu haben, zum anderen, um für den zweiten Arbeitsteil auf die kämpferische, aber nie radikal ausführende Seite des Takts vorzubereiten. Die These ist, dass der Takt, der hier ohne Lizenz zum Antwortgeben bleibt, mit dem von daher keine erlösenden, immer nur fallweise zwischenlösende Wege gegangen werden müssen, nicht nur weiß, was er im Moment einer zwischenmenschlichen Situation tut, sondern auch weiß, dass er es weiß (und tut), was der mystifizierende Takt dagegen nicht wissen (und tun) darf, weshalb er beispielsweise notgedrungen offen lügt und täuscht, in Deckung geht, sozial blind weiß, karitativ spürt oder dis-kret entstört, naturgemäß intakt oder stimmig macht.

Sollen im zwischenmenschlichen Verkehr alle mit Takt zusammenkommen kön-nen, ohne zusammenstoßen zu müssen, so begegnet ihnen zunächst das Problem oder die Chance der vielen gleichzeitig möglichen sowie individuell-konventio-nellen Wege. Fehlt beispielsweise die Konvention, sich beim Umgang miteinander nach dem Befinden voneinander zu erkundigen, ohne eine individuelle Antwort zu erwarten, kann allerlei Unvorhergesehenes passieren: Das ausgeführte Erkundigen kann als aushorchende, die Privatsphäre missachtende Geste verstanden und mit brüskiertem Schweigen oder einem ärgerlichen „Das geht Sie gar nichts an!“ beant-wortet werden, aber auch als herzliche Einladung, etwas über den aktuellen Stand des eigenen Lebens zu erzählen und die fragende Person über lange Augenblicke zu verwickeln. In beiden Fällen bleibt ein unverbindliches „Danke, gut!“ aus. Merkt die befragte Person etwas vom Erwarten einer solchen flüchtigen Antwort, kann sie dort Gleichgültigkeit und fehlende Anerkennung herauslesen, was aber ebenso passieren kann, wenn das Erkundigen ganz ausgelassen wird. Das Vielfältige und Vieldeutige modernen Miteinanders kann nun entweder als Risiko oder als Chance oder als Risiko-und-Chance verstanden und gelebt werden. Die Wahl der Variante bestimmt den Umgang mit den überall lauernden Fettnäpfchen. Wenn es bei Ador-no heißt, dass die „Voraussetzung des Takts die in sich gebrochene und doch noch gegenwärtige Konvention [ist]“, um dann die Konvention als „unrettbar verfallen“ zu begreifen, fortlebend „nur noch in der Parodie der Formen, einer willkürlich ausgedachten oder erinnerten Etikette für Ignoranten, wie ungebetene Ratgeber in Zeitungen sie predigen, während das Einverständnis, das jene Konventionen zu ihrer humanen Stunde tragen mochte, an die blinde Konformität der Autobesit-zer und Radiohörer übergegangen ist“,176 so lässt sich der Schluss ziehen, dass der „emanzipierte, rein individuelle Takt zur bloßen Lüge“177 werden muss. Wer bei-spielsweise als Gast die Frage erhält, wie das Essen geschmeckt hat, könnte eher zu einer freundlichen Lüge neigen, als mit einem wahren „fade“ herauszuplatzen. An-statt den Gastgeber ungehemmt mit dem eigenen Geschmacksurteil zu behelligen, hält sich der Gast lieber zurück und schummelt ein bisschen oder lenkt die Frage woanders hin. Er wählt den Weg der „vom Taktgefühl diktierten Täuschungen“,178und dieses Gefühl läuft unbeirrt an der Leine dessen, was zur Rettung der Gast-situation und der Selbstbilder darin für nötig befunden wird. Eine solche taktvolle Tat ist eine Art von Handeln stattdessen, ein kompensierender Gang ins Unwahre, eine dem gastgebenden Selbstbild zuarbeitende, dabei unecht bleibende Geste, was aber nur dann aufgeht, wenn da irgendwo noch etwas Wahres oder Echtes vermutet wird und sein soll, das gesucht und gefunden werden will. Der täuschende, darüber hinwegtäuschende Takt ist hier eine „wunderbare menschliche Erfindung“, weil „er die kleinen und großen Schwächen des Alltags überspielt“,179 und nicht, weil er sich ihnen stellt, um mit ihnen füreinander ins Spiel zu gehen:

Der fest an das Wahre oder Echte glaubende Takt muss sich darauf konzentrieren, im zwischenmenschlichen Verkehr die vorherrschende soziale Ordnung der Din-ge zu beherrschen, um Unordnungen schnell und gründlich aus dem Weg räu-men zu können, was ihn zu einer unverzichtbaren Praktik im gesellschaftlichen Vor- und Fürsorgeprogramm macht. Der Gast, der sich mit seinem Geschmacks-urteil in einer Situation zurückhält, in der verbessernde Vorschläge möglicher-weise durchaus Platz haben, setzt mit Takt ohne Not nicht nur das Selbstbild des Gastgebers auf etwas dort selbst Hineingegebenes fest, etwa den guten Koch. Auch sein eigener Ruf bleibt streng innerhalb der Ideen, wie ein Gast anderen gegenüber zu sein und zu handeln hat, nämlich (der Situation und den Menschen darin) zuvorkommend. Ein solcher monologisch, nicht mehrstimmig, aufge-stellter Takt trainiert nichts weiter als die immer schon fertigen Selbstbilder der Umgangsleute und kontrolliert sie auf Bestand hin, ohne Spielräume im kommu-nikativen Verlauf zu lassen. Es ergibt sich durchaus die eine oder andere Schwie-rigkeit, wenn fürsorglich und vorsorglich eine Verlegenheit als Pein gewertet und mit Takt für den vermeintlich Verlegenen aus dem Weg geräumt wird. Denn eine Verlegenheit passiert nicht am Menschen vorbei, sondern geschieht ihm als Mitmensch oder wird von ihm bewusst platziert, und zwar nicht, um möglichst übersehen zu werden. Verlegene sind von daher nicht ohne Souveränität, sondern in und mit ihrer Verlegenheit ernst zu nehmen. Solange allerdings für sie eine Fehlleistung als Fehlleistung festgelegt und dabei vielleicht nur eigenen Interpre-tationsvorlieben gefolgt wird, bleiben Verlegene in einer für sie ungünstigen und tatsächlich nicht besonders souveränen Rolle. Wer die Uhr der selbstbeschrän-kenden Konventionen für abgelaufen hält, der kann einen Takt, der munter mit dessen fremdbestimmten Nachfolgern paktiert, nur verwerflich finden. Es ist hier wieder die Spannung zwischen Ordnung und Leben, „die eigentlich unmögliche Versöhnung zwischen dem unbestätigten Anspruch der Konvention und dem un-gebärdigen des Individuums“,181 die den Takt vor die Wahl stellt, den Vermittler oder Antwortgeber zu spielen. Entweder hat er das polare Paar zu nehmen, wie es ist, nämlich tatsächlich ewig unversöhnlich einander gegenüberstehend, also mitzumachen, indem er etwas damit macht, vielleicht nicht gleich die Konventio-nen auf den Kopf zu stellen, aber doch in Bewegung zu bringen. Alternativ bleibt ihm nur, abzudanken und die eigensinnigen Modernen sich selbst zu überlassen oder, und das ist eine wirklich undankbare Aufgabe, in Kontaktsituationen zu pflastern, was darunter nicht mehr heilt, damit es zwischen ihnen nicht noch un-erträglicher wird, als es immer schon ist. Dieser Takt bleibt so lange ein Zerrbild seiner selbst, wie getrennt wird, was zusammengehört, da sich Konventionelles und Individuelles miteinander verschränkt entwickeln. Die Sache mit der Indivi-dualität, verstanden als „Modus von Eigensinn, der spürbar um seine Bedingtheit weiß – also frei zu sich ist“,182 ist auch nicht mehr als eine anzuerkennende oder abzulehnende menschliche Vereinbarung. Wie die Sache mit der Wahrheit, der Lüge, der Täuschung, auch die haben sich emanzipiert und wirken in platzierter Absolutheit wie Spielverderber.183

Der Gast, der sich mit seinem persönlichen Geschmacksurteil nicht zurückhält, sondern es dem Gastgeber oder anderen Gästen gegenüber offenlegt, ist allen pein-lich und hat deshalb verlegen zu sein, was offenbar in der Natur der (Kultur der) Gastsituation liegt. Sein „Fade“ anstelle von „Danke, gut“ lässt etwas sehen und hö-ren, was niemand sehen und hören will, weil es nicht dorthin gehört. Es muss des-halb weg, also am besten übersehen, unsichtbar gemacht, überhört, isoliert werden. Hier kommt der Takt ins Spiel, und zwar als ein mit sozialer Blindheit beschenkter Gebieter, dem wesenhaft ist, „nicht zum Vorschein zu kommen“,184 weshalb er ge-räuschlos und unauffällig die persönliche Sphäre schützt und verteidigt, damit im Miteinander alle wie gewünscht gesehen werden können, und niemand versehent-lich beschädigt wird. Aber ein Gebieter mit Tarnkappe hat es schwer, weil man ihn erkennen muss, ohne ihn erkennen zu sollen:

In einer Gastsituation bleibt der Gast also bei sich und denjenigen Gästen, mit de-nen er gerade im Gespräch ist, ohne mit langen Ohren in die Gespräche anderer hi-neinzuhorchen, so wie Zugreisende nicht mit Stielaugen in anderer Leute Lektüren stieren, Spazierende beim Aneinander-Vorbeigehen Rempeleien sowie jede Form von auffälliger Aufmerksamkeit vermeiden. Gibt es keine sichtbar separierenden baulichen oder symbolischen Wände zwischen den einen und den anderen, haben die Kontaktierenden, die sich offenbar „in sozialer Berührung befinden, ohne sich zu berühren“,186 mit Takt so zu tun, als gäbe es zum Schutz von Seele und Seele „architektonische Abschirmungen“187:

Der Weg hier ist, dass sich alle vor allem Tun zu einem solchen separierenden Tun verabreden, und wenn alle den Rückzug mitspielen, ist der Rückzug ein gemein-sames Spiel des Rückzugs und der Takt nichts als ein Garant für einen darauf hin festgelegten Spielverlauf mit einem ebensolchen Spielergebnis, weshalb hier auch kein Umgangsmensch konkret sehen und gesehen werden muss, sondern ruhig auf beiden Augen blind sein darf. Alles passiert quasi unter der Hand, ohne zum Vorschein zu kommen. Die höchstens noch offene Frage ist, ob und wie das aus-weichende Umgangsspiel gelernt wird, wenn schon beschlossen ist, was zu tun ist (Ausweichen) und wie das zu Tuende ausgeführt werden muss (geräuschlos):

Es ist vielleicht ein bisschen unnötig, auf eine geheimnisvoll erscheinende Könner-schaft hinzuweisen, denn bei einer derart wasserdichten Wegleitung, die alles an Inhalt und Form von Umgangssituationen vorschreibt, nichts auslässt, ist da nir-gends mehr ein Geheimnis. Hier kommt es höchstens noch auf die richtige Lektüre der Wegleitung, das Einverständnis und einen total unauffällig bleibenden losmar-schierenden Rückzug an – mit dem Haken, dass kein Mitmensch, zumal einer, der „nicht aufhören [kann], mit seinem Körper zu kommunizieren“,190 also immer über irgendeinen Ausdruck in Kontakt ist, in seinem Für-sich-und-einander-Tun derart folgsam abspult, was zudem von ihm selber aufgespult wurde. Der Takt ist eine mit-menschliche Angelegenheit – und macht hier keine einseitig auf Schonung gebuch-te Ausnahme. Wenn es denn sein soll, dass in zwischenmenschlichen Verkehrslagen die Verkehrsteilnehmer füreinander „erreichbar, verfügbar und wechselseitig an-greifbar“191 sind, dann ist der Takt auch dafür da, gegenseitige Erreichbarkeit zu ge-währleisten und sich nicht nur über allerart Schutzmaßnahmen auf das Ausräumen oder Eindämmen der wechselseitigen Angreifbarkeit zu konzentrieren. 4.3 Der Entwicklungshelfer

Deutlich mystifizierender als beim Lügner, Täuscher und Blinden geht es in jenen Takt-Ansichten zu, in denen er als „schwer fassbares Gespür für einen ethisch ange-messenen Umgang mit anderen“192 in die Innenwelt gelegt und dem Vermögen des Subjekts überantwortet wird. Still und von innen heraus wissen hier Umgangsleute wie von selbst, was in einer Umgangslage zu tun und zu lassen ist, wobei sie nicht nur so tun, als wüssten sie es. Es war oben schon mit Luhmann angedeutet worden, dass ein vorgebendes Tun ein taktvolles Tun sein kann, wenn man nichts weiter vorhat, als offen versteckt das fremde Selbst intakt zu halten, weil es die gemeinsa-me Ordnung der Dinge so erwartet. Darüber wissen bestenfalls alle Mitmenschen Bescheid, auch jene, die als Hinnehmende davon betroffen sind. Und es war der Takt in diesem Zusammenhang auf einen erweitert worden, der durchaus in aller Umsicht seine taktlose Seite zeigen darf, wenn es gelegentlich darum gehen muss, über kleine Revolten frischen Wind in die Ordnung der Dinge zu bringen. Der Takt als Gespür will aber anderes sein und tun, etwa Umgangsräume „ohne Machtein-fluss“193 schaffen, die voll des „respektvollen Umgangs miteinander“194 sind, ganz „am anderen orientiert“, aber „ohne ihn zu bedrängen“.195 Hier leben Taktvolle als Selbstlose, insofern auch voll Tugendhafte mit ihrem gefühlt richtigen „sozialen Sinn“ für „die Bedürfnisse und Grenzen des Anderen“,196 der dort eingesetzt wird, wo „es keine Regeln gibt, die das Verhalten orientieren“,197 der „zur Anerkennung des Anderen [verhilft], ohne nach seiner Identität zu fragen“, weshalb er „vor allem für die Begegnung von einander Fremden relevant“198 wird:

Wenn der Taktvolle Fremden zuruft: „Ich muss nicht wissen, wer du bist, um dich mit Respekt zu behandeln“, dann klingt das richtig, aber nur solange der eigene Spürsinn für die Belange der Fremden nicht Belange sieht, wo gar keine sind, oder sie mit eigenen Belangen verwechselt. Das scheint hier ausgeschlossen zu sein, da Taktvolle nur von sich absehende Fremdbedürfnisvolltreffer landen können, wofür sie mit einem Vermögen ausgestattet werden, „das nicht auf gemeinsamen Verhaltenscodes oder intimer persönlicher Kenntnis beruht“, sondern „freie Im-provisation auf der Grundlage des Taktgefühls“200 verlangt, verstanden als „Sinn für Differenz und die Fähigkeit, sich für Anderes offenzuhalten“,201 auch im pri-vatesten Raum, um dort „der uneinholbaren Fremdheit des Vertrauten gerecht zu werden“.202 All das lässt sich nicht lehren, „nur üben, d. h. im Umgang mit anderen erlernen“.203 Nun sind aber miteinander Lernende kaum vorstellbar, ohne voneinan-der zu lernen. Wer mit und von anderen etwas lernt, hat immer auch einen neben und vor sich, der ihm im gemeinsamen Tun etwas beibringt. Keine Übung ist ohne einen anleitendem Untertext denkbar, damit das Was dessen, was da erfahren und geübt werden soll, überhaupt als ein Was erkannt wird. Ohne sich explizit abruf-barer Anhaltspunkte für das übliche Nähe- und Distanzbedürfnis zu bedienen, wird nur jene rechte Nähe-Distanz-Mitte gefunden, die zuvor selber als solche bestimmt wurde. Soll außerdem nicht nur „das Selbst, sondern das Recht des Anderen im Vordergrund“204 stehen, wonach der Taktvolle ganz von sich absehen muss, um sich fremden Umgangsbedürfnissen widmen zu können, wird deutlich, dass dies nur mit einem schwer bis nicht fassbaren Umgangsgespür funktionieren kann:

Wer so tut, als würde er eigene Bedürfnisse und Interessen vornehm zurückhalten, um fremde Bedürfnisse und Interessen überhaupt oder besser zu erkennen und zu behandeln, handelt wie mancher Entwicklungshelfer, der so tut, als würde er an sich selber vorbei etwas für die fremden Anderen tun, sie nie als Mittel zu ent-wickelnden Zwecken nutzen und naturgemäß rechte Mitten für sie finden. Solange aber gelten kann, dass zwischenmenschliches Begegnen mindestens dialogisch und wechselseitig angelegt ist, bleibt es angewiesen darauf, dass die einander Begegnen-den etwas von sich zeigen, damit sie sich miteinander orientieren können. Wer sich etwa in Dominanz, Selbstdarstellung und Gefühlsbetontheit zurückhält, nur weil er es für tugendhaft hält, muss übersehen oder missverstehen, dass ein derartiges Auftreten durchaus zu den kulturell üblichen Gepflogenheiten gehören kann. An-ders als der eindrucksmanipulierende Takt, mit dem wenigstens alle Umgangsspie-ler gleichermaßen aus dem Spiel um das gründlich Wahre geworfen und in das täuschend Wahre aufgenommen werden, geht hier der Taktvolle allein und gezielt aus dem Umgangsspiel, für sich selber blind wie für die anderen blind wissend, bleibt er grenzscheu. Diesen Takt für eine „Ethik der Anerkennung“206 gewinnen zu wollen, ohne dem gegenseitig versuchenden Erkennen Raum zu geben, bleibt eine eher selbstherrliche Geste. Der gedankliche Salto gelingt nur dann, wenn die Fremdbedürfnisse in kesser Bescheidenheit in die eigene Ordnung getextet und von dort gelesen werden. Alternativ ist ein Takt gefragt, bei dem sich im Kontakt mit an-deren das Eigene in reflexiver Vielfalt zeigt, da immer auch „mit anderen Augen“207auf sich wie andere geschaut wird. Es ist durchaus erlaubt bis geboten, so frei zu sein, das Recht des anderen, etwa sein dominantes, selbstdarstellerisches, gefühls-betontes Gebaren, besonnen zu durchkreuzen, ohne dass ihm dabei zwangsläufig das Gesicht verloren gehen muss. Zuweilen ist dann ein nuanciert Eigenes zu er-kennen, dem es bislang nur an Mut gefehlt hat, sich in die Öffentlichkeit zu wagen. 4.4 Der diskrete Gleichschalter Eine mystifizierende Seite erhält auch ein dem Wesen des Menschen auf wunder-same Weise wesentlicher Takt, freilich nur in seiner feinfühligen wie zeitlich ein-spurigen Version: augenblicklich einsetzend, die günstige Gelegenheit beim Schopf packend, auch diskret vorgehend,208 dessen synchronisierende, vermögende Rol-le noch immer den Takt der Umgangslagen prägt. Allerdings ergeben sich gerade aus der Synchronisierungsfrage zwei interessante, da disparate, Wege für den Takt, denn es ist überhaupt nicht sicher, was daraus folgt, wenn der spontan willkom-mene, schnellste, diskret zuschlagende Gedanke, eine auftretende Störung durch nicht Vorhersehbares aufhält, ausräumt oder schwach hält. Verbessert ein diskreter Takt, der Störungsresistenz und damit beste Synchronisierung herstellt, das Wahr-nehmen, Erkennen, Urteilen und damit auch die Künste des Handelns oder treten womöglich sogar Verschlechterungen auf? Denn der schnellste Abruf eines lösen-den Gedankens auf ein Umgangsproblem lässt sich auch als ein ordnungshaltendes Zeichen dafür verstehen, dass sich sein kreatives Problemlösungspotential gar nicht erst entfaltet, da die auflösende und erlösende Antwort fast zeitgleich mit der Fra-ge da ist. Der diskrete Takt hat keine Wahl, er beherrscht nur ein einziges Tempo, er kann nichts als augenblicklich reflexhaft zuschlagen. So lässt er sich weder pla-nen noch situativ lenken, fest in seiner Aufgabe, sämtliche Störungen zugunsten des wiederherzustellenden Gewohnten aufzuheben, das sozial Kaputte zu heilen, nicht dort heilsam zu wirken. Dagegen ist der aufeinander einspielende Takt auf kein Tempo beschränkt. Er kann zwar nicht naturgemäß reflexhaft auftreten, aber durchaus so tun als-ob, und er darf darüber hinaus auch diskret indiskret sein, um ein bisschen die Ordnung der gesellschaftlichen Dinge aus dem gewohnten Takt zu bringen. 4.5 Der Intakte

Intakt ist, was nicht kaputt ist. Der intakte Takt ist eine pulsierende, zeitlich orga-nisch getaktete Bewegung, über die sich der Mensch von Moment zu Moment im Takt des Lebens hält:

Ein solcher „Lebenstakt“210pulsiert demnach wie von selbst zwischen Form und Freiheit, Sinnlichem und Vernünftigem, Dynamik und Permanenz, als würde er vom Herzmuskel angetrieben. Zudem erhält der Takt die Aufgabe, aus den zwi-schen zwei gegenläufigen Trieben hin und her pendelnden Menschen Personen werden zu lassen, die werden, indem sie sich diesem Lebenstakt hingeben, was aber bedeutet, dass nicht die Personen in all ihrer verfügbaren Freiheit den Ton angeben, sondern der durch sie hindurch tönende Takt:

Dieser Takt hält sich aber nur dann durch, wenn er fest an die pulsierende Bewe-gung gebunden nach ästhetischer Ganzheit strebt, d. h. er überlebt einzig durch die genannte Spannung oder das vom Organ Herz angetriebene pulsierende „rechte Spiel“212 mit den nach Freiheit und Form gleichermaßen strebenden Kräften. Bleibt nun das rechte Spiel Bedingung der Möglichkeit dafür, dass die polar angelegten Kräfte wie von selbst auf Harmonie hin zueinander finden, ohne diesem Spiel hin-reichend Spielraum für gezielte Bildungsmöglichkeiten zu geben, so fehlt hier vor allem: das Element der Freiheit im Vollzug des Spiels. Alles geschieht, moralisch gütig, ästhetisch schön, garantiert durch den Spieltrieb, der wie von selbst intakt macht. Umgänge hängen dann von gelingenden Takttaten ab, welche auf Passge-nauigkeit hin zusammenarbeiten müssen. Das kann man so denken, als gewünsch-ten Wesenszug des Menschen aufstellen, aber als Exzentriker nicht still zu etwas konkret Unmittelbarem werden lassen. Zwar hat auch der aufeinander einspielen-de Takt so etwas wie eine „Kultivierung des Spieltriebes“213 im Sinn, aber schon in einer gebildeten Version, damit die daraufhin Gebildeten nicht bloß wie an einem unsichtbaren Faden hängend zu ihm getrieben werden. Bleiben sie beweglich, also im Mit-Spiel, dann „haben die Dinge ein Spiel“, sind „auf diese Weise je schon über sich hinaus, mehr als nur vorhanden, wirklich als Entfaltung von Möglichkeiten, die in keiner Verwirklichung restlos zum Ausdruck gelangen“.214 Dabei ist das Mit-Spiel dem Ernst so wenig entgegengesetzt wie das Leben der Ordnung, das Reale dem Idealen, es gilt gerade nicht, das Dazwischen mit etwas zu kitten, sondern vom „basalen Charakter“215 des Spiels auszugehen, um es ernst zu nehmen, so dass kein irgendwo verstecktes Ursprüngliches mehr gesucht werden muss. Ein Takt, der mit den Gegebenheiten einer Umgangslage auf noch Unbestimmtes spielt, weil das Be-stimmende sich erst im Vollzug mehr oder weniger zeigt, muss das Zusammen-spiel von Denken und Treiben, Vernunft und Gefühl, Erklären und Erzählen nicht auf das moralisch und ästhetisch Gewohnte vorab festlegen, damit man dahinter in Deckung gehen kann. Er darf taktieren, es auf Ambivalenzen hin probieren, um abseits des Gewohnten oder Geregelten etwas Anderes zu schaffen, diese-oder-jene Variante glücken zu lassen. Damit ist er raus aus jedwedem Zwang, außer aus je-nem, den er sich selber auferlegt, und kann demnach das machterhaltende System genauso auch durchkreuzen.

Angenommen, das Leben der Menschen ist mühselig, beladen und auf das Para-dies gestimmt, so lässt sich über Schutz- und Trutzräume Mühe und Last auf-fangen wie Stimmigkeit herstellen, deren Verletzung nur ästhetisch oder schon ethisch in die Kritik geraten kann: Wer verspätet zu einem Treffen kommt, zeigt hiernach einen Taktmangel, wer dem Treffen unentschuldigt fernbleibt, scheint bereits taktlos zu sein:

Wer einsieht, dass es in Menschenangelegenheiten imperfekt zugeht, aber das Per-fekte zu finden vorhat, indem er die Menschen hoffen lässt, sich „so weit zu bilden, dass [sie] den richtigen Takt noch finden“,217 bleibt bei allem Zugestehen einer kul-turell diversen Theorie und Praxis stur im Paradies, das sämtliche, konkret werden-de Probleme im „Reich der Alltäglichkeit, der wertäquivalenten Situationen“, löst, beispielsweise wann ein verspätetes Kommen taktlos wird oder ein Nichterscheinen vielleicht nur taktmangelhaft. Der Takt ist hier eine „natürliche Moral als eine ihnen vorrational und vortheoretisch zugängliche Vorstellung von gut und schlecht“.218Insofern der das Gute und Rechte volltreffende Takt eine „den Raum des Sozialen imprägnierende Kraft“ haben soll, in dem alle „in angenehme und einander verbin-dende Stimmung“219 versetzt werden, müssen Taktvolle nur ihren auf Natürlichkeit kultivierten Sinn abrufen und einsetzen, um gut zueinander zu kommen:

Aber so einfach ist es nicht, denn der Raumduft von Gut oder Schlecht scheint nur unter der Voraussetzung feingefühligen Abwägens wahrnehmbar und diese „Wä-gung kann ohne eine natürliche Gabe nicht Erfolg haben, wären wir doch überfor-dert, all die vielen Abstände und Gewichte in ein richtiges Verhältnis zu bringen“.221Man muss also immer schon genau dahingehend begabt sein, um Zugang zum Takt und zur Rolle des Taktvollen zu bekommen:

Für alle, die eher mit festem Tritt in der Alltäglichkeit herumlaufen, muss das ge-fährlich klingen, denn wer möchte sich schon derart für das Ästhetische verfügbar machen, gnädig aufrichtige Räume zuweisen lassen, zumal sie sich nicht einmal zu erkennen geben, ein Widerstand also zwecklos ist. Damit nicht genug, sind die mit ihrem Takt ansteckenden Taktvollen nicht ansprechbar, sollten sie denn erkennbar sein, denn sie treten mit ihrem Tun als Begabte auf, wie Arglose, die nicht wissen, dass sie wissen, und deshalb auch nichts verantworten müssen. Aber so einfach ist es schon wieder nicht, denn wer sich als Erwachsener in den kindlichen Modus bringen will, muss die Kunst, am Geist vorbei für sich Arglosigkeit herzustellen, schon besonders gut beherrschen:

So gesehen mag die Gesellschaft in ihren diversen Teilbereichen, wie etwa in Bil-dung und Politik, im Sport und Verkehr, in der Mode- und Finanzwelt, im Gesund-heitswesen, Pflegebereich und Sozialen, einen systemimmanenten Takt angeben wie sie will; der sich darin bewegende Taktvolle bleibt davon weitgehend unberührt, da er voll des rechten Takts als richtigen Abstand in und mit sich ist. So sind kind-lich souverän Taktvolle von Natur aus aufrichtig, authentisch, also von sich aus ganz bei sich: „Die Aufrichtigkeit, die im Takt zur Geltung kommt, verhilft dem Taktvol-len zur Authentizität. In diesem Sinne schreibt der Taktvolle mit seinem Takt eine Anthropologie.“224 Von ethischer Relevanz ist der wesenhafte Takt „durch einen natürlichen und d. h. durch keine Theorie verbildeten Geschmack“,225 was Exzen-triker als reflektiert Takthafte, hier sich aufeinander Einlassende, mit Takt taktvoll und taktlos aufeinander Einspielende, um den Verstand bringen würde, insofern sie ihren Verstand nicht einmal dafür einsetzen dürfen, wenigstens so zu tun, als ob sie ihn aussetzen, um das „Gesicht des anderen nicht aus- und bloßzustellen“.226 Eine Praxis des Takts, in der die strenge Ordnung und das fließende Leben zueinander gespannt gehalten werden, um Umgangsgesichter darüber zu entspannen, bedeutet also gerade nicht, Umgangslagen mit Takt von allen Spannungen zu befreien.

5 Zwischen Takt und Taktlosigkeit

Solange der Takt allerdings ein „durch und durch positives Phänomen“227 sein soll und zudem jenen Fragilitäten zugehörig, „die von der Fragilität individueller und noch mehr sozialer Verhältnisse zeugen, um diesen so gut als möglich – und meistens besser als wirklich – mit angemessener Stabilität und stabiler Angemessenheit bei-zukommen“,228 muss er zum einen besser sein als die fragile, auf stabil machende Gesellschaft, aus der er kommt, weshalb er auch nicht grundlos229 sein, keine Nuan-cen oder Ambivalenzen schaffen und andererseits keinesfalls „taktisch oder sonst wie taktunangemessen auftreten darf “.230 Wer nach Umgangslösungen sucht, die das Unberechenbare in Umgangslagen berechenbar machen, das Fragile stabilisie-ren sollen, und hierfür an keine Umgangsregel, sondern an den an keiner Regel hängenden, immer schon voll positiven Takt denkt, kann deshalb nicht anders, als ihn an eine entsprechende Idee hängen, eine Naturbegabung oder einen Gefühls-verstand, um ein konkretes Umgangsproblem aus der Welt zu schaffen. Hier steht und fällt das Taktvolle einer Takthandlung mit der zugrunde gelegten Annahme: Ist Abstand unter Fremden an sich gut, dann ist es schlecht, also taktlos, wenn einer dem anderen zu dicht auf den Leib rückt. Ist Nähe unter Freunden an sich gut, dann ist schlecht, also taktlos, wer dem anderen nicht nah genug kommt. Schwierig wird es, wenn die Ideen als Ideen nicht reflektiert und außerdem nicht zusammenkom-men wollen, wenn Nähe und Ferne, kulturell, individuell und kontextuell gebun-den, so-oder-anders auftreten, der Abstand des einen, mangelnde Empathie für den anderen ist und bleibt. Entschieden leichter wird es dagegen, wenn ein politischer Entscheid das bislang Informelle absetzt und durch Formelles ersetzt. Dann liegen vor allem Umgang alle Karten auf dem Tisch und im Umgang wissen alle, was zu tun und zu lassen ansteht, was allerdings sowohl den naturbegabten, gefühlsver-ständigen wie auch den aufeinander einspielenden Takt weitgehend überflüssig, dafür den regelgebundenen, antwortgebenden Takt und die Taktlosigkeit als echte Gegenspielerin wieder attraktiv macht. Angenommen, es bleibt beim Informellen, ohne dass die Taktlosigkeit dem Takt bloß gegenspielt, also voll negativ ist. Hat sie dann als mögliche Mitspielerin ihre Einsatzbefugnis nur dort, wo sie zum Mittel für systemstabilisierende Zwecke wird: wenn Kursleiterinnen unaufmerksamen Kurs-leuten verbal auf die Füße treten, um deren Aufmerksamkeit wiederzugewinnen, also den Kursverlauf im Fluss zu halten,231 wenn Therapeuten das Leiden ihrer Kli-enten provozieren, um das psychisch Erstarrte zu erlösen?232 Oder darf sie auch dort auftreten, wo umgekehrt Kursleute das konkrete Miteinander stören, um dem unfreiwilligen und ungeliebten Kurs etwas entgegen zu setzen, wo Klienten gegen therapeutische unter-die-Haut-Gänge situativ rebellieren?

Es versteht sich, dass der nur im Reich einzelner Fälle, in der Gewalt einer konkre-ten Lage, aufeinander einspielende, exzentrische Takt ausschließlich wechselseitig befugt, angesichts des hier-und-jetzt jeweils anderen, stets zugunsten von weiteren Anschlüssen. Exzentriker, die einander weltoffen und unergründlich halten, bege-hen (auch gegenseitig) laute und leise, bedachte und unbedachte Taktbrüche, da sie nicht anders können als zu wissen, was sie da tun und darum wissen, selbst wenn sie es in einem Moment mal nicht wissen. Vor dem Einstieg in das Reich lauter einzel-ner Fälle ist deshalb der gewöhnlich als laut, passiert oder kalkuliert verstandenen Taktlosigkeit noch eine Runde nachzugehen. Laute, passierte und kalkulierte Taktlosigkeit

Es gehört zu den mystifizierenden Bestimmungen des Takts, dass er schnell und still den intuitiv richtigen Umgangsweg findet, d. h. „den energiegeladenen Auftritt, den lauten Ton oder die schroffe Bewegung“ meidet, weshalb seine erfolgreichen Bemühungen gerne unerkannt bleiben, anders als sein Misserfolg:

Während der Taktvolle also unbemerkt Gutes tut, trifft der Taktlose voll neben das Gute ins Schlechte, so als hätte er noch den laut aufschlagenden Taktstock in der Hand. Wäre es ein Verbrechen, den gewohnten Takt los zu werden, ihn zu brechen, und Taktlose oder Taktbrüchige Verbrecher, so könnte alles ganz einfach sein, näm-lich mit Anklage und Verurteilung aus der taktvollen Welt geschaffen werden.

Aber selbst vor einem modernen Gericht stehend, wäre da noch ein Problem offen. Sieht der Taktlose, was er getan hat, zeigt er Einsicht und vielleicht sogar Reue, oder sieht er nichts dergleichen, weil er auf anwaltlichen Rat hin nichts sehen soll, selber nichts sehen will oder kann, da er zum Zeitpunkt der taktlosen Tat nicht zurech-nungsfähig ist, sein will oder soll? Wer als Richter in solchen prekären Angelegen-heiten zu richtigen, nicht unbedingt gerechten, Strafen kommen will, muss Tatbe-stände und Täterzustände für seine Urteile berücksichtigen. So gesehen sind nicht alle Taktlosen gleich taktlos. Wer seine Grenzübertritte in die private Sphäre, den persönlichen Raum der anderen erkennt, mag anders darin herumtreten als einer, der nicht weiß und sagen kann, wohinein er da gerade getreten ist, selbst wenn es die voll Getroffenen nicht unbedingt anders voll treffen mag und ein Nichtwissen kein Ausschlusskriterium für Taktlosigkeit ist, denn wer weiß schon sicher zu sa-gen, wann ein Mitmensch beim Grenzübertritt absichtlich, wann versehentlich den Unwissenden gibt und woher will er sein Wissen darüber haben?236 Dazu kommt, dass Taktlose zwar wild herumhüpfen, allseits unübersehbar schrill und plump auf-treten mögen, sie können aber auch leise auftreten, kopfschüttelnd, schweigend, still lächelnd ihrem Gegenüber auf den Leib rücken, unter die Haut gehen, das Gesicht, die Würde nehmen. Es ist nicht das eine, ohne Takt, die offensichtlich „große Zahl“, das andere, mit Takt, die unscheinbare „kleine Einheit“237.

Mit dem aufeinander einspielenden Takt muss es darum nicht gehen, nur um Nuancen des einen und anderen. Ihn in einer Verkehrslage zu brechen, verweist deshalb nicht darauf, keinerlei Takt zum Ausdruck zu bringen oder im Leibe zu haben, sondern mit einem anderen Takt unterwegs zu sein, als gemeinhin erwar-tet. Taktbrüchig werdende Exzentriker zeigen, dass da ein Umgangshindernis ist, an das sie stoßen, das ihnen zustößt und anstößig wird. Nun kommt es darauf an: Angenommen, das Miteinander bewegt sich über die genannten Seilbrücken, dann haben die Verkehrsteilnehmer, also hier Fußgänger unter Fußgängern, die Wahl, ob sie sich beim Gehen eigentlich etwas mehr Stabiles, weniger Fragiles, wünschen oder aber einen leichtfüßigeren Bewegungsstil einsetzen mögen, um anders auf das dort zuweilen wild Herumhüpfende zu schauen, darauf einzugehen, damit umzu-gehen, so wie es an sich bewegliche Exzentriker handhaben, wenn sie hier-und-jetzt auf eine soziale Gleichgewichtsstörung mit einem situativ variierenden, also auch laut oder leise brechenden, loswerdenden Takt reagieren. Das ist das eine. Das andere betrifft den unterstellten Unterschied zwischen einem bedacht gesetzten oder unbedacht geschehenen Takt. Folgt man hier kurz den Charakterskizzen von Theophrast, so geschehen Taktlosigkeiten als „kleine Fehler“238, die sich bei jedem Umgang einschleichen können oder auch erzeugen lassen, woraus sich in der Folge die unterschiedlichsten zwischenmenschlichen Zusammenstöße ergeben können. Unbedacht Taktlose sind bei Theophrast Ungelegene, Plumpe, Redselige, Gedan-kenlose, Übereifrige, Unangenehme, bedacht Taktlose dagegen Unverschämte, Selbstgefällige, Widerliche, Flegelhafte, Schwätzer, interessant dazwischen bewegt sich der ewige Nörgler. Während die Unbedachten das Umgangsgelingen durch ein „Missverhältnis von Absicht und Erfolg“239 behindern, durchkreuzen die Bedachten dasselbe nach Plan, wobei alle taktlosen Kandidaten gleichermaßen zeigen, dass sie voll kleiner, sich im Miteinander einander zeigender, mehr oder weniger störender, aber keinen großen Schaden anrichtender Mängel sind. Das soll heißen, kleine Feh-ler passieren, legen aber einen ausbessernden Auftrag nahe: Wer seinen Mitmen-schen mit Worten oder Taten auf den Leib rückt und leicht bis schwer unangenehm berührt, beispielsweise eine Frau, die eine Fehlgeburt erlitten hat, auf die Wöchne-rinnen-Station legt, eine Einladung in Anwesenheit eines nicht Eingeladenen aus-spricht240 oder eine Gerichtssache, die einen millionenfachen Mord verhandelt, mit einem lauten Lachen kommentiert,241 der hat seine kleinen Fehler in die mitmensch-liche Situation eingebracht. Vielleicht bewegt er sich dort so und nicht anders aus Gedankenlosigkeit, Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit, Eigensinn, Anmaßung, Un-interessiertheit, Frechheit, Verzweiflung, mehr den eigenen als gemeinsamen Um-gangsbedürfnissen folgend, mit falschem, ausbleibendem oder anderem Verstehen der Umgangslage, was davon Betroffene leicht unangenehm berühren, aber durch-aus auch schwer und nachhaltig treffen kann. Denn wer gerade sein Kind verloren hat, wird einen bettnachbarschaftlichen Kontakt mit beglückten Müttern und dem beglückwünschenden Besucherandrang eher schwer ertragen; die nicht eingelade-ne Person ist vielleicht nur leicht brüskiert; wohingegen der familiär unmittelbar vom Mörderischen Betroffenen das Lachen vermutlich unverständlich bleiben bis peinvoll erscheinen wird; absolut sicher ist hier allerdings so gut wie nichts. Es ge-hört zwar zum guten Lektüresinn der Skizzen, über die Fälle an Verhaltensmuster und deren Konfliktpotential zu kommen. Aber daraus eine Wegleitung für umgäng-liche Umgänge zu machen und dafür den Takt fest einzustellen, ist das eine, hier nicht gewollte. Das andere ist, im Fall für den Fall offen zu bleiben, um dort fallweisemiteinander umzugehen: Ist der Verlust eines Kindes weder im Kreißsaal noch auf der Wöchnerinnen-Station, weder in der Geburtsvorbereitung noch im privaten familiären Alltag ein Thema, die dort vorherrschende Atmosphäre entsprechend gewinnorientiert, dann werden alle Beteiligten, die hier einen Gewinn erleben wie miterleben, kaum ohne einen ihrer kleinen Fehler mit denen zusammen-kommen können, die hier nicht Zugehörige bleiben, also Verluste erfahren. Es ist den Situationsgewinnern aber möglich, ihre kleinen Fehler schwach zu halten, sie zu sehen und mit anderen Augen auf die offene, so-oder-anders ausgehende Situation und die Menschen darin zu schauen, wenn ihnen der Fehler als Fehler bewusst (gemacht) wird. So es wie andersherum den vermeintlichen Situationsver-lierern erlaubt ist, gegen die übergestülpte Situationsrolle zu rebellieren. Ein nächs-ter Schritt könnte dann durchaus sein, den Gewinn mit dem Verlust, Gewinner mit Verlierern zu verbünden, aus offenen oder auch verdeckten Gegenspielern, welt-offene Mitspieler zu machen, die sich im Spannungsfeld zwischen der Offenheit des Situationsausgangs und der Geschlossenheit situativer Gewinne und Verluste bewegen. Auf diesem Weg verliert sich im besten Fall der polarisierende Gedanke: hier der tugendhafte Takt mit seinen stillen, immer schon absolut guten und schö-nen Antworten, dort die lasterhafte, laut kalkulierte oder passierte Taktlosigkeit, die beide gegen die Gewalt der konkreten Situation immun sind und halten.

Müssen sich Takt und Taktlosigkeit auf keine gegenspielerische Seite schlagen, dür-fen sie ein spannungserhaltendes, mitspielendes Paar abgeben, befasst mit dem, was laut und leise passiert und erzeugt wird, so sollten hinnehmende wie bearbeitende Wege für die kleinen Fehler frei werden, um dann in der und für die Lage: auf der erfolgsorientierten Wöchnerinnen-Station an die Verlustvorfälle zu erinnern, im uni-versitären Sport das gute Gelingen, in Geburtsvorbereitungssystemen die persönliche Sphäre, in zwangsfernen Zusammenkünften das Unverbindliche nicht zu vergessen. Mitspieler behalten besonders im Umgangsgedächtnis, dass in allem Üblichen, einem auf diversen Wegen miteinander Eingeübten, füreinander Routinierten, immer und überall das Unerwartete zu erwarten ist, das Vorfallende vorfällt, mit dem Unbere-chenbaren, dem Plötzlichen zu rechnen ist. So ist es das besondere Anliegen des fol-genden fallbeschreibenden Arbeitsteils,242 die Taktlosigkeit als Mitspielerin des Takts in ein anderes, auch Zusammenhänge schaffendes, verständigendes Licht zu rücken, auf dass ihre mitmenschlichen, umgangsrelevanten Anteile erkennbarer werden. Da sie nicht nur nichts als Situations- und Personenschäden anrichtet, kann sie als Ver-kehrsform stark werden, die über ein diesmaliges Hinnehmen eines Umgangsunfrie-dens oder fallweises Aufstören eines zuweilen bloß scheinheiligen Umgangsfriedens243weitere Spielräume sinnvoller Praxis herstellt, in denen sich dann das von leichtem bis schwerem Unbehagen belastete Umgangstun im Hinblick auf andere, ungewohnte, zunächst unbedacht erscheinende Anknüpfungen entlastet, das Miteinander beweg-lich und gespannt, das Umgangsgesicht entspannt bleibt: hier exemplarisch über ein Befremden von Umgängen, das Krisen verursacht, stolpern und Grenzen überschrei-ten lässt, über ein Unbehagen, aus dem Widerstand und Komplizenschaft erwächst, über Stören und Verwandeln des Üblichen mit stillen oder heiteren Stilbrüchen.

83

II Alltägliche Fälle von (taktvoller) Taktlosigkeit

1 Voll daneben?

Eigentlich ist es nicht unpassend, wenn sich Plessner für sein dissertierendes An-liegen bei Husserl vergewissert, und trotzdem hat seine Geste etwas Taktloses. Den Ausschlag gibt hier nicht die Geste an sich, denn nichts am Einholen eines wissen-schaftlichen Rats ist irgendwie verkehrt, sondern die Begleitumstände zeigen, ob es zwischenmenschlich noch mit oder schon ohne Takt zugeht. Es „passt nicht in den Zusammenhang der Umstände“,2 den Umweg über einen Phänomenologen vor-zuschlagen, wenn der potentielle Doktorvater ein Neukantianer ist, dessen Position nicht ungeachtet zu bleiben hat. Auch das oben erwähnte stationäre Zusammenle-gen von Wöchnerinnen, ungeachtet, ob sie ein lebendiges oder totes Kind geboren haben, die Einladung in Anwesenheit des nicht Eingeladenen, das öffentliche La-chen über einen vielfachen Mörder liegen teilweise außerhalb des Zusammenhangs der Umstände, also jenseits dessen, was eigentlich zu tun ansteht – wenn mit kon-ventionellen Blicken darauf geschaut wird. Darf dagegen erlaubt oder vielleicht so-gar geboten sein, auch mit anderen als den gewohnten Augen auf die Umstände zu schauen, dann ergeben sich andere Zusammenhänge sowie Spielräume für das zwischenmenschliche Tun und der Takt muss sich nicht mehr ausschließlich nega-tiv durch stilles Unterlassen bewähren: Kommen Eltern von Lebendgeburten mit solchen von Totgeburten zusammen, so mag es spontan naheliegen, das polare Paar Leben und Tod füreinander aufzulösen, die Elternpaare voneinander zu erlösen, damit sie nicht aneinander anstoßen, nichts anstößig wird. Alternativ ist allen Be-teiligten das „unendlich differenzierbare Zwischenreich zwischen Familiarität und Objektivität“ offen zu halten, in dem „Seele mit Seele in unvermittelten, […] weder durch Sympathie noch durch Überzeugungen regulierbaren Kontakt gerät“.3 Sol-cher Kontakt ist in seiner Wechselseitigkeit zuzulassen, damit gesichtsverlierende Gefahrenzonen, mit denen zu rechnen ist, ohne berechenbar zu sein, nicht bloß einseitig aufgelöst oder umgangen, sondern miteinander gestaltet werden können. Aufeinander einspielende Takteinsätze von Seele zu Seele sind an sich kontaktfreu-dig, weshalb hier nicht nur des Takts Sinn für Bewegung, auch der für Berührung gefragt ist, selbst wenn dabei in der Umgangslage etwas angerührt wird, was nicht nur bei den einen oder anderen ein Unbehagen, sondern darüber hinaus die Ord-nung der Gesamtlage durcheinanderwirbeln sollte:

Wie der Zusammenhang der Umstände oftmals opak, unerkennbar und unüber-schaubar bleibt, so ist das Unpassende nicht immer so unpassend, wie es spontan zu sein scheint, also nicht radikal oder grundsätzlich anstößig. Es wird jetzt für einen differenzierten Umgang noch einmal ein Blick in die Ausführungen von Jhering zum Takt und zur Taktlosigkeit geworfen, genauer: in die drei von ihm unterschie-denen Weisen des Unpassenden oder auch bedingt Anstößigen. 1.1 Die drei Weisen des bedingt Anstößigen

Eine alleinerziehende Studentin, die auf dem schwierigen Wohnungsmarkt der kleinen Universitätsstadt mit viel Glück eine Einzimmerwohnung gefunden hat, lädt dorthin zu einer Einweihungsparty ein und wird mit einer Kommilitonin kon-frontiert, die vor allen anderen Gästen in lautem Ton nach dem Kinderzimmer sucht. Diese Geste ist dreifach unpassend, denn sie gehört weder zu einer Feier in dem gegebenen Rahmen, noch bedenkt sie die brisante Wohnraumlage und das unvertraute Verhältnis zueinander. Aber sie ist nur hier und jetzt unangemessen. In einem anderen Rahmen, etwa in vertrauter Runde oder einem beratenden Ge-spräch, kann sie durchaus richtig platziert sein. Wer hier ein Unterscheidungsver-mögen für das bedingt, nicht gemeinhin Anstößige zeigt, hat Takt bewiesen. Eine Taktlosigkeit äußert sich entsprechend durch das Fehlen dieses Vermögens in einer konkreten mitmenschlichen Lage, weil sich das zwischenmenschliche Tun ent-weder „mit dem Zweck des Zusammenseins“, „mit der Situation“ oder „mit dem persönlichen Verhältnis“5 nicht verträgt. Da nun aber Ordnung und Leben in ei-nem dauerhaften Unruhestand miteinander sind, lassen die meisten Kontaktlagen nicht nur die eine, unpassende Seite erkennen, sondern können andere, scham- bis schmerzferne Seiten zeigen, etwa wenn das persönliche Verhältnis der miteinander Kontaktierenden zu viele Unbekannte mit sich führt, die zwischenmenschliche Si-tuation undeutlich bleibt oder die Stimmung schwankt. Da hier kommunikativ viel unter der Hand läuft, was dort offen zutage liegt, bleibt weniger klar, ob eine Taktlo-sigkeit vorliegt oder nicht. Davon abgesehen mag sich in allen von Wertäquivalenz getragenen Umgangslagen die eine Person voll getroffen, die zweite Person ambi-valent und die dritte Person unberührt zeigen. So liegt ein guter Grund, die Takt-losen gesellschaftsfähiger zu machen, in dem durch sie erweiterten umgänglichen Umgangsspielfeld, solange sie wissen, was sie tun, wenn sie sich auf gültige Um-gangsordnungen einlassen, um sie zu unterlaufen, zu variieren oder auch mal auszusetzen, selbst wenn sie es mal nicht wissen. Indem die mit Takt gehaltene Spannung von Ordnung und Leben den Einsatz von allgemein gültigen Lebens-weisheiten und Gefühlswahrheiten als einen Entscheid begründende, „stets bereite Retter in der Not“6 verhindert, öffnen sich Spielräume für ein Umgangstun, durch das es zu einem würdigen, würdigenden Miteinander kommen kann, in dem auch die kleinen Fehler, die sich in jedem Moment und in jedem Raum des alltäglichen Umgangslebens ereignen, dort ihre Plätze erhalten und die Folgen daraus nicht wo-andershin ausgelagert werden müssen, solange sie genommen werden, um etwas daraus zu machen. Dies ist einer der wesentlichen Vorzüge, für den Takt und mit Plessner noch die Raumfrage zu stellen, auf dass sich Antworten, über seine Zuwei-sung ins Gesellige hinaus, in einem alltäglicheren Verständnis finden. 1.2 Der Takt und die Raumfrage

Gemeinhin ist das Gesellige die „Modellsituation des Taktes“.7 Stammtische, fa-miliäre Festivitäten, private Runden, Barbesuche, Betriebsausflüge, Vereinsver-anstaltungen: Im Geselligen bewegt sich der Mensch spielerisch, in Spielräumen, zwanglos, weder privat noch geschäftlich voll eingebunden und damit entlastet von emotionalen wie sachlichen Berührungen. Der gesellige Raum ist ein „unverbind-licher Begegnungsraum“, hier zählt „der Augenblick selbst, die Begegnung, die ge-wissermaßen Selbstzweck ist“.8 Mit Takt grundentspannt bewegen sich Gesellige auf Augenhöhe miteinander. Allerdings ist diese Klarheit mit Plessner schon eingetrübt worden, denn die „Sphären des Lebens laufen ja nicht so säuberlich getrennt wie die Kapitel über sie“.9 So mag Geselligkeit im öffentlichen Raum stattfinden, ge-trennt vom Geschäftsverkehr, wie sich die Öffentlichkeit mit der Privatheit in Ab-trennung voneinander den gesamten Verkehrsraum teilt. Nur sind im modernen Umgangsleben die einzelnen Räume stets in Bewegung, die Grenzen zueinander wie für das fallweise Alltägliche meist durchlässig. Weshalb der Takt auch in al-len Umgangsräumen das letzte, hier gesichtswahrende10, da spielentfaltende Wort11hat: wenn die Diplomatie als verhandelnde Logik der Geschäftlichen, getragen vom „Geist der Öffentlichkeit“12, also von in die Enge treibenden bis in die Wehrlosigkeit hineinoperierenden, strategischen und taktischen Umgangsformen, mal wieder nicht greift oder wenn die Öffentlichen sich fragen, ob es gerade noch öffentlich oder schon privat zugeht, denn die „Vertrautheit der Gemeinschaftskreise“13 mit-samt deren Anspruch einer freien Sicht auf wahre Gesichter ist längst im öffentli-chen Raum angekommen. Verschämt bis gierig werden dort bloßstellende Aufde-ckungen erwartet, über den Ruf nach Authentizität und affektiver Enthemmtheit, über das Erwarten schonungsloser Ehrlichkeit: Wenn Paare voreinander wie vor professionellen Dritten auf absolute Offenheit in sämtlichen Liebesangelegenhei-ten bestehen, Jugendliche ihr altersgemäßes Querulantentum geradewegs an der Familie vorbei zu Amtspersonen tragen, was in Amtsstuben das professionelle Ver-halten von Nähe und Abstand auf Prüfstände stellt,14 wenn sich Berufliche vor aller kollegialer Augen ihr berufliches Können über private Fähigkeiten supervidieren lassen sollen. Dann wandern gewöhnliche Umgangsunruhen oder auch momen-tane Befindlichkeiten aus dem privaten ins öffentliche Feld (und zurück), um dort mit anderen Praktiken bearbeitet und bedingt anstößigen Grenzen konfrontiert zu werden, was sich auf die gesellige Sphäre auswirkt, die weder von allen Zwängen befreit noch gründlich von den anderen Umgangssphären abgegrenzt werden kann. Vielmehr wird sie zur „unbestimmt weiten Sphäre, die in alle sozialen Beziehungen hineinreicht“,15 in der es um nicht weniger geht als um die Praxis: um ein „Fertig-werden mit den Dingen im Medium flüchtigen Ungefährs und auf Grund einer nicht methodisch eindeutig gemachten Erfahrung, eines nur individuell graduier-ten Erfahrungstaktes“.16

Eine solche Umgangssphäre verschließt sich gegen jedes vorschnell Zweckge-bundene, allzu Gründliche, erdrückend Einsichtige und ist offen für das mit Takt den Takt auch brechende, gehaltene wie ausgedehnte Reich lauter einzelner Fälle, die sich nicht mit Entschiedenheit so-oder-anders lösen lassen. In solcher Alltäg-lichkeit bewegen und berühren sich Mitmenschen, ohne dass viel füreinander ge-regelt ist, weshalb viel miteinander passieren kann, sich günstige wie ungünstige Gelegenheiten ergeben, deren sich der Takt annimmt, dort hilfreich ist wie heilsam wirkt und sich bildet, um ein Umgangsleben heranzubilden, in dem Umgangsleute einander nicht radikal angreifen, verteidigen oder voreinander wegducken müssen, vielmehr etwas riskieren können, ohne zu wechselseitigem Vertrauen und gemein-samen Einsichten vergewaltigt zu werden. So sorgt der Mit-Spiele fördernde Takt dafür, dass das dem Gründlichen verpflichtete „überwölbende Entweder–Oder um der Pluralität der Handlungsmöglichkeiten willen vermieden“17 wird. Denn das Spielen setzt auf Spielräume, stellt sie mit her, variiert oder hält sie, und es „löst Konstellationen und Situationen in Geschichten auf “,18 anstatt Fakten, Verhältnisse, Zustände zu schaffen. „Spielen ist Handeln im Spielraum; und der Spielraum ist ein durch Regeln provisorisch umgrenzter Raum, in dem ein Überschuß an realen Handlungsmöglichkeiten besteht.“19 Solange die von Überschüssen lebenden Um-gangsspiele nichts für alle Spieler und ewig festlegen, sind Bewegungen wie Berüh-rungen unumgänglich wie füreinander umgänglich. Für den in die Mitwelt hinein entworfenen Takt ist dies relevant, da ihn das soziale Miteinander einander berüh-render, betreffender, nahe gehender Mitmenschen kümmert, was daran erinnert, dass beim Umgang der ganze, also auch der körperliche, Mensch involviert ist – und der kann zuweilen mit seiner Betroffenheit durch einen taktlosen Volltreffer deutlich an seine Ausdrucksgrenzen kommen. Die Fallbeschreibungen achten dar-auf, vor allem mit Blick auf den dritten Arbeitsteil, der den taktisch weisen Takt als Sorgeberechtigten der leiblichen Würde aufnimmt: Der erste Fall schildert eine den Körper direkt ansprechende Übergriffigkeit im praktischen Feld des universitären Sports. Die Frage geht dahin, inwiefern eine derartige Geste innerhalb des dort gel-tenden Rollengefüges Entfremdung initiiert und welche Spielräume sich dagegen über ein taktgestütztes Rollenrepertoire öffnen. Der zweite Fall erzählt davon, wie vor einer geburtsvorbereitenden Atemübung durch das eingeforderte Nahverhal-ten die persönlichen Sicherheitsabstände nicht eingehalten werden, wodurch sich ein Unbehagen einstellt, das einen gesellschaftlich relevanten Widerstand auslöst. Im dritten Fall werden unter anderem über Körperbilder laufende Ordnungen und Brüche einer kulturellen Veranstaltung thematisiert. Da der öffentliche Raum an vielen Stellen stillschweigend auf etwas hin getaktet ist, das von den jeweiligen Trä-gern der Macht still gesetzt und gehalten, von den Empfängern ebenso konsumiert und weitergetragen wird, ist zu fragen, wie sich im Umgang etwas aus dem Takt bringen lässt, denn „aus dem Taktlosen kann ein eigener Rhythmus entstehen, im unerwarteten Kontakt eine neue Harmonie aufkeimen, im Divergieren sich eine innovative Taktik herausbilden“.20 Fraglos ist, dass es hierfür Spielräume gibt, selbst wenn sie mitsamt den darin brauchbaren Gesten auf den ersten Blick nicht gut und in ihrem konstruktiven Sinn gleich erkennbar sind. Die Fallverläufe sollen zeigen, dass es zu den gewöhnlichen zwischenmenschlichen Angelegenheiten gehört, sich aus dem Takt, also aus den gegebenen Umgangsspuren, herauszubewegen. Da Takt-losigkeiten aber selten in kommunikativer, schon gar nicht in wohlwollender Ab-sicht verstanden werden, müssen sich die Empfänger fast schon zwangsläufig als Erleidende oder Erduldende einer derart ausgeführten Geste sehen, der taktlosen Person irgendwie wehrlos ausgeliefert, wo die Sender ihre unpassende Tat nicht mal erinnern oder als gezielten Akt verstanden wissen wollen. So haben Taktlosig-keiten als Methode vielleicht im geschützten Rahmen der Therapie, auch auf ab-geschotteten Plätzen der Kunst, eine Art Existenzberechtigung, aber nicht im Reich der Alltäglichkeit, weshalb es die gesichtswahrenden Grenzen der Taktlosigkeit für dieses Feld nachfolgend auszuloten gilt. Hierfür wird zunächst der Fall von Taktlo-sigkeit erzählt und entlang erster Eindrücke, der drei Weisen des Unpassenden wie des kontextuellen Umfelds besprochen,21 um dann dem Anschlusspotential taktlo-ser Gesten nachzugehen, d. h. über soziale Praktiken wie etwa das Befremden von Rollen, personalen Räumen oder geselligen Üblichkeiten auf erweiterte Verhaltens-spielräume für taktvolle Taktlosigkeiten zu kommen.

2 Fall 1: Aus dem Takt kommen

Eine Sportstudentin verbringt ihr 6. Semester im Ausland. In den Semestern davor durchlebt sie viele kritische Situationen, im theoretischen wie im praktischen Teil ihres Studiums, aber auch im Privat- und Vereinsleben. Sie ist oft krank, ohne sich davon gut zu erholen, hinzu kommen familiäre Dissonanzen und ein entzweiender Streit mit ihrer Kunstrad-Partnerin. Ihre Lage stützt sie medikamentös, kann aber den Stand in ihrem auf den Sport fokussierten Leben immer weniger halten. Sie versäumt Klausu-ren und Testate, nimmt an keinen studentischen Veranstaltungen mehr teil, verliert den Kontakt mit dem Kunstradsport und zieht sich schließlich immer mehr von an-deren in sich zurück. Ihr Auslandsaufenthalt bringt schließlich eine heilsame Wende: Der für sie neue Raum, die anders als gewohnt dort lebenden Menschen und ihre eige-ne, unverbrauchte Rolle darin öffnen sie für ein von Fröhlichkeit und Fülle getragenes Miteinander. Sie entdeckt ihre Lust am Tanz, beginnt mit anderen zu kochen, zu essen, holt deutlich an Gewicht wie an Kraft auf und entdeckt ihren Körper als einen, in dem sie sich als Frau wohlfühlt. Diesen Zustand kann sie auch nach Semesterende in ihrem gewohnten Umfeld eine Weile halten, bis eine Seminarsituation beim Bodenturnen eine rückführende Wende bringt: Die Dozentin, eine drahtige, recht energische Person, unterbricht und kommentiert die noch im Vollzug befindliche Übung der Studentin mit dem Satz: „Mit den Rundungen wird das hier nichts mehr!“ Die Getroffene geht weinend aus der Situation. Ihre Kommilitonen reagieren teilweise betreten, trainieren aber weiter, ebenso wie die Dozentin sich ungerührt zeigt und in ihrer anleitenden Aufgabe bleibt.

Auf den ersten Blick hinterlässt der Kommentar der Dozentin ein klares Kopfschüt-teln, aber auch ein Schulterzucken. Da der Satz in einem gesellschaftlichen Rahmen fällt, der dem System Sport zugewiesen ist, wirkt, von dort aus, sein vermittelter Inhalt plausibel. Fraglos bedarf es einer körperlichen Effizienz, um im Turnen zu bestehen, und die Studentin ist anscheinend nicht in der passenden Form, die der universi-täre Sport von ihr erwarten darf. So wirken die Worte der Dozentin wie ein sach-dienlicher, dabei zwar hart aufschlagender, Hinweis darauf, dass ihre momentanen

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körperlichen Maße zu einer schlechteren Leistung führen müssen, das Geleistete nicht genügen wird. Dieser intuitive Eindruck bekräftigt sich, wenn danach gefragt wird, wie sich die Geste der Dozentin mit dem Zweck des Zusammenseins und dem persönlichen Verhältnis zu der Studentin verträgt: Sie hat sich gemäß der sportuni-versitären Ordnung der Dinge verhalten, also ganz im Sinne jener Atmosphäre, die in Trainingssituationen vorherrscht und die sich deutlich abhebt von Stimmun-gen eines leistungsentspannten Miteinanders. Klare, die alltäglichen Leibgrenzen übertretende Ansagen gehören zum guten als gewohnten Ton im Sport. Wer hier zimperlich reagiert, hat schon verloren. Die Machthalter im Sport heißen Leistung und Erfolg; an ihnen orientiert sich viel, so auch der zwischenmenschliche Um-gang, der von anleitenden, anführenden, auch kommandierenden und gemein-schaftsorientierten Prinzipien gesteuert wird. Wer etwas leisten und erfolgreich sein will, hat unter anderem gesund, fit, stark, kraftvoll, energiegeladen, schnell, ausdauernd und, falls hier etwas ausfällt, unbedingt kompensationsfähig zu sein, außerdem muss er sich unterstellen, hingeben und solidarisch sein können. So sind die Rollen der Sportpersonen zumeist klar beschrieben und verteilt, auch die ent-sprechenden Beipackzettel für den Umgang miteinander allgemein bekannt und abrufbar. Bei derartiger Klarheit des Zwecks sportlichen Beisammenseins und der Verhältnisse untereinander darf von allen Beteiligten erwartet werden, dass sie für die vorgesehene Stimmung stets gut sorgen. Diese Klarheit würde etwas eingetrübt, wenn der Satz in einer Situation des Einzeltrainings gefallen wäre, da die Dozentin hier potentiell systemambivalente Spielräume hat, in Sachen Leistung also durchaus weitflächiger fokussieren kann. Insgesamt bleibt sie aber mit ihrer Umgangswahl im Bereich des Richtigen, solange diese fest in das leistungsorientierte Wertesystem des Sports eingebunden ist. Da die Studentin mit ihrer affektgeladenen Reaktion aus diesem Anspruch ausschert und sich damit quer zu der stimmigen Ansage der Do-zentin stellt, stört sie den Übungsverlauf und zwingt mit ihrer weinenden Flucht die anderen ungefragt in eine unruhige bis unangenehme Lage, was erklärt, warum die Kommilitonen stillschweigen, niemand das Unterrichtsgeschehen unterbricht und der Betroffenen beisteht. Die Studentin verlässt den Seminartakt, um sich eigen-sinnig ihrem veränderten Selbst zu widmen, ohne die bestehende Gemeinschaft einzubeziehen.

In einem anderen, mehrfach unpassenden Licht erscheint der Kommentar der Dozentin, wird er im Hinblick auf das kontextuelle Umfeld, etwas systemabgewandt, eher an alltäglichen oder sogar sportkritischen Gepflogenheiten orientiert betrachtet.

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Die Dozentin setzt mit ihrer Ansage nicht nur eine körperliche Idealform als Be-dingung möglichen Erfolgs fest, sie bewertet zudem vor allem Übungsende inmit-ten des Bewegungsablaufs die leiblichen Rundungen der Studentin als Mangel und legt ihr Urteil der versammelten Mannschaft vor, womit sie der Studentin sowohl einen widersprechenden als auch einen selbstschützenden Reaktionsraum nimmt. Hinzu kommt, dass sie in lehrender Rolle ist, was ihre Geste in das längst überhol-te Umfeld schwarzer Pädagogik22 rücken lässt. So ist sie deutlich zu weit gegangen und der Studentin zu nah getreten, die mit ihrem weinenden Abgang auch klar zu erkennen gibt, dass sie den Kommentar der Dozentin nicht leicht, also systemkon-form sportlich nehmen kann. Nimmt man zu dem Blick auf die konkrete Übungs-situation noch die problembeladene Vorgeschichte der Studentin hinzu, so gerät eine gleich mehrfach von Krisen betroffene Person ins Blickfeld, der man spontan mit besonderer Vorsicht und Besonnenheit begegnen möchte, damit sie Wege zu-rück in den Sport finden kann, nur in welchen? Angenommen, die Dozentin kennt die Studentin aus vergangenen Semestern, dann dürfte sie ihre Erfahrungen mit deren Leistungstiefs gemacht haben. Weiß sie um die grundbelastete Studien- und Prüfungslage, vielleicht sogar um die medikamentös dagegenhaltenden Versuche, so erscheint ihr Kommentar bereits verantwortungslos, da er mit dem prekären Sport-Selbst der Studentin spielt. Sollte die Dozentin hier dagegenhalten, sie habe mit ihrer Bemerkung das sich selbst täuschende Selbstbild der Studentin vor Ver-lusten und Blamagen schützen wollen, dann steht sie mit ihren Argumenten fest im erfolgsorientierten Sportsystem. Solange es bei einem prospektiven Wissen über ungenügende Übungsergebnisse der Studentin bleibt, ergibt sich wenig Spielraum für optionale Umgänge und damit wenig Platz für ein selbst angestoßenes Leihen oder fremdinitiiertes Verleihen eines die Würde noch erhaltenden Gesichts. Das neu gewonnene Sport-Selbst der Studentin lässt sich so jedenfalls nicht vage halten, vielleicht damit sie den vermeintlich allgemeinen Ansprüchen zu einem späteren Zeitpunkt genügen oder aber sich selber und ihr Umfeld auf Variationen derselben stärken kann. Somit erkennt sie, dass sie gerade keinen Platz im Sport hat und be-kräftigt damit die machterhaltenden Zuschreibungen des Systems. 2.1 Rollenspiele

Insgesamt scheint die von den beiden Protagonistinnen veranstaltete Unruhe für nichts und niemanden gut zu sein. Aber sie lässt unter bestimmten Voraussetzun-gen auch ein konstruktives Potential erkennen, nämlich einen bespielbaren Raum für noch nicht abschließend beantwortete Fragen aufkommen, etwa, welcher Sport es im universitären Feld denn sein soll: Gibt es dort noch Platz für bloß spiele-risch-gelassene Wettkämpfe und einen „Sportsgeist“23, mit dem es eher um ein gutes Gelingen, weniger um (selbst-)optimierendes Leisten geht, fernab von Trai-ningsplätzen für ideale Körper- und Bewegungsmaße?24 Wieso sollten so genannte Rundungen als sichtbares Mehrgewicht dem Glücken von Turnübungen hinderlich sein? Warum muss das gute Gelingen von einem für alle gleich und zahlenmäßig feststehenden Endergebnis abhängen? Welche Gründe sprechen gegen schön anzu-sehende, individuell bemessene Ergebnisse als eine der möglichen Bedingungen für Erfolg? Schlägt die Dozentin ihre Geste blind ins Feld des optimierenden Sports, dann mag sie das dort Geltende ruhig halten, aber ohne die konkrete situative und personale Bewegung zu reflektieren. Bedenkt sie in der verbalen Aktion, was sie mit ihren Worten macht, dann kann sie zwar immer noch im Ton voll daneben liegen und selbst in Räumen, die von Maßregelungen leben, eine unpassende Stimmung erzeugen. Aber sie wird es merken oder offen dafür sein, es bemerken zu lassen, um sich dann in ihrem eigenen Handeln über Nuancierungen auf Formen des Er-halts der Situation und der Gesichter darin korrigieren zu können. Das radikale, gründliche Vergessen von ordnungsstiftenden, optimierenden Maßnahmen mag für reibungsarme Abläufe hilfreich sein, allerdings fördert ein ernsthaft untersag-tes Erinnern an die Gesten des Vergessens den zementierenden Umgang mit den vorliegenden Ordnungsstrukturen. Wer derart verfährt, ist in zwischenmenschli-chen Lagen wenig ambitioniert, mit Takt auch mal zart taktlos, frech oder mutig, für wertferne Umbauten zu sorgen. Erst wenn der Takt gezielt vergessen wie er-innern, jenseits der Option gefühlter oder vertuschter Wahrheit bleiben darf, sind keine rein erleidenden Positionen mehr möglich und nötig: Die Dozentin muss nicht ausschließlich die passive, da lediglich systemerfüllende, Täterfigur spielen. Ihr bleibt in jedem Augenblick des Kontakts mit den trainierenden Studierenden hinreichend Spielraum dafür, dass die einzelnen Gesichter keine unabwendbaren Verluste hinnehmen müssen. So kann sie im Wissen um die Vorgeschichte der Stu-dentin durchaus die Übungssituation für alle spontan und unmerklich so verän-dern, dass ein Gelingen aussichtsreich erscheint, oder auch den kommunikativen Fokus auf die offenbar regenerierte Erscheinung der Studentin legen. Selbst wenn sie ihren Satz bereits platziert hat, muss sie nicht in der selbst erzeugten unbehag-lichen Stimmung verharren, sondern kann die gerade aus dem Spiel geworfenen Rundungen im nächsten Moment wieder hereinzuholen versuchen, etwa indem sie paradox kommuniziert, also sich selbst als drahtige, systemfolgsame Person hu-morvoll, in gespielter Ohnmacht in den Fokus rückt. Einen solchen zugespielten Ball kann die Studentin aber nur annehmen, wenn sie sich auch als Täterin verste-hen kann. Sobald sie aktiv als Beobachterin ihres Wissens und Ahnens auftritt, gibt sie sich selber die Gelegenheit, die bemerkte situative Unstimmigkeit woandershin zu lenken. Sie kann auf verschiedene Weise in Deckung gehen, um sich der Lage zu einem späteren Zeitpunkt neu zu stellen, oder den Anlass, also ihre formale, wenn auch nicht überprüfte Fehlerhaftigkeit, auf eine Metaebene heben und von dort aus wieder ins Spiel bringen. Denkbar ist, dass sie mit ihren Rundungen offensiv wird und die körperlich gradlinige Dozentin zum spielerischen Duell herausfordert, so dass sich die Grenzen dessen, was gesollt wird, verschieben können. Das verlangt eine gewisse Sicherheit im Umgang mit den diversen Selbstdarstellungen, hier ei-nen spielerischen Abstand zu den jeweiligen Wahlen. Steckt die Studentin dagegen unreflektiert in ihrer neuen Rolle fest, bindet sie selber gründliche Wahrheit daran, so scheitert sie mit ihr vermutlich ebenso wie mit der vorherigen an der momentan gültigen Messlatte des Sports. Solange es dagegen mit Takt, taktvoll oder taktlos, immer auch darum gehen darf, Spielräume für die sozialen Rollen abseits gege-bener Normen zu erkunden, einfach weil „die Freiheit eine Rolle spielen können

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[muß]“,25 um dort vergessene, vielleicht sogar gewaltsam zurückgehaltene Spuren freizulegen und für die gegebenen Ordnungen produktiv zu machen, bleibt das be-hagliche wie unbehagliche Umgangsleben offen für kontaktierende Anschlüsse in den und abseits der gewählten Rollen. Dass der Takt im Spiel damit seine gesichts-wahrenden Aufgaben zu erledigen vermag, lässt sich an der Hand von Plessners Rollenbegriff stark machen:

So wie der der fiktive Dr. Hans Schmidt27 von sich behaupten kann, viele ver-schiedene Positionen oder Rollen einzunehmen – er ist ein Mann, erwachsen und verheiratet, ein Staatsbürger, und zwar ein deutscher, in einer mittelgroßen Stadt wohnhaft, mit seinem Doktortitel offenbar ein Akademiker, genauer ein Studienrat, Vater von zwei Kindern, Protestant in einer eher katholisch geprägten Gegend, hier-her nach dem 2. Weltkrieg geflüchtet, also Flüchtling, Parteivorsitzender, Schatz-meister des örtlichen Fußballvereins, leidenschaftlicher Skatspieler und schlechter Autofahrer –, so ist auch die Sportstudentin nicht nur Angehörige der Universität, sondern auch Tochter, Tanzpartnerin, Patientin, Kommilitonin und Freundin, oder die Dozentin auch Kollegin, Patentante, Sportlerin, Wüstenreisende und anderes mehr. Dabei ist nicht daran gedacht, sich den anderen in allen Rollen auf einmal zu zeigen; manche berühren sich, andere dagegen kaum: Die Sportstudentin ist in dieser Rolle auch noch Frau und Kommilitonin, nicht aber Patientin oder Tochter; wer gerade doziert, gibt nicht zugleich die Wüstenreisende oder Patentante. Wer dagegen an den konkreten Verkehrssituationen vorbei immer in derselben oder einer ähnlichen Rolle auftritt, der vernachlässigt das „Sein in der Rolle“, um anstatt dessen mit einem intern angelegten oder extern auferlegten „eigentlichen Selbst-sein“28 aufzutreten. So können sich schnell Rollenirritationen und in deren Folge auch Taktlosigkeiten einstellen: Verwechselt die Dozentin ihr Sein in der Rolle als Lehrperson mit dem als Sportlerin oder versteht das Rollenselbst im Sinne eines eigentlichen Selbstseins, dann erkennt sie die Studentin nicht als universitär wie-der leistungsstärker gewordene Lernende, sondern als gerade nicht optimierbare Sportlerin. Ebenso kann die Studentin sich selber sehen. Dann erkennt sie weniger ihre gesundende Phase als Versuch, sich unter Einbezug der gemachten Erfahrun-gen auf das gegebene Sportsystem neu einzustimmen, d. h. ihre bisherige Rolle zu aktualisieren. Aber Rollen werden übernommen und angetreten, um sie zusammen mit anderen auf die jeweiligen Bühnen zu bringen, konkret miteinander ins Spiel zu kommen, in Spielräumen zu handeln, dort etwas auszuhandeln – und nicht, um sie zu haben, eigensinnig in Besitz zu nehmen und an anderen vorbei zu präsentie-ren. Wer bloß selbsttätig mit ihnen verfährt, spielt Ein-Personen-Stücke, in denen die zwischenmenschliche Atmosphäre davon lebt, wie sich Solisten aufführen: bei-spielsweise als radikal Hilfsbereite, die am individuellen Hilfebedarf vorbei stets einsatzbereit sind, um die selbst ernannten Versehrten immer wieder von Neuem ungefragt auf andere Straßenseiten zu führen.

Der Begriff der sozialen Rolle, wie er hier für den Takt brauchbar werden soll, geht mit Plessner von zwei Seiten an die Idee des Menschen und seines zwischen-menschlichen Verhaltens: zum einen von seinem übernommenen und vorgeführ-ten Selbstsein in der Rolle-als, zum anderen von den diversen Möglichkeiten seines individuellen Umgangs damit: Radfahrende fahren Rad, aber sie haben außerdem ihren eigenen Stil zu fahren. Abhängig von Person, Zeit, Ort und Gerät bewegen sie sich hier sportlich, freizeitmäßig, schnell, rücksichtslos, schleichend, umsich-tig, ebenso wie „der Outsider, der Periphere, der Bohemien, das verkannte Genie, der Gescheiterte, der Paria“29 bei allem Gleichklang im Beanspruchen einer ge-sellschaftlichen Sonderrolle immer auch mit Eigensinn sein übernommenes Rand-figuren-Dasein ausleben wird:

Umgangsleute führen demnach eine Art von „Doppelgänger“31-Existenz, in der sie sich nicht nur an die ihnen gesellschaftlich angetragene Rolle gebunden zeigen, sondern, insofern sie sich als Träger derselben verstehen, entsprechend frei im ge-stalterischen Umgang damit auftreten. Durch diesen doppelten Gang entsteht und bleibt ein nicht weiter ergründbarer, aber zwischenmenschlich einsetzbarer Rest, der die übernommene Rolle auch „zu einer moralischen Erinnerung an das per-sönliche Reservat des einzelnen, an seine Privatexistenz“,32 macht. Taktrelevant bei alldem ist, dass sich dieser persönliche, intime Bereich innerhalb der angetretenen Rolle befindet, nicht etwa jenseits davon, denn das Sein in der Rolle „hebt nicht nur nicht sein Selbst auf, sondern schafft es ihm; nur an dem anderen seiner selbst, hat er – sich“.33 Wenn der Mensch überhaupt selbst ist, dann darüber, dass er sich rol-lengemäß hat, in diesem-und-nicht-jenem Augenblick so-und-nicht-anders. Nun ist heutzutage der genannte ascribed status nicht mehr in dem Maße wie noch zu Plessners Zeiten entlastend vorbestimmt. Je mehr die Moderne Geburt und Um-stände von traditionellen Wegen abkoppelt, umso mehr sind die Entwürfe für die sozialen Rollen und deren Aufnahme im gesellschaftlichen Feld der Freiheit der figurierenden Individuen überlassen. Die Modernen haben viele Gesichter, stecken in unterschiedlichen Kleidern, kennen verschiedene Stile, mit denen sie so erfinde-risch umgehen können oder auch müssen, wie es private, berufliche oder andere Um-stände verlangen, und zwar in den vielfach im Nebel liegenden Grenzen des gerade Gültigen, die heute noch hier, morgen schon woanders sein mögen: Das sportliche Outfit muss keinesfalls bedeuten, dass eine Person irgendwo im Sport unterwegs ist oder war; schon gar nicht muss sie sportlich sein. Sie kann damit lediglich den Anschein von Fitness erwecken wollen, um einem gesellschaftlichen Gesundheits-anliegen zu genügen. Der Typ mit dem Piercing, dem Tattoo und der Jeans voller Risse und Löcher kann im Gefängnis ebenso auftreten wie im Stadttheater oder im Schulbetrieb, wo er den Coolen mimt, vielleicht um sich die Anerkennung der Schüler zu sichern. Geben die gesellschaftlichen Ordnungen keine unverrückba-ren Rollenentwürfe mehr vor oder schreiben diese häufig um, wandelt sich auch das repräsentative Bewusstsein, der Eindruck von Zugehörigkeit und Verantwort-lichkeit der Rollenträger. Für sie stellt sich dann weniger die Frage, ob sie wohl in der übernommenen Rolle „eine gute oder eine schlechte Figur machen“,34 so dass zwischen den „sozialen Rollenanforderungen einerseits und den faktischen Rollen-ausübungen andererseits“35 feinreguliert werden muss. Offen ist vielmehr, welche der verfügbaren Rollen in einer konkreten, hier zwischenmenschlichen, Lage von ihnen wie miteinander gespielt werden können – das ist die Freiheit und die Last, die sie tragen. Da sich verbindlich unergründliche Rollenspieler über nichts weiter als diverse unpersönliche Praktiken für ein Handeln in Spielräumen offenhalten, ar-beitet auch der rollenspielerische Takt entsprechend mit nichts weiter als mit dem, was sich ihm gerade darbietet: die nuancenreich verhüllten Gesichter der Umgangs-menschen, mit denen wie gesehen umzugehen ist, damit sie füreinander erkennbar sind oder werden. Es gehört demnach nicht zu seinen Aufgaben, allesamt brav in den ihnen zugewiesenen Rollen zu halten oder wieder hineinzuführen, indem er gewissenhaft oder verständnisvoll die anderen Gesichter vor Übergriffen rettet. Er hat nur Anschlüsse für die Umgangsrunden mit einem offenen Ausgang zu sichern, indem er die gezeigten Rollengesichter schützt und geheimnisvoll hält. So ist die „Weisheit des Taktes: Schonung des anderen um meiner selbst willen, Schonung meiner selbst um des anderen willen“36 kein Aufruf zu unbedingter Verhaltenheit und sinnlicher Kontinenz im Umgangsleben, denn der in der Mitwelt verwurzel-te Takt ist gerade dafür da, solche Verfassungen wie etwa Freude, Lust, Schmerz, Nervosität, Bangigkeit, Verlegenheit oder Traurigkeit ins zwischenmenschliche Spiel aufzunehmen und nicht außen vor zu lassen, so dass dort füreinander etwas damit gemacht, daraus miteinander etwas werden kann. Da sich dieser Takt nicht auf einen Fremdschutzbeauftragten für Rollenträger reduzieren lässt, kann und darf mit ihm auch allerhand passieren, jedenfalls solange die Bedingungen stimmen für ein aufeinander einstimmendes, nicht unbedingt sich und einander verstehendes, aber doch immerhin verständlich machendes Tun, damit es nicht bei einem eigen-sinnigen Darbieten des einen und einem ebensolchen Erkennen des anderen blei-ben muss, sondern daraus ein nuancierendes Miteinander-Handeln in Spielräumen werden kann, auch und manchmal gerade, wenn den Mitspielern dabei etwas ent-gleitet, außer Kontrolle gerät – sie sich oder einander irgendwie fremd werden. 2.2 Fremdwerden

Die Vorgeschichte der Studentin erzählt davon, dass sie ihre sportive Rolle vor dem Auslandsaufenthalt in den diversen repräsentativen Situationen kaum durchhalten kann, was in Form von diversen Niederlagen allseits sichtbar wird und mindestens zwei Wege des eigenen wie fremden Umgangs damit nahelegt: Sie können auf ihr sportives Rollenselbst beschränkt oder aber auf ihr eigentliches Selbstsein ausge-weitet werden, mit dem sie dann aber auf einem Verliererselbst sitzenbleibt, das sie auch in andere Lebensbereiche hineinträgt, um dort in ähnliche Situationen wie im Sport zu geraten: nicht mehr Herrin im eigenen Haus, also zu sich, ande-ren und anderem entfremdet. Nun ist Entfremdung ein „Begriff mit ‚unscharfen Rändern‘37 und dabei „ein Zauberwort von unverminderter Suggestivität“,38 auf so etwas wie Machtlosigkeit, Indifferenz, Unechtheit, Entzweiung hindeutend. Ent-fremdete scheinen irgendwie defizitäre Beziehungen zu sich, anderen und anderem zu haben,39 die zeigen, dass einmal war, was nicht mehr – aber wieder – zu haben ist, etwa Macht, Echtheit, Einheit, Klarheit. Der Gedanke ist, dass der Mensch ganz bei sich sein könne, „mit sich identisch werden müsse, weil er es einmal gewesen sei“, weshalb seine Bemühung dahin geht, sich „selber wieder einzufangen, aus der Verlorenheit zurückzuholen“.40

Es gehört zum Leben im flüchtigen Ungefähr zwischenmenschlicher Praxis, in di-verse befremdliche Lagen zu kommen, in denen man sich temporär an etwas oder jemanden verliert. Darin eine verlorene, aber wiederauffindbare Herrschaft über sein eigentliches Selbstsein zu sehen, als würde das Fremde das eigene Haus frech besetzen und dort ein Leiden verursachen, das erst nach dem Beseitigen des Fremd-körpers vergeht – ist keine Option für Rollenspieler und damit auch kein Aktions-feld für den Takt, der auf präsente Mitspieler baut, die sich genauso nehmen, wie sie sich einander zeigen, ob sie nun verhalten, impulsiv, kämpferisch, geistreich oder anderswie auftreten. Solange für private wie öffentliche Umgangsleute die gesell-schaftlichen Bedingungen dafür gegeben sind, also Freiheit ist, sich in einer Um-gangslage zu dem zu machen, was sie in ihrer angetretenen Rolle schon sind oder sein könnten, steht nicht zu befürchten, dass sie ihr „eigenes als ein fremdes Leben leben“.42 Woran Rollenspieler im Miteinander aber noch scheitern, worin sie sich und einander irgendwie fremd werden oder verfehlen können, das sind die über-nommenen und belebten Rollen selbst, und zwar als „Unmöglichkeit, sich in ihnenangemessen zu artikulieren“,43 womit hier das gemeinsame Handeln in Spielräu-men, gemeint ist:

So versteht die Studentin den Kommentar der Dozentin in einer anschlussschlie-ßenden Weise, was sie durch ihr Weinen zum Ausdruck bringt. Ähnlich geht es der Dozentin, die in der selbst ausgelösten Unruhe keine Anschlüsse für das wei-tere Mitspielen findet und über ihr volltreffendes Tun sicherheitshalber hinweg-geht. Hier mögen sich die Verhaltensspielräume für beide geschlossen haben, aber insofern es sich um kein unpassend eigensinniges Tun als schuldhaftes und erlei-dendes Verhalten von Tätern und Opfern handelt, lediglich um ein situativ ver-fehltes Mitspielen, so haben sie sich nur vorläufig geschlossen, um jetzt oder spä-ter als andere woandershin wieder geöffnet zu werden: Der Takt ist kein radikaler Gegner von Schließungen, vielmehr ein Aktivist bei der Suche nach Anschlüssen. Bleibt nur noch die Frage, ob das Fremdwerden beim Rollenspiel mit Verlusten an Glaubwürdigkeit vor sich und anderen einhergehen muss, wenn schon die Sorge um den Verlust von Originalen zulasten von Kopien für den Rollenspieler unbe-gründet ist. Angenommen, die Studentin ist schon als Kind auf Wunsch der Familie in den Sport gegangen. Alle dahingehenden Aktivitäten werden stark durch diesen Wunsch geprägt, ohne dass sie hier mehr als das Nötigste zu leisten vermag, womit sie die Familie, das Umfeld, sich selbst ständig enttäuscht. Sie trainiert fleißig und verbissen dagegen an, kann ihre Leistungen auch steigern, bleibt aber gemessen an ihrem Bemühen unterhalb des Erwartbaren. Ihr verkrampftes Bemühen führt sie insgesamt in Bewegungsabläufe, die ungelenk und unstimmig wirken, so als hätte sie zwar das Drehbuch gelesen, ihren Part gelernt haben und ihn auswendig ab-spulen können, aber nicht in ihre Rolle und in kein Mitspielen gefunden. Sie selber und andere können dies als missratenen Abgleich zwischen erwartetem und prakti-ziertem Rollenselbst nehmen und auf einen Takt schimpfen, der seiner rollenschüt-zenden und- verteidigenden Aufgabe nicht ordentlich genug nachgekommen ist. So verstanden öffnet sich dann auch eine Schere zwischen einem wahren und einem irgendwie falschen Rollenselbst:

Wer sich als Feministin versteht und in Intimlagen mädchenhaft auftritt, als Stadtmensch nach Familiengründung in die Reihenhaus-Vorstadt zieht, als Wis-senschaftler den Dichter in sich verleugnet, als Berufsanfänger mit Chefgesten auftritt,46 der scheint an seinem Rollenselbst vorbei, in ungenügenden, also ent-fremdeten Beziehungen zu leben. Da sie im Umgang nicht eindeutig machen kön-nen, welche der Figuren sie geben bzw. vor sich haben, drohen sie wie von selbst am Zusammenhang der Umstände, der Situation oder Person vorbei, also auch taktlos, zu handeln. Das gilt aber nur, solange die übernommene Rolle ein Verhalten er-warten lässt, das einer festen Wegleitung folgt, und die Rollenträger sich für das Tragen einer Hauptrolle entscheiden müssen, denn: Der einzige Grund, warum für die Feministin in der Intimlage das mädchenhafte Kichern unpassend sein könnte, findet sich in der Rollenbeschreibung von Feministinnen, ebenso wie in der Cha-rakteranleitung für Stadtmenschen stadtrandtypische, für Wissenschaftler dichteri-sche, für Berufsanfänger vorgesetzte Züge offenbar nicht vorgesehen sind, so dass sich dem Kontakt keine anschließenden Kontakträume öffnen können. So haben sie die Wahl, entweder gleich mit ihrem echten Rollenselbst in der Welt erfolgreich zu sein oder mit einem falschen, hier Pathologien annehmenden, Rollenselbst in ein scharfkantiges Entweder–Oder zu geraten: diese-oder-jene Rolle zu spielen, zu-gunsten von Einheit, zulasten von Nuancen. Dann können sie nicht mehr wählen, die augenblickliche Situation des Stolperns in der angetretenen Rolle zum Ereignis des konstruktiven Rollenwandels zu machen, den umgelegten Opfermantel abzule-gen, die Stolperschritte in das Rollenselbst aufzunehmen und derart zu nuancieren: von dem privat mädchenhaft Kichernden etwas dem öffentlich erwachsenen Ernst beizumischen, städtische mit vorstädtischer Atmosphäre zu kreuzen, berufseinstei-gende Chefallüren zu kreieren, dem Dichterischen im Geisteswissenschaftlichen offiziell mehr Platz einzuräumen oder im universitären Sport auf gutes Gelingen zu spielen. Das polar gestrickte Muster vom gesunden oder kranken, falschen oder richtigen, tätigen oder erleidenden Rollenselbst mag in Theorien wie auf der wirkli-chen Theaterbühne gut ankommen, wo selbst Zufälle ihren allgemein gut sichtbaren Platz haben. Im flüchtigen Ungefähr mitmenschlicher Gelegenheiten muss offen-bleiben dürfen, wie die übernommenen Rollen getragen werden. Exzentrische Rol-lenspieler sind für den Ernst, einander finden zu müssen, nicht zu haben. Dem Takt kommt das entgegen: als herausforderndes Spiel mit den gegebenen Verhältnissen, stets auf der Suche nach Anschlüssen für ein Handeln in Spielräumen. Dies gilt selbst dann, wenn sich Verhaltensspielräume schließen, die Rollenspieler sich nicht mehr zu sich und einander verhalten können, „aus dem vitalen Vollzug heraus-tretend (und das kann der Spielende jederzeit, das würzt das Spiel und verhilft ihm erst zum vollen Genuß seiner Freiheit)“.47 Zeigen sich die Verhältnisse anschlusslos oder mehrsinnig und geraten Umgangsleute dadurch in eine Krise, so entsteht hier weniger eine entfremdete, eher eine befremdliche Lage, in der sich für die Spieler neu entdecken und entsprechend entscheiden, wie sie Kontakte zu sich und neu knüpfen können. 2.3 Befremden

Den Takt nicht als guten und schönen Antwortgeber für aktive Konfliktlösungen oder passives Katastrophenvermeiden Einzelner einzustellen, sondern als antwort-findende Praxis, mit der situativ gespannte Stimmungen im zwischenmenschlichen Verkehr verhandelt, aber auch hergestellt und umgestellt werden können, lässt auf das nuancenreiche Gemeinsame der Gegensätze von Ordnung und Leben, Fremd-heit und Eigenheit blicken, in dem die vielen Unbekannten des Umgangslebens zu-hause sind. Angenommen, das Weinen der Studentin als Reaktion auf den verbalen Volltreffer der Dozentin gehört zu den „Antworten auf eine Grenzlage“,48 die aus einer Umgangskrise und den sich schließenden Verhaltensspielräumen entstehen, dann ist der Takt noch im Spiel, insofern sie mit ihm (wieder) woandershin ge-öffnet werden können, wie in therapeutischen Lagen, in denen sich die Therapeu-ten in aller Umsicht trauen dürfen, die Gesichter der Klienten zu beschädigen, um dafür Formen der Erschütterung Raum zu geben. Die Krise als Lage einer mög-lichen Neuwahl kann zeigen, dass die im Nirgendwo stehenden Rollenspieler zwar momentan nicht über „sich und die anderen verfügen – und stolpern“.49 Aber sie stolpern weniger im Sinne eines „Nicht-über-sich-verfügen-Könnens“ als „gestörte Selbst- und Weltaneignung“,50 vielmehr zeigt sich darin ein Angebot, aus der Grenz-lage für sich und einander etwas zu machen. Selbst wenn es beim Weinen zu einer „Begegnung mit Losgelöstem, das unvermittelt berührt (rührt, erschüttert, verwan-delt, löst, überwältigt)“,51 kommt, haben Weinende noch nicht endgültig die Freiheit verloren, sich einander heulend, stöhnend, schluchzend, wimmernd, jammernd zu zeigen – und im Zeigen zu bewegen. So sind sie zwar in einer Umgangslage in sinn-entleerte Räume und damit außer sich geraten. Aber bei allem hat „der Verlust der Beherrschung im Ganzen Ausdruckswert“.52 Die Studentin verhält sich also auch ohne sinngebende Umgebung ausdrücklich zu sich und anderen, nur kann sie im übergriffigen Moment den „Abstand im Ausdruck zum Ausdruck“53 nicht wahren. So gesehen „ergibt sich die Ohnmacht aus einer merkwürdigen Unmittelbarkeit des Ausgeliefertseins an den Schmerz, im Umschwung von Gespanntheit zu Gelöst-heit und in der Ergriffenheit“,54 die, wird sie nicht übergangen, den Umgangsleuten mindestens eine allseits orientierende Situations- und Beziehungspause verschafft, das Gewohnte etwas im Fragwürdigen belassend, zur Begrenzung und Verwand-lung von allzu starrsinnig gewordener Macht und Wahrheit. Ähnlich funktionie-ren mit Schock arbeitende Kunstwerke, die für das Publikum eine Grenzreaktion anstoßen, also anstößige Stimmungen erzeugen, Taktlosigkeiten platzieren, wenn sie das ihnen Zugrundeliegende über die Stränge schlagen lassen, also verfremden oder befremden:

Das im Erfahren von Taktlosigkeiten entstehende Unbehagen kann in der Kunst wie in der schon genannten Therapie, aber auch im Alltäglichen, dazu führen, dass etwas aus dem „Bereich des Verständlichen“ in den des „noch nicht Verständli-chen“56 und damit über das im Moment Mögliche hinaus gerät. Dabei haben die kalkulierten Taktlosigkeiten vor allem in der Kunst für das um den Verstand Brin-gende mehr Freiräume verfügbar als das Alltägliche, da sie die Menschen als ano-nymes Kunstpublikum voll treffen. Das Publikum mag tief getroffen sein und sich derart zeigen, aber es ist damit nicht allein, es kann also seine Beschädigungen mit anderen kommunizieren, teilen, begrenzen. In diesem Sinne taugt es als Vorbild für Alltagseinzelne in ihren Rollen-als, die sich im Umgang miteinander schockieren, etwas unsinnig werden lassen, Gesichtsverluste zugunsten von Tränengewinnen hinnehmen, um dann anders geschaut für sich und einander sinnvolle Anknüp-fungen zu entdecken.57 Stets vorausgesetzt, dass alle Unmittelbarkeit vermittelt ist, sind selbst Antworten auf Grenzlagen noch dafür gut, „eine Beziehung zu anderen und zu sich selbst aufzunehmen“.58 Verläuft das Umgangsleben „notwendig auf der Grenze zwischen Sinn und Nicht-Sinn“,59 ergibt sich für Umgangsleute entweder ein Bewegungsspielraum oder aber „die Chance, an nicht mehr verschiebbare Grenzen des Nichts-Sinnes zu stoßen“,60 was hier so viel wie eine günstige Gelegenheit ist, über den Körper laufende Grenzreaktionen hervorzurufen, damit die Ordnung auf Leben hin in Bewegung bleibt. So hat das Weinen der Studentin den Verhaltens-spielraum im Hinblick auf zwischenmenschliche Anschlüsse zwar eingeschränkt, aber gleichzeitig ist mit ihrer Reaktion eine wesentliche Umgangsgrenze zum Aus-druck gekommen: Die Weinende ringt interpretativ wie expressiv und antwortet, indem sie eine „Nebelbombe über die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten der Situation“61 wirft. Fließen beim Weinen offen sichtbar Tränen, so können die kri-senhaften Verhältnisse hinter einem Tränenschleier bis auf bessere interpretative und expressive Zeiten verborgen gehalten werden. Ist es so, dass sich die Studentin in ihrem Auslandssemester nicht nur von den diversen Niederlagen oder nicht er-rungenen Siegen erholt, sondern auch erkannt hat, dass sie für einen anderen als den bisher vom Leistungsniveau derart hoch angesetzten Sport steht, so kann sie zwar das universitäre Sportskript nicht umschreiben, aber doch ihren Part darauf-hin anpassen und ihre Rollenhaltung etwas wenden, etwa mehr auf Lässigkeit hin zu spielen versuchen. Vielleicht kommt sie auf diesem Weg zu einem Bewegungsstil, der darüber hinwegtäuscht, dass sie die Leistung an der erwarteten Weise vorbei erbringt, vielleicht kann sie auch ihre Kommilitonen anstecken und das Sportstück insgesamt woandershin bewegen. Wer entscheidet, bei Gelegenheit seinen „eige-nen Maßstab zu befremden“,62 mag „absichtlich Fehlinformationen vermitteln, das eine Mal durch Täuschung, das andere Mal durch Verstellung“,63 aber insofern das Umgangsrichtige nicht vorliegt bzw. sich erst im Vollzug ergibt, gehören verstellen-de wie andere kleine befremdende Fluchten zu jenen Praktiken aus dem Geist des Takts, die den zwischenmenschlichen Starrsinn begrenzen, zugunsten weiterer Mit-Spiele. So kann die Studentin der grenzgängigen Umgangslage über einen ironi-schen Kommentar zur Tollpatschigkeit rundlicher Frauen entkommen, womit dem bitteren Ernst der taktlosen Geste etwas entgegengesetzt wird, ohne den brüskieren-den Inhalt vergessen zu machen. Sie kann die Dozentin auch beim Wort nehmen und stumm eine überzogene Performance der Niederlage darbieten oder im be-wussten Überhören des Vorfalls einen sportfremden Kommentar platzieren, seine Ohnmacht vortäuschen, mit einer Kommilitonin eine eigene Übung proben – und anderes mehr, was Übergänge entstehen lässt, aus denen sich neue Anschlüsse erge-ben. Zusammengefasst ist zu sagen, dass mit befremdenden Praktiken die zumeist spontan akut werdenden Umgangsfronten zwischen Rollenspielern beweglich, geschmeidig und anschlussfähig gehalten werden können. Dies ist insofern nicht zu vernachlässigen, als erst der Prozess des Umgangs zu erkennen gibt, wie sich schließende Verhaltensspielräume auf das weitere Miteinander auswirken, denn ein Umgangsleben beginnt weder mit einem Startschuss noch endet es an einer für alle gleichermaßen gültigen Ziellinie, sondern bringt und hält seine Protagonisten in ein schon divers laufendes Inmitten. Solange es dabei um mehr gehen darf, als eigensinnig das Rollenselbst von pathologischen Zügen zu befreien, um es in seine wahren Gesichter zu bringen, vorbei an der im steten Wandel sowie in vielfältigen Beziehungen stehenden Position der Umgangssysteme64 und der sich darin und zu-einander verhaltenden Rollenträger, ist Platz für befremdende Rollenspiele, so dass aus Umgangskrisen pausierende Räume und dort füreinander frische Gesichter und belebte Spielräume entstehen können. Wer wie die Dozentin eine Taktlosigkeit platziert, wenn schon nicht unbedingt vorsätzlich, so aber doch, um sie zu bemer-ken und verwandeln zu können, oder wem wie der Studentin eine Taktlosigkeit wi-derfährt, wenn schon nicht gut vorbereitet, so aber doch sich ihr stellend, sie nicht persönlich, sondern mit Blick auf sich und die anderen als Mitspielerin nehmend, der begibt sich in das Spannungsfeld, kämpft dort seine Umgangsrunden  – und zeigt sich und den anderen als ein darüber bewegtes, sich miteinander bewegendes, voneinander berührtes, einander berührendes Rollenselbst.

3 Fall 2: Im Takt bleiben

Ein Mann wird Vater. Das Kind ist seit vielen Jahren gewünscht und gezielt geplant, zuletzt auch über Maßnahmen einer künstlichen Befruchtung. Diesen Schritt hat die Frau eingeleitet und aktiv gestaltet, der Mann ist ihn nur zögerlich mitgegangen. Das Beziehungsverhalten des Paares im öffentlichen und privaten Raum ist distanziert, was durch die über Jahre laufende Familienplanung eher noch verstärkt wurde. Die Schwangerschaft bringt hier eine Wende. Der Mann wird plötzlich zu einem ihm völlig fremden Nahverhalten gedrängt, nicht nur seitens der werdenden Mutter. Jedes Tref-fen mit der Familie, mit Freunden und Bekannten kreist um das kommende Glück des Lebens mit einem Kind, um die Wonnen des Bondings, Stillens, der Nähe; alle Gesprä-che mit der Mutterwerdenden kreisen um die Selbstverständlichkeit der Anwesenheit von Vätern bei der Geburt. Der gemeinsame Besuch des Geburtsvorbereitungskurses zeigt schließlich, wie stark ihn das nahverhaltende Erwarten bedrängt, denn hier ist er genötigt, sich gemeinsam mit anderen werdenden Eltern auf engstem Raum kör-perübend zu bewegen, seine Frau, den Bauch, das ungeborene Kind mehrfach länger zu berühren, was ihm selbst im Privatraum sehr schwerfällt. Als die Kursleute die Aufgabe bekommen, zu den imaginiert ankommenden Wehen lautstark zu hecheln, kapituliert er und verlässt kurzzeitig den Raum. In der die Kursstunde abschließenden Feedback-Runde macht die Kursleiterin sein Verhalten für alle spontan zum Thema und fragt ihn, ob er mit seinem Distanzverhalten schon therapeutisch angebunden ist, denn „wir wissen ja alle, dass dem Kind großer Schaden zugefügt werden kann, wenn die Eltern selber in Bindungsschwierigkeiten stecken“. Im Kurs entsteht eine Atmo-sphäre stiller Betretenheit.

Auf den ersten Blick gibt es in diesem Fall eineanstößige zwischenmenschliche Lage, hervorgerufen durch die Rede der Kursleiterin, die den distanzierten Umgangsstil des Mannes zu seinem persönlichen Bindungsproblem macht, indem sie ihn öffent-lich als potentiell schädlich für das kommende Kind kommentiert. Ein solches Ver-halten erscheint zunächst situativ unpassend, sachlich dogmatisch sowie persönlich doppelt übergriffig, denn sie mag eventuell ein wohlbegründetes Wissen darüber haben, welche Arten von Bindung und Kontakt ein Säugling benötigt, aber aus dem spontanen, kurzzeitigen Rückzug des Mannes ein Bindungsproblem zu schließen, um dies auf beide Eltern zu übertragen und als Schaden für das Kind in den Raum zu stellen, geht auf den ersten Blick zu weit. Ihr Urteil fällt die Kursleiterin außerdem ungefragt sowie vor der werdenden Mutter und den anderen anwesenden Eltern. Da im Anschluss alle Beteiligten stillschweigen, ist davon auszugehen, dass sie mit ihrem Verhalten nicht nur konkret dem Mann zu nah getreten ist, sondern auch die übrigen Kursteilnehmer sowie, auf einer weiteren Berührungsebene, die werdende Mutter und Partnerin unangenehm berührt hat. Spontan ist der Äußerung der Kurs-leiterin also nichts Konstruktives abzugewinnen, bringt sie doch alle in eine mehr oder weniger unbehagliche Situation. Wird die Reaktion der Kursleiterin daraufhin angeschaut, wie sie sich mit dem Kurszweck verträgt, so ergibt sich ein ähnliches, aber differenzierteres Ergebnis: Der Geburtsvorbereitungskurs ist kein zufälliger An-lass, vielmehr einer, dem ein gemeinsames Anliegen und insofern auch ein daran

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ausgerichtetes Verhalten eingeschrieben ist. Seine Themen, die praktischen Übun-gen und Gespräche werden nicht geheim gehalten, alle Teilnehmenden wissen also, worauf sie sich einlassen. Nähe, Berühren, Tönen, sich dicht aneinander miteinander Bewegen sind offensichtlicher Bestandteil solcher Kurse – als Mittel zum Zweck, da-rüber für die Geburt und die künftige Elternschaft bestens gerüstet zu sein. Die aus-weichende Geste des werdenden Vaters kann somit auch als Ignoranz demgegenüber aufgefasst werden. Er handelt gegen die Ordnung, stört mit seiner plötzlichen Flucht den Kursverlauf und lässt es insofern an Anstand fehlen. Andererseits gehört es nicht zu den Anliegen einer Feedback-Runde, Kursteilnehmer in ihrem anstößigen Tun vorzuführen, schon gar nicht in der von der Leiterin gewählten maßregelnden Art. Überhaupt fällt Maßregeln eher nicht in diesen speziellen körperbetonten, auf ein existentielles Ereignis vorbereitenden Aufgabenbereich, es sei denn, der Kurs wird von den werdenden Eltern unfreiwillig besucht, etwa von Amts wegen aufgrund ge-sellschaftlich untragbarer Verhaltensmängel auferlegt. So ist zwar der Mann derjeni-ge, der mit seinen Reaktionen Anstoß erregt, aber die Kursleiterin bleibt diejenige, die sich quer zu der gedachten Kursatmosphäre verhält, also den Kurs-Takt stört. Selbst dann, wenn sie den werdenden Vater am Ende des Kurses zum Vier-Augen-Gespräch bittet, ist ihre Rede noch unpassend im Hinblick auf die Gesamtsituationwie auch auf ihrer beider Verhältnis zueinander, denn es gehört nicht zu ihrem Auf-trag, sich ungefragt und außerdem als Fachfremde zur Psyche des werdenden Vaters zu äußern. Betrachtet man das weitere kontextuelle Umfeld, so bleibt noch die Frage offen, wie die werdende Mutter die Taktlosigkeit der Kursleiterin versteht. Spontan liegt nahe, dass sie wie der Mann getroffen ist, muss sie sich doch negativ mit ange-sprochen fühlen, etwas abwehren, womit sie über ihre Paarrolle und ihr werdendes Elternsein zu tun hat. Möglich ist aber auch der umgekehrte Fall. Da der distanziert bleibende Mann sie in der Vergangenheit schon viele Male in unangenehme Lagen gebracht hat, zuletzt in der Kurssituation durch seine Flucht, kann sie sich auch durch die dritte, fremde und zudem professionelle Person in ihrem eigenen Nahver-halten bestärkt und unterstützt fühlen. 3.1 Ermöglichende Schonzonen

Genauer auf das Paarleben und hier auf das konstruktive Potential des Taktlosen ge-schaut, fällt vor allem das in der Schwangerschaftszeit nicht abgestimmte Verhältnis

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von persönlichem Umgangsstil, Privatsphäre und gemeinsamer Grundsituation auf. Während die eine radikal auf Nähe umschwenkt, bleibt der andere dem gewohnten Abstand treu. Anders gesagt: Der Mann verharrt in der alten und körperdistanzier-ten Welt, wohingegen sich die Frau in die „bunte, vitale, hyperaktive, körperverlieb-te neue Welt“65 begibt. Der von ihr begangene Bruch mit dem liebgewonnenen Stil erstreckt sich auf alle Bereiche ihres eigenen und gemeinsamen Lebens. Sie ändert nicht nur ihre Art, wie sie anderen begegnet; anders wird auch ihr Umgang mit sich in den diversen Bereichen alltäglichen Lebens. So unterlässt sie das Schmin-ken, trägt ihre Haare offen, kleidet sich leger und farbenfroh, außerdem entzieht sie dem gemeinsamen häuslichen Umfeld alles Minimalistische zugunsten von der Natur abgeguckten Formen, Farben und Materialien. Sie wird zu einer Nestbauerin. Außerdem nimmt sie diesen Wechsel still vor, da das natürliche Ereignis werdender Mutterschaft offenbar selbsterklärend ist. Der Mann bleibt durch diesen Wandel mehrfach außen vor: Er verliert den Zugang zu ihr als Frau, zu sich vor anderen als Partner und Teil der bisherigen Wohngemeinschaft, in der er für sich keinen Platz mehr erkennen kann; zudem findet er keinen eigenen Zugang zur Rolle als werden-der Vater. So ringt der Mann zunehmend um seine Privat- oder Intimsphäre, seinen persönlichen Raum, seine spezifischen Distanzzonen,66 um im Kontakt mit ihr und anderen, oft wie von selbst, in würdelose oder entwürdigende Umgangslagen zu geraten, da das von ihm gezeigte Nahverhalten nicht mit dem übereinstimmt, das sie und die anderen von ihm erwarten. Nun erhält sein distanzhaltender Eigensinn nicht nur wenig Sympathien, die im modernen Umgangsleben eher den empathi-schen, sich allseits öffnenden und flexiblen Menschen gehören; er muss sich auch die Herr-im-eigenen-Haus-Frage stellen lassen.

Angenommen, zwischenmenschliche Verkehrssituationen fordern den voll be-herrschenden Umgang mit sich und einander. Dann scheint die werdende Mutter dem auf den ersten Blick gerecht zu werden, denn sie erkennt für sich die neue Rolle und schlüpft offenbar gewandt hinein: Sie befasst sich mit dem dafür geschriebe-nen gesellschaftlichen Text, wechselt die Bühne und spielt dort ein nahverhaltendes Mutterwerden. Dies lässt sich als den veränderten Verhältnissen angepasstes, von daher angemessenes, Tun verstehen – oder auch andersherum als systemunterwür-figes Folgeleisten und damit nicht „treu mit sich“67 bleibendes Handeln, womit dann die deutlich starr bleibende Haltung des Mannes als bewusst gehaltener Eigensinn in der persönlichen Raumsache und sein entsprechendes Tun als eines verständ-lich werden kann, das sich und anderen kein anderes als das innerhalb selbst ge-steckter Grenzen zumuten mag. Sind nun aber beide in der Lage, ihre Umgangs-wahl nicht nur umzusetzen, sondern beim Umsetzen auch zu sehen, dass sie es gerade so-und-nicht-anders umsetzen, dann können sie in sich verführende Spiele mit den Distanzzonen gehen, um Varianten füreinander zu finden. Auf diese Weise werden selbst versehentliche Grenzübertritte noch bemerkbar und entsprechend handhabbar, die sich nicht nur bei einem offensichtlich aneinander vorbeigehen-den Rollenerwarten ergeben, sondern auch durch verdeckt mitlaufende Haltun-gen, Meinungen, Emotionen gelenkt werden. Die Kursleiterin kann beispielsweise so-und-nicht-anders auf die spontane Flucht des Mannes reagiert haben, weil sie Sys-temverweigerer grundsätzlich ablehnt, schlecht gelaunt oder provokativ gestimmt ist. Gilt exzentrisch geschaut, dass Umgangsleute wissen, dass sie tun, was sie gerade tun, was selbst dann gilt, wenn sie es nicht sofort wissen oder gezielt verschleiern, dann sind die Kursleute keine Opfer ihrer diversen Umgangsumstände, sondern auch in der angetretenen Opferrolle noch Täter und können in ein kreuz-und-quer verlaufendes Tun kommen. Wer dagegen Solostücke bevorzugt, geht in kein ein Dazwischen haltendes Mitspielen  – und damit auch entschiedener mit Zufällen, Vorfällen, Geschehnissen um, die aus Umgangslagen lieber sicherheitshalber her-ausgekürzt werden. „Exzentrisches Tun“ dagegen „ist nicht auf Handeln reduzier-bar, sondern hat ein unaufhebbar ekstatisches Moment“,68 das zuweilen befremdlich wirken mag, aber Umgangsleute für sich und einander beweglich hält. Wer im be-gegnenden Moment die Umgangszügel gut in der Hand hat, dies weiß und dabei nicht vergisst, dass sie ihm im nächsten Moment aufgrund des Unberechenbaren auch entgleiten können, der kann sich ganz auf das Mitspielen konzentrieren, hier auf den Prozess des einander berührenden Umgangs, der sich jederzeit aussetzen und neu ansetzen lässt, der zu keiner Zeit vollautomatisch und von daher in seinen diversen Verlaufskurven unberechenbar und zuweilen nicht einmal grob vorher-sehbar bleibt, so dass es immer auch zu nuancierenden Pausen bis zu Stilbrüchen und Wandlungen im Umgang mit dem persönlichen Raum kommen kann. Dis-tanzzonen sind keine einmal für immer bezogenen privaten Zimmer, sondern per-sonale Räume, persönliche Sphären als ermöglichende Schonzonen, die sich für die Umgangsmomente mit Takt herstellen, zulassen oder auch in taktvoller Taktlosig-keit provozieren und füreinander anschlussfähig halten lassen.

Miteinander zu sein, „macht Menschen in einzigartiger Weise erreichbar, ver-fügbar und wechselseitig angreifbar“.69 Dies angenommen, können sich daraus durchaus einander entgegengesetzte Wünsche, etwa nach Nähe und Distanz, nach Frieden und Kampf, nach Herrschaft und Dienerschaft ergeben. So mag zwar das Nahverhalten dem Mann fern wie der Frau nah liegen; unverrückbar fest steht nicht viel mehr als das, was im Umgangsmoment tatsächlich von keinem verrückt wird. Rollenspieler gehen mit dem bedrohlich Berührbaren entspannter um als der Imagepfleger, der zur gründlichen Abwehr situativer Schanden zu jeder eindrucks-manipulierenden Tat bereit ist: Er steht mit seinen Figuren drehbuchgemäß fest auf gesicherten Bühnen, wohingegen sie auf freiem, erst noch zu sicherndem Feld unterwegs sind und die angreifenden Vorfälle über anknüpfende, taktisch weise Maßnahmen wie etwa Vorspielen, Umschreiben, Scherzen, Andeuten, Mehrdeuten, Aussetzen, Übersehen, Umfunktionieren, Hoch- oder Tiefstapeln ins Mitspielen einschreiben, nicht etwa ins Drehbuch zurückschreiben. In der Rolle des Imagepfle-gers mag der Mann durch so manche Anliegen der im geburtsvorbereitenden Nest-wärme-Modus befindlichen Kursleute seinen persönlichen Raum in Gefahr sehen, sich in die Enge gedrängt, bedrängt fühlen und so an seine darstellerischen Grenzen geraten, die er nun trotzdem passieren oder vor denen er stehenbleiben bzw. zu-rückweichen kann. Im ersten Fall unterdrückt er die ihn bedrängende Enge und der Kurs verläuft störungsfrei. Allerdings ist auf diesem Weg nicht nur mit Gewinnen, auch mit Verlusten, zu rechnen, denn sein ausdrücklicher Eindruck der Bedrängnis ist als temporärer Personenschutz durchaus brauchbar, eine Art Retter in der Not bei noch ungenügender Könnerschaft im Umgang mit der Rolle und dem Stück. Ist dem Mann weitgehend unklar, wie er sich in seiner Position zeigen will, weiter-hin distanzbetont, neuerdings nahreguliert oder anders, bleibt er hier vage, so hält er sich die Option für das eine oder andere noch offen. Er verzichtet damit zwar zunächst auf das für ihn gemeinhin vorgesehene Vaterselbst und damit auch auf das übliche Ansehen darin, etwa den vor allem Vatersein mit allem nahbewussten Wasser gewaschenen Vaterwerdenden. Aber sein Verlust ist ein sozialer Gewinn, hier des Kurses an Stabilität oder auch an Elastizität, und damit für die Kursteilneh-mer insgesamt an Spielraum für den Umgang mit ihren Selbstdarstellungen, was über das Anliegen von Imagepflegern hinausgeht, die aufgrund der angenommenen Zwänge der Kontingenz aus dem Zwang zur Konsistenz nicht herauskommen. Wer inmitten von persönlich bedrängenden Vorfällen selbst gemachte Fremdeindrücke retten will, muss hauptsächlich dafür sorgen, dass die anderen ihre Könnerschaft zugunsten des Drehbuchs aufrechterhalten. Hier setzt der Imagepfleger auf Prak-tiken des Sichtschutzes und stellt den Takt als sozial blinden Abschirmdienst ein.70Stets Pufferzonen im Umgangsleben einziehend, schützt er den personalen Raum, der wiederum das einzig wahre Rollenselbst behütet, welches schließlich dem nack-ten Darsteller insofern beisteht, als es ihn aus dem Umgangsspiel ganz heraushält, damit es im Umgangsraum möglich wird: einander zu berühren, ohne aneinander zu rühren. Erledigt der Takt seine abschirmenden Aufgaben nachlässig, kommt es also im Miteinander trotz seiner Anwesenheit zulasten der persönlichen Schonzo-nen zu Übergriffen und können daraufhin die davon Getroffenen ihre ganz persön-liche Betroffenheit nicht verbergen, da sie auch in Grenzlagen irgendwie noch über ihren Körper kommunizieren, dann hilft nur noch: von der Umgangsbildfläche zeitweise zu verschwinden, eine Zwangspause einzulegen, für sich zum Sortieren, Orientieren, Studieren des Rollentextes, für die anderen zur ermahnenden Erinne-rung an die persönlichen Schonzonen. Rollenspieler dagegen haben es einfacher, da ihr einander Berühren mangels fertiger und bloß schonender Umgangstexte offen für den Prozess von Vorfällen und frei ist, selbst aus ungünstigsten Gelegenheiten noch einen Glücksfall zu machen. So sichert der Takt zwar auch hier unter ande-rem Fremdeindrücke und schützt persönliche Zonen anderer, aber da Rollen wie Schutzzonen mitbewegt werden, darf es mit ihm darum gehen, miteinander „ ,ins Spiel zu kommen‘ und ,im Spiel zu bleiben‘ “.71 Während sich Imagepfleger „duel-lieren und warten, daß alle verfügbaren Schüsse das Ziel verfehlen, bevor sie ihren Gegner umarmen“,72 duellieren sich Rollenspieler, indem sie miteinander kämpfen, bevor sie sich nach der vorerst letzten Umgangsrunde symbolisch umarmen.

Im vorliegenden Fall hat die Kursleiterin nichts dergleichen getan, sondern mit Eigensinn an allen vorbei eine klare Kampfansage platziert, ist auf den Mann los-gestürmt, hat ihn voll getroffen und liegen gelassen. Darüber hinaus hat sie ein kursatmosphärisches Tief geschaffen, durch das die Kursleute ungefragt in die Ver-legenheit gekommen sind, sich zu positionieren, was als Tat passiert und nicht mehr zu ändern ist, womit aber jederzeit etwas anderes gemacht werden kann. Alle Beteiligten können hier mit dem vorherrschenden Stil brechen, Schonzonen und damit Selbstbilder verrücken, um aus dem einseitigen und todernsthaften in ein mitspielerisches Duell zu kommen. Welchen Verlauf eine solche duellierende Begegnung nimmt, steht dann in jedem Augenblick mit dem Mitspielen aller Be-teiligten frisch zur Debatte: So kann der werdende Vater sich und die anderen in Umgangssicherheit bringen, indem er aus der Betretenheit heraustritt, einen Rollenwechsel vornimmt und die Bindungsfrage nicht selbst, sondern im Namen eines Dritten beantwortet. Er schlägt dann vielleicht vor, in der nächsten Sitzung davon zu berichten, was es von einer anderen Autorität in dieser Sache zu hören gibt, womit er die Situation auf Neutralität hin fingiert und einen anderen persona-len Raum erschließt. Es kann auch passieren, dass sich andere Kursleute in ihrem eigenen Distanzverhalten genau getroffen sehen, froh über die Möglichkeit einer Reflexion in öffentlicher Runde und bereit, die werdenden Eltern üblicherweise angebotenen nahverhaltenden Muster aus dem alles bestimmenden Takt zu brin-gen und auf Nuancen zu durchkreuzen, so dass sich Verhaltensspielräume ergeben und Schonzonen entspannen. Es reicht nicht, mit Takt zu wissen, „wie man sich im Raum ausweicht oder im Raum aufteilt, um sich nicht ins Gehege zu kommen“.73Man muss auch wissen, wie man sich im Raum erreicht, will man miteinander et-was bewegen. Dieses Wissen kann nun entweder vorab gemeinsam festgelegt oder einsam beschlossen werden, dann ist entweder ein meisterhafter oder gefühlsge-wisser Takt gefragt, die hier beide schon abgewiesen sind. Die Unbehagen auslö-sende Kurssituation ist nicht nur ohne gesichertes Umgangswissen; dazu kommt, dass sich Umgangsleute in einem Umgangsprozess miteinander befinden, was das Erreichbare und Angreifbare in einer Spannung zueinander sein lässt, sollen sich nicht nur immobile Schonräume für die unsichtbaren Gesichter von schutzbefeh-lenden Solisten ergeben.

Unbestritten bleibt, dass auch mit Takt begangene Taktlosigkeiten für den Um-gangseinzelnen noch gefahrenträchtig sind, aber sie bleiben „eine Dimension, in der er spielt“, also in erprobender Art und Weise für sich und einander „an Grenzen geraten kann“.74 So ist die in der Kurssituation gewählte Fluchtgeste des Mannes dem Kurs insgesamt, der Kursleiterin und auch der Mutterwer-denden gegenüber durchaus taktlos. Sein Verhalten mag anderen unnötig und ungehörig erscheinen, den Pakt des Kurses missachtend, aber es lässt unter Umständen auch einen schwach Widerständigen anstatt einen trotzig auf-stampfenden Neinsager erkennen, der seinem persönlichen Unbehagen für alle sichtbar Ausdruck verleiht, ausgelöst durch die ihm unfrei erscheinende Situation, hier die starke Macht und Kontrolle rund um Geburtsvorbereitung, Geburt und Elternschaft:

Angenommen, der Mann flieht aus der ihm Unbehagen verursachenden Kurssitu-ation mit dem noch wütend in den Raum geworfenen Satz: „Wie kann es sein, dass Männer so einen Schwachsinn mitmachen?“ Aussage und Flucht brechen unver-mittelt in den Kurs ein, stören ihn an einer geburtswesentlichen Übungsstelle und lassen den geltenden Bezugsrahmen von einem Moment auf den anderen brüchig und fragwürdig wird. Der gesamte Kurs gerät aus dem gewohnten Takt und mit dem Unbehagen weiterer Kursleute an einen solchen „Nicht-Ort“, was dann durch rasches Abgreifen vorliegender Regeln, Konventionen, Rituale hingenommen oder zum Anlass genommen wird, sich darüber miteinander anders auszurichten. Solange die Situation nicht nur etwas mit ihnen macht, das Geschehene mit ihnen geschieht, haben sie die Wahl: Sie können an dem „Nicht-Ort“ verharren oder aber einen Coup landen, einen Umsturz einschleichen lassen, auf dass sie das in die Ordnung Einbrechende zu gemeinsamen Zwecken umwandeln. Stellt sich also Unbehagen ein, plötzlich, ausgelöst durch einen „sinnlichen Zufall“,76 so entfaltet sich dessen „produktive Kraft“,77 sobald die Unbehaglichen etwas daraus machen, etwa grenz-gängig oder schwach widerständig werden. So gesehen verweist die taktlose Ges-te des Mannes auf sein Unbehagen, mit dem er sich spontan ohne Plan gegen die Kurskonventionen stellt, um seine gestalterische sowie spielende Rollenfreiheit zu retten und darüber wiederaneignende Wege für ein gemeinsames Handeln in weite-ren Spielräumen zu erschließen: An den schwachen Widerstand gebunden, gehört seine vom Nicht-Ort ausgehende Fluchtgeste zu den „Taktiken von Praktikern“,78den taktisch weisen Handlungskünsten, über die er in der Kurssituation das dort Übliche elastisch hält. Dabei kann passieren, dass eine derartige Aktion nicht allein die konkrete Lage stört, sondern auch die tragende machtvolle Konstellation beun-ruhigt, vielleicht sogar unterwandert, abhängig davon, was von den anderen daraus gemacht wird und weiterhin daraus werden soll.

Aber das liegt nicht mehr unmittelbar im Aufgabenbereich des Takts, der zwi-schenmenschliche Momente bedient, auch wenn er sehr viel für den Erhalt der Spannung zwischen Ordnung und Leben unternimmt, damit die im Augenblick nicht nach einer Alternative so oder so entscheidbare Umgangslage79 zu ihrem Recht kommt, weshalb er möglicherweise den Bezug auf die negativ begrenzenden Nor-men entgrenzt, das nicht zu Bemessende, Maßlose zulässt – oder auch dem Grund-losen gute Gründe liefert. Denn es gibt wie gesagt Umgangsmomente, in denen gar nicht erst nach Gründen gesucht, das Umgangstun nicht voreinander begründet werden muss, wodurch erst der Spielraum für das genannte Erfindungsvermögen in Sachen dessen entsteht, was für sich und einander zu tun anstehen könnte, ohne dabei „normative Spuren hinter sich“80 zu lassen, gemäß der eigenen Unergründ-lichkeit sowie dem Reichtum aller Menschenkräfte, damit die Seele baumeln undrevoltieren, friedfertig sein und kämpfen, sich hingeben und widerstehen kann, egal ob die Vernunft, eine Emotion oder pure Lust das Handeln antreibt. Solange die Dimension des Spiels erhalten bleibt, ist es auf anderes hin frei und kann sich nicht radikalisieren, womit sich eine der wesentlichen Aufgaben des Takts erfüllt: den zwischenmenschlichen Verkehr, spontan sowie gelegentlich gezielt provokativ, von Wertdichte frei und damit die Regelapparate beweglich zu halten. Der Takt als grundloses Zwischenspiel ist in diesem Kontext zu verstehen sowie entsprechend zu ergänzen, denn: In seiner experimentell-spielerischen Variante tritt er ebenso in sol-chen Lagen auf, die nach Gründen alternativ so oder so behandelt werden können, da eine passende Umgangsregel zwar vorliegt, aber etwa wegen einer erkennbar er-höhten Wertdichte oder zugunsten eines bloß gelingenden zwischenmenschlichen Kontakts gezielt nicht gewählt wird. Die Idee der Grundlosigkeit wird verständlich, sobald es mit Takt nicht darum gehen muss, ein schon moralisch fest umzäuntes Umgangsleben zu schützen und zu stützen,81 sondern mit erprobenden, auch ris-kierenden Aktionen schonend zu ermöglichen. So gesehen lässt sich mit ihr an die Idee der Ziellosigkeit des Unbehagens als Widerstand anknüpfen:

Wie für Taktgesten gilt, dass sie stark sind als solche, die auf Seilen tanzen, so lebt auch das Unbehagen davon, ohne einen inhaltlich konkretisierten Halt auszu-kommen. Das Ziel der Ziellosigkeit kann entsprechend so aufgenommen werden: Widerständiges Tun bleibt produktiv, solange es die Freiheit hat, sich nur lagege-mäß, nicht allgemein, festlegen zu müssen, weder auf eine Handlungsanweisung zu rekurrieren noch eine zu generieren. Was nicht ausschließt, dass Bruchstücke des jeweils vollzogenen Handelns über die Lage hinaus in weiteres eigenes wie anderes Handeln hineinwirken, auch wenn Gründe und Ziele eher unterbelichtet im Ge-mütsdunkel bleiben. Nur ganz wie von selbst, aus sich selbst heraus, ereignet sich das Unbehagen als zielloses Zwischenspiel nicht – jedenfalls dann, wenn es diesen Selbstereignissen nicht an vermittelten Komponenten fehlen soll, wie sie dem ex-zentrischen Lebensstil verbindlich sind:

Unbehagen (selbst)auslösende und in den Widerstand führende, hier taktvoll takt-lose Gesten können demnach im Verkehrsleben für Handlungsspielräume sensi-bilisieren und zu Wiederaneignungen einst verlorener, vergessener, verlegter, ver-drängter Anschlüsse führen sowie darüber vielleicht eine Art von Komplizenschaft ins Leben rufen, die nicht auf dem Kursplan oder ihm sogar entgegen steht und die allein deshalb für den Takt und den Bruch damit interessant ist, weil sie „die Silbe ‚Mit‘ bereits im Worte hat“.84 3.3 Komplizenschaft – oder: Die Kunst des Mitmachens

Das zwischenmenschlich erreichbar, verfügbar und wechselseitig angreifbar ma-chende Miteinander ist voll vieler Einzelner, die sich nie allein zu sich, sondern immer auch zueinander positionieren und entsprechend in der „Wir-Form des eige-nen Ichs“85 miteinander bewegen. Hier sind es die Kursleiterin und die werdenden Eltern, die sich in ihrer gemeinsamen Lage für dieselbe aufeinander einspielen: als Exzentriker in der Mitwelt, d. h. im stets umkämpften miteinander Geteilten. Das Wie liegt in den Händen aller, die das kursleitende Nahmuster fraglos hinnehmen, aber auch situativ hinterfragen können, um der Gewalt der konkreten Lage und damit den Brüchen mit dem Musterhaften Platz zu machen. Wer, wie der werdende Vater, sein Unbehagen ausdrückt, kann für sich allein rebellieren, aber auch andere damit infizieren und aus dem Takt bringen, d. h. die bislang nahgeleitete Kursord-nung woandershin bewegen oder reformieren. Hier, wie überall im Reich lauter ein-zelner Fälle, „wo eine „Unstetigkeit im Stetigen, regelmäßige Unregelmäßigkeit“86vorherrscht, das gemeinsame Aushandeln oder der Münzwurf entscheidet, laden Taktbrüchige dazu ein, von der Ordnung eine Pause zu machen, sie auf Weltoffen-heit zu überprüfen und den Taktbruch „als günstigen Augenblick“87 zu nehmen, um für die Praxis etwas (anderes als bisher) aus der Lage zu machen. Das fragwürdig gewordene Unhinterfragte kann eine Art von Komplizenschaft ins Leben rufen:Der aus seinem Unbehagen des erfahrenen Augenblicks widerständig werdende und seine geburtsvorbereitenden Mitstreiter ansteckende Kursteilnehmer will keine Umwälzungen einer bisher funktionierenden Kursordnung. Er hat den Kurs nicht gezielt bis an die Grenze des Fragwürdigen gebracht, um dann so zu tun, als sei ihm etwas zur Teilhabe aller widerfahren oder aufgefallen:

Komplizen sind also lediglich besonders aufmerksam für das Plötzliche zwischen-menschlicher Verkehrslagen, interessiert an allem, was dort passiert, ohne gezielt Aus-schau zu halten. Sie leben darin, lassen sich von den verschiedenen Situationsgewalten überraschen, also auch berühren, denn „Komplizenschaft ist nicht strategisch, sie ist geprägt von Taktiken“90 und Taktiker verhandeln „mit den anderen“, spielen „mit verschiedenen Bausteinen, die ihnen Möglichkeiten des Handelns eröffnen“.91 Sie „sind im positiven wie im negativen Sinne Verbündete, die gemeinsam, eng mitei-nander verflochten zur Tat schreiten.“92 Wem plötzlich unbehaglich wird, so dass er sich nur noch mit wenig auskennt, bleibt immer noch über eine widerständige „Kraft des Schwachen“93 stark, über Praktiken des Mitspiels und die Praxis des Takts miteinander verbunden, auch wenn ihm im Moment die verstehenden Anschlüsse verloren gehen:

Überraschungsmomente, die mit den Grenzen eines geregelten Umgangs konfron-tieren, sind demnach weniger eine bloß passiv zu tragende Last; vielmehr regen sie dazu an, damit aktiv ins Umgangsleben zurück zu gehen, um dort füreinan-der etwas zu machen, daraus werden zu lassen. Der Taktsache ist dabei ziemlich gleichgültig, wie solche Praktiken als mitmachende Taktiken genannt werden, ob sie Tricks, Listen, Finten oder anders heißen; relevant ist nur das Mit.

Nun hat aber die Kunst des Mit als ein Mitmachen gesellschaftlich keinen be-sonderen wohlwollenden, eher einen abwertenden Stand „im Sinne von Mitwisser-schaft oder Teilnahme an einer Straftat“:95

Komplizen als vielfältig Verbündete, einander Verbundene sind demnach keine in Freundschaft oder Liebe vereinten Paare, selbst wenn sie nur zu zweit unterwegs sind. Paare wollen sich finden, zumeist ihre anderen, besseren Hälften. Und wenn zwei oder mehrere Hälften meinen, sich gefunden zu haben, dann werden sie liebend ger-ne eins und gehen einen aufeinander eingeschworenen Auf-immer-und-ewig-Bund ein, der sich in eine gewisse traditionelle, fortpflanzend-stabilisierende Ordnung einfügt.97 Dieser Idee fügt sich auch noch das emanzipierte Paarleben. Während also Paarschaft auf gut versiegelte Sicherheit schaut und sich blind oder taub macht für die vielen Unwägbarkeiten, lebt Komplizenschaft von einer Lust an Grenzgän-gen, einem subversiven Umgang mit den gegebenen Systemen. Komplizen ver-bünden sich mit anderen gegen andere und immer zugunsten von alternativen Mitspielereien. So gesehen sind sie nicht einfach bloße Täter, die im zwischen-menschlichen Verkehr für sich oder an anderen ein bisschen herumspielen, viel-leicht Schleichwege finden, um einander auszuweichen, oder die Umgangslage sanft umschreiben. Komplizen sind Mittäter als Mittuende, die in ihrem eigen-sinnigen Tun immer auch etwas Gemeinsinniges tun, indem sie miteinander in dieses-und-nicht-jenes Spiel gehen, das sich spontan, zufällig, überraschend ergibt:Komplizen sind füreinander berührbar. Sie riskieren etwas und gehen eher selten sicherheitshalber voreinander in Deckung. Sie verwickeln einander, freudig über achselzuckend bis zähneknirschend:

Wer sich anstiften lässt, verbündet sich. Störfälle verführen und führen dazu, dass die derart Verbündeten weitere Zufälle erfinden, Anschlüsse aufs Spiel setzen, Dif-ferenzen schaffen, Ambivalenzen erhalten, also gerade so viel Unordnung in die Ordnung bringen, dass das Miteinander lebendig bleibt und zwischen den Mitspie-lern keine einander kaltstellende „Weltraumkälte“100 entsteht:

Angenommen, aller Anfang einer Komplizenschaft ist Unsicherheit und Unbeha-gen im Miteinander, woraus die schöpferischen Komplizen bis zur Erschöpfung et-was machen; dieses Mitmachen vollzieht sich momenthaft, also taktisch weise: mit Sinn für den Ernst dieser-und-nicht-jener Lage und das gemeinsame Spiel damit wie darin. Sie nehmen es hin, andere im kämpferischen Mitspielen zu treffen wie auch von anderen getroffen zu werden, zu verletzen wie verletzt zu werden, ihre ge-wohnten Standorte mal nicht halten zu können, sich woandershin zu bewegen. Als Komplizen versichern sie sich wechselseitig, es in ihrem kämpferischen Tun nicht bei einseitig-eigensinnigen Hieben zu belassen, sondern diese nur als Auftakt zu einem sich aufeinander einlassenden Kampf zu nehmen. Komplizen sind also tat-bereit und insofern in einer kämpferischen Grundgestimmtheit. Da sie ihre Kampf-plätze nicht aussuchen, sondern sich diese im Kontakt erst ergeben, geht es beim Kämpfen nicht konkurrierend, höchstens konfligierend, zu. Was die über ihr Un-behagen in den haltlosen Widerstand gehenden Mit-Geburtsvorbereitenden einan-der hier anbieten, ist keine Gegnerschaft, kein Aufruf zu Parteinahme oder Wett-bewerb, sondern das Anknüpfen an sinnliche Erfahrungen, diffus bleibende oder konkret werdende Körpersensationen. Ihre „Lust am Risiko, Spiel und Ungewissen forciert das Verknüpfen heterogener Elemente und bietet erfinderische Möglichkei-ten“102 im Hinblick auf die „Art der Liaison zum Anderen“,103 die auch zu einem ver-lorenen Kampf ums wahre Gesicht führen kann. Aber „Komplizen sind eben Mit-täter, nicht nur Mitdenker“,104 weshalb es zu Gesichtsschäden kommen kann, aber nur im Rahmen des Erhalts von Kontaktstellen. Der mit Takt eingegangene Kampf als Tatbereitschaft ist nichts, was „zu sofortiger, hochkonzentrierter, permanenter Aufmerksamkeit“ nötigt, um „beim geringsten Nachlassen dieser Haltung sofor-tige, unmittelbar spürbare Rückmeldungen“ zu liefern, denn so sehr es im kämp-ferischen Mitmachen um eine „Entscheidungsorientierung“ und „momenthafte Fokussierung aller dazu verfügbaren energetischen Potentiale“105 gehen mag, kei-nesfalls sind deshalb Affekte, Impulse, Irrationales, Ambivalenzen, Zufälligkeiten, Zwickmühlen und ähnliche Unordentlichkeiten als Ballast zu entsorgen, im Ge-genteil. All das gehört zur Kunst des Mitmachens, zu einem mitmachenden Um-gangsstil. Rollenspielende, sich und einander Befremdende, personale Raumein-richter, schwach Rebellierende, frei Verbündete oder auch erschöpft-schöpferisch Mitmachende  – sie alle kämpfen um kein hochglanzpoliertes Ich. Sie feilen we-der an eigenen Macken korrigierend herum noch provozieren sie auf saubere Sie-ge eine „kämpferische Extremsituation“.106 Sie kämpfen nur in der „Wir-Form des eigenen Ichs“ miteinander. Ohne das Mit sind Komplizen keine Komplizen, über diesen-und-nicht-jenen Vorfall einander verbundene Verbündete: „Ein Blick, eine Geste, ein Code: Wir alle agieren – mehr oder weniger bewusst – als Komplizen“,107oder anders: als „Mit-Spieler, d. h. Mit-Menschen“.108

4 Fall 3: Aus dem Takt gehen

„Der philosophische Stammtisch“ findet monatlich in einem städtischen Café statt. Er ist offen zugänglich. Wer interessiert ist, kann sich dazusetzen und mitsprechen. Das Publikum ist anfänglich bunt gemischt, da die Themen an Alltagsfragen orientiert sind. Sie kreisen um Geld, Einsamkeit, Langeweile, Trauer, Eifersucht, Müdigkeit, Zorn, Mut, Geschwindigkeit, Glück und anderes mehr. Der Veranstaltungsleiter beginnt den Stammtisch mit einem längeren Impulsreferat. Hierfür wählt er keine Alltagssprache, sondern einen fachsprachlich gehaltenen, deutlich umständlichen Bildungston. Am Ende seiner Rede entsteht immer eine große Pause, die er schnell über gezielte Fragen aufzulösen versucht. Die Gäste reagieren meist überfordert, enttäuscht, aber auch be-eindruckt vom Wissen des Leiters und sind in ihren Versuchen, an das Gehörte an-zuknüpfen, beflissen, unsicher bis verkrampft bemüht. Es vergehen einige Freitage mit deutlich abnehmender Teilnehmerzahl, ohne dass sich der Grundton wandelt. Dies ändert sich spontan mit einem neuen Gast, der sich als Student und Mitarbeiter in einem Fitnesscenter vorstellt. Er hört sich die einleitende Rede, diesmal zum Thema „Schönheitswahn“, eine kurze Weile an – und unterbricht sie dann mit einer Verständ-nisfrage. Der Leiter reagiert ungehalten, klärt über den Sinn des Impulsreferates auf und lässt die Frage unbeantwortet. Der Student lässt sich davon wenig beeindrucken und grätscht immer mal wieder fragend in die Rede, was die anderen Gäste irritiert und den Leiter deutlich verärgert. Der einführende Vortrag endet diesmal seitens der Gäste nicht mit der Pause nachdenklichen Sortierens und der verkrampften Anschluss-suche, sondern grob mit zweierlei Gesten: einem entrüstet-beschämten Kopfschütteln bei den einen, einem erleichtert-einverstandenen Nicken bei den anderen. Der Stu-dent reagiert, indem er schmunzelnd den Flyer der Veranstaltung, der in Schrift und Bild den Stammtisch als Form des Philosophierens klar hervorhebt, in die Tischmitte schiebt und eine Debatte über seine Erfahrungen mit dem Wahn zur körperlichen Schönheit anzuzetteln beginnt – was ihm auch rasch gelingt. Der Leiter hüllt sich bis über das Ende der Veranstaltung hinaus in Schweigen.

Auf den ersten Blick erscheint hier genauso viel stimmig wie unstimmig. Aber es ist nicht ganz klar, für oder gegen welches Tun man hier eigentlich ist. Muss man sich fremdschämen, weil sich da einer quer zu den Üblichkeiten verhält, oder darf man es mutig finden, weil es endlich mal jemand wagt, auf den Tisch zu hauen, und fri-schen Wind in die unbefriedigenden Üblichkeiten bringt? Muss man Mitleid haben mit demjenigen, der das von ihm Gesetzte nicht verteidigen kann, oder darf man missmutig über dessen unproduktiven Starrsinn sein? Abhängig davon, ob man es gerade mehr mit den Konventionen hält oder mit dem von Freiheit getragenen Är-ger darüber, entscheidet man sich für das eine oder andere. Beide Protagonisten, der bildungseifrig dozierende Stammtischleiter wie der hier geradewegs ausscherende Stu-dent, beherrschen eine gewisse Form von Dreistigkeit, Sturheit, der Kunst des Aus-blendens, so dass spontan unentschieden bleibt, ob es besser ist, in sturem Ernst an seinen Gästen vorbei, über sie hinweg zu sprechen oder beharrlich zu unterbrechen und es mit heiterer Miene nicht nur besser zu wissen, sondern dazu hin zu tun. Be-trachtet man jetzt noch die Begegnungen mit der Frage, ob bzw. inwiefern das Ver-halten der Beteiligten mit dem Zweck der Veranstaltung zusammenpasst, ergeben sich etwas andere Eindrücke. Davon ausgehend, dass die Wahl des Leiters, die Ver-anstaltung „Stammtisch“ zu nennen, nicht völlig kopflos getroffen wurde, muss er mit Gästen rechnen, die wissen, was ein Stammtisch ist und auch deshalb ihre Be-teiligung gewählt haben. Etwas-als auszuzeichnen und auch derart zu verpacken,

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was sich ausgepackt als etwas-anderes-als herausstellt, ist eine Art von Betrug. Den Stammtisch als Institution geselligen Beisammenseins fokussierend, verhält es sich mit dem Verhalten des Leiters ähnlich wie mit dem des Festredners, der nicht fest-lich, sondern unerwartet vulgär spricht, oder dem des Restaurantbesuchers, der seine Bestellung in Versen aufgibt. Beides passt nicht zur räumlich-situativen Atmosphäre, ebenso wenig wie der eher fachsprachliche Ton zu der eines Stammtischs. Nun könnte man einwenden, dass es sich ja nicht um einen gewöhnlichen Stammtisch, sondern um eine explizit philosophische Runde handelt. Und das Philosophieren bekannter-maßen, wegen seines vom gewöhnlichen Alltag wie von der praktisch brauchbaren Wissenschaft eher abgehobenen, gerne weitschweifigen und komplex-komplizierten Stils, mindestens für übersetzungswürdig gehalten wird. Dagegen wiederum erhebt der Stammtisch als Institution Einspruch, dem das philosophisch-politische Geplän-kel109 durchaus vertraut ist, nicht nur das Kartenspiel oder bierselige Grölen. Es ver-stärkt sich also der Eindruck, dass sich der Leiter allein schon mit seinem Referatston und dann noch mit seinen Zurechtweisungen sowie dem beleidigten Rückzug an einer Stammtisch-Stimmung und damit am Zweck des selbst organisierten Zusammenseins vorbei verhält. Der rebellische Gast hingegen hat mit seinen Fragen und Korrekturen zwar den gewählten Kurs des Stammtischleiters ignoriert, die Veranstaltung in ihrem gewohnten Verlauf gestört und sogar woandershin gesteuert, auch stimmungsmäßig aus dem Takt gebracht. Aber seine Rebellion kann insofern konstruktiv genannt wer-den, als sie das bloß scheinbare Intakte der Lage erkennt, sie aufbricht und eine dem Stammtisch zuträglichere Sicht mit Aussicht auf eine ebensolche Praxis ermöglicht. Der Eindruck verschiebt sich, wird nicht der Zweck der Veranstaltung fokussiert, son-dern die konkrete Situation zwischen dem Stammtischleiter und dem teilnehmenden Studenten. So mag es der Stammtischidee widersprechen, wie die Veranstaltung kon-zipiert und durchgeführt wird; dies aber zu ignorieren und sich ohne Rücksprache vor allen anderen Teilnehmern dagegen zu verhalten, ist sicher unpassend. Der Student ist zum einen taktlos im Sinne von lästig, da er in der Situation den dort gesetzten Stil, die vorherrschende Stimmung beharrlich übersieht und sich dort munter seinem Eigensinn hingibt, hier die unausgesprochenen Regeln von Impulsreferaten nicht er-kennt und anerkennt. Darüber hinaus ist er dreist, da er als Gast die Rolle des Gastge-bers nicht nur nicht respektiert, sondern sie ungefragt übernimmt und darüber hinaus noch verändert. Für sein Stammtisch-Anliegen hat er zwar nicht unbedingt den ver-kehrten Ort, aber doch den falschen Zeitpunkt und, jedenfalls mit einem ersten Blick auf die eingenommenen Rollen, auch den falschen Ton gewählt. Davon ausgehend, dass das persönliche Verhältnis zwischen dem Stammtischleiter und dem Teilnehmer auf der Veranstaltungsebene hierarchisch strukturiert ist, also eigentlich der Leiter den Ton angibt und nicht der Student, mag dessen beharrliches Dazwischenrufen noch als Lapsus durchgehen, obzwar es bereits stimmungsbeeinträchtigend wirkt und an-zeigt, dass der Leiter auf derartige Unruhen nicht eingestellt ist. Aber spätestens mit der schmunzelnden Erinnerung des Studenten an die angekündigte Veranstaltungsform und der wortlosen Übernahme der Stammtischzügel, wird der Leiter in seiner Rolle als Organisator und Gastgeber unglaubwürdig. Es scheint so, als habe er den Kampf um sein Rollengesicht widerstandslos verloren, wenn er unbeweglich auf seinem Kurs bleibt, sich in Schweigen hüllt und dort verharrt, denn:

So gesehen verfehlt der taktlose Volltreffer des Gastes den derart getroffenen Leiter in seinem Leiterselbst, legt ihn aber weniger daraufhin fest, vereinseitigt es nicht, sondern macht es fragwürdig und damit angebotsweise für ein weiteres und ande-res Mitmachen beweglich. Zwar stört der Gast den friedlichen Ablauf der Runde, stiftet dort Unruhe, aber als Exzentrischer verzichtet er nicht einfach so auf die ge-gebene Ordnung, weil es ihm grad gut in den Tag, die Stunde, den Moment hinein-passt oder weil ihm plötzlich sein Sinn für das Schöne und Gute abhandengekom-men ist, wenn er abseitige Pfade einschlägt, „vom vorgegebenen Tempo abweicht und den üblichen Takt verlässt“,111 aus dem Üblichen als dem irgendwann einmal Eingeübten und dabei Gebliebenen ausschert.

Im Hinblick auf das produktive Potential taktloser Gesten zeigt sich, dass die Si-tuation zwischen Leiter und Gast sowie deren persönliches Verhältnis zueinan-der der Taktlosigkeit eher keinen Raum geben, anders als der Zweck der Veran-staltung, dem geradezu eingeschrieben ist, andere Sichtweisen herauszufordern, übliche Verständnisse in Frage zu stellen, damit das Bedenken der vorgestellten Themen tüchtig in Bewegung gerät. Das rebellische Verhalten des Gastes zeigt ei-nen konkreten Widerstand gegen den Stil, einen produktiv wirksamen Bruch mit ihm, wobei die Meuterei unsinnig geblieben wäre, hätten sich keine Komplizen gefunden. Dabei kommt es noch einmal sehr darauf an, inwiefern der Begriff des Stammtischs ernst zu nehmen ist, also für eine Linie, einen Stil oder nur für eine ungefähre Richtung stehen soll, mit einem philosophischen Thema umzugehen. Egal ob es sich um einen derart engagierten Stammtisch, Salon, Spaziergang, eine Reise oder ein Café handelt – es gibt keine eindeutigen Vorschriften, welcherart Einfluss die Kultur des Stammtischs oder Salons, des Spaziergangs, Reisens oder des Cafés auf das jeweilige Philosophieren haben soll. Hier ist viel, wenig und ganz anderes möglich, was füreinander konkretisiert werden muss, sollen Gäste An-haltspunkte für einen nicht nur eigensinnigen Umgang damit haben. Das gilt auch dann, wenn nichts dergleichen gelten soll. Selbst neuere Bewegungen wie die der Straßenphilosophie können alles sein, vom dokumentierenden bis inszenierenden Alltagsgeplänkel über große Fragen auf echten Straßen mit echten Menschen oder einem gezielt hierfür eingesetzten Publikum. Ob nun eher im Stil der Gasse oder doch wieder in dem des Elfenbeinturms: Jede Rebellion kann einsam bleiben. Dies ist in dem Fall anders, da der den Takt verlassende Akt des Gastes den Geschmack einiger Gäste offenbar trifft, das Gespräch anregt, aus dem Üblichen woanders-hin bewegen kann. Insofern ist hier gerade nicht intakt, was im Takt ist, sondern was den Takt wechselt, das Gegebene befremdet. Angenommen, der zwischen-menschliche Verkehr braucht den schwachen Widerstand im Hinblick auf mög-liche Taktwechsel, so es auch darum gehen soll, Bestände wertäquivalenter Lagen zu halten und gesichtswahrende Verhaltensspielräume zu sichern. Dabei sind es dann vor allem solche – auch noch im Grenzgang dem Miteinander nicht ernsthaft gefährlich werdenden und nichts für künftige Regeln abwerfenden – leichten An-lässe, die dafür Räume stellen, um darin den Sinn für Bewegung und Berührung zu schärfen. Fragt man jetzt noch, welche Räume Taktlosigkeiten als Taktwechsel

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zulassen, so ist schon darauf hingewiesen worden, dass sich die im weitesten Sinne Mächtigen in Hierarchien damit leichter tun, da sie eher selten mit Gegenwehr rechnen müssen und sogar gezielt derart vorgehen können, um ihre Vorhaben durchzusetzen. Andersherum müssen Abhängige besonders vorsichtig sein, um sich nicht ihr eigenes Grab zu schaufeln: Wer im definierten geschäftlichen Feld als Auftragnehmer meint, den Auftraggeber in dessen eigenen Geschäftsräumen auf geschäftsinterne Mängel hinweisen zu müssen, hat mit der Geschäftsbeziehung ge-spielt, darin womöglich Gesichter geschädigt, und entsprechend verspielt. Im au-toritär bestellten familiären Feld geht es ähnlich zu. Wer dort den üblichen, streng gehaltenen Takt verlässt, wird eine feldverteidigende Krise auslösen, die das Feld stärkt, höchstens bei gegebener Rückendeckung zu schwächen vermag. Derartige Reiche der Entscheidungen und der Vertrautheit bleiben eher einfältig, wohinge-gen es im Reich der Alltäglichkeit weit weniger brisant, vielfältiger und von daher für spontane Taktwechsel offener zugeht. Allerdings wird auch hier das Eingeübte stärker reglementiert, als der zwischenmenschliche Verkehr es zulässt, so dass sich Verhaltensspielräume gar nicht erst öffnen, Umgänge schwergängig, Umgangsge-sichter verspannt bleiben, wenn die einander Begegnenden sicherheitshalber ihre üblichen Wege gehen, anstatt bei Gelegenheit die Spur zu wechseln und sich in un-übliche Gebiete zu wagen: sich miteinander anders und woandershin zu bewegen, davon voneinander bewegen, berühren zu lassen, das ist die hier für den Takt in seiner taktlosen Variante gesehene und zu stärkende soziale Aufgabe. Solche Takt-wechsel können auch über den Umgangsfrieden störende Brüche mit dem Stil des Üblichen ablaufen. Fallabschließend soll deshalb die taktvolle Taktlosigkeit noch einmal als Umgangspraxis für den schwachen Widerstand und damit für Stören-friede stark gemacht werden, auf dass sich Menschen im Umgang miteinander wa-gemutiger zeigen angesichts dessen, was plötzlich vorfällt, ihnen widerfährt und zur günstigen wie ungünstigen Gelegenheit werden, hier füreinander gestaltet, miteinander bespielt werden kann. 4.2 Exzentrische Störenfriede und das Übliche

Das vom Veranstaltungsleiter eingebrachte, aber nicht dem angekündigten Stamm-tisch, sondern einem Bildungsvortrag gemäß und entsprechend unrund ablaufende Gespräch zum Thema Schönheitswahn geht an dem neuen Gast derart vorbei, dass

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er sich dem entgegen verhält, eher „aus einem persönlichen Stil sicher und einge-übt, fraglos“,112 in seiner Rolle als am Thema interessierter Gast. Dadurch bringt er das Gespräch zum einen aus dem Takt, zum anderen in eine andere Gangart. Ein solcher Taktwechsler mag seinem Umfeld „immer ‚taktlos‘, im Leben wie in der Kunst“,113 vorkommen, aber er tritt dort weder als eigensinniger Neinsager noch mit Blick auf eine neue Ordnung auf, allerdings auch nicht als einer, der zwar „auf die Regeln pfeift, dabei aber nicht auf seinen Eigenwillen bauen kann, weil er noch auf der Suche nach sich selbst ist“. Der mit Takt vorgehende Taktlose ist der den Umgangsfrieden störende „exzentrische Störenfried“,114 der sein Selbst als ein ihm genügendes Rollenselbst immer dabei hat; er muss also weder ein irgendwo ver-stecktes Selbst suchen noch ein nirgendwo Dazugehöriger bleiben, um situativ Um-gangsgrenzen zu strapazieren, Mitmachende zu finden und ordnungsanknüpfende Mitspiele zu versuchen:

Aber der taktrelevante Störenfried befindet sich immer nur zeitweise, für die kon-krete Umgangslage, in einer Randstellung. Er gerät oder begibt sich dorthin, anläss-lich des ihm und füreinander unpassend Erscheinenden. So wie der Student seine mitmachende Gastrolle auf den Störenfried nuanciert, indem er den „Rand, an dem er sich befindet, nicht als Aufenthaltsort, sondern als Sprungbrett ins Ungewisse“116nutzt. Er kommt in der Veranstaltungssituation an Grenzen der Ordnung, und an-statt es dort irgendwie auszuhalten oder in die Gemütlichkeit inmitten der Ordnung zurückzukehren, „schießt [er] quer, grätscht dazwischen“,117 bleibt aber stets „in einer Spannung zu ihr“.118 Es geht also zunächst um nichts, als in der Ordnung den dort geltenden Takt als gebildet-sich-bildenden „Sinn für dieses-und-nicht-jenes Atmosphärische“119 zu erkennen, um sich dann dort zurechtzufinden, also entwe-der im Takt des fraglos Üblichen zu bleiben oder ihn woandershin zu verlassen, falls das Übliche fragwürdig wird:

So tut man „beispielsweise was in dieser Firma üblich ist, in einer anderen aber nicht, oder an der Universität in diesem Fachbereich üblich ist, in einem anderen aber nicht“. Werden anstehende Fragen, „die die Üblichkeiten nicht mehr decken oder für die es […] noch gar keine Konventionen bezüglich der Üblichkeiten gibt“,121nicht nur hingenommen, sondern bei Gelegenheit auch provoziert, dann kann sich der Einzelne herausgefordert sehen, etwas daraus für sich und einander zu machen, zugunsten von neuen, anderen Antworten und den entsprechenden Verantwortlich-keiten: Ist es beispielsweise üblich geworden, bei beginnenden Schwangerschaften einführende Kurse für die gesamte Familie anzubieten, vielleicht weil der Hebam-menverband eine den prekären Berufsstand stabiler machende Marktlücke für sich entdeckt hat, und werden solche Kurse von den Krankenkassen in das nicht recht-lich, aber moralisch verpflichtende Vorsorgeprogramm aufgenommen, dann ist das Übliche reglementiert und insofern bewegungsunlustig, nicht mehr spielerisch, weshalb es eines elterlichen oder anderen Widerstandes bedarf, sollen gleichwohl aufkommende Fragen nicht einfach dem Üblichen gemäß abgenickt werden. Das-selbe gilt für Fragen an den universitären Sport. Gehört es hier zu den Üblichkeiten von Praxisseminaren, durchgängig, also radikal in leistungssportlichen Kategorien zu denken, zu urteilen und zu handeln, so sind gelegentliche Aufstände mindes-tens erlaubt: gegen einen bloß verbrauchenden, erfolgsorientierten Starrsinn und für den Erhalt des offenhaltenden, innovativ Spielerischen. Die Frage, was in einer Umgangslage zu tun sein könnte, stellt sich so gesehen nicht nur dann, wenn das Übliche keine Antworten mehr parat hält, sondern immer auch dann, wenn der Einzelne das selberdenkende Wagnis eingeht und die im Üblichen fest veranker-ten, ihm wohl bekannten, jetzt unwohl erscheinenden Antworten fragwürdig wer-den lässt. Genauso wie es zu den beweglichen Geschmacksfragen gehört, ob mit Thymian aromatisiertes Zitroneneis fremd schmeckt und deshalb unpassend ist, so gehört es im vorliegenden Fall zu den offenzuhaltenden, nur bei Gelegenheit zu beantwortenden Taktfragen, ob Philosophieren als Scharmützeln noch durchgeht. Die Ordnung, das Übliche, das wohlig Gewohnte kann Umgangsleute plötzlich vor vielfältige Fragen stellen, an vielerlei Ränder oder Grenzen bringen, die sehr ver-schiedene Umgangskrisen nach sich ziehen können und dabei offen dafür sind, nach sich querstellenden Entscheiden zu rufen. Eine der möglichen Antworten liegt immer im Vorfallen, also darin, was einander im konkreten Umgangsverlauf wider-fährt. So gesehen generiert das in einer Umgangslage erscheinende Übliche keine sicheren, eingeübten, fraglosen Antworten; außerdem ist der Mensch in der Mit-welt nicht einsam, auch wenn ihn übliche Antworten verlassen. Was für sich und einander schön-und-gut ist, zeigt sich überhaupt erst im Mitspielen, im Prozess des Miteinander-Tuns in Spielräumen, weder vorher noch nachher oder solitär ge-schaut. Die Kunst, sich miteinander im Reich „lauter einzelner Fälle“122 zurechtzu-finden, bedarf nicht nur eines Umgangswissens, also des Kundigen in Angelegen-heiten des Üblichen, sondern darüber hinaus ganz wesentlich des Hellwachen, der Präsenz der Umgangsleute in den Momenten ihres Aufeinandertreffens:

Das Vergessen von zufälligen Umständen mag zuweilen ein Segen für den Einzel-nen sein, sogar als „Grundmodus“124 mitmenschlichen Lebens gelten. Aber bei ver-bündeten Umgängen, die sich nicht darauf festlegen lassen, ob sie lieber Platz für Anderes schaffen, eine Auswahl treffen, etwas davon ins Archiv legen oder auch eine Art von Recycling durchführen möchten,125 ist es mindestens ebenso segensreich, nicht zu vergessen, sich gelegentlich durch das einander gerade Zufallende vonei-nander bewegen und berühren zu lassen: durch das Weinen im erfolgsorientierten universitären Sport, das Fliehen aus der nahregulierten Geburtsvorbereitungsszene, das friedensstörende Rebellieren gegen das Veranstaltungsübliche. Bewegt und be-rührt, geraten Umgangsleute gelegentlich an Störenfriede, dazu verführt, sich in die Spannungsfelder von Ordnung und Leben zu begeben, die aufwirbelnde, aufrüh-rerische Störung auszuhalten, um dann aus den dort entstehenden Überschüssen dieses-oder-jenes zu machen:

Der taktrelevante, hier gesichtswahrende, Punkt ist der ermöglichende Überschuss, der sich aus dem Verhältnis von Ordnung und Störung immer wieder herstellen, produktiv machen und in das Zusammensein einbringen oder zurückführen lässt, ein schöpferisch-erschöpfendes Umgangsverfahren, das auch über nonverbale, das Übliche störende, quertreibende oder stilbrüchige Praktiken realisiert werden kann:Hier wird ein formal laufender, aber inhaltlich erstarrter Kontakt unterbrochen, aus dem Takt gebracht. Der plötzlich auftretende Fremde, familiär nicht Zugehö-rige, stört nicht nur den reibungslosen Ablauf des Wurfs. Er unterbricht zudem die gewaltbereite familiäre Atmosphäre auf dem Weg die Öffentlichkeit, die mit Öffnen des Fensters reingelassen würde. Er ist die Überraschung im Sinne einer Überrumpelung, eines unerwarteten und eigentlich feindlich-fremden, hier aber situativ günstigen, da gewaltverhindernden, vielleicht sogar reflexiv wirkenden, re-formierenden Überfalls. 4.3 Stilbrüche

Die aufeinander einspielende Praxis des Takts bleibt demnach offen für all das, was Mitmenschen im Umgang plötzlich zufällt, sie überfällt. Da er weder auf meister-hafte noch auf gefühlsgewisse Antworten zurückgreifen muss, sind Spannungsbe-freiungsschläge, über die er die Ordnung oder das Leben rettet, nicht sein Stil:

Angenommen, es kann selbst dann, wenn alle dasselbe tun, dieses Selbige von kei-nem gleich ausgeführt werden, so zeigen die Tuenden ihre jeweils eigenen, per-sönlichen Stile, es zu tun. Tun Stilvolle etwas miteinander, so haben sie die Wahl, bedenkenlos auf stilgemäße Üblichkeiten, die implizit mitlaufende Ordnung ihrer Stilgemeinschaft, zurückzugreifen und dabei an einem Entweder–Oder festzuhalten:Da allerdings auch Stilgemeinschaften ohne „explizit formulierte Geschmacksre-geln“130 auskommen müssen, bleibt Stilvollen, alternativ und zulasten starrsinnigen Tuns mit der Folge von zwischenmenschlich auffällig werdenden Haltungsschäden, sich im konkreten Miteinander vom Miteinander noch bewegen und berühren zu lassen, um gelegentlich das zu still oder sogar stumm bis brisant gewordene Üb-liche der Stilgemeinschaft zu durchkreuzen, also Stile auch mal brüchig werden zu lassen – damit es wieder zu einer „Umwandlung eines gegebenen Gleichgewichts in ein anderes Gleichgewicht“131 kommt, wobei der Takt nicht die Aufgabe hat, auf das „elastische Gleichgewicht in einem Netz von stillschweigenden Übereinkünften“ achtzugeben,

Während also eine Stilgemeinschaft, die in stiller Stiltreue lebt, dabei auf gründ-liches Verstehen oder Vertrauen baut, Stilbrüchige aus Angst vor zerstörten Ord-nungen eher ausgrenzt oder sogar auslöscht, sind sie hier geradezu willkommen, da sie sich ordentlich an den Ordnungen reiben und bei aller Stilbrüchigkeit auch stil-getreu zueinander sind, was im Alltäglichen mit seinen schnell kurswechselnden, vieldeutigen, alles-und-nichts-sagenden Stilen gut möglich, zuweilen nötig ist. So gesehen kann der ohne Not mit Eigensinn im Bildungsstil eingesetzte Stammtisch durchaus eine größere Menge Rot-oder-Ocker vertragen, mehr als der Geburtsvor-bereitungskurs und das universitäre Sportseminar und jedes Umgangsleben, das eher von seinen festen Ordnungen, weniger von dem sich frei bewegenden Leben lebt. Des aufeinander einspielenden Takts Aufgabe und Ziel ist klar: In passierten wie provozierten Ungleichgewichten alltäglichen Umgangs bearbeitet er diese mit Rot-oder-Ocker, zugunsten des Reichtums aller Menschenkräfte und des Erhalts von Wertäquivalenz, damit es zu nuancierten Gleichgewichten kommen kann, zulasten eines allzu unbewegten, unberührten wie kaltgestellten zwischenmenschlichen Ver-kehrs. Angenommen, das Schmunzeln des Gastes ist wie das Dauerschweigen des Veranstaltungsleiters oder ein in die Veranstaltung einbrechender Lachanfall nicht sofort, aber irgendwann im Verlauf auch gespielt, dann ist das zwar immer noch ein Bruch mit dem, was eigentlich zu tun ansteht, aber es können sich hieraus weitere Anknüpfungen und entsprechende Veränderungen der Gesamtlage ergeben. Diese in taktvoller Taktlosigkeit in ein anderes Gleichgewicht verwandelnden nonverba-len Gesten sollen hier als Beispiel für andere stehen, die aus dem Bereich des be-fremdenden, auch belustigenden oder launenhaften, Mitspielens kommen, wie das schon genannte Mehrdeuten, Andeuten, Umschreiben, Wiederholen, Aussetzen, Über- und Untertreiben, Übersehen. Sie werden jetzt mit Blick auf ihren stilbrüchi-gen Auftrag und die Rolle des Takts darin skizziert, ebenso wie das abschließende Lampenfieber als besonderer Umgang mit Anspannungen und Erwartungen, das in den berührungssinnigen, gesichtswahrenden, die leibliche Würde umsorgenden Takt überleiten wird. Schweigepakte, Gelächter, maskenreiches Lächeln

Wer in einer Angelegenheit nichts mehr zu sagen hat, der sagt nichts mehr oder schweigt. Das ist bei aller Doppeldeutigkeit nicht allzu gründlich zu nehmen, son-dern auf den die-Sprache-verschlagenden Moment bezogen, der sich kurz halten und in die Länge ziehen kann: So fällt dem Veranstaltungsleiter selbst im weiteren Verlauf nichts zu sagen ein, weshalb er bis zum Schluss schweigt. Sein Schweigen ist dabei nicht die Kehrseite der klaren Rede, so wenig wie das Vergessen das Gegen-stück des Erinnerns ist, sondern dessen Partner als kommunikativer Umgang mit plötzlich auftretenden Begriffslücken: Schweigend geht er in eine Art Pausenraum, in dem er seine verwundete Seele vorerst unterstellt, damit sie sich erholen und dort anders orientieren kann.133 Angenommen, er fällt ins Schweigen wie in eine Ohnmacht. Es zeigt seine Irritation, sein Erschrecken, ob der verlorenen Leitungs-zügel und verweist auf seine Machtlosigkeit und Unbeholfenheit, vielleicht auch schon auf seinen Starrsinn und einen gewissen Trotz. Insofern er sich ohne die angetretene Rolle der Lächerlichkeit preisgegeben sieht, erhält sein Schweigen „den Charakter einer verpassten Chance“:134

Ein Schweigen, ob von hilfloser oder gleichgültiger Art, wird zur Last und arbeitet einem Gesichtsverlust zu, so es weniger als neutrale, vielmehr als teilnahmslose oder auch still für den taktlosen Gegner stimmende, Geste aufgefasst werden kann. Wer schweigt, der kommuniziert. Er nimmt zwar eine „Pause im Spiel der Töne“, unterbricht „den Strom der Rede“, aber nur, um ihn über das Spiel der Miene „un-terirdisch weitergehen zu lassen oder abzubrechen und mit der Stille das Gesagte zu begrenzen, zu vertiefen, ins Unsagbare zu heben oder ausklingen zu lassen“.136Insofern der Takt als gefühlsverständiger oder meisterhafter Antwortgeber auftritt, ist er ein höflicher Schweiger, der weiß, was er zu tun, oder ein anständiger Schwei-ger, der weiß, was er zu unterlassen hat.137 Nun ist der aufeinander einspielende Takt kein Antwortgeber. Er muss immer nur für verhandelbare Umgangsspan-nungen sorgen, bis hin zum heilsamen Tränengewinn und unter Hinnahme von Gesichtsverlusten. Auch als Schweiger schleicht er nicht um angespannte Lagen herum, sondern tastet sich wagemutig an sie heran. Der Veranstaltungsleiter kann so gesehen still und mutlos in Deckung, aber auch über Feigheit oder Trotz hinaus in eine Art von Widerstand gehen, um darüber zu Anknüpfungen für weiteres, ge-meinsames Handeln zu kommen, abhängig davon, wie er seine anleitende Position beantworten will: Mit Rücksicht auf den Fortlauf der Veranstaltung entscheidet er vielleicht, die ihm frech erscheinende Geste der Machtübernahme durch den Gast und seinen eigenen Leitungsverlust taktvoll zu übersehen, aber nur, um etwas an-deres damit zu machen. Das gilt selbst dann, wenn er die Gäste mit seinem Schwei-gen bestrafen möchte, um etwas totzuschweigen, wobei der bewegungslustige Takt für eine „Operation des Wegschaffens ins Schweigen“138 nur unter Beibehaltung von Ansprechbarkeit zu haben ist. Darauf kommt es beim Schweigen mit Takt an, ob nun damit etwas gezielt verneint wird – oder bejaht, wenn der Leiter dem Gast eine Stimme gibt und die selbst auferlegte Schweigezeit zum genauen Beobachten der Szene und zum Entwerfen von Alternativen nutzt. Während alle anderen an ihm vorbei etwas tun, bereitet er seinen Einsatz vor, um sich gelegentlich noch einmal anders ins Spiel zu bringen. Was auch immer ihm einfällt, nie geht es um unbedingte soziale Gleitfähigkeit. Taktvolle Schweiger machen vor der Höflichkeit keinen Knicks, sie lassen sich auch nicht als Schutzwall für den Anstand einspan-nen. Sie kämpfen für ein Handeln in Spielräumen. Solange sie für sich wissen und einander vermitteln können, was sie da gerade tun, um ihr Tun im Tun auch noch woandershin lenken zu können, ist füreinander alles gut, auch wenn sie in Takt-losigkeit schweigen – oder lachen:

Angenommen, der Veranstaltungsleiter reagiert nicht mit einer ins Schweigen ge-hüllten Sprachlosigkeit auf die unerwartete Störung, bzw. auf die gestörte Erwar-tung, sondern schüttelt sich vor Lachen. Er lacht über das Lächerliche der Lage, über sich, seine Ohnmacht, die ihm sinnlos erscheinende Zusammenkunft, das un-sinnig gewordene Miteinander: „ein Lachen, das nicht der eigenen Gewißheit, son-dern der eigenen Ungewißheit Ausdruck verleiht“.140 Er lacht sich weg. Im Lachenkapituliert sein Denken vor der nicht mehr ausgleichbaren „Mehrsinnigkeit der Anknüpfungspunkte“,141 erschüttert vom widersinnigen Tun des ungefragt macht-übernehmenden Gastes ergibt er sich der hilfreich-heilsamen „Erschütterung des Zwerchfells.142 Erst auch körperlich erschüttert, von der Bewegung des Gelächters durchgeschüttelt, kann er seine gedanklichen Verwirrungen entwirren, um sich von dort auf weitere Anschlusssuche zu machen. Im Gelächter über die plötzlich zur Last gewordene Umgangslage wird nicht nur für ihn, auch für andere die Last augenscheinlich und insofern greifbar – die Lage dadurch verrückt und entlastet:Das Lachen bricht mit den zwischenmenschlichen „Stillhalteabkommen“.144 Es ent-lässt den Takt aus seinen unbedingten Schutz- und Verteidigungspflichten und stellt ihn als spannungskundigen Mitspieler ein. Im Lachen haben Unwägbares wie Ver-wundbares im Miteinander ihren festen Platz, mit all den darin liegenden Chancen und Risiken, den sich daraus entwickelnden günstigen wie ungünstigen Gelegen-heiten:

Das Lachen ist also vom Lachenden aus gesehen ein befreiender wie auch verbin-dender Ausdruck der Last für den Umgang mit sich und den anderen: Plötzlich wendet sich der eigene Geist, lässt frischen Wind in den Aufenthaltsraum, eine Wertäquivalenz stranden und die Umgangslage frisch anschauen, wobei es nur um das Spiel mit Gedanken, Ideen, Vorstellungen geht. Insofern sich der erschütterte Veranstaltungsleiter dort vor Lachen schüttelt, „wo es eigentlich nichts zu lachen gibt“,146 ist er offen, „die eigene Position zur Disposition zu stellen“,147 selbst wenn damit im Moment des ihn überfallenden Lachens die „Distanz zum eigenen Ge-sicht ausgelöscht“148 sein mag. Damit verbunden sind auf der anderen Seite die zu wahrenden Gesichter der Gäste. Gerade beim facettenreichen Lachen kann viel Missverständliches, für Lachempfänger der Ernstfall von Gesichtsverlusten, hier Verletzendes und Befreiendes, passieren:

Aber so ernst muss es auch wieder nicht werden, da nur situativ bestimmbar ist, ob die Verletzungen so schwer sind, dass sie keine Befreiungen mehr zulassen. Takt-aufgabe bleibt, in Sprachlosigkeiten fallen und damit zurechtkommen zu dürfen, um nicht vorschnell Ausnahmezustände verhängen und bittere Ernstfälle proben zu müssen, sondern Ernst-und-Spiel als zusammen lachendes Paar versuchen zu können.150 So mag das plötzlich in die Veranstaltung platzende schallende Lachen die Gäste leicht aufschrecken bis schwer erschrecken, es kann aber nicht nur den Lachenden aus der Umgangssackgasse befreien, sondern auch ihnen den Zwang nehmen, sich für oder gegen den widerständigen Gast und die von ihm erzeugte Lage positionieren zu müssen. Lachend schockiert und besänftigt er die irritierten, peinlich berührten oder entrüsteten Gäste und zeigt dadurch noch Präsenz, womit er sich, ihnen und damit einander orientierende Spielräume zu verschaffen vermag, auch wenn er keinen Ausgleich und klaren Sinn finden und festhalten, nur in der Schwebe halten kann. Nun unterzeichnet der Takt sowieso keine Stillhalteabkom-men. Er hält nur still, wenn es der Verhandelbarkeit von Umgangsanspannungen, dem Erhalt der darin liegenden Differenz als Ambivalenz dienlich ist. Bei einem aus der Ordnungsreihe tanzenden Lachen hält er in seiner taktlosen Version die Differenz in Bewegung, ein bisschen bewusst oder vor-bewusst immer, ähnlich wie es weniger überfallartige Formen des Lachens tun, die mit der Distanz zum eigenen Gesicht, gezielter, gespielter und damit spielerischer umgehen können  – wie das über verschiedene Maskierungen laufende Lächeln:

Die gewahrte Distanz, das Spiel damit und das Zeigen des Spiels mit der gewahrten Distanz – diese drei Schritte gehören zum festen Programm von Exzentrikern, die aus dem Geist des Takts mit befremdenden, erschöpft-schöpferischen, stilbrüchigen Praktiken im Verkehrsleben unterwegs sind. Dabei ist einer nicht vom Wort ange-führten mimischen Umgangsgeste wie dem maskenreichen Lächeln zu eigen, dass es, ähnlich wie das Schweigen und etwas anders als das Lachen, über vielfältige Mie-nenspiele alles und nichts sagt, vor allem aber „die Ambivalenz und Vieldeutigkeit der Sache, das Schiefe, Riskante einer Situation“152 zum Ausdruck bringt. Wer den Mundwinkel verzieht, eine Fratze macht, Grimassen schneidet, redet nicht Klar-text und gerät auch nicht über die Schwelle gespielter Sprachlosigkeit hinaus, um sich sprachlos zu zeigen. Wer mit Mienen spielt, zieht Gesichter und bringt darüber schiefe Lagen zum Ausdruck, so wie der schmunzelnde Gast, dessen verrutschter Gesichtszug etwas davon abbildet, was im Miteinander verrutscht ist, als Ange-bot, füreinander etwas daraus zu machen. Ist es so, dass Mitmenschen einander immer auch über das Senden und Empfangen von Mienenspielen kontaktieren, dann ist hier etwas füreinander stärker zu machen: Beispielsweise, sich im Begeg-nungsverlauf auf entgleiste Gesichtszüge in entgleisten Lagen einzulassen, das Ver-zerrte, Schiefe, Verrutschte, Widersinnige, Komische wie Riskante, die scheinbar ausgelöschte Distanz zum eigenen Gesicht, das Unergründliche der Potentialfülle oder der Leere aufzunehmen – und mit der darin liegenden Anspannung zu leben, sie zu beleben oder aufzumuntern, hier mit einen taktisch weise gesichtswahrenden Takt zu erhalten wie herzustellen und nicht etwa aufzulösen, um Umgangsleute da-von und vor allem darüber voneinander zu erlösen.

5 Kurzes Zwischenspiel

Bisher ist der aufeinander einspielende Takt als Praxis des Umgangs, hier als zwi-schenmenschliches „Fertigwerden mit den Dingen im Medium flüchtigen Unge-fährs und auf Grund einer nicht methodisch eindeutig gemachten Erfahrung“153 im Sinne von Plessner von und für Exzentriker stark gemacht worden: immer schon Mitspieler, also Mitmenschen, in der und für die Mitwelt, dem stets umkämpften miteinander Geteilten, der Welt gegenüber immer schon zugänglich, darin mal mehr, mal weniger umgänglich und dabei stets füreinander unergründlich. Die-ser Takt ist darauf beschränkt, eine Kunst des Umgangs mit der Gewalt konkreter Lagen und darin für nichts weiter als für den Spannungserhalt von Ordnung und Leben zuständig zu sein. Auf den Umgangswegen eines immer „nur individuell gra-duierten Erfahrungstaktes“ sind keine auf schön-und-gut getrimmte, gefühlsgewis-se oder meisterhafte, Antwortgeber zu finden, eher praktisch tüchtige, risikofreu-dige, mit ein bisschen Glück rechnende, auch mitunter über „Kopf oder Schrift“154situativ entscheidende Antwortfinder, nicht viel mehr, aber auch nicht weniger. Des Takts taktische und bis zum Taktbruch gehende, fallweise Weisheit hat demnach überall dort seinen Platz, wo „Seele mit Seele in unvermittelten, d. h. liebefreien und sachfreien, weder durch Sympathie noch durch Überzeugungen regulierbaren Kontakt gerät“.155 Um es etwas weiter gefasst zu sagen: Der aufeinander einspielende Takt lebt im modernen, stets mit Vorfällen, d.  h. unberechenbaren zwischen-menschlichen Kollisionen rechnenden Verkehrsleben, im Reich wertäquivalenter und daher aushandlungssachlicher Alltäglichkeit, die jederzeit auch in vermeint-lich hochgesicherte Liebes- wie Sachzonen einzubrechen vermag und sich zudem in einer diverser werdenden Umgangsgesellschaft stärker ausdehnt, denn wer weiß im informell gehaltenen Feld schon sicher zu sagen, was zwischen einander gera-de der Fall ist. Im Fallweisen kann aber nicht nur mit den einen und anderen viel passieren, auch mit dem Takt selber. Und das ist auch gut so, da er keinen Starken ohne Schwäche mimt, also nicht für sich Sicherheit beansprucht, wo füreinander immer auch Unsicherheit ist. So kann er im Zusammensein das Zusammensein nicht nur beweglich halten, er sensibilisiert im besten Fall auch für situative Be-rührbarkeit bei verbindlich gehaltener Unergründlichkeit. Im Verkehrsleben läuft er jedenfalls an keiner, auch nicht an kurzer, vielmehr an langer sowie flexibler Leine, die ein Umgangsstolpern durchaus zulässt, oder auch zuweilen herausfor-dert. Dass sich mit diesem Takt in der und für die Umgangslage Anschlüsse finden lassen, die nicht nur ein weiteres und wechselseitiges Tun ermöglichen, sondern auch die situative Unbeweglichkeit von Mitmenschen in Opferrollen, also ein ewig stillgestelltes Täter-Opfer-Gefüge verhindern, sollten die medial bleibenden, nie-mals radikal werdenden Taktarten des ersten Kapitels und die Fallverläufe mitsamt den ausgewählten sozialen Praktiken des zweiten Kapitels zeigen. Takt, das ist bis hier das Takthafte als das Taktvolle und Taktlose im mitspielenden, nicht gegen-spielenden Sinn. Das nachfolgende Kapitel erweitert des Takts Sinn für Bewegung auf den für Berührung. Angenommen wird, dass seine situative Berührbarkeit bei verbindlicher Unergründlichkeit einen taktisch weise gesichtswahrenden, fürein-ander würdige sowie einander leiblich würdigende Umgangslagen schaffenden Takt erkennen lässt, der über den figurierenden, ausdrücklich werdenden Rollen- oder Maskengesichter tragenden Mitspieler bereits angelegt ist und der jetzt mit Blick auf das atmosphärisch Gemeinsame, das Mit des Leiblichen im Umgangsleben weiter ausgeführt wird, um schließlich auf eine wechselseitig kontaktierende, darüber hilf-reiche wie heilsame takthafte Berührungspraxis zu kommen.

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III Der gesichtswahrende Takt

Zu Fasnacht in fest aufsitzender, hämisch grinsender Hexenmaske die Zuschauer in den Gassen zu erschrecken geschieht so gut wie von selbst, ohne eigenen grimas-sierenden Einsatz. Ob der Mensch hinter der Maske fröhlich oder traurig ist, lacht oder weint, bleibt situativ bedeutungslos, da von den Zuschauern unbemerkt, un-besehen der zusätzlich eingesetzten gestischen, stimmlich-sprachlichen Bewegun-gen. Dagegen hat die bloß geschminkte Hexenmaske für ihre Außenwirkung den leiblichen, vor allem mimischen, Einsatz des Menschen in seiner Rolle als hämisch grinsende Hexe nötig. Er muss eine quer dazu stehende Gefühlslage wie Furcht, Sorge, Überraschung und andere wegdrängen, da sie den geforderten Ausdruck verfälschen würde.

Maskieren in dem Sinne, etwas anderes für sich und einander mit einer inneren Lage zu machen, gehört zur Lebensform von Exzentrikern. Maskierend sind sie miteinander in der Welt, führen sich gegenseitig etwas vor, wird ihr „Leib selbst zum Kunstmittel“.2 Nur verstecken sich in diesem modernen Umstand keinerlei ins Stolpern bringende Paradoxien, denn das Maskenprinzip spaltet sie nicht in Innen und Außen, Natur und Kunst, Privat und Rolle, Blöße und Schleier.3 Sie sind, „in-dem sie in und mit solchen Rollen wie unter und mit Masken spielen“.4 Was das Maskenprinzip also weglassen kann, ist die Idee des Abtrennens der Gefühlszustän-de von den gewählten Gesichtsausdrücken. Was einander gezeigt wird, ist. Es geht im maskenspielenden Zusammensein nicht um eine vorsichtige bis rabiate Lektüre dessen, was eigentlich gemeint ist, hinter der divers gezeigten Fassade steckt, sich vor den Blicken anderer versteckt hält, sondern allein darum, sich über die einander wie auch immer freigegebenen Ausdrücke dessen, was gefühlt und gefunden wird, miteinander zu verständigen. So muss auch der herbeigerufene Takt nicht eigen-sinnig Fremdschonendes herausfühlen und -finden; seine gesichtswahrenden und so die leibliche Würde hütenden Wege sind etwas andere: Sie laufen über Kontaktsi-tuationen und darin auch über vielfältige Gesichtsspiele, Gesichtsmasken, den sich verhüllenden, durch die Mitwelt endlos gestalteten Körperleib,5 „der erscheint und auch erscheinen will, mit seiner zum Antasten verlockenden Unantastbarkeit“,6 in einem Miteinander, in dem mit demaskierendem, enthüllendem Unberechenbaren gerechnet und daher auch mit Gesichtsverlusten, Würdelosigkeiten, Entwürdigun-gen umgegangen wird.

1 Leibliche Würde

Der bisher fokussierte bewegungssinnige Takt sorgt für das Verhandelbare der An-spannung und damit für das Aushalten sowie gelegentliche Herausfordern von Spannungen. Damit sich die Mitmenschen mit ihren Rollengesichtern treffen, müssen sie sich aber nicht nur miteinander bewegen, sondern einander auch über die Vielfalt ausdrücklicher Gesten berühren und berühren lassen. Der aufeinander einspielende Takt hält nichts von sozialen „Berührungen ohne Berühren“,7 einem von zwischenmenschlichen Vorfällen unangetasteten Abfangen angepasster Rol-lenbilder im Umfangsvorfeld. Er ist inmitten. Taktvolle lassen sich verführen, ver-stricken, leiblich rühren: von der mienenspielenden Vielfalt, dem ausdrucksstarken Körper, der „bald als Instrument des Handelns, bald als Verständigungsmittel beim Sprechen und durch Gesten, bald als Resonanzfläche der Gefühle“8 dient, als „Aus-drucksfläche des Seelischen Leib [ist], plastische Ausprägung des Psychischen“.9Was sich dann in einer Verkehrslage über den Körperleib gegenseitig so-und-nicht-anders zeigt, sich füreinander öffnet, nicht etwa voreinander offenlegt, maskiert das Seelenleben, bringt es füreinander ins Erkennen und zugleich in demaskierende Gefahren, die wiederum bei aller Bestimmtheit das verbindlich gemachte Unbe-stimmte nicht vergessen lassen. Dieses Wechselspiel von Verhüllen und Enthüllen, der ständige „Kampf ums wahre Gesicht“ und das damit unkündbar verbundene „Risiko der Lächerlichkeit“,10 trägt die leibliche Würde – und der kontaktierende Takt gehört dabei zu jenen Praxen, die sie im und für Kontaktmomente derart aus-führen:

So soll es hier sein – und Menschenwürde an den „Bewegungsformen des anschau-lich gegebenen Leibes“12 haften. Für deren Erhalt darf es gleichgültig bleiben, wie eine Ausdrucksbewegung platziert wird, solange sich Umgangsleute gegenseitig dar-stellerische Spielräume geben, durch die sich etwas als etwas anderes zeigen kann, um dann darüber füreinander situativ verständlich zu werden, so dass eine innere Angespanntheit über eine lässige, mürrische, heldische, wegwischende, schüchter-ne, kichernde oder andere Geste ihren entspannenden Weg ins sichtbare Äußere findet. Wer derart erscheint, muss nur in der und für die Kontaktlage einen Sinn dafür entwickeln, „inwieweit der eigene Lebensvollzug wie auch der anderer ein gelingender ist oder nicht“13; das Gelingen vollzieht sich im Miteinander-Machen bzw. Mitmachen der Umgangsleute. Die sich derart in der Mitwelt Bewegenden le-ben mit dem „Widerstreit, der die einzelnen Gebiete der Seele durchzieht“ und „das Verhältnis zum Körper“ so bestimmt wie „den Körper selbst, insofern er Körper und Leib ist“.14 Der Takt sichert hier den Erhalt der „Verwirklichungsbedingungen menschlicher Würde“,15 die von Maximalbedingungen getragen wird, da sie stets auf „das Ganze der Person, den Einklang ihres Inneren und Äußeren“,16 deren nicht auswechselbare Einmaligkeit, hinaus will, in der alltäglichen Zwischenmenschlich-keit allerdings mit „Minimalbedingungen“17 arbeitet. 1.1 Rechtstatsachen

Wird die menschliche Würde derart von voreinander erscheinenden und voneinan-der berührbaren Mitmenschen bestimmt, so hat es der gesichtswahrende Takt mit einer so dauerhaft umworbenen wie umkämpften mitmenschlichen Sphäre zu tun, in der er immer wieder gegen unwürdige Ausdrucksbewegungen, entwürdigende Berührungen eingesetzt wird. Anders gesagt und ein paar Schritte zurückgehend, ist es bei allem Antasten eine „Rechtstatsache“, dass „die Würde des Menschen un-antastbar ist“:

Das Gute an der Rechtstatsache ist, dass die so unverfügbar wie vermittelt verstan-denen Menschen nicht durch Sackgassen bildende Auswege wie Geburt, Erbe oder Leistungsnachweise in ihre Würde gesetzt werden.19 Sie ist einfach und unverlierbar für sie da:

Ein Menschenantlitz einfach so tragen zu dürfen, bedeutet nun allerdings nicht, es sich im Würde-Sessel bequem machen zu können. Für den Menschen in der Mit-welt gehört es zum Tagesgeschäft zu wissen, dass hinter jeder Straßenecke auch Un-würdiges lauert, da sie immer schon wissen, dass sie es zwar liebend gerne wissen würden, es aber nicht sicher wissen können, ob das eine oder andere Tun die Würde verletzt oder nicht:

Das Recht auf körperliche wie seelische Unversehrtheit und die Vielfalt an Maß-nahmen der Vergegenständlichung stellen viele Fragen: Geht es gegen die Men-schenwürde, wenn Menschen als Lustobjekte einseitig oder wechselseitig angeschaut oder auch angefasst werden?22 Ist das tatsächliche oder medikamentös unterstützte Handanlegen an einen Menschen, der gerade nicht macht, was er eigentlich, gesell-schaftsgemäß, machen soll, etwa sich selber versorgen oder sich und andere, das gemeinsame Normalerweise, nicht gefährden, eine ihn zum Gegenstand machende, entwürdigende, da erzwungene, Maßnahme? Was machen still beherzt zupackende pflegerische Gesten mit nicht eigenständig navigationsfähigen Patienten, was me-dikamentös sedierende, handgreiflich werdende oder verbal unter die Haut gehen-de Eingriffe mit seelisch Versehrten? Machen sie stets für alle dasselbe? Oder zeugt ihr umkämpfter Status von einer miteinander aushandelnden Offenheit, unter Ein-schluss verfassungsrechtlicher, d.  h. kultur-, nicht naturgesetzlicher Festlegungen, was mindestens unbequem, zuweilen auch empörend erscheinen mag, da die auf Dauer gestellten Fertigantworten fehlen. Auch ein weniger markant bzw. brisant mit körperlichen Grenzen konfrontiertes Alltagsgeschäft kennt trotz eines Allgemeinen Unklarheiten, die sich nicht rezeptiv, also anhand von Wegleitungen aufklären las-sen: Es ist nicht von vornherein klar, ob der alltäglich von familiärem wie institutio-nellem Personal durchgeführte Plan, wie Kinder zu sein, woraufhin sie zu werden haben, gegen die kindliche Würde geht, weshalb man auch nicht vor allem erziehe-rischem Tun exakt feststellen kann, wann welches erzieherische Tun entwürdigt. Vor aller in den Umgangsraum geworfenen Frage nach Nähe und Abstand, Ernst und Spiel, Hunger und Sättigung, Vorliebe und Abneigung bleibt ungewiss, im flüchtigen Ungefähr der Fälle, ob die Gesichter im Umgang tatsächlich Schaden nehmen. Erst die Aufnahme der Frage in der und für die Praxis, durch den nur individuell gradu-ierten Erfahrungstakt, lässt die Beteiligten mit mehr Sicherheit sagen, ob sie tatsäch-lich „sehr gute Intuitionen dazu [haben], was eine Entwürdigung ist“.23 1.2 Würde-Kompass

Es stellt sich bei allem Anerkennen des zwischenmenschlich nicht Vorhersehbaren die Frage, ob nicht doch der Gedanke irritieren muss, etwas in der Praxis, im alltäg-lichen Umgang miteinander verlieren zu können, was in der Theorie, im geltenden Recht als fraglos und unverlierbar feststeht. Dieserart Irritation könnte dann dazu führen, die Flucht nach vorne anzutreten, um der Verlustgefahr entgegen lieber vorsorglich auf einen inwendigen Kompass zur „Stärkung des Empfindens, der Vorstellung und des Bewusstseins menschlicher Würde“24 zu setzen. Hier ähnelt der Grundgedanke dem entwicklungshelfenden Takt: Der Mensch erhält im Vor-feld das feste Wissen darüber, was einen würdevollen Umgang ausmacht, um es im alltäglichen Miteinander einzuüben und auf diesem Weg seinen inneren Kompass einzustellen. Mit Würde verläuft dann alles, was dabei hilft, das Selbstbild herauszu-bilden, also den Selbstwert sowie die „eigene Eingebundenheit in eine menschliche Gemeinschaft“25 zu stärken. Wer hier seinem inneren Kompass folgt, wird niemals „andere Menschen entwürdigend behandeln, sie also zum Objekt eigener Absich-ten, Bewertungen oder gar Maßnahmen machen“ und schon gar nicht „Angebote und Leistungen an[nehmen], deren Bereitstellung die Würde der Erbringer dieser Angebote oder Leistungen verletzt“26:

Beim inneren Kompasshandeln hält der Mensch seinen Umgangskurs automatisch auf rechten Pfaden, bewahrt sich selber noch vor aller Erfahrung vor Abwegen und macht „aus sich selbst heraus“ keinen seiner Mitmenschen zum Gegenstand, etwa zum Objekt seiner Gier oder Macht, seines Ehrgeizes, Einflusses oder Hochmuts. Solche Kompassnadeln wissen exakt, woraufhin sie sich auszurichten haben, es gibt klare Täter- und Opferprofile ohne eine Würde-Chance für Menschen, die für Geld so etwas wie Liebe kaufen oder ihre Mitmenschen über ideelle Güter verführen. Dabei wird das moderne Leben an sich, erst recht mit seinen vielen feinen Falten, ebenso übersehen wie das schon angesprochene Recht des Menschen darauf, das Irrationale, Spontane, Momenthafte, Gelegentliche im Tun zu berücksichtigen, wenn nicht sogar seine Pflicht, auch abseits von Werten und Prinzipien zu handeln, um der Gewalt konkreter Umgangslagen noch gerecht zu werden. Man könnte dem Hersteller eines solchen Navigationssystems unterstellen, nach dem Entwurf ‚guter Bulle – böser Bulle‘ den Markt zu bedienen, da das von ihm unter der Hand ein-geführte, den Ausschlag Gebende so lange hält, wie deren Nutzer es nicht als sol-ches bemerken. Sobald dies der Fall ist, könnten sie – wie im wahren polizeilichen Leben – brüskiert sein, sich ihrer Würde beraubt fühlen. Es sei denn, es wird gleich über neurophysiologische Muster eingeführt: Würde entsteht dann bereits vorge-burtlich als natürliches Bedürfnis nach eigenem Gutgehen, naturgemäße Abwehr von Schlechtgehen, und lebt nachgeburtlich weiter als reflexgesteuerter Drang zur Entfaltung guter und nicht schlechter, etwa besonnener, stiller und nicht sponta-ner, lauter, Potentiale. Bedürfnis und Entfaltungsdrang liegen in den Händen von Umwelt und Mitmenschen, die ihre Aufgaben dann gut erfüllen können, wenn sie selber schon auf dem rechten Pfad der Würde wandeln, was über die Schwachstel-le hinwegsehen muss, dass auch Neurophysiologen mit kulturellen Vermittlungen, mit Produkten des Geistes, arbeiten, über die alles Natürliche füreinander verständ-lich wird. So schleicht sich mit dieserart Kompass-Würde der vormodern aufge-stellte „Leistungsstatus der dignitas“28 wieder ein, der fest mit guten allgemeinen Antworten rechnet, weil er für offene, hier mit zu vielen Unbekannten versehene, in der Begegnung plötzlich aufkommende, Fragen, also für den unausweichlichen Geschehnis-Faktor, nicht oder unzureichend gerüstet ist.

Angenommen, ein Sterbender hat sein Leben als dem Ruhm anhängiger Sportler verbracht, also kompassgemäß würdelos. Muss er jetzt mit Würde, abseits ruhm-süchtiger Rituale in sein eigenes Sterben hineinsteuern, weil ihm in seinen prä- und postnatalen Phasen der Waschzettel für die richtige Potentialentfaltung unzugäng-lich war? Bindet der innere Kompass Würde an eine gelungene Selbstbildung, die in einem für gut und schön befundenen, etwa entschleunigten und friedlichen, Raum abzulaufen hat, wie steht es dann mit der Würde von entwicklungsspielenden Trotz-kindern, Pubertierenden oder gar Menschen in der kritischen Lebensmitte, deren Potential sich gerne turbulent nach allen Seiten gleichzeitig und möglichst extrem auf Spiel und Gefahr entfalten möchte? Werden sie Würdelose, insofern sie erfolgreich gegen familiäre, medizinische, pädagogische und andere besänftigende Systeme rebellieren, die die vielen Einzelnen unbesehen ihres konkreten Zusammenseins und Mitmachens behandeln? Was passiert mit dem Begehren der Menschen, für-und-gegen-einander für immer klug, dabei gegen alles zu sein? Kein Würde-Kompass der Welt kann verhindern, dass seine Nutzer mal vom Weg abkommen, ob er nun verdeckt über Natur- oder offen über Kulturwerte entworfen ist. Wer daneben tritt, muss mit dem mitspielenden Takt jedenfalls nicht auf den alten Pfad zurückfinden, sondern darf nach Schleichwegen schauen, sich gelegentlich schöpferisch durch un-wegsames Gelände trauen, sich dabei erschöpfen oder auch mal rasten. Für sie kann dann gelten, dass das Gelten ihrer unverlierbaren Würde „von bedingter, nicht von absoluter Notwendigkeit; und das Werden dieser Geltung kein bloßes Ausbuchsta-bieren eines fix Gegebenen [ist]“, sondern in Bewegung, ein „werdendes Gelten“.29Es zeigt an, dass die Würde der einander begegnenden Menschen immer wieder auf dem Spiel steht, das maskierte Gesicht im konkreten Miteinander jederzeit, aber nur auf immer nächste Masken, demaskiert werden kann und der Kampf um das zu wahrende, nicht etwa einzig wahre, Gesicht so gewöhnlich ist wie das Risiko der Lächerlichkeit. 1.3 Begegnende Würde

Die Würde unverlierbar zu haben und sie zugleich jederzeit verlieren zu können schafft zwischen den Menschen eine gespannt-spannende Grundsituation, die den Fokus auf das Geschehen, die konkrete Begegnung legt und dort in leibliches Gutgehen anzeigt, insofern sich die Menschen in einer Umgangslage als diese-und-nicht-jene Rollengesichter tragende Mitmenschen mit Blick auf das jetzt und nicht irgend-wann wechselseitig Zuträgliche zeigen, um sich zu begegnen:

Begegnungen werden hier als ein sich aufeinander einstimmendes, darüber mit-einander verschränkendes gemeinsames Erzählen verständlich, über Worte aus Mündern ebenso wie über mimisch-gestische Ausdrucksbewegungen, die selbst dann noch etwas und zuweilen auch ganz anderes sagen, wenn aufkommende Wor-te im Hals stecken bleiben, es nichts mehr zu sagen gibt. Hängt Würde daran, dann schaffen die gewählten Kontaktarten die entsprechenden Spielräume eines eher engagierten oder eher distanzierten Miteinanders, wobei das eine wie das andere unwürdig gestaltet sein und entsprechend entwürdigend wirken kann.31 So ist die Attraktion des Werfens von Kleinwüchsigen auf Jahrmärkten würdelos und längst verboten, nicht verboten und offenbar keine drängende Frage der Würde ist das Fallenlassen der Toten von Krankenhausbetten in Zinksärge, wie es auch aus pfle-geökonomischen Gründen üblich ist, mit körperlich und geistig Eingeschränkten einen einseitig ermächtigenden, fraglosen und ruhigstellenden Umgang zu pflegen. Da mögen sich alle noch so einig sein, niemals füreinander Gegenstände, Spielzeu-ge, Mittel zum Zweck-von sein zu wollen, ob der eine den anderen dabei tatsächlich noch würdigt oder schon entwürdigt, erweist sich erst im Begegnungsverlauf, auf den sich alle Beteiligten ebenso einlassen müssen wie aufeinander, wollen sie die Würdefrage im Kontakt nicht einsam, sondern gemeinsam klären. Es sei denn, es ist schon auf formeller oder informeller Ebene verbindlich geklärt, was zu einem würdig-würdigenden Umgang gehört und nicht gehört, wobei der aufeinander ein-spielende Takt auch hier noch zu tun hat, jedenfalls solange die Umgangsgrenzen beweglich, füreinander zum Aushandeln offen sind.32 Dabei kommt der Erfahrungs-takt nicht ohne das Mitmachen aller aus, will er den Mitmenschen ohne momenta-ne Stimme im Moment der Umgangslage eine Stimme geben: Eine institutionell wie familiär pflegende, betreuende oder erziehende Person, die situativ in Erfahrung bringen möchte, ob es der Würde eines Kleinkindes zuträglicher ist, es kräftig oder zart, laut oder leise, ernst oder fröhlich zu berühren, hat sich auf das Kleinkind in dieser, nicht jener Situation einzulassen. Als Takthafte sorgt sie im Spannungsfeld von Ordnung und Leben, dabei die Grenzen der Extreme misshandelnder, miss-bräuchlicher Berührung wie vernachlässigender Nichtberührung gut im Blick, für Zusammenhänge Stiftendes, orientiert unter anderem am aktuellen gesundheitli-chen Zustand oder den persönlichen Vorlieben des Kindes. Richtet das Kind seinen Bedarf nach Nähe profan an seinem konkreten Hunger aus und geht auf Distanz, sobald dieser gestillt ist, so könnte ein auf Nähe bestehendes Umsorgen als ent-würdigend erfahren werden. Es mag etwas befremden, die Gesichtsfrage so früh anzusetzen, aber es steht nirgends geschrieben, dass der Verlust von Gesichtern erst einsetzt, wenn der eigene Blick in den Spiegel ein Gesicht erkennt, das sich verlie-ren lässt. Frühkindliche Zeichen wie etwa marmorierte Haut, weit aufgerissene Au-gen, aufeinandergepresste Lippen, eine Geste wie rudernde Arme und andere Aus-drucksbewegungen zeigen klare Abwehr und deuten auf einen nicht hinreichend anerkennenden Umgang mit dem Kind hin, auch ohne dass es wortgewandt fragen kann, wie der andere zu ihm, es zum anderen und zu sich selbst steht33; relevant ist für den Takt nur das konkret zwischen ihm und den Mitmenschen entstehende Wechselspiel. Hierzu finden sich viele Beispiele aus dem Reich einzelner Fälle von momentan, noch oder dauerhaft eingeschränkt lebenden Mitmenschen, die desto eher auffallen, je mehr der prozessuale Charakter divers temperierter Umgänge auf-genommen wird. So finden in der begegnenden Würde das einzigartige Gesicht, das der Mensch hat, mit seinen Gesichtern, die er trägt und zeigt, zusammen: Ein Kind verliert sein im Schmerz aufgesetztes Heldengesicht, sobald die Eltern darüber hin-wegsehen, den Schmerz an der Lage vorbei allzu ernst nehmen oder den Helden auslachen. Der paternalistisch eingestellte Patient behält sein Gesicht eher, können die behandelnden Ärzte die Diagnose mitsamt der krankheitsverlaufenden Aus-sicht unausgeführt lassen; dagegen würden die auf Information, Kommunikation und Autonomie ausgerichteten Patienten hier eher Gesichtsverluste erleiden. Kön-nen die Mitmenschen wechselseitig mit den Dingen im Medium flüchtigen Unge-fährs fertigwerden, sind auch Manipulieren, Täuschen, Verführen, Überwältigen, Umstürzen und ähnlich situativ einflussnehmende Praktiken keine auf Entwürdi-gung festgeschriebenen Solostücke, sondern mit Takt bewegte Mit-Spiele, die sich der Gewalt einer konkreten zwischenmenschlichen Situation annehmen, um jetzt, nicht später, eine würdig-würdigende Begegnung daraus zu machen. Darin liegt für alle das „Recht auf eine offene Zukunft“ als ein Recht, sich miteinander bewegen und dabei „neue Wege gehen zu dürfen“. Niemand muss dabei den anderen „durch festgelegte Erwartungen einschnüren“ und sich ein „endgültiges Bildnis von ihm machen“.34 Nur darum geht es, damit jeder Begegnungsmoment füreinander frei und vermittelbar bleibt. 1.4 Gesichtsverluste sind Würdeverluste

Menschen machen sich allerdings meist ein Bild von anderen, so wie sie auch ein Bild von sich haben. In beiden Fällen tendieren sie dazu, sich mehr als für diesmal festzulegen, zulasten des begegnenden Moments und damit des Wissens, dass die gewählten Bilder unstimmig sein und die Gesichter verloren gehen können. Da-her wird hier mit dem Takt auf ihr nicht austauschbar einmaliges Gesicht und auf ihre vielen Gesichter gesetzt, die sie tragen, wenn sie miteinander sind. Sie spielen mit Mienen, grimassieren, setzen mal dieses und mal jenes Gesicht auf: wer in der Prüfung nervös ist, schaut versiert, wer im Wettkampf angeschlagen ist, gibt sich trotzdem siegesgewiss, wer dem anderen Grenzen setzt, schaut streng, um die Ge-sichter zu treffen, die getroffen werden sollen: etwa die der Prüfer, des Publikums, der Kinder. Der Takt verschafft dem versierten, siegesgewissen, strengen Ausdruck als dem „Kundgeben und Kundnehmen im Miteinander“35 einen kommunikativen Spielraum, damit Umgangsleute sich darüber zu dem machen können, was sie als Menschen-mit-Würde immer schon sind. Er arbeitet nicht dem Wahren des einzig wahren, vielleicht schüchternen, hypochondrischen, freizügigen Einzel-gesichts zu. So gesehen macht es einen Unterschied, ein Gesicht zu haben und es (auf verschiedene Weise) zu tragen, wie es nicht dasselbe ist, ein Leben als Mensch zu haben und es (auf verschiedene Weise) zu führen:

Wie viele Gesichter ein Mensch auch immer haben mag, den Takt interessiert nur die Tragesituation, also das Sichern der genannten Verwirklichungsbedingungen. Im Tragen werden sie füreinander erkennbar, kommen situativ zusammen und können so geschont wie ermöglicht und dabei auch beschädigt werden. Mensch-liche Würde hängt daran, sein Gesicht so oder anders zu tragen, und nicht, ein, zwei, viele ästhetisch oder moralisch schöne Gesichter zu haben. Wer sein Gesicht nicht wechselt, die ungenutzten anderen aufbewahrt für schlechte Zeiten, an den Hund, die Kinder oder Partner weitergibt, dem mag es an Gelegenheiten oder Einsichten mangeln. Vielleicht legt ihm sein Platz im gesellschaftlichen Feld das entfaltende Spiel mit den Gesichtern nicht nahe oder er ist mit der einmal getrof-fenen Wahl wie mit einem durchgehaltenen Bekleidungsstil zufrieden, anders als der bis zum „bloßen wunden Kopf ohne Gesicht“37 gehende fliegende Gesichts-wechsler. Dem gesichtswahrenden Takt kann all das gleichgültig sein, solange es zur Darstellung kommt.

Ist es so, dass Menschen derart mit ihren Gesichtern verfahren können, so ist ihnen der Fund des einzig wahren, würdetragenden Gesichts verwehrt, auf das gleichwohl nicht nur im gemeinen Alltagsverständnis gesetzt wird, oder anders: Da ist weit und breit nichts, wodurch das wahre Gesicht überdeckt werden kann, auch keine psychischen Probleme38: Lernt beispielsweise der gegenwärtige Arbeits-markt, die Mitarbeitergesichter durch Erkennungsraster laufen zu lassen, um sol-che mit psychischen Störungen hinsichtlich des Erhalts von Leistungen und Be-ziehungen am Arbeitsplatz präventiv zu markieren, dann spielt der Takt hier nicht mit. Denn er würde Arbeitgeber und Belegschaft dabei unterstützen, die Rolle von Laien-Diagnostikern zu übernehmen und denunziatorisch Vorsorge zu betreiben, um die wahren, aber von depressiven, großmäuligen, bipolaren, gemeinen, lügne-rischen oder anderen Masken verdeckten Mitarbeitergesichter vor Unkenntlich-keit zu schützen. Was Umgangsleute immer schon tun, ihren privaten Eindrücken beim Anblick von fremden Gesichtern still bis laut nachzugehen, sie nach per-sönlichen Vorlieben auszulesen, das wird hier mit einem öffentlichen Aufruf zum Beobachten und Melden psychischer Symptome von Beruflichen verbindlich ge-macht. Wer sich freiwillig in das professionelle, begutachtende und behandelnde Feld psychischer Probleme begibt, der mag einverstanden sein mit pathologischen Markern; alle anderen brauchen die Wahl, festnagelnde Erkennungsdienste aus-tricksen oder boykottieren zu können, damit offen bleibt, was sich im Miteinander zu erkennen gibt und verdeckt hält, mal erkannt, mal übersehen wird, auf dass die herbeigerufenen Symptom-Geister auch wieder abberufen werden können, nie-mand im Namen des zu wahrenden wahren Gesichts endgültig auf sie festgelegt wird. Das Beispiel zeigt, dass die Verwendung des vielsagenden Gesichtsbegriffs so reizvoll wie gefahrenträchtig ist, unter anderem begründet durch eine deutlich vorurteilsbelastete Physiognomik. Gesichtslektüren

„Mach nicht so ein Gesicht!“, verlangen die einen von den anderen, die sich mit ei-nem anderen als dem erwarteten Gesicht konfrontiert sehen. Sollen Gesichter Bände sprechen, Mienen den Zustand der Seele spiegeln,dann scheinen sie nicht nur etwas über die gerade ablaufenden, mitmenschlich bewegenden Momente zu erzählen, sondern darüber hinaus allgemeine Gefühlslagen, Verhaltensmuster bis Seinswei-sen der Menschen festzulegen, mögen noch so flüssig und schlüssig formulierte Sätze aus deren Mündern fließen. Das Gesicht gilt als Projektionsfläche für die un-geschminkte Wahrheit, wohingegen sich der Körper abwärts der Kinnpartie mit sei-nen wechselnden Formen und Kleidern weiter entfernt von Wahrhaftigkeitsfragen aufhalten darf, vielleicht mit Ausnahme der auch von Innerem sprechenden Hän-de. Angenommen, Menschen haben einen Körper, aber nicht nur ein frei davon lebendes Gesicht, sondern die sprichwörtlichen zwei Gesichter. Gibt es dann ein wahres und ein falsches Gesicht? Wer kann wissen, und wie begründet, um wel-cherart Gesicht es sich gerade handelt, wenn das hingefallene Kind den Eltern mit schmerzverzerrter, tränenreicher Miene entgegenschaut, um im nächsten Moment das Gesicht zu wechseln und dem Freund gegenüber frei davon aufzutreten? Ist das Schmerzgesicht dann echt oder unecht, authentisch oder gespielt, zeigt oder ver-birgt es etwas? Noch schwieriger wird es, wenn von vielen möglichen Gesichtern ausgegangen wird, die nicht mal hintereinander abgetragen werden und sich ver-schleißen, bis nur noch ein Hauch von Gesicht oder das Nichtgesicht erkennbar ist. Bleibt dann das Gesicht eines Gegenübers im Dunklen, weil sich nichts mehr sicher erkennen lässt, also nur noch mit Täuschung, Verstellung, verkehrter Wahrneh-mung, überhaupt mit dem Maskenhaften und Verschleierten sämtlicher Erschei-nungen zu rechnen ist? Kann der Mensch sein Gesicht überhaupt noch verlieren, wenn er mehrere hat, auf die er notfalls, gelegentlich, spaßeshalber zurückgreifen, die er aufsetzen und wechseln kann? Es kommt etwas Licht ins Gesichtsdunkel, wenn man die an ein Gegenüber herangetragene mehr oder weniger drängende Bitte, nicht so ein Gesicht zu machen, mitsamt dem darin liegenden Wunsch nach einem anderen als dem erblickten Gesicht, entlang von drei möglichen Gesichts-ansichten skizziert, denn wie das andere Gesicht gedeutet wird, hängt wesentlich davon ab, was Gesichter überhaupt bedeuten sollen, welche Gesichtsgeschichten ge-rade kursieren. Der vorgenommene Blick auf das begegnende Gesicht ist also nicht frei, am Gesicht selber kreativ und situativ entwickelt: Dem Blicken ist das Bild des Erblickten schon eingeschrieben, etwa über jene Ansicht, für die das Gesicht ein Sinnbild für das Menschlichste des Menschen, eine Art „Symbol des Heiligen“39und Spiegel der Seele, sein soll. Oft ist es dann die menschliche Stirn, an der abzu-lesen sein soll, wie und was der Mensch ist, ein wesentliches Deutungsmaß auch für den erwähnten Physiognomen Lavater. Er entwirft eigens ein Gerät, mit dem er die verschiedenen Stirnwölbungen misst, um darüber den Charakter des Stirnträgers erschließen zu können. Sein Grundanliegen ist der rundum vermessene Mensch, der mit seinen konstanten Gesichtsformen und beweglichen Gesichtszügen der Mitwelt ein Abbild seines inneren Wesens präsentiert. So wie er erscheint, scheint er demnach auch zu sein: klug, verzagt, poetisch, verschlagen, biegsam, boshaft, schmeichlerisch, finster, heiter und so weiter. Da Lavater in dieser Wechselbezie-hung von Äußerem und Innerem nichts dem Zufall überlässt, muss er für den ersten wissenschaftlichen Schritt den Faktor der Bewegung aus dem mimischen Ausdruck herauskürzen, also die Gesichtszüge auf einen Ausdruck festlegen, um von dort aus ins Innere des Menschen schauen und einen Wesenszug bestimmen zu können. So sind etwa Stirnrunzelnde, deren Falten sich messbar im Gesicht eingeschrieben haben, direkt auf einen nachdenklichen, skeptischen, missmutigen, aufmerksamen oder anderweitigen Charakter festgelegt. Das Stirnrunzeln als gemütsbewegende Momentaufnahme ist dagegen ein Hindernis auf dem Weg zum Wesenszug: Treibt etwa der Zorn eine steile Falte zwischen die Augenbrauen einer Person, so ist diese Gemütsbewegung nicht nur flüchtig, auch gezielt einsetzbar und damit für Lava-ter untauglich für Erkenntnisse über feste Wesenszüge der Person sowie eine Ge-fahr, deren Gegenüber über Verstellung zu täuschen. Da sein unbedingtes Ziel ist, Täuschung zu verhindern, bedarf es einer Praktik, um ihr begegnen zu können. Hier kommt der oben schon beschriebene physiognomische Takt ins Spiel, der sich allerdings erst über den übenden Umgang mit vielen-Menschen-in-Situationen bilden muss, damit er für derart deutende Einsätze brauchbar wird. In der ange-häuften Erfahrung mit stirnrunzelnden Menschengesichtern kann dann im Um-gangsmoment ein konkreter Gesichtszug erkennbar und die vom Leben derart gezeichnete Person beispielsweise als Forschergeist, Griesgram, Choleriker oder Skeptiker beurteilbar werden.

Nun ist es hierbei weniger die Tatsache der Messbarkeit, die gedanklich ins Stol-pern bringt, denn berechnen, bestimmen, zählen, auch miteinander vergleichen lässt sich letztlich alles, vom Gegenständlichen bis zum Menschlichen. Aber aus der berechneten Tatsache etwa einer vergleichsweise kleinen, gering gewölbten Stirn den Schluss zu ziehen, es mit einer stillen, kleinmütigen Person zu tun zu haben, oder bei einer senkrechten Steilfalte auf jähzornige, bei vielen waagerech-ten Stirnlinien auf denkende Charaktere zu schließen, das geht nur auf, wenn der Berechnung die Deutung bereits innewohnt, also dem Maß die gewünschte, erhoffte oder zugewiesene Bedeutung desselben. Der lautere Physiognom müsste

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sich hierfür in seiner Rolle als das Menschengesicht mit wissenschaftlichem Be-steck distanziert beobachtende und beschreibende Fachperson selber erkennen und anderen entsprechend darstellen: Im Wissen, dass der Stirnträger gern und viel denkt, lassen sich seine waagerecht verlaufenden Stirnlinien gut als Denker-falten verstehen; umgekehrt wird aber aus einer Stirn mit derartigen Stirnlinien noch lange kein Denker, wenn auch Laien wie Fachleute eher damit arbeiten. Die plastische Chirurgie etwa bedient sich gerne der negativen Konnotationen diver-ser Gesichtsfurchen, um ihre Botox-Maßnahmen zu plausibilisieren. Wer möchte schon aus Faltengründen für einen Grübler oder Wüterich gehalten werden, auch wenn der Schein–Sein-Zusammenhang von der Schönheitsindustrie gleich wie-der ins Vergessen gehoben wird, damit keine Zweifel an nachhaltiger Stirnglätte aufkommt, anders als Lavater, der zwar die gesichtsdeutende Distanznahme samt deren Werkzeugen bedauert, sie aber trotzdem noch auf seine Weise brauchbar macht, wenn er den Trick nutzt, sich vorab und durchgängig religiös wie künst-lerisch zu halten, um von dort aus die physiognomischen Ideen einmal durch die Wissenschaftsmaschinerie durchlaufen zu lassen, auf dass sich dort das schnel-le Menschengefühl bildet, also der bloß ahnende Takt auf ein wissendes Gefühl hin berichtigt, um mit dem errungenen Deutungsbesteck die Wissenschaftsszene wieder verlassen zu können.40 Der taktvolle Gesichtsdeuter hat dann das angeleg-te Gesichtsmaß und damit die Qual vergessen, mit keiner sekundären Maßnahme an das primär Erlebte und Beobachtete zu kommen. Seine Aufgabe ist, vor allem Erfahren zu wissen, was er für gut oder schlecht halten soll, um dann so zu tun, als würde er die jeweilige Wahl erspüren. Der künstliche Verschleierungsakt bleibt hinter dem Schleier, begründet durch die allem Grund gebende gute menschliche Natur. Der Takt ist hier nur so gut, wie er genau das zu entdecken, sich dem an-zunähern vermag.

Wobei, so ganz hinter dem Schleier bleibt die verschleiernde Maßnahme auch wie-der nicht. Geht es darum, einen bestimmten Gesichtsausdruck als diesen-und-nicht jenen zu bestimmen, um ihn später wie von selbst genauso deuten zu können, dann führt für Lavater ein Weg dorthin über das herausfordernde Produzieren desselben: Wer ein Gesicht des Staunens bestimmen will, führt das Menschenge-sicht am besten in eine erstaunliche Szene hinein oder umarmt „den überraschen-den Freund, ehe er ihn von oben bis unten besichtiget  – und sich hinsetzt, ihn abzuzeichnen“.41 Eine taktvolle Gesichtszeichnung wie eine daran angelehnte, spä-terhin immer wieder aufrufbare Gesichtsdeutung ist dann eine, die wie der schöpfe-rische Raffael misst und fühlt, nicht wie der regelgeleitete Dürer bloß misst:

Während Lavater für die Gesichtserkennung auf die aus ihren künstlichen Gefäng-nissen befreite natürliche Sehkraft baut, damit das von allem Verfremden freie Auge auf das allgemein menschliche, idealerweise unschuldige, gut-schöne, unverschleierte Einzelgesicht schauen und darüber auf den ebensolchen Charakter schließen kann, sind es hier die schon erwähnten weltüberladenen, sparsam oder verschwenderisch genutzten und nicht unbedingt nur menschliche Züge tragenden Mehrgesichter, die auf ein Seeleninneres blicken lassen, das zwar alles aufnimmt, aber nichts mehr er-kennen lässt, womit sie in Kontaktsituationen zur willkommenen Freifläche für Wün-sche, Haltungen, Vorstellungen, Meinungen ihrer jeweiligen Gegenüber werden:

Angenommen, das omnipräsente, alles und nichts sagende Menschengesicht dient in Umgangslagen einem Gegenüber als Projektionsfläche, so ist das jeweils Gezeig-te zugleich das Bloßgestellte, da es sich dem Bedeuten und Deuten der Mitmen-schen ungeschützt ausliefert. Wer in einer Kontaktlage angehalten wird, ein weniger skeptisches Gesicht zu ziehen, gerät in die Rolle eines Projektionsopfers, sofern er (nicht) sein soll, was der andere an ihm (nicht) sehen will. Er kontert dann vielleicht mit dem Argument, für sein Gesicht nichts zu können. Es gehört zu ihm von Ge-burt an; sein gelebtes Leben hat seine stehenden und beweglichen Gesichtsformen im Lebensprozess so oder anders gezeichnet; er hat es und stirbt damit. Es ist aller-dings eine eher trägerferne Passivrolle, die den Gedanken an das durch die Mitwelt ermächtigte und bei Bedarf von ihr wieder entmachtete Gesicht unterstützt, wenn auch eine auf den ersten Blick gut begründete Reaktion auf das nach dem „Schema der Selektion“44 in Machtpositionen gesetzte, harmonisch geformte, gesunde und schöne, irgendwie „gutrassige“45 Gesicht. So gehört es zu den Anliegen der Ge-sichtsbunker-Vertreter, derartigen Phantasien der Auslese keinen konkreten Bo-den mehr zu bieten, weshalb sie dafür plädieren, besser aus allen machttragenden „Gesichtlichkeitsmaschine[n]“46 auszusteigen und sich gesichtslos, nicht kopflos ins Unerkannte davonzumachen. Ein solches Aussteigen ist gut nachvollziehbar, denn wer möchte schon wegen Gesichtsasymmetrien oder mimischer Dissonanzen aus-sortiert werden. Was aber widersprechen lässt, ist der grundsätzlich wegduckende Umgang mit Gesichtsmächten. So mag es sein, dass der über das Gesicht der Mut-ter laufende Stillkontakt zum Kind bindungstheoretisch wie entwicklungspsycho-logisch vergisst, dass mütterlicherseits auch allerlei Machtspiele laufen, unterstützt vom kindlichen Status der Hilflosigkeit. Andersherum liegt die von Laien wie Fach-leuten erkannte, zähneknirschend bis schmunzelnd hingenommene Macht beim Kleinkind, wenn es mit großem Augentheater die Eltern so lange mit Wünschen traktiert, bis sie ermattet aufgeben. Ein anderes, sich aufeinander eingespieltes Spiel mit Gesichtsmächten findet im Sport mit schmerzverzerrten Wettkampfmienen statt, die für die Sportwelt beinharte Körperhelden produzieren. Das Publikum ist beeindruckt von dem, was die Sportler ausdrücken. Denkbar ist aber auch, dass sich über diesen Weg dem Schmerzgesicht ein Tor in den Alltag öffnet, es dort sportlich genommen wird und darüber dem Körper-im-Schmerz ein erweiterter Raum der Anerkennung zugestanden wird, worin der Alltagsmensch wiederum seine diver-sen Machtspielchen treiben kann, und so weiter. Dem Gesicht als „Dispositiv der Macht“,47 sei es nun über bestimmte Formen oder Affekte ermächtigt oder entmach-tet, lässt sich für Gesichtsspieler so wenig entgehen wie allem, was in menschlichen Angelegenheiten mit Bedeutung belegt werden kann, und das dürfte so gut wie alles sein, was Menschen von sich zeigen, aus sich machen, in die Hand nehmen. Solange sie es immer wieder neu und anders tun können, sind Machtkämpfe als Spiele mit der Macht erlaubt wie geboten.

Alle drei Gesichtslesarten stehen auf unreflektiert bleibende Vorurteile, gesichts-nah und körperfern. Die Stirn eines Sportlers zu vermessen, Sporttüchtigkeit her-auszulesen und von dort aus auf einen sportlichen Charakter zu schließen, vergisst den Sportler in der Rolle des Probanden, so wie die aussortierenden Zuschreibun-gen auf der Vielfalt modeabhängiger Geschmacksurteile basieren, die sich mit gu-ten Gründen annehmen wie auch ablehnen lassen. Instrumentalisierte Gesichter führen nicht zwangsläufig ein bis in die eigene Auslöschung gehendes Opferleben; sie sind meist auch auf der Täterseite unterwegs. Wer den Satz „Mach nicht so ein Gesicht!“ zu hören bekommt, kann demnach auf unterschiedliche Weise reagieren, je nachdem, welcher Gesichtsdeutung er nahesteht. Er kann das Ansinnen einfach von sich weisen, es sei denn, er hat sich im Vorfeld mit anderen auf das tragende Gesicht geeinigt und beim Aufsetzen voll danebengegriffen. Das Gesicht wie auch dessen Ausdruck lassen nur dann eine Form von wesensfeststellendem Blick ins Seeleninnere zu, wenn die Zuschreibungen vorab bekannt gemacht und allseits ak-zeptiert werden. Ist dies nicht der Fall, dann kennen Gesichter keine Bewertungen nach irgendwelchen Qualitätsgütesiegeln, sind und zeigen aber auch nicht gleich nichts, nur weil sie in mächtigen, systemtragenden Rollen oder Masken sind und sich zeigen. Für die Frage danach, was ein (wahres) Gesicht sein kann, haben die drei Varianten den Mangel der Bewegungslosigkeit und insofern der Radikalität, was der Exzentriker für sein Gesicht ablehnt. Für ihn sind mitmenschliche Ge-sichter menschlich, weil sie immer auch unmenschlich auftreten können, also ein ganzes Spektrum von Gesichtszügen spazieren tragen können, auch den Zug des Mörderischen. Solange das Ausleben der Vielfalt von Gesichtszügen möglich, er-laubt wie geboten ist, umgesetzt von jenen Menschen, die ihre modernen Gesichter horten, archivieren oder abtragen, ist da Bewegungspotential für weiteres Ausleben und damit Spielraum für den Takt. Lediglich den oben erwähnten Nichtgesichtern könnte es daran fehlen. Diese wunden Köpfe ohne Gesicht lassen auf so etwas wie absolute Gesichtsverluste schließen, wonach nicht nur die bislang genutzten Rol-lengesichter unumkehrbar bis zur Unkenntlichkeit beschädigt, sondern darüber hinaus auch keine weiteren mehr abrufbar sind.48 Fehlt der Platz für das Darstelle-rische, sind Gesichtsspiele verboten und Mienen dauerhaft erstarrt, hat der Exzent-riker und damit der hier vertretene Takt verloren. Solange aber die kleinste Chance besteht, dass aus wunden Köpfen neue Gesichter wachsen, sind beide noch im Spiel.

Zusammengefasst kämpfen Exzentriker mit Takt für ihre leibliche Würde, in-dem sie mit ihrem einmaligen Gesicht in den stets ausgangsoffenen Kampf um das Gesicht gehen, das sie gerade tragen und zeigen. Sie kämpfen im Wissen, dass sie Verluste machen können, riskieren etwas für den Erhalt von Gelegenheiten, die so-oder-anders ausfallen können. Wenn sie mit anderen zusammenkommen, zeigen sie sich nie ganz, bleiben etwas geheimnisvoll, so dass sie im wechselspiel-enden Verhüllen und Enthüllen immer auch aneinander vorbei leben.49 Über das Unüberbrückbare sorgen sie für den Bestand des Lebens der Seele in der Gesell-schaft, den Kontakt von Seele mit Seele. So kann ein in die Glieder fahrender, leib-lich widerfahrener, Schrecken füreinander vermittelbar bleiben, ohne als heiliger Zorn bedenkenlos eine Faust auszufahren. Wenn die Suchtmittel radikal ablehnen-de Trainerin im Training mit einer familiären Suchtproblematik konfrontiert wird, ein Arzt im Beisein eines Patienten mit einem weit zurückliegenden Versagen am Menschen, dann wird dies für beide eher zum entwürdigenden Volltreffer, sobald sie eine unpassende Brücke schlagen: vom Suchtphänomen im Sport zur familiären Rolle, vom medizinischen Tun zum Ausschluss von Lebensschäden. Halten sie sich von solchen Anschlüssen fern bzw. wählen andere, können sie unter Umständen besser aushalten, getroffen und verfehlt zu werden, akzeptieren sie vielleicht achsel-zuckend, heiter bis grimmig den stets möglichen Irrtum, denn „wie oft irren wir uns – und wie oft möchten oder finden wir, dass andere über uns irren!“,50 bleiben die Fäuste entspannt, die Mienen beweglich, die Menschen füreinander berührbar. So sind sie stets dabei, mit den Treffern ins Spiel zu gehen, nehmen aber das stets mitlaufende Risiko, innerlich „auf die Schaukel“ gesetzt zu werden, „lächernd und lächerlich“51 zu wirken, auch als Chance, aus dem unter Spannung stehenden Ver-hältnis von Ordnung und Leben etwas anderes als zuvor für sich und einander zu machen, etwa die Darstellungen mit der Rolle abzugleichen: So ist albern, seine jugendlichen Kinder mit Soll-und-Müssen-Sätzen, Befehlen, Zwangsmaßnahmen, Ultimaten zu traktieren, wenn man ihnen gegenüber für gewöhnlich als Kumpel oder beste Freundin auftritt, ebenso wie es irritieren muss, wenn Lehrpersonen Ler-nenden offenhalten, ob sie lieber durchgängig am Unterricht teilnehmen oder zwi-schendurch ins Café gehen möchten oder komisch bis töricht ist, wer als Mitspieler gleich welchen Spiels auf gutes Gelingen, nicht auf Gewinnen-um-jeden-Preis, ach-tet, um dann mit einem schön aussehenden, kreativen, gewagten oder anders quer-gewöhnlichen Spiel an einem Preiswettkampf teilzunehmen. Es ist richtig, dass ein über Reglements aufeinander abgestimmtes Mit-Spiel das Risiko von Lächerlichkeit und Gesichtsverlusten minimiert. Richtig ist aber genauso, dass in komisch, albern bis töricht, grotesk oder gar unsinnig erscheinenden Bemühungen immer auch die Chance schlummert, etwas zu merken und entsprechend zu bewegen: So müssen Eltern den heranwachsenden Kindern aus Ablösegründen irgendwann peinlich werden dürfen, was aber nicht zu einer auf Freundschaft basierenden Partnerrol-le passt. Eine Maßnahme der Jugendlichen könnte sein, Gesichtsschädigungen zu provozieren, um eine Rollenkorrektur in Gang zu bringen, den Eltern die Gelegen-heit zu bieten, das Gesicht an die Rolle anzupassen, also aus der partnerschaftlichen in die elterliche Rolle zu wechseln oder aber im partnerschaftlichen Rollengesicht zu bleiben und das Verhalten entsprechend zu korrigieren, so wie der den Klassen-raum in Richtung Café verlassende Klassenverband die Lehrperson zur Reflexion ihrer Freiheit-gebenden Rolle veranlassen kann oder der stur gelassen quertreiben-de Mitspieler eigene Gesichtsverluste hinnimmt, um Neues zu versuchen und an-dere darin zu verwickeln.

Ein starker Faktor für den Takt als Hüter der leiblichen Würde bleibt die konkrete Aufnahme des und der Umgang mit dem Lächerlichen, das wie „ein Reiz, der eben noch stark genug ist, unsere Aktivität zu erregen, und doch nicht mehr stark genug ist, sie wirklich zu veranlassen, uns kitzelt, wie ein Kitzel als beständiges Hin und Her“,52 die zwischenmenschliche Spannung wachhält. Nervenkitzel, über den sich Umgangsstücke schreiben, die von ambivalenten Charakteren belebt werden, die nicht wie im wahren Bühnenleben fest an der Hand von vorab festgelegten Botschaf-ten laufen. Denn in der Gewalt konkreter Situationen gibt es sie nicht pur zur Aus-wahl: die komische Figur oder die großmäulige Heldin oder den nächstenliebenden Mitmenschen. Sie vermischen, verwickeln sich durch den Situationscharakter, die einmalige, so nie wieder vorkommende Umgangslage,53 durch die jetzt, nicht später oder für immer, im Raum zwischen ihnen herrschende Atmosphäre, die anders als die dem Bühnenstück eingeschriebene, dort durchzuhaltende Gestimmtheit weder fest am komischen, großmäuligen, nächstenliebenden Menschen noch im Raum hängt, vielmehr zwischen Menschen-im-Raum-in-Situationen erst entsteht und wieder vergeht, selbst wenn etwas davon an allen Einzelnen, der Beziehung zwischen ihnen und zuweilen im Raum hängenbleiben mag. So wird jetzt, als Übergang zur nächsten Frage nach dem Faktor Berührung als Stärke des Takts, die Relevanz der umgangsnavigierenden Atmosphäre im Raum zwischen Menschen gestreift, wobei zwei auf den ersten Blick quer zueinander stehende Aspekte interessieren: In jedem Begegnen im Sinne eines wechselseitigen Berührens schlummert das Plötzliche, das währenddessen Widerfahrende, dem einander Begegnende immer auch ausgeliefert sind, zugleich liegt darin auch ein darstellerisches Potential, das sich mit dem aufei-nander einspielenden Takt halten bis entfalten lässt. Der nachfolgende Fokus liegt so auf Spielräumen für die Produktion von Umgangsatmosphären, für gesichtswahren-de und dabei schöpferisch-erschöpfende Begegnungen.

2 Atmosphärisches Miteinander

Ist das Arbeitsfeld des füreinander heilsamen und hilfreichen Takts dort, wo das endlos differenzierbare Zwischen von Liebe und Geschäft, Gefühl und Norm, Har-monie und Konflikt, Natur und Kultur und anderen polaren Paaren, „die verunkla-renden Zwischenbeziehungen von Ding zu Ding“,54 das Beherrschen der Situation als fallweises Entscheiden verlangt, so bewegt er sich stets im fließenden, nie im stehenden Verkehr. Hier, wo jeder noch so gründlich durchdachte Plan vom be-gegnenden Moment durchkreuzt werden kann, kein noch so schöner Augenblick verweilt, sondern kommt, um zu gehen, laufen Umgangsleute aufeinander zu und dabei immer auch aneinander vorbei, sie berühren sich, ohne sich vollumfänglich zu treffen; nicht der Volltreffer, nur das Sichern von Übergängen für ihre Begeg-nung ist es, wonach sie sich ausrichten. Der Takt als Sinn für dieses-und-nicht-jenes Atmosphärische, mit dem erkannt wird, was erkannt werden soll, ohne dass für das zu Erkennende und Auszuführende ein Waschzettel auslesbar ist, schärft den Sinn auf das in diesem-und-nicht-jenem Moment laufende, gemeinsam geteilte Mitei-nander. Wie es tatsächlich verläuft, hat auch damit zu tun, wie sich die konkrete Atmosphäre im Raum zwischen Menschen gestaltet oder gestalten lässt. Die Idee dazu ist, dass sich Umgangsleute in konsumierten wie produzierten Atmosphären auf Berührung und Kontakt bilden können, insofern sie sich darin leiblich rüh-ren, anrühren lassen: Geraten sie in eine Szene mit schallendem Gelächter, weg-wischenden Tränen oder einem tiefen Seufzer, so ist noch vor allem Hineingeraten völlig unklar, was dort im Moment im Gange ist: purer Frohsinn oder Galgenhu-mor, Wehmut oder Heuchelei, Selbstmitleid oder Erleichterung. Erst im Kontakt auf mitmenschlichem Glatteis, und in Berührung damit, lichten sich die Lektüren. Der Takt ist dabei in seinem Element, nichts einstimmig zu machen, voneinander erlösend aufzulösen, sondern sich aufeinander einzuspielen, ein heiter-bis-wolkiges atmosphärisches Miteinander zu sichern, in dem Umgangsleute etwas füreinander feststellen können, ohne einander festzustellen. 2.1 Das atmosphärisch Heiter-bis-Wolkige

Es spricht nichts dagegen, Atmosphären zu charakterisieren und solchen Trägern wie Straßen zuzuordnen, oder Landschaften, Gebäuden, Räumen, überhaupt Um-gebungen. Was dann als atmosphärisch voll, noch bis nicht mehr heiter gilt, ist eine private oder öffentliche Geschmackssache, kulturgemäß beweglich, nicht etwa der Goethestraße an sich anhängig. Kommen hier Menschen als Mitmenschen, einzel-ne Situationen und Strukturen als Träger von Atmosphären dazu, wird die Takt-relevanz deutlich. Wie drei Geschäftsleute an der besonders heiter gestalteten Stra-ßenecke zusammenkommen, um dort ihre Geschäfte zu besprechen, hat auch etwas damit zu tun, wie sie das Heitere für sich und einander erfahrbar machen, sich selber stimmen, aufeinander einstimmen, um eine geschäfts- und damit umgangs-zuträgliche Atmosphäre herzustellen:

Da im Miteinander stets unterschiedliche Träger von Atmosphären zusammenkom-men, also Menschen als Mitmenschen in erst noch zu gestaltenden Umgebungen, aufeinander einzuspielenden sozialen Situationen, ist die Unstimmigkeit ein zur Stimmigkeit stets einladender oder auch auffordernder Normalfall, den der situativ aufeinander einstimmende Takt bedient. Dabei geht es ihm nur um Atmosphären im Raum zwischen Menschen, die durch deren gestalterische Hände gehen: Die Heiterkeit der Abendgesellschaft mag diffus bis offensichtlich im Raum schweben, taktrelevant wird sie erst als erzeugendes, manipulierendes, auch verwerfendes Spiel der sich begegnenden Menschen. So gesehen ist er eher keine Praxis für Innen-einrichter, Landschaftsplaner oder Bühnenbildner, wohl aber für „Krankenpfleger, Sozialarbeiter, Psychotherapeuten und Psychiater“57 und andere Alltägliche, denen es im Kontakt darauf ankommt, dass es im Raum zwischen ihnen stimmt, stimmig wird, sich ein umgangszuträgliches „atmosphärisches Mitsein“58 mitsamt der dau-erhaften Gefahr ergibt, dass sich hier etwas situativ radikalisiert. Dem Takt bleibt es dabei gleichgültig, wohin sich eine Atmosphäre verdichtet, ob sie kühl oder hitzig wird: Gesichtsverluste drohen in beiden Fällen. So müssen unterkühlte wie über-hitzte Umgangstemperaturen nicht zwingend verlassen, sondern können auf zu-trägliche Nuancen erprobt werden, die sich zeigenden körperleiblichen Zeichen wie etwa Enge im Brustbereich, Druck in der Magengegend, Ohrensausen aufnehmend. Wer seinen Sinn für Atmosphärisches einsetzt, also mit Takt vorgeht, der erkennt hier mehr als das atmosphärisch Vorliegende, wie die ausgelassene Abendgesell-schaft, um dieses Miteinander mit Ausgelassenheit zu kommentieren. Seine Stärke liegt dort, wo er im abendgesellschaftlichen Inmitten das dort plötzlich kühl oder hitzig zwischen sich und anderen Hereinbrechende anschlussfähig hält. Dabei kann er das Ausgelassene sichern, aber auch woandershin bewegen. So soll es sein und nachfolgend um die Frage gehen, welcherart Atmosphärenverständnis für den auf-einander einspielenden Takt produktiv werden kann. Atmosphären im Raum und die Menschen

Die Umgangssprache lässt beim Begriff der Atmosphäre spontan an etwas diffus Raumfüllendes denken, dem bei aller Opazität etwas Richtiges innewohnt. Wer von einer kalten oder hitzigen Atmosphäre spricht, nimmt seine Wahrnehmung eher absolut, auch wenn er sie eher spürt denn sichtet: Wer den Umkleideraum einer Turnhalle betritt, dem mag von dem dort präsenten körperausdünstenden Geruch der Atem stocken, so dass er eine Sortierweile benötigt, bis er sich auf ein umkleidendes Tun ins Verhältnis und in Bewegung gesetzt hat; vielleicht drückt das Olfaktorische auch auf seine momentane Stimmung, die spontan in „gefüllte Weite“59 kippt, sobald er wieder ins frischluftige Freie kommt. Aber erst ein diese Gestimmtheit aufnehmendes Tun von anderen, etwa die von einem Trainer grin-send in den Raum fallengelassene Frage, was Mimosen an einem solchen schweiß-getragenen Ort zu suchen haben, lässt eine soziale Situation und damit ein takt-relevantes Klima entstehen: Zum Stickluftigen des Umkleideraums gesellt sich bestimmter Ton; zusammen kann daraus etwas für sich und einander Bedrücken-des werden. Nun lassen sich Atmosphären auch mit Blick auf die Einzelnen im Raum verstehen, etwa als „eine totale oder partielle, in jedem Fall aber umfassende Besetzung eines flächenlosen Raumes oder Gebietes im Bereich erlebter Anwesen-heit“.60 Dabei unterscheidet er streng zwischen solchen der umrandeten leiblichen Regung und des randlosen Gefühls. Bezogen auf die Umkleidesituation erschei-nen vielleicht Schwindel und Übelkeit als „leiblich ergreifende Mächte“61 sowie ge-fühlter Ekel. Damit müssen Menschen im Raum zurechtkommen, da sie nicht zu handlichen Produkten ihres beweglichen Geistes gemacht werden können. Leiblich ergriffen, bleiben sie ihnen unbegreiflich. Damit könnte man es konsequenterweise bewenden lassen, sich leiblich so-oder-anders regen lassen, einem diffusen Gefühl hingeben und einfach abwarten, was passiert. Aber das reicht Schmitz nicht. Er will sie zwar eigenmächtig, so dass sie sich im Raum an Menschen hängen, ohne gezieltes, gedanklich-begriffliches Zurechtlegen, aber sie sollen doch auch in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet sein:

Mit diesem kulturell ambitionierten Sprung bringt Schmitz den Aspekt der binden-den Bildung ins Spiel, die den Atmosphären im Raum zwischen Menschen den Weg weist. Ohne Sozialisation sind sie nicht wahrnehmbar, anders gesagt: Sie hängen immer auch an sozialen Situationen, die in Umgangslagen von den Umgangsbetei-ligten miteinander abgeglichen werden müssen.63 Kommt der soziale Mensch, also der Mitmensch, ins Spiel, bleibt nichts vollständig ungebunden, immer ist etwas über dieses-oder-jenes vermittelt, wie Schmitz selber am „sozialen Gefühlskont-rast“64 ausführt:

Den Bildungsaspekt noch einmal kurz vergessend und nur auf die scheinbar frei im Raum schwebenden Atmosphären schauend, stellt sich Irritation und eher die Frage ein, warum nicht auch die leiblich Frischen „bei einiger Feinfühligkeit“ mer-ken sollten, dass sie mit ihrem frischen Gemüt unter lauter Matten fehl am Platz sind, oder was die Frohen daran hindern sollte, sich frohgemut über den Kontrast zum Traurigen hinwegzusetzen und Frohsinn zu verbreiten. Der von Schmitz kon-statierte Unterschied hängt an seiner Unterscheidung von Gefühlen und leiblichen Regungen: Während die Gefühle eine eigene Würde bekommen, hier ist es die „Autorität der Trauer selbst […], die den Anspruch erhebt, den Raum erlebter Anwesenheit ganz zu besetzen, und mit der Stärke dieses Anspruchs den in dieser Lage minder gewichtigen, aber gleichen Anspruch der Fröhlichkeit nieder-schlägt“,66 so als würde das Klima an sich und nicht die soziale Situation der Trauer mit den vielen Trauernden, dem einen Fröhlichen den richtigen Weg weisen, sorgt die Menschenwürde dafür, dass es unter den Matten und Frischen würdig-würdi-gend zugeht. Wem also nur leiblich behaglich oder unbehaglich zumute ist, dessen Behagen oder Unbehagen ist begrenzt, und zwar im Hinblick auf den situativ be-setzen Raum. Weil das so ist, gibt es untereinander keinen totalen Anspruch auf Vorherrschaft, sondern ein Miteinander und die zusammen auftretenden Frischen und Matten haben „in einer gemeinsamen Umgebung zwanglos nebeneinander Platz“,67 um neue Verhältnisse zu schaffen. Angenommen, auch die von Eigen-würde getragenen Gefühle kommen nicht ohne eine Feinfühligkeit der Fühlenden aus, die bei diverser Sozialisation zudem sichtbar divers ausfällt,68 dann bleiben Menschen als Mitmenschen darauf angewiesen, sich für ein anderes Ergreifen-Lassen offen zu halten. So ist ein aufkommender Konflikt im Raum der Trauer aufgrund einer munter auftretenden und stur bleibenden Fröhlichkeit weder der zu schwachen Trauer noch der zu aufdringlichen Fröhlichkeit anzulasten, sondern den Fröhlichen, die das daraufhin gebildete Feingefühl für dieses-und-nicht-je-nes Atmosphärische gerade jetzt mangels erkennbarer Zugänge nicht aufbringen können. Die leiblichen Atmosphären haben es leichter und schwerer zugleich. Da sie an keine Autoritäten gebunden sind, haben sie mehr partnerschaftlich verstän-digende Spielräume, wobei sich hier eine Uneinigkeit im Miteinander mit einem Wegbrechen der Zwanglosigkeit sowie einer Auflösung der Umrandungen schnell einstellen kann. So bleibt die gebildete, sich bildende Feinfühligkeit eine der Be-dingungen für das Leben der Menschen im jeweiligen sozialen Klima und Schmitz sieht durchaus Wege, wie die Einzelnen zu mehr Feinfühligkeit kommen können, wollen sie in Atmosphären keine geistreichen Beobachter bleiben, sondern auch leiblich Ergriffene werden. Dafür brauchen sie Raum für das Augenblickserleben und für ein Denken, das die „unwillkürliche Lebenserfahrung begriffsfähig“69macht, also lebendige Formulierungen für Widerfahrenes. Wer sich im Umkleide-raum mit seiner akuten Übelkeit mitteilen will, braucht Worte, die sein Erleben nicht der momentanen Stimmung entkleiden. Es geht um keine exakte Beschrei-bung von Symptomen, eher um ein atmosphärisch dichtes Beschreiben dessen, was hier leiblich-gefühlsmäßig im Gange ist: ein diffuser oder punktueller Taumel, der mit einem grenzüberschreitenden Gefühl von Ekel und dem Wunsch nach Flucht einhergeht, wie aus einer sich schier endlos im Kreis drehenden Gesprächs-situation ein erschöpfender Schwindel und daraus ein über alle Ränder hinausge-hendes Gefühl von Leere entstehen kann. All das ist möglich und noch viel mehr oder auch weniger, also kulturgemäß noch ganz anderes.

Zusammengefasst sind die, nur mit Blick auf den Takt gestreiften, Ideen zur At-mosphäre von Schmitz hilfreich, den Spielraum des Erkennens für das zwischen-menschliche Tun in konkreten Lagen auf die Relevanz der Plötzlichkeit, einer spontanen Betroffenheit, dem eigenleiblichen Spüren und einer sich daran orien-tierenden begrifflichen Anwendung zu erweitern. Allerdings ist damit für den Ex-zentriker nichts weiter geschaffen, was darüber hinaus gehen würde: keine für jetzt und immer gleich gültige Verbindung zwischen dem plötzlichen Erleben und dem Fühlen des Gefühls, da mag die leibliche Regung noch so markant, das vermitteln-de Wort noch so treffend sein: Wenn ein trüber Nebelmorgen oder ein schwüler Sommerabend dazu führt, dass für diejenigen, die sich darin bewegen, plötzlich alles eng wird, „mit einem Schlage müde, gedrückt und lastend wirkt, einschließ-lich des eigenen Leibes“,70 dann muss zunächst das Trübe und Schwüle kulturell wie individuell als trüb und schwül benannt, erkannt und die Brücke hinüber zu Müdigkeit, Bedrückung und Last hergestellt werden. Ein nebliger Novembertag ist nicht zwingend trübe und verführt zu Trübnis; er kann auch in seiner Opazität alles weit machen, also situativ entspannen, indem er die Sicht auf sich und andere vernebelt, vor neugierigen Blicken schützt, ebenso wie ein schwüler Sommertag einfach nur zu individuell produktiver Langsamkeit überreden kann oder von kul-turellem wie persönlichem Geschmack geprägte Gerüche die Menschen etwas ver-anlassen zu riechen und entsprechend zu spüren, ein markantes Parfüm, Gewürze, alte Gemäuer in aller Vielfalt anziehend wie abstoßend wirken können. Selbst der vollsonnige Sommertag lässt weit offen, was der Mensch beim Dort-Hineingehen wahrnimmt und welche Befindlichkeit sich über seinen fitten oder lahmen „spezi-fischen Sinn für das Darin-Sein“71 einstellt. Möglich ist nicht nur die hell muntere Gestimmtheit, denn wem der Sonnentag grell erscheint, der kann sich angestrengt bis überfordert, der schattenlosen Atmosphäre ausgeliefert fühlen: „Sich leiblich spüren heißt zugleich spüren, wie ich mich in meiner Umgebung befinde, wie mir hier zumute ist“,72 und dies muss auch daran hängen dürfen, welche Pakte das Leibliche kulturell wie individuell eingehen will, kann oder muss. Solange ein Son-nentag alles hell und deshalb gut macht, der Schatten darin Zwielicht bringt, ins weniger gut Erkennbare abschattet, überschattet, beschattet, etwas oder jemanden in den Schatten stellt, bleibt hier die Gestimmtheit entsprechend weit, hebend: in Sonnenlust, und dort eng, drückend: in Schattenlast.73 Wie letztlich Verstehen bzw. Verständnis und Tun hergestellt werden, liegt an der konkreten Erfahrung, dem kulturell, kontextuell wie individuell beeinflussten Gemütseindruck und einem entsprechenden Gemütsausdruck als nicht vorab einstellbare, mit Takt füreinan-der deutungsoffen gehaltene, gesichtswahrende Ausdrucksbewegung. Wer einem Mitmenschen woraufhin auch immer begegnet, kann sich enger oder weiter an den Eigenarten, expliziten Wünschen anderer, den gesellschaftlichen Üblichkeiten, den eigenen Wünschen wie Möglichkeiten orientieren. Wer würdig-würdigende Wege zu gehen vorhat, muss sich mit diesem Dreieck auskennen und darin zu-rechtfinden, um sich im laufenden Umgangsprozess auf ein atmosphärisches Mit-einander besinnen zu können, also auf das, was atmosphärisch heiter bis wolkig erscheint, ergreift und sich leiblich regt. 2.2 Atmosphären zwischen Menschen

Wenn Schmitz die Suche nach lebendigen Formulierungen für ein Augenblicks-erleben anregt, dann schaut er dabei weniger auf das Erleben des Menschen als Mitmenschen. Ihn interessieren die leiblichen Regungen des Einzelnen, die sich dann unter anderem über solche polaren Begriffspaare wie Enge und Weite in solchen nach Schrecken, Angst oder Panik, Schläfrigkeit, Behagen oder Fröh-lichkeit schmeckenden Gefühlswörtern wiederfinden. Verspürt ein solches Selbst inmitten anderer, dass sich da im Raum etwas befindet, das ihm den Atem raubt, die Kehle zuschnürt oder das Herz aufgehen lässt, dann kümmert ihn weniger das Ich/Du-Wir-Befinden-in-unserer-Umgebung, vielmehr das Sich-Befinden-in-seiner-Umgebung und die unabhängig von anderen aufgefunden, wohl aber von bildungsideeller Feinfühligkeit angeleiteten, also doch nicht ganz unelastischen, Begriffe. Ein anderer Zugang ergibt sich, wenn man auf den Gebrauch der Worte fokussiert, durch die sich eine Atmosphäre ergibt, die „gerade das [ist], was man sich nicht wegdenken kann“,74 weil sie immer schon irgendwie da ist, um sich im Raum zwischen einander leibhaftig begegnenden, sich sprachlich verständigen-den, Menschen zu verlebendigen, gemeinsam zu werden:

Es ist demnach nicht das zum eigenen Befinden passende Wort an sich, das süß, scharf oder bitter schmeckt, sondern das „in einer bestimmten Umgebung, in be-stimmtem Tonfall gesprochen[e]“ und so oder anders von anderen gehörte, auf-genommene sowie in dieser oder jener Weise kommentierte Wort, wodurch ein bestimmtes atmosphärisches Miteinander geschaffen wird. Dazu kommt, dass ei-nem Wort, einer Formulierung auch deshalb eine besondere Atmosphäre anhaften kann, weil sie dort vom Sprecher gezielt hineininszeniert wird, um sich gegebenen-falls über den Sprechermoment hinaus ebenda zu verfestigen. Wer beispielsweise brav, kriminell, schwach oder humorlos erscheinen möchte oder muss, der braucht Wegleitung zu sich als Person in der gewählten oder zugewiesenen Rolle-als, einen Charaktertext, den er sich aus Vorlagen und eigenen Ideen zusammenstellt, den er einübt, antrainiert und für die vielen Premieren des Alltags vor sich und anderen eindrücklich werden lässt:

Herrscht in der Schulklasse ein ironischer, im Lauftraining ein heroischer, im Yo-gakurs ein esoterischer und am Familientisch ein betont fröhlicher Umgangston, dann kann es sein, dass Neuankömmlinge nicht sofort oder Alteingesessene mo-mentan nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen – da sie es nicht lesen können. Sind die Stimmungen nichts als Vereinbarungen der jeweiligen Gruppe, die auf-einander eingestimmt und nicht einstimmig gemacht werden sollen, dann hat der Takt hier nichts weiter zu tun, als seine lektürehelfenden Einsätze nicht zu verpas-sen. Wer sich beim Lauftraining den Fuß verknackst und mit zusammengepressten Lippen den aufkommenden Schmerz heroisch verschmerzt, der handelt verein-barungs- oder stilgemäß und muss irritiert bis unangenehm getroffen reagieren, sollte jemand aus der Gruppe dem verknacksenden Akt eine hellaufgeregte Auf-merksamkeit schenken. Andersherum ist jedes aufheulende, klagende, jammernde Gehabe ein klarer Affront gegen den beschlossenen Heroen-Pakt. Für Takteinsätze müssen nur jene Bühnen bespielt werden, auf denen die Kontaktierenden „Spre-chender und Angesprochener füreinander sind“.77 Ergibt sich augenblicklich eine Umgangsirritation, so entsteht nichts als eine Art von sprachloser Schwelle, auf der die eine oder der andere den von Hilfsbereitschaft über Mitleid bis Schadenfreude geprägten Text nicht mehr anbringen kann:

Im lebendigen Formulieren, im Spiel „mit elastischen, ja auch biegsamen Begriffen“,79ist der Mensch immer auch „wie ein anderer, gegen ihn austauschbar“,80 unterwegs im vielfältigen, dabei stets unwegsamen Ausdrucksgelände, das der Takt begehbar macht, ohne es zu betonieren. Haben Worte Atmosphären, die aber nicht wie Kletten an ih-nen hängen, sondern sich immer nur durch ihren jeweiligen Gebrauch präsentieren, dann sind die gefallenen Worte für die situative Praxis freigestellt. Die Töne mögen die Musik im Raum so stimmig machen, wie sie wollen; sobald auch nur einer irgendwie dagegen anstimmt, ist die gelebte Harmonie hinüber und alle vor Ort sind gehalten, sich mit den Misstönen zu befassen und frische Umgangsluft hereinzulassen, wollen sie keine radikal angreifenden oder wegduckenden Wege gehen: Der Griesgram am Familientisch, der exoterisch Gestimmte im Yogakurs, der Schmerzsensible im Lauf-training, der Humorlose im Klassenraum – sie alle sind nicht nur für sich, auch fürei-nander in ihren Umgebungen, da sie dort auf andere treffen, die ebenfalls irgendwie dort sind, wodurch sich ein miteinander verschränktes, sowohl für sich bleibendes wie aufeinander bezogenes Befinden einstellt. Wo es den eher allein bleibenden Men-schen, ob sie nun im Wattenmeer waten, im Fitnessstudio trainieren, auf einer Park-bank sitzen oder anderes für sich tun, möglich ist, sich bei allem unerwartet auf sie Zukommenden von anderen weitgehend unbeeinflusst auf ein bestimmtes Befinden einzustimmen, da bleibt das aus einem Zusammensein entstehende Atmosphärische in einem steten Unruhestand, da sich hier zwischen einander Erwartetes und Un-erwartetes, Fragloses und Fragwürdiges, Begreifliches und Unbegreifliches abspielt, was nicht nur das eigene Befinden in Umgebungen entsprechend beeinflusst:

Solange beispielsweise ein Trainingsstil über konkrete Durchhalteparolen eine heroische Atmosphäre herstellt, bleiben Schmerzsensible und Schmerzhelden im Training in einem unstimmigen Ich/Du-Wir-Befinden. Ein Läufer, der gegen den vereinbarten Stil seinen Schmerz zeigt, lässt sich hier leicht begrifflich abwertend als Schwächling oder Feigling einfangen und entsprechend stiltragend ausschließen. So gesehen wird jeder Schmerzausdruck im Training solange als unzumutbare, das atmosphärische Miteinander störende Geste begriffen und behandelt, wie sich die Läuferbande in ihrem Heldentum gefällt, denn ohne den selbsternannten Helden wird keiner der Läufer als Schwächling oder Feigling begreifbar. Aber so einfach ist es auch wieder nicht, da der trainierende Held wie auch der Feigling oder Schwäch-ling mindestens zwei ausdruckstragende Gesichter haben: Wer stilkonform seinen Schmerz verhüllt, dessen Heldengesicht mag für die einen tapfer oder mutig, für die anderen grausam oder arrogant wirken; wer dagegen offen seinen Schmerz nach außen trägt, dessen Gesicht kann für andere ebenso panisch bis hypochondrisch wie auch besonnen, fürsorglich oder aufmerksam aussehen und entsprechend ent-weder abfällig als schwach oder beifällig als weise aufgefasst werden. Dabei darf es hier gleichgültig bleiben, ob eine heroische oder sensible, grausame oder panische, tapfere oder fürsorgliche Atmosphäre als leiblich gespürte Anwesenheit erstes fun-damentales, möglicherweise sogar noch vorsprachliches, Wahrnehmungsereignis ist und damit vor allem Erkennen von Ereignissen jedweder Art steht, wie Böhme es sieht:

Angenommen, der exoterisch gestimmte Yogakursteilnehmer spürt beim Erstkon-takt eine Atmosphäre als Anwesenheit von Esoterik, oder anders: Er nimmt Esote-risches wahr, gewahrt esoterische Ausdrucksbewegungen.83 Dann spürt er nicht viel mehr, als dass für ihn hier und jetzt etwas nicht stimmt und füreinander unstimmig wird, weshalb er sich zu entscheiden hat, denn „Kommunikation zwischen Men-schen vollzieht sich immer in einer Atmosphäre, und es gibt eine spezifische Kom-munikationsform, die in der Produktion der gemeinsamen Atmosphäre besteht“.84So kann er weder wollen, mit purem Eigensinn seiner exoterischen Gestimmtheit noch den Vereinbarungen aller anderen zu folgen, sich ihnen voll unterzuordnen, sich selber bloß beizuordnen – solange Einstimmen, nicht Einstimmigkeit gefragt ist. Kommt hier der Takt dazu, erschließen sich seine Möglichkeitsspielräume aus der gegebenen Situation und dem entsprechenden Ich/Du-Wir-Befinden; außer-dem werden sie wesentlich davon beeinflusst, wie sehr er sich in dem Sachgebiet auskennt, um die esoterische Atmosphäre zu erkennen und dann einen anderen, etwa eher sportlichen, Geschmack in die Yogaübungen einbringen zu können. So verhält es sich auch mit dem Wunsch nach einem aufeinander abgestimmten Trainingslauf von Schmerzhelden und Schmerzsensiblen. Hier werden taktvolle Gesichtslektüren, mit Takt hergestellte Trainingsatmosphären nötig, in denen ein mutiger oder besonnener Umgang mit Trainingsschmerzen gepflegt werden kann, die es aber auch mit einem arroganten oder panischen, grausamen oder hypochon-drischen Zugang zum eigenen wie fremden Schmerz aufnehmen, solange er sich in exzentrischer Manier wahrnehmen und behandeln lässt. Dies angenommen, kön-nen die betont Fröhlichen den Griesgram am Familientisch gewahren und ernst nehmen, ohne sich von ihm und seiner Gestimmtheit einnehmen zu lassen, wie umgekehrt der Griesgram die betont Fröhlichen achtet, ohne sein Griesgrämiges zu verleugnen, oder der humorlose und die ironischen Mitschüler sich derart vonei-nander berühren lassen, dass sie zu einem lagebeschränkt stimmigen Umgangston kommen: Es gehört zu den unumstößlichen Bedingungen des Miteinanders, dass der Einzelne für die Atmosphäre zwischen einander zuständig bleibt. Er kann sie annehmen, mittragen, verändern, neu entwerfen oder auch ablehnen – er entschei-det immer mit und zeigt situativ, ob sie sein Glück oder Leid sein soll. So mag sie schon diffus bis markant im Raum sein, „bevor man ihn anredet“,85 um dann viel-leicht ungefragt über ihn herzufallen und ihn leiblich zu berühren – ihre Relevanz für das Miteinander zeigt sich erst im Zeigen und einem Erwidern, Kommentieren oder auch Zurückweisen, wodurch sie aktualisiert wie zerstört oder erneuert wer-den kann:

Wer einen Grundton hält, bemüht beispielsweise Floskeln oder erinnerte Ge-schichten aus alten, gemeinsamen Gruppenzeiten, um ehemals „geteilte Gefühle zu aktualisieren“.87 So setzt sein Dauerlächeln auf, wer nach längerer Abwesenheit in die gewohnt betont fröhliche Familienatmosphäre hineingerät, die irgendwann von einem Familienmitglied gesät, aufgenommen und allseits mitgetragen wurde. Indem er das dermaleinst Geteilte aktualisiert, geht er zugleich damit in die Ein-tönigkeit und schließt die vielfältigen Bewegungen des Augenblicks, seine eigene Lebendigkeit wie die der anderen aus. Bei derartigen Grundtonarbeiten macht der Takt nicht mit. Er weist atmosphärische Störungen nicht ab, sondern nimmt sich ihrer an, um in und schon nicht vor der Situation zu entscheiden, ob sie eine Chan-ce oder ein Risiko für die irgendwann einmal vereinbarte und gelebte Stimmigkeit darstellen, denn jede noch so grundtönige Gruppe hat viele Gesichter: Die Laufhel-den können mutig oder grausam, die betont fröhlichen Familienmitglieder lebhaft frisch oder unbekümmert auftreten. So gesehen sind der Schmerzsensible oder der Griesgram als atmosphärischer Störfall durchaus konstruktiv, wenn sie einen einst auf Grausamkeit oder Unbekümmertheit gesetzten und noch immer derart laufen-den Grundton bloßstellen. Was sich im Miteinander stets über Taktpraxen erzeugen lässt, das sind Räume für den spielerischen Umgang mit den zufällig wie plötzlich auftretenden und „hautnäher“88 kommenden Atmosphären, die erst im Moment des Betretens einer Umgebung durch die verschieden gestaltete Gewalt der jewei-ligen Situation konkret werden, wodurch sie sich auch begrifflich immer wieder neu, aber nie vollständig, einfangen lassen: Die moderne Kombination aus geraden Formen, grellem Hell und glatten Oberflächen in öffentlichen wie privaten Räumen mag den Menschenkörper frösteln lassen; ob daraus eine zwischenmenschlich kalte, ungemütliche, sogar angespannte oder ungesunde Umgangsatmosphäre wird, liegt wesentlich an den im Raum miteinander Umgehenden und nur auch an dem so genannten klinisch steril gestalteten Raum, in dem sich einzelne Fröstelnde hilf-los verwickeln mögen. Es müssen mindestens zwei Menschen sein, die einhellig frösteln oder auch im Kühlen sicher sind, die darauf bestehen können, dass es hier und jetzt unterkühlt oder sicher zugeht. Welches atmosphärische Miteinander ist oder sein soll, verantworten die miteinander Umgehenden, um Anschlussstellen finden und erfinden zu können oder auch in aller Offenheit oder Geheimhaltung zu beschließen, solche weder finden noch erfinden zu wollen. Wer über „vertrau-ensbildende Maßnahmen zur Verbesserung der Atmosphäre“89 im Raum zwischen Menschen beizutragen vorhat, kann dies nicht unabhängig davon tun, was die Be-teiligten unter einer vertrauensvollen Atmosphäre verstehen möchten, also worauf-hin das Miteinander etwa über ein „umformendes Eingehen auf fremde Erwartun-gen“ zu bilden ist:

Solche vertrauensbildenden Maßnahmen haben auf die gemeinsame Anwesenheit der Menschen im Umgangsfeld zu achten, die sie füreinander erreichbar, verfügbar und wechselseitig angreifbar sein lässt, sowie auf die dort omnipräsente Gewalt und „ewige Undurchsichtigkeit der konkreten Situationen“.91 Umformenden Praktiken darf nicht schon vor dem Umgang ein gesicherter Umgang miteinander nahe lie-gen. Bei aller Besonnenheit kann auf den Mut gesetzt werden, sich der Gewalt und Undurchsichtigkeit, dem Augenblick der zwischenmenschlichen Verkehrslage zu stellen, denn sich zu verstellen, umzuformen, zu verwandeln, Gesichter aufzuset-zen, in Rollen zu schlüpfen, den Ton die Musik machen zu lassen, das vielfältige „Spiel der Blicke“92 zu spielen, gehört zu den menschlichen Praktiken, den diversen Gefahren des Miteinanders im gesellschaftlichen Feld die Stirn zu bieten und für die jeweilige Lage Bestände zu sichern:

Die wichtigste vertrauensbildende Maßnahme ist daher der offengelegte und gleich wieder vergessen gemachte Schritt in die Reflexivität, also in die stets spielerisch bleibende Ernsthaftigkeit im Umgang. So erscheint es zwar naheliegend, solche Fra-gen wie „Was muss man tun, um eine kreative Atmosphäre entstehen zu lassen; was kann man dazu beitragen, dass in einer Familie eine gesunde Atmosphäre herrscht; wodurch wirkt eine Atmosphäre beruhigend, gastlich, für Kinder gedeihlich?“94 als schwer beantwortbar in den Umgangsraum zu stellen. Allerdings bleibt es eintönig und vielleicht ein wenig unmutig, eine Atmosphäre derart entschärfen zu wollen, dass aus ihr ein bloß Grundton-rettender Beitrag wird, der wie beim einseitig bleibenden entwicklungshelfenden Takt aus einer verhaltenen Haltung besteht, so als wäre der eigene Blick auf das für den anderen Zuträgliche seiner immer schon würdig:

Liegt nun der Fokus beim verhaltenen Umgehen-mit eher darauf, verwickelt zu wer-den, sich verwickeln zu lassen, damit sich etwas entwickelt, was abseits von Inten-tionalem verläuft, dann kommt es weniger auf die verhaltene Haltung zum Zwecke eines kreativen, gesunden, beruhigenden, gastlichen, gedeihlichen oder anderweiti-gen Miteinanders an. Vielmehr geht es um eine mit Takt Vertrauen schaffende Wir-Atmosphäre, in dem eine Zurücknahme auch als Hinnahme von Geschehnissen auftreten können.

Für das atmosphärische Miteinander kann demnach ein Aspekt besonders stark werden: Da ist der Gedanke von Schmitz, das Denken für das Plötzliche, merk-lich Widerfahrene begriffsfähig zu machen. Wer, „aufgeschreckt bei irgendeiner Verrichtung des täglichen Lebens“,96 von einer Empfindung wie Ekel, Freude, Lust, Schmerz leiblich ergriffen wird, ohne dies sofort zu begreifen, auf schon zurecht-gelegte, bedeutungsbelegte Worte zurückzugreifen, hält sich seiner Umgebung gegenüber offen, bleibt aber noch einsam im Sich-Befinden. Geht er zudem ins Zu-sammensein, dann kommt das Ich/Du-Wir-Befinden mit den Chancen und Risi-ken hinzu, die sich durch das gegenseitig Gezeigte für jetzt, nicht für später oder gar für immer, ergeben und zur weiteren Gestaltung aufrufen. Dabei kann es stim-mig wie unstimmig zugehen, denn der Einzelne muss nicht so bleiben, wie er sich mal gezeigt hat, selbst wenn er derselbe, und schon gar nicht, wenn er ein anderer sein will, etwa ein Feingeistiger unter lauter Grobschlächtigen. Bleibt es dabei, dass Menschen sind, was sie zeigen, dann zeigt sich, dass ihr Zeigen mal mehr, mal we-niger kommunikativ glückt, der Ekel des angeekelten, die Freude des freudigen, die Lust des lustvollen, der Schmerz des schmerzverzerrten Gesichts zu den „Be-wegungsgestalten von einer bestimmten Folgesinnigkeit“97 gehört. So gesehen wird „der Leib sekündlich geformt […] entlang der Wege, die man geht, oder der Ande-ren, die man trifft“,98 was sich zulasten gründlich kontrollierbarer Bewegungsein-heiten auswirkt, mag der Wunsch nach Erhalt einer konstanten, harmonisch durch-wirkten Ordnung mitsamt einem endlos haltbaren wie glaubwürdigen Selbstbild so vorhanden wie verständlich sein. Gestaltet sich also der Leib beständig angesichts des und der anderen, so kann es sein, dass sich im Alleinsein-mit der plötzlich von etwas Angeekelte als olfaktorischen Feingeist, im Zusammensein, im Blick anderer, als Mimose erlebt, und damit „das eigene begrenzte Für-sich-sein“99 erkennt. Wie der Umgang dann tatsächlich verläuft, inwiefern er sich inmitten einer Umgebung verwickeln lässt, damit sich etwas entwickelt, und welcherart Atmosphäre dabei entsteht, hängt unter anderem davon ab, welchen Platz das Hinnehmen, Erdulden, Erleiden des Mit-ihm-Geschehens erhält, hier ohne bei seiner Verhaltenheit, seinen Zurücknahmen im Umgang-mit auf einen meisterlich oder gefühlsgewiss abmil-dernden bis aufhaltenden Takt zurückgreifen zu können. Die folgenden Erwägun-gen nehmen deshalb für die Leidensfrage jenen gedanklichen Faden auf, der über den hilfreich-heilsamen Takt bereits gelegt wurde, mit dem für ein gedachtes frem-des wie eigenes seelisches Wohl andere in ein geschütztes Leiden gebracht werden. Jetzt geht es etwas abseits von Intentionen und Interventionen darum, was sich für die Menschen im Kontakt mit ihrer Umgebung situativ ungezielt wie ungeschützt ergibt, so dass sie sich dem nur noch kampflos ergeben können. Hierfür werden einige am Phänomen orientierte Ideen zum im „Dickicht der Wahrnehmung“100Widerfahrenen aufgenommen, das für davon Betroffene nichts weiter als eine er-leidende Bewandtnis hat101:

Wer den Umkleideraum einer Turnhalle betritt, um dort in eine schweißgeladene Dunstglocke und daraufhin ins „Fertigsein, Nichts-mehr-anfangen-Können“ zu ge-raten, mit dem geschieht etwas, vielleicht überkommt ihn so etwas wie Ekel, er ringt nach frischer Luft, verspürt Übelkeit, will fliehen. Im „Dickicht der Wahrnehmung“ scheint er an eine Grenze gestoßen, ihm etwas zugestoßen zu sein, ob er sich nur in seiner oder auch in gemeinsamer Umgebung bewegt, wobei dort durch die Vielen vieles weitaus undurchsichtiger ist, weshalb er mehr als im Alleingang darauf ange-wiesen bleibt, das Wahrgenommene aufhellen und feststellen zu können. Nur ist das mit ihm gleichwie Passierte kein Hindernis, das er sogleich munter umgehen oder aus dem Weg räumen, die Gewalt der konkreten Lage keine freundliche Offerte, die er prompt ablehnen oder annehmen kann, selbst wenn er gezielt in die Situation hineingeht, um dort von einem individuellen wie kulturellen, sein aktuelles Erleben grundierenden Erfahrungsgemäß auszugehen. Vielleicht begreift er auch sofort, warum der Geruch Ekel, nicht Neugier, bei ihm auslöst und hat die Lage unmittel-bar im Griff, aber sicher ist das nicht, da nicht immer alles, sofort, wie gedacht und gemacht versicherbar ist: „Nichts hat mich“103 taugt als Wunsch, widerspricht aber der alltäglichen Praxis. So gesehen erfährt er im Kontakt mit seiner Umgebung, dass sich ihm Hindernisse anbieten und Geschehnisse von ihm hinzunehmen sind. Im anbietenden Fall kann er mit dem gewahrten Geruch, dem wahrgenommenen Ekel, der Übelkeit und dem Flüchtigen noch etwas anfangen – den Raum verlassen, die Luft anhalten, ein Fenster öffnen, sich quer zur gegebenen Lage stellen:

Während das sich querstellende Anfangen-Können sein veränderbares Tun zeigt, bringt sein Nichts-mehr-anfangen-Können zum Ausdruck, dass er als verwundbar Geborener etwas mit sich machen lässt, das nicht etwa keine, weil momentan weder dem Erkennen noch dem Tun zugängliche, sondern eine erleidende, sein Machen durchquerende Bewandtnis hat,105 nur für jetzt, nicht für allemal. Angenommen, die erleidende Bewandtnis dessen, was dem Menschen beim Kontakt mit seiner Um-gebung widerfährt, hat einen eigenen Platz im Feld eines Wahrnehmens, insofern es sich von anderen wahrnehmen lässt, dann sind die Positionen des Wahrgenommenen und des verwickelten Körpers noch offen. Möglich ist, den Schweißgeruch als „schlichtweg ekelhaft“106 zu etikettieren, ein „Wovor des Ekels“ als „Qualität des in-tendierten Objekts“107: Der Umkleideraum ist dann eklig, wie er genauso auch groß, eng oder klein sein kann, was der dort Eintretende zunächst nichts als gewahrt, bevor er sich dorthinein verwickeln und leiblich betreffen lässt, „insofern er die Einwirkungen eines Wahrgenommenen erleidet“:

Da er beim Eintritt in den Raum mit seinem Körper unmittelbar an das dort ge-radezu Ekelhafte anstößt, stößt es ihm von dort zu, er stößt sich daran und sein Eindruck von Ekel kommt nicht als leibliches Spüren unvermittelt von Innen, son-dern vermittelt von der Welt her. Ist allerdings nicht nur er mit dem Ekelhaften und seinem Ekel im Raum, kommt einer dazu, der ihn mit spöttischem Gehabe als Mimose in Blick nimmt, dann stößt er zudem an einen Mitmenschen, nimmt sich als einer unter ihnen wahr. Berührt von der dinghaften wie zwischenmenschlichen Atmosphäre, gerät das für ihn gebräuchliche Wovor des Ekels mitsamt seiner ab-lehnenden Körperantwort in Bewegung. Er erfährt einen abweichenden Gebrauch des von ihm Wahrgenommenen und darüber seine spontane leibliche Regung als bloß eigensinnig oder schon voreingenommen,109 so wie der Spötter seinen Spott als auf sich beschränkt, weniger mitmenschlich verschränkt, erlebt. Erst im weiteren Zusammensein ergibt sich dann für alle Einzelnen die Gelegenheit, bei ihren selbst-bezogenen leiblichen, sozialen Antworten zu bleiben oder sich auf weltoffene Ich/Du-Wir-Wege zu begeben. Wie auch immer sie entscheiden, das Widerfahrene ist hier kein im allgemeinen Außenraum isoliertes Ding, so wenig wie ein im eigenen Innenraum eingekapseltes Leib-und-Seelen-Weh. 2.4 Der sich-einlassende Takt

Bisher ist gesagt worden, dass der Takt seine spannungsverhandelnden Einsätze dort hat, wo es in der Gewalt konkreter Situationen um ein würdig-würdigen-des Miteinander geht: im aktiven Widerstand gegen ein erstarrendes, weltraum-erkaltendes Machen, für lebendig bleibende Ordnungen im plötzlich stockenden Verkehrsleben. Die Frage geht jetzt dahin, welche Position der Takt einnimmt, wenn nicht dagegenhaltendes Tun, vielmehr widerfahrenes Erleiden, im Fokus steht. Angenommen, das Geschehene geschieht mit dem Menschen und der Takt steht dem Lassen bei: Wer vom Ekelhaften berührt wird, um davon berührt zu werden, eine Angst, einen Schmerz, ein Glücksgefühl, einen Geruch in der Nase hat, um sich zu ängstigen, verletzt, glücklich zu sein, zu riechen, der macht nichts weiter als das, wie er im Dickicht herumtastet, um dort herumzutasten. Was dem Einzelnen dort geschieht, überfällt ihn stets vermittelt von der Welt her, ein über Ausdrucksbewegungen laufendes „Anschließen an und in einer Situation“.110 In-sofern das ekelverzerrte Gesicht ein Leiden erkennen lässt, hat er – wie beim Ins-Lachen-Fallen, Sich-ins-Weinen-fallen-Lassen – die Antwort auf die Frage über-nommen, die er anders gerade nicht geben kann. Hat der Körpermensch seine Ausdrucksbewegungen nicht in der Hand, fällt er zwar als Werkzeug gewählten Tuns aus und die Lage bleibt unbearbeitet, aber es bleiben ihm erleidende Spiel-räume als Umgang mit seiner Ohnmacht. Was er dann vorführt, muss weder un-bedeutend sein noch zwingend überwunden werden, sondern hat einen eigenen Platz im Feld des Ausdrucks, wie der eindrücklich werdende Ekel passiert, den Körper bewegt und dabei allerhand unter der Hand anrichtet, etwas Unergründli-ches macht, was im Leiden selber seine guten Gründe hat. Das Leiden zu erleiden, weil das Geschehene geschieht, kann dann durchaus heißen: beim Lassen noch ein Machen, in Lagen der Ohnmacht noch eine Macht zu zeigen, die mit Takt Anschlüsse finden lässt:

So gesehen und mit dem Exzentriker, der in keiner seiner Lagen aufgeht, sich aber zu jeder von ihnen auf Abstand und Ablöse bringt, ist ein bisschen Tun immer, denn auch ein aus dem Leiden heraus geschehenes Ausdrucksgeschehen ist eine ausdrückliche Antwort, zwar ohne einen gedachten oder gemachten, aber mit leib-lichem Sinn:

Taktsituationen und -beziehungen achten auf diese „sehr eigentümliche Mitte“, da-mit auch Umgangsleute ein solches Geschehen mit sich geschehen lassen können, ohne dabei an fester Hand von inneren wie äußeren Absichten geführt zu werden, denn wer sich unabsichtlich einem reibungslosen Umgang entgegen bewegt, ist immer auch auf ein dies mittragendes Umfeld angewiesen. Mit einem von Übel-keit gezeichneten Gesicht eine Leidenssituation für sich zu gewahren, ohne damit ins tätige Tun zu gehen, ist nur das eine. Etwas anderes ist, mit diesem Gewahren und Lassen den zielgerichteten Mitmenschen in die Quere zu kommen. Sollen Lei-dende Spielräume für das mit ihnen geschehene Ausdrucksgeschehen erhalten, so ist nach Anschlüssen anderer an und in der Lage zu schauen, insofern das eigene Leiden nicht verbleiben oder vertrieben, auch nicht zum Leiden anderer werden soll, sondern nur ein hier-und-jetzt, nicht anderswo und später, gültiger Ausdruck des anderes als gedacht mit sich machen lassenden Körpers sein darf. Denn ein solches unbeabsichtigtes Geschehen muss nicht nur mit Schrecken, es kann auch mit Neugier erfüllen. Dann verhält es sich damit wie mit einem verborgen mitlau-fenden Wunsch, im Verlauf des Umgangs mit sich, anderen und anderem möge et-was Unerwartetes passieren, sich Erstaunliches von-hier-nach-da bewegen. Dieses Wünschen wiederum lässt dem Leiden Raum für Macht und Ohnmacht, Lust und Schmerz, Süßes und Bitteres. So mag zwar alles Leiden dem laufenden Betrieb ge-wählter Taten wie auch immer in die Quere kommen; gewürdigt gehört es zum fes-ten Bestand des mit dem Machen etwas machenden, das Machen durchquerenden Umgangs im Spannungsfeld von Ordnung und Leben. Der spöttische Kommentar des Trainers, der den Angeekelten zu einer dem Sport nicht zugehörigen, daher ungehörigen Mimose macht, nicht zu einem olfaktorischen Feingeist, ist dann inso-fern ohne Takt, als er stur den Menschen der Tat, nicht auch den des Leidens, meint. In einer mit Takt gehaltenen Atmosphäre, belebt vom Einzelnen im Miteinander, wird man immer etwas tun und erleiden, machen und mit sich machen lassen. Si-cherlich kann der Sportmensch in der Umkleide einsam vor einem Ding stehen, mit und unter Dingen sein, von diesen berührt werden, umwölkt von dem dort typischen Geruch, und dabei in aller Vielfalt ins Leiden geraten, aber sein Leben lebt er nie ganz für sich, immer schon als einer-unter-anderen:

Insofern der eine Einzelne mit vielen anderen Einzelnen in einer Ich/Du-Wir-Umgebung lebt, die für sie vielleicht ab und zu, aber nie an sich, heimelig wird, in der mit ihnen durch andere immer auch etwas geschehen kann, für das sie noch einen mit anderen teilbaren Ausdruck finden möchten, sind Kontakt und Berüh-rung durchaus wesentliche „Vorbedingungen der Sphäre menschlicher Existenz“. Dies angenommen, hat das Umgangsleben Kontakt- und Berührungspraktiken (sowie Räume dafür) nötig, damit wechselseitige Beziehungen geknüpft, situative Anschlüsse gefunden werden können:114

3 Der kontaktierende Takt

Gewöhnlich ist der Takt darauf beschränkt, gegebene Beziehungen und Situatio-nen von Kontakt und Berührung schonprogrammatisch zu regulieren, die Unruhe zu beruhigen, das Scharfe zu entschärfen, das Unsanfte zu besänftigen, den Un-frieden zu befrieden, das Wildgewordene in der Ordnung zwischenmenschlicher Angelegenheiten von Meisterhand oder mit Gefühlsverstand zugunsten des Wohls anderer einzufangen, damit es im weiteren Umgangsverlauf gewusst oder gefühlt unverfänglich zugeht. Der taktisch weise gesichtswahrende Takt, der Umgangsleute immer nur miteinander, situativ und ebenso schonend wie ermöglichend ins Um-gangswissen, außerdem höchstens in kulturgemäßer Natürlichkeit ins Umgangsge-fühl, kommen lässt, lebt nicht nur von Beweglichkeit, auch von Berührbarkeit zwi-schen Menschen, worüber er Kontaktsituationen entstehen lässt. Liegt noch nahe, Kontakt und Berührung in einem übertragenen und hautfernen Sinn an den Takt zu binden, ihn für das Entschärfen tötender Blicke oder spitzer Worte zu rufen, so scheint er bei einer Handgreiflichkeit außen vor zu bleiben. Wird ein solcher Um-gang allerdings nicht als blanke Gewalttat, sondern als Alltagsanfassen verstanden, so kann er doppelt gefragt sein: Er setzt dort an, wo Beziehungen von Kontakt und Berührung von ihm mit gebildet werden, damit es überhaupt zu einem sozialen und leiblichen Miteinander kommt, in dem sich eine spontan auf den Leib rückende bis unter die Haut gehende Berührung ereignen, ein derartiges „Berührungsereig-nis“116 stattfinden kann, über das er sich schließlich selber mit bildet:

Menschen bilden sich und werden gebildet über die genannten, hier aber nicht nur blind tappenden „Organe des Takts“, 118 durch Berührung und damit auch über den Tastsinn als Kontaktsinn, also über die Beziehung zu sich und den anderen: über „Kon-Takt“ 119 als Sinn für „Mitberührung“.120 Die „taktile Wurzel“121 ist hier nicht einfach herauszureißen, sie nährt und trägt den zwischenmenschlichen Verkehr. Dies vorausgesetzt, ist der Tastsinn für Kontaktbeziehungen und -situationen zu erhalten und darüber der Takt mit zu gestalten, ob es nun untereinander zu einem „direkten Kontakt der Körperkonturen“122 kommt, das Zugreifen unmittelbar greift, angreift und darüber übergriffig wird, oder auch über hautfernes Kontaktieren so-oder-anders trifft und betroffen macht. Wer demnach seine gleichwie motivierte und ausgedrückte Ansage dazu mit einem konkreten Handgriff handhabt, in den Griff bekommen will, mag sich im zupackenden Moment als ein mächtiger Macher erfahren. Angenommen, die Sportlehrperson im Praxissemester, die Kursleiterin im Geburtsvorbereitungskurs oder der Gast beim philosophischen Stammtisch, sie alle legen zu ihren fernsinnigen Gesten noch Hand an den anderen, an die Studen-tin, den werdenden Vater, den Gastgeber, dann scheinen sie zunächst diejenigen zu sein, die sowohl die Situation als auch die Beziehung in der Hand haben. Allerdings treffen sie in ihrem über die Hautgrenze gehenden Machen kein Ding oder fern-gerücktes Menschenwesen, dass ihnen weitgehend die manipulierende Oberhand überlässt. Sie haben es im Moment ihres hautnahen Handhabens eher weniger mit „Gebilden begrenzter Sprödigkeit, die gewisse Möglichkeiten gewähren und andere versagen“,123 zu tun, mit denen sie dann nach Belieben oder gemäß einer Absprache im vorgegebenen Manipulationsspielraum umgehen können. Legen sie gleichwie Hand an, haben sie zunächst und vor allem ein Haut-an-Haut-Gegenüber vor sich, mit dessen unberechenbarer, ihnen direkt etwas widerständig oder auch erleidend entgegensetzender, sie darüber entmachtender Antwort sie noch im selben Mo-ment zu tun bekommen:

Folgt aus dem Berühren anderer unmittelbar, ohne Umwege über distanzvermit-telnde Wege, etwa über etwas aufdeckende wie verschleiernde Worte oder Blicke, dass diese anderen sie berühren, sie von anderen mitberührt werden, dann bleiben sie im Kontakt nicht für sich, sondern erschließen ein gemeinsames Kontaktfeld, in dem sich etwas zwischen ihnen rührt, dem die einen wie die anderen sich irgendwie stellen müssen, denn was „sich berührt, kann sich ineinander schieben, umfan-gend umfangen, eindringend, umhüllend, Einlaß suchend und gewährend, Einlaß erzwingend, ein Ausweichen verhindernd“,125 auf das sie sich also einzulassen ha-ben, ohne sich dem allerdings vollständig überlassen zu müssen:

Das Einmalige des Antastens im Sinne von Mitberührung zeigt sich demnach nicht nur in der über Druck und Widerstand laufenden Ich-und-Du-Erfahrung beim sanften oder kräftigen Zusammenstoß mindestens zweier Körper, der seine einzig wahre Bedeutung schon in sich trägt, die nur noch von dem einen oder der anderen abgerufen werden muss, damit es untereinander verständlich zugeht. Ist es so, dass „Berührungsgesten, etwa das Auflegen der Hand auf die Schulter oder den Arm des anderen, polysemen Bedeutungen unterliegen“127, dann istein sanftes oder kräfti-ges Auflegen nicht nur unvermittelt da, sondern meint dieses-oder-jenes, kann als beruhigende, mitleidige, freundliche, lästige, bedrängende oder anderes meinen-de Berührung gelesen werden. Solange hier nichts im Vorfeld gleichgeschaltet und stillgestellt wird, bildet sich im Zusammenstoßen ein sich gegenseitig anstoßendes Ich/Du-Wir, welches sich mit seinen individuellen, kulturellen sowie kontextuellen Befangenheiten konfrontiert und aufeinander einstimmt. Damit ist nicht allein die geistige, auch die leibliche Ordnung in ständiger Bewegung, womit Umgangsleute mit eigenen wie fremden „Voreingenommenheiten des Leibes“128 rechnen müssen. Erhält der Takt eine über den vermittelten Leib laufende Relevanz, um Berührungs-ereignisse für das einander Eindruck Machende und einander zum Ausdruck Ge-bende zu ermöglichen, dann gibt es hier keinen absoluten Schutz vor Irrtümern, fast wie beim hautfernen Mitberühren.129 Nur erleiden Hautkontaktierende ihre Irrtümer nie allein für sich, sondern zusammen mit anderen, womit sie direkter verhandelbar sind, wenn auch mit einem deutlich kleineren, aber nicht mit keinem, das Reale und Ideale miteinander vermittelnden, hier irrealisierenden,130 Spielraum für das Harmonisieren und Problematisieren, um ihre hautnah verlaufenden Irrtü-mer zu Erfolgen, ihre Erfolge zu Irrtümern zu machen.

So gesehen sind harmonische wie problematische Berührungen „einerseits etwas Grundsätzliches (eine grundlegende Erfahrungsdimension) und zugleich etwas ebenso Unbestimmtes wie Banales“.131 Insofern sie als Mitberührungen gegenseitig über den eigenen und anderen Leib erfahren werden, lassen sie füreinander etwas Unbestimmtes im Grundsätzlichen, eine fern bleibende Nähe oder eine nah kom-mende Ferne und damit einen „Moment des Nicht-selbst im Selbst“132 übrig, durch den sämtliche Alleinherrschaften quergetrieben oder auch durchquert werden:

Berührende belegen somit immer eine Doppelrolle. Sie sind mächtige Kontaktie-rende und zugleich ohnmächtige Kontaktierte. So ist das Berühren als Mitberühren stets eine „stumme Antwort auf implizite Ansprüche und Angebote des Berühr-ten“,134 mit denen sie in einer Kontaktlage rechnen müssen, die sie auf sich zukom-men und füreinander sein lassen, auf die sie sich einlassen, ohne sie jemals ganz erfüllen und annehmen zu können bzw. zu müssen, was für den dies unterstützen-den Takt bedeutet, „sich in einer offenen Situation aufzuhalten, ohne die Offenheit dieser Situation ausräumen zu wollen, ob dies nun die zu gewinnenden Einsichten, die zu verfolgenden Ziele oder die zu erfüllenden Wünsche betrifft“135:

Darum geht es mit-Takt: sich über mit-Berühren in der Welt zu bewegen, wech-selseitige Kontakte zu knüpfen, Beziehungen weltoffen zu halten, um für sich und einander einen „Aufenthalt in unabsehbaren Möglichkeiten“137 zu schaffen, was bei aller Unabsehbarkeit oder Unbestimmbarkeit nicht etwa ein richtungsdiffuses, wahlloses Tun bedeutet, vielmehr „sich im eigenen Wünschen und Wollen weiter-hin bestimmbar zu halten“138, denn sie „haben keine Wahl, ob sie die Wahl haben wollen. Sie stehen vor der Wahl, sich diesen oder jenen Möglichkeiten zu überlas-sen.“139 So sind einander körperlich Berührende mit einer von Kultur geschriebe-nen Natur ihrer Körper unterwegs, auch im Kontakt mit ihren Hautoberflächen, „in der leichten, knisternden Berührung mit dem, was aus dem vergänglichen Moment entsteht“140, was sie sich gegenseitig zu Lesen geben, ohne es bei aller Ergriffenheit gründlich begreifen zu können:

So soll es hier sein, auf dass sich im Mitbewegen und Mitberühren – denn „An-fassen ist immer auch mit Bewegung verbunden“142  – der über den konkreten Leib laufende „szenische Charakter der Erfahrung, deren offene Ränder sich nicht regel- oder systemgerecht abdichten lassen“,143 erhalten mag. Dieses Undichte gilt es in Umgangslagen über „Techniken des Mittelbaren zur Schaffung von Freiheitsgra-den“,144 so wie hier den kontaktierenden Takt, undicht zu halten, damit es möglich bleibt, zueinander „eine kritische Nähe in punktueller Berührung“145 aufzunehmen oder auch Asymmetrien zu schaffen, Intentionen zu durchkreuzen, um die Nahen fern zu halten und die Fernen näher kommen zu lassen, „dies in der doppelten Richtung“146:

Wer derart in Kontakt geht, sich mit Takt berührt, lässt sich aufeinander ein, nicht um zu bleiben, sondern um sich im selben Moment wieder loszulassen und so wei-ter. Das Mitberühren schließt und öffnet im Wechsel zwischenmenschliche Türen, macht, dass sich die Menschen im gemeinsam geteilten Raum über hautnahe wie auch hautferne Gesten „mit gleichviel Gewalt wie Fingerspitzengefühl“148 ergreifen, damit dort Wildes und Zartes, „Distanz, Klugheit, Kampf “149 vor sich gehen, ein-drücklich und füreinander ausdrücklich werden kann, „was wie begrenzt ist“.150

So verweist gerade der Hautkontakt auf das nie voll versicherbare Umgangsleben, lässt das im Kontakt Berührbare auch riskant sein, gelegentlich gewalttätig wer-den, voll treffen und betroffen machen, unter die Haut gehen, Freiheitsgrade ein-schränken: Aber jetzt aus Gründen von Welt-und-Mensch-Schutz-und-Schonung alles auf ein Berühren ohne Berühren zu setzen, mag dort ein Weg sein, wo der Tastsinn als weltoffener, eigenhändig kontrollierbarer Kontaktsinn durch virtuel-le Sinne vollständig abgelöst werden soll, die kontaktierende Bewegung der Fin-gerkuppen zum widerstandsarmen und insofern menschlich einsam bleibenden Handwerk antastender Tastaturen, abtastender Bildschirmoberflächen wird, was es mindestens ungemütlich macht, wenn „die Instanzen der Kontrolle zunehmend ‚ungreifbar‘ erscheinen, uns aber gleichzeitig auf die Pelle rücken und unter die Haut kriechen“.151 Davon wird hier aber noch nicht ausgegangen, sondern der taktil verwurzelte, direkt über den berührbaren, divers voreingenommenen Leib laufen-de und derart unberührbar haltende Kontakt mit und für den Takt gestärkt, der den Raum lebendig hält zwischen den beiden Anweisungen: „Man muss berühren. Man darf vor allem nicht berühren“.152 Damit kann dem beruflichen wie privaten Berührungspraktiker aufgetragen werden, Praktiken für ein Mitberühren an zwi-schenmenschlichen Grenzen zu finden, damit es für das dort eindrücklich und aus-drücklich Werdende genug Spielraum gibt, darauf achtend, in der wechselseitigen Lektüre „von dem Für und Wider binärer Entscheidungsprozesse abzurücken und auf Nuancen zu achten“.153 3.2 Der handhabende Takt

Ist es so, dass bei entmaterialisiertem bzw. ganz ausfallendem Hautkontakt unter anderem entfällt, was sich darüber immer wieder an leiblichen und sozialen Ord-nungen für einander bildet, stellt sich die Frage: Was passiert mit und zwischen Menschen, die über längere Zeiträume Kontaktverboten ausgesetzt sind? Wie ge-hen sie miteinander um, wenn sie sich zwar hören und sehen, aber nicht mehr oder nur eingeschränkt anfassen dürfen? Welche Umgangsformen wählen sie und mit welchen Folgen, wenn sie sich vorwiegend virtuell begegnen und das konkret Wechselseitige ganz ausfällt?

Abgesehen davon, dass es so viele Kontaktarten wie Menschen-in-Situationen gibt, also von einer körperkommunikativen Vielfalt auszugehen ist, sich eher distanzier-ter Haltende von neuronalen Leerläufen vermutlich weniger berühren lassen als Nahbedürftige, und die sozial-leiblich Gebundenen immer auch Kulturmenschen sind, die Nähe und Ferne über sehr verschiedene „Berührungsordnungen“155 her-stellen können, wird bei einem nachhaltig reduzierten oder gar ausfallenden kör-perkonturierenden Kontakt ein Wandeln des leiblichen wie sozialen Umgangs und damit auch des Takts denkbar.

So wird hier angenommen, dass hautkontaktierendes Antasten die Menschen einander leiblich derart nah bringt, dass sie sich unmittelbar und gegenseitig zu erkennen geben, was das Antasten mit ihnen macht: was sie selber dabei wahr-nehmen, empfinden oder fühlen und welcherart Wahrnehmung, Empfindung oder Gefühl sie beim Gegenüber wahrnehmen, empfinden oder fühlen. Wer in diesem Sinne jemanden antastet, bekommt im antastenden Moment über den spontan ge-wählten oder hinein gefallenen Ausdruck des Angetasteten einen sofortigen Ein-druck von seinem eigenen und über die Hautgrenze gehenden Antasten, was für das Miteinander Chance und Risiko zugleich ist, da es Wünsche, aber kein für alle verbindlich einsetzbares Wissen darüber gibt, was für sich und einander passieren soll bzw. kann. Antastende stehen damit immer und überall vor der Frage, wie sie selber berührbar sein und andere berühren wollen, „um sich und andere auf eine bestimmte Weise erfahren zu können“,156 ausgehend davon, dass sie auch „über Be-rührungen geformt, bestätigt, in Frage gestellt“157 werden. Wird beispielsweise ein körperlich situativ auf Fremdhilfe Angewiesener ungefragt grob gefasst, was ihn fassungslos macht, also aus der Haut fahren lässt, weil ihm dieserart Zugriff zu weit geht, dann zeigt sich ein vom Hautkontakt direkt ausgelöster sowie derart über-tragener Grenzübertritt. Wer einander buchstäblich auf die Pelle rückt bis unter die Haut geht, hat sich zwar nicht direkt körperlich berührt, keine Hautgrenze über-schritten, aber über den Leib geantwortet und seinem Erleiden Widerstand geboten. Vorausgesetzt, derartige Redensarten werden nicht nur unter sterilen Laborverhält-nissen entwickelt, sondern auch oder wesentlich aus dem laufenden, glimpflich wie gewalttätig oder anderswie verlaufenden, zwischenmenschlichen Verkehr geholt, dann ist Berührung als Mitberührung eine „reale Erfahrungsweise“158 im konkreten und im übertragenen Sinn. So gesehen erfährt der über das grobe Anfassen seine Fassung los Gewordene einen Bruch mit der schützenden Körperhülle, ein Ent-blößen, worüber sich ein Enthüllen seines Gesichts der Würde, eine Bloßstellung ergeben kann. Denn gewöhnlich trägt der zumeist stoffbedeckte Mitmensch täglich seine Haut zu Markte, über die er es nicht nur mit, die ihn auch in der Welt hält:

Kulturell, individuell und kontextuell eingeschrieben, also divers voreingenommen, sind nicht nur für alle offen sichtbare Narben aus so-oder-anders verheilten Wun-den, vielmehr vor allem solche vernarbten Körpereindrücke, die sich erst im antas-tenden Tun (wieder) rühren, diverse Ausdruckswege nehmen und füreinander zum Lesen anbieten; „es hilft also nichts, einfach nur eine bestimmte Intention mit einer Berührung zu verbinden, oder auf ein eindeutiges Streicheln zu setzen“160:

Abgesehen davon, dass ferne wie nahe Sinne des Menschen mit vielerlei für sich und andere einnehmenden Tricks arbeiten, auch hautnah nichts unvermittelt, im-mer schon vereinnahmt, auftritt, bleibt das hier für das Umgangsleben Exempla-rische am Tastsinn oder auch an den „Hautsinnen“162: die Nähe, die im Berühren zugleich eine doppelte Ferne einzieht, zu sich selber und zum anderen, wodurch die schon genannten undicht zu haltenden Ränder entstehen, von denen die Umgangs-würde und mit ihr der daraufhin kontaktierende Takt leben. Der Hautkontakt hält dann füreinander wach, dass es im Miteinander nicht um das Ziel einer Umgangs-reibungslosigkeit geht, sondern stets um das endlose Finden von Berührungsstellen für ein wechselseitiges Annähern und Entfernen, Binden und Entbinden. Da sich Hautkontakte nicht an sich, höchstens in ihren festgelegten Extremen, darauf fest-legen lassen, gut oder schlecht, harmonisch oder problematisch zu sein, also sich naturgemäß kulturell betrieben in den Nuancen dazwischen bewegen, gibt es hier kein Handhaben ohne ein Erleiden. So zeigt gerade die alles „begreifende Hand“,163dass sie zu keinem dinglichen oder menschlichen Umgangszeitpunkt alles voll im Griff hat; immer rutscht ihr beim plötzlichen Greifen auch etwas aus der Hand oder sie greift daneben, was befremden, verärgern oder ängstigen und auf aller-hand mangelausgleichende und selbstschützende Ideen bringen mag, denn wem eine Umgangslage entgleitet, dem kann viel unter der Hand passieren. Das sozial und leiblich vermittelte, unmittelbar einsetzende und wechselseitig verlaufende Mitberühren lässt dagegen nicht vergessen, dass in dem nicht Gründlichen das zu schützende Unergründliche, das allseits nicht greifbar Unbegreifliche liegt, worüber es untereinander weltoffen und einander so würdigend wie füreinander würdevoll zugeht. Im und für das Umgangsleben sind von daher immer Formen der Mitbe-rührung zu finden, die den Mut zu Grenzgängen zwischen Gutem und Ungutem, Harmonie und Disharmonie, Krieg und Frieden haben: für den Reichtum eines sozialen und leiblichen Umgangslebens, gegen die Bewegungen einer „Verseelung und Entleiblichung“164 von Empfindungen oder Gefühlen, die ihre taktilen Bindun-gen absichtlich oder versehentlich verleugnen, sei das kontaktierende Antasten nun mit Händen oder anderswie körperlich und darüber verbal, mimisch, gestisch zart bis grob, beherzt bis besonnen, harmonisch bis problematisch. 3.3 Gutes Berühren, gutes Benehmen

Mitberührung hat demnach ein wechselseitig körperkonturierendes Ergreifen und damit die Tastsinne nötig, damit der Kontakt nicht auf einem eigensinnigen und geistreich abgehobenen seelenbewegten Ergriffensein sitzen bleibt, einem Wahr-nehmen, Empfinden, Fühlen, das an keine seiner dinglichen oder leiblichen Gegen-über mehr gebunden ist. Menschen kennen zwar nahe und ferne dingerfassende Wege, die aber nicht gleichrangig verlaufen, wenn der Weg des gebundenen Füh-lens dem des davon befreiten ästhetischen Erscheinens zuarbeitet, um in der Fol-ge das Gefühl von den Dingen zu entbinden: Das händische Tasten ist dann nochunverständig, es berührt etwas unmittelbar und wird dem Gefühlssinn konsumie-ren, wohingegen das visuelle Berühren schon verständig ist und fasst etwas frei ver-mittelt über den ästhetisch produzierenden Schein ins Auge. Das eine lässt an das schlimmstenfalls täppische, tastende und versuchende, dabei auch durchaus erfolg-lose, das andere an das behände, kluge und darüber sittliche Benehmen denken. Darin steckt insofern ein Auslassen, als eine mit anderen in Hautkontakt gehende, alles ergreifende Hand auf ihrem Weg über Fühlen und Empfinden in ein auf Frie-den festgesetztes Seelenleben Machtverluste erlitten und dort einen entsprechend passiv bleibenden Kontakt geprägt hat, an den sich der gefühlsgewisse und fremd-schonende Takt noch immer anlehnt:

Hier ist der Tastsinn kein „aktive[r] Erschließungssinn“,166 der sich erkennungs-dienstlich herantastet, etwas sicherstellt, einander versichert, wieder verunsichert und so weiter, kein Kontaktsinn, schon gar nicht mit dem Takt als Sinn für Mitbe-rührung, der davon lebt, dass ihm beim Antasten auch etwas entgleitet, kein Haut-Sinn, der sich aktiv wie passiv dazu stellt, dass „die Haut sich nicht abwenden oder vor Eindrücken verschließen“167 lässt. Was der obige Takt wahrnimmt, ist eine über den machtlos Wahrnehmenden hereinbrechende Berührungsgewalt, die still getra-gen wird, indem sie sich vom konkreten Gegenüber entbindet und ans Innenleben anbindet, um dort ihr natürlich genanntes Leidwesen zu treiben, unterstützt vom gefühlsgewissen Takt. Der kontaktierende Takt bleibt dagegen bei einem wechsel-seitig verlaufenden Hautkontakt. So kann es vom Antasten zum miteinander be-kanntmachenden oder ermächtigenden wie entmachteten Betasten und Abtasten kommen, das sich dann in ein seelenbewegtes Berühren übertragen lässt. Aber nie ohne „Rekurs auf das Taktile“,168 stets für den Erhalt des materiell gebundenen Füh-lens, dessen Belassen im leiblichen Fundament. Mit Takt ist nicht ohne Kontakt

Bisher ist gesagt worden, dass Berühren Kontakt als auf einen gemeinsam geteilten Umgangssinn gehendes Berühren, vermittelt unmittelbares Mitberühren, Einan-der-Finden und Empfinden sein soll. Mit Takt ist nicht ohne Kontakt des Einzelnen im Miteinander. Ein gesichtsschädigendes Berühren, das über eine hautkontak-tierende Geste bei dem Berührten eine leibliche Regung auslöst, den vermittelten, weltverankernden Leib169 als entgrenzt zur Ansicht gibt, ist eine Handgreiflichkeit und ein übergriffiges Greifen als ein konkret erfahrenes sowie über Rede, Mimik oder Gestik gewendetes Berühren. Der Gedanke eines entwicklungsrelevanten Zu-sammenhangs zwischen gutem Berühren und gutem Benehmen allerdings, dem Vermögen, sich mit seinen Fingerspitzen kundig einzubringen und deshalb finger-spitzengefühlig zu sein oder einem frühkindlich rissigen bis zerrissenen Haut-Ich170und einer so erwachsen werdenden „Wir-Form des eigenen Ichs“ mitsamt dem Er-stellen dies kompensierender zweiter oder dritter Häute, gerät aus schon genannten Gründen und einem einspurigen Taktverständnis ins Stolpern:

Hiernach scheitert ein Erwachsener, der in seiner Entwicklung keine guten Haut-kontakte mitbekommen hat, im körperlichen und geistigen Umgang mit anderen. Allzu grob angefasst bis kaum berührt, greift er dann nicht nur verbal, auch leiblich voll daneben, wird angreifend und übergriffig, ohne ein natürliches Gefühl, ein intu-itives Empfinden für die Berührungsgrenzen der anderen.172 Dieses Wissen um eine tragende Brücke von Tastsinn zu Kontaktsinn wird allerdings getragen von einem Wissen, was das an sich Berührungsgute ist. Dem entgegen bleibt es hier dabei, dass sich Hautkontakte in vielfältigen Spannweiten bewegen, die sich erst im Umgangs-verlauf zu erkennen geben. Was dann noch problematisch wird, liegt zwischen zu viel und zu wenig, zu fest und zu locker, zu nachlässig und zu bestimmt, zu emotional und zu rational, denn wer einen anderen hautkontaktiert, macht nicht nur mit des-sen, auch mit seinen eigenen Befangenheiten Bekanntschaft, die sich in das Haut-leben eingedrückt haben, um sich darüber situativ so-oder-anders auszudrücken. Damit ist die Wechselseitigkeit besonders dort zu betonen und mit dem aufeinan-der einspielenden Takt zu stärken, wo Macht und Ohnmacht, Ermächtigung und Entmachtung nicht souverän miteinander ins Spiel gehen (können). Hier und mit dem Exzentriker sind von daher Sprachkleider, Schutzhüllen, Panzer und andere aus Kulturgütern gewobene Überwürfe die Regel, vielleicht noch in ihren Extrem-formen die pathologisch werdende Ausnahme, ebenso wie mehrschichtig angeleg-te oder rissige Häute. Auch das durchaus starke Bild eines Hautsiebs, durch dessen verschieden große Löcher das Ich in ungeschützte Gebiete fällt, greift hier nicht, da gerade das immer nur leicht oder locker Umhüllende, das nie hauteng Ansitzende, der Stoff für das Erhalten des Verborgenen des Ichs und der Weltoffenheit des Wir ist, die derart und nicht ohne einander gedacht werden. Insofern passen die Ideen von einem Haut-Ich oder der Zweithaut als Ersatz für die erste und eigentliche Haut höchstens dann, wenn von einem „Bedürfnis nach einer narzißtischen Hül-le“173 ausgegangen wird, die „das Gefühl konstanter Zuverlässigkeit eines basalen Wohlbefindens vermittelt“,174 um das es aber mit dem Takt der Mitwelt eher nicht gehen muss.

Die Haut als Beutel, der das an sich Gute und die Fülle trägt, als Schutzgrenze für die draußen zu haltende, weil allzu schlechte, Außenwelt und schließlich als Organ für eine daraufhin kontrollierte Kommunikation,175 nimmt weder das Wechselseiti-ge noch die Kehrseite, das Pathische und den Prozess, mit auf, wirft aber ein klares Bild auf die Vorlieben des Polaren und dabei schon vorab für gut Befundenen. Wer sich dagegen beim Rückschluss ungeschickten Benehmens von Heranwachsenden oder Erwachsenen auf mangelnde zärtliche Berührung in frühesten Kindertagen an die kulturgeschriebenen Ausdrucksbewegungen und das daran orientierte Lektüre-spektrum hält, wird auch bei Kindern unterschiedliche Berührungsanliegen erken-nen. Sobald deren versorgendes und bindungsregulierendes Grundbedürfnis ge-stillt ist, erscheint hier viel an Distanz gewöhnlich und harmlos. Andersherum hat das zärtliche Berühren von Kleinkindern nicht nur eine harmonische Seite, denn es mag die Seele streicheln, das körperliche Wohlbefinden kräftigen, Geborgenheit und mehr vermitteln – genauso kann es versehentlich wie absichtlich bedrängen, be-drücken, gewaltvoll, verletzend werden, auch jenseits von solchen Straftatbeständen wie Pädophilie und Kinderprostitution176: Wenn im öffentlichen Raum eine erziehe-rische, auf ein Gesolltes hin ziehende Haltung, eine erwachsene Hand am Kind her-umzerrt, so wie es auch unter Erwachsenen und zuweilen unter Kindern vorkommt, wenn sich zwischen ihnen ein klares und unbedachtes Machtgefälle ergibt, also nicht in einem daraufhin vereinbarten Miteinander im Feld des ernsthaften Spiels wie in Sportkämpfen, der beruflichen Prostitution oder in kindlicher Rangelei, Rau-ferei, sondern dort, wo sich die einen allen Ernstes den anderen unterwerfen, For-men des Berührens erdulden müssen, wobei die Grenzen im kindlich-jugendlichen Feld durchaus fließen. Wer hier seine antastenden Versuche nicht mehr machen darf, weil er immer schon auf den bitteren Ernst verpflichtet ist, jedes Anfassen zum potentiellen, rechtlich verfolgbaren, Gewaltakt wird, spielt nicht. Der Weg von Tasten zu Kontakten zum Takt, vom taktilen Erleben zur Kunst taktvollen Tuns ist gleichwohl plausibel, solange nichts Natur sein muss, was immer schon Kultur ist, und der Takt nur den Tänzer auf geistiger Spannung haltende Seile gibt, der sich um den Umgangsverlauf und die dort auch über den Körper laufenden Anschlüsse zu kümmern hat, um Umgangsleute sowie sich selber darüber zu bilden.

Wie also sieht ein gutes Berühren für ein gutes Miteinander aus, wenn einer die Umgangsmacht in der Hand hält? Wie kommt dann der andere mit seinem Um-feld in Kontakt, wie kann er hier Anschlüsse finden, wenn er sich zugleich seiner Haut wehren muss? Wie entwickeln sich einander auf den Leib rückende bis unter die Haut gehende Kontakte, wenn sie Berührungsordnungen gehorchen, die schon um alles Mitmenschliche (zu tun) wissen, noch bevor sie überhaupt mit den Mit-menschen in Kontakt sind? Was geschieht im Kontakt, wenn dort eine Berührung konkret wird, in der die Berührenden mit einem für allgemein richtig gehaltenen Berührungsmaß, einer scheinbar unvermittelten Geste, einem Ritual, einer Routine vorgehen, wo die Berührten von etwas anderem ausgehen, das Maß, die Geste, das Ritual oder die Routine nicht kennen? Was dagegen kann sich zwischen ihnen be-wegen, also sie selber machen und mit sich machen lassen, wenn die Ordnung das Leben einschließt, für den Erhalt der „Differenz der Leiber, die dazu führt, dass Ich und Du sich als differente Seelen verstehen, die füreinander verschlossen sind“,177damit sie sich, also einander als Unergründliche über ihre gewählten wie hineingefal-lenen Ausdrucksbewegungen zeigen und derart würdigen? Welche Rolle übernimmt der kontaktierende Takt in Berührungsereignissen, wenn etwa die von anderen Be-rührten körperlich beeinträchtigt sind, wie etwa Rollstuhlfahrer?

Es ist die „normale Daseinssituation“179 von Rollstuhlfahrenden wie anderen dauer-haft oder zeitweise körperlich, geistig oder psychisch Beeinträchtigten, überhaupt im Alltag auf hautkontaktierende Fremdhilfe Angewiesenen, die „voll ist mit Be-rührungen“. Das ist das eine und grundsätzlich füreinander grob Berechenbare, also zum-Miteinander-Aushandeln eigentlich Bereitstehende. Dazu kommt noch das Unberechenbare, mit dem zwar alle Mitmenschen gleichermaßen rechnen müssen, das sie angenehm bis unangenehm überrascht, aus dem für sie günstige wie un-günstige Gelegenheiten werden, das aber gleichwie Beeinträchtigte aus Gründen von Macht und Machen oftmals schwerer beantworten können, bzw. schon von anderen für sie beantwortet ist, weshalb es zunächst nahe liegt, hier den Spielraum weitgehend einzugrenzen, damit solche spontan auftretenden Berührungsereig-nisse bestmöglich gehandhabt werden können. Allerdings werden die Wegleitun-gen für Fremdhilfen zumeist von Fremden geschrieben, also von denen, die keine daraufhin Angewiesenen sind. So gesehen fehlt es in beiden Kontaktbereichen an Spielraum für das Selbsttätige von gerade nicht Selbsttätigen. Der kontaktierende Takt wendet sich jetzt nicht als ein Bittsteller an die Machthalter von Umgängen, um bei ihnen für ein Entgegenkommen zu werben. Er schaut aber auch nicht nur mit den Augen von systembedingt Ohnmächtigen, mit Seitenblick auf den Erhalt von Opferrollen. Sein Weg ist, sich der Polarität anzunehmen und etwas daraus zu machen, ohne sie zugunsten eines nächsten Polaren aufzulösen. Sein Anliegen ist, die mächtigen und ohnmächtigen Umgangsleute auf ein Mitberühren zueinander zu bringen, Beziehungen zu knüpfen, damit sie darüber füreinander situativ ver-trägliche, einander vertragende, vertragsschließende Anschlüsse finden, die sich nach dem konkreten Umgang miteinander wieder für etwas anderes öffnen lassen. Solange Kontakte auch über ein hautsinniges Berührungserleben getragen, mit an-geleitet oder nur beeinflusst werden, Menschen sich bilden und gebildet werden, in-dem sie im Umgang andere berühren und sich von anderen berühren lassen, direkt wie indirekt, haben es konkrete Umgangslagen mit dem Berührungsbildungsstand der Umgangsleute zu tun, die damit etwas für sich und einander anfangen können – oder auch nicht. Immer geht es mit Takt um das Anfangen und den weiteren Kon-taktverlauf. Dabei bleibt er dicht an Hautkontakten dran, um von einem Umgangs-alltag ausgehen zu können, der bei allem fernsinnigen und virtuellen Tun noch immer voll von Berührungen ist und bleiben soll, die über die tatsächliche Haut-grenze gehen, hier für den unbedingten Erhalt konkreter Wechselseitigkeit beim Antasten, das Machen von gemeinsamen Proben, die den Irrtum einschließen, ei-ner Selbst- und Weltoffenheit bei aller Unergründlichkeit. Dies angenommen, was können berührungsgeladene Umgangslagen von taktvollen Berührungspraktikern erwarten, wie sich Umgangsleute hier trotzdem noch gut begegnen? Was können sie füreinander berührungsmäßig tun und (sein) lassen, damit ihre Gesichter nicht verloren gehen? Wie sieht ein Berührungsleben aus, das frische Bewegungsluft oder Agilität in die Hierarchien bringt, also von Heterarchien getragen wird? Wie entwi-ckelt sich der Takt, wenn er Kontakte derart bildet und darüber gebildet wird? Was macht eine takthafte Berührungspraxis aus?

4 Takthafte Berührungspraxis

Kurz gesagt: Da ist zum einen das Widerfahrene, mit dem Rollstuhlfahrer und den Begleitpersonen am Parkplatz unerwartet Geschehene, für das es Räume des Las-sens und Ausdrückens zu erschließen gilt, dazu kommt das zwischen ihnen Verein-barte, das mit Blick auf das Widerfahrene in Bewegung zu halten ist. Taktvoll getan ist, wer sich als Mitmensch auf das Berührungsereignis als Mitberührung einlässt, auf dass im allseitig abrufbaren Wissen um das Ausgehandelte der konkrete Kör-perkontakt im situativen Verlauf tastend füreinander gesichert werden kann. Denn wer sich gleichwie, aber ungefragt, berühren lassen muss, dabei herumgezerrt,

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hochgehoben und wieder abgesetzt, hin- und hergeschoben, geschüttelt, gedreht und gewendet, gedrängelt, abgedrängt, bedrängt wird und anderes mehr, hat kaum eigenen Spielraum für das gemeinsame Gestalten derartiger Ereignisse: Halten die fremdhilfeleistenden Begleiter des Rollstuhlfahrers einseitig die Macht über den Einsatz des Kontakts an dem fremden Körper, so haben sie dessen Gesicht der Würde weitgehend in der Hand. Allerdings ist hier nicht davon auszugehen, dass sie das Skript für die mächtige Rolle selber schreiben, sondern dies für sie verfasst wird oder anders: sie werden von einer allgemeiner gültigen Berührungsordnung in diese Rolle gesetzt, infolgedessen sie die Machthalter, die Hilfeempfänger die Unter-gebenen spielen, die diese Rolle übernehmen oder ablehnen wie spannungsaushal-tend nuancieren können. Sind leibliche wie soziale Ordnungen auf das Leben hin gespannt, so mag das zwar von dem Wunsch nach reibungslosen Berührungsabläu-fen abbringen, aber solange es noch um zwischenmenschliche Reibung gehen darf, ist eher vielfältiges Gelingen, denn einspuriges Optimieren zu wünschen. Hierfür lässt sich für Berührungspraktiker an eine „‘therapeutische‘ Berührungsordnung“180denken, die von Mitberührung laufend fortgeschrieben und auf Berührungsereig-nisse jenseits von körperbedingt auffälligen Machtgefällen und Hautkontakten übertragen wird, denn auch auf scheinbar fraglos gehaltenen Machtgeraden und mit Worten oder Blicken möchte niemand ungefragt hin- und hergeschoben, ge-drängelt, abgedrängt, bedrängt werden. Der taktisch weise gesichtswahrende Takt schreibt an solchen Berührungsordnungen mit und wird davon mitgeschrieben, ohne der Ordnung, die einer Berührungsordnung zugrunde liegt, bloß zu dienen und die Anpassungsgestörten zu heilen.

Nun arbeiten Berührungspraktiker, die berufsbedingt anderen auf den Leib rü-cken bis unter die Haut gehen, meist mit Berührungsordnungen, in denen sie heim-lich zweierlei verstecken können: ihr intuitiv richtig liegendes Berührungsgefühl und ihre verschieden ritualisierten Abläufe, ausgerichtet an Krankheitsbildern, Therapieansätzen, Hygienevorschriften, Kommunikationsregeln, Trainingsplänen, Tagesstrukturen und anderem mehr. So geht es in einer therapeutischen, wenn bloß ordnungsdienlichen, situationswartenden, Berührungspraxis181 nicht selten monologisch zu, d. h. akute Berührungsfragen bleiben ungefragt, da Berührungs-antworten gewusst oder gefühlt schon vorliegen, im konkreten Kontakt nur noch eingeflüstert werden. Das heißt nun nicht, dass der Berührungsalltag für macht-haltende Praktiker harmonisch läuft, nur weil sie sich an ein inneres und äußeres Regelgeländer klammern (können), denn bei alldem fällt für sie nicht aus, auch berührt und darüber entmachtet zu werden. Erhält ihr Klammern aber eine all-gemeine, nicht nur situative, Rechtfertigung, dann werden die gleichwohl aufkom-menden Probleme schnell zur allgemeinen Nebensache gemacht oder geraten für den nur entmachteten, nicht auch ermächtigenden, Berührten zur persönlichen, Opferrollen erstellenden sowie haltenden, Hauptsache. Der Tastsinn als Kontakt-sinn schließt solche einseitigen und öffnet wechselseitige, weltoffene wie mediale Zugänge. Wer nicht beruflich, eher privat berührungspraktisch unterwegs ist, mag vor weniger fertigen Antworten, mehr offenen Fragen stehen, was den Berührten wie Berührenden aber nur zugutekommt, wenn das situativ Offene nicht einsam, sondern gemeinsam geschlossen wird. Auch hier gilt, dass ein ungefragt zart bis grob, engagiert bis nachlässig platziertes Anfassen, das bei einem Sich-Befinden in seiner Umgebung bleibt und sich auf kein Ich/Du-Wir-Befinden einlässt, für sich das von der Gewalt der konkreten Situation durch andere ausgehende Reibungs-risiko und zugleich die Reibungschance entsorgt:

Soll die leibliche Differenz für ein würdiges und würdigendes Umgangsleben zu-gunsten differenter, für sich wie einander unergründbarer Seelen erhalten bleiben, so mag ein Nichts-mehr-anfangen-Können durch ein ergreifendes, übergriffig werdendes Berühren den Berührenden eine überschrittene Umgangsgrenze an-zeigen und die Daseinssituation nicht mehr abbilden; immerhin bildet sie als ein grenzüberschreitendes Berührungsereignis die laufende Ich/Du-Wir-Beziehung in einem atmosphärischen, den Leib sekündlich formenden Miteinander, in dem sie sich aufeinander einspielen, das so-oder-anders verlaufende Jetzt routiniert auf ein Mit bringen, auf dass es zu einem Miteinander-etwas-anfangen-Können mit nächs-ten Gelegenheiten kommt: über einen anderen Berührungssinn und antwortfin-dende als ausdrucksabnehmende Lektüren in ihren Rollen-als. 4.1 Ein anderer Berührungssinn

Taktvolle Berührungspraktiker beachten, dass selber berührt wird, wer andere be-rührt, damit von anderen entmachtet wird, wer sich selber ermächtigt: Als Mitmen-schen über Mitberühren im Kontakt, sich aufeinander einlassend und auch wieder voneinander ablassend, kennen diese Praktiker vor allem Mitberühren kein ent-schiedenes Entweder–Oder einer Berührung mit oder ohne Takt, schon gar nicht von „taktvoller Berührung und taktlosem Zugriff “,183 denn wie ein zart gedachtes, aber plump geratenes Berühren eine gesichtsschädigende Grenze überschreiten kann, vermag ein ausgehandeltes festes Zugreifen davor Halt zu machen. Steht in der gemeinsam aufgesetzten Berührungsordnung, dass der zupackende Griff für sinnvoll erachtet und gewünscht ist, um den bewegungseingeschränkten Körper von hier-nach-dort zu bewegen, dann gilt, was für diese-und-nicht-jene Umgangs-lage ausgehandelt wurde. Dasselbe kann auch für fernsinnige Gesten vereinbart werden, um ein missliches Verstehen und Behandeln einzuschränken. So ist ein wie auch immer gestaltetes Berühren würdevoll wie einander würdigend, wenn die Bedingungen für die obere Beachtung stimmen. Diese Aufgabe geht immer zu-gleich an alle Umgangsleute, nicht nur an die Umgangsmächtigen: Angenommen, der genannte Rollstuhlfahrer und seine Begleiter geraten durch das überraschen-de Hindernis des unbefahrbaren Sandweges in eine Umgangskrise, da die geplan-te eigenständige Rollstuhlfahrt zum Meer durchquert wird und es zwischen ihnen keine alternativen Absprachen gibt. War die Atmosphäre bis dahin von beidseitiger Vorfreude, so ist sie jetzt von einseitiger Hilfsbedürftigkeit, von gemeinsamer Plan-losigkeit und einem situativen Unverständnis geprägt. Augenblicklich ist „die Ge-meinsamkeit des Atmosphärischen nicht gegeben“,184 da nicht allseits fraglos klar ist, was sie hier (füreinander Gutes) zu tun haben. Nun kommt es ganz darauf an, ob die helfenden Hände sofort auf eingespielte Umgangsantworten zugreifen oder ob sich alle im Augenblick der Lage voneinander berühren lassen, um sich darüber aufei-nander einzuspielen. Da sie keineswegs „den Sinn für Atmosphärisches überhaupt verloren“ haben, sondern nur mit einem „anderen Atmosphärischen, also einem anderen Bewegungssinn“,185 zu tun bekommen, können sie dort auch eine andere Gemeinsamkeit herstellen, in der Berührungsereignisse wie Hochheben, Tragen, Absetzen des Rollstuhlfahrers durch die Begleiter im Rahmen des beziehungs- und situationshaltenden Takts bleiben. Aufeinander eingespielte als routinierte Mitbe-rührungsereignisse sind dann und nur dann solche, wenn nicht jeder nur für sich und gewohnheitsgemäß, sondern immer auch füreinander, in einer über ein laufen-des Mit-Machen erworbenen Gewandtheit, ins Spiel mit Routinen geht. Dies ist im besten Fall auf fernsinnig mitberührende Kontakte übertragbar, da der verbal oder mimisch beeindruckte und dies ausdrücklich machende, divers voreingenommene Leib immer dabei ist, um das Jetzt-auf-ein-Mit zu bringen. Der routinierte Takt

Wer also in „unaufhörlichem Kontakt mit der Welt“186 ist, dem ist das Routinierte als das Gewandte näher als das Gewohnte. So müssen plötzliche Berührungshin-dernisse nicht mit blind machenden, nur mit anderen Augen angeschaut werden: Wer etwa körperlich oder seelisch Versehrte blind auf Hilfsbedürftigkeit fest-schreibt, sieht und würdigt deren Eigenständigkeit unzureichend; wer Familie in einem schönen Familienleben verortet, kann dort ein friedliches Miteinander und die Friedlichen nicht erkennen, wer hier auf unbedingten Frieden besteht und auch Kampf bekommt, übergeht die Kämpfer; wer nur Leistung will und ein Glücken er-hält, übersieht das Geglückte und die glücklichen Gesichter; und so weiter. Wer da-gegen in aller Gewandtheit das sich wie auch immer darstellende Jetzt-auf-ein-Mit nehmen kann, lebt mit den eigenen wie anderen Antworten, „ein ständiger, offener Fluss, ein fortschreitendes Ineinanderwirken von Aktion und Re-Aktion“,187 was zu keinem Zeitpunkt zu einer Deckungsgleichheit, nur zu einem in aller Vielfalt voll verschränkten Miteinander führt:

Der kontaktierende, tastend-sichernde Takt hält für leibrückende Berührungs-praktiker wach, dass sie sich immer nur annähernd annähern, zugunsten ihrer Unergründlichkeit nicht gründlich berühren können, höchstens insofern nicht be-rühren, denn man kann „von Takt und von Kontakt ohne Kontakt nur da sprechen, wo ein Gesetz das diktiert oder vorschreibt, gebietet, was nicht (natürlich) ist“.189Der aufeinander einspielende Takt ist aber nun mal kein diktierender Gesetzgeber oder vorschreibender Gebieter, immer nur ein routinierter als situativ gewandter Antwortfinder und entsprechender Ausdrucksabnehmer für hautnahe, aber auch für hautferne Berührungsereignisse, sofern sie sich in einem Mit-Feld abspielen. 4.2 Antwortfindende Lektüren

Angenommen, gelesene oder gehörte Worte als geschriebener, gesprochener Text, geschaute Bilder im weiten Feld der Kunst, in virtuellen Sphären und anderen me-dialen Räumen sind Vermittler in Sachen Berührung. Sie stellen Kontakte her, be-rühren und machen vor, wie es ist, berührt zu werden. Hierfür schaffen sie Atmo-sphären, lassen Vergangenes und Zukünftiges im Gegenwärtigen lebendig werden, führen auf gerade Wege, Umwege und Abwege, nehmen Leser, Zuhörer, Zuschauer an die lange bis kurze Leine, flüstern ihnen zart bis brutal etwas ein, verbinden sich, manipulieren. Sie bieten ihrem Publikum ganze Bedeutungsladungen an, die auf sehr verschiedene Weise abgenommen werden können und eine bestimmte, den Takt einschränkende Form von Gemeinsamkeit schaffen:

Entsteht bei derartigen Lektüren so etwas wie eine gemeinsame, den berührenden Produzenten mit den sich Berühren lassenden Konsumenten verbindende, Ober-fläche. Dann verbindet sich die lektürelenkende Kunstgriffigkeit des Produzenten mit einer sich eher passiv haltenden oder auch aktiv gestaltenden Empfänglichkeit des Konsumenten:

Es ist für den hier verfolgten Zusammenhang nicht relevant, ob sich der brav im Text bewegende von dem wild darin umherhüpfenden Textabnehmer deutlich un-terscheidet, sofern es sich nicht gerade um Waschzettel-Texte handelt, die für die treue Ausführung in der Praxis geschrieben werden. So mag es wohl sein, dass ein schöpferisch-erschöpftes Leser-Ich im Wir der gelesenen Dinge von den Dingen spontan berührt wird, allerdings immer nur selbst bestimmt so, anders oder auch gar nicht. Einem hautnahen Berührungsereignis ähnelt es deshalb nur entfernt. Was dort in vermittelter Unmittelbarkeit wechselseitig berührt, einander ermäch-tigt und zugleich entmachtet, das berührt angesichts der Dinge immer nur einseitig. Produzenten bleiben so einsam wie Konsumenten. Es gibt kein miteinander aus-gehandeltes Verbünden, keine Komplizenschaft angesichts des einen und anderen; außer das Medium schafft einen Raum für das Zwischenmenschliche. So wie es in virtuellen Kontakträumen zu sein scheint. Hier sieht es spontan geschaut nach einer Berührung in doppelter Richtung aus, immerhin ist dort zwischen den einen und anderen etwas in Bewegung. Da es dort aber möglichst unter Ausschluss dessen zu-geht, was an Unwägbarem nicht wägbar gemacht werden kann und für das Wägbare höchstens der gefühlsgewisse und meisterhafte Takt zuständig ist, bleibt eine gelese-ne, geschaute, gesprochene oder gespielte Betroffenheit eher regelgerecht oder in-tuitiv richtig. Der von zwischenmenschlicher Reibung lebende, Täter-Opfer-Rollen wechselseitig haltende, Takt bleibt hier entsprechend etwas außen vor. Es sei denn, das virtuelle Feld schafft einen Spielraum für das nicht schon in aller Voreingenom-menheit erlebbare Unwägbare. Auch wenn kein Kontakt völlig unvoreingenommen verläuft, so kommt es doch in der Gewalt konkreter Situationen ganz darauf an, ob die Oberfläche für Berührungsereignisse schon auf diese-und-nicht-jene Ge-meinsamkeit festgelegt ist oder noch freie Bewegliche zulässt. Dann erst kann das vermeintlich Eingespielte, tatsächlich nur Abgespulte, sich noch aufeinander ein-spielen, das Miteinander auf das im Moment nicht reibungslos Verlaufende anders eingestellt werden: beispielsweise das Training auf bewegungseingeschränkte Trai-nierende, das Seminar auf Optimierungsverweigerer, die Elternschaft auf kontakt-scheue Elternteile, Geselligkeit auf kleine Revolten, der Ausflug mit Rollstühlen auf das Hindernis des unbefahrbaren Sandwegs: für ein punktuelles Berühren des ei-nen in einer kritischen Nähe zum anderen, ein „Füreinander, das keine ausgezeich-nete Position im Hier erlaubt, sondern diese Hier-Position wiederum relativiert, in seinen Augen wie in den Augen des anderen“.192

Wer sich wie der Rollstuhlfahrer und seine Begleiter auf einer gemeinsamen Ober-fläche befindet und einander dort über fernsinnige Gesten beeindruckt, gibt wech-selseitig etwas zur Ausdrucksabnahme, wodurch es füreinander handhabbar, also umgangstauglich, wird, selbst wenn ihnen hier etwas widerfährt und sie in einen Ausdruck fallen. So mag der Grimm des Rollstuhlfahrers, das grimmig verzoge-ne Gesicht, die dazu eingesetzte Handbewegung, beim ausdrucksabnehmenden Abtasten der Begleiter auf den Ärger über die hinderlichen Umstände hinweisen. Möglich ist aber auch, dass sich darin eine quer dazu liegende Empfindung wie Niedergeschlagenheit oder Ängstlichkeit als Formen von Hilflosigkeit versteckt. Dem Rollstuhlfahrer jetzt mit bloßem Eigensinn die grimmige Maske vom Gesicht zu reißen, um etwas dahinter Vermutetes, intuitiv Wahrgenommenes, freizulegen, mag in einer einsamen Textlektüre noch spannend und harmlos, im virtuell gestal-teten Kontaktraum geregelt und gemaßregelt sein, angesichts des nahen anderen dessen Gesicht konkret gefährden. Dies gilt umso mehr, klingen die fallenden Wor-te tatsächlich grimmig und nicht niedergeschlagen oder ängstlich. Die Lektürelage wird noch einmal komplizierter, wenn die diversen Ausdrucksformen dissonieren, wenn der Grimm niedergeschlagen, fröhlich oder anderswie unstimmig klingt. Dazu kommen mögliche Befangenheiten, die sich in den Ausdrucksabnahmen zei-gen, etwa wenn die Begleiter zur Abnahme des Hilflosen tendieren, da sie in ihrer Rolle als Helfer hier erfahrener sind oder es ihnen persönlich, kulturell, auch situ-ativ näher liegt:

Da ist viel Spiel im Ausdrucksspiel, aber immer nur wechselseitig. Denn: Wer einen verbalen oder mimischen Ausdruck wie ausgedrückt abnimmt, hat zugleich einen anderen vor sich, der dasselbe tut. Es ist der genannte Gebrauch der Gesten, der eine verständige oder auch unverständige, gemeinsame oder einsame Atmosphäre schafft, nicht die Gesten an und für sich. Die jeweiligen, so oder anders platzier-ten, Ausdrucksbewegungen sind damit nicht auf etwas Eigentliches zu erforschen, sondern nur füreinander auf situative Richtigkeit oder einen verständigenden Zu-sammenhang zu bringen, auch wenn gewisse Grundverständnisse immer mit im Spiel sind. Wer also, wie der Rollstuhlfahrer, seinen Grimm in den Umgang hinein-gibt, darf im Sinne des aufeinander einspielenden Takts auch erwarten, dass die Begleiter ihm den Grimm, nicht etwa die Hilflosigkeit, Niedergeschlagenheit oder Traurigkeit abnehmen, was möglicherweise den Begleitern sogar leichter fällt als die Abnahme von hilflosen oder niedergeschlagenen, weinerlichen bis schluchzen-den Ausdrücken, die einen eher einsamen Ernst markieren, der kaum Spielraum lässt für das gemeinsame Spiel damit:

Ausdrucksbewegungen als spielende Formen des Tuns anderer kennen mindes-tens drei Abnahmeoptionen. Die für den Takt am wenigsten interessante, da ent-wicklungshelfende Lesart arbeitet mit dem schaulustigen Seelentaucher, der wie ein Augur tief im Inneren anderer nach scheinbar Unentdecktem fischt, aber dort nur eigenhändig Hineingegebenes an die Oberfläche holt, um es als das Eige-ne des anderen zu präsentieren. Die nächste uninteressante Lesart bleibt gleich an der Oberfläche, um sich dort voll auf das Verstehen von bereits kulturell fest gerahmten Ausdrucksbildern zu konzentrieren, unbesehen vom Einzelnen und dem konkreten Kontext:

Interessant wird es für den Takt erst dort, wo sich das Ausdrucksbewegte füreinan-der sinnvoll, nicht nur eigensinnig an plötzliche und wechselseitige Berührungs-situationen gebunden, zeigen darf: Ein so genanntes frozen face kann mit großem innerem Leid, ein still face mit fehlender mütterlicher Empathie verbunden werden, was aber vor allem dann plausibel wird, wenn diesen Deutungen im Vorfeld gewisse Annahmen, etwa eine daran orientierte psychische Diagnose, untergestellt werden. Diagnoselogisch lässt sich dann von einem schockerstarrten Gesicht auf traumati-sche Erfahrungen schließen oder auch emotionale Unsicherheit bis Autismus aus einem mimisch eingeschränkten Muttergesicht folgern. Wer diese Diagnosen nicht hat, kennt oder an ihnen vorbei auch woandershin schaut, um sich an den gemein-samen Kontext, die konkreten Erfahrungsmomente zu halten, für den öffnen sich noch andere Wege der Ausdrucksabnahme: Eingefrorene Gesichtszüge können auf ein poker face, eine spontane Selbstschutzaktion oder einfach nur darauf hindeuten, dass beim Umgang miteinander nicht immer nur mit Wärme, auch mit Kälte zu rechnen ist. Stille kann dem Menschengesicht von Geburt an mitgegeben sein, dann erweist sich die mimische Gesichtsmuskulatur als eingeschränkt bis sporadisch ge-lähmt; sie kann durch Unfälle oder gesichtschirurgische Eingriffe entstehen, sich im Lebensverlauf einstellen wie auch gezielt gewählt, also inszenatorisch eingebracht, werden. Berührt Stille im Umgang, so wird beim Miteinander-Absprechen, Sich-aufeinander-Einspielen deutlicher und damit deutungsleichter, wie es die Einzel-nen und das Miteinander berührt: Ob die helfende Hand in pflegerischer, zärtli-cher, freundschaftlicher oder erzieherischer Absicht berührt, lässt sich nicht ohne den situativen Verlauf füreinander versichern.196 So mögen Gesicht, Hand, Körper durch den Wandel der Zeiten gemeinsame Geschichten erzählen, von den Kunst-welten unterstützt, irritiert wie diskutiert, Gesten von Grimm und Stille, von Pflege und Zärtlichkeit, von Freundschaft und Erziehung, ein Augenzwinkern, Schulter-zucken, die erhobene Hand, der Zeigefinger an der Nase, die flache Hand vor dem Mund, ganze ausdrucksbewegte Szenen zu öffentlichen Codes gemacht, wieder ab-gesetzt, variiert werden197: Heutige Ausdrucksabnehmer sind nicht fest an der deu-tenden Hand, weshalb takthafte Berührungspraktiker von ihrem jeweiligen Gegen-über weder innere noch äußere Wahrheiten, nur füreinander situative Richtigkeit abnehmen. Die Praxis des mitberührenden Takts achtet wesentlich auf radikal wer-dende Gefahren, die vor lauter machtgebietendem Wir kein Ich oder auch vor lauter bloß eigensinnigem Ich kein Wir mehr finden lassen. Hierfür tasten und sichern sie verständnisvoll die gemeinsame Oberfläche auf einander verständigende Zusam-menhänge oder atmosphärisch Gemeinsames ab, damit alle Umgangsbeteiligten in ihren selbst übernommenen oder auch von anderen für sie bestimmten Rollen-als „in und mit der Rolle spielen“198 können, immer auch „virtuelle Zuschauer [ihrer] selbst und der Welt“.199 4.3 Mit-Spieler – Mit-Menschen

Im Reich der fallweisen Alltäglichkeit entfalten auf Mitberührung Spielende über Ausdrucksbewegungen ihre situativen Rollen für wechselseitige Abnahmen, „lösen sich von sich ab, verwandeln sich in andere. Sie spielen ein anderes Sein“,200 figurieren, geben diese-oder-jene Figur ab, verkörpern eine „Figur mit dem eigenen Leibe“201und stehen dabei immer auch hinter der Figur, die sie verkörpern,202 um füreinander nuancierende Antworten zu finden, die nicht der Figur, und damit einer Umgangs-eintönigkeit, verfallen. Wer derart spielt, dem geht es nicht um die eigene nüch-terne, schwermütige, quirlige, grimmige, brave, schrille, stille oder wie auch im-mer ausgefüllte Darbietung, denn sie ist immer „wahr, jede auf ihre Weise“.203 Eine takthafte Berührungspraxis hat insofern auch nicht das Spiel im Sinn, sondern die divers figurierenden „Menschen in der „Wir-Form des eigenen Ichs“, für die sich im Moment der Mitberührung entscheidet, ob sie auf einer gemeinsamen Oberflä-che, in einem atmosphärisch Gemeinsamen sind oder nicht: Der eigenhändig über den glatten Asphalt rollende Rollstuhlfahrer gibt dabei immer nur eine andere, aber keine schlechtere Figur ab, als wenn er plötzlich im Sand steckenbleibt, ebenso wie der körpertechnisch, kommunikativ oder anderswie versierte Begleiter nur anders, aber nicht besser figuriert, als wenn er sich situativ in alldem orientierungslos zeigt. Dies gilt für alle Lagen eines takthaften Kontakts, deren Verlauf sich an der Gestal-tung der Beziehung, dem Mit, ausrichtet. Hier ist nichts an sich schlecht oder gut, schön oder hässlich, denn bleibt etwas unverstanden und der Umgang gerät in eine Krise, dann entscheidet mit dem aufeinander einspielenden Takt nicht jeder Einzel-ne still für sich, dieses-oder-jenes zu tun, entweder zu sprechen oder zu schweigen, zu grollen oder zu verzweifeln, schrill oder still zu sein; alle am Umgang Beteiligten entscheiden zugunsten von gemeinsamer Verständigkeit für sich und einander, in-dem sie sich miteinander verständigen, jetzt dieses-und-nicht-jenes zu tun. Gehen der Rollstuhlfahrer und die Begleiter über Worte, Blicke und Handgriffe aufeinan-der zu, also miteinander Kontakt, so entstehen auf den von ihnen gewählten an-nähernden Wegen die gesammelten, wechselseitig auch über den Leib laufenden Rituale, Routinen, Wünsche, Ordnungen, die es dann im Umgangsverlauf fürei-nander zu sortieren wie aufeinander einzuspielen gilt. Höchst krisenwahrschein-lich ist, dass dabei auch zusammenkommt, was nicht unbedingt zusammengehört und zusammenpasst: etwas ein Selbermachen als trotziges Beharren des einen und die helfende Hand als systemökonomische Geste der anderen, Stolz des einen und Mitleid der anderen, Opferhaltung und Autonomiediktat, Scham und Freizügigkeit, also der gewöhnliche, erst in Umgangskrisen auf sich aufmerksam machende Wi-derstreit von Freiheit und Zwang, Norm und Leben, Realität und Irrealität, Theorie und Praxis. Darf der Kontakt mit der Störung weiterlaufen, d. h. nicht reibungs-los verlaufen, so entstehen und zeigen sich füreinander Reibeflächen, die mit Takt für diesen, nicht für jenen Moment aufeinander zu bewegt werden. Solange dabei niemand „über dem Leben steht, sondern sich in ihm bewegt“,204 dazu nicht allein, sondern stets mit anderen, lassen sich einander Kontaktierende im Kontakt vonei-nander verführen, woandershin führen, begleiten, leiten, aber niemals für ewig und in einfacher Richtung. Eine takthafte Berührungspraxis lebt ganz von, mit und in-mitten der Gewalt der konkreten Situation. Sie sorgt für möglichst gute Bedingun-gen dafür, dass das zwischen den Umgangsleuten entstehende einander Beeindru-ckende, jetzt und füreinander, nicht später und an sich, ausdrucksbewegt wird, ob sie sich nun im hautfernen Spiel mit Mienen, Gesten und mit vagen, „elastischen, ja auch biegsamen Begriffen“,205 oder auch mit hautnahen Gesten berühren, aneinan-der rühren, solange sie dabei zwischenmenschlich nuancieren, nicht radikalisieren, ist alles gut. 4.4 Agile Hierarchien

Der bisherige Weg sollte gezeigt haben, dass sich der aufeinander einspielende Takt als im doppelten Sinn fallweise Praxis überall dort einmischt, wo es im Reich der Alltäglichkeit etwas für ihn zu tun gibt. Aber er tut das nur, damit die miteinander verkehrenden Menschen für ihr an sich bewegtes Leben in den zu Strenge bis Er-starrung tendierenden Ordnungen beweglich und wechselseitig berührbar bleiben. Mit Takt werden schützende wie ermöglichende Wege dafür verfügbar, dass sich Mitmenschen überhaupt und immer wieder anders anfassen, das zwischen ihnen Ablaufende erfassen, damit es füreinander fassbar wird und doch nicht ganz zu fas-sen ist. Takthafte Exzentriker lassen sich aufeinander in der Gewalt der konkreten Umgangslage ein, mit dem Ziel, dort Anschlussstellen füreinander zu finden, an-einander anzuschließen und einander nach Ablauf des Umgangs daraus zu entlas-sen. Sie verbinden sich miteinander, nicht ohne sich voneinander wieder zu entbin-den. Auf diese Weise begrenzen sie im Zusammensein unter anderem entstehende Gleichgültigkeiten, sich der Welt verschließende Berührungsängste, wechselseitiges Antworten behindernde Formalisierungen, gefahrlos bleibende Freiheiten, har-monisierende Maße und Mitten, also das Leben in starren Hierarchien. Zugleich öffnen sich die Umgangsleute, über gewandte Routinen, das Ausdrücken und Aus-drucksabnehmen mit anderen Augen und weitere anschlussfindende Praktiken, für ein agil hierarchisches Miteinander, über das die Spannung zwischen Stabilität und Fragilität gehalten wird. Ungleichmut

Indem der Takt Mit-Spieler, d.  h. Mit-Menschen zur Welt hin öffnet, schließt er zugleich ihre persönlichen wie beruflichen, öffentlichen wie privaten Räume für das abgestumpft, routiniert, gleichmütig, gleichgültig Werdende in mitmenschli-chen Angelegenheiten, denn angesichts des anderen ist niemals alles für alle gleich gewusst oder gefühlt gültig, sondern immer auch oder nur etwas für jetzt und für-einander:

Das Nützliche des Gleichgültigen zielt zumeist auf die Ökonomie von Routinen, auf gezielte und rasche Handgriffe am Fließband der Systeme, hier etwa dem der physischen und psychischen Gesundheit, was aber auf andere Gesellschaftsbereiche wie Erziehung, Bildung und weitere übertragbar ist, in denen der Mensch zum Ge-genstand (gemacht) wird, damit es möglichst zu keinen Reibereien und Störfällen kommt. Der Fokus liegt dann darauf, was den eingespielten Gewohnheiten gemäß für sich oder andere sein soll, weniger, was sich einer aufeinander einspielenden Ge-wandtheit gemäß füreinander hier und jetzt sinnvoll ergeben kann: Beschließt die pä-dagogische Praxis, hinter den politisch verabreichten Theorien Chancengleichheit, Inklusion, Integration in Deckung zu gehen, anstatt sie mit allen Beteiligten vor Ort in die Reflexion zu nehmen, um gemeinsam die einander daran bildende Probe machen zu können, dann bewegt sich und berührt wenig situativ auf ein Mit. Das können miteinander Übereinstimmende so handhaben, ansonsten ist es eher eine List der einen, für den eigensinnigen Erhalt der eigenen Ordnung, ohne dass dort das Leben der anderen hineingerät. Darauf steht der mitspielende Takt überhaupt nicht. Er bildet wie gesagt Routinen im Sinne des Gewandten, nicht des Gewohnten, weshalb er im Umgangsleben den streng systemtragenden oder machthaltenden Gleichmut, die genannte Abgestumpftheit oder Gleichgültigkeit und damit auch die Abwehr des zu erwartenden Unerwarteten, die Ängstlichkeit im Umgangsleben bis zur Angst davor begrenzt, oder andersherum: Er entgrenzt das in einer Lage mitei-nander Machbare, das füreinander Haltbare. Bleibt es dabei, dass das Verkehrsleben in der Spannung von Ordnung und Leben mal so, mal anders fließt, stockt oder steht und selbst dichte Verkehrsräume nicht luftdicht abzuschließen sind, das Sta-bile und Fragile ein agiles Paar, dann bleibt mit mittelbaren Techniken wie dem un-mittelbar Freiheitsgrade schaffenden Takt207 stets ein unbestimmbarer Rest, worü-ber das Gleichmütige bis Stumpfsinnige in einem situativen Unruhestand bleibt: für Störanfälligkeit, gegen Reibungslosigkeit, für alles Überflüssige, im-Fluss-Seiende, gegen einen freiheitsberaubenden geistigen Starrsinn, gegen das Gleichgültige und für das Andersgültige. Mit-Berührungsangst

So soll es hier sein und die Praxis des Takts gegen die gestutzten Flügel des Geistes und eine ruhig gestellte Seele arbeiten, in Ich/Du-Wir-Umgebungen, auch zwischen Nähe und Ferne, solange es dabei um ein wechselseitig füreinander Zusammen-hänge schaffendes Berühren als Mitberühren geht und keinesfalls um die allumfas-sende Versicherung, „sich gegenseitig nicht zu nahe zu treten“,208 mit einem „Takt, pointierter formuliert als Angst vor der gerade in der Lebenswelt strukturell an-gelegten Zudringlichkeit“.209 Ein Angst-vor-Nähe geleiteter Takt ist so etwas wie ein kleiner Feigling oder auch ein mit falscher Scham behafteter, sich streng einsam haltender Abwehrspieler, mit dem sich der Einzelne vor allem selber etwas Gutes tut, wenn er vor möglichen Eindringlingen in den persönlichen Raum aus Gründen von Schutz-und-Schonung das Weite sucht oder auch Barrikaden errichtet, sich da-hinter verkriecht, rüstet und panzert, was bis in eine „Berührungsangst gegenüber dem Leben selbst“210 führen kann:

Abgesehen davon, dass dieses „sich selbst“, welches es zu achten, zu dem es zu stehen gilt, von sich aus geschaut nicht stillsteht, situativ durchaus klemmen darf und hier das Problem eher dort sein soll, wo sie miteinander außer Takt geraten, kann es auch gut sein, dass die unreflektiert von ihrer Angst geführten Taktvollen sich und andere täuschen, wenn sie gütig Fremdschonen vorgeben und eigentlich Selbstschonen meinen. Aber mit dem Takt wird weder radikal auf Abwehr noch auf Freizügigkeit gespielt. Da es mit ihm nicht um das Spiel, sondern nur um die Mit-Spieler-im-Spiel geht, lässt sich mit ihm höchstens ein Abwehren von dieser-oder-jener Berührung im und für den Umgang gezielt aushandeln. So gese-hen arbeiten aufeinander einspielende Takthafte mit ihren Berührungsängsten, so wie mit Enge, Weite und anderen Atmosphären im zwischenmenschlichen Raum, nicht gegen sie. Balancieren

Die Praxis des Takts begrenzt nicht nur Gleichgültigkeit und Berührungsangst, auch das Maß der zwischenmenschlichen Dinge. Sie maßregelt nicht, so wenig wie sie ein Maß fühlt. Allenfalls lässt sie einander verständig fühlen, bedacht ineinander einfühlen,212 und sucht dann eine „maßvolle Ordnung […] zu etablieren, die so-wohl als starr und auch als flexibel, sowohl festlegend und auch als freilassend, so-wohl als traditionell vorgegeben wie als performativ erzeugt, sowohl als verordnet wie als selbstmotivierend etc. gesehen werden kann“,213 insofern sie das „Ineinander von vorgegebener Ordnung […] und zu leistender Bemühung“214 in Gang hält, von einem störanfälligen Gleichgewicht ausgeht, für das den ausdrucksbewegten Um-gangsleuten ermöglichende, keine garantierenden, Wege verfügbar sind. Mit Takt gibt es keine mittigen Antworten, keine Balance zwischen zu dicht und zu weit, zu laut und zu leise, zu viel und zu wenig, zu verdeckt und zu offen. Mit ihm wird im Unwägbaren balanciert, nicht die Waage gehalten. Takthafte leben in der Mitwelt, mündige Mitspieler, d. h. Mitmenschen, die in aller Vielfalt und Offenheit denken, tun, leiden und darum wissen, so dass sie im Durcheinander des Miteinanders als leibliche Exzentriker weltoffen wie unergründlich bleiben, allerdings im Span-nungsfeld von Ordnung und Leben, dem Stabilen und Fragilen, nicht etwa außer-halb davon:

Der Aufenthaltsort von den sich in Umgangslagen konkret aneinander herantas-tenden, also auch ihren Körper einsetzenden, Takthaften ist diese, keine neue, virtuelle, körperlose Welt, mögen auch die Umgangsmomente im wahren Leben noch so brüchig sein. Mit Takt gibt es kein Heil, kein auf Heilung ausgerichtetes krankes Verkehrsleben, nur miteinander im Umgangsverlauf ausgehandelte, füreinander heilsame Umgangsmomente. So ist auch sein „Spiel der Verhül-lungen“216 kein falsch oder richtig verschämtes Verstecken des eigentlichen Ichs, getrieben von Angst vor Entblößung, geleitet vom „Mangel an sozialer Courage“.217 Er spielt mit Hüllen, weil Exzentriker das so tun, aber nur für das einander verständigende Stiften von situativen Zusammenhängen, auf der Su-che nach gemeinsamen Anschlussstellen für nuancierende Umgänge. Dazu ge-hört, wie gesagt, dass sich alle Umgangsleute aufeinander und den Moment, das Plötzliche, Unwägbare, Unberechenbare einlassen, anders als das ritualisierte höfliche Tun und das anständige Seinlassen, die immer schon wissen, was sie wie tun und lassen müssen:

Tritt der zwischenmenschliche Fall ein, dass alle mit Bestimmtheit wissen, was sie zu tun und zu lassen haben, dann entfällt diese Art von Einlassen und damit auch das situativ Unbestimmte, von dem der Takt lebt, das ihn ewig belebt. Kurz gesagt: Er wird genau dann überflüssig, wenn er nichts mehr im Umgangsfluss zu halten hat, weil darin schon alles, die Richtung mitsamt den richtungserforder-lichen Maßnahmen, für alle gleichermaßen endgültig festgehalten ist, mit dem nichts mehr anders und anderes zu tun, was nur noch so-und-nicht-anders ab-zurufen ist.

Es war gesagt worden, dass wer im Umgang „den räumlichen Grundabstand kennt, den die Teilnehmer an einer informellen Unterhaltung zu wahren haben“,219 in der Regel so viel Anstand besitzt, hier nicht dagegen zu verstoßen, oder so viel Höflich-keit, ihn auch einzuhalten. Wer allerdings Grundabständiges (gerade) nicht kennt, vergessen oder verlegt hat, der kann in einer Umgangslage den Erfahrungstakt auf-rufen. Mit ihm muss er sich immer nur für sich und einander situativ zu helfen wissen: Denn Umgangsleute „können nicht alleine stehen, ohne auf die eine oder andere Art zueinander zu stehen“.220 Werden nun kulturelle Grundabstände durch gesellschaftliche Maßnahmen verändert, beispielsweise über Integration von Um-gangsritualen aus anderen Kulturen oder, wie aktuell, über gesundheitspolitische Eingaben, die in Abstandsregeln, mund- und nasenverhüllenden Maskenpflichten sowie Hygienestandards eine andere Kontaktform nicht nur vorschlagen, sondern auch vorschreiben,221 dann ergehen wie bei Verkehrsregeln, die rechtsverbind-lich Sicherheitsabstände festlegen und Abstandsverstöße ahnden, Ermahnungen bis Bußgeldbescheide an alle, die einander zu dicht auf den Leib rücken, den vor-geschriebenen Abstand nicht einhalten oder sich nicht maskieren, begleitet von Distanz-Empfehlungen. Die neu eingeführten Grundabstände und Maskierungs-pflichten führen zu anderen Berührungsereignissen, durch die sich bislang infor-melle Berührungsordnungen nicht nur erneuern, sondern auch formalisieren. Wo-hin angeleitete größere Abstände der Mitmenschen zueinander sowie eine geringere Sichtbarkeit füreinander führen, welcherart Gewinne und Verluste sie mit sich brin-gen, bleibt zunächst unklar. Möglicherweise sehen sich für gewöhnlich sozial Dis-tanzierte eher gewürdigt, weil sie jetzt mit anderen in einer atmosphärischen Ge-meinsamkeit des Hautfernen sind und sich weniger dem bedrängenden Leibrücken ihrer Mitmenschen entgegen verhalten müssen; vielleicht bringt der Mangel haut-naher Kontakte aber auch eine Berührungsart mit sich, dem die Erfahrungen des Wechselseitigen mit den bildenden Folgen für hautferne Kontakte fehlt, die durch ungewohntes Maskieren zudem verunsichert werden. Ob dann rechtsverbindliche Abstandsregeln und Maskenpflichten in einer Kultur, die zwischenmenschlich von individueller freier Beweglichkeit und Sichtbarkeit geprägt ist, Gewalt als Wider-stand freisetzt,222 andere atmosphärische Gemeinsamkeiten produziert oder auf Bisheriges zurückkommt, ist noch weit offen und wird zu sehen sein. Was das For-malisieren des bisher informell angeleiteten Umgangs aber erkennbarer werden lässt, ist die Verschränkung individueller Regungen und gesellschaftlicher Rege-lungen, da sich nichts an Abstands- und Maskierungsbedarf zu regen vermag, was nicht schon durch das bisherige Miteinander mit geregelt ist.

Da kann schon Irritation aufkommen: wer sich bisher und mit politischem Se-gen radikal gegen das Verschleiern, Verhüllen, Maskieren anderer gestellt, diese als Unterdrückungs- oder auch Täuschungsmanöver moralisiert hat und jetzt sein wahres Gesicht nicht immer und überall zeigen kann, oder wer körpernahes Be-grüßen kennt und jetzt nicht einmal mehr Händeschütteln darf. In diesem Feld der Widersprüche und Zwickmühlen werden Kontakte im Verkehrsleben zu einem kleinen Abenteuer der Gesten, das die Menschen aber nicht allein, sondern als Mit-menschen, also mit anderen eingehen. Wie sie jetzt voreinander auftreten, einander anschauen und ansprechen, können sie nicht wie gewohnt abrufen, sondern dürfen oder müssen es spontan miteinander ausmachen, sich dabei gegebenenfalls mit Un-gewohntem behelfen, einander aushelfen, also auch zu einer anderen atmosphäri-schen Gemeinsamkeit verhelfen. So wird zwar von der Politik zum Schutz für den Einzelnen und einzelne Teilsysteme der Gesellschaft eine andere Kontaktform ver-bindlich eingeführt, aber für die Mitmenschen in konkreten Umgangslagen (noch) nicht näher ausgeführt. Anders als in den Übergängen zur Moderne, in denen der mächtiger werdende Mensch als Individuum und Bürger die verbindlichen Kon-ventionen bricht, um unverbindliche Kontaktformen wie den Takt einzuführen, allerdings zumeist nicht ohne zugleich seine mangelhafte Sicherung der brüchig gewordenen Konventionen zwischen Freiheit und Gefahr zu beklagen, was er als Moderner aber nun mal nicht begradigen kann, da er beim Eiertanz zwischen dem „unbestätigten Anspruch der Konvention und dem ungebärdigen des Individu-ums“223 selber mitmacht. So werden die frei und gefährlich miteinander Lebenden ihre vielfältigen Umgangsprobleme mit einem eiertanzenden Takt nicht auflösen können, sondern aushalten müssen, da sich erst im Verlauf und durch situative Mit-entscheide herausstellt, ob sie zu günstigen oder ungünstigen Gelegenheiten wer-den. Soll die „in sich gebrochene und doch noch gegenwärtige Konvention“224 in den Brüchen lieber nicht hingenommen, sondern über verbindliche Neuauflagen gekittet werden, dann ist wiederum ein Takt gefragt, der bereits vor Eintritt der Gewalt konkreter Situationen weiß, was er wie und woraufhin zu tun hat, der auf freiem Feld mit einem wegleitenden Geländer arbeitet, oder der in hierarchischen Ordnungsgefügen lebt, um dort die Einzelnen auf das Gemeinsame einzustimmen:Da diesem Takt das Umgangsziel schon bekannt ist, bewegt er sich mit anderen, die sich ganz genauso bewegen, also in einem schon eingespielten, nicht erst sich auf-einander einspielenden Miteinander sind; außerdem ereignet sich Mitberührung in dem genannten Sinne des sozialen Berührens, ohne sich zu berühren.226 Dieser Takt tastet ausschließlich, um eine gegebene Ordnung zu sichern, und nicht, um sie für die Mitmenschen darin weltoffen zu halten. Er lebt nicht in Freiheit und Gefahr, in der Spannung zwischen Ordnung und Leben, die es durch Miteinander-Bewegen und Einander-Berühren zu erhalten gilt. Er ist eher wie die um das Gute und Schö-ne immer schon wissende, über ritualisierte Gesten laufende europäische Höflich-keit – oder wie der Takt in Japan:

Angenommen, es geht um das Miteinander im Erziehungs- und Bildungsbereich, dann ist es nicht dasselbe, ob schon diese-oder-jene Erziehung- und Bildungsord-nung gegeben ist, die nur noch von denen, die erziehen und erzogen, bilden und gebildet werden, ordentlich, hier mit Takt, bedient werden muss, damit keiner der Erziehungs- und Bildungsleute sein Gesicht verliert, oder ob sie gehalten sind, im Miteinander erst noch zu einer Erziehungs- und Bildungsordnung, einer atmo-sphärischen Erziehungs- und Bildungsgemeinsamkeit zu kommen, damit sie vorei-nander ihre Gesichter wahren bzw. auch mal zugunsten von Tränengewinnen oder anderen Seelenblessuren verlieren können. So gesehen „zielen der japanische Takt auf den (individuellen) Einklang im Gemeinsamen und der deutsche Takt auf das (kollektive) Einklingen in die Individualität“228:

Der kreativ rettende Takt ist der hier schon abgewiesene Antwortgeber als ord-nungsregulierende, heilende, erlösende, befreiende Praxis, anders als der taktisch weise gesichtswahrende Takt, der nur die gegebene Ordnung für sich und ein-ander beweglich hält, heilsam wirkt, situativ Umgangslösungen finden lässt und Freiheit als Weltoffenheit schafft. Mit ihm ist selbst eine „Übereinstimmung mit sich selbst“230 nicht ohne die Übereinstimmung mit anderen zu haben, also selbst zu bestimmen und von anderen bestimmt zu werden, immer für jetzt, nicht für immer. Er hat keinen anderen Erziehungs- und Bildungsplan, außer jenen der Weltoffenheit für das Finden, Erfinden und Aushandeln von Anschlüssen im mit-menschlich auszuhaltenden Spannungsfeld von Nähe und Distanz, Klugheit und Dummheit, Kampf und Hingabe, Spiel und Ernst, Gefahr und Sicherheit, wie er keinerlei „rettende Auskunft zwischen den entfremdeten Menschen“231 gibt, die sich und einander immer irgendwie Unbekannte bleiben dürfen. Sie stehen auch nicht in Freiheit und Einsamkeit allein „für sich selber ein“,232 vielmehr in Freiheit und Zwang einsam und gemeinsam. Der Takt ist von daher kein Bewahrer des Guten, Schönen und Wahren, es sei denn der Umgangsplan hat das Gute, Schöne und Wahre allgemein festgelegt, damit die Menschen mit einem folgsamen Takt darauf hingeführt werden; wenn nicht, dann liegt das Woraufhin in den Händen der Mitmenschen, die sich in der Gewalt der konkreten Lage aufeinander einlassen und deren Verlauf verantworten. So kann und muss mit Takt nicht gegen verdünn-te Konventionen vorgegangen werden,233 die fehlende Substanz der Konsumenten beklagend, die er mit bildet und die ihn bildet, oder bedauernd, die Umgangs-mitte nicht schnell genug gefunden zu haben, wobei sicher gelegentlich auch beste Balancen über sekundenschnelles Erfassen eines situativen Fixpunktes gefunden werden können. Aber der Entscheid darüber liegt weder in den Ordnungen noch in inneren oder äußeren Wegleitungen; er findet sich immer nur im Umgangsver-lauf der sich miteinander bewegenden, einander berührenden Mitmenschen, bzw. wird von ihnen gefunden. Das ist nicht viel und doch viel, solange rechtsverbind-liche und formelle Kontaktformen auch informelle Wege nehmen und der Takt nicht für den machterhaltenden Zweck missbraucht wird, entweder das eine und einzig wahre kollektive oder individuelle Gesicht zu bedienen, sondern nur die jetzt geradeso und nicht anders voreinander auftretenden, sich einander zeigenden Gesichter der Umgangsleute zu wahren, indem er füreinander Anschlüsse oder Anknüpfungen findet oder erfindet.

Wenn es eine verbindliche Aufgabe des Takts gibt, dann ist es die, in der Umgangs-lage füreinander Anschlüsse zu finden oder zu erfinden. Insofern ist er ein Orientie-rungsbehelf, falls dem einen angesichts des anderen im Moment der Umgangslage nichts Zusammenhänge Stiftendes zu tun und zu lassen einfällt. Dabei lässt er sich nicht darauf reduzieren, ein Laster oder „eine Tugend der zurückhaltenden sozialen Berührung“234, eine vornehme oder einfühlungsvermögende Schonformel zu sein:Die von einer Meisterhand oder vom Gefühlsverstand geführte „Gabe der Diskre-tion“236 mag versichern, dass es untereinander diskret zugeht, also in richtigem Ab-stand oder in angemessener Nähe. Aber nur dann, wenn die Gabe ein Hineingeben dessen sein darf, was unter Diskretion verstanden werden soll. Niemand kann vordem Umgang genau wissen, ob es im Umgang richtig oder falsch ist, sich in die an-deren Belange einzumischen, etwas ans Licht zu zerren, das Prekäre anzusprechen, die weit offene Frage zu stellen,237 das Angemessene oder Unangemessene zeigt sich erst im Anschlüsse (er)findenden Miteinander. Wer in einen Mund- und Nasen-schutz gehüllt, im vorschriftsgemäßen Abstand voreinander steht und keine der ge-wohnten Umgangsantworten anwenden kann, sich also zunächst nicht zu helfen weiß, obwohl er sich regelkonform verhält, dem fehlt es zumeist nicht an Regungen, etwa der Hilflosigkeit, Neugier, Ängstlichkeit, Provokation oder des Ärgers, wohl aber an Regelungen, nächsten formellen oder informellen Handreichungen, wie er jetzt-und-hier in Kontakt gehen kann. Solange die Gesellschaft ihm nichts der Ordnung halber an die Hand gibt, muss bzw. kann er in der Lage noch selber Hand anlegen, sich mit anderen auf eine gemeinsame Ordnung versuchen, vornehm und direkt, einfühlsam und offen, zart und hart aufzutreten, zahme und wilde Blicke werfen, friedfertige und kämpferische Worte sagen. Moderne Umgangsprozesse lassen nicht den einen Menschen in guten Händen eines anderen Menschen sein, ohne ein gemeinsames Aushandeln, was hier situativ gut sein soll und für wen. Da-bei läuft die Gefahr immer mit, dass ein Mitmensch, beispielsweise in der gesell-schaftlichen Rolle eines Busfahrers, Verkäufers oder gewöhnlichen Passanten, auf Abstand und Maske besteht, während ein anderer das Angeordnete missachtet und zart bis hart rebelliert. Gewohnt, sich in Umgangsspielräumen weitgehend frei zu bewegen, gilt es nun mit Freiheitsentzügen umzugehen, was für offizielle wie inoffi-zielle Abgeordnete des Angeordneten eine ungewohnte Last sein kann, da sie in der Gewalt einer konkreten Umgangslage maßregeln müssen, ohne eine dahingehende autoritäre Rolle und praktisch werdende Befugnis zu haben. So gesehen legen die aktuellen Eingriffe in die bürgerlichen Freiheitsrechte nahe, dass es einfacher ist oder leichter fällt, werden Kontaktverbote und andere Maßregelungen von einer schon gegebenen gemeinsamen, also aufeinander eingespielten Ordnung aus einge-setzt, da hier die Menschen das Ausführen von Ansagen gewohnt sind und auch als Mitmenschen eng an der Ordnung laufen und sich nicht erst auf eine gemeinsame Ordnung hin bewegen, im laufenden Kontakt aufeinander einstimmen oder ein-spielen, füreinander Anschlüsse finden oder gar erfinden müssen.

Vorausgesetzt, der Umgang miteinander soll nicht über klassische Hierarchien laufen, und es spricht im modernen Umgangsleben alles gegen ein stures Rangord-nen, dann geht die Frage an agile Hierarchien als ein Miteinander zwischen Frei-heit und Sicherheit bzw. Gefahr, in dem im Verlauf immer etwas auf dem Spiel Stehendes gesehen wird, worum es zu kämpfen gilt. Wer dagegen Umgangsgefah-ren, den fallweisen Überfall, rigoros ausblendet, um sich lieber gleich vor anderen in Sicherheit zu bringen, lebt in der genannten Berührungsangst vor dem Leben und bleibt damit für sich, unangetastet von anderen, ohne einander. Mitberührende sind dagegen Agile, die sich mit anderen verbinden, aber nicht ohne von anderen entbunden zu werden:

Der aufeinander einspielende Takt legt den Fokus auf alle, „die einander Andere sind“, und damit auf das Zueinander, die zu gewinnende und auch immer wieder zu verlierende atmosphärische Gemeinsamkeit. Sie will weder für die Praxis auf diver-se ordnungsgemäße Kontaktformen eingewöhnen, ein „Vermittlungsprinzip“239 für das einzig schöne oder gute Woraufhin aufstellen, noch ein bloßes „Antinomiekon-zept“240 sein, mit dem dann in der Theorie die Probleme eines Umgangs zwischen Ordnung und Leben, Freiheit und Zwang, Realität und Idealität bedacht werden, vielleicht mit dem gut gemeinten Rat, sie in der Praxis auszuhalten oder auszu-schalten.241 In der Praxis des Takts ist zwar das Problem- oder Krisenbewusstsein Bedingung für die Möglichkeit des Umgangs damit, bleibt aber aus fehlender Angst oder auch nur Sorge vor den auf den Leib rückenden bis unter die Haut gehen-den Mitmenschen und einem dadurch mitbestimmten Leben nicht dabei stehen. Der das konkrete Zusammensein ins Spiel miteinander bringende Takt lebt von Mitbestimmung, einem gegenseitigen Bestimmen, wie er selber davon belebt wird, wodurch das offenzuhaltende Undichte entsteht, die schmale Lücke, der kleine Rest für weitere zwischenmenschliche Anschlüsse in den und für die konkreten Lagen, Selbst- und Weltoffenheit vorausgesetzt. So soll es hier sein, wer „nicht allein Spiel-ball, sondern Spieler im Geschehen seines Lebens sein möchte“:

Wer, immer schon Mitmensch, derart am eigenen Leben Anteil nimmt, belebt auch den Spielraum angesichts des anderen und ist insofern selbst- und fremdbestimmt zugleich. In der Rolle von Selbst- und Fremdbestimmten sind Umgangsleute frei für die Zwänge im Umgang mit der vermittelten Unmittelbarkeit, der bestimmenden Unbestimmtheit. Hier sieht die Praxis des Takts eines ihrer wesentlichen Aufgaben-felder, hierfür steht der taktisch weise gesichtswahrende Takt und nur in diesem Sinne ist auch die Bestimmung stimmig, die Ferenczi für den Takt in der Analyse gegeben hat: „Sie sehen, mit dem Wort ‚Takt‘ gelang es mir nur, die Unbestimmtheit in eine einfache und ansprechende Formel zu bringen.“243

Es spricht nichts dagegen, Atmosphären zu charakterisieren und solchen Trägern wie Straßen zuzuordnen, oder Landschaften, Gebäuden, Räumen, überhaupt Um-gebungen. Was dann als atmosphärisch voll, noch bis nicht mehr heiter gilt, ist eine private oder öffentliche Geschmackssache, kulturgemäß beweglich, nicht etwa der Goethestraße an sich anhängig. Kommen hier Menschen als Mitmenschen, einzel-ne Situationen und Strukturen als Träger von Atmosphären dazu, wird die Takt-relevanz deutlich. Wie drei Geschäftsleute an der besonders heiter gestalteten Stra-ßenecke zusammenkommen, um dort ihre Geschäfte zu besprechen, hat auch etwas damit zu tun, wie sie das Heitere für sich und einander erfahrbar machen, sich selber stimmen, aufeinander einstimmen, um eine geschäfts- und damit umgangs-zuträgliche Atmosphäre herzustellen:

Da im Miteinander stets unterschiedliche Träger von Atmosphären zusammenkom-men, also Menschen als Mitmenschen in erst noch zu gestaltenden Umgebungen, aufeinander einzuspielenden sozialen Situationen, ist die Unstimmigkeit ein zur Stimmigkeit stets einladender oder auch auffordernder Normalfall, den der situativ aufeinander einstimmende Takt bedient. Dabei geht es ihm nur um Atmosphären im Raum zwischen Menschen, die durch deren gestalterische Hände gehen: Die Heiterkeit der Abendgesellschaft mag diffus bis offensichtlich im Raum schweben, taktrelevant wird sie erst als erzeugendes, manipulierendes, auch verwerfendes Spiel der sich begegnenden Menschen. So gesehen ist er eher keine Praxis für Innen-einrichter, Landschaftsplaner oder Bühnenbildner, wohl aber für „Krankenpfleger, Sozialarbeiter, Psychotherapeuten und Psychiater“57 und andere Alltägliche, denen es im Kontakt darauf ankommt, dass es im Raum zwischen ihnen stimmt, stimmig wird, sich ein umgangszuträgliches „atmosphärisches Mitsein“58 mitsamt der dau-erhaften Gefahr ergibt, dass sich hier etwas situativ radikalisiert. Dem Takt bleibt es dabei gleichgültig, wohin sich eine Atmosphäre verdichtet, ob sie kühl oder hitzig wird: Gesichtsverluste drohen in beiden Fällen. So müssen unterkühlte wie über-hitzte Umgangstemperaturen nicht zwingend verlassen, sondern können auf zu-trägliche Nuancen erprobt werden, die sich zeigenden körperleiblichen Zeichen wie etwa Enge im Brustbereich, Druck in der Magengegend, Ohrensausen aufnehmend. Wer seinen Sinn für Atmosphärisches einsetzt, also mit Takt vorgeht, der erkennt hier mehr als das atmosphärisch Vorliegende, wie die ausgelassene Abendgesell-schaft, um dieses Miteinander mit Ausgelassenheit zu kommentieren. Seine Stärke liegt dort, wo er im abendgesellschaftlichen Inmitten das dort plötzlich kühl oder hitzig zwischen sich und anderen Hereinbrechende anschlussfähig hält. Dabei kann er das Ausgelassene sichern, aber auch woandershin bewegen. So soll es sein und nachfolgend um die Frage gehen, welcherart Atmosphärenverständnis für den auf-einander einspielenden Takt produktiv werden kann. Atmosphären im Raum und die Menschen

Die Umgangssprache lässt beim Begriff der Atmosphäre spontan an etwas diffus Raumfüllendes denken, dem bei aller Opazität etwas Richtiges innewohnt. Wer von einer kalten oder hitzigen Atmosphäre spricht, nimmt seine Wahrnehmung eher absolut, auch wenn er sie eher spürt denn sichtet: Wer den Umkleideraum einer Turnhalle betritt, dem mag von dem dort präsenten körperausdünstenden Geruch der Atem stocken, so dass er eine Sortierweile benötigt, bis er sich auf ein umkleidendes Tun ins Verhältnis und in Bewegung gesetzt hat; vielleicht drückt das Olfaktorische auch auf seine momentane Stimmung, die spontan in „gefüllte Weite“59 kippt, sobald er wieder ins frischluftige Freie kommt. Aber erst ein diese Gestimmtheit aufnehmendes Tun von anderen, etwa die von einem Trainer grin-send in den Raum fallengelassene Frage, was Mimosen an einem solchen schweiß-getragenen Ort zu suchen haben, lässt eine soziale Situation und damit ein takt-relevantes Klima entstehen: Zum Stickluftigen des Umkleideraums gesellt sich bestimmter Ton; zusammen kann daraus etwas für sich und einander Bedrücken-des werden. Nun lassen sich Atmosphären auch mit Blick auf die Einzelnen im Raum verstehen, etwa als „eine totale oder partielle, in jedem Fall aber umfassende Besetzung eines flächenlosen Raumes oder Gebietes im Bereich erlebter Anwesen-heit“.60 Dabei unterscheidet er streng zwischen solchen der umrandeten leiblichen Regung und des randlosen Gefühls. Bezogen auf die Umkleidesituation erschei-nen vielleicht Schwindel und Übelkeit als „leiblich ergreifende Mächte“61 sowie ge-fühlter Ekel. Damit müssen Menschen im Raum zurechtkommen, da sie nicht zu handlichen Produkten ihres beweglichen Geistes gemacht werden können. Leiblich ergriffen, bleiben sie ihnen unbegreiflich. Damit könnte man es konsequenterweise bewenden lassen, sich leiblich so-oder-anders regen lassen, einem diffusen Gefühl hingeben und einfach abwarten, was passiert. Aber das reicht Schmitz nicht. Er will sie zwar eigenmächtig, so dass sie sich im Raum an Menschen hängen, ohne gezieltes, gedanklich-begriffliches Zurechtlegen, aber sie sollen doch auch in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet sein:

Mit diesem kulturell ambitionierten Sprung bringt Schmitz den Aspekt der binden-den Bildung ins Spiel, die den Atmosphären im Raum zwischen Menschen den Weg weist. Ohne Sozialisation sind sie nicht wahrnehmbar, anders gesagt: Sie hängen immer auch an sozialen Situationen, die in Umgangslagen von den Umgangsbetei-ligten miteinander abgeglichen werden müssen.63 Kommt der soziale Mensch, also der Mitmensch, ins Spiel, bleibt nichts vollständig ungebunden, immer ist etwas über dieses-oder-jenes vermittelt, wie Schmitz selber am „sozialen Gefühlskont-rast“64 ausführt:

Den Bildungsaspekt noch einmal kurz vergessend und nur auf die scheinbar frei im Raum schwebenden Atmosphären schauend, stellt sich Irritation und eher die Frage ein, warum nicht auch die leiblich Frischen „bei einiger Feinfühligkeit“ mer-ken sollten, dass sie mit ihrem frischen Gemüt unter lauter Matten fehl am Platz sind, oder was die Frohen daran hindern sollte, sich frohgemut über den Kontrast zum Traurigen hinwegzusetzen und Frohsinn zu verbreiten. Der von Schmitz kon-statierte Unterschied hängt an seiner Unterscheidung von Gefühlen und leiblichen Regungen: Während die Gefühle eine eigene Würde bekommen, hier ist es die „Autorität der Trauer selbst […], die den Anspruch erhebt, den Raum erlebter Anwesenheit ganz zu besetzen, und mit der Stärke dieses Anspruchs den in dieser Lage minder gewichtigen, aber gleichen Anspruch der Fröhlichkeit nieder-schlägt“,66 so als würde das Klima an sich und nicht die soziale Situation der Trauer mit den vielen Trauernden, dem einen Fröhlichen den richtigen Weg weisen, sorgt die Menschenwürde dafür, dass es unter den Matten und Frischen würdig-würdi-gend zugeht. Wem also nur leiblich behaglich oder unbehaglich zumute ist, dessen Behagen oder Unbehagen ist begrenzt, und zwar im Hinblick auf den situativ be-setzen Raum. Weil das so ist, gibt es untereinander keinen totalen Anspruch auf Vorherrschaft, sondern ein Miteinander und die zusammen auftretenden Frischen und Matten haben „in einer gemeinsamen Umgebung zwanglos nebeneinander Platz“,67 um neue Verhältnisse zu schaffen. Angenommen, auch die von Eigen-würde getragenen Gefühle kommen nicht ohne eine Feinfühligkeit der Fühlenden aus, die bei diverser Sozialisation zudem sichtbar divers ausfällt,68 dann bleiben Menschen als Mitmenschen darauf angewiesen, sich für ein anderes Ergreifen-Lassen offen zu halten. So ist ein aufkommender Konflikt im Raum der Trauer aufgrund einer munter auftretenden und stur bleibenden Fröhlichkeit weder der zu schwachen Trauer noch der zu aufdringlichen Fröhlichkeit anzulasten, sondern den Fröhlichen, die das daraufhin gebildete Feingefühl für dieses-und-nicht-je-nes Atmosphärische gerade jetzt mangels erkennbarer Zugänge nicht aufbringen können. Die leiblichen Atmosphären haben es leichter und schwerer zugleich. Da sie an keine Autoritäten gebunden sind, haben sie mehr partnerschaftlich verstän-digende Spielräume, wobei sich hier eine Uneinigkeit im Miteinander mit einem Wegbrechen der Zwanglosigkeit sowie einer Auflösung der Umrandungen schnell einstellen kann. So bleibt die gebildete, sich bildende Feinfühligkeit eine der Be-dingungen für das Leben der Menschen im jeweiligen sozialen Klima und Schmitz sieht durchaus Wege, wie die Einzelnen zu mehr Feinfühligkeit kommen können, wollen sie in Atmosphären keine geistreichen Beobachter bleiben, sondern auch leiblich Ergriffene werden. Dafür brauchen sie Raum für das Augenblickserleben und für ein Denken, das die „unwillkürliche Lebenserfahrung begriffsfähig“69macht, also lebendige Formulierungen für Widerfahrenes. Wer sich im Umkleide-raum mit seiner akuten Übelkeit mitteilen will, braucht Worte, die sein Erleben nicht der momentanen Stimmung entkleiden. Es geht um keine exakte Beschrei-bung von Symptomen, eher um ein atmosphärisch dichtes Beschreiben dessen, was hier leiblich-gefühlsmäßig im Gange ist: ein diffuser oder punktueller Taumel, der mit einem grenzüberschreitenden Gefühl von Ekel und dem Wunsch nach Flucht einhergeht, wie aus einer sich schier endlos im Kreis drehenden Gesprächs-situation ein erschöpfender Schwindel und daraus ein über alle Ränder hinausge-hendes Gefühl von Leere entstehen kann. All das ist möglich und noch viel mehr oder auch weniger, also kulturgemäß noch ganz anderes.

Zusammengefasst sind die, nur mit Blick auf den Takt gestreiften, Ideen zur At-mosphäre von Schmitz hilfreich, den Spielraum des Erkennens für das zwischen-menschliche Tun in konkreten Lagen auf die Relevanz der Plötzlichkeit, einer spontanen Betroffenheit, dem eigenleiblichen Spüren und einer sich daran orien-tierenden begrifflichen Anwendung zu erweitern. Allerdings ist damit für den Ex-zentriker nichts weiter geschaffen, was darüber hinaus gehen würde: keine für jetzt und immer gleich gültige Verbindung zwischen dem plötzlichen Erleben und dem Fühlen des Gefühls, da mag die leibliche Regung noch so markant, das vermitteln-de Wort noch so treffend sein: Wenn ein trüber Nebelmorgen oder ein schwüler Sommerabend dazu führt, dass für diejenigen, die sich darin bewegen, plötzlich alles eng wird, „mit einem Schlage müde, gedrückt und lastend wirkt, einschließ-lich des eigenen Leibes“,70 dann muss zunächst das Trübe und Schwüle kulturell wie individuell als trüb und schwül benannt, erkannt und die Brücke hinüber zu Müdigkeit, Bedrückung und Last hergestellt werden. Ein nebliger Novembertag ist nicht zwingend trübe und verführt zu Trübnis; er kann auch in seiner Opazität alles weit machen, also situativ entspannen, indem er die Sicht auf sich und andere vernebelt, vor neugierigen Blicken schützt, ebenso wie ein schwüler Sommertag einfach nur zu individuell produktiver Langsamkeit überreden kann oder von kul-turellem wie persönlichem Geschmack geprägte Gerüche die Menschen etwas ver-anlassen zu riechen und entsprechend zu spüren, ein markantes Parfüm, Gewürze, alte Gemäuer in aller Vielfalt anziehend wie abstoßend wirken können. Selbst der vollsonnige Sommertag lässt weit offen, was der Mensch beim Dort-Hineingehen wahrnimmt und welche Befindlichkeit sich über seinen fitten oder lahmen „spezi-fischen Sinn für das Darin-Sein“71 einstellt. Möglich ist nicht nur die hell muntere Gestimmtheit, denn wem der Sonnentag grell erscheint, der kann sich angestrengt bis überfordert, der schattenlosen Atmosphäre ausgeliefert fühlen: „Sich leiblich spüren heißt zugleich spüren, wie ich mich in meiner Umgebung befinde, wie mir hier zumute ist“,72 und dies muss auch daran hängen dürfen, welche Pakte das Leibliche kulturell wie individuell eingehen will, kann oder muss. Solange ein Son-nentag alles hell und deshalb gut macht, der Schatten darin Zwielicht bringt, ins weniger gut Erkennbare abschattet, überschattet, beschattet, etwas oder jemanden in den Schatten stellt, bleibt hier die Gestimmtheit entsprechend weit, hebend: in Sonnenlust, und dort eng, drückend: in Schattenlast.73 Wie letztlich Verstehen bzw. Verständnis und Tun hergestellt werden, liegt an der konkreten Erfahrung, dem kulturell, kontextuell wie individuell beeinflussten Gemütseindruck und einem entsprechenden Gemütsausdruck als nicht vorab einstellbare, mit Takt füreinan-der deutungsoffen gehaltene, gesichtswahrende Ausdrucksbewegung. Wer einem Mitmenschen woraufhin auch immer begegnet, kann sich enger oder weiter an den Eigenarten, expliziten Wünschen anderer, den gesellschaftlichen Üblichkeiten, den eigenen Wünschen wie Möglichkeiten orientieren. Wer würdig-würdigende Wege zu gehen vorhat, muss sich mit diesem Dreieck auskennen und darin zu-rechtfinden, um sich im laufenden Umgangsprozess auf ein atmosphärisches Mit-einander besinnen zu können, also auf das, was atmosphärisch heiter bis wolkig erscheint, ergreift und sich leiblich regt. 2.2 Atmosphären zwischen Menschen

Wenn Schmitz die Suche nach lebendigen Formulierungen für ein Augenblicks-erleben anregt, dann schaut er dabei weniger auf das Erleben des Menschen als Mitmenschen. Ihn interessieren die leiblichen Regungen des Einzelnen, die sich dann unter anderem über solche polaren Begriffspaare wie Enge und Weite in solchen nach Schrecken, Angst oder Panik, Schläfrigkeit, Behagen oder Fröh-lichkeit schmeckenden Gefühlswörtern wiederfinden. Verspürt ein solches Selbst inmitten anderer, dass sich da im Raum etwas befindet, das ihm den Atem raubt, die Kehle zuschnürt oder das Herz aufgehen lässt, dann kümmert ihn weniger das Ich/Du-Wir-Befinden-in-unserer-Umgebung, vielmehr das Sich-Befinden-in-seiner-Umgebung und die unabhängig von anderen aufgefunden, wohl aber von bildungsideeller Feinfühligkeit angeleiteten, also doch nicht ganz unelastischen, Begriffe. Ein anderer Zugang ergibt sich, wenn man auf den Gebrauch der Worte fokussiert, durch die sich eine Atmosphäre ergibt, die „gerade das [ist], was man sich nicht wegdenken kann“,74 weil sie immer schon irgendwie da ist, um sich im Raum zwischen einander leibhaftig begegnenden, sich sprachlich verständigen-den, Menschen zu verlebendigen, gemeinsam zu werden:

Es ist demnach nicht das zum eigenen Befinden passende Wort an sich, das süß, scharf oder bitter schmeckt, sondern das „in einer bestimmten Umgebung, in be-stimmtem Tonfall gesprochen[e]“ und so oder anders von anderen gehörte, auf-genommene sowie in dieser oder jener Weise kommentierte Wort, wodurch ein bestimmtes atmosphärisches Miteinander geschaffen wird. Dazu kommt, dass ei-nem Wort, einer Formulierung auch deshalb eine besondere Atmosphäre anhaften kann, weil sie dort vom Sprecher gezielt hineininszeniert wird, um sich gegebenen-falls über den Sprechermoment hinaus ebenda zu verfestigen. Wer beispielsweise brav, kriminell, schwach oder humorlos erscheinen möchte oder muss, der braucht Wegleitung zu sich als Person in der gewählten oder zugewiesenen Rolle-als, einen Charaktertext, den er sich aus Vorlagen und eigenen Ideen zusammenstellt, den er einübt, antrainiert und für die vielen Premieren des Alltags vor sich und anderen eindrücklich werden lässt:

Herrscht in der Schulklasse ein ironischer, im Lauftraining ein heroischer, im Yo-gakurs ein esoterischer und am Familientisch ein betont fröhlicher Umgangston, dann kann es sein, dass Neuankömmlinge nicht sofort oder Alteingesessene mo-mentan nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen – da sie es nicht lesen können. Sind die Stimmungen nichts als Vereinbarungen der jeweiligen Gruppe, die auf-einander eingestimmt und nicht einstimmig gemacht werden sollen, dann hat der Takt hier nichts weiter zu tun, als seine lektürehelfenden Einsätze nicht zu verpas-sen. Wer sich beim Lauftraining den Fuß verknackst und mit zusammengepressten Lippen den aufkommenden Schmerz heroisch verschmerzt, der handelt verein-barungs- oder stilgemäß und muss irritiert bis unangenehm getroffen reagieren, sollte jemand aus der Gruppe dem verknacksenden Akt eine hellaufgeregte Auf-merksamkeit schenken. Andersherum ist jedes aufheulende, klagende, jammernde Gehabe ein klarer Affront gegen den beschlossenen Heroen-Pakt. Für Takteinsätze müssen nur jene Bühnen bespielt werden, auf denen die Kontaktierenden „Spre-chender und Angesprochener füreinander sind“.77 Ergibt sich augenblicklich eine Umgangsirritation, so entsteht nichts als eine Art von sprachloser Schwelle, auf der die eine oder der andere den von Hilfsbereitschaft über Mitleid bis Schadenfreude geprägten Text nicht mehr anbringen kann:

Im lebendigen Formulieren, im Spiel „mit elastischen, ja auch biegsamen Begriffen“,79ist der Mensch immer auch „wie ein anderer, gegen ihn austauschbar“,80 unterwegs im vielfältigen, dabei stets unwegsamen Ausdrucksgelände, das der Takt begehbar macht, ohne es zu betonieren. Haben Worte Atmosphären, die aber nicht wie Kletten an ih-nen hängen, sondern sich immer nur durch ihren jeweiligen Gebrauch präsentieren, dann sind die gefallenen Worte für die situative Praxis freigestellt. Die Töne mögen die Musik im Raum so stimmig machen, wie sie wollen; sobald auch nur einer irgendwie dagegen anstimmt, ist die gelebte Harmonie hinüber und alle vor Ort sind gehalten, sich mit den Misstönen zu befassen und frische Umgangsluft hereinzulassen, wollen sie keine radikal angreifenden oder wegduckenden Wege gehen: Der Griesgram am Familientisch, der exoterisch Gestimmte im Yogakurs, der Schmerzsensible im Lauf-training, der Humorlose im Klassenraum – sie alle sind nicht nur für sich, auch fürei-nander in ihren Umgebungen, da sie dort auf andere treffen, die ebenfalls irgendwie dort sind, wodurch sich ein miteinander verschränktes, sowohl für sich bleibendes wie aufeinander bezogenes Befinden einstellt. Wo es den eher allein bleibenden Men-schen, ob sie nun im Wattenmeer waten, im Fitnessstudio trainieren, auf einer Park-bank sitzen oder anderes für sich tun, möglich ist, sich bei allem unerwartet auf sie Zukommenden von anderen weitgehend unbeeinflusst auf ein bestimmtes Befinden einzustimmen, da bleibt das aus einem Zusammensein entstehende Atmosphärische in einem steten Unruhestand, da sich hier zwischen einander Erwartetes und Un-erwartetes, Fragloses und Fragwürdiges, Begreifliches und Unbegreifliches abspielt, was nicht nur das eigene Befinden in Umgebungen entsprechend beeinflusst:

Solange beispielsweise ein Trainingsstil über konkrete Durchhalteparolen eine heroische Atmosphäre herstellt, bleiben Schmerzsensible und Schmerzhelden im Training in einem unstimmigen Ich/Du-Wir-Befinden. Ein Läufer, der gegen den vereinbarten Stil seinen Schmerz zeigt, lässt sich hier leicht begrifflich abwertend als Schwächling oder Feigling einfangen und entsprechend stiltragend ausschließen. So gesehen wird jeder Schmerzausdruck im Training solange als unzumutbare, das atmosphärische Miteinander störende Geste begriffen und behandelt, wie sich die Läuferbande in ihrem Heldentum gefällt, denn ohne den selbsternannten Helden wird keiner der Läufer als Schwächling oder Feigling begreifbar. Aber so einfach ist es auch wieder nicht, da der trainierende Held wie auch der Feigling oder Schwäch-ling mindestens zwei ausdruckstragende Gesichter haben: Wer stilkonform seinen Schmerz verhüllt, dessen Heldengesicht mag für die einen tapfer oder mutig, für die anderen grausam oder arrogant wirken; wer dagegen offen seinen Schmerz nach außen trägt, dessen Gesicht kann für andere ebenso panisch bis hypochondrisch wie auch besonnen, fürsorglich oder aufmerksam aussehen und entsprechend ent-weder abfällig als schwach oder beifällig als weise aufgefasst werden. Dabei darf es hier gleichgültig bleiben, ob eine heroische oder sensible, grausame oder panische, tapfere oder fürsorgliche Atmosphäre als leiblich gespürte Anwesenheit erstes fun-damentales, möglicherweise sogar noch vorsprachliches, Wahrnehmungsereignis ist und damit vor allem Erkennen von Ereignissen jedweder Art steht, wie Böhme es sieht:

Angenommen, der exoterisch gestimmte Yogakursteilnehmer spürt beim Erstkon-takt eine Atmosphäre als Anwesenheit von Esoterik, oder anders: Er nimmt Esote-risches wahr, gewahrt esoterische Ausdrucksbewegungen.83 Dann spürt er nicht viel mehr, als dass für ihn hier und jetzt etwas nicht stimmt und füreinander unstimmig wird, weshalb er sich zu entscheiden hat, denn „Kommunikation zwischen Men-schen vollzieht sich immer in einer Atmosphäre, und es gibt eine spezifische Kom-munikationsform, die in der Produktion der gemeinsamen Atmosphäre besteht“.84So kann er weder wollen, mit purem Eigensinn seiner exoterischen Gestimmtheit noch den Vereinbarungen aller anderen zu folgen, sich ihnen voll unterzuordnen, sich selber bloß beizuordnen – solange Einstimmen, nicht Einstimmigkeit gefragt ist. Kommt hier der Takt dazu, erschließen sich seine Möglichkeitsspielräume aus der gegebenen Situation und dem entsprechenden Ich/Du-Wir-Befinden; außer-dem werden sie wesentlich davon beeinflusst, wie sehr er sich in dem Sachgebiet auskennt, um die esoterische Atmosphäre zu erkennen und dann einen anderen, etwa eher sportlichen, Geschmack in die Yogaübungen einbringen zu können. So verhält es sich auch mit dem Wunsch nach einem aufeinander abgestimmten Trainingslauf von Schmerzhelden und Schmerzsensiblen. Hier werden taktvolle Gesichtslektüren, mit Takt hergestellte Trainingsatmosphären nötig, in denen ein mutiger oder besonnener Umgang mit Trainingsschmerzen gepflegt werden kann, die es aber auch mit einem arroganten oder panischen, grausamen oder hypochon-drischen Zugang zum eigenen wie fremden Schmerz aufnehmen, solange er sich in exzentrischer Manier wahrnehmen und behandeln lässt. Dies angenommen, kön-nen die betont Fröhlichen den Griesgram am Familientisch gewahren und ernst nehmen, ohne sich von ihm und seiner Gestimmtheit einnehmen zu lassen, wie umgekehrt der Griesgram die betont Fröhlichen achtet, ohne sein Griesgrämiges zu verleugnen, oder der humorlose und die ironischen Mitschüler sich derart vonei-nander berühren lassen, dass sie zu einem lagebeschränkt stimmigen Umgangston kommen: Es gehört zu den unumstößlichen Bedingungen des Miteinanders, dass der Einzelne für die Atmosphäre zwischen einander zuständig bleibt. Er kann sie annehmen, mittragen, verändern, neu entwerfen oder auch ablehnen – er entschei-det immer mit und zeigt situativ, ob sie sein Glück oder Leid sein soll. So mag sie schon diffus bis markant im Raum sein, „bevor man ihn anredet“,85 um dann viel-leicht ungefragt über ihn herzufallen und ihn leiblich zu berühren – ihre Relevanz für das Miteinander zeigt sich erst im Zeigen und einem Erwidern, Kommentieren oder auch Zurückweisen, wodurch sie aktualisiert wie zerstört oder erneuert wer-den kann:

Wer einen Grundton hält, bemüht beispielsweise Floskeln oder erinnerte Ge-schichten aus alten, gemeinsamen Gruppenzeiten, um ehemals „geteilte Gefühle zu aktualisieren“.87 So setzt sein Dauerlächeln auf, wer nach längerer Abwesenheit in die gewohnt betont fröhliche Familienatmosphäre hineingerät, die irgendwann von einem Familienmitglied gesät, aufgenommen und allseits mitgetragen wurde. Indem er das dermaleinst Geteilte aktualisiert, geht er zugleich damit in die Ein-tönigkeit und schließt die vielfältigen Bewegungen des Augenblicks, seine eigene Lebendigkeit wie die der anderen aus. Bei derartigen Grundtonarbeiten macht der Takt nicht mit. Er weist atmosphärische Störungen nicht ab, sondern nimmt sich ihrer an, um in und schon nicht vor der Situation zu entscheiden, ob sie eine Chan-ce oder ein Risiko für die irgendwann einmal vereinbarte und gelebte Stimmigkeit darstellen, denn jede noch so grundtönige Gruppe hat viele Gesichter: Die Laufhel-den können mutig oder grausam, die betont fröhlichen Familienmitglieder lebhaft frisch oder unbekümmert auftreten. So gesehen sind der Schmerzsensible oder der Griesgram als atmosphärischer Störfall durchaus konstruktiv, wenn sie einen einst auf Grausamkeit oder Unbekümmertheit gesetzten und noch immer derart laufen-den Grundton bloßstellen. Was sich im Miteinander stets über Taktpraxen erzeugen lässt, das sind Räume für den spielerischen Umgang mit den zufällig wie plötzlich auftretenden und „hautnäher“88 kommenden Atmosphären, die erst im Moment des Betretens einer Umgebung durch die verschieden gestaltete Gewalt der jewei-ligen Situation konkret werden, wodurch sie sich auch begrifflich immer wieder neu, aber nie vollständig, einfangen lassen: Die moderne Kombination aus geraden Formen, grellem Hell und glatten Oberflächen in öffentlichen wie privaten Räumen mag den Menschenkörper frösteln lassen; ob daraus eine zwischenmenschlich kalte, ungemütliche, sogar angespannte oder ungesunde Umgangsatmosphäre wird, liegt wesentlich an den im Raum miteinander Umgehenden und nur auch an dem so genannten klinisch steril gestalteten Raum, in dem sich einzelne Fröstelnde hilf-los verwickeln mögen. Es müssen mindestens zwei Menschen sein, die einhellig frösteln oder auch im Kühlen sicher sind, die darauf bestehen können, dass es hier und jetzt unterkühlt oder sicher zugeht. Welches atmosphärische Miteinander ist oder sein soll, verantworten die miteinander Umgehenden, um Anschlussstellen finden und erfinden zu können oder auch in aller Offenheit oder Geheimhaltung zu beschließen, solche weder finden noch erfinden zu wollen. Wer über „vertrau-ensbildende Maßnahmen zur Verbesserung der Atmosphäre“89 im Raum zwischen Menschen beizutragen vorhat, kann dies nicht unabhängig davon tun, was die Be-teiligten unter einer vertrauensvollen Atmosphäre verstehen möchten, also worauf-hin das Miteinander etwa über ein „umformendes Eingehen auf fremde Erwartun-gen“ zu bilden ist:

Solche vertrauensbildenden Maßnahmen haben auf die gemeinsame Anwesenheit der Menschen im Umgangsfeld zu achten, die sie füreinander erreichbar, verfügbar und wechselseitig angreifbar sein lässt, sowie auf die dort omnipräsente Gewalt und „ewige Undurchsichtigkeit der konkreten Situationen“.91 Umformenden Praktiken darf nicht schon vor dem Umgang ein gesicherter Umgang miteinander nahe lie-gen. Bei aller Besonnenheit kann auf den Mut gesetzt werden, sich der Gewalt und Undurchsichtigkeit, dem Augenblick der zwischenmenschlichen Verkehrslage zu stellen, denn sich zu verstellen, umzuformen, zu verwandeln, Gesichter aufzuset-zen, in Rollen zu schlüpfen, den Ton die Musik machen zu lassen, das vielfältige „Spiel der Blicke“92 zu spielen, gehört zu den menschlichen Praktiken, den diversen Gefahren des Miteinanders im gesellschaftlichen Feld die Stirn zu bieten und für die jeweilige Lage Bestände zu sichern:

Die wichtigste vertrauensbildende Maßnahme ist daher der offengelegte und gleich wieder vergessen gemachte Schritt in die Reflexivität, also in die stets spielerisch bleibende Ernsthaftigkeit im Umgang. So erscheint es zwar naheliegend, solche Fra-gen wie „Was muss man tun, um eine kreative Atmosphäre entstehen zu lassen; was kann man dazu beitragen, dass in einer Familie eine gesunde Atmosphäre herrscht; wodurch wirkt eine Atmosphäre beruhigend, gastlich, für Kinder gedeihlich?“94 als schwer beantwortbar in den Umgangsraum zu stellen. Allerdings bleibt es eintönig und vielleicht ein wenig unmutig, eine Atmosphäre derart entschärfen zu wollen, dass aus ihr ein bloß Grundton-rettender Beitrag wird, der wie beim einseitig bleibenden entwicklungshelfenden Takt aus einer verhaltenen Haltung besteht, so als wäre der eigene Blick auf das für den anderen Zuträgliche seiner immer schon würdig:

Liegt nun der Fokus beim verhaltenen Umgehen-mit eher darauf, verwickelt zu wer-den, sich verwickeln zu lassen, damit sich etwas entwickelt, was abseits von Inten-tionalem verläuft, dann kommt es weniger auf die verhaltene Haltung zum Zwecke eines kreativen, gesunden, beruhigenden, gastlichen, gedeihlichen oder anderweiti-gen Miteinanders an. Vielmehr geht es um eine mit Takt Vertrauen schaffende Wir-Atmosphäre, in dem eine Zurücknahme auch als Hinnahme von Geschehnissen auftreten können.

Für das atmosphärische Miteinander kann demnach ein Aspekt besonders stark werden: Da ist der Gedanke von Schmitz, das Denken für das Plötzliche, merk-lich Widerfahrene begriffsfähig zu machen. Wer, „aufgeschreckt bei irgendeiner Verrichtung des täglichen Lebens“,96 von einer Empfindung wie Ekel, Freude, Lust, Schmerz leiblich ergriffen wird, ohne dies sofort zu begreifen, auf schon zurecht-gelegte, bedeutungsbelegte Worte zurückzugreifen, hält sich seiner Umgebung gegenüber offen, bleibt aber noch einsam im Sich-Befinden. Geht er zudem ins Zu-sammensein, dann kommt das Ich/Du-Wir-Befinden mit den Chancen und Risi-ken hinzu, die sich durch das gegenseitig Gezeigte für jetzt, nicht für später oder gar für immer, ergeben und zur weiteren Gestaltung aufrufen. Dabei kann es stim-mig wie unstimmig zugehen, denn der Einzelne muss nicht so bleiben, wie er sich mal gezeigt hat, selbst wenn er derselbe, und schon gar nicht, wenn er ein anderer sein will, etwa ein Feingeistiger unter lauter Grobschlächtigen. Bleibt es dabei, dass Menschen sind, was sie zeigen, dann zeigt sich, dass ihr Zeigen mal mehr, mal we-niger kommunikativ glückt, der Ekel des angeekelten, die Freude des freudigen, die Lust des lustvollen, der Schmerz des schmerzverzerrten Gesichts zu den „Be-wegungsgestalten von einer bestimmten Folgesinnigkeit“97 gehört. So gesehen wird „der Leib sekündlich geformt […] entlang der Wege, die man geht, oder der Ande-ren, die man trifft“,98 was sich zulasten gründlich kontrollierbarer Bewegungsein-heiten auswirkt, mag der Wunsch nach Erhalt einer konstanten, harmonisch durch-wirkten Ordnung mitsamt einem endlos haltbaren wie glaubwürdigen Selbstbild so vorhanden wie verständlich sein. Gestaltet sich also der Leib beständig angesichts des und der anderen, so kann es sein, dass sich im Alleinsein-mit der plötzlich von etwas Angeekelte als olfaktorischen Feingeist, im Zusammensein, im Blick anderer, als Mimose erlebt, und damit „das eigene begrenzte Für-sich-sein“99 erkennt. Wie der Umgang dann tatsächlich verläuft, inwiefern er sich inmitten einer Umgebung verwickeln lässt, damit sich etwas entwickelt, und welcherart Atmosphäre dabei entsteht, hängt unter anderem davon ab, welchen Platz das Hinnehmen, Erdulden, Erleiden des Mit-ihm-Geschehens erhält, hier ohne bei seiner Verhaltenheit, seinen Zurücknahmen im Umgang-mit auf einen meisterlich oder gefühlsgewiss abmil-dernden bis aufhaltenden Takt zurückgreifen zu können. Die folgenden Erwägun-gen nehmen deshalb für die Leidensfrage jenen gedanklichen Faden auf, der über den hilfreich-heilsamen Takt bereits gelegt wurde, mit dem für ein gedachtes frem-des wie eigenes seelisches Wohl andere in ein geschütztes Leiden gebracht werden. Jetzt geht es etwas abseits von Intentionen und Interventionen darum, was sich für die Menschen im Kontakt mit ihrer Umgebung situativ ungezielt wie ungeschützt ergibt, so dass sie sich dem nur noch kampflos ergeben können. Hierfür werden einige am Phänomen orientierte Ideen zum im „Dickicht der Wahrnehmung“100Widerfahrenen aufgenommen, das für davon Betroffene nichts weiter als eine er-leidende Bewandtnis hat101:

Wer den Umkleideraum einer Turnhalle betritt, um dort in eine schweißgeladene Dunstglocke und daraufhin ins „Fertigsein, Nichts-mehr-anfangen-Können“ zu ge-raten, mit dem geschieht etwas, vielleicht überkommt ihn so etwas wie Ekel, er ringt nach frischer Luft, verspürt Übelkeit, will fliehen. Im „Dickicht der Wahrnehmung“ scheint er an eine Grenze gestoßen, ihm etwas zugestoßen zu sein, ob er sich nur in seiner oder auch in gemeinsamer Umgebung bewegt, wobei dort durch die Vielen vieles weitaus undurchsichtiger ist, weshalb er mehr als im Alleingang darauf ange-wiesen bleibt, das Wahrgenommene aufhellen und feststellen zu können. Nur ist das mit ihm gleichwie Passierte kein Hindernis, das er sogleich munter umgehen oder aus dem Weg räumen, die Gewalt der konkreten Lage keine freundliche Offerte, die er prompt ablehnen oder annehmen kann, selbst wenn er gezielt in die Situation hineingeht, um dort von einem individuellen wie kulturellen, sein aktuelles Erleben grundierenden Erfahrungsgemäß auszugehen. Vielleicht begreift er auch sofort, warum der Geruch Ekel, nicht Neugier, bei ihm auslöst und hat die Lage unmittel-bar im Griff, aber sicher ist das nicht, da nicht immer alles, sofort, wie gedacht und gemacht versicherbar ist: „Nichts hat mich“103 taugt als Wunsch, widerspricht aber der alltäglichen Praxis. So gesehen erfährt er im Kontakt mit seiner Umgebung, dass sich ihm Hindernisse anbieten und Geschehnisse von ihm hinzunehmen sind. Im anbietenden Fall kann er mit dem gewahrten Geruch, dem wahrgenommenen Ekel, der Übelkeit und dem Flüchtigen noch etwas anfangen – den Raum verlassen, die Luft anhalten, ein Fenster öffnen, sich quer zur gegebenen Lage stellen:

Während das sich querstellende Anfangen-Können sein veränderbares Tun zeigt, bringt sein Nichts-mehr-anfangen-Können zum Ausdruck, dass er als verwundbar Geborener etwas mit sich machen lässt, das nicht etwa keine, weil momentan weder dem Erkennen noch dem Tun zugängliche, sondern eine erleidende, sein Machen durchquerende Bewandtnis hat,105 nur für jetzt, nicht für allemal. Angenommen, die erleidende Bewandtnis dessen, was dem Menschen beim Kontakt mit seiner Um-gebung widerfährt, hat einen eigenen Platz im Feld eines Wahrnehmens, insofern es sich von anderen wahrnehmen lässt, dann sind die Positionen des Wahrgenommenen und des verwickelten Körpers noch offen. Möglich ist, den Schweißgeruch als „schlichtweg ekelhaft“106 zu etikettieren, ein „Wovor des Ekels“ als „Qualität des in-tendierten Objekts“107: Der Umkleideraum ist dann eklig, wie er genauso auch groß, eng oder klein sein kann, was der dort Eintretende zunächst nichts als gewahrt, bevor er sich dorthinein verwickeln und leiblich betreffen lässt, „insofern er die Einwirkungen eines Wahrgenommenen erleidet“:

Da er beim Eintritt in den Raum mit seinem Körper unmittelbar an das dort ge-radezu Ekelhafte anstößt, stößt es ihm von dort zu, er stößt sich daran und sein Eindruck von Ekel kommt nicht als leibliches Spüren unvermittelt von Innen, son-dern vermittelt von der Welt her. Ist allerdings nicht nur er mit dem Ekelhaften und seinem Ekel im Raum, kommt einer dazu, der ihn mit spöttischem Gehabe als Mimose in Blick nimmt, dann stößt er zudem an einen Mitmenschen, nimmt sich als einer unter ihnen wahr. Berührt von der dinghaften wie zwischenmenschlichen Atmosphäre, gerät das für ihn gebräuchliche Wovor des Ekels mitsamt seiner ab-lehnenden Körperantwort in Bewegung. Er erfährt einen abweichenden Gebrauch des von ihm Wahrgenommenen und darüber seine spontane leibliche Regung als bloß eigensinnig oder schon voreingenommen,109 so wie der Spötter seinen Spott als auf sich beschränkt, weniger mitmenschlich verschränkt, erlebt. Erst im weiteren Zusammensein ergibt sich dann für alle Einzelnen die Gelegenheit, bei ihren selbst-bezogenen leiblichen, sozialen Antworten zu bleiben oder sich auf weltoffene Ich/Du-Wir-Wege zu begeben. Wie auch immer sie entscheiden, das Widerfahrene ist hier kein im allgemeinen Außenraum isoliertes Ding, so wenig wie ein im eigenen Innenraum eingekapseltes Leib-und-Seelen-Weh. 2.4 Der sich-einlassende Takt

Bisher ist gesagt worden, dass der Takt seine spannungsverhandelnden Einsätze dort hat, wo es in der Gewalt konkreter Situationen um ein würdig-würdigen-des Miteinander geht: im aktiven Widerstand gegen ein erstarrendes, weltraum-erkaltendes Machen, für lebendig bleibende Ordnungen im plötzlich stockenden Verkehrsleben. Die Frage geht jetzt dahin, welche Position der Takt einnimmt, wenn nicht dagegenhaltendes Tun, vielmehr widerfahrenes Erleiden, im Fokus steht. Angenommen, das Geschehene geschieht mit dem Menschen und der Takt steht dem Lassen bei: Wer vom Ekelhaften berührt wird, um davon berührt zu werden, eine Angst, einen Schmerz, ein Glücksgefühl, einen Geruch in der Nase hat, um sich zu ängstigen, verletzt, glücklich zu sein, zu riechen, der macht nichts weiter als das, wie er im Dickicht herumtastet, um dort herumzutasten. Was dem Einzelnen dort geschieht, überfällt ihn stets vermittelt von der Welt her, ein über Ausdrucksbewegungen laufendes „Anschließen an und in einer Situation“.110 In-sofern das ekelverzerrte Gesicht ein Leiden erkennen lässt, hat er – wie beim Ins-Lachen-Fallen, Sich-ins-Weinen-fallen-Lassen – die Antwort auf die Frage über-nommen, die er anders gerade nicht geben kann. Hat der Körpermensch seine Ausdrucksbewegungen nicht in der Hand, fällt er zwar als Werkzeug gewählten Tuns aus und die Lage bleibt unbearbeitet, aber es bleiben ihm erleidende Spiel-räume als Umgang mit seiner Ohnmacht. Was er dann vorführt, muss weder un-bedeutend sein noch zwingend überwunden werden, sondern hat einen eigenen Platz im Feld des Ausdrucks, wie der eindrücklich werdende Ekel passiert, den Körper bewegt und dabei allerhand unter der Hand anrichtet, etwas Unergründli-ches macht, was im Leiden selber seine guten Gründe hat. Das Leiden zu erleiden, weil das Geschehene geschieht, kann dann durchaus heißen: beim Lassen noch ein Machen, in Lagen der Ohnmacht noch eine Macht zu zeigen, die mit Takt Anschlüsse finden lässt:

So gesehen und mit dem Exzentriker, der in keiner seiner Lagen aufgeht, sich aber zu jeder von ihnen auf Abstand und Ablöse bringt, ist ein bisschen Tun immer, denn auch ein aus dem Leiden heraus geschehenes Ausdrucksgeschehen ist eine ausdrückliche Antwort, zwar ohne einen gedachten oder gemachten, aber mit leib-lichem Sinn:

Taktsituationen und -beziehungen achten auf diese „sehr eigentümliche Mitte“, da-mit auch Umgangsleute ein solches Geschehen mit sich geschehen lassen können, ohne dabei an fester Hand von inneren wie äußeren Absichten geführt zu werden, denn wer sich unabsichtlich einem reibungslosen Umgang entgegen bewegt, ist immer auch auf ein dies mittragendes Umfeld angewiesen. Mit einem von Übel-keit gezeichneten Gesicht eine Leidenssituation für sich zu gewahren, ohne damit ins tätige Tun zu gehen, ist nur das eine. Etwas anderes ist, mit diesem Gewahren und Lassen den zielgerichteten Mitmenschen in die Quere zu kommen. Sollen Lei-dende Spielräume für das mit ihnen geschehene Ausdrucksgeschehen erhalten, so ist nach Anschlüssen anderer an und in der Lage zu schauen, insofern das eigene Leiden nicht verbleiben oder vertrieben, auch nicht zum Leiden anderer werden soll, sondern nur ein hier-und-jetzt, nicht anderswo und später, gültiger Ausdruck des anderes als gedacht mit sich machen lassenden Körpers sein darf. Denn ein solches unbeabsichtigtes Geschehen muss nicht nur mit Schrecken, es kann auch mit Neugier erfüllen. Dann verhält es sich damit wie mit einem verborgen mitlau-fenden Wunsch, im Verlauf des Umgangs mit sich, anderen und anderem möge et-was Unerwartetes passieren, sich Erstaunliches von-hier-nach-da bewegen. Dieses Wünschen wiederum lässt dem Leiden Raum für Macht und Ohnmacht, Lust und Schmerz, Süßes und Bitteres. So mag zwar alles Leiden dem laufenden Betrieb ge-wählter Taten wie auch immer in die Quere kommen; gewürdigt gehört es zum fes-ten Bestand des mit dem Machen etwas machenden, das Machen durchquerenden Umgangs im Spannungsfeld von Ordnung und Leben. Der spöttische Kommentar des Trainers, der den Angeekelten zu einer dem Sport nicht zugehörigen, daher ungehörigen Mimose macht, nicht zu einem olfaktorischen Feingeist, ist dann inso-fern ohne Takt, als er stur den Menschen der Tat, nicht auch den des Leidens, meint. In einer mit Takt gehaltenen Atmosphäre, belebt vom Einzelnen im Miteinander, wird man immer etwas tun und erleiden, machen und mit sich machen lassen. Si-cherlich kann der Sportmensch in der Umkleide einsam vor einem Ding stehen, mit und unter Dingen sein, von diesen berührt werden, umwölkt von dem dort typischen Geruch, und dabei in aller Vielfalt ins Leiden geraten, aber sein Leben lebt er nie ganz für sich, immer schon als einer-unter-anderen:

Insofern der eine Einzelne mit vielen anderen Einzelnen in einer Ich/Du-Wir-Umgebung lebt, die für sie vielleicht ab und zu, aber nie an sich, heimelig wird, in der mit ihnen durch andere immer auch etwas geschehen kann, für das sie noch einen mit anderen teilbaren Ausdruck finden möchten, sind Kontakt und Berüh-rung durchaus wesentliche „Vorbedingungen der Sphäre menschlicher Existenz“. Dies angenommen, hat das Umgangsleben Kontakt- und Berührungspraktiken (sowie Räume dafür) nötig, damit wechselseitige Beziehungen geknüpft, situative Anschlüsse gefunden werden können:114

235

Nachspiel

Das Vorspiel hatte mit einer gesichtsschädigenden Szene unter Studierenden be-gonnen, um auf die unberechenbare Gewalt von Umgangslagen aufmerksam zu machen, mit der Umgangsleute stets zu rechnen haben und hierfür den nicht vorab berechnenden, immer nur fallweisen Erfahrungstakt aufgerufen. Da er ganz vom und im Jetzt-auf-ein-Mit lebt, können sich Umgangsleute mit ihm sozial-leiblich miteinander bewegen und einander berühren, auf dass sie (wieder) verständigen-de Zusammenhänge finden. So zeigt das sich mit der Gesichtsgeschädigten ver-bündende Handeln der Kommilitonin keine Auflösung des Störfalls zugunsten von Reibungslosigkeit, sondern die über den Takt laufende Annahme von Störung und Reibung, um füreinander Umgängliches auszuhandeln, im nahen Abstand zu so-zial-leiblichen Konventionen zugunsten entspannter Gesichter. Der Takt ist ganz offensichtlich keine gemütliche Praxis im ungemütlich werdenden Miteinander, wenn er dem Leben in der Ordnung brav oder auch frech Platz schafft: Prekäres überhört, drohendes Aufprallen umlenkt, geschehene Zusammenstöße herunter-spielt oder deren Lektüren uminterpretiert und Ordnungsverstöße umordnet.1 Im Grunde hat er also nicht viel zu tun, außer sich im Spannungsfeld von Ordnung und Leben zu bewegen, um das eine wissend, für das andere offen, mit dem Ziel, zwi-schenmenschliche Anschlüsse im Umgang zu (er)finden, die einander unergründ-lich halten. Und da für ihn das Seelenleben nicht harmoniesüchtig ist, nimmt er selbst die Pein, das Peinliche an, um daraus etwas füreinander werden zu lassen, schöpferisch und zuweilen bis zur Erschöpfung.

So gesehen ist der aufeinander einspielende Takt die taktisch weise gesichtser-haltende, praktisch tüchtige,2 Fachkraft schlechthin, eine kleine Tugend mit laster-haften Zügen, gleichermaßen „ein Bindemittel des gesellschaftlichen Zusammen-halts und ein Lösungsmittel, das ihn gefährdet“,3 insofern er für einen würdigen, einander würdigenden Umgang die Umgangsleute nicht miteinander verbindet, ohne sie wieder voneinander zu entbinden. Entsprechend kann er das plötzlich oder chronisch Umgangserkrankte nicht heilen, dafür sind meisterhafte oder ge-fühlsgewisse Umgangsformen zuständig. Er wirkt dort nur füreinander heilsam und überlässt es dem Zufall, ob daraus eine Heilung erfolgt. Wie schon gesagt, kann und muss er dem Umgangsfragilen nicht „mit angemessener Stabilität und stabiler Angemessenheit“4 begegnen. Was die Praxis des Takts ausmacht, ist das Agile, das wendig Gewandte, in dem es weniger darauf ankommt, dass „das Wissen immer relativ neu verhandelt“5 wird, wichtiger ist, dass sich ein Mit-Wissen füreinander aushandeln lässt. Einer solchen Mitwisserschaft geht es stets um den Prozess des Mit-Wissens, nicht um dieses-oder-jenes Wissensresultat, vielleicht um die „heu-ristische Tätigkeit des Findens“6, die nur bedingt für eine gegenständliche, aber unbedingt für mitmenschliche Verlässlichkeit als situativ gebunden-entbundenes Zueinander wirbt. Da das Verlässliche in Umgangslagen nun aber stets bedroht und entsprechend umkämpft ist, also Spannungen jederzeit und überall vorkommen, Umgangsleute mit ihnen zu rechnen haben, soll abschließend noch eine zwischen-menschlich alltägliche, dabei gespannte wie unverlässliche Gemütsbewegung ins Spiel gebracht werden. Die Frage ist hier taktgemäß nicht, wie das Gespannte, Un-verlässliche möglichst gründlich auszuräumen ist, sondern wie es sich in der Ge-walt der konkreten Umgangslage für ein gegenseitiges, Zusammenhänge stiftendes, Verständigen einsetzen lässt. Launen und Lampenfieber

Angenommen, der Takt gehört zu den Künsten eines launichten, launigen oder auch ermunternden Umgangs. Wer sich in eine bestimmte Stimmung bringt und füreinander eine Atmosphäre erzeugt, in der es „ganz anders als gewöhnlich“, viel-leicht sogar widersinnig oder unsinnig zugeht, der spielt gezielt mit dem Üblichen, um in der Lage etwas anderes damit zu machen. Ist also daran gedacht, dass launi-ge Umgänge einander vom Üblichen weg ganz woandershin bringen können und einer Umgangshygiene zuliebe sollen, dann kann es das Umgangsleben mit den untereinander bestehenden Grundspannungen, dem alltäglichen Lampenfieber in Umgangsauftritten, aufnehmen. Ein nachspielender Blick in systembedingt von Spannungen getragene Lebensbereiche kann ihre Bedeutung für den Alltagsver-kehr und die dem Takt dabei zugedachten Aufgaben noch einmal etwas erhellen.8

Lampenfieber, Bühnenfurcht oder Vorstartangst steht zumeist für einen psycho-physisch gespannten oder angespannten Zustand im Auftrittsleben von Schauspie-lern, Musikern, Sportlern und anderen Auftrittsleuten: „eine diffuse, gewöhnlich schwache, wenn auch in bestimmten, erwarteten oder aktuellen Situationen des gesellschaftlichen Verhaltens fast lähmende Nervosität“.9 Wer vor anderen auftritt, hat seine Rolle, sein Skript gelernt, eingeübt und präsentiert sich anderen als Träger dieser Rolle. Die rollengemäße Ordnung ist weitgehend fest, abrufbar, das Einhalten derselben zu erwarten. Darbietende sind darin eingespannt und bewegen sich freu-dig gespannt bis ängstlich angespannt, also auch furchtsam bis panisch, mit locke-rem bis starrem Blick auf das von ihnen zu erfüllende Erwartete: Lampenfieber als Erwartungsstress ist „eine chronische, meist verhaltene Besorgnis davor, daß man diese Situationen nicht mit der erforderlichen Finesse meistern könnte“,10 weshalb es vor allem dort auftritt, wo nicht damit zu rechnen ist, dass eine temporär aus-fallende Meisterschaft als fehlplatzierte Ausdrucksbewegung über gesichtsrettende Praxen wie den Takt ausgeglichen wird.11 Daraus lassen sich diverse Schlüsse zie-hen, abhängig davon, wie grundentspannt und dabei effizienzorientiert es auf Büh-nen für Bühnenleute und ihr Publikum zugehen soll. Das Nächstliegende ist, Lam-penfieber an die erfolgreich behaupteten Rollen, das glatt über die Bühne gehende Spiel zu binden, so dass jeder Lapsus, Fehltritt, jede Entgleisung die Erwartungen enttäuschen muss und dagegenhaltende Maßnahmen zu ergreifen sind. Beispiels-weise wird versucht, derartige Anspannungen vorsorglich über das Schaffen von Routinen im Sinne des Gewohnten zu überwältigen, was aber nur ansatzweise ge-lingt, da sich das Unwägbare aus Premierenmomenten nicht herauskürzen lässt. Ein nächster Vorschlag ist deshalb, sie im Auftrittsverlauf über das verteidigen-de Eingestehen eigener und das schützende Erkennen fremder Bühnenfurcht mit dem stillen Ruf nach einem spannungserlösenden Takt auszugleichen, sei es über feine selbstironische oder mienenspielende, aber immer um Deutungsgnade bit-tende Gesten.12 Wo dann der Takt einspringt, fällt das Lampenfieber aus, so dass sich sämtliche Umgangstemperaturen im gemäßigten Normbereich einpendeln. Alles bewegt sich in aller Gemütsruhe auf das Gewöhnliche zu: das Bühnenspiel auf einen störungsfreien Verlauf und guten Ausgang, das Publikum auf erfüllte Er-wartungen, die Spieler auf ihren Applaus. Störfälle und Reibereien auf der Bühne werden behutsam und diskret behoben, keiner muss fürchten, dass „eine ästheti-sche Illusion nicht aufrechterhalten“ wird, „das Publikum (wie auch der Akteur) nicht mehr Hamlet, sondern anstatt dessen – peinlich für alle Beteiligten – den großsprecherischen Otto Schulze in der hoffnungslosen Fehlbesetzung als Prinz von Dänemark“13 zu sehen bekommt. Das Publikum wird nicht enttäuscht, die Bühnenspieler nicht ausgebuht. Alle verhalten sich den anderen gegenüber zuge-wandt und sind für sich grundentspannt.

Liegt der Fokus beim Lampenfieber auf seinem Bewusstsein allgegenwärtig drohender Auftrittskatastrophen, Miseren, Bredouillen, Krisen, Zusammenstöße, Zwickmühlen und anderer zwischenmenschlicher Kalamitäten, jetzt aber nicht, um sie füreinander gründlich abzuwenden, sondern um sie aufzunehmen, dann wird für Darbietende samt Publikum eine Sprungbereitschaft als Lebendigkeit frei, auf dass auch in erwarteten Ordnungen genug Spiel für laufende Momente bleibt, ohne die ein Auftritt zur spannungslosen Routine wird. Angenommen, Rollenträger und Publikum erkennen in einem szenischen Moment nicht das drehbuchgemäß zu tra-gende, sondern ein davon abweichendes Rollengesicht:

Mitmenschlich betrachtet wird die eingetretene Auftrittskatastrophe ob des außer-planmäßig ausfallenden, rollengarantierenden Lampenfiebers zum Motor dafür, die gerade nicht haltbaren Erfüllungsziele auch woandershin anzuregen, nicht nur destruktiv auszubremsen. Das wechselseitig Verlegene verlegt das Erwartete, was höchstens dann seine konstruktive Wirkkraft verliert und zur nicht tragbaren Last wird, wenn Erwartung und Erfüllung nicht zusammenkommen können, die selbst- und fremdgesteckten Ziele unerreichbar oder unpassend gesetzt sind. Wer über die gewöhnliche Ängstlichkeit hinaus mit einer Angst vor der Angst zu versagen und darüber auch schnell mit einer Lebensangst zu tun bekommt, kann die um den auf-tretenden Moment herum entstehende Anspannung nicht mehr bedienen. Lampen-fieber als Auftritts- oder Antrittsangst15 wirkt destruktiv, treibt in die Enge und führt Darbietende auf pathologisch nahe Abwege; dagegen bleibt es als Auftrittsspannung für sie im schöpferischen-erschöpfenden Bereich. So lösen Routinen als das schon Eingespielte den konstruktiven Anteil von Anspannungen auf, da sie die nötige Auf-merksamkeit für den im Rampenlicht stehenden Moment ausfallen lassen, wohin-gegen das aufeinander Einspielen die Spannung im Anlauf und Verlauf des Auftritts fokussiert, also die vielfältig vermittelte Unmittelbarkeit der szenischen Augenblicke und das Mitmachen aller als miteinander Machen. Hier können alle etwas zur An-sicht gebenden Auftrittskünste, ob sie dem Theater oder Sport, der Musik oder Rede, dem Tanz oder anderen performativen Künsten angehören, dem fallweisen Reich der Alltäglichkeit zeigen, dass Fiebern und Mitfiebern immer dazugehört: Darbie-tende sind im Anlauf angespannt, das Publikum ist im Verlauf gespannt.

Solange gelten darf, dass im Vorfeld nicht genau gewusst werden soll, wie sich Auf-tritte gestalten, oder andersherum, Auftrittsleute noch voneinander überrascht wer-den wollen, laufen allzu gründlich Grundentspannte Gefahr, aus ihren gewohnten sozial-leiblichen Bahnen nicht herauszukommen, dabei bleiben sie vor sinnlosen Zusammenhängen so ungeschützt wie sie sinnvolle Zusammenhänge übersehen. So gesehen muss es professionellen wie alltäglichen Auftrittsleuten nicht darum ge-hen, sich über hoch spannungsauflösende Bewältigungsstrategien oder tief gehende Entspannungsübungen in voll reibungslosen Bahnen zu halten, sondern mit dem Angespannten und Gespannten ins takthafte Spiel zu gehen. Davon haben alle im Textverlauf geschilderten Umgangsszenen erzählt: von den gespannt-angespann-ten Auftrittsmomenten des Mit-Spielers, d. h. Mit-Menschen in der Rolle-als und von den diversen „Kollisionen mit seiner Leiblichkeit“,16 die stets mitentscheiden, wie das Zusammensein weiter verläuft, je nachdem, ob sie nur ein zu entsorgen-des Problem sind oder Chance und Risiko sein dürfen, denen sich alle stellen, um für sich und einander etwas daraus zu machen. Erst mitmachend überraschen sich Lampenfiebernde mit ihren launigen Versionen des gewöhnlich Erwarteten in den Verwicklungen des alltäglichen Verkehrslebens und verwickeln einander darüber. Allein darauf kommt es an, jedenfalls mit dem immer nur fallweise aufeinander einspielenden Takt, darin liegt seine konkret zwischenmenschliche und darüber ei-nander bildende Pflicht: sich wechselseitig sozial-leiblich zu berühren und so unbe-rührbar zu halten, sich in der Gewalt einer konkreten Umgangslage miteinander zu bewegen und derart voneinander bewegt zu werden, damit sich der von ihnen im Moment belegte Raum in seiner Ordnung auf ein Mit, eine Gemeinsamkeit belebt, in der selbst ein großmäuliger Otto Schulze als Hamlet auftreten – und wieder ab-treten darf. Der fallweise Takt zeigt: im Kontakt sind allseits gewünschte, erwartete oder auch geforderte Gemeinsamkeiten „nicht an sich gegeben und selbstverständ-lich, derart, dass sie nur aufgedeckt werden müssten. Vielmehr müssen sie einge-bracht und eingeräumt werden; immerhin sind sie möglich, wenn auch schwierig, und sie bleiben stets prekär.“17

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Literaturverzeichnis

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Ein Dank

Vielen Menschen ist auf diesem, den Takt bedenkenden Weg zu danken. So haben die Kölner Seminare von Andreas Speer erst auf den Takt bei Plessner, die Vorlesun-gen von Ernst Vollrath auf das Politische des Takts gebracht. Kurt Röttgers war der Lehrer, der über Jahre meinen leicht nomadischen Denk- und Schreibstil gestärkt und ein erstes wissenschaftliches Projekt zum Takt begleitet hat. Ohne seinen Zu-spruch hätte es mir an Mut zum Weitermachen gefehlt. Im weiten Vorfeld des Pro-jekts haben mir Gernot Böhme, Urs Thurnherr und Aleida Assmann eine vortra-gende und diskutierende Gelegenheit gegeben, die dem Projekt sehr gutgetan hat. Von unschätzbarem Wert waren die Beiträge von Studierenden eigener Seminare sowie die Erzählungen von Klienten aus der pädagogischen und philosophischen Praxis, wodurch Theorie und Praxis immer im reflektierenden Spiel miteinander sein konnten. Meinem Doktorvater Volker Schürmann bin ich mehrfach verbun-den. Er hat seit jeher meine Lektüre von Plessner auf Reflexivität hin angeregt und darüber auf einen Sinn von Bewegung gebracht, der dann gut in die Takt-Frage auf-genommen werden konnte. Schließlich hat er das Projekt auf eine Weise begleitet, die vermutlich taktisch weise genannt werden darf. In Zeiten des Stockens waren neben ihm einige Mitmenschen ermunternd präsent, besonders meine Konstanzer Nachbarn Aleida und Jan Assmann. Sie waren es auch, die mich in der Schlussphase des Projekts in die glückliche Lage gebracht haben, mit meinen theoretischen und praktischen Anliegen an das von der Dr. K. H. Eberle Stiftung geförderte Projekt der Universität Konstanz „Gemeinsinn – was ihn bedroht und was wir für ihn tun können“ anschließen zu dürfen. Das äußerst lebendige Miteinander der Forscher-gruppe hat das Eigene noch stabilisieren können und lässt es sich weiterentwickeln. Es gehört zwar nicht mehr hierher, aber hauptsächlich ist meinen Kindern und mei-ner sportlichen Mutter zu danken, die mich durch ihr Anfeuern die Ausdauer nicht haben verlieren lassen.