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: Shakespeare als skeptischer Europäer

Shakespeare als skeptischer Europäer

Inhalt

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Vorwort

Der vorliegendeEssay über Shakespeare als ‚skeptischen Europäer‘ ist der Versuch einer politischen Lektüre seiner Dramen. Ein solcher Versuch sollte nicht ohne eine vertiefte, wenngleich selektive Auseinandersetzung mit der überreichen Literatur zu diesem Dichter unternommen werden. Allerdings wendet sich der Essay nicht nur an ein anglistisches Fachpublikum. Die These, dass es, ungeachtet der fiktiven Historizität der meisten Shakespeare-Stücke, bei Shakespeare nicht um Belehrung, sondern um die Schärfung der politischen Urteilskraft gehen sollte, darf wohl ein breiteres Interesse beanspruchen, als es von jenen repräsentiert wird, die sich der Fachwissenschaft zurechnen.

Das Ideengerüst und die methodischen Zugriffsweisen des kleinen Buches habe ich in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten vor allem mit Lehramtsstudierenden meiner Greifswalder Seminare erproben können. Danken möchte ich Jörg W. Rademacher, Christoph Szczekalla und meiner Frau Maria Behre, die auf unter-schiedliche Weise seine Entstehung begleitet haben.

Aachen, den 26. Mai 2021

Michael Szczekalla

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1 Shakespeares Europäertum

Wenn wir Shakespeare einen ‚skeptischen‘ beziehungsweise ‚guten Europäer‘ nen-nen, handelt es sich um eine Aussage über das Werk und nicht den Dichter. Sie soll zudem etwas für das Werk Konstitutives zum Ausdruck bringen, das vielleicht schon früher hätte gesagt werden können und in anderer Form auch gesagt worden ist, das aber gerade heute pointierter Explikation bedarf, wenn Literaturwissenschaft oder Literaturkritik den Anspruch hat, nicht nur werk-, sondern auch gegenwartserhel-lend zu sein.

Keine Shakespeare-Deutung sollte sich indes der Geschichtsblindheit zeihen lassen. Die Behauptung, dass es einen besonderen historischen Moment gab, dem das Werk Shakespeares seine Entstehung verdankt, ist freilich trivial. Wenn der Shakespeare-Biograph Peter Ackroyd von einem „Shakespearean Moment“1 spricht, hat er allerdings Nicht-Triviales im Sinn. Im Grunde meint er dasselbe wie schon Heinrich Heine, der launig und mit leichter Feder diesen Moment als den Zeitpunkt bestimmte, zu dem England noch jenes „merry England“ und der Katholizismus „erst in der Theorie zerstört“ war, bevor uns also zuerst der Puritanismus und später dann der Liberalismus „jenes steinkohlenqualmige, maschinenschnurrende, kir-chengängerische und schlecht besoffene England“ bescherten, dem der frankophile Heine offenbar wenig abzugewinnen vermochte.2

Auch Dichter pflegen eben manchmal ihre Ressentiments. Was jedoch an die-ser Charakterisierung interessieren sollte, ist nicht das Vorurteil, das sie transpor-tiert, sondern der Wahrheitskern, den sie enthält, und der ist immerhin so sub-stantiell, dass sich mit Heine ein Kontrapunkt setzen ließe zu den soziologischen Betrachtungen des eher anglophilen Max Weber über das „asketische Grundmotiv des bürgerlichen Lebensstils“3, dessen religiöse Wurzeln im Puritanismus zu finden seien, der damit entscheidend zur Entstehung des bürgerlich-kapitalistischen Zeitalters beigetragen habe.

Nun beziehen sich Heine und Weber allerdings auf eine Welt, die es bei Shakespeare noch gar nicht gibt; denn es ist eine Welt, die erst von den Nachfahren Malvolios, Shylocks oder Angelos geschaffen wurde, doch ohne jene drei vielleicht nie hätte geschaffen werden können. Zwei der drei Dramen, in denen sie auftre-ten und die zu den sogenannten ‚Problemstücken‘ zählen, nämlich The Merchant of Venice und Measure for Measure , werden durch diese Figuren, die bereits durch ihre bloße Existenz die genretypische Heiterkeit der Komödie dämpfen, erst wirk-lich interessant. Gleichwohl werden nicht nur Malvolio, sondern auch Shylock und Angelo der Lächerlichkeit preisgegeben und zu Verlierern erklärt.

Damit affirmieren diese ‚Problemstücke‘ scheinbar ein Ordnungsideal, das sich als konservativer Aristotelismus4 beschreiben ließe oder als ständisch, korpora-tivistisch, paternalistisch, antikapitalistisch und vormodern oder auch als christ-lich beziehungsweise erasmianisch. Allein die Tatsache jedoch, dass sich solche Mehrfachattribuierungen kaum widerspruchsfrei vornehmen lassen, dürfte bereits die Charakterisierung als ‚Problemstücke‘ rechtfertigen. Die ältere Shakespeare-Kritik hat sie wohl auch deshalb mitunter als ästhetisch inferior angesehen, eine Einschätzung, die heute niemand mehr teilen mag.

Denn diese Stücke machen ja gerade in besonders nachhaltiger Weise et-was bewusst, was auch die Römerdramen, die Historien sowie die großen Tragödien Shakespeares zeigen. Sie alle präsupponieren eine wie auch immer zu charakterisierende ‚Ordnung‘, die gestört und am Ende wiederhergestellt wird. Dieses basale Ablaufmuster erlaubt es, sie als Restitutionsdramen zu bezeichnen. Doch erleben wir in der christlichen Seehandelsrepublik Venedig tatsächlich die Wiederherstellung einer ‚idealen Ordnung‘? Oder im Wien des Herzogs Vincentio? In früheren Zeiten ist das zumeist so gesehen worden. Bis zur Romantik wurde die Demütigung Shylocks als Sieg der ‚christlichen Gnadenordnung‘ verstanden.5Auch heute noch gibt es Leserinnen und Leser, die eine erasmianische Lektüre von Measure for Measure überzeugend finden, also meinen, dass diese dunkle Komödie in einem ‚Lob der Ehe‘ kulminiere – ganz im Geiste des Encomium matrimonii des Erasmus von Rotterdam. Die Charakterisierung als ‚Problemstücke‘ legt indessen nahe, dass in beiden Fällen gegenüber solchen Lesarten Skepsis angezeigt ist.

Doch soll hier eine viel radikalere These verfochten werden: Nicht nur die ‚Problemstücke‘, sondern (fast) alle Shakespeare-Dramen folgen lediglich in for-maler Hinsicht dem Schema eines Restitutionsdramas.6 Diese Erkenntnis ist frei-lich nicht neu. Dass „Offenheit“ und „Perspektivismus“ Leitbegriffe jeder ernst-haften Auseinandersetzung mit Shakespeare zu sein haben, darf innerhalb der Shakespeare-Forschung geradezu als gesichertes Handbuchwissen bezeichnet wer-den.7 Und dennoch – bis in unsere Gegenwart mangelt es nicht an Versuchen auch namhafter Interpreten, sich über diese Erkenntnis nonchalant hinwegzusetzen.

Um sich bewusst zu machen, was die genannten Leitbegriffe für jeden Versuch einer Interpretation zu bedeuten haben, genügen zunächst ein paar einfache Überlegungen. In Dantes Göttlicher Komödie fallen die Cäsar-Mörder Brutus und Cassius ewiger Verdammnis anheim. Nun war Dante ein christlicher Monarchist des Spätmittelalters. Die Literatur der Moderne konnte aber nicht minder doktrinär sein. So begriff George Bernard Shaw, der Shakespeares Cäsar-Stück von den Spielplänen verdrängt und durch sein eigenes ersetzt sehen wollte, die Ermordung des Diktators auf Lebenszeit als eine „Verschwörung von Moralisten“,8womit er eine Urteilsgewissheit offenbarte, die ohne seine Nietzsche-Lektüre schwerlich vorstellbar gewesen wäre.

Wie aber sollte sich ein zeitgenössisches Publikum, das eine Aufführung von Shakespeares Julius Caesar erlebte, in der Frage ‚Republik oder Monarchie‘ denn entscheiden? Wie mit Blick auf Henry  V über die Genese des ‚kriegerischen Nationalstaats‘ denken? (Letzteres ist gewiss eine moderne Kategorie, aber der Republikanismus war ein großes Thema in der Renaissance.) Was zeichnet sodann in Hamlet oder King Lear die ‚legitime Ordnung‘, die offenbar durch einen Akt der Usurpation beziehungsweise durch eine Revolte gegen ‚christliches Naturrecht‘ aus den Angeln gehoben wurde, tatsächlich aus?

Oder sind dies vielleicht unzulässige Vereinfachungen? Ist nicht der des Brudermords schuldige Claudius ein fähiger Herrscher und mitnichten ein Tyrann? Und Fortinbras, den der sterbende Hamlet als legitimen Thronfolger anerkennt, ein military strongman , der auf dem Parkett der Diplomatie Claudius nicht das Wasser reichen kann? Hat nicht in King Lear der Bastard Edmund auf seine Weise Recht, weshalb Edgar, der am Ende als rechtmäßiger Herrscher ein trauriges Erbe antritt, gut beraten ist, von seinem zynischen Halbbruder zu lernen, bevor er sich anschickt, die brüchigen Fundamente der alten Königsherrschaft zu restaurieren? Die Fragen dergestalt zuzuspitzen, heißt freilich auch über die Helden und Heldinnen einer Tragödie reden zu müssen, also darüber, was Harold Bloom in legitimer Hyperbolik als Shakespeares „Erfindung des Menschlichen“9 bezeichnet hat.

„His story requires Romans and kings, but he thinks only on men“, meinte be-reits Samuel Johnson im legendären Vorwort zu seiner Shakespeare-Ausgabe von 1765.10 Die Romantik ging in ihrer Shakespeare-Rezeption noch einen Schritt wei-ter. Mit Friedrich Gundolf darf man sagen, sie begegnete dem Dichter erstmals auf Augenhöhe.11 Während nämlich die antike Tragödie, so lesen wir in Hegels Ästhetik, von einer Kollision der Werte handle, seien die Heroen der romantischen beziehungsweise modernen Tragödie, was für Hegel dasselbe ist, so etwas wie „freie Künstler ihrer selbst“.12 Um sittlich zu handeln, habe Antigone gegen die Sittlichkeit verstoßen müssen. Ihren Bruder zu beerdigen, sei nicht minder eine Pflicht gewesen als den Gesetzen der Polis zu gehorchen. Darin, dass sie nicht für beides zugleich optieren konnte, liege die eigentliche Tragik. Bei Hamlet aber drehe sich letztlich alles um seinen „subjektiven Charakter“.13 Den äußeren Umständen hingegen, also dem väterlichen Racheauftrag und den Verhältnissen am dänischen Königshof, haf-te etwas Akzidentelles an, eine Feststellung, die gar den Schluss nahelegen könnte, dass so etwas wie eine naturgegebene oder göttliche ‚Ordnung‘ gar nicht existiert.

Wenn aber fast alle Shakespeare-Dramen lediglich in formaler Hinsicht als Restitutionsdramen zu bezeichnen sind, wenn wir also in Bezug auf die wiederher-gestellte ‚gute Ordnung‘ skeptisch sein sollten, dann ist das gewiss eine Botschaft, die ebenso zentral wie erläuterungsbedürftig ist. Vor allem wäre zu zeigen, wie ge-haltvoll sie ist. Das aber dürfte am besten gelingen, wenn wir – des metonymischen Charakters dieser Formulierung eingedenk – von Shakespeare als ‚skeptischem‘ re-spektive ‚gutem Europäer‘ sprechen.

Vom ‚guten Europäer‘ ist freilich bereits in der deutschen Philosophie des späten 19. Jahrhunderts die Rede, und zwar in einer wortmächtigen Polemik gegen „ata-vistische Anfälle von Vaterländerei und Schollenkleberei“, die sich in Jenseits von Gut und Böse findet.14 Doch geht es Nietzsche, der diesem Attribut einen beson-ders tiefen Gehalt zu geben versucht hat, um viel mehr als die Zurückweisung eines bornierten Nationalismus. Pathetisch spricht er vom zweitausendjährigen Kampf gegen den „Irrthum“, will heißen einer perennierenden Auseinandersetzung mit dem Dogmatismus. Im Kampf mit diesem Gegner vermochten die Europäer jede Dogmatik hinter sich zu lassen und das „Perspektivische“ als die Grundbedingung allen Lebens zu erkennen.15 Wir können allerdings auch sagen, sie seien auf diese Weise zu Skeptikern geworden – unbeeindruckt davon, dass Nietzsche meinte, den Skeptizismus als „europäische Krankheit“ denunzieren zu müssen.16

Doch sollte uns der Perspektivismus zunächst als hermeneutische Maxime in-teressieren. Es geht darum, wie wir Shakespeare lesen wollen. Wenn es aber für den Dichter so etwas wie eine verbindliche ‚substanzielle Ordnung‘ gar nicht gibt, dann könnten seine Stücke dazu einladen, sich in einem ständigen Wechsel der Perspektive zu üben. Folgen wir einer solchen Einladung, lassen wir uns auf eine Praxis des Lesens und Deutens ein, vor der keine Orthodoxie auf Dauer zu bestehen vermag.

Allerdings wollen wir uns hier weder Nietzsches Vitalismus verschreiben noch George Bernard Shaw oder George Wilson Knight folgen, einem der meistgelese-nen Shakespeare-Kritiker des 20. Jahrhunderts, der sich wie kein anderer durch Nietzsche hat inspirieren lassen. Dass das Perspektivische die Grundbedingung al-len Lebens sei, ist eine Überzeugung, die selbst nicht gegen dogmatische Verhärtung gefeit ist. Daher sollte sich das Augenmerk am Ende vor allem darauf richten, was Nietzsche den Kampf gegen den „Irrthum“ genannt hat und von dem er behauptet, dass er eine so „kraftvolle Spannung des Geistes“ erzeugt habe, „wie sie auf Erden noch nicht da war“, weshalb die Europäer mit einem derart „gespannten Bogen“ nun nach den „fernsten Zielen“ schießen könnten.17

Anders als Nietzsche erkennen wir darin aber eine aufklärerische Perspektive, die sich geradezu aufdrängt, wenn wir Aufklärung als den Versuch einer Neubestimmung des Verhältnisses von Geist und Sinnlichkeit, näherhin als „Rehabilitation der Sinnlichkeit“18 begreifen und nicht – wie Nietzsche – norma-tivistisch (miss)verstehen wollen, weshalb er der Aufklärung auch pauschal unter-stellt, sie habe diesen Bogen letztlich abspannen wollen.19

Was uns in Shakespeares Dramen begegnet, ist allerdings zunächst einmal Renaissance-Skeptizismus. Will man hingegen mit aufklärerischem Impetus das Verhältnis von Vernunft und Sinnlichkeit neu justieren, geht es – philoso-phisch gesehen – um das Problem der Kontingenz der Weltinhalte, also um die Frage ‚Zufall‘ oder ‚Telos‘, und um den Stellenwert von Ideen. So spricht Hegel in Bezug auf die Kunst vom „sinnliche[n] Scheinen der Idee“20 und gibt sich damit auch in seiner Ästhetik als Teleologe zu erkennen. Shakespeare mochte hingegen dem Skeptiker Montaigne nahegestanden haben.21 Sein Verhältnis zu Ideen scheint eklektisch. Zugleich hat es aber eine europäische Dimension, in-sofern nämlich Europa die Heimat von Ideen ist, denen eine transformierende Kraft innewohnt und die deshalb immer auch politisch sind. Wenn wir daher Shakespeare – metonymisch gesprochen – einen ‚skeptischen‘ beziehungswei-se ‚guten Europäer‘ nennen wollen, dann müssen wir anzugeben in der Lage sein, was es uns erlaubt, den ‚ideellen Gehalt‘ seines dramatischen Werkes so zu charakterisieren.

Mit einem solchen Vorhaben wird nicht jeder einverstanden sein. Wer gro-ße Literatur, was völlig legitim ist, lieber mit großer Emotion verbindet, „die Leib und Seele erfasst“ und „das ganze Ich prägt“,22 und solcherart gar eine Ästhetik fundieren möchte, dürfte sich kaum für Shakespeares ‚Ideen‘ in-teressieren. In einem Essay, erschienen in einem Sammelband, der immer-hin den Titel The Imperial Theme trug, hatte Knight einst zeigen wollen, wie Shakespeare in Antony and Cleopatra die Begegnung mit dem „Absoluten“ in der Liebe zelebriert  – einer Liebe, die vielleicht auch eher ein großartiger égoisme à deux ist, aber aufseiten des Antonius in jedem Fall eine Absage an die Politik, das heißt an sein Römersein, zur Voraussetzung hat.23 In einer der jüngsten Veröffentlichungen Karl Heinz Bohrers erscheint hingegen der Hass als eine „fundamentale Energiequelle“ der Literatur.24 Auch Bohrer macht zur Bedingung, dass dieses Gefühl nicht politisch-ideologisch motiviert ist, und er denkt dabei ausgerechnet an die alte Königin Margarete von Anjou, die in Richard III als ebenso schuldbeladene wie rachsüchtige Witwe den Vertretern des Hauses York ihre Hasstiraden entgegenschleudert, aber auch an Hamlets Worte, mit denen er den Gang zu seiner Mutter ankündigt, um mit ihr Tacheles zu reden, und die Bohrer sogar den Buchtitel liefern:

I will speak daggers to her (3.2.385).25

Bohrers Begründung für einen solchen Ansatz, der hier ‚antikognitivistisch‘ ge-nannt werden soll, erscheint keineswegs unplausibel: Shakespeares „Vertiefung der Sprache zu ausgesucht grausamen Bildern, zur Ausdrucksfinesse außeror-dentlicher psychischer Zustände“ lasse alle historisch-politischen Ansätze weit hinter sich.26

Doch gibt es auch Interpretinnen und Interpreten, die einer solchen Auffassung nicht folgen wollen. Sie sollten unser Gehör finden.27 Allerdings laborieren sie alle an einem Problem. Was sind denn schon Shakespeares ‚Ideen‘? William Shakespeare war schließlich nicht John Milton, von dem wir ja wissen, dass er zum Beispiel nicht nur für ein Recht auf Scheidung eintrat, sondern auch überzeugter Republikaner war, der sich in einem brillanten politischen Pamphlet über die vorgebliche Selbststilisierung des Stuart-Herrschers Karls  I. zu einem Märtyrer mokierte28 und unter Cromwell ein wichtiges Amt bekleidete. In der englischen Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts ist der Dichter des christlichen Epos Paradise Lost wohl der Prototyp des Intellektuellen, der zum Parteigänger wird. Bei Shakespeare aber findet sich eine solche Disponiertheit nicht einmal im Ansatz.29

Allerdings haben wir, wenn wir Shakespeare einen ‚skeptischen Europäer‘ nennen wollen, nicht nur über ‚Ideen‘, sondern auch ganz konkret über Politik zu reden, die ja mitnichten ‚idealistisch‘ aufgeladen sein muss. Niemand hat das wohl besser gewusst als der Dichter selbst, von dem ja immer wieder ger-ne behauptet worden ist, dass er es mit den Mächtigen seiner Zeit hielt.30 Doch auch die gegenteilige Überzeugung  – bis hin zu der Annahme, Shakespeares Dramenkunst sei hochgradig subversiv – hat zumal in jüngerer Zeit zahlreiche Anhänger gefunden. So meint Kiernan Ryan, Shakespeares Komödien durch-ströme ein egalitärer Geist. Harold Bloom und Stephen Greenblatt gelangen zu ähnlichen Befunden in Bezug auf das Gesamtwerk.31 Allein deshalb müssen wir uns auf die Kunstform wirklich einlassen, die Shakespeare vollendet beherrschte. Er schrieb keine Lesedramen. Seine dramatischen Werke entfalten ihre Wirkung erst im öffentlichen Raum.

In einem immer noch lesenswerten Essay aus dem Jahr 1994 begreift Peter Sloterdijk Europa als ein „Theater der Imperium-Metamorphosen“.32 In der früh-neuzeitlichen Literatur ist auch das theatrum belli eine gängige Metapher und dies nicht nur in Spezialwerken über das Kriegshandwerk. Der Kriegsschauplatz wird als Bühne imaginiert, die Bühne als theatre of war :

Can this cockpit hold / The vasty fields of France? (1.0.11f.),fragt im letzten der großen Heinrich-Dramen33 der Chor, indem er – gewisserma-ßen in einem Akt patriotischer Selbsterniedrigung  – die Shakespeare-Bühne als „cockpit“ bezeichnet, also zur „Hahnenkampfarena“ degradiert und mit niederen Formen der Volksbelustigung assoziiert, die es in der Nachbarschaft des Globe-Theaters zuhauf gab.

Lässt also das nur noch in der Erinnerung gegenwärtige Heldentum Heinrichs V., des Siegers von Azincourt, den Glanz der Schauspielkunst selbst dann verblassen, wenn sie sich ganz in den Dienst dieser Erinnerung stellt, weil sie ihre Adepten gerade dadurch der Eitelkeit überführt? Oder verhält es sich nicht vielmehr so, dass die militärischen Erfolge des Lancaster-Monarchen, die einen hohen Blutzoll for-derten, aber das Machtgefüge auf Dauer nicht verändert haben, eitel und nichtig waren? War Heinrich gar ein Kriegsverbrecher? Dass es am Ende nicht einfach ist zu ergründen, wie sich Shakespeare positioniert haben könnte, wenn ihm denn überhaupt daran gelegen war, es zu tun, mögen bereits unsere knappen Hinweise auf den in dieser Frage nach wie vor bestehenden kritischen Dissens verdeutlichen.

Weil die Stücke auf diese und viele andere Fragen gerade keine oder zumin-dest keine eindeutigen Antworten geben und weil in dieser Urteilsabstinenz ein, wenn nicht der entscheidende Wesenszug des Shakespeareschen Dramenwerks auszumachen ist, wollen wir von analytischen Dramen sprechen. Nun wurde der Umstand, dass der Dramatiker so vollständig hinter seinen Figuren verschwindet, dass er geradezu seine Individualität zu verlieren scheint, schon in der Romantik bemerkt, um dann später auch von der Shakespeare-Forschung gewürdigt zu werden. Der Dichter John Keats sprach von Shakespeares „negative capability“.34Kein Deutungsversuch kann umhin, sich mit diesem „negativen Vermögen“ zu be-fassen, insbesondere in seiner Bedeutung für den interpretierenden Umgang mit Entscheidungs- beziehungsweise Konfliktsituationen.35

So enthalten Shakespeares Dramen reichlich Stoff für Konflikte, die danach verlangen, theatralisch ausagiert zu werden. Dabei kommen natürlich ‚Ideen‘ ins Spiel – Freiheit und Vornehmheit, das Konstrukt der ritterlichen Ehre und sei-ne Obsoleszenz, die Legitimität dynastischer Herrschaft, der Fürst als Usurpator, aber auch als Exilant, scholar prince oder gar als Magier, Adel und Bürgertum, die Nation in ihren regionalen Varietäten, der Umgang mit Fremden, das Verhältnis von Anlage und Erziehung, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern wie den Generationen, der Kommerz und das Zinsnehmen, schließlich die Rolle der gött-lichen Vorsehung, Natur und Gnade, Glaube und Zweifel sowie Wahrheit und Poesie.36 Auch zeigen die Stücke das Brüchigwerden von Traditionen, womit sie zugleich Bruchlinien der frühen Neuzeit kenntlich machen. Gerade wenn neue mit alten ‚Ideen‘ in einen Wettstreit geraten, wird es spannend. Harold Bloom spricht von einer „cognitive music“37 in Hamlets größtem Monolog, die wir vernehmen können, wenn wir es verstehen, die richtigen Hörgewohnheiten zu entwickeln. Die Betonung der Theatralik geht mit dem Herauskehren der Subjektivität einher. „All the world’s a stage“ (2.7.139), meint Jacques in As You Like It . Nirgends gibt es mehr Metareflexion über die Schauspielerei als in Hamlet . So belehrt der in Schwarz gehüllte Prinz seine Mutter, die von ihm vestimentär zur Schau gestellte Trauer über den Tod des Vaters sei nichts im Vergleich zu dem, was er wirklich empfinde:

But I have that within me which passeth show –

These but the trappings and the suits of woe. (1.2.85f.)

‚Ideell‘ wurzelt Europa in der griechisch-römischen Antike sowie im Christentum. In etwa einem Drittel seiner Werke bedient sich Shakespeare antiker Sujets. Wenn allerdings von „Imperium-Metamorphosen“ die Rede sein soll, liegt auch der „Translationsgedanke“ nicht fern, jene seltsame Vorstellung von einer Übertragung des römischen Reiches auf die Franken, für Sloterdijk eine Art Urübertragung, die ein Muster liefert und damit eine Kette von Iterationen ermöglicht, an deren Ende die Übertragung auf eine „nachimperiale politische Großform“38 steht beziehungs-weise stehen soll – das heutige Europa.

Im Unterschied zur Welt der Griechen und Römer tritt das Reich der Franken bei Shakespeare freilich nur ganz peripher in Erscheinung. Schon gar nicht, lie-ße sich ergänzen, finden wir bei ihm das Selbstkonzept heutiger Europäerinnen und Europäer. Doch dürfen wir fragen, ob es nicht auch in Shakespeares dra-matischem Kosmos so etwas wie ein Muster gibt, ein „Shakespeare pattern“39, wie es T.  S. Eliot und mit ihm zumindest Teile der älteren Sekundärliteratur noch mit großer Selbstverständlichkeit anzunehmen bereit waren, also eine Art Schema, das es gestattet, die Stücke in ihrer Gesamtheit als eine Abfolge von Gattungen und Themen zu begreifen, so dass wir uns – etwa mit Knight – von den Problemstücken über die Tragödien zu den Mythen vorarbeiten können.40Knight stilisiert The Tempest zu einem „myth of the national soul“, bevor er dann in seinem letzten Aufsatz des bezeichnenderweise mit The Crown of Life betitelten Bandes in Henry  VIII die „organische Einheit“ von Shakespeares Oeuvre vollendet sieht.41 Damit erweist sich dieser Kritiker freilich ebenso we-nig als politikabstinent wie Karl Heinz Bohrer.42

Mit Shakespeares Königsdramen bleiben wir ganz im alten Europa. Man sollte sich jedoch nicht durch die mittelalterliche Drapierung täuschen lassen. Schon der – meist Bolingbroke genannte – Vater Heinrichs V. ist bei Shakespeare im Grunde ein frühneuzeitlicher Monarch, der zwar ständig davon spricht, auf einen Kreuzzug gehen zu wollen, doch keineswegs aus einem frommen Impuls. Vielmehr scheint die Herrschaftsstabilisierung der Leitgedanke des müde gewordenen Thronräubers zu sein. Seinem Sohn gibt er noch auf dem Sterbebett den machiavellistischen Rat,Be it thy course to busy giddy minds

With foreign quarrels ( 2 Henry IV , 4.3.342f.).

Prinz Hal, der jugendliche Thronfolger, hatte sich am liebsten mit Falstaff in Londoner Kneipen herumgetrieben, ja zu Taten hinreißen lassen, die sogar den Straftatbestand der Wegelagerei erfüllten. Er ist ein wastrel prince , der in aristo-kratischer Nonchalance sein Erbe zu vergeuden scheint, bevor er es überhaupt an-getreten hat. Als er dann aber unmittelbar nach dem Tod seines Vaters Anstalten macht, Frankreich zu erobern, lässt diese plötzliche Transformation den Erzbischof von Canterbury und den Bischof von Ely geradezu in Verzückung geraten. Für den jungen König eröffnet der Krieg die Aussicht auf schnellen Ruhm; den das institutio-nelle Gedächtnis der Kirche verkörpernden Bischöfen gibt er jedoch die Hoffnung, dass eine schon ältere Gesetzesinitiative der Commons, die zur Schmälerung des kirchlichen Vermögens geführt hätte, abermals in Vergessenheit gerät. Als seine kle-rikalen Rechtsberater klären sie Heinrich auf höchst eigennützige Weise über den Geltungsbereich der Erbfolgeregelung der Lex Salica auf. Die Lex Salica und damit der Ausschluss der weiblichen Thronfolge gelte glücklicherweise nur für die deutschen Lande, nicht aber für Frankreich. Sein über eine Frau – die Mutter Eduards III. – her-geleiteter Anspruch auf die französische Königskrone bestehe deshalb zu Recht.43 Ihr auf rechtshermeneutische Spitzfindigkeiten gründendes Räsonnement über die spät-antike Gesetzessammlung, die traditionell mit dem Namen des Frankenherrschers Chlodwig verbunden war, ist im Stück alles andere als nebensächlich.

So liefern das in herrischem Duktus vorgebrachte Auskunftsverlangen Heinrichs, der einerseits über Nacht zum ‚allerchristlichsten König‘44 gereift zu sein scheint und vorgibt, ehrlich wissen zu wollen, ob er sich durch das geplante militärische Abenteuer nicht auch schuldig machen könne, aber andererseits von den Bischöfen doch wohl nur eine martialische Antwort akzeptieren dürfte, und die tendenziö-se, aber adressatengerechte Beratung durch die beiden Kleriker, denen es primär darum geht, das kirchliche Vermögen vor ‚übermäßigem‘ Zugriff zu schützen, eine wunderbare Einführung in die politische Realität Alteuropas, das wir gern als ‚christlich‘ apostrophieren. Der bischöfliche Rat möge von derselben Reinheit sein wie die Seele eines Täuflings:

That what you speak is in your conscience washed

As pure as sin with baptism ( Henry V , 1.2.31f.),schärft Heinrich ihnen ein. Doch ist kaum auszumachen, wer hier eigentlich wen für die eigenen Zwecke benutzt.

Obwohl Shakespeare weder Historiker noch politischer Philosoph ist, wirft sein Drama die – zumindest für die ältere europäische Historiographie – unausweich-liche Frage auf, ob Heinrichs Ehrgeiz eine Tugend war.45 Im Unterschied zu seinem Dramatikerkollegen Ben Jonson ist Shakespeare jedoch kein Advokat der klassi-schen Tugendlehre. Eine Poetik, die dem Dichter ein horazisches dulce et utile prä-skribieren möchte, ist ihm gleichermaßen fremd.

Wohl auch deshalb erscheint uns Shakespeare heute moderner als Jonson. So lassen sich die Szenen, die den alten König Lear auf der Heide zeigen, gar als Evokation eines Naturzustandes begreifen, mit denen sich Shakespeare Hobbes als kongenial erweist, während sein Verständnis von Machtbeziehungen beziehungs-weise Herrschaftstechniken eher den Vergleich mit Machiavelli provoziert, der in der Shakespeare-Literatur auch weit geläufiger ist als die Verweise auf Hobbes. Auf eine einfache Formel gebracht könnte man sagen, dass das, was Shakespeare mit dem Florentiner Diplomaten und Staatstheoretiker verbindet, die Absicht oder das Vermögen ist, Menschen so zu zeigen, wie sie nun einmal sind, nicht hingegen, wie sie vielleicht sein sollten. In Bezug auf Machiavelli ist das freilich ein seit der Renaissance vertrauter Topos.46

Doch bliebe dann immer noch der Unterschied zwischen politischer Philosophie beziehungsweise in der Fürstenspiegeltradition stehender und für einen konkre-ten Zweck geschriebener Ratgeberliteratur, und der Poesie, für die eine solche Verzweckung zumindest seit der Romantik als Zumutung zu gelten hat. Selbstredend ist es der poetische Intensitätsdiskurs, da ist Bohrer nicht zu widersprechen, der den Rang des Dichters ausmacht. So vermag bei Shakespeare eben auch ein Bischof in Bildern von exquisiter Grausamkeit zu schwelgen. Canterbury rät dem König, er möge doch zum Grab Eduards III. pilgern und sich an den Schwarzen Prinzen erinnern, der einst zur Freude des Vaters eine breite Blutspur in Frankreich hinter-lassen habe, indem er den französischen Hochadel dezimierte,

Who on the French ground played a tragedy,

Making defeat on the full power of France,

Whiles his most mighty father on a hill,

Stood smiling to behold his lion’s whelp

Forage in blood of French nobility (1.2.106–110).

Das kontemplative Wohlgefallen, das der Schwarze Prinz in der Schlacht von Crécy bei seinem Vater auslöst, ist ein starkes Bild. Machiavelli mag deshalb tatsächlich als der kühle Analytiker erscheinen, während uns Shakespeare den Rausch der Macht nacherleben lässt. Das kann zu einem Fest der Imagination werden, etwa wenn Lady Macbeth ihr künftiges Glück antizipiert, das sich einstellen werde, so-bald der einstweilen noch durch menschliche Regungen gehemmte Gatte nur den Entschluss zu fassen vermag, das „Geschäft dieser Nacht“, in der König Duncan zu Gast weilt, in ihre Hände zu geben:

[…] and you shall put

This night’s business into my dispatch;

Which shall to all our nights and days to come

Give solely sovereign sway and masterdom. (1.5.66–69)

Machiavelli hält für eine solch glückliche Konstellation den Begriff occasio- ne bereit, der dem griechischen kairós nachgebildet ist.47 Es wäre jedoch ein Irrtum zu glauben, bei Shakespeare fänden wir nichts anderes als das rausch-hafte Ausleben oder zeremonienverliebte Auskosten der Macht – man denke an die von Claudius dominierte Hofszene im ersten Akt von Hamlet (1.2.1–128). Vielmehr handelt es sich bei der ersten und zweiten Henriade48, ja bei fast allen Shakespeare-Stücken – wie bereits angedeutet – in einem ganz fundamentalen Sinn um analytische Dramen.

Ihrer Poetizität tut das indes in keiner Weise Abbruch. Schon bei Heine heißt es ja über den Dramatiker: „Und immer wußte er die Wahrheit zur Poesie zu erheben“49 – einer der schönsten Sätze in Shakespeares Frauen und Mädchen und vielleicht so-gar der wichtigste, wenngleich es einer umsichtigen Klärung bedarf, was hier unter „Wahrheit“ verstanden werden sollte. Für Heine steht fest, dass Shakespeare es vermochte, nicht nur seinen Landsleuten, sondern auch den Rittergestalten des Mittelalters wie den alten Römern „in die Nieren“ zu schauen. Das hat, was im-mer man auch von diesem der Antike entlehntem Bild halten will, etwas geradezu Phänomenologisches.50

In jedem Fall verkennt der Antikognitivismus, der die ‚Ideen‘ aus der Poesie verbannen will, den wahren Charakter dieser Dichtung. So kann kein Zweifel daran bestehen, dass im Falle Canterburys der Grausamkeitsdiskurs von einem Kalkül beherrscht wird. Canterbury ist ganz wie der päpstliche Legat Pandulph in King John, dem es ausschließlich um die weltliche Macht der Kirche geht,51oder der Richard II. zur Abdankung nötigende Bolingbroke ein „vile politici-an“. Als Schmähung intendiert, dürfte in dieser Attribuierung selbst aus dem Munde des ritterlichen Hotspur noch ein gehöriges Maß an Anerkennung mitschwingen.52

Was nun aber Machiavelli und Hobbes verbindet, ist die Tatsache, dass ihr politi-sches Denken letztlich auf derselben Prämisse fußt. Beide sehen die Selbsterhaltung als fundamental an – die Selbsterhaltung des Staates beziehungsweise der Herrschaft eines Fürsten (Machiavelli) oder des Individuums, das sich qua Gesellschaftsvertrag einem Souverän unterworfen hat, dem es fortan zu gehorchen hat (Hobbes), wobei sich die Verpflichtung zum Gehorsam aus dem Schutz ergibt, den jener gewährt.53

Hobbes lässt sich deshalb mit gleichem Recht als Vordenker des Absolutismus wie des Liberalismus lesen, je nachdem ob man den Akzent auf den Unterwerfungsvertrag legt oder auf die Tatsache, dass er mit unerbittlicher Konsequenz vom Individuum und dessen Recht auf Selbsterhaltung ausgeht. So ist für ihn der Tod schlicht das summum malum . Das ist eine Haltung, die bei Shakespeare in den späteren Heinrich-Dramen von Falstaff, in Troilus and Cressida von Thersites sowie in All’s Well That Ends Well von Parolles eingenommen wird. Die drei Figuren stehen für die frühneuzeitliche Abkehr vom Heroismus.54 Aber auch Bolingbroke lässt auf dem Schlachtfeld von Shrewsbury gleich mehrere Kämpfer mit seinen heraldischen Insignien ausstatten, ein unritterlicher Identitätsschwindel, der Hotspur nicht entgeht:

The King hath many marching in his coats. ( 1 Henry IV , 5.3.25)

Machiavelli interessiert sich indessen für die Stabilisierung der Herrschaft eines neu zur Macht gelangten Prinzen, dessen größtes Handicap ein Legitimitätsdefizit darstellt, eine Beschreibung, die gleichermaßen auf Bolingbroke, der als Heinrich IV. den Thron bestiegen hat, wie auf Claudius zutrifft. Wer von beiden mit größe-rem Recht ein Usurpator genannt werden darf, ist gewiss schwer zu entscheiden. Machiavelli ist von Cesare Borgia fasziniert ( Il Principe ), aber auch vom virtus -Ideal der römischen Republik ( Discorsi ), das indessen eine Bedeutungsverschiebung er-fährt, der die konsequente Trennung von Privat- und Fürstenmoral ( virtù ) zugrun-de liegt. Für Hobbes, der das Wohl und das heißt vor allem das Sekuritätsbedürfnis des Erwerbsbürgers55 im Auge hat, ist das Leben im Naturzustand unerträglich. In Worten von beinahe poetischer Ausdruckskraft beschreibt er es als „solitary, poore, nasty, brutish, and short“.56 Im wohleingerichteten Staat ist der Mensch hingegen nicht länger des Menschen Wolf, sondern dessen Gott, wie es im Widmungstext zu De Cive tatsächlich heißt.57

Methodisch ist Machiavelli einer pragmatischen Geschichtsschreibung verpflich-tet, während sich Hobbes, der den Anspruch hat, more geometrico zu philosophie-ren, letztlich an einem Analysis-Synthesis-Schema orientiert: Die Beschreibung des Naturzustandes ist der analytische Schritt, der Akt der Staatsgründung die Synthesis. Da es sich hierbei um reine Denkoperationen handelt, kann der Naturzustand nicht historisch sein.58 Historisch ist hingegen die Erfahrung des eng-lischen Bürgerkriegs, die Hobbes wohl erst zu einem politischen Philosophen hat werden lassen, so wie Machiavellis Denken durch die Verhältnisse in den oberitalie-nischen Stadtrepubliken und Kleinfürstentümern der Renaissance geprägt wurde. Beide geben sich betont illusionslos. Sie huldigen einem Verismus, einem Hang zur moralfreien Deskription, die sich bei Machiavelli auch der antiken Historiographie verdankt, bei Hobbes hingegen einem Wissenschaftsideal, das er in prononcier-ter Gegnerschaft zur Politik des Aristoteles entwickelt. Und doch gibt es durch das Prinzip der Selbsterhaltung bei beiden auch eine unhintergehbare normative Setzung.

Wie anders verhält es sich hingegen bei Shakespeare! Es dominieren die Anschauung und das Prinzip der Plenitudo, der Überfülle. Alle Urteile schei-nen suspendiert. Mangelt es Titus Andronicus, dem Helden in Shakespeares gleichnamigem Römerdrama, der als siegreicher Feldherr in einer brüder-lichen Auseinandersetzung um die Thronfolge offensichtlich zugunsten des Unwürdigeren, aber Erstgeborenen interveniert, an geistiger Beweglichkeit, wes-halb es ihm unmöglich ist, aus dem traditionalistischen Starrsinn, in dem er be-fangen ist, auszubrechen? Hält Shakespeare es in Julius Caesar mit der Senatspartei oder den Cäsarianern? Hat sich Bolingbroke gegen Ende seiner Herrschaft nicht doch ein wenig vom Makel der Illegitimität befreien können? Oder gelingt das, wenn überhaupt, erst dem Sohn? Hat schließlich Heinrich VI., der anständige, aber entscheidungsschwache und zu bukolischer Weltflucht neigende Enkel, sein Herrschaftsrecht durch Unfähigkeit verwirkt? Ist Claudius ein Tyrann? Verstoßen Regan und Goneril, die bösen Töchter Lears, gegen göttliches Naturrecht? Was ist von Portias Lobpreis der christlichen Gnade zu halten oder vom Heiratsantrag, den der Herzog Vincentio an Isabella adressiert und der unbeantwortet bleibt? Warum lässt Shakespeare Prospero am Schluss sagen, dass er sich nach Mailand, also in seine alte Residenz, zurückbegeben werde,where / Every third thought shall be my grave (5.1.314f.)?

Soll die Restitution der legitimen Herrschaft in einer Depression enden?

Geht es um Shakespeare als ‚skeptischen‘ oder ‚guten Europäer‘, müssen wir des „negativen Vermögens“ und der sich aus ihm ergebenden Implikationen für eine Deutung seiner Werke eingedenk sein. Da eine Kritik, die sich ganz bewusst im ‚Hier und Heute‘ einrichten möchte, zugleich über eine ausgeprägte histori-sche Sensibilität verfügen sollte, haben wir zudem nicht nur über das Theater der englischen Renaissance, sondern auch über die Lateinschule sowie die Kultur der Rhetorik zu reden. Der von Stephen Greenblatt begründete New Historicism, der den dichterischen Schaffensprozess auf „soziale Energien“ zurückführen wollte, mag ein wenig in die Jahre gekommen sein.59 Das Werk des Dichters aus seiner Zeit heraus erklären zu wollen, bleibt aber ebenso legitim wie sinnvoll. Deshalb sollten wir gerade auch mit Blick auf die „negative capability“ von einem „Shakespearean moment“ sprechen.60

Rhetorik und Philosophie sind die zwei großen Bildungsmächte der Antike. Der Humanismus der Renaissance darf ciceronianisch genannt werden, insoweit er für die Rhetorik optierte. Der Rhetorik gegenüber der Philosophie den Vorzug einzu-räumen, heißt freilich immer auch Skeptiker zu sein. Der antike Redner begnügt sich mit Wahrscheinlichkeitswissen. Er ist Probabilist. Denn das wohlgesetzte Wort, die geschliffene Rede wird umso höher geschätzt, je pessimistischer man die Aussicht auf letztgültige Wahrheiten beurteilt. Es gilt der uralte in-utramque-partem -Topos, der nichts anderes besagt, als dass ein guter Redner gleichermaßen überzeugend für beide Parteien eines Konfliktes einzutreten vermag. Die Gründe für die jeweilige Parteinahme sind daher – so will es dieser Topos – stets extrinsischer Natur. Der Ort, an dem der junge Shakespeare ebendies gelernt hat, dürfte die Grammar School seiner Heimatstadt Stratford gewesen sein. Dass er sie besucht hat, wollen wir auch ohne si-cheren Quellenbeleg annehmen. Und ‚gelernt‘ sollte mehr heißen als schulmäßig ange-eignet. Wir haben es hier mit einer Grundhaltung zu tun, die für sein späteres drama-tisches Schaffen prägend werden sollte.61 Rhetorik bedeutet Wettstreit der Meinungen. Ob die Republik der Monarchie überlegen ist oder ob es sich nicht eher umgekehrt ver-hält, war ein beliebtes Thema für die Zöglinge elisabethanischer Grammar Schools.62Der Streit der Meinungen, der sich nur dezisionistisch überwinden lässt, kann agonale Züge annehmen. Dass Shakespeare sich auch und gerade mit dieser Dimension aus-einandergesetzt hat, bezeugen in ganz besonderem Maße die Römerdramen.63 Er war indessen das Gegenteil eines Dezisionisten. So werden wir uns von der Annahme einer weitgehenden Urteilsabstinenz leiten lassen.

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2 Die Römerdramen – Vergil oder Ovid?

Für gebildete Elisabethaner war die römische Antike so etwas wie das nächste Fremde. Dies gilt a forteriori für ihr Verhältnis zur Redekunst. In Julius Caesar prägt die Rhetorik gleichermaßen das Thema wie den Stil.64 Bevor die senatorische Armee bei Philippi im östlichen Makedonien eine vernichtende Niederlage erleidet, werden die Cäsarmörder durch die Redekunst des Antonius bezwungen. Das Wort ornatus , das ‚Schmuck‘ bedeutet und sich sowohl auf rhetorische Figuren als auch auf eine militärische Rüstung beziehen kann, suggeriert einen unmittelbareren Zusammenhang zwischen Kämpfen, die mit Worten und solchen, die mit Waffen ausgetragen werden.65 Die Wirkung, welche die Leichenrede des Antonius entfacht, von der vor allem das ironische Lob des Gegners,

For Brutus is an honourable man (3.2.81),in der Erinnerung haften bleibt, veranlasst die Führer der Senatspartei zur soforti-gen Flucht. Das erste Opfer aber ist der Poet Cinna, der sterben muss, weil ihn der aufgebrachte Mob mit dem gleichnamigen Verschwörer verwechselt und nach der Aufklärung über den Irrtum für die einmal entfachte Mordlust sogleich eine neue Begründung findet:

Tear him for his bad verses, tear him for his bad verses. (3.3.30f.)

Selbst der unschuldigste Wortschmied lebt gefährlich, wenn die Situation außer Kontrolle gerät und das Land in den Bürgerkrieg abgleitet. Wie in der antiken Historiographie üblich, gibt es wundersame Vorzeichen, die das Zerbrechen der staatlichen Ordnung ankündigen. Shakespeare folgt darin Plutarch. Vor der Ermordung Cäsars lässt er Casca über himmlische Erscheinungen berichten, die auf den bevorstehenden Bürgerkrieg – „civil strife“ (1.3.11) – verweisen. Sodann hat sich ein Löwe auf den kapitolinischen Hügel verirrt. Brennende Gestalten durchstreifen die Stadt. Auf dem Markplatz schreit am helllichten Tag eine Nachteule. Bemerkenswert ist allerdings der kühle Kommentar Ciceros, der den Vorzeichenglauben durch Verweis auf dessen semiotische Plastizität zu hinterfra-gen scheint:

But men may construe things after their fashion

Clean from the purpose of the things themselves. (1.3.34f.)

Oder verraten Ciceros Worte gar Vorbehalte gegenüber seiner eigenen Kunst? Dabei ist doch gerade der Mangel an sicherer Erkenntnis ( episteme, scientia ) das Lebenselixier der Rhetorik, die nur verschiedene Meinungen ( doxa, opinio ) kennt beziehungsweise gelten lassen will. Die Verschwörer ließen sich durch Ciceros Eitelkeit davon abhalten, ihn einzuweihen.66 Macht ihn nun gerade seine Isoliertheit zum unbestechlichen Beobachter?

Das Stück zeichnet sich dadurch aus, dass Zuschauer wie Leser mit dem zentra-len Handlungsstrang zutiefst vertraut sind. Von den Konventikeln der Verschwörer führt ein gerader Weg zu den Iden des März und von dort zur militärischen Entscheidung, die aber noch nicht final ist. Darauf deutet schon der Dissens im Lager der Sieger hin, der eine Spiegelung der Meinungsverschiedenheiten im Lager der Verlierer ist. Oktavian kommen die letzten Worte zu:

So call the field to rest, and let’s away

To part the glories of this happy day. (5.5.79f.)

Die Sieger werden bald über die Früchte des Sieges in Streit geraten. Darüber lässt uns das Stück nicht im Zweifel. Erst nach der Seeschlacht von Actium beginnt die Zeit der Pax Augusta. Die Schlussworte des als unheroisch verschrienen ‚Jünglings‘ Oktavian scheinen daher ironisch gebrochen. Das galt jedoch bereits für die ver-meintlichen Gewissheiten der Senatspartei, die just in dem Moment erodieren, als sie ihre Tat vollbracht haben.

Let him be Caesar (3.2.51),ruft ein Vertreter der Plebs, als Brutus, der Anhänger der Republik, seine Rede hält. Da die Zustimmung zur Tat offenbar mit einem völligen Unverständnis für ihre hehren Motive einhergeht, erntet der Redner vergifteten Applaus. Statt mit festen Überzeugungen haben wir es mit volatilen Stimmungen zu tun. Die Verschwörer sind zudem planlos. Sie scheinen gar nicht über die Ermordung des vermeintli-chen Tyrannen hinaus gedacht zu haben. Antonius, der nach Brutus spricht und zu Beginn noch eindeutig in der Defensive ist, agiert da geschickter  – zunächst mit Worten und dann mit Waffen. Er flüchtet sich auch nicht in ein abstraktes Räsonnement über republikanische Tugenden, sondern ködert das Volk mit dem Testament des Ermordeten:

You will compel me then to read the will?

Then make a ring about the corpse of Caesar (3.2.158f.).

Versammelt euch um die Leiche! Das Ganze hat einen Hauch von handlungsorien-tierter Pädagogik und es herrscht das Gebot der Deixis: „Look, in this place ran Cassius’ dagger through“ (3.2.172). Ein doppelter Superlativ beschreibt die Wunde, die ausgerechnet Brutus dem Diktator auf Lebenszeit, der doch sein Förderer war, beibrachte: „This was the most unkindest cut of all“ (3.2.181). Niemand wird diese Redekunst unschuldig nennen wollen.

Warum aber nimmt nach der Ermordung Cäsars das Verhängnis seinen Lauf? Shakespeare, so könnte man sagen, erklärt das politische Geschehen  – gestützt auf Plutarch – aus den unterschiedlichen Disponiertheiten der Charaktere. Brutus und Cassius sind Freunde, die indessen verschiedener nicht sein könnten, was

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ihre Freundschaft zerbrechlich macht.67 Brutus, ein Anhänger der Stoa, ist der Intellektuelle, den die Aura eines tugendhaften Republikaners umgibt. Eine un-freundlichere, aber nicht minder treffende Charakterisierung läge in dem Verdikt ‚politikunfähig‘, auch wenn Allan Bloom das in Abrede stellt.68 Dreimal begeht Brutus, so sieht es auch Plutarch, einen schweren Fehler – als er sich zunächst gegen die Liquidierung des Antonius ausspricht,69 als er diesem sodann gestattet, nachdem er selber gesprochen hat, auf dem Forum eine Leichenrede zu halten, als er schließ-lich in der Nähe der ostmakedonischen Stadt Philippi die Entscheidungsschlacht herbeiführen will. Cassius, ein bekennender Epikureer, widerspricht ihm jedes Mal, lenkt aber stets ein, weil der Freund wegen seiner Reputation zumindest nominell der Anführer der Verschwörer ist. Als ihr moralisches Aushängeschild darf er nicht beschädigt werden.70 Doch kann man in einem Bürgerkrieg, den man gewinnen will, wohl nur auf Kosten anderer moralisch rein bleiben. So erbittet Brutus von Cassius Geld, damit er Soldaten ausheben kann. Er steht ohne Ressourcen da, weil er es nicht fertigbringt, sich unlauterer Mittel zu bedienen:

For I can raise no money by vile means (4.2.128).

Genau deshalb soll ihm eben der weniger skrupulöse Freund Cassius helfen.

Die Szene, in der es unter anderem wegen dieses fragwürdigen Ansinnens zum Streit zwischen den beiden kommt, der dann aber gütlich beigelegt wird, ist ein politisches Lehrstück von ebenso herausragender Qualität wie die Begegnung zwi-schen Heinrich V. und seinen bischöflichen Ratgebern. Freilich handelt es sich in beiden Fällen um Lehrstücke, die gänzlich ohne Belehrung auskommen, weil Shakespeare nichts anderes tut, als uns zu zeigen, wie zwei ranghohe Kleriker, die gegenüber dem Monarchen als geschickte Sachwalter kirchlicher Interessen auftre-ten, beziehungsweise zwei Angehörige des römischen Senatsadels, die obendrein Freunde sind, die indes unterschiedlicher nicht sein könnten, in ganz bestimmten Situationen mehr oder weniger voraussehbar agieren. Welche Schlüsse wir daraus ziehen und welche Bewertungen wir vornehmen wollen, bleibt allein uns überlassen.

Wir sollten allerdings nicht vergessen, dass über Jahrhunderte hinweg nicht nur bei den hier diskutierten Szenen monarchistische beziehungsweise national-pat-riotische Lesarten dominierten. Dass sie alles andere als zwingend sind, war kei-ne Erkenntnis, die sich aufdrängte, auch wenn die Staatsform der Republik in der Renaissance prominente Fürsprecher hatte.71 Will man jedoch Brutus als Lichtgestalt des Republikanismus deuten, muss man erklären können, warum ihn Shakespeare am Vorabend der Tat wie Macbeth reden lässt:

Between the acting of a dreadful thing

And the first motion, all the interim is

Like a phantasma or a hideous dream (2.1.63–65).72

Fast könnte man meinen, hier walte ein albtraumhafter Determinismus, der die persönliche Verantwortung suspendiere.73

Friedrich Gundolf war davon überzeugt, dass Shakespeare die Geschichte im Reich der „Notwendigkeit“ verorte, weil seine Helden als „Vollzieher und Träger der geschichtlichen Schicksale“ handelten. So seien Brutus und Cassius eben erst „dadurch Individuen[,] dass sie Römer und Republikaner sind.“74 Damit machte Gundolf den Dichter aber auch zum Geschichtsschreiber beziehungsweise -denker.

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Shakespeare sein Quellenmaterial – und das heißt hier im Wesentlichen die Parallelbiographien Plutarchs in der zeitge-nössischen Übersetzung von Thomas North – mit klarem Blick für die Erfordernisse eines dramatischen Textes den eigenen Gestaltungsabsichten unterwirft, ohne dabei jedoch dem antiken Biographen Gewalt anzutun. In der Sekundärliteratur begegnet man mitunter der Auffassung, dass Julius Caesar die republikanische Gesinnung des Brutus als Anachronismus erscheinen lasse.75 Das wäre durch Shakespeares Hauptquelle Plutarch indessen nicht gedeckt. Auch ist Shakespeare nicht Mommsen.76 Die Frage, weshalb wir gerade seit der Zeit der Gracchen von einer Krise der Republik sprechen, weil ‚große Männer‘ die Regeln der Verfassung zu missachten begannen, bis am Ende einer von ihnen den republikanischen Staat aus den Angeln hob, stellt Shakespeare nicht. Sie lässt sich auch im Medium seiner Kunst weder stellen noch beantworten.77

Wenn Coppélia Kahn – vielleicht inspiriert durch Jacob Burckhardt – über das „agonistische Ethos“ der Senatsaristokratie schreibt, tut sie allerdings weder der rö-mischen Geschichte noch Shakespeare Gewalt an. Wie Coriolanus , dessen Titelheld freilich in die Frühzeit der Republik gehört, bringt Julius Caesar das destruktive Potenzial dieses Ethos auf wunderbare Weise zur Anschauung.78 Bei dem vom Senat zum Diktator auf Lebenszeit ernannten Feldherrn verbinden sich ein durch militä-rische Erfolge genährtes Selbstbewusstsein und Todesverachtung in ihren hyper-trophen Steigerungen zu einer einmaligen Synthese:

Wilt thou lift up Olympus? (3.1.74),fragt Cäsar unmittelbar vor seiner Ermordung den insistierenden Petenten Cassius, nachdem er gerade ein von diesem vorgebrachtes Gnadengesuch abgelehnt hat. Von seiner Frau hatte er sich zuvor mit markigen Worten über Tapferkeit und Feigheit verabschiedet, bevor er sich auf seinen letzten Weg zum Forum begab:

Cowards die many times before their death;

The valiant never taste of death but once. (2.2.32f.)

Offensichtlich beweist Shakespeare hier einen Sinn für multiple Ironien. Denn Cassius und seine Mitverschworenen werden Cäsar sogleich in den Olymp ex-pedieren, zu einem divus Iuliu s machen79 und damit im Nachhinein die feigen Vergottungsbeschlüsse des Senats bekräftigen, an denen sie ja nicht unbeteiligt gewe-sen waren. Eine weitere geschichtliche Ironie liegt in der Tatsache, dass die Republik dem „agonistischen Ethos“, von dem der römische Adel durchdrungen war, zugleich auch ihre Existenz verdankt. Warum aber das republikanische Gemeinwesen erst im letzten vorchristlichen Jahrhundert zugrunde ging und nicht schon zweihundert Jahre früher, lässt sich nicht mit den Deformationen dieses Ethos, will heißen der ‚Hypermaskulinität‘ ihrer Eliten, erklären. Da wäre denn doch wohl eher über die Funktionsmechanismen der republikanischen Verfassung zu reden, die durch die territoriale Expansion des einstigen Stadtstaates partiell suspendiert worden waren. Imperial overstretch ist allerdings eine moderne politikwissenschaftliche Kategorie.

*

Shakespeares Imagination des Empire  – in Julius Caesar und in Antony and Cleopatra  – ist etwas ganz anderes. Gerade in Bezug auf das spätere Stück sind frei-lich Missverständnisse auszuräumen, weil es gern und natürlich auch zu Recht als Liebestragödie gelesen wird:

Husband, I come (5.2.282),lauten Cleopatras Worte, mit denen sie ihren Liebessuizid antizipiert  – aller-dings erst nachdem sie geprüft hat, ob nicht doch noch die Option eines politi-schen Arrangements mit Oktavian besteht. Solcher Illusionen beraubt, agiert sie sogleich viel beherzter als Antonius, dem der Selbstmord zunächst misslingt, und erweist sich damit als die bessere Römerin. Und weil es sie nun mit aller Macht zu Antonius drängt, dessen Physis von solcher Strahlkraft sei, dass sich die in ihrem Formenreichtum der Natur sonst stets überlegene Fantasie im direkten Vergleich geradezu erbärmlich ausnehme, mag Cleopatra auch nicht glauben, in ein Schattenreich der Imagination zu gehen. Mitnichten ist sie eine Dido, die zu ihrem Sychäus zurückkehrt:

[…] Nature wants stuff

To vie strange forms with fancy; yet to imagine

An Antony were nature’s piece, ’gainst fancy,

Condemning shadows quite. (5.2.97–100)

All For Love hatte der neoklassizistische Dichter John Dryden seine Version dieses Shakespeare-Dramas genannt.80 Jonathan Bate meint über Shakespeares Verhältnis zu den römischen Klassikern Vergil, Ovid und Horaz, dass die Gebildeten unter den elisabethanischen Zeitgenossen sofort seine Präferenz für Ovid erkannt hätten. Gerade in Antony and Cleopatra zeige er sich in bewusster Kontinuität zum Dichter der Metamorphosen : „Shakespeare is continuing Ovid’s work of undoing Virgil.“81 Das scheint zunächst nachvollziehbar. Vergil ist schließlich der Staatsdichter82, der Oktavian Augustus unsterblich machen möchte. Aeneas, der imaginäre Stammvater des julischen Hauses, hatte Dido unter dem Diktat der Staats(gründungs)räson verlassen müssen und mit seinem Pflichtbewusstsein die Geliebte in den Selbstmord getrieben.

Oktavians Rivale Antonius aber entscheidet sich gegen die Politik und für die Liebe:

I’ th’ east my pleasure lies (2.3.39),deklamiert er – auch er trifft die Entscheidung allerdings erst endgültig, nachdem er sich einem Wahrsager anvertraut hat, von dem er hören musste, dass die Göttin Fortuna Oktavian mehr zugetan sei als ihm. Damit zeigt sich bei Antonius dieselbe Ambivalenz wie bei Cleopatra. Antony and Cleopatra gestattet uns deshalb einen gleichermaßen nüchternen Blick auf die Liebe wie auf die Politik.83 Erst in der fina-len Ausweglosigkeit lassen die beiden jedes Kalkül fahren. Eine Begegnung mit dem „Absoluten“ in der Liebe – wie Knight gemeint hat – oder doch bloß die Vollendung eines égoisme à deux ?84

Was nun die Politik angeht, ist das Trinkgelage auf der vor Misenum ankernden Galeere des Pompeius in seiner desillusionierenden Wirkung nicht zu übertreffen. Der Sohn des großen Feldherrn lädt die Triumvirn,

[t]hese three world-sharers, these competitors (2.7.69),auf sein Schiff. Sein Freund Menas rät das Seil zu kappen. Dazu aber fehlt Pompeius die Entschlusskraft. Er hätte sich gewünscht, jemand anders hätte das für ihn ge-tan, ohne ihn vorher davon in Kenntnis zu setzen. Folglich lässt er die Gelegenheit verstreichen. Occasione non rapta , wird der politische Widerstand im Alkohol er-tränkt. Die Großen tauschen sich über Nichtigkeiten aus. Berechnung, Missgunst und aufgesetzte Freundlichkeiten prägen die Atmosphäre. Man schwadroniert über die Wunder Ägyptens. Lepidus will versöhnen. Doch gebricht es ihm an Trinkfestigkeit. So entschärft er den Konflikt um den Preis einer fortschreitenden Entzweiung „zwischen ihm selbst und seiner Urteilskraft“ (2.7.9f.). Er wird als Alkoholleiche abtransportiert.

Wie Oktavian, Antonius und Lepidus, die Männer des zweiten Triumvirats, schon vorher miteinander umgegangen sind, als sie nämlich gerade dabei waren, ihre gemeinsamen Feinde zu proskribieren, zeigt Shakespeare  – wiederum gestützt auf Plutarch  – bereits in Julius Caesa r mit faszinierender Eindringlichkeit. Die Physiognomie einer aus den Wirren des Bürgerkriegs aufsteigenden Junta wird in keiner Geschichtserzählung deutlicher als zu Beginn des vierten Aktes des Cäsar-Stücks. So nötigt Oktavian Lepidus einen Loyalitätsbeweis ab – die Einwilligung, dass der Name seines Bruders auf die Liste der zu Ermordenden gesetzt werden möge, und von Antonius verlangt er die Zustimmung zur Tötung seines Neffen. Beide erklären sich ohne Zögern einverstanden. Der ‚Jüngling‘ Oktavian bestimmt das Gesetz des Handelns. Dann wird Lepidus von den beiden anderen wegge-schickt, das Testament Cäsars herbeizuschaffen. Die Bereitschaft zur Übernahme des Botengangs dekuvriert gleichermaßen die augenblickliche Nützlichkeit wie grundsätzliche Entbehrlichkeit dieses Triumvirn. Dass Oktavian ihn unter Hinweis auf vergangene militärische Verdienste zunächst noch verteidigt, “he’s a tried and valiant soldier”, was bei Antonius die zynische Entgegnung “[s]o is my horse” pro-voziert (4.1.28f.), zeigt uns den kampferprobten Soldaten und Feldherrn, der auch gern mal seine Brachialität zur Schau stellt. Darüber hinaus aber deutet sich in

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diesem Wortwechsel, in dem Oktavian scheinbar nachgibt, nicht nur bereits an, zwischen wem sich nach dem Sieg über die gemeinsamen Gegner der eigentliche Machtkampf abspielen dürfte, sondern auch wer von den beiden am Ende obsiegen wird und warum. Denn Oktavian Augustus ist – wie Heinrich IV. – ein vile politi- cian , der mehr aus Kalkül denn Pietät die Formen zu wahren weiß. Shakespeare lässt ihn daher am Ende für Brutus – ganz ähnlich wie Fortinbras es für Hamlet verfügt – ein feierliches Begräbnis anordnen.85 Das wirkt versöhnlich, ohne dass es politisch etwas kostet, und hat zugleich etwas Staatstragendes, obwohl es den neuen Staat noch gar nicht gibt.

Damit wäre ungefähr umrissen, was den Dramatiker Shakespeare zu einem Geschichtsschreiber oder -denker qualifiziert und warum Gundolf glaubte, von einer „Notwendigkeit“ sprechen zu dürfen, der Shakespeare einsichtig gewor-den sei.86 Es handelt sich nicht um eine Notwendigkeit, die Geschichtsprozessen inhärent sein mag. Vielmehr geht es um die Handlungslogik, die ganz bestimm-te Situationen kennzeichnet, in denen die Individuen so handeln, wie sie es auf-grund ihrer Einsicht in die realen Gegebenheiten sowie ihrer charakterlichen Prädispositionen, in denen sich gewiss auch ihr Römersein äußert, tun müssen. Vor allem aber lässt sich argumentieren, dass Shakespeare, dem wir sicher kein moder-nes Verständnis für die Prozesshaftigkeit von Geschichte unterstellen dürfen, sehr wohl verstanden hat, was seit Wilhelm Wundt ‚Heterogonie der Zwecke‘ heißt, er also nicht nur wusste, dass Geschichte zumeist nicht im Intendierten aufgeht, son-dern dies in seinen Dramen auch zeigt.

Ein solches Verständnis geht unweigerlich mit einem geschärften Sinn für Ironie einher. Doch wenn das „Let him be Caesar“ (3.2.51), die Approbation der ‚bösen Tat‘ durch die umherstehenden Plebejer, denen das republikanische Ethos fremd geworden ist und die sich unmittelbar darauf den Einflüsterungen des Antonius zugänglich zeigen werden, einen solchen Sinn für Ironie offenbart, gilt dies noch viel mehr für die Assoziationen, die sich bei einem elisabethanischen Publikum einstellen mussten, wenn es nur den Namen der Stadt Philippi hörte. Der bloße Gedanke an den Philipper-Brief des heiligen Paulus, adressiert an die Mitglieder der ersten christlichen Gemeinde auf europäischem Boden, gab unweigerlich der Vorstellung Raum, dass in diesem Drama eine Geschichtsepoche ‚verhandelt‘ wird, der allenfalls durch ihren Untergang eine heilsgeschichtliche Bedeutung zukommt. Der Geist des ermordeten Cäsar, der Brutus am Vorabend der Schlacht erscheint und ihm mit den Worten droht,thou shalt see me at Philippi (4.2.337),mochte daher ein bloßes Hirngespinst sein. Und doch lässt sich vielleicht auch von einem unabwendbaren Schicksal sprechen.

Seit Augustinus ist die Vorstellung geläufig, dass die göttliche Vorsehung die Pax Augusta beziehungsweise den Prinzipat, also die frühe Kaiserzeit, für die Verbreitung des Christentums zu instrumentalisieren wusste.87 In jedem Fall lässt sich bei Shakespeare eine Distanz zur paganen Welt der Römer und Griechen wahr-nehmen, die aber auch bedeutete, dass es für ihn bei der Verwendung antiker Stoffe weniger Tabus gab, also die Grenzen für das Sag- und Zeigbare weiter gezogen wa-ren als bei dramatischen Sujets, die der jüngeren Geschichte des eigenen Landes entstammten. Mit dem römischen Staatsdichter Vergil und dessen Reichsideologie verbindet ihn zumindest auf den ersten Blick eher wenig. Aber auch die Politikferne Ovids, den man in seinem Schwarzmeer-Exil ja auch als einen Verlierer der Geschichte bezeichnen könnte, ist Shakespeares Sache nicht.

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3 Die Königsdramen – Metamorphosen der Monarchie

Die politischen Rücksichten, die Shakespeare insbesondere in den Königsdramen zu nehmen hatte, waren beachtlich. „The mirror of all Christian kings“  – so nennt der Chor den jugendlichen Herrscher Heinrich V., der den seit Eduard III. erhobenen Anspruch der englischen Monarchen auf die französische Königskrone mit kriegerischen Mitteln durchsetzen will. Das scheint ihm zu-nächst auch zu gelingen. Die Vermählung mit der französischen Königstochter Katharina von Valois und die Zusicherung der Thronfolge nach dem Tod des französischen Königs Karls VI., der im Stück namenlos bleibt, sind die Früchte des Sieges von Azincourt. Insbesondere der Chor affirmiert eine patriotische Sicht auf die Spätphase des Hundertjährigen Krieges. Zu Beginn des fünften Aktes nennt er Heinrich einen „conqu’ring Caesar“ (5.0.28), dem nun zu Hause ein triumphaler Empfang bevorstehe. Darüber hinaus riskiert Shakespeare an dieser Stelle – für ihn ziemlich ungewöhnlich – einen tagesaktuellen und poli-tisch brisanten Vergleich. Ebenso siegreich wie König Heinrich aus Frankreich möge demnächst auch der Earl of Essex, „the General of our gracious Empress“ (5.0.30), aus Irland zurückkehren.

Diese Reverenz gegenüber einem hochmütigen Aristokraten und Theatermäzen sollte sich als katastrophaler Missgriff erweisen.88 Denn Essex blieb militärisch ohne Fortune, weshalb er sich für die Flucht nach England entschied, wo sich der über-schuldete und von Verfolgungswahn geplagte Adelige mit Königin Elisabeth über-warf und eine Rebellion anzettelte, die mit seinem Tod auf dem Schafott endete.

Für Shakespeare war das äußerst heikel. Denn die Gefolgsleute des Grafen hat-ten am Vorabend der Erhebung eine Aufführung von Richard II veranlasst. Von Elisabeth ist überliefert, dass sie sich wiederholt mit diesem Monarchen, der von Bolingbroke zur Abdikation genötigt worden war, verglichen hat:

I am Richard II, know ye not that?89

Die Abdankungsszene konnte auf der elisabethanischen Bühne nicht gespielt wer-den. Richard II. ist indessen auch ohne den sich an der eigenen Selbsterniedrigung delektierenden Auftritt,

[…] I hardly yet have learnt

To insinuate, flatter, bow, and bend my knee (4.1.164f.),eine faszinierende Figur von enormer Bühnenwirksamkeit. Das Stück zählt nicht ohne Grund bis heute zu den beliebtesten der Shakespeareschen Historiendramen.

In den dynastischen Auseinandersetzungen zwischen den Nachfahren Eduards III. ist dieser Monarch indessen alles andere als unschuldig. So ist es wohl auch die Angst vor den möglichen Folgen der eigenen Verfehlungen, die von Anfang an sein Handeln mitbestimmt, etwa als er sich entscheidet, das Duell zwischen Bolingbroke und Mowbray, dem Mörder Thomas Woodstocks, des Herzogs von Gloucester, ab-zubrechen, um beide in die Verbannung zu schicken, wobei er gegenüber ersterem eine gewisse Milde walten lässt, weil er sich vor Bolingbrokes Popularität fürchtet. Aber auch vor Mowbray muss sich Richard in Acht nehmen, da dieser vermutlich als sein Werkzeug handelte.90 Dann aber begeht er den Fehler, nach dem Tode des Patriarchen John of Gaunt die Familie Bolingbrokes zu enteignen. Das wird zur Initialzündung für die Rebellion.

Zwar zeigt sich Richard anfangs auch als ein Mann der Tat. Er kämpft, wie es später Essex tun sollte, in Irland. Doch wer sich auf fernen Kriegsschauplätzen verausgabt, schwächt seine Position zu Hause, sei es als Angehöriger des Hochadels oder als König. In der zweiten Hälfte des Stücks ist Richard dann vor allem wortmächtig, während sein machtpolitisch versierter Gegner Bolingbroke immer lakonischer wird. Zugleich verschiebt sich die Balance von Schuld und Unschuld. Der expropriierte Bolingbroke holt sich nicht bloß das ihm zuste-hende väterliche Erbe zurück, sondern setzt sich durch den Akt der Usurpation ins Unrecht. Richard aber könnte mit dem alten König Lear von sich sagen, er sei nun

[…] a man / More sinned against than sinning. ( King Lear, 3.2.59f.)

Das Stück lebt von solchen Symmetrien, die geradezu seinen ästhetischen Reiz aus-machen. Der entmachtete Richard zeigt indessen nicht die unbändige Wut des alten Lear. Er wird mehr und mehr zum Hysteriker und Masochisten.

Was aber bedeutet das für die vermeintliche politische Botschaft? Zu Beginn der Rebellion berauscht sich Richard noch an seinem Gottesgnadentum:

Not all the waters in the rough rude sea

Can wash the balm from an anointed king.

The breath of worldly men cannot depose

The deputy elected by the Lord. (3.2.50–53)

Doch während sich Bolingbroke zunächst unterwürfig gebärdet und lediglich um die Herausgabe seines väterlichen Erbes bittet, gar meint, dass alles, was er verdiene, durch „wahren Dienst“ gegenüber König Richard erworben sei,as my true service shall deserve your love (3.4.197),beginnen sich allmählich die realen Machtverhältnisse zu zeigen. In der ihm eige-nen Gewandtheit greift Richard den Tropus auf und resümiert bitter:

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They well deserve to have

That know the strong’st and surest way to get. (3.3.198f.)

Offenkundig stehen Bolingbroke, der nach seiner Landung in Ravenspurgh die von Richard Enttäuschten um sich versammeln kann, nun die nötigen Machtmittel zur Verfügung. Und wer kann, der darf auch. Das ist die Annihilierung jeder Ethik und jeden Rechts, also purer Machiavellismus. Dass aber Richard, indem er den Sohn John of Gaunts um sein Erbe gebracht, selber gegen feudales Recht verstoßen hatte, lässt sich schwerlich leugnen. Obendrein ist ihm wohl die Ermordung des Herzogs von Gloucester anzulasten.

Doch darf man König Richard deshalb zur Abdankung nötigen? Der alte Gaunt hatte das gegenüber der Witwe des Ermordeten verneint und zu christlicher Duldsamkeit geraten. Gibt es nicht so etwas wie die sacrosanctitas des Monarchen, die in monarchisch verfassten Staaten eigentlich immer nur die Ausflucht zuließ, die schlechten Ratgeber des Königs zu bestrafen? Indem er anordnet, Bushy und Green zu exekutieren, die beide Mitglieder des königlichen Rates waren, folgt Bolingbroke zunächst genau dieser Logik. Freilich ist das für ihn lediglich ein weiterer Schritt auf dem „festesten und sichersten Weg“ zur Herrschaft, den er offensichtlich nur zu gut kennt und längst betreten hat.

Welche Perspektive aber affirmiert das Stück? Gibt es überhaupt eine poli-tische Botschaft? Im vierten Akt begegnen wir dem Bischof von Carlisle, der sich Bolingbroke, der für ihn bloß der Herzog von Hereford ist, entgegenstellt und eine Unheilsprophetie riskiert, mit der er auch ein persönliches Risiko eingeht:

My Lord of Hereford here, whom you call king,

Is a foul traitor to proud Hereford’s king,

And, if you crown him, let me prophesy:

The blood of English shall manure the ground,

And future ages groan for this foul act. (4.1.125–129)

Die brutale Realität der Rosenkriege sollte Carlisle Recht geben. Doch will der mu-tige Bischof, der umgehend des Hochverrats beschuldigt wird, solches Unheil unter Berufung auf eine „mystische Fiktion“ (Ernst Kantorowicz) abwenden.

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Dieser „mystic fiction“ hat Kantorowicz eine große Studie gewidmet.91Für den einst zum George-Kreis gehörenden Mediävisten war Shakespeares Richard II unter den literarischen Quellen der locus classicus der Vorstellung von den „zwei Körpern des Königs“, was Shakespeare zum Propagandisten ei-ner politischen Theologie hätte machen können. Dass er das tatsächlich war, behauptet indessen auch Kantorowicz nicht. Er sieht hier einfach eine genuin englische Tradition und kann darauf verweisen, wie sich Juristen der Tudor-Zeit in ihrer Entfaltung der Lehre von den zwei Körpern des Königs gerade-zu der Begrifflichkeit des athanasischen Glaubensbekenntnisses bemächtigten und ihrer juridisch-politischen Darstellungsabsicht unterwarfen: der König als eine Person in Gestalt zweier Körper.92 Die christologische Überhöhung der Königswürde, wie sie aus Richards eigenen Worten und aus denen des Bischofs von Carlisle hervorscheint, ist im Stück allgegenwärtig. So projiziert Richard sein eigenes Schicksal in die Passionsgeschichte, aber nicht als Gläubiger, der sich in der Nachfolge Christi wähnt, sondern – in einem für ihn höchst cha-rakteristischen rhetorischen Exzess – als leidender Christkönig, der von mehr Feinden und Heuchlern umgeben ist, als Jesus von Nazareth es je war. Nicht nur Bolingbroke gerät ihm dabei zu einer Pilatus-Figur, sondern alle schamlosen Gaffer bei Hofe, die nicht intervenieren, obwohl sie um die Unschuld des recht-mäßigen Königs wissen sollten:

Nay, all of you that stand and look upon

Whilst that my wretchedness doth bait myself,

Though some of you, with Pilate, wash your hands,

Showing an outward pity; yet you Pilates

Have here deliver’d me to my sour cross,

And water cannot wash away your sin. (4.1.227–232)

Während jedoch der den König verteidigende Bischof als Anwalt einer politischen Theologie eher etwas eindimensional wirkt, ist jener durchaus zu erstaunlichen Einsichten fähig. So schwelgt der entmachtete Herrscher in Worten, die nicht nur seinem tiefen Schmerz Ausdruck geben, sondern auch zeigen, dass er seine Situation begriffen hat:

O, that I were as great

As is my grief, or lesser than my name (3.3.135f.).

Richard ist die Macht entglitten. König ist er in diesem Moment nur noch nomi-nell. Man muss, um diese politische Metamorphose zu reflektieren, nicht auf den spätmittelalterlichen Universalienstreit rekurrieren. Aber die Frage, was Namen sind, stellt sich schon: flatus vocis   – nicht mehr als ein von der menschlichen Stimme erzeugter Lufthauch. Das ist zumindest die Antwort der Nominalisten, für die Allgemeinbegriffe keine außersprachliche Realität besitzen. Es spricht ei-niges für die Annahme, dass diese Überlegung eine Lesehilfe für das Stück sein könnte.93

Dass Richard seine Deinvestitur wortmächtig und machtvergessen zelebriert, ist deshalb vor allem psychologisch interessant. Von seiner Frau verabschiedet er sich am Ende mit Worten, die zeigen, dass er auch im Elend nicht auf selbstverliebtes Allegorisieren verzichten mag:

I am sworn brother, sweet,

To grim necessity and he and I

Will keep a league till death (5.1.20–23),was die kühle Entgegnung

Hath Bolingbroke / Deposed thine intellect? (5.1.27f.)provoziert. Neben dem Herzog von Hereford ist sie – in diesem hellen Moment – die wahre Machiavellistin des Stücks. So weit mochte Kantorowicz offenbar nicht gehen. Doch sieht auch bei ihm Richard am Ende in der Königswürde ein bloßes nomen .94 Bloße Namen aber eignen sich hervorragend, um Wandlungen zu ka-schieren. Das ließ sich schon in der Antike beobachten. Beim Übergang von der Republik zur Monarchie blieben die alten Amtsbezeichnungen erhalten. Die Worte des Tacitus – eadem magistratuum vocabula  – wurden zu einem Topos, der festhält, wie man Kontinuitätsfiktionen stiftet.95

Folgt man einer lange geläufigen Auffassung, propagieren Shakespeares Königsdramen freilich den Tudor-Mythos, der den Herrschaftsanspruch der mit Heinrich VII. auf den englischen Königsthron gelangten Dynastie der Tudors bekräftigen sollte. Heinrich Tudor, Graf von Richmond, hatte durch den Sieg in der Schlacht von Bosworth (1485) und durch die Vermählung mit Elisabeth von York die Rosenkriege beendet. Doch gab es anfangs mehrere Prätendenten. Die Begründung seines Thronanspruchs qua Geburtsrecht war prekär. Die dann tat-sächlich von ihm erbrachte Befriedungsleistung durch eine Art Mythos zu über-höhen, der im Kern die Aussage enthielt, dass die durch einen Akt der Usurpation, das heißt durch die Thronbesteigung Heinrich Bolingbrokes, befleckte Geschichte der englischen Monarchie durch Heinrich Tudors Versöhnung der Häuser York und Lancaster von diesem Makel befreit worden war, erschien mehr als opportun. Der Tudor-Mythos wäre ein zentraler Beleg für die suggestive Wirkung der von Kantorowicz rekonstruierten „mystic fiction“ von den zwei Körpern des Königs.96Zugleich ließe sich mit ihm auch eine anti-ovidische Pointe setzen.

Am Morgen der Schlacht von Azincourt bittet Heinrich V. Gott darum, ihn nicht ausgerechnet an diesem Tag für das Verbrechen seines Vaters sühnen zu lassen:

Not today, O Lord,

O not today, think not upon the fault

My father made in compassing the crown.

I Richard’s body have interrèd anew,

And on it have bestow’d more contrite tears

Than from it issued forcèd drops of blood. ( Henry V , 4.1.289–294)

Eine unvoreingenommene Lektüre nicht nur von Richard  II, sondern sämtli-cher Stücke der ersten und zweiten Henriade97 zeigt indessen, dass sich eine auf Bekräftigung des Tudor-Mythos ausgerichtete Mitteilungsabsicht allenfalls für Richard III plausibel annehmen lässt, einem Stück, das in seiner negativen Sicht auf die Herrschaft dieses Monarchen von der tendenziösen Biographie des Thomas Morus abhängig ist.98 Richard III ist neben Macbeth 99 denn auch das Stück, von dem sich am wenigsten behaupten ließe, dass es sich um ein analytisches Drama handelt. Die drei Teile von Henry VI sind es durchaus.100 Die Stücke der später verfassten zweiten Henriade, deren Handlung aber chronologisch früher anzusetzen ist, müs-sen in einem emphatischen Sinn so genannt werden.

*

So bekräftigt gerade auch Henry V den in-utramque-partem -Topos. Das Stück ist im Grunde nicht minder ‚rhetorisch‘ als Julius Caesar , mit dem es möglicherweise das Jahr der Uraufführung (1599) teilt, und kaum weniger ‚theatralisch‘ als Hamlet , die nur ein Jahr später entstandene Tragödie. Um das akzeptieren zu können, darf man freilich den Chor nicht in der Rolle des allwissenden Kommentators sehen, als handele es sich bei diesem Königsdrama um eine sophokleische Tragödie. Dann wäre nämlich eine patriotisch-monarchistische Lesart zwingend. Freilich kann sich ein Chor auch darauf beschränken, das Publikum durch Tatsachenberichte mit dem nötigen Hintergrundwissen auszustatten. Und obwohl bei diesem Stück eigentlich nicht notwendig, geschieht beispielsweise am Schluss genau das. Henry V endet mit einem vom Chor gesprochenen Hinweis auf das Schicksal des noch im Kindesalter befindlichen Thronfolgers, unter dessen Herrschaft das väterliche Erbe zerrann. Hier von einer Ironie des Schicksals zu sprechen, ist einerseits trivial, andererseits drängt sich eine solche Perspektive geradezu auf.

Heinrich V., der einstige wastrel prince , der sich von Falstaff, seinem ‚Erzieher‘ respektive ‚Verführer‘ lossagt, nach der französischen Königskrone greift, ein Heer aufstellt, sich dreier hochrangiger Verschwörer entledigt, einen glänzenden Sieg er-ringt, in einer seltsam martialischen Brautwerbung der Prinzessin Katharina vor-schlägt, mit ihr einen Sohn zu zeugen, der einst Konstantinopel erobern werde, dann aber noch vor der Konsolidierung seiner Herrschaft plötzlich erkrankt und nach seinem frühen Tod ein Machtvakuum hinterlässt, in dem sich der englische Hochadel in den Rosenkriegen gegenseitig dezimieren wird, bis Heinrich Tudor der Schreckensherrschaft Richards III. eine Ende bereitet – das ist im Wesentlichen das Rohmaterial für ein sinnstiftendes Narrativ, den Tudor-Mythos, den Shakespeare indessen nur scheinbar bedient.

Zwar werden  – in der ersten Henriade  – durchaus auch vulgärpatriotische Gefühle, ja Ressentiments geweckt, zum Beispiel in der Denunziation der Jungfrau von Orléans als Hexe, die, um ihre niedrige Herkunft zu kaschieren, ihren leibli-chen Vater verleugnet und obendrein freizügig mit ihrem eigenen Körper umgeht,[…] she hath been liberal and free ( 1 Henry VI , 5.6.82),was auf ihre nachhaltige Diskreditierung beim zeitgenössischen Publikum gezielt haben dürfte.101 Auch sollte man – wenn man über die zweite Henriade spricht – das Pathos der Monologe Heinrichs V. in ihrer Wirkung nicht unterschätzen.102

In „Upon the king“ (4.1.227–281) spricht Heinrich V. freilich so pathetisch von der Bürde seines Amtes, dass er die Parodie gleichsam schon mitliefert, was nicht erst Regisseure des 20.  Jahrhunderts entdeckt haben dürften. Noch jedes priva-te Unglück würden seine Untertanen ihm anlasten. Er trage so schwer an dieser Bürde, dass der zeremonielle Vorrang, den er als König genießt, die dürftigste aller Entschädigungen sei:

And what have kings that privates have not too,

Save ceremony, save general ceremony?

And what art thou, thou idol ceremony?

What kind of god art thou, that suffer’st more

Of mortal griefs than do thy worshippers? (4.1.235–239)

Niemand käme wohl auf die Idee, ausgerechnet diesem Monarchen bukolische Weltflucht unterstellen zu wollen  – ganz im Unterschied zu seinem Sohn, dem späteren Heinrich VI., der in seinen angstgeschwängerten Träumen zu einem Hirtenjungen regrediert.103 Peter Zadek hatte in seiner Bremer Inszenierung von 1964 Heinrich V. den Monolog auf einem Feldbett sitzend sprechen lassen, rau-chend und unterbrochen durch das Lachen einer Kurtisane.104

In den beiden Teilen von Henry IV war indessen Falstaff für den parodistischen Diskurs zuständig. Doch erkrankt der feiste Ritter bald nach seiner Verstoßung und findet in „Arthurs Schoß“ ( Henry V , 2.3.9f.) seine ewige Ruhe, wie es seine Wirtin in ihrer verklärenden Erinnerung auf herrlich konfuse Art zum Ausdruck bringt, in-dem sie nämlich den alten Zechpreller zum armen Lazarus des Lukas-Evangeliums macht (Lukas 16:22), der aber nicht in Abrahams Schoß, sondern standesgemäß in eine ritterliche Tafelrunde entschwebt zu sein scheint. Hält man in Henry V nach weiteren Trägern dieses Diskurses Ausschau, wird man jedoch auch in dem ver-meintlich so heroischen Drama schnell fündig.

Da wäre zum Beispiel die Figur des Llewellyn, eines Walisers, der – zusammen mit einem Schotten und einem Iren – offenbar die Vielfalt der ‚Nationen‘ reprä-sentieren soll.105 Man könnte Llewellyn aber ebenso gut den Repräsentanten einer kolonialisierten Ethnie nennen, in dessen Charakterisierung das Element der Komik nicht fehlen darf. Dafür eignet sich das von dieser Gruppe gesprochene Idiom mit seinen vermeintlichen Unzulänglichkeiten in ganz besonderer Weise. So vermag es der walisische Offizier nicht, den stimmhaften bilabialen Plosivlaut zu artikulieren. Er sagt ‚p‘ statt ‚b‘. Nach gewonnener Schlacht, in einem komischen Interludium, unmittelbar nachdem der königliche Feldherr die Hinrichtung aller Gefangenen angeordnet hatte, was aber wohl, auch wenn es als Vergeltung für die Beschlagnahme des englischen Trosses geschah, selbst im Verständnis der damali-gen Zeit ein Kriegsverbrechen war, sinniert Llewellyn über Alexander den Großen, den er wegen seines ‚Sprachfehler‘ „Alexander the Pig“ (4.7.13) nennt. Dieser habe einst im Alkoholrausch seinen besten Freund erschlagen, erinnert uns Llewellyn auf etwas umständliche Weise, um sodann in einem gewagten Vergleich,

[f]or there is figures in all things (4.7.32),eine Kostprobe seiner Gewandtheit zu liefern. Hat nicht Heinrich nach seiner Thronbesteigung seinen besten Freund im Zustand völliger Nüchternheit versto-ßen, also nicht in „his ales and his cups“, wie der Makedone, sondern in „his right wits and good judgements“ (4.7.44f.)? Vielleicht ist der Waliser aber auch bloß eine ehrliche Haut und kann deshalb so ungeniert delikate Sachverhalte ansprechen, wo-bei ihm die zwar nur leicht verborgenen, aber äußerst heiklen Implikationen mög-licherweise vollständig entgehen.

Heinrich ist – wie sein Vater – ein Machiavellist, der nach seiner Thronbesteigung nur noch das Gebot der Staatsräson kennt. Das zeigt sich bei der Belagerung von Harfleur, wo er dem Kommandanten mit Ausschreitungen droht, falls er weiterhin auf Verteidigung setze, wie in der Hinrichtung Bardolphs, der eine Paxtafel (ein Täfelchen, das der Weitergabe des liturgischen Friedenskusses diente) gestohlen hat und der ein Kumpan Falstaffs war. Doch auch in Henry V verdrängt das Martialische die Komik nicht. Sie bleibt unentbehrlich.

Man muss nicht gerade Harold Bloom folgen, der Falstaff in der Rolle des Prinzenerziehers sieht, gewissermaßen eines Aristoteles im Londoner Kneipenmilieu, um die Komik als ein Mittel der Subversion zu begreifen.106 Auch die Franzosen werden im Stück ja zunächst in ähnlicher Weise ridikülisiert. Pretiös und dandyhaft, aber nicht frei von Anzüglichkeiten rühmt sich der Herzog von Bourbon, ein Sonett auf sein Streitross verfasst zu haben. Kämpfen kann das fran-zösische Aristokratenheer indessen nicht. Die Prinzessin Katharina nimmt schon vor der Niederlage Sprachunterricht. Ihre Unterweisung beschränkt sich indes-sen auf Elementares  – body words . Zweideutigkeiten verletzen ihr Schamgefühl. Notdürftig überdecken dann in der Brautwerbung Heinrichs, in der es wiederum um Sprache geht, die Konventionen höfischer Etikette den brachial-fremdbestimm-ten Charakter des Gesprächs. Katharinas Bemerkung

O bon Dieu! Les langues des hommes sont pleines de tromperies! (5.2.116f.)mag daher, obwohl ganz am Anfang gesprochen, als abschließender Kommentar zu dieser Szene zu lesen sein. Die Komik geht hier also nicht unbedingt zulasten der Edukandin, die das für sie neue Prestige-Idiom noch höchst unzulänglich be-herrscht, was für monolingual Sozialisierte ja lustig sein mag. Die Wirkung der Szene ist freilich immer auch eine Frage der Inszenierung.

Wir müssen uns also keineswegs vom Chor die Deutung des Stücks vorgeben las-sen, der Heinrich als heroischen und zugleich volkstümlichen Herrscher zelebriert, der sich am Vorabend der Schlacht verkleidet unter die einfachen Soldaten mischt, um die Stimmung zu ergründen, aber auch, um ihnen angesichts der zahlenmäßi-gen Übermacht des Gegners allein durch seine physische Präsenz, wenngleich unter Wahrung seines Inkognitos Mut zu machen:

A little touch of Harry in the night. (4.0.47)107

Die Pluralität der Nation bedeutet zwangsläufig eine Vielfalt der Perspektiven  – vom walisischen Offizier über Falstaff, der allerdings nur noch in der Erinnerung lebendig ist, bis hin zum Trossjungen, der einst zur Entourage des Ritters gehörte und der am Ende von marodierenden Soldaten des Feindes ermordet wird. „Would I were in an ale-house in London. I would give all my fame for a pot of ale, and safe-ty“ (3.2.12f.), lautet seine Klage, die vielleicht stärker nachhallt als das Te Deum, das nach dem errungenen Sieg von den Engländern gesungen wird.

Das Publikum weiß auch ohne den Chor, dass Azincourt und der das Ergebnis der Schlacht besiegelnde Vertrag von Troyes nicht zur Begründung einer Doppelmonarchie führen werden. Geschichte geht eben selten im Intendierten auf. Sie ist – genau wie die Sprache – voll von „Tromperien“. Dennoch wähnt sich bis heute manch ein britisches Publikum dem Helden des Stückes nahe.108

Es sollte aber nicht vergessen werden, dass die Darstellung der englischen Geschichte zahlreichen Restriktionen unterlag, was sich vor allem in den frü-hen Heinrich-Stücken zeigt. Während Casca in Julius Caesar von einem epilep-tischen Anfall Cäsars zu berichten weiß und Brutus das als glaubwürdig erachtet (1.2.252ff.), findet die Tatsache, dass der historische Heinrich VI., der schwächliche Thronfolger, unter dem alles verloren gehen sollte, was sein Vater errungen hatte, von Anfällen geistiger Umnachtung heimgesucht wurde, in der ersten Henriade nirgends Erwähnung. Und doch gilt für alle Heinrich-Stücke dasselbe wie für Julius Caesar . Es handelt sich um analytische Dramen, in denen der Dichter hinter seinen Figuren verschwindet und seinem Publikum die Beantwortung der großen Fragen überlässt, die diese Stücke aufwerfen.

Vielleicht darf man deshalb Heines Gedanken weiterführen und feststellen, dass nicht nur der Katholizismus, sondern auch die politische Theologie, von der hier die Rede ist, im spätelisabethanischen Zeitalter bereits ‚in der Theorie‘ zerstört war und deshalb zu einer Ressource für Shakespeares dramatische Poesie werden konn-te. Wie Shakespeare selber über diese politische Theologie dachte, vermögen wir nicht zu sagen. Wir können lediglich Aussagen über den Gebrauch treffen, den er von ihr in seinen Historiendramen machte.

Doch lässt sich auf eine interessante Parallele im 20. Jahrhundert verweisen – auf das Werk sowie die intellektuelle Biografie von Ernst Kantorowicz selbst. So lautet der Untertitel der Monografie von 1957 A Study in Medieval Political Theology . Sie ist das Spätwerk des Verfassers einer Biografie über den Staufer Friedrich II., die am Ende der Weimarer Republik erschienen war und sich grundlegend von The King’s Two Bodies unterschied. Kaiser Friedrich der Zweite 109 bietet eine ästhetisierende Geschichtsschau, die in einem „mythopoetisch-messianischen Latenzraum“110, dem ‚geheimen Deutschland‘ des George-Kreises, entstanden war. Die Biografie war das Werk eines politisch konservativen Ästheten, der „in unkaiserlicher Zeit“111 die Kunst für eine „mystische Fiktion“ braucht, der sich aber im amerikanischen Exil neu erfindet und eine positivistische Monografie von stupender Gelehrsamkeit vor-legt. So verwundert es nicht, dass man The King’s Two Bodies auch als Reverenz des Verfassers an den englischen Konstitutionalismus gelesen hat.112 Das wiederum konnte nicht die Perspektive Shakespeares sein, der sich in der ersten Henriade am „Dilemma des schwachen Königs“113 abgearbeitet hat, bevor er sich dann in der zweiten Henriade den weitaus tüchtigeren Vorfahren dieses Herrschers zuwandte. So lässt er den jungen Clifford im dritten Teil von Henry VI eine beredte Klage vor-bringen, mit der er diesen Kontrast herausarbeitet:

[…] Henry, hadst thou swayed as kings should do,

Or as thy father and his father did,

Giving no ground unto the house of York,

They never then had sprung like summer flies;

I and ten thousand in this luckless realm

Had left no mourning widows for our death,

And thou this day hadst kept thy chair in peace,

For what does cherish weeds but gentle air?

( 3 Henry VI, 2.6.14–21)

Es sei Heinrichs viel zu milde Herrschaft gewesen, die bewirkt habe, dass sich seine Feinde wie Sommerfliegen vermehrten und das Unkraut der Insurrektion zu wu-chern begann. Da nimmt es nicht wunder, wenn A.D. Nuttall mit Blick auf die zwei-te Henriade vom „weißen Machiavellismus“114 des Großvaters wie des Vaters dieses Lancaster-Monarchen spricht. Könnte es sein, dass sich den ‚reiferen‘ Königsdramen nicht doch ein vorsichtiges Plädoyer für Realpolitik entnehmen lässt, weil sich mit Königen, die zu bukolischer Weltflucht neigen, kein Staat machen lässt?

57

4 Tragische Helden als „freie Künstler ihrer selbst“?

Während die Römer- wie die Königsdramen allein durch ihre Sujets zur Parteinahme herausfordern, um derartige Versuche dann durch ihre Analytizität zu konterkarie-ren, vielleicht sogar gänzlich scheitern zu lassen, geht es in der Tragödie – so will es zumindest der auf die Antike blickende deutsche Idealismus – um eine Kollision der Werte. Schon Hegel hat aber – wie eingangs bemerkt – gemeint, dass in Hamlet der Konflikt um die Thronfolge im Grunde sekundär sei und sich die „eigentli-che Kollision“ um den „subjektiven Charakter“ Hamlets drehe.115 Möchte man der hyperbolischen Redeweise Harold Blooms folgen, darf man gar von der „Erfindung des Menschlichen“ sprechen.116 In der Tat begegnet uns in den großen Monologen nicht nur der Hamlet -Tragödie eine Form von Innerlichkeit, die in der Geschichte der dramatischen Poesie ohne Vorbild ist und deren sprachliche Gestaltung sich durch eine besonders „eng[e] Verknüpfung von Gedanke und Gefühl“ auszeich-net.117 Ob wir allerdings Wolfgang Clemen auch darin folgen wollen, dass das, was Hamlet sagt, immer nur für den jeweiligen Augenblick gelte und er sich im Grunde selber nicht verstehe, sei einmal dahingestellt.118

Gewiss sind wir gerade bei der Annäherung an dieses Stück auf Vereinfachungen angewiesen. Von den Problemen, die in Hamlet ‚verhandelt‘ werden, mögen deshalb drei unser besonderes Interesse beanspruchen: die Suche nach der Wahrheit, der, weil sie sich nicht nur auf konkrete Ereignisse am dänischen Königshof bezieht, sondern aufs engste mit dem Phänomen der Subjektivität zusammenhängt, die größte Aufmerksamkeit gebührt,119 sodann – was immer auch Hegel gedacht ha-ben mochte – das Problem der Legitimität, über die ein Herrscher qua rechtmä-ßiger Sukzession verfügen sollte, und schließlich die Frage nach der Qualifikation für dieses Amt. Verkörpert der gerade aus Wittenberg zurückgekehrte legitime Thronfolger Hamlet als scholar prince nicht ein erasmianisches Ideal?

Doch so leicht lässt sich die in der Rachethematik aufscheinende archai-sche Dimension des Stückes nicht überwinden. Harold Jenkins hat von Hamlets „Doppelrolle“ gesprochen.120 Damit weist er auf den Zwiespalt hin, der sich aus der Tatsache ergibt, dass der väterliche Racheauftrag, den Hamlet empfängt, nicht un-bedingt eine höhere Legitimität besitzt als das Verlangen des Laertes, Vergeltung für die Tötung seines Vaters Polonius durch Hamlet zu üben, sofern denn überhaupt von Legitimität gesprochen werden darf, heißt es doch im Römerbrief des Paulus: „Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr“ (Römer 12:19). Im fünften Akt bringt Hamlet den Sachverhalt selber präzise auf den Punkt, in dem er seinem besten Freund Horatio gesteht:

But I am very sorry, good Horatio,

That to Laertes I forgot myself;

For by the image of my cause I see

The portraiture of his. (5.2.76–79)

Nun ist aber Hamlet nicht einfach nur ein tragischer Held, dem am Ende Einsicht zuteil wird. Die Wahrheitssuche ist das, was ihn als Figur geradezu definiert. Die Fragen, um die es bei dieser Suche geht, scheinen sich gleichermaßen auf die Situation am Königshof, die Aufklärung erheischt, wie auf Grundprobleme der menschlichen Existenz zu beziehen. Wie aber hängen die beiden Fragekomplexe zusammen? Gibt es vielleicht so etwas wie eine metaphysische Existenzerhellung im Lichte dessen, was im Laufe des Stücks über die Ereignisse am Hof zutage ge-fördert wird?

Der berühmteste der Hamletschen Monologe erinnert – formal betrachtet – an eine scholastische quaestio. Die Erörterung der Frage „to be or not to be“ (3.1.58ff.) darf man folglich ganz schulmäßig verstehen, was bei einem jungen Mann, der sein Studium wegen einer familiären Verpflichtung nur unterbrochen zu haben scheint, auch wenig Anlass zur Verwunderung geben sollte. Als Hamlet diesen Monolog spricht, ist Claudius der Tat noch gar nicht überführt. T. S. Eliot glaubte deshalb feststellen zu dürfen, dass sich der Prinz durch eine Emotionalität „in excess of the facts as they appear“121 auszeichne. Dem kann man durchaus beipflichten, ohne gleich wie Eliot von einem „künstlerischen Versagen“122 aufseiten des Dichters spre-chen zu müssen. „Frailty, thy name is woman“ (1.2.146) – so lautet bereits im ers-ten großen Monolog das befremdliche Urteil des Prinzen über seine Mutter, die Hamlets Onkel – einen „Satyr“ – geehelicht habe, kaum einen Monat nach dem Tod ihres „Hyperions“ (1.2.140). Selbst Harold Bloom kann nicht umhin, von Hamlet als einem „maniac moralizer“ zu sprechen, meint aber, dass er einen solchen doch nur spiele.123

In der Literatur ist immer wieder die Frage erörtert worden, ob wir es im fünften Akt dann mit einem veränderten Hamlet zu tun haben, der mit einem beherzten Sprung in das Grab Ophelias124 und dem Ausruf

This is I, / Hamlet the Dane (5.1.253f.)die Thronfolge für sich reklamiert und zur Tat entschlossen ist. Entstehungs- wie motivgeschichtlich handelt es sich bei dem Stück fraglos um eine Rachetragödie, das ist nun einmal durch das von Shakespeare benutzte Quellenmaterial vorgege-ben, aber doch um eine Tragödie, die das Rachethema in seiner Archaik schließ-lich nahezu vollkommen transzendiert. Das geschieht vor allem dadurch, dass die Tragödie den Racheauftrag fortwährend problematisiert, und zwar nicht nur, in-dem sie Hamlet zu der Einsicht bringt, dass er Laertes durch die Ermordung des Polonius, die er gegenüber Claudius ja zunächst noch zynisch kommentiert, in ge-nau dieselbe Rolle gedrängt hat, in der auch er sich befindet. Problematisch ist vor allem die Erscheinung des Geistes, genauer seine Provenienz:

I am thy father’s spirit,

Doom’d for a certain term to walk the night,

And for the day confin ’ d to fast in fires (1.5.9–11).

Diese Auskunft lässt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Der alte Hamlet weilt im Fegefeuer, wo er seine zeitlichen Sündenstrafen abbüßt. Dieser imaginä-re Ort aber ist eine katholische Institution. Stephen Greenblatt hat der Frage, was es bedeuten könnte, dass in einem gerade protestantisch gewordenen Land eine Gestalt auf der Theaterbühne erscheint, die angibt, aus dem Fegefeuer zu kom-men, eine ganze Monografie gewidmet.125 Ein guter Protestant hätte einen solchen Racheauftrag allein aus diesem Grund niemals annehmen dürfen. Der Geist wäre für ihn entweder ein Hirngespinst oder der Teufel höchstpersönlich gewesen. Als Hamlet nach dem Theaterstück – dem Spiel im Spiel – seine Mutter zur Rede stellt und ihm erneut der Geist erscheint, wird dieser interessanterweise von der Mutter gar nicht bemerkt.

George W. Knight hat bereits in den späten 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einer dezidiert nietzscheanischen Lektüre des Stücks Hamlet als ‚Lebensverneiner‘ gebrandmarkt.126 Allerdings hat dieser Kritiker über Brutus dasselbe Verdikt ausgesprochen. Macht er damit Claudius zu einer Cäsar-Gestalt? Harold Bloom hätte eine solche Charakterisierung wohl für einen schlechten Scherz gehalten. Doch ist die Antike bei Shakespeare ja immer irgendwie gegenwärtig. Bevor Hamlets intimer Freund Horatio, der wie Brutus ein Stoiker ist, auf Drängen seiner Gefährten den Geist zur Rede stellen will, bemüht er eine Parallele zu den Iden des März:

In the most high and palmy state of Rome,

A little ere the mightiest Julius fell,

The graves stood tenantless and the sheeted dead

Did squeak and gibber in the Roman streets.127

Nun lebt dieser Stoiker mit seinen antiken Reminiszenzen in einer doch eher be-grenzten Welt:

There are more things in heaven and earth, Horatio,

Than are dreamt of in your philosophy (1.5.168f.),muss sich Horatio von Hamlet sagen lassen.128 Die im Altertum verbreitete Vorzeichengläubigkeit, die sich auch bei den großen Historikern der Zeit und – wie wir gesehen haben – in Shakespeares Julius Caesar findet, ist in Hamlet bloßes Dekor.

Zwar kann auch der Prinz der Enge seiner dänischen Heimat nicht entkommen. Ganz Dänemark sei ein Gefängnis, erklärt er Rosencrantz und Guildenstern, den Gefährten seiner Jugend, die nun den königlichen Auftrag haben, ihn auszuspio-nieren. Als ihm Rosencrantz widerspricht, räumt er jedoch bereitwillig ein, dass man das natürlich auch anders sehen könne, um dann mit einem vermeintlichen Gemeinplatz zu schließen:for there is nothing either good or bad but thinking makes it so (2.2.250f.).

Das klingt sentenziös, hat es aber in sich. Als antiker Topos aufgefasst, handelt es sich um eine stoische Weisheit: Was immer uns auch im Leben widerfahren mag, mit der richtigen Einstellung können wir es ertragen. Aber der Stoiker in dieser Tragödie ist Horatio. Die kühnere, die antike wie mittelalterlich-christliche Welt transzendie-rende Deutung ist deshalb eine andere: Warum sollen wir nicht annehmen dürfen, dass, so wie Hamlet die Grenzen einer banalen Rachetragödie sprengt, Hamlet einen Gemeinplatz verwendet, um sich zu einem Relativismus der Werte zu bekennen? Es soll hier gleichwohl nicht behauptet werden, dass er das tut, sondern lediglich, dass eine solche Option in dem Stück beziehungsweise in den Worten, die Shakespeare Hamlet sprechen lässt, angelegt ist. Freilich könnten wir auch  – inspiriert durch Wolfgang Clemen – annehmen, dass Hamlet sich hier gerade selber nicht versteht.

Deutlich wird in solchen Überlegungen allerdings, dass die genannten Frage- und Problemkomplexe aufs engste zusammenhängen. Was ist am dänischen Königshof vorgefallen? Ist Claudius ein illegitimer Herrscher? Soll man ihn als Tyrannen be-zeichnen? Was weiß Gertrude? War sie gar in die Geschehnisse involviert? Bietet ihr Verhalten eine Erklärung für Hamlets Misogynie? Hat die ‚moralische Fäulnis‘, die den dänischen Staat (nach dem Urteil des Wachsoldaten Marcellus) befallen hat, beim Prinzen eine Art Seinsverdüsterung ausgelöst?

Claudius verliert bezeichnenderweise im Theater die Selbstbeherrschung. Anschließend findet Hamlet ihn in ein Gebet versunken, das ein Schuldbekenntnis enthält. Doch weiß Claudius bei Hofe und auf dem Parkett der Diplomatie elegant zu agieren. Es gibt niemanden, außer Hamlet, der sich seinen ebenso eindeutigen wie zielgerichteten Weisungen widersetzt oder sie zumindest unterläuft. Ihn mit Bloom als „zweitklassigen Machiavellisten“129 abzutun, überzeugt nicht. Er beweist Mut gegenüber dem aufgebrachten Laertes, ist aber kein Cäsar. Der Vergleich mit Bolingbroke scheint indes nicht gänzlich unangemessen. Wie dieser ist er ein hom- me politique der Renaissance130 oder eben ein vile politician .

Auch sollte nicht übersehen werden, dass Dänemark bei Shakespeare eine Wahlmonarchie ist und der dänische Adel der Thronbesteigung offenbar zuge-stimmt hat. Sodann bestimmt der sterbende Hamlet ausgerechnet Fortinbras zu seinem Nachfolger, der einen sprechenden Namen trägt, welcher ihn als mili- tary strongman ausweist. Aber in der kleinen Welt Dänemarks ist so die legitime Ordnung wiederhergestellt. Ein Tyrann ist hingegen nach antikem Verständnis ein Herrscher, der seine Leidenschaften nicht zu zügeln vermag. Die Tarquinier sind das Standardbeispiel aus der etruskisch-römischen Geschichte, ein Stoff, der in Lucrece auch von Shakespeare bearbeitet wurde. Zudem vergleicht sich Macbeth in der Mordnacht mit Tarquinius, als würde er sich,

[w]ith Tarquin’s ravishing strides (2.1.55),einem Wüstling gleich dem Nachtlager des alten Königs Duncan nähern.

Wohl ist Claudius – wie im Stück mehrfach betont wird – ein Trinker. Will man darin einen Hinweis auf mangelnde Selbstbeherrschung erkennen, würde er allen-falls damit in das Schema der tradierten Tyrannentypologie passen. Doch scheint dieser Mangel – so sieht es Hamlet – weniger eine individuelle Schwäche denn ein kollektives Laster zu sein, ein übler Brauch also, der wegen des Reputationsverlustes für die gesamte Nation schnellstmöglich aufgegeben werden sollte:

[…] it is a custom

More honour’d in the breach than the observance (1.4.17f.).

Zur partiellen Entlastung Hamlets, dessen Invektiven gegen seine Mutter (wie auch gegen Ophelia) schwer entschuldbar scheinen, lässt sich anführen, dass die eheliche Verbindung, die Gertrude mit Claudius eingeht, im Verständnis der Zeit tatsächlich als ‚inzestuös‘ gelten konnte. Das ergab sich aus dem 3. Buch Mose (Levitikus 18:16). So hatte auch der spätere Heinrich VIII. noch als Kronprinz eine päpstliche Dispens erhalten, um Katharina von Aragon, die Frau seines verstorbenen Bruders, heira-ten zu können. Die anglikanische Kirche vertrat später kirchenrechtlich dieselbe Auffassung.

Im kollektiven Gedächtnis der spätelisabethanischen Gesellschaft war jedoch eine Herrscherin gegenwärtig, an die Gertrude erinnert haben muss – Maria Stuart, die jahrelang im englischen Exil lebende schottische Königin, die zwar nicht ihren Schwager, aber doch den Mörder ihres Gatten geheiratet hatte. Carl Schmitt hat in einem Essay diese Verbindung ins Zentrum einer Hamlet- Deutung gerückt, die auf die bereits 1921 erschienene Monografie Hamlet and the Scottish Succession von Lilian Winstanley zurückgeht, in der sich aber vor allem das gegen Romantik und Subjektphilosophie gerichtete Politik- und Geschichtsverständnis des Autors arti-kuliert. So ist bereits im Untertitel vom „Einbruch der Zeit in das Spiel“ die Rede. Weil die „geschichtliche Wirklichkeit“131 stärker sei als jede Ästhetik, stärker auch als das genialste Subjekt, möchte Schmitt Hamlet lieber mit Jakob VI. / I., dem Sohn der Maria Stuart, vergleichen als mit Orest, obwohl doch ‚Rache‘ ein großes Thema gerade auch der antiken Tragödie ist. Es sei das „Tabu“ der Königin, so Schmitt, das Shakespeare sich nicht zu verletzen getraut habe und dem wir die „Abbiegung des Rächer-Typus“, will heißen „die Hamletisierung des Helden“ verdanken.132

*

Eine solche Temporalität zum eigentlichen Kriterium des Tragischen zu machen, hieße indes, King Lear als bloßes Trauerspiel bezeichnen zu müssen. Beiden Stücken ist gemeinsam, dass sie uns mit einer archaischen Welt konfrontieren. Die Hamlet-Geschichte ist, so wie sie sich bei Saxo Grammaticus oder Belleforest findet, ja noch kein Renaissancedrama.133 Das wird sie erst durch den ‚Ideenkosmos‘, in dem sich Hamlet, Claudius, Gertrude, Polonius und die übrigen Mitglieder der höfischen Gesellschaft wie auch die Schauspieler, die auf Schloss Helsingör zu Besuch sind, bewegen.

Die Lear-Story scheint hingegen den archaischen Rahmen zunächst überhaupt nicht zu sprengen.134 Sie spielt im vorchristlichen Britannien. König Lear will sich aufs Altenteil zurückziehen und plant eine Reichsteilung zugunsten seiner drei Töchter, die ihm aber zuvor noch eine Frage beantworten müssen:

Which of you shall we say doth love us most? (1.1.51)

Weil ihm Cordelia eine unaufrichtige Liebesbezeugung verweigert, geht sie leer aus und wird obendrein von ihm verstoßen. Damit begibt sich der alte Mann in die gefährliche Abhängigkeit von Regan und Goneril, die ihn zu umschmeicheln wis-sen, solange er sich noch nicht sämtlicher Machtmittel entledigt hat. Als er seinen Irrtum bemerkt, ist es zu spät.

Das Ende ist wie kein anderes Shakespeare-Stück von einer Düsternis überschat-tet, die noch in unserer Gegenwart einen Vergleich mit der Passionsgeschichte pro-voziert hat, von der sich die Lear-Tragödie aber dadurch unterscheide, so will es wenigstens Navid Kermani, dass sie mit dem Karfreitag ende. Für ihn leben Lear und Gloucester in einer Welt ohne Gott.135

Es lässt sich darüber streiten, ob dem greisen Monarchen am Ende Einsicht zuteil wird – die Anagnorisis des tragischen Helden – oder ob nicht vielmehr gilt, was Regan schon ganz am Anfang gegenüber Goneril zu bedenken gibt, dass nämlich ihr Vater nun zwar senil geworden sein mag, doch Selbsterkenntnis noch nie zu seinen Stärken gehört habe:

[…] he hath ever but slenderly known himself. (1.1.292f.)

Wir dürfen annehmen, dass sie Recht hat. Das Besondere nicht nur dieser Tragödie scheint nämlich, dass es vor allem die bösen Charaktere sind, die sich des unver-stellten Blicks auf die Wirklichkeit – auch des eigenen Selbst – als fähig erweisen. Das Paradebeispiel ist der Bastard Edmund. Seine illegitime Abstammung ist gera-de in diesem Zusammenhang nicht ohne Bedeutung. Weil von der Erbfolge ausge-schlossen, begehrt er gegen die legitime Ordnung auf. Die zentrale Kategorie seines Welt- und Wertverständnisses heißt „Natur“:

Thou, Nature, art my goddess (1.2.1),lauten seine Eingangsworte zu Beginn der zweiten Szene des ersten Aktes. Sie könnten so etwas wie der Introitus einer schwarzen Messe sein, wäre Edmund kein Verächter des Aberglaubens. Genau deshalb spricht er ja von der „Natur“. Als na-türlicher Sohn glaubt er weder an Vorzeichen noch an übernatürliche Kräfte. Auch müsste man lange nach einem literarischen Zeugnis suchen, in dem die Astrologie auf nachhaltigere Weise lächerlich gemacht wird als in seinem brillant-zynischen Monolog, der sich trotz einer Wendung ins Allgemeine nicht nur auf ihn selbst, sondern auch auf den eigenen Vater bezieht, der als sternengläubiger ‚geiler Bock‘ zu den seltsamsten Erklärungen Zuflucht nehmen konnte, um seine Libido zu rechtfertigen:

An admirable evasion of whoremaster man, to lay his goatish disposition on the charge of a star! My father compounded with my mother under the Dragon’s tail and my nativity was under Ursa Major, so that it follows I am rough and lecherous. Fut! I should have been that I am had the maidenliest star in the firmament twinkled on my bastardizing. (1.2.124–130)136

Die Astrologie dient also der Verschleierung eigener Verantwortung. Ein Bastard aber ist das Produkt einer natürlichen Liaison und schon deshalb nicht zu verach-ten, insbesondere wenn er eine stattliche Erscheinung ist und obendrein Esprit hat:Why ‚bastard‘? Wherefore ‚base‘?

When my dimensions are as well compact,

My mind as generous, and my shape as true,

As honest madam’s issue? (1.2.6–9)

Edmund sprüht vor Energie. Sein vitalistisches Credo sollte aber nicht darü-ber hinwegtäuschen, dass für ihn die Natur erst einmal Natur ist, also frei von Wertprojektionen, wie sie es für Lear, der das Verhalten seiner lieblosen Töchter beklagt, die den „Pflichten der Natur“ – „[t]he offices of nature“ (2.2.351) – zuwider-handeln, und wohl zunächst auch für Edgar, den rechtmäßigen Sohn Gloucesters, eben nicht ist. Edmunds Naturauffassung darf trotz seiner vitalistischen Posen viel-leicht sogar protowissenschaftlich genannt werden.

Schon deshalb muss die Frage erlaubt sein, ob King Lear nicht der Leviathan Shakespeares ist, weil uns in dieser Tragödie ein Naturverständnis begegnet, das dem des Staatstheoretikers Hobbes kongenial ist. Zumindest mit der Figur des Edmund scheint Shakespeare dem antimetaphysischen Reduktionismus nahezu-kommen, den wir bei Hobbes antreffen, wenn dieser den Menschen als bewegte Materie begreift, bewegt von seinen Leidenschaften, den appetites and aversions, die auch die Unterscheidung von Gut und Böse fundieren, so dass wir nicht mehr von Substanzwerten sprechen können.137

Lear auf der Heide, von seinen Töchtern gedemütigt und um seine restlichen Privilegien gebracht, wäre dann eine Naturzustandsfiktion, die uns den Menschen Lear in seiner Unbehaustheit vor Augen führt, obwohl es Edmunds Halbbruder Edgar ist, der sich zu ihn gesellt hat und dem Lear dieses Attribut zuschreibt:unaccommodated man is no more but such a poor, bare, forked animal as thou art. (3.4.100–102)

Edmund könnte also im Sprachgebrauch des späten 17.  Jahrhunderts ein ‚Hobbist‘ genannt werden. Damit sei nicht gesagt, dass Shakespeares Tragödie den Immoralismus affirmiert. Das erlaubt sich ja auch der Verfasser des Leviathan nicht.138 Was hingegen den Dichter und den Philosophen zu verbinden scheint, ist eine skeptische Anthropologie. Außerdem ist für beide der Mensch Teil der Natur, weshalb er möglicherweise sein Heil auch nur in dieser finden kann.

Shakespeare verwendet also eine Geschichte aus dem alten Britannien, um uns am Ende doch mit einer modernen Figur zu konfrontieren. So ist auch für Peter Sloterdijk der Bastard modern.139 Unter Berufung auf die Natur bricht dieser mit guten wie schlechten Traditionen. Vorurteilslos140 steht er für die große Zäsur. An Filiationen kann ihm nicht gelegen sein. Es ist paradoxerweise die Archaik der Lear-Geschichte, die uns das erst richtig verstehen lässt. ‚Lear auf der Heide‘ ist da-her tatsächlich so etwas wie das strukturelle Äquivalent zu Hobbes‘ Naturzustand.

Dass Hobbes mit unüberbietbarer Radikalität das Mittelalter zu überwinden trachtet, hat ausgerechnet Carl Schmitt durch einen erhellenden Vergleich mit dem Defensor pacis des Marsilius von Padua zum Ausdruck gebracht: Für den auf der Basis eines christlichen Aristotelismus argumentierenden Scholastiker Marsilius sei der Staat Verteidiger eines letztlich von Gott gestifteten Frieden gewesen; der Leviathan des Thomas Hobbes sei hingegen ein creator pacis .141 In ihm vollzieht sich die Selbstbehauptung des modernen Menschen durch wertfreie Erkenntnis, die ihn die „Naturgesetze“ deduzieren lässt, die den modernen Staat fundieren.142

Vergleicht man Hobbes’ Leviathan in solcher Weise mit King Lear , darf man frei-lich nicht übersehen, dass Edmund keineswegs das letzte Wort hat. Dieses gebührt dem Thronfolger Edgar, Gloucesters rechtmäßigem Sohn, der ein trauriges Erbe antritt:

The weight of this sad time we must obey,

Speak what we feel, not what we ought to say.

The oldest hath borne most: we that are young

Shall never see so much, nor live so long. (5.3.299–302)

Edmunds Vitalismus ist destruktiv. Auf ihn lässt sich nichts gründen. Edgar aber zeigt sich am Ende einem ernüchterten Traditionalismus verpflichtet. Die Ernüchterung könnte aus der Einsicht kommen, dass sein Halbbruder auf sei-ne Weise Recht hat. „Ripeness is all“ (5.2.11), erklärt Edgar seinem Vater, dem geblendeten Gloucester. Wenn das eine Montaigne-Paraphrase ist, lautet die Botschaft: Philosophieren lernen heißt sterben lernen. Und auch wenn Hamlet sich ganz ähnlich ausdrückt – „The readiness is all“ ( Hamlet , 5.2.168) –, spricht doch zunächst einiges für die Annahme, dass King Lear moderner oder wenigsten illusionsärmer ist als Hamlet , dessen Titelheld sich am Ende als providenzgläubig zu erkennen gibt:

There’s a divinity that shapes our ends ( Hamlet , 5.2.10).

Es mag daher überraschen, dass Carl Schmitt das nicht gesehen hat, obwohl er sich zu der Bemerkung hinreißen lässt, dass katholische Denker wie Suarez und Bellarmin, ganz zu schweigen von Hobbes, in ihrer politischen Philosophie auf der Höhe ihrer Zeit waren – im Unterschied zu König Jakob, den er doch in Shakespeares Hamlet wiedererkennen möchte.143

Allerdings liegen die Dinge noch ein wenig komplizierter. Denn der von seinen Töchtern entrechtete Lear tritt ja die Flucht in die Natur an, um seinem aufgewühl-ten Gemüt,

[t]his tempest in my mind (3.4.12),zu entrinnen. Er sucht die Nicht-Idylle aus demselben Motiv, das uns aus der bu-kolischen Weltflucht vertraut ist. Sodann ist darüber nachzudenken, was es bedeu-tet, dass Lear in der dritten Szene des fünften Aktes die tote Cordelia hereinträgt. Stephen Medcalf hat in diesem Auftritt die Evokation einer männlichen Pietà mit einem weiblichen Christus sehen wollen.144 Der alte Mann ist jedoch erstaunlich gut bei Kräften:

I kill’d the slave that was a-hanging thee. (5.3.249)

Seine Physis war vielleicht immer schon stärker als sein Verstand. Die von ihm einst verstoßene Tochter aber nennt er jetzt „my poor fool“ (5.3.281).

In King Lear gibt es in der Tat auch einen Hofnarren. Dessen Rolle wurde ur-sprünglich wohl vom selben Spieler übernommen, der auch Cordelia zu spielen hatte. Das Wort „fool“ kann jedoch auch emotionale Nähe zu der angesprochenen Person ausdrücken, und wenn wir „foolishness“ mit „Torheit“ übersetzen, erhält die Szene gar eine erasmianische Einfärbung. Man möge sich daran erinnern, dass das Lob der Torheit des Erasmus von Rotterdam wie eine konventionelle Satire be-ginnt, in der die Torheit als allegorische Figur auftritt, um ein Loblied auf sich sel-ber anzustimmen, wie es nur die Torheit fertigbringt, um dann am Ende mithilfe der Paulus-Worte im 1. Korintherbrief – „Denn dieser Welt Weisheit ist Torheit bei Gott“ (1 Kor 3:19) – zu etwas ganz anderem überzuleiten.145 Cordelias ‚Torheit des Kreuzes‘ könnte sich darin zeigen, dass sie sich in Lebensgefahr begibt, um ihren Vater zu retten. Zwar wurde King Lear lange Zeit nur mit einem Happy End gespielt, das ihm Nahum Tate, der Librettist von Purcells Dido and Aeneas , ver-passt hatte. Doch gab es immer auch vereinzelt sogenannte redemptive readings der Originalversion. King Lear ist schließlich wie Hamlet  – und alle anderen Stücke Shakespeares  – auch ein Restitutionsdrama, in dem am Ende die rechtmäßige Ordnung wiederhergestellt wird. In Bezug auf Lear könnte das aber nicht nur be-deuten, dass Edgar die Thronfolge antritt, sondern auch, dass die Entzauberung doch nicht ganz so gründlich vonstatten gegangen ist, wie Edgars Traurigkeit oder Navid Kermanis Deutung uns vermuten lässt. Was also verrät uns der Ausgang von King Lear wirklich über die ‚gute Ordnung‘?

Harold Bloom nennt Edgar das „Zentralbewusstseins“ des Stückes, in dem er auftritt.146 Das erscheint ein wenig kühn, obwohl man diesen Thronerben wieder-um auch nicht mit Fortinbras vergleichen möchte, der ja nicht ohne Grund einen sprechenden Namen trägt. Er ist ein Muskelprotz mit einem gewissen Sinn für Würde.147

Die Entgegnung Cordelias auf die Frage ihres erzürnten Vaters, was sie ihm denn noch zu sagen habe,

[n]othing, my lord (1.1.87),sind die Worte, die im gesamten Stück vielleicht am stärksten nachhallen. Lear ist hier wahrhaft ein Narr, was ihm der treue Höfling Kent denn auch zu verstehen gibt, da er es für seine Pflicht hält, deutlich zu werden,

[w]hen majesty falls to folly (1.1.168),selbst wenn er damit in Ungnade fallen könnte, was ja auch sogleich geschieht.

Nun gibt es in King Lear aber auch noch den richtigen Narren, der sich zum alten König auf die Heide gesellt hat und sich tatsächlich einmal über die ‚gute Ordnung‘ auslässt, indem er kundtut, was er Merlins Prophezeiung nennt:

I’ll speak a prophecy ere I go:

When priests are more in word than matter;

When brewers mar their malt with water;

When nobles are their tailors’ tutors;

No heretics burned, but wenches’ suitors;

Then shall the realm of Albion

Come to great confusion.

When every case in law is right;

No squire in debt, nor no poor knight;

When slanders do not live in tongues;

Nor cut-purses come not to throngs;

When userers tell their gold i’ the’ field;

And bawds and whores do churches build;

Then comes the time, who lives to see’t,

That going shall be used with feet.

This prophecy Merlin shall make; for I live before his time. (3.2.79–96)

Dieser Narr, dem nicht immer die nötige Aufmerksamkeit zuteil wird, tritt hier am Ende seiner klamaukhaften Prophezeiung sogar aus seiner Rolle heraus und spricht das Publikum direkt an, indem er erklärt, dass er in einer früheren Epoche lebe als der Zauberer Merlin. Diese mit dem Mittel der Achronie arbeitende Distanzierung könnte – vielleicht mehr noch als die logischen Inkonsistenzen – den traditionellen Diskurs über Tugenden und Laster ins Leere laufen lassen. Das Ganze ist offensicht-lich ein Spaß. Mokiert sich hier der Dichter über die Moralphilosophie?

Wenn wir diese Frage nicht abschließend beantworten können, dürfte das wiede-rum dem analytischen Charakter der Shakespeareschen Dramenkunst geschuldet sein. Dass also Lear kein Märtyrer ist, weil er in einer „Welt ohne Gott“ existiert, wie Navid Kermani meint, könnte daher auch durch den scheinbar unkontrollier-ten Redeschwall des Narren bestätigt werden, unter dessen Wortkaskaden jeder Sinn verschüttet wird. Die Prophezeiung Merlins hat im Grunde keinen angebba-ren Inhalt.148 Mithilfe der in einem trotzigen „nothing“ gleich zu Beginn des Stücks ihren prägnantesten Ausdruck findenden „Torheit“ Cordelias ließe sich allerdings ein erasmianischer Kontrapunkt setzen. Ihr „Nichts“ wäre dann eine Absage an den Nihilismus. Wer will, mag hier die spätmittelalterliche Vorstellung von ei-nem Deus absconditus bemühen. Textimmanente Belege finden sich für dieses Theologumenon selbstverständlich nicht. In jedem Fall zeigt sich aber sowohl bei Cordelia, die durchaus ein wenig an Antigone erinnert, als auch bei Edgar eine Annäherung an das ‚sittliche Pathos‘ der antiken Tragödie, womit der eigentüm-liche Charakter dieser Figuren in den Hintergrund tritt. Im Unterschied zu Hamlet blieb ihnen die Romantisierung erspart.149 Wir dürfen uns also entscheiden, ob wir mit A. D. Nuttall dem Widerhall einer negativen Theologie nachspüren oder mit Jan Kott, der King Lear mit Becketts Endgame verglichen hat, von „philosophischer buffonerie “150 sprechen oder doch lieber mit der Annahme operieren wollen, dass wenigstens Hamlet als Problemstück gelesen werden kann, das nicht nur die politi-schen Fragen, die es aufwirft, unbeantwortet lässt. Niemand käme auf die Idee, Lear im Besitz der „Wahrheit“ zu wähnen, die das Stück zur „Poesie“ erhebt. Doch auch von Hamlet wäre solches zu verneinen.

74

5 Das intellektuelle Abenteuer der Problemstücke

Zu den Problemstücken zählen gewöhnlich The Merchant of Venice und Measure for Measure sowie Troilus and Cressida , All’s Well That Ends Well , Timon of Athens und The Winter’s Tale , für den Renaissanceforscher Tillyard allerdings auch Hamlet .151Weil uns diese Dramen mit ethischen Problemen konfrontieren, für die sich keine Lösung finden lasse beziehungsweise von den Stücken selber nicht angeboten wer-de, so Frank Kermode, stellen sie „a new kind of intellectual enterprise“ dar und zeigen uns Shakespeare im eminenten Sinn als Denker.152 Älteren Interpreten galten sie mitunter als ästhetisch von minderem Rang. Tatsächlich aber sind sie analyti-sche Dramen par excellence.

The Merchant of Venice führt uns zunächst in eine bürgerliche Welt, was für Shakespeare etwas ungewöhnlich ist. So finden wir in den Worten Salerios, ei-nes der Freunde des melancholisch veranlagten Großkaufmanns Antonio, eine Apologie des Kommerzes in Versen von verführerischer Schönheit. Dabei spielt es keine Rolle, dass Salerio ein vergnügungssüchtiger Dummkopf ist und sein Versuch, Antonios Traurigkeit zu ergründen, allein deshalb scheitern muss. So meint dieser Angehörige der venezianischen Jeunesse dorée , dass die Gedanken des väterlichen Freundes selbst noch beim Kirchgang um die spezifischen Risiken des Seehandels kreisen würden. Zumindest wäre es bei ihm so, dem Müßiggänger und Nichtkaufmann, sollte er ein solches Wagnis eingehen und sich auf den Handel mit Gewürzen und Seidenstoffen einlassen:

[…] Should I go to church

And see the holy edifice of stone

And not bethink me straight of dangerous rocks,

Which, touching but my gentle vessel’s side,

Would scatter all her spices on the stream,

Enrobe the roaring waters with my silks,

And, in a word, but even now worth this,

And now worth nothing? (1.1.29–36).

Obgleich sich Salerio in Bezug auf Antonio irrt, scheint er uns doch beinahe davon zu überzeugen, dass sogar ein drohender wirtschaftlicher Verlust Gefühle von er-habener Trauer auszulösen vermag.

Da will es bereits im ersten Akt gänzlich unplausibel erscheinen, dass Shakespeare, wie der Kulturkritiker Allan Bloom gemeint hat, ein konservativer Aristoteliker war, welcher der Seehandelsrepublik Venedig lediglich die verführerische Schönheit ei-ner babylonischen Hure – „the adorned beauty of a strumpet“ – zuerkannte.153 Für die unter europäischen Intellektuellen seit jeher verbreitete Kommerzverachtung lässt sich Der Kaufmann von Venedig so leicht nicht vereinnahmen.

Richtig ist allerdings auch, dass diese Komödie zwei Schauplätze hat. Belmont, das Reich Portias, ist als aristokratisches fairy-tale- Refugium konzipiert, in dem nach den Gesetzen des Genres die Vermählungen stattfinden. Als Ort der ostentati-ven Verschwendung kompensiert es die Zumutungen der rauen Handelsmetropole, der Welt Antonios wie Shylocks, denen die Freuden Belmonts verschlossen bleiben. Der Kaufmann und der Geldverleiher sind sich feind und doch zugleich sehr nahe, weil diese dunkle Komödie ihnen zumindest in einer Hinsicht dasselbe Schicksal zuweist, indem sie beide zu traurigen Zölibatären macht.154 Dietrich Schwanitz hat deshalb den Antisemitismus Antonios als bürgerlichen Selbsthass diagnostiziert.155In dessen von Melancholie überschatteter Freundschaft zu Bassanio, dem adeligen Verschwender und Freier Portias, kann man folglich einen Ausdruck derselben Grundhaltung sehen, eines Bürgertums, das sich seiner eigenen Tugenden nicht erfreuen kann.

Belmont ist also eine eskapistische Fantasie, legitimiert durch die Konventionen der Gattung, so dass sich das Publikum zu dieser Märchenwelt hingezogen fühlen darf, und doch zutiefst fragwürdig. Aus dieser Spannung, von der allerdings in mo-dernen Aufführungen meist wenig erhalten bleibt, resultiert ein Unbehagen, in dem der Dichter Wystan Hugh Auden das eigentliche Problem dieser Komödie gesehen hat. „[T]he attraction we naturally feel towards Belmont is highly questionable“, weshalb das Stück zu den „unpleasant plays“ Shakespeares gehöre.156

Vor allem ist Portias programmatische Rede in der Gerichtsszene des vierten Aktes, die von der vermeintlichen Überlegenheit der christlichen Gnade handelt, für ein heutiges Publikum so schwer zu goutieren, dass vom Standpunkt der Regie ein bewusst schlampiger oder zumindest hastiger Vortrag oft als einzige Lösung erscheint. Dabei sind die Fragwürdigkeiten allenfalls zum Teil ein Produkt moder-ner Empfindsamkeit. Vielmehr scheinen sie dem Stück inhärent zu sein. Auch be-ginnen sie schon damit, dass die als Richter verkleidete Portia die Gnade als eine monarchische Tugend preist, was vor dem höchsten Gericht einer altehrwürdigen Republik ziemlich deplatziert wirkt:

The quality of mercy is not strain ’ d,

It droppeth as the gentle rain from heaven

Upon the place beneath: it is twice blest:

It blesseth him that gives, and him that takes.

’Tis mightiest in the mightiest, it becomes

The thronèd monarch better than his crown. (4.1.181–186)

Beginnt man in solcher Weise diese Schlüsselszene zu interpretieren, lässt man sich freilich abermals auf das Grundproblem jeder Shakespeare-Deutung ein: die Tatsache, dass der Dramatiker vollständig hinter seinen Figuren verschwindet.157Das Gelingen einer Interpretation zeigt sich – wie immer – an der Art und Weise, in der die Konsequenzen dieser ‚Selbstverleugnung‘ reflektiert werden.

Wenn Phyllis Rackin zu der Überzeugung gelangt, dass im Kaufmann in einem frühneuzeitlichen Kontext kontrastive Ansichten über die Globalisierung ‚verhan-delt‘ werden,158 dann ist ihr in inhaltlicher wie formaler Hinsicht zuzustimmen, was den Widerspruch im Detail nicht ausschließt. So verkennt sie, wie aus dem Stück eine sehr viel genauere und anschaulichere Vorstellung von der Dynamik des vene-zianischen Kapitalismus hervorscheint, als dass es gerechtfertigt wäre, diesen als ein ‚Nullsummenspiel‘ zu beschreiben, das gewissermaßen durch die aristokratische Großzügigkeit Belmonts kompensiert wird. Da erscheint uns die largesse der Portia denn doch etwas zu märchenhaft.

Wichtiger als solche Detailkritik ist das Einverständnis im Großen, das allen Interpretinnen und Interpreten gelten sollte, die Lesarten vorbringen, welche das Schema des Restitutionsdramas sprengen, dem die allermeisten Shakespeare-Stücke doch nur formal genügen, die Problemstücke indes am allerwenigsten.

Gewiss stellt sich die Frage, wie ein zeitgenössisches Publikum mit solchen Gegebenheiten umzugehen vermochte. Nicht unwichtig dürfte zunächst einmal die Suggestion von Vertrautheit gewesen sein, die von den in den Stücken ‚ver-handelten‘ Problemen, aber auch von den Geschichten selbst sowie von einzelnen ihrer Figuren ausgehen konnte. Die Shakespeare-Bühne ist schließlich Volkstheater gewesen.159 Daher kam der an höchst kontingente Voraussetzungen geknüpften Bühnenwirksamkeit der Figuren eine erhebliche Bedeutung zu. So gerieren sich in Julius Caesar die vom Volkstribun Flavius zurechtgewiesenen Plebejer – „Hence home, you idle creatures, get you home!“ (1.1.1) – wie Londoner Handwerker, die einen der vielen Feiertage auf eine der Obrigkeit nicht genehme Weise begehen wollen. In Richard II tritt ein Gärtner auf, der sich ungeniert und zu seinem eige-nen Vorteil mit dem entmachteten König vergleicht, den er einen „wasteful king“ (3.4.56) schilt, der Wildwuchs toleriert und damit das Staatswesen vom Unkraut der Insurrektion habe überwuchern lassen. Und auch wenn die Zuschauer in Hamlet nicht König Jakob erkennen wollten, wussten sie doch, dass dessen Ehefrau vom dänischen Königshof kam.160 Schließlich dürfte es nicht ohne Bedeutung gewesen sein, dass ein zeitgenössisches Londoner Publikum mit hoher Wahrscheinlichkeit Venedig als Spiegelung heimischer Verhältnisse wahrnahm. Das protestantische England vermochte der Seehandelsmetropole schon deshalb mit Sympathie zu be-gegnen, weil sich die ‚allerdurchlauchteste Republik des Heiligen Markus‘ in einem Dauerkonflikt mit dem Kirchenstaat befand, der 1607 während der Amtszeit des Dogen Leonardo Donà sogar zu einem päpstlichen Interdikt führen sollte, womit sich die Stadtoberen allerdings den Zorn der einfachen Bevölkerung zuzogen.

Wie ‚volksnah‘ indessen auch das ‚Unbehagen‘ war, das die Stücke gleichfalls auslösen konnten, ist allerdings eine ganz andere Frage. Wir haben gesehen, dass sich – der patriotischen Erbaulichkeiten des Chores zum Trotz – auch Henry V , um nochmals die Worte Audens zu gebrauchen, als ein ‚unpleasant play‘ inszenieren lässt. Und so wie sich letztlich die gesamte zweite Henriade als subversives politi-sches Theater auffassen lässt, das den kriegerischen Nationalstaat, dessen Genese es dokumentiert, kaum weniger desavouiert, als es ihn in Gestalt eines heroi-schen Monarchen hochleben lässt, stellt in durchaus analoger Weise The Merchant of Venice die christliche Gnadenordnung in Frage, die das Stück durch die auf Antonios Betreiben erfolgte Zwangstaufe Shylocks scheinbar bekräftigt. Eine solche Rezeptionshaltung ist jedoch auch an Voraussetzungen geknüpft, die – bis in die heutige Zeit – nicht bei jedem Publikum gegeben sind.

So macht uns Der Kaufmann von Venedig mit der Innenansicht einer christlichen Republik vertraut, die ganz unterschiedliche Reaktionen auszulösen vermag. Um das zu verstehen, sollten wir unser Augenmerk auf Gratiano richten, dem in dieser Komödie das letzte Wort vergönnt ist – ein Umstand, der zu keinerlei zwingenden Schlüssen berechtigt, aber dafür umso mehr Anlass zur Irritation geben sollte.

Indem er als komische Figur teils Unsinniges, teils Anzügliches von sich gibt, verhält sich Gratiano wie jene leichtlebigen Freunde Antonios, die den Kaufmann von seiner Melancholie zu heilen versuchen. „Seine vernünftigen Gedanken“ urteilt Bassanio, „sind wie zwei Weizenkörner in zwei Scheffeln Spreu versteckt: Ihr sucht den ganzen Tag, bis Ihr sie findet, und wenn Ihr sie habt, so lohnen sie das Suchen nicht“ (1.1.115–118). Immerhin darf er Bassanio auf dessen Brautfahrt begleiten, nachdem dieser ihm das Versprechen würdigen Betragens abgenommen hat.

Es lässt sich jedoch kaum darüber streiten, dass Gratiano der am wenigsten sympathische Vertreter jener venezianischen Jeunesse dorée ist, mit der uns das Stück konfrontiert. Einerseits Vertreter einer vulgären Spaßgesellschaft, so zumin-dest zeigen ihn moderne Aufführungen, hat er andererseits das Zeug zum üblen Fanatiker, der Shylock als „unversöhnlichen Hund“ (4.1.128) beschimpft und am Ende gegen dessen Zwangstaufe opponiert, weil er ihm den Gang zum Galgen und nicht zum Taufbecken wünscht. Dabei gehört er zum „Belmont set“, wie Harold Bloom, der das Stück nicht schätzt, diese beinahe sorglos glückliche Gesellschaft nennt.161 So hat er sich in Portias Dienerin Nerissa verliebt, die gut zu ihm zu passen scheint, und darf am Ende verkünden, dass er es kaum erwarten kann, mit seiner Frau zu schlafen. Nicht allzu fest scheint indessen sein Glaube an ihre zukünftige Treue. Horst Meller hat darauf aufmerksam gemacht, dass vermutlich niemandem unter den Gebildeten eines elisabethanischen Publikums entgangen sein dürfte, dass ausgerechnet diese Figur einen programmatischen Namen trägt, der unsere Aufmerksamkeit auf das Zentralthema der Komödie lenkt: Gratiano – gratia, grace, mercy .162

Wer es als Regisseurin darauf anlegt, das subversive Potenzial des Stückes aus-zuspielen, sollte vielleicht Portia ihre schöne Rede wirklich halten lassen. Das wäre gut europäisch. Denn Europa stünde dann nicht nur für die imperialen Gelüste des Hauses Lancaster oder einen fragwürdigen Umgang mit Minoritäten, sondern gleichermaßen für die Skepsis, mit der bereits ein frühneuzeitliches Publikum das Machtgebaren einer großen Dynastie wie einer bedeutenden Seehandelsrepublik betrachten konnte, deren Eliten viel lieber ihren kalten merkantilen Instinkten folg-te als dem Ethos, das Portia in ihrer Gerichtsrede evoziert.163 Es ist Shylock, der das den Anwesenden unmissverständlich klarmacht und damit einen Kontext herstellt, in dem sich Portias Rede bewerten lässt:

You have among you many a purchased slave

Which, like your asses, and your dogs and mules,

You use in abject and in slavish parts

Because you bought them […] (4.1.89–92)

Treffend resümiert Kiernan Ryan, dass die Verhinderung von Selbsterkenntnis auf-seiten der venezianischen Christen das stärkste Motiv für die Ausgrenzung Shylocks sei.164 Die Verpflichtung, sich taufen zu lassen, die ihm auf Betreiben des bigotten Antonio das Gericht auferlegt, ist offenbar nicht nur ein Gnadenerweis, sondern der ultimative Triumph einer stolzen Republik, deren Elite ein durch nichts zu er-schütterndes ‚Selbstlobkollektiv‘ darstellt. Nach dem Gericht begibt man sich pas-sender Weise zur Feier der Hochzeiten.

Bassanios kostspielige Brautfahrt nach Belmont war ja schließlich der Auslöser aller Verwicklungen gewesen. Um sich dort im Wettbewerb mit den anderen Freiern behaupten zu können, brauchte er das Geld seines Freundes. Er selber sieht sich als Jason auf der Suche nach dem Goldenen Vlies und weiß, dass er nicht der einzige ist:

[…] many Jasons come in quest of her (1.1.172).

Gerade die mythologische Verbrämung macht uns bewusst, dass auch Portias Märchenland vom Cash Nexus beherrscht wird.

Dennoch stellt sich der Eindruck ein, dass die Herrin von Belmont souverän über al-lem steht und selbst mit den Konventionen des Patriarchats zu spielen weiß. Das zeigt sich besonders deutlich in der ‚Heiratslotterie‘. So ist der Ausgang der ihr vom Vater oktroyierten Kästchenwahl alles andere als offen. Natürlich erhält sie den gewünsch-ten Freier – ein Resultat, das sogar überdeterminiert erscheint, da es sich nicht nur den Konventionen des Genres verdankt, sondern Portias geschickter Manipulation.

Wie Hamlet gegenüber Rosencrantz und Guildenstern gibt sich Portia im ver-trauten Gespräch mit ihrer Dienerin Nerissa gar als Relativistin zu erkennen. Und wie dieser bedient sie sich dabei aus einem Vorrat etablierter Topoi, die auch eine harmlosere Bedeutung haben können:

Nothing is good, I see, without respect. (5.1.99)

Portia mag also alle Wertzuschreibungen als relativ ansehen. Daran, dass sie Gratiano für einen der Ihren hält, erlaubt die Komödie jedoch keinen Zweifel. Vielleicht hat sie ein weniger instrumentelles Verhältnis zu Abhängigen als der Lancaster-Monarch. So spricht Heinrich V. seine Soldaten als Brüder an ( Henry V , 4.3.60ff.), findet aber nach gewonnener Schlacht schnell zum aristokratischen Komment zu-rück. Doch auch wenn Heinrich seine Herrschaft als großes Staatsschauspiel ( pa- geant ) zu inszenieren weiß, vermag uns nichts daran zu hindern, die Perspektive Falstaffs einzunehmen. In gleicher Weise können wir, ohne es billigen zu müssen, Verständnis für Shylocks Insistieren auf Vertragserfüllung aufbringen. Was aber ist das anderes als eine Selbstkritik Europas, die wir dem „endlessly perspectivizing Shakespeare“ (Harold Bloom) verdanken?

*

Dass ein Interpretationsversuch in einer endlosen Folge von Perspektivierungen enden kann, gilt a forteriori für Measure for Measure . Dieses vielleicht interessantes-te der Problemstücke, dessen vermeintliche Unzulänglichkeiten zu betonen frühere Kritiker nicht müde wurden, ist als christliche Allegorie und als leicht ranziges nihi-listisches Drama gelesen worden. Ein größerer Kontrast ist schwerlich vorstellbar.165

Vincentio, der Herzog von Wien, zieht sich vorübergehend von seinem Amt zurück, das er Angelo überträgt. In der Verkleidung eines Bettelmönchs beob-achtet er aber fortan das Geschehen. Angelo ist ein Puritaner, der umgehend ein altes Gesetz wiederbelebt, das den außerehelichen Geschlechtsverkehr zu einem todeswürdigen Verbrechen erklärt. Claudio ist das erste Opfer. Als des-sen Schwester Isabella sich bei Angelo für ihn verwendet, entfacht die Novizin eines Klarissenklosters allein durch ihre Tugendhaftigkeit die Begierde des Interimsregenten:

[…] Never could the strumpet,

With all her double vigour – art and nature –

Once stir my temper: but this virtuous maid

Subdues me quite. (2.2.188–191)

Er knüpft eine Begnadigung des Bruders an die Bedingung des Beischlafs mir ihr. Allerdings denkt er nicht daran, Claudio, der ihm als Belastungszeuge ja gefähr-lich werden könnte, überleben zu lassen. Am Ende heißt es aber gerade nicht, wie der Titel des Stücks suggerieren könnte, „Maß für Maß“, muss Angelo nicht das Schicksal erleiden, das er dem Bruder Isabellas zugedacht hatte.

Die simple Handlung ist gewiss nicht frei von Zumutungen.166 Abermals geht es um die christliche Gnade. Es ist Isabella, die zweimal dafür plädiert, Gnade wal-ten zu lassen, zunächst – vergeblich – zugunsten ihres Bruders und dann – erfolg-reich und damit das Happy End der dunklen Komödie ermöglichend – für Angelo. Im Unterschied zu Portia muss der Vorwurf der Verlogenheit an ihr abprallen. Sie ist keine Relativistin, verfügt über keinerlei manipulatives Genie. So ist es ihre Reinheit, die man ihr zum Vorwurf gemacht hat, die Weigerung, ihren Bruder zu dem von Angelo verlangten Preis zu retten:

More than our brother is our chastity. (2.4.185)

Noch bis in die jüngste Vergangenheit hinein hat manch ein sich modern wähnen-des Publikum Isabella als so puritanisch wahrgenommen, wie Angelo es zu sein vorgibt. Ältere Kritiker verwiesen hingegen gern auf Augustinus, der das pagane Tugendideal Lukrezias als hochmütig verurteilte. Bekräftigt die Komödie nicht einen christlichen Humanismus im Geiste des Erasmus, der in seinem Encomium matrimonii gegen die religiös motivierte Keuschheit polemisiert? So macht Vincentio der Novizin am Ende einen Heiratsantrag. Doch warum bleibt dieser un-beantwortet? Aus feministischer Sicht lässt sich Angelo mühelos eines pornogra- phic gaze überführen. Wenn es dennoch gerade auch die ältere Kritik war, die sich um ein Verständnis für Isabella zu bemühen schien, dürfte Tillyards Versuch, sich unter Hinweis auf die vorgeblichen Mängel des Stücks zu salvieren, ein Hinweis auf Überforderung sein.167

Sicher gibt auch die Figur des Herzogs Probleme auf. Zunächst ist die Motivation für seinen temporären Herrschaftsverzicht unklar. War er zu milde und möchte nun schauen, wie denn der sittenstrenge Angelo regiert? Oder will er ganz einfach diesen nur testen? Auf der elisabethanischen Bühne waren Stücke mit einem ver-kleideten Herzog – sogenannte disguised duke plays  – beinahe so etwas wie ein etab-liertes Subgenre.168 In Henry V hatte sich Shakespeare dieser Konvention ja ebenfalls bedient, indem er uns den königlichen Heerführer zeigt, wie er sich am Vorabend der Schlacht unerkannt unter die einfachen Soldaten begibt.

Will man das Stück als christliche Allegorie lesen, müsste man im Herzog frei-lich eine Christus-Figur erkennen können. Doch handelt Vincentio eher wie ein gewöhnlicher Herrscher des 17. Jahrhunderts. Im Grunde ist er – wie die älteren Lancaster-Monarchen – ein „weißer Machiavellist“ (A. D. Nuttall). Harold Bloom sieht das ebenso, hätte aber sicher die Verwendung des exkulpierenden Attributs beanstandet. Vincentio greift manipulierend in das Geschehen ein, lässt es gar unter dem Schutz der Dunkelheit zu einer fleischlichen Vereinigung kommen, aber nicht zwischen Angelo und Isabella, das wäre ja sündhaft, sondern zwischen dem durch die Lichtverhältnisse düpierten Angelo und der von ihm für Isabella gehaltenen Mariana, einer Frau, der dieser vor Jahren ein Eheversprechen gegeben hatte, das er aber wegen des plötzlichen Verlusts der versprochenen Mitgift gebrochen hatte. Um den Treuebruch zu kaschieren, hatte er sie obendrein verleumdet. So kann auch bei Angelo in seinem Verhalten gegenüber Isabella von einer singulären Verfehlung keine Rede sein. Der sogenannte bed trick mag dennoch anrüchig erscheinen; er ist aber eine Konvention der Komödie.

Lucio, ebenfalls kein unproblematischer Charakter, nennt Vincentiothe old fantastical duke of dark corners (4.3.152f.).169

Nicht Angelo, der sich allerdings auch als eine Metamorphose Shylocks170begreifen lässt, sondern Lucio qualifiziert sich damit als der eigentliche Gegenspieler des Herzogs, den er mit dieser Beschreibung geradezu als ‚meta-physischen Eckensteher‘ denunziert haben könnte. Am Ende enttarnt er den falschen Mönch, indem er ihm einfach die Kopfbedeckung herunterreißt, was ihm einen herzoglichen Tadel einträgt, den man indessen auch als epistemische Privilegierung lesen mag:

Thou art the first knave that e ’ er mad’st a duke. (5.1.353)

Er macht sich der Majestätsbeleidigung schuldig und wird vom Herzog genötigt, eine Frau zu heiraten, die von ihm ein Kind erwartet. Diese Strafe empfindet er als eine Kombination aus „pressing to death, whipping, and hanging“ (5.1.521f.). Auch hier haben wir uns wohl bewusst zu machen, dass eine solche Äußerung den Genrekonventionen der Renaissancekomödie entspricht.171 Der Libertinage ergeben, zeigt Lucio jedoch – als einziger – einen gewissen Respekt für Isabellas Berufung. Auch ist er mit Claudio befreundet und sagt die denkbar schönsten Sätze über Angelo: „Some report a sea-maid spawned him. Some, that he was begot be-tween two stockfishes. But it is certain when he makes water, his urine is congealed ice“ (3.2.104).

Dass er den Herzog durchschaut hat, ist eine Feststellung, die sich keineswegs nur auf das Vestimentäre, also die Mönchskutte, beziehen sollte. Gravierender noch als die Bloßstellung des herzoglichen Machiavellismus („dark corners“) ist die gänzlich en passant erfolgende Erledigung christlicher Staatsmetaphysik („fantas-tical“) — oder wäre es, sollte jemand so vermessen sein, eine solche in das Stück hineinprojizieren zu wollen. Wenn also Lucio, der in der Auflistung der dramatis personae selber als „a fantastic“172 angeführt wird, den Herzog als „exzentrisch“ be-ziehungsweise „wirklichkeitsentrückt“ bezeichnet, dann könnte in diesem Attribut die eigentliche Zurückweisung einer allegorischen Lektüre des Stücks liegen. Die Figur, mit der wir Lucio am ehesten vergleichen dürfen, heißt daher wohl Edmund, als dessen Pendant im komischen Genre ihn wir uns vorzustellen haben.

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6 The Tempest oder das Ende der Magie

Wirklichkeitsentrückt – fantastical  – ist allerdings auch die Insel Prosperos. Das hat gleich mehrere Gründe: die imaginäre Geografie (ein Eiland irgendwo im Mittelmeer auf der Seeroute von Tunis nach Italien), die magischen Fähigkeiten des exilierten Fürsten, der gegen alle Staatsräson zu viel Zeit auf seine privaten Studien verwandt hat und deshalb seinem Bruder Antonio weichen musste, und schließlich die Genrekonventionen der Bukolik, von denen sich aber schwerlich behaupten lie-ße, dass das Stück sie vorbehaltlos affirmiert.

Doch ist Prosperos Exilort vielleicht auch im Atlantik zu finden. Denn so ge-nau nimmt es Shakespeare mit der Geografie nicht. Der aus Mailand vertriebene Herzog ist ganz offenkundig ein Vertreter des frühneuzeitlichen europäischen Kolonialismus, der sich Caliban, welcher die Insel von seiner Mutter Sycorax erb-te, gefügig gemacht hat. Sodann befreite Prospero unmittelbar nach der kolonia-len Landnahme den Luftgeist Ariel, den Sycorax in einen Baumstumpf verbannt hatte, und machte ihn dann – mit der allergrößten Selbstverständlichkeit dessen Dankbarkeit einfordernd – zu einem willfährigen Instrument seiner magiegestütz-ten Herrschaft, um ihn schließlich doch in die Freiheit zu entlassen.

Wonder   – das Wundervolle und Staunen Erregende von Prosperos Inseldominium  – ist eine wichtige Erfahrungsdimension, die es auszuloten gilt. Auf diese Dimension verweist bereits der Name seiner Tochter Miranda, die – von ihrem unterbeschäftigten Vater erzogen – ihr Staunen nie verlernen wird. „Admir ’ d Miranda“ (3.1.37) wird Ferdinand sie später nennen, eine partizipiale Verdichtung, deren Pleonasmus den Zauber dieser Figur zum Ausdruck bringen soll.173

Dass Prosperos Aufenthalt auf der Insel nur ein befristeter sein kann, ver-steht sich beinahe von selbst. Auch der „Ardenner Wald“ in As You Like It, dem Shakespeare-Stück, das wie kein anderes an die Tradition der Hirtendichtung anknüpft, ist ja bloß ein vorübergehender Zufluchtsort für einen exilierten Herrscher und seine Entourage.174 Zwar mochte sich zumindest in früheren Zeiten so mancher Theaterbesucher Prosperos insularen Fürstenstaat als wohl-geordnetes Gemeinwesen vorgestellt haben. Doch gibt dieser ihn bei der ersten sich bietenden Gelegenheit auf und kehrt in seine alte Residenz nach Mailand zurück.

Als nämlich eines Tages ein Schiff aus Tunis an seiner Insel vorbeisegelt, entfacht er einen Sturm, der ihm nicht nur seine Feinde, darunter den thronräuberischen Bruder Antonio, an Land spült, an dem er nun Vergeltung üben könnte, sondern auch seinen zukünftigen Schwiegersohn Ferdinand, Sohn des Königs von Neapel. Nachdem Prospero den jungen Mann einer Eignungsprüfung mit positivem Ausgang unterzogen hat, begnügt er sich indessen mit der Wiedererlangung seiner Herzogswürde.

Die Rettung geschieht ebenso ‚okkasionell‘ wie das Verbrechen, das sie erst not-wendig gemacht hat. Doch wird der eine „günstige Gelegenheit“ nutzende uner-laubte Griff nach der Herrschaft, zu dem Antonio kurz nach der Landung auf der Insel Sebastian, den Bruder des Königs von Neapel, verführen will – „What thou shoudst be th ’ occasion speaks thee“ (2.1.212) – durch die prompte Intervention des Luftgeistes Ariel vereitelt. In Prosperos Inselreich haben Machiavellisten kei-ne Chance. Eine Wiederholung des Mailänder Thronraubs scheint an diesem Ort unvorstellbar.

The Tempest ist also ein Präventions- wie Restitutionsdrama. Zugleich ist es das-jenige Shakespeare-Stück, das – ungeachtet der vermeintlich simplen Geschichte von Vertreibung und Rückkehr  – besonders nachdrücklich die Frage nach der ‚legitimen Ordnung‘ stellt und in diesem Zusammenhang auch das Problem der menschlichen Natur adressiert. „Anlage“ und „Erziehung“ – „nature“ und „nur-ture“ – sind die zentralen Kategorien. „Adel“ fungiert als Unterkategorie, und es ist Miranda, die gleich zu Anfang das Attribut „noble“ verwendet (1.2.7)  – als Ausdruck ihrer spontanen Anteilnahme am Schicksal der Schiffbrüchigen, von denen gleichwohl nicht alle es verdienen, mit diesem Attribut ausgezeichnet zu werden.175 Schon der Romantiker Coleridge merkte an, dass ‚noble‘ hier mitnichten auf den alteuropäischen Geburtsadel verweist. Die Wortbedeutung erschließt sich durch die Verbindung mit dem Prädikat ‚natürlich‘. So hängt es von der natürlichen Disposition, will heißen vom natürlichen Adel eines Individuums ab, ob es bildsam ist.176 Wenn Prospero Caliban

[…] a born devil on whose nature

Nurture can never stick (4.1.188f.),nennt, spricht er ihm mit diesem sinistren Wortspiel geradezu die Bildsamkeit ab. Wenn er sich darüber hinaus – ausgerechnet kurz bevor er die Insel aufgibt, aber noch ganz auf seinen Herrscherrechten insistierend – zu der Bemerkung versteigt, [t]his thing of darkness I / [a]cknowledge mine (5.1.278f.),fällt es schwer, Prospero nicht in der Attitüde des Kolonialherren zu sehen, der es unverzeihlich findet, dass Caliban mit dem ‚unwürdigsten‘ Teil der Schiffsbesatzung einen Aufstand geplant hatte. Doch bewegen wir uns mit solchen Überlegungen nicht in eine Richtung, die es uns schwer machen könnte, den Sturm wie die vor-herigen Stücke als ein analytisches Drama aufzufassen? Sollte Shakespeare am Ende affirmativ geworden sein, weil er nicht mehr auf die Stärke seiner negative capability vertrauen mochte?

Frank Kermode konnte Shakespeares Sturm noch mit großer Unbefangenheit als ein Werk der Hirtendichtung lesen. Allerdings heißt es am Ende des Vorworts zu seiner in vielfacher Hinsicht Maßstäbe setzenden Textausgabe von 1954 immerhin, dass die Zeit nunmehr reif sei für eine radikal veränderte Sicht auf das Stück, von der sein Vorwort aber noch keinerlei Vorstellung gibt.177 Es sollten zwei weitere Jahrzehnte vergehen, bis der Postkolonialismus Caliban und Ariel schließlich in ein anderes Licht rückten.178 Und noch fast ein hal-bes Jahrhundert später konnte Harold Bloom meinen, dass der Sturm  – neben dem Sommernachtstraum   – als „the worst interpreted and performed“ aller Shakespeare-Dramen gelten müsse.179

Das mag, wenn es denn in dieser Schärfe zutrifft, dem visionären Charakter der beiden Dramen geschuldet sein. So beendet Prospero im vierten Akt ein von ihm inszeniertes Maskenspiel mit den Worten:

These our actors,

As I foretold you, were all spirits, and

Are melted into air, into thin air;

And, like the baseless fabric of this vision,

The cloud-capped towers, the gorgeous palaces,

The solemn temples, the great globe itself,

Yea, all which it inherit, shall dissolve,

And, like this insubstantial pageant faded,

Leave not a rack behind. We are such stuff

As dreams are made on, and our little life

Is rounded with a sleep. (4.1.148–158)

Maskenspiele mit ihrem obligatorischen Figureninventar griechischer Gottheiten gehörten traditionell zu höfischen Hochzeitsfeiern und in einen solchen Aufführungskontext passt auch der Sturm .180 Für den jähen Abbruch des Spiels im Spiel gibt es eine simple Erklärung. Dem alten Magier fällt plötzlich ein, dass er sich ja noch um Calibans Verschwörung zu kümmern habe. Doch nehmen Prosperos Worte eine Wendung ins Allgemeine. Alles Schöne, alles Harmonische ist von ephe-merer Qualität. Nuttall, der sich – im Unterschied zu Kermani – gegen eine nihi-listische Lektüre von King Lear ausdrücklich verwahren möchte, findet hier eine solche Lesart beinahe zwingend.181

In der Tat ist der Sturm bis heute eine besondere Herausforderung für Regie und Interpretation – ganz gleich ob man das Stück (anti)bukolisch oder (post)kolonial lesen beziehungsweise inszenieren möchte. Für Giorgio Strehler, den Begründer und einstigen Leiter des Mailänder Piccolo Teatro, war es gerade die trügerische Simplizität der Geschichte, die The Tempest zu einem Stück großer Weltliteratur macht und einen Vergleich mit Faust II rechtfertigt. Um aber das Trügerische dieser Simplizität zu begreifen, brauche man bloß sein Augenmerk auf eine winzige Szene zu richten – das Schachspiel der Liebenden im fünften Akt. Es sei ein Fehler, so Strehler, den Kontrast zwischen der Welt Mirandas und Ferdinands auf der einen und der Welt Calibans auf der anderen Seite zu überzeichnen:

Sweet lord, you play me false (5.1.174),ruft Miranda beinahe entzückt und sieht dem Geliebten sogleich sein falsches Spiel nach. Der Theatermann wollte vor allem das – wie er es sah – Monströse der klei-nen Szene in unser Bewusstsein heben.182 Er könnte mit seiner Wahrnehmung rich-tig gelegen haben. Miranda scheint in der Großzügigkeit ihrer Liebe tatsächlich so weit zu gehen, dass sie Ferdinand schon mal zugesteht, nach den Geboten einer ‚Fürstenmoral‘ handeln zu dürfen:

[…] for a score of kingdoms you should wrangle,

And I would call it fair play. (5.1.177f.)

Von der Liebe zu den arcana imperii ist es für die vermeintlich so naive Fürstentochter offenbar ein kurzer Weg. Prosperos Eignungskriterien für seinen Schwiegersohn scheinen sich also mit denen Mirandas zu decken. Daher hat es gewiss auch seinen Sinn, dass die väterlichen Gedanken zunächst obsessiv um das Keuschheitsthema kreisen:

If thou dost break her virgin-knot (4.1.15),lautet die Drohung, möge „unfruchtbarer Hass“ (4.1.19) eure Beziehung zerstören. Doch bekräftigen diese Worte einmal mehr, dass dynastisches Denken für Prospero in jeder Hinsicht bestimmend ist.

Bis in die jüngste Zeit hinein hat sich allerdings auch eine Deutungsschablone erhalten, die suggeriert, dass der Sturm als Palinodie oder dichterischer Widerruf zu lesen ist. Der seinen Zauberstab zerbrechende und damit der Magie entsagende Prospero sei Shakespeare selbst. Die beiden dann noch folgenden späten Stücke – The Two Noble Kinsmen und Henry VIII  – sind ja aus der Zusammenarbeit mit John Fletcher hervorgegangen.

Auffallend häufig wird zudem registriert, dass sich Shakespeare am Ende seiner Dichterkarriere sogar neoklassizistischen Konventionen – wie der Einheit des Ortes und der Zeit – gefügt habe. Schließlich aber vermag das Stück den Eindruck zu er-wecken, als propagiere es einen Freiheitsbegriff, dem nichts mehr von Subversion und Anarchie anhaftet. Freiheit, laute die Botschaft, erwachse allein aus der Selbstbeherrschung, zu der sich eben ein Ferdinand, nicht hingegen ein Caliban als fähig erweise.183

Bewegt sich Shakespeare am Ende seiner Karriere damit nicht doch auf einen konservativen Aristotelismus zu, eine Wertorientierung, die eine ältere Kritik bei-spielsweise auch dem Kaufmann von Venedig zu unterlegen bereit war? Prospero wäre dann tatsächlich der Prosperierende, der es sich leisten kann, vor der Rückkehr in seine alte Residenz den Feinden zu verzeihen, die ihn vorübergehend um die Herrschaft über Mailand gebracht haben:

[…] the rarer action is / In virtue than in vengeance (5.1.27f.).

Doch ist sein großmütiger Verzicht auf Vergeltung glaubwürdiger als dieselbe Botschaft aus dem Munde Portias? Was macht Prospero dann so depressiv, dass er schon vor seinem Aufbruch in die alte Heimat die ihm noch verbleibende Zeit als rechtmäßiger Herrscher Mailands von Todesgedanken überschattet sieht?

Der Sturm ist fraglos ein politisches Stück. Prospero, der sich völlig seinen Büchern und der Magie hingegeben hatte, war die Herrschaft entglitten. Man muss hier vom schuldhaften Versagen eines Regenten sprechen. Verbannung und Tod warteten auf ihn. Doch heimlich versorgt ihn der treue Höfling Gonzalo in letzter Minute mit dem Notwendigsten für die Fahrt ins Ungewisse.

Zu der Gesellschaft, die durch den inszenierten Schiffbruch an Land gespült wird, gehört wiederum auch Gonzalo, der sogleich zu Prosperos kolonialer Landnahme ein imaginäres Kontrastprogramm entwirft. Mit den Worten

Had I plantation of this isle […]

And were the King on’t […] (2.1.149–151),beginnt sich der alte Mann ein idyllisches Leben auszumalen, das – konträr zu al-len Üblichkeiten – völlig ohne Magistrat und hierarchische Verhältnisse, auch ohne Privatbesitz auskommt:

I would by contraries / Execute all things (2.1.153f.).

Er vergisst indessen, dass er die Frage nach der Souveränität allenfalls eingeklam-mert hat, sieht er sich doch wie selbstverständlich als den großen Arrangeur dieser Sozialutopie. Hannah Arendt hätte angemerkt, utopisches Denken ist eben Politik im Modus des Herstellens; es verfehlt daher stets die eigentliche Dimension politi-schen Handelns.184 Wohl nicht zufällig sind es die üblen Reisegefährten Gonzalos, die ihn einer fundamentalen Inkonsistenz überführen. Antonio, der illegitime Herrscher Mailands, bringt es auf den Punkt:

The latter end of his commonwealth forgets the beginning. (2.1.163f.)

Auch im Sturm gibt es offenbar so etwas wie die epistemische Privilegierung des Schurken, auch wenn Antonio nicht das Format eines Edmund hat.

In Wahrheit verhält es sich sogar noch ein wenig schlimmer. Denn selbst der Bukoliker Gonzalo denkt, wenn er sich nicht gerade seinen utopischen Fantasien hingibt, in erprobten hierarchischen Kategorien. Sein grenzenloser Optimismus verdankt sich nicht nur einer selektiven Wahrnehmung; er hat obendrein eine hässliche Seite. So glaubt Gonzalo, im Sturmund dem Kentern nahe, bereits an der Gesichtsfarbe eines tüchtigen Seemannes, der sich jedoch aus seiner Sicht der Insubordination schuldig gemacht hat, erkennen zu können, dass auf den Mann der Galgen warte,his complexion is perfect gallows (1.1.29f.),weshalb Gonzalo und Seinesgleichen die Hoffnung nicht verlieren dürften. Die Hinrichtung durch den Strang muss schließlich an Land erfolgen – für die Edelleute ein implizites Versprechen baldiger Rettung. Dabei hatte der Maat den geschwät-zigen und im tosenden Sturm völlig nutzlosen Aristokraten bloß in seine Kabine schicken wollen.185

Nicht nur aus postkolonialer Optik scheint aber Prosperos Landnahme das größ-te Problem des Stücks zu sein. So erklärt Caliban dem geschassten Fürsten:

This island’s mine, by Sycorax my mother,

Which thou tak’st from me. When thou cam’st first,

Thou strok’st me, and made much of me; would’st give me

Water with berries in’t; and teach me how

To name the bigger light and how the less

That burn by day and night; and then I loved thee

And show’d thee all the qualities o’ th’ isle,

The fresh springs, brine-pits, barren place and fertile –

Curs’d be I that did so! (1.2.334–342)

Prospero hat in ‚seinem‘ Inselreich Verhältnisse geschaffen, die er selber offen als ausbeuterisch beschreibt. Auf die Dienste Calibans, der infolge seiner Gutmütigkeit ein Abhängiger geworden ist, glaubt er nicht mehr verzichten zu können:

We cannot miss him (1.2.314),erklärt er seiner gelehrigen Tochter, die das sicher versteht. Da er Caliban die Bildsamkeit abgesprochen hat, gibt es aus Prosperos Sicht auch keine Alternative zu einem Unterwerfungsverhältnis. Denn Caliban ist kein Ferdinand. Seine Triebhaftigkeit, so scheint uns Prospero glauben machen zu wollen, stelle eine reale Gefahr für Miranda dar.186

Im Sturm verlagert Shakespeare die koloniale Landnahme in das Reich der Fantasie. Peter Sloterdijk hat einem Vortrag über die Einbildungskraft den Titel „Tau von den Bermudas“ gegeben, der auf ein Zaubermittel anspielt, das Ariel einst für Prospero zu besorgen hatte. Gewiss lässt sich behaupten, das Stück handle von der „transatlantische[n] Chance, die mit dem Bermuda-Tau in europäische Hände gelangt“.187 Doch wäre es ein Irrtum zu glauben, es ginge im Sturm ausschließlich um ein koloniales Projekt und seine Fragwürdigkeiten.

Man kann The Tempest von den Konflikten her lesen, die im Verlauf der Handlung aufbrechen, aber auch von den Harmonien, die das Stück zu stiften versucht. Das betrifft selbst die ‚übernatürlichen‘ Fähigkeiten Prosperos. In Anknüpfung an den Neuplatonismus unterschied man in der Renaissance zwischen goetischer und the-urgischer, schwarzer und weißer Magie. Im Stück heißen ihre Adepten Sycorax, die Mutter Calibans, respektive Prospero. Am Ende aber zerbricht der zur Rückkehr entschlossene Herzog nicht nur seinen Stab, sondern versenkt auch noch sein Kompendium der Magie im Meer:

I’ll drown my book (5.1.57).

Während der unbedarfte Gonzalo das Thema einer felix culpa entfalten darf, in-dem er die zurückliegenden Ereignisse zu einer Erzählung formt, in welcher die Restitution der legitimen Herrschaft mit einer Doppelhochzeit verknüpft wird, die den alten Mann in eine geradezu feierlich-liturgische Tonlage verfallen lässt,

[o] rejoice / [b]eyond a common joy! (5.1.209f.),erinnern uns Prosperos Worte an den zur Hölle fahrenden Dr. Faustus Christopher Marlowes:

I’ll burn my books. Ah, Mephestopheles!188

„They love not poison that do poison need“ ( Richard   II, 5.6.38), beschied Bolingbroke dem Mörder Richards, der zu ihm gekommen war, um seinen Lohn für die voll-brachte Tat zu erhalten. Der Magier Prospero ist in der glücklichen Lage, dass er solches niemals hat sagen müssen. Er ist das Gegenteil eines vile politician , aber um keinen Deut besser. Das mag zur Entzauberung seiner Herrschaft genügen.

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7 Die Schärfung der politischen Urteilskraft

„[H]e seems to write without any moral purpose.“  – Es war Samuel Johnson, der meinte, dies von Shakespeare sagen zu müssen.189 Ein solches Urteil darf im Zeitalter der Aufklärung nicht überraschen. Die Shakespeare-Bühne war keine ‚moralische Besserungsanstalt‘. Im Unterschied zu vielen anderen190 vermochte Johnson souverän damit umzugehen, dass sich die Stücke nicht den Konventionen des Neoklassizismus fügen. Doch den Amoralismus eines großen Dichters zu zele-brieren, wäre für ihn undenkbar gewesen. In jeder Faser seines Wesens ein Moralist, blieb Johnson nichts anderes übrig, als von Shakespeares „faults“ zu sprechen. Was wir Renaissance-Skeptizismus genannt haben, besaß für ihn keinerlei Faszination. Obwohl ein hochgebildeter Latinist, wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, Ovid gegen Vergil auszuspielen oder über die Rhetorizität der Shakespeareschen Dramenkunst so zu denken, wie das hier vorgeschlagen worden ist.191 Nie hätte er – wie der Romantiker Keats – von einer negative capability sprechen können. Die Urteilsabstinenz eines großen dramatischen Dichters musste ihm als moral disabi- lity erscheinen.

Wir haben indessen darauf zu bestehen, dass kein Deutungsversuch davon ab-sehen darf, sich mit diesem „negativen Vermögen“ in einer Weise auseinanderzu-setzen, die plausibel macht, dass es gerade die dichterische Urteilsabstinenz ist, die aufseiten der Rezipienten zu einer Schärfung der Urteilskraft führt. Die Fähigkeit, ein Besonderes unter ein Allgemeines zu subsumieren, sollte sich gerade auch in je-der politischen, die eigene Gegenwart mitreflektierenden Lektüre der Shakespeare-Dramen bewähren, wobei nicht nur an Inszenierungen oder Literaturkritik zu den-ken wäre, sondern auch an moderne Erzählwerke, deren Autorinnen und Autoren sich durch Shakespeare haben inspirieren lassen.192

In der Literaturkritik respektive -wissenschaft sprechen wir im Englischen gar explizit von presentist criticism . Das Phänomen ist nicht neu. Drei heraus-ragende Beispiele mögen genügen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg erschien – ge-wiss nicht ohne historische Ironie193 – Friedrich Gundolfs Shakespeare und der deutsche Geist , ein Werk, das, so darf man ohne Übertreibung sagen, von dem Anliegen beherrscht wird, der Shakespeare-Kritik den Moralismus auszutreiben. In den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erlangte der später in Kalifornien lehrende polnische Literaturwissenschaftler Jan Kott mit Szekspir współczesny (1965) – Shakespeare heute  – geradezu Weltberühmtheit, indem er den Dichter vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte neu interpretierte. Ein ak-tuelles Beispiel ist Stephen Greenblatts elegante Monografie Tyrant , Shakespeare on Power , deren Anliegen am besten dadurch wiedergegeben werden kann, dass wir sie als eine Meditation über den ‚aufhaltsamen Aufstieg‘ Donald Trumps beschreiben.194

Sich über Shakespeare auf sehr prononcierte Weise in einem jeweiligen ‚Hier und Heute‘ zu verständigen, ist genau das, was alle drei Autoren verbindet – Gundolf, dem Geist eines Ästhetizismus verhaftet, der sich Nietzsche und George verdankt, Kott, dessen Shakespeare-Lektüre von der Erfahrung des Totalitarismus impräg-niert wurde, und schließlich Greenblatt mit Reflexionen über die Macht in einer Situation, die den liberalen Ostküstenamerikaner von einer Krise der demokrati-schen Repräsentation sprechen lässt, die mit dem Ende der Präsidentschaft Donald Trumps nicht überwunden sein dürfte.

Alle drei Monografien, mit deren Publikationsdaten sich ein Zeitraum von hun-dert Jahren abstecken lässt, können daraufhin befragt werden, ob es ihre Verfasser verstanden haben, das „negative Vermögen“ des Dichters angemessen zu würdi-gen. Dass solches allen dreien gleichermaßen gut gelungen ist, mag schon des-halb zweifelhaft erscheinen, weil bereits die knappe Charakterisierung ihres je-weiligen interpretatorischen Zugriffs zu der Vermutung Anlass gibt, dass es sich bei Gundolf und Greenblatt geradezu um Antipoden handeln könnte. Wer von ihnen wird Shakespeare eher gerecht? Derjenige, der wie Oscar Wilde ethische Positionierungen in der Kunst für einen unverzeihlichen Fehler hält,195 oder der-jenige, der einem solchen Ästhetizismus nichts abgewinnen kann? Es wäre wohl unfair, allein wegen des größeren zeitlichen Abstandes, der uns gewöhnlich Fragwürdigkeiten leichter erkennen lässt, den Vergleich von vornherein zulasten Gundolfs ausgehen zu lassen.

Über Gundolf ließe sich denn auch schnell so manches anführen, was heutzutage Distanzierung erheischt. Shakespeare und der deutsche Geist ist neben der 1930 er-schienenen Biografie über den Staufer-Kaiser Friedrich II. von Ernst Kantorowicz der andere große ‚Bestseller‘ aus dem George-Kreis. Beide Autoren pflegen ein Pathos der Distanz. So mag Gundolf das Theater nicht. Es gilt ihm als ein Medium minderer Dignität. Zwar hat er eine frühneuzeitliche Aufführungspraxis im Blick, wenn er von der „Vergewaltigung de[s] Geistigen durch die Bühne, den Zirkus“196spricht, doch scheinen seine Worte ein tiefsitzendes Ressentiment zu offenbaren. Auch haben bei ihm die Begriffe ‚Humanismus‘ und ‚Aufklärung‘ einen pejorativen Nebensinn. Es sei die Romantik gewesen, die Shakespeare erstmals auf Augenhöhe zu begegnen vermochte. Am Ende resümiert er in expliziter Frontstellung gegen Schiller, dass Moralisten Shakespeare „nie rein genießen“ könnten,197 da sie mit seinem „tiefste[m] Instinkt“, haderten, dem „Wille[n] zur Wirklichkeit“, der „kei-neswegs stark“ gewesen sei im nun offenbar zu Ende gehenden „Zeitalter der Humanität“.198 Man kommt nicht umhin, Gundolf zu bescheinigen, dass er etwas Fundamentales erkannt hat, auch wenn man sein Erkenntnisinteresse nicht teilen möchte.199

Auf eine geradezu konträre Weise dürfte das allerdings auch für Jan Kott gel-ten, der Shakespeare unbefangen zu einem Zeitgenossen erklärt, während uns etwa der Klassizismus eines Corneille nichts mehr zu sagen habe. Unter den gro-ßen Dramatikern der europäischen Literatur zeige sich allein Shakespeare den Erschütterungen des 20. Jahrhunderts gewachsen. Sein Wirklichkeitssinn entlarve selbst den Realismus des 19. Jahrhunderts als bloße Prätention.

Kotts Lektüre (nicht nur) der Historiendramen gelangt zu dem Ergebnis, dass uns Shakespeare mit einer düsteren Geschichtsvision konfrontiere, einem „Grand Mechanism“200 von geradezu kosmischen Dimensionen, der sich besonders ein-drucksvoll in den stets wiederkehrenden unheilvollen Symbiosen zeige, die Shakespeares Gewaltherrscher mit ihren jeweiligen Handlangern eingingen. Zwar habe dieser Mechanismus in den frühen Historien noch ein menschliches Antlitz, etwa wenn in Richard III der sich in Friedenszeiten nutzlos wähnende, weil lie-besunfähige Titelheld geradezu um die Gunst des Publikums buhle. In der Tat möchte dieser uns ja zu seinen Komplizen machen, weshalb er schon bei seinem ersten Auftritt ein Versprechen abgibt, das ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums sichern dürfte:

And therefore since I cannot prove a lover

To entertain these fair well-spoken days,

I am determinèd to prove a villain,

And hate the idle pleasures of these days. (1.1.28–31)

Seiner spezifischen Theatralik entkleidet, wird Richard bei Kott allerdings zum Repräsentanten einer Gegenrenaissance, deren Schrecknisse tatsächlich eher an den Zivilisationsbruch des 20.  Jahrhunderts gemahnen denn an eine Seinsverdüsterung durch die calvinistische Gnadentheologie,201 von den spätmittel-alterlichen Mysterienspielen, dem eigentlichen Ursprung der populären Vice-Figur, die Shakespeare zu seinem Richard inspiriert hat, ganz zu schweigen.

Wenn es bei Kott sodann heißt, Hamlet ende nach einem unsäglichen Blutbad mit der Etablierung einer „neue[n] Ordnung“ durch den Eroberer Fortinbras, erhält diese Feststellung allein schon durch das auch im Original deutschsprachige Zitat einen sinistren Klang.202 Den Sturm versteht er schließlich als finalen Abgesang auf den Optimismus der Renaissance. Die Worte Claudios in Measure for Measure ver-rieten uns eigentlich alles über Prosperos Inselreich – für Kott ein gottverlassenes Eiland ohne einen Hauch von Bukolik, das Hieronymus Bosch imaginiert haben könnte. Ebenso triebhaft wie selbstzerstörerisch strebe die menschliche Natur un-aufhörlich nach dem Bösen wie Ratten nach dem für sie ausgestreuten Gift:

[…] Our natures do pursue,

Like rats that raven down their proper bane,

A thirsty evil; and when we drink, we die.

(1.2.120–123).203

Dass Kott Shakespeares Dramen im Lichte der materialistischen Philosophie von Hobbes liest, ist sicher ein Selbstmissverständnis.204 Die Nähe zum Theater des Absurden ist indessen evident und man versteht, warum Kott unzählige Aufführungen inspiriert hat.

Man kann Kott aber auch als eine Antwort auf Gundolf lesen. Beide schrei-ben sie über Shakespeares „Willen zur Wirklichkeit“  – einmal als Deutscher im Geist des Fin de Siècle und dann als Pole im „Zeitalter der Extreme“205. Tut man das, ist es ein Leichtes, den Gundolfschen Ästhetizismus für diskreditiert zu erklären, auch wenn sich dieser von frivoleren Spielarten des Ästhetizismus dadurch unterscheidet, dass er die Erkenntnisproblematik ernst nimmt. Allerdings ließe sich wiederum gegen Kott vorbringen, dass sich Shakespeares „Wille zur Wirklichkeit“ schwerlich auf das krude Konstrukt eines „großen Mechanismus“ reduzieren lässt. Heinrich  IV. ist nicht Richard  III., Edgar ist nicht Edmund und Claudius ist kein Tyrann. Während die ‚schottische Hölle‘ das Werk Macbeths ist, eines „Stoikers des Verbrechens“206, naht denjenigen, die sie aushalten müssen, Rettung aus dem England Eduards des Bekenners. Das Schicksal ewiger Verdammnis bleibt ihnen vermutlich erspart. Der gegen sei-ne Depressionen kämpfende Prospero hat nicht in allem Unrecht – wenigstens dann nicht, wenn er sich selber der Vernachlässigung seiner Herrscherpflichten bezichtigt, wird er doch für die totale Hingabe an seine privaten Studien mit vorübergehendem Thronverlust bestraft. Dabei werden wir allerdings mit dem erstaunlichen Phänomen konfrontiert, dass ein Stück, das an die pastorale Tradition der Antike anknüpft, indem es einen exilierten Renaissancefürsten als neuplatonischen Magus präsentiert, uns zugleich nötigt, nicht nur über ein komplexes, die Ansprüche von vita activa und vita contemplativa austa-rierendes Freiheitsverständnis, sondern auch über eine frühneuzeitliche (De)Legitimierung kolonialer Herrschaft nachzudenken.

„Whatever you think of, Shakespeare will have thought of before“207  – solche Hyperbolik hat nicht nur ihren Charme, sondern auch ihre Berechtigung. So ist der Antikognitivismus eine Pose, die niemand durchzuhalten vermag, der sich wirklich auf das Erkenntnisangebot einlässt, das Shakespeares Stücke bereithalten. Gleichwohl muss die Frage erlaubt sein, ob uns der Renaissancedramatiker tatsäch-lich erlaubt, in die Abgründe des 20.  Jahrhunderts zu blicken. Doch lassen sich nicht nur gegenüber Kott skeptische Vorbehalte formulieren.

Niemand mit einer „klaren moralischen Haltung“, so Stephen Greenblatt, zeige bei Shakespeare einen „Willen zur Macht“.208 Man könnte geneigt sein zuzustim-men, bis man realisiert, dass diesem Satz etwas Tautologisches anhaftet. Tyrant handelt von den psychischen Deformationen von Machtmenschen wie Richard Plantagenet, dem dritten Herzog von York, in den frühen Heinrich-Dramen, Richard III. sowie dem patrizischen Volksverächter Coriolan, sodann von devoten Steigbügelhaltern, aber auch von moralisch motiviertem Widerstand. York habe den Rebellen Jack Cade für seine Zwecke instrumentalisiert – für Greenblatt ein Fall von populistischer Politik avant la lettre . Yorks Sohn Richard zeichne sich hingegen durch „eine groteske Anspruchshaltung“ aus209 – eine Diagnose, auf deren Basis sich gewiss das Psychogramm eines Tyrannen erstellen lässt, der seinen „aufhalt-samen Aufstieg“ willfährigen Helfern verdankt.210 Da Brecht in Aturo Uí Anleihen bei Shakespeare nimmt, verweist diese Brechtsche Reminiszenz wiederum auf den Renaissancedramatiker zurück.

Auch wenn Greenblatt nicht so weit gehen möchte, von dialektischem Theater zu sprechen, liegt ihm daran zu betonen, dass Shakespeare-Dramen auch vom Widerstand handeln. Beispiele liefern ihm Coriolanus und Lear . Der patrizische Hochmut Coriolans entlarve sich in jeder Szene selber und der Volkstribun Brutus bringe es auf den Punkt:

You speak o’ th’ people as if you were a god

To punish, not a man of their infirmity. (3.1.85f.)

Greenblatt hält es mit dem Anwalt der Plebs, der den Patrizier zurechtweist. Dabei gerät ihm allerdings aus dem Blick, dass Coriolan ein ziemlich eindimensionaler Römer ist. So ist diese Geschichte vielleicht doch ein wenig zu römisch, als dass sie sich problemlos in unsere Gegenwart hineinnehmen ließe.211

King Lear scheint hingegen moderner zu sein, haben wir doch gesehen, dass es paradoxerweise gerade die Archaik der Lear-Geschichte ist, die eine Hobbes kongeniale Naturzustandsfiktion ermöglicht, welche selbstredend die Egalität al-ler Individuen zur Voraussetzung hat. Insoweit lässt sich Greenblatt also folgen, auch wenn er seine Argumentation anders aufbaut und vor allem auf die Wirkung von Schlüsselszenen wie der folgenden vertraut: Als Cornwall, der Gatte Regans, den alten Gloucester blenden will, interveniert plötzlich ein Leibeigner („villein“). Cornwall nennt ihn „my vill[a]in“ (3.7.76)  – die gängige Moralisierung eines Statusindikators der Feudalzeit212 – und geht mit der blanken Waffe auf ihn los. Doch ist es Regan, die – bar jeder ‚natürlichen‘ Hemmung – den Mann ersticht.

Wenn es aber bei Greenblatt abschließend zu solchen Fällen des Aufbegehrens gegen ein Regime der Rechtlosigkeit heißt, Shakespeare habe darauf gesetzt, dass politische Aktionen „gewöhnlicher Bürger“ den „kollektiven Anstand“ zurück-brächten,213 zieht er sich auf Erbaulichkeiten zurück und lässt jeden Sinn für Ambiguitäten vermissen.214 Will man King Lear als Restitutionsdrama lesen, bedarf es wohl doch der Inspiration durch eine negative Theologie. Selbst dann können wir aber nicht ausschließen, dass diese Passionsgeschichte mit dem Karfreitag endet.

Shakespeares Europäertum zeigt sich nun einmal in der Analytizität seiner Dramen, die verhindert, dass es zur Auflösung solcher Ambiguitäten kommt. Dass wir uns einer Metonymie bedienen, wenn wir den Dichter einen ‚skeptischen‘ oder ‚guten Europäer‘ nennen, dürfte indes ebenso klargeworden sein wie wir gese-hen haben, dass die Zuschreibung einer solchen Eigenschaft nicht ohne eine ge-wisse Epochensensibilität erfolgen sollte. In der Analytizität seines dramatischen Werkes artikuliert sich ein Renaissance-Skeptizismus, der wiederum zahlreiche Anknüpfungspunkte an den Widerstreit von Rhetorik und Philosophie aufweist, den zwei großen Bildungsmächten der Antike. So reflektiert das dramatische Werk Shakespeares den Humanismus der Renaissance und dessen Option für die Rhetorik.

Man könnte versucht sein, dem in-utramque-partem -Topos, also der Auffassung, dass eine gute Rednerin stets gleichermaßen überzeugend für beide Seiten in ei-nem Konflikt einzutreten vermag, bleibende Aktualität zu bescheinigen. Allerdings ist uns auch ein mächtiger Gegentopos begegnet  – Shakespeares „Wille zur Wirklichkeit“ (Gundolf). Zwar mag man heute  – zumindest in einer durch den Poststrukturalismus beeinflussten Literaturwissenschaft – nicht mehr ohne weite-res von Shakespeares unverstelltem Blick auf die menschliche Natur sprechen. Doch dürfen wir uns die Frage erlauben, ob sich der Renaissance-Dramatiker in seiner ‚Analytik der Macht‘ postmodernen Formen des Skeptizismus am Ende nicht sogar als überlegen erweisen könnte.

Deshalb sei noch einmal an Heines ‚Nierenschau‘ erinnert.215 In keinem dra-matischen Oeuvre finden wir einen vergleichbaren Reichtum an Charakteren. Es gibt nicht nur starke und schwache Herrscher, Helden und Feiglinge, hochmüti-ge Aristokraten und Pöbel, Kaufleute, Mönche, die mitunter keine sind, und welt-liche Prälaten, selbstbewusste Frauen, Höflinge und königliche Ratgeber, Narren, Handwerker und Schankwirte, vor allem aber Individuen mit einem Innenleben, dessen Komplexität sich jeder Stereotypie entzieht. Doch liegt der Akzent nirgends auf den Manierismen und Idiosynkrasien. Das wiederum hat Samuel Johnson, der trotz aller Vorbehalte, die man aus (post)romantischer Perspektive gegen ihn hegen könnte, ein großer Shakespeare-Kritiker war, sehr genau registriert. Nicht „parti-cular manners“ würden uns den Zugang zur poetischen Wahrheit ermöglichen: „Nothing can please many, and please long, but just representations of general nature.“216

Damit scheint sich am Ende, ohne dass aber die Vielfalt negiert würde, doch noch eine universalethische Perspektive aufzutun, die sich als das Ethos des Dramatikers beschreiben ließe. Denn auch wenn uns Shakespeare Macbeth als Verworfenen präsentiert, ist die Haltung des Dichters gegenüber jeder seiner Schöpfungen von Generosität geprägt. Deshalb darf man in Bezug auf sein dramatisches Werk, das ganz auf just representations setzt und nicht poeti-sche Justiz üben will, ohne Übertreibung von einer Anthropodizee sprechen. Johnson könnte also in weitaus höheren Maße Recht gehabt haben, als er selber zuzugeben bereit gewesen wäre.

Allerdings macht das alles Shakespeare noch nicht zu einem Aufklärer. Zeigt er uns Prälaten, die wie weltliche Herrscher agieren, ist das keine Religions- oder Kirchenkritik. Er gestattet uns aber, den Machiavellismus kleiner wie großer Potentaten und ihrer Handlanger einer kühlen Betrachtung zu unterziehen.217Immer wieder gewährt er uns einen Zugang zum schmutzigen Arkanbereich der Herrschaft, der gleichwohl nicht in Frage gestellt wird. In Troilus and Cressida darf Ulysses gar vom „tiefen Geheimnis“ sprechen, das „in des Staates Seele“ (3.3.194f.) wohnt. Doch was hier nach Staatsmetaphysik klingt, ist in Wahrheit eine in erpres-serischer Absicht erfolgte Anspielung auf den Geheimdienst, der genauestens über die Kontakte informiert ist, die Achill, der in eine Tochter des Priamus verliebt ist, zu den Trojanern unterhält.

Es gibt keine Alternative zu dem, was ist, keine utopischen Gegenentwürfe. Das ist bis zu einem gewissen Grad der Objektivität des dramatischen Genres ge-schuldet. So belehren uns Shakespeares Stücke ja auch nicht. Es gibt in ihnen mit Ausnahme des karikaturhaften Holofernes in der frühen Komödie Love’s Labour’s Lost und vielleicht noch des geschwätzigen Staatsrates Polonius wie des exilierten Fürsten Prospero nicht einmal Lehrer218 und – im Unterschied zu den satirischen Komödien des Zeitgenossen und Freundes Ben Jonson – auch keine Fanatiker.219

Doch auch wenn Shakespeare sich damit in den konfessionspolitischen Auseinandersetzungen seiner Zeit als Ireniker zu präsentieren scheint, ist das Christentum für ihn eine unhintergehbare Realität, fast möchte man sagen, als „ab-solute Religion“ (Hegel),220 deren ranghohe Vertreter jedoch nicht gerade durch ihre Spiritualität auffallen. Als Adepten einer politischen Theologie findet man sie auf-seiten des Königs, wie Carlisle in Richard II , aber auch im Lager der Aufständischen, wie Scroop, den Erzbischof von York, von dem es im zweiten Teil von Henry IV heißt, er habe aus der „Insurrektion“ eine „Religion“ gemacht und damit das Wort „Rebellion“ von seinem Odium befreit (1.1.200).221 Wenn die Lords Spiritual wie Politiker agieren,222 die sich in unterschiedlichen Lagern wiederfinden, ist weder eine Dämonisierung Bolingbrokes noch seiner Gegner möglich. Eine politische Theologie, die nicht zugleich Parteistandpunkt wäre, scheint undenkbar.

Vielleicht darf man sogar sagen, dass sich bei Shakespeare damit bereits von fern die Säkularisierung ankündigt: for miracles are ceased ( Henry V , 1.1.68),meint Canterbury. Das ist einerseits, weil eine protestantische Lehrmeinung, im frühen 15. Jahrhundert ein Anachronismus, andererseits aber auch wiederum mehr eine politische als eine theologische Äußerung. Denn der Erzbischof spricht hier ja über das Mirakel des Hauses Lancaster, die wundersame Wandlung des Prinzen Hal vom Chaoten zum roi connétable , der sich als königlicher Feldherr anschickt Frankreich zu erobern. Ob sich im ungläubigen Staunen des Erzbischofs echte Bewunderung zeigt, vermögen wir nicht zu sagen. Laurence Olivier hat in seiner berühmten Verfilmung des Dramas aus dem Jahre 1944 die beiden geistlichen Würdenträger Canterbury und Ely durch ein pöbelhaftes Publikum verhöhnen las-sen. Es bewirft ihre kostbaren Gewänder, von denen man sich vorstellen möchte, dass sie aus einem säkularisierten Kloster entwendet und dann im Theaterfundus gelandet waren, mit Unrat. Wir dürfen darin sicherlich eine Manifestation popu-lärer Ressentiments im Zeitalter der Reformation sehen, zu dessen unschönen Gepflogenheiten auch gehörte, was wir als ‚invektive Kommunikation‘ bezeichnen, deren Wiederkehr im politischen Raum – als „return of the repressed“223 – wir ak-tuell zu erleben scheinen. Wenn Shakespeares Charaktere in ihr exzellieren, geht es allerdings niemals um Religion, selbst dann nicht, wenn von der Gnade und dem Teufel die Rede ist:

Thou art violently carried away from grace.

There is a devil haunts thee in the likeness of an old fat man; a tun of man is thy companion.

Why dost thou converse with that trunk of humours, that bolting-hutch of beastliness […]?

( 1 Henry IV , 2.5.451–456)

Diese Verdammung Falstaffs im Boar’s Head Tavern stammt aus dem Munde des Prinzen Hal, der in der Kneipe Theater spielt – abermals ein Spiel im Spiel – und der sich vorstellt, welche Vorhaltungen ihm sein Vater bei einer der nächsten Begegnungen wieder einmal machen könnte. Der schlechten Umgang pflegende Sohn ist der weltlichen Gnade des Vaters entzogen. Doch mit welchem Recht nennt der den Vater mimende Prinz den feisten Ritter einen „Beuteltrog der Bestialität“ – wie es in der Schlegel-Tieck-Übersetzung heißt? Man könnte sagen, mit dem Recht eines jungen Schauspielers, der seine spätere Rolle im großen Staatsschauspiel noch nicht ganz gefunden hat, obwohl er sie im Grunde schon zu gut kennt. Unmittelbar nach seiner Thronbesteigung wird er Falstaff verstoßen:

I know thee not, old man. Fall to thy prayers. ( 2 Henry IV , 5.5.47)

Sich auf Falstaff überhaupt eingelassen zu haben, gehörte zur éducation sentimentale des Usurpatorensohnes. Die chaotischen Lehrjahre Heinrichs mögen allerdings ungleich wertvoller gewesen sein als Hamlets Zeit in Wittenberg. Ein scholar prince war vielleicht doch nicht Shakespeares Ideal. Heinrich ging in die Schule Falstaffs, der Inkarnation der Respektlosigkeit, die Harold Bloom „life-enhancing but state-destroying“ nennt,224 eine Einschätzung, der wir nur beipflichten können, auch wenn wir diesem Falstaff sentimentalist nicht in allem folgen mögen. Wieder einmal gibt es kein letztes Wort.

So artikuliert sich Shakespeares Renaissance-Skeptizismus in einem Erkenntnisangebot, das uns zu einem ständigen Wechsel der Perspektive einlädt und damit eine Erkenntnishaltung fördert, vor der keine Orthodoxie auf Dauer be-stehen kann. Das soll indes nicht heißen, dass es so etwas wie Affirmation oder Negation überhaupt nicht gibt. Der Objektivismus des Dramas herrscht nicht ab-solut. Heinrich VI., als guter Christ gänzlich ohne virtù , ist zur Herrschaft unfähig; das puritanische Regiment Angelos trägt Züge einer Dystopie. Auch wenn ein uto-pischer Gegenentwurf zu allem Bestehenden nicht möglich scheint, gibt es doch im-merhin – in King Lear in der vom Narren vorgetragenen Prophezeiung Merlins und im Sturm in der Ridikülisierung der Idealstaatsfantasien Gonzalos – Utopiekritik, die nirgends entkräftet wird.

Nicht immer enden also Rede und Gegenrede in einer „Isosthenie“, wie der für Montaigne so wichtige antike Skeptiker Sextus Empiricus den gleich-wertigen Widerstreit der Meinungen genannt hat.225 Sind die Argumente von schlagender Evidenz, entsteht zumindest der Anschein der Privilegierung ei-ner Perspektive. Obgleich sich Shakespeares Sicht auf die römische Republik im Zustand der Agonie, die Seehandelsmetropole Venedig im Kaufmann , den ‚Sittenverfall‘ im Wien des Herzogs Vincentio wie den Kolonialismus im Sturm durch große Unvoreingenommenheit auszeichnet, begegnet uns in den Dramen der zweiten Henriade, die überkommene Vorstellungen von Heldentum und königlicher Herrschaft zelebrieren, in der Figur Bolingbrokes, Falstaffs wie Llewellyns auf höchst unterschiedliche, ja konträre Weise aber auch zu hinter-fragen scheinen und dabei zugleich die Genese des modernen Nationalstaats aufzeigen, offenbar ein „weißer Machiavellismus“ (A.  D. Nuttall); das heißt, auch wenn die Figurenrede nirgends transzendiert wird, präsentiert sich in die-sen Stücken eine positive Sicht auf die virtù der frühen Lancaster-Monarchen zumindest als Option.

Und doch sind unserer interpretatorischen Freiheit kaum Grenzen gesetzt – ganz gleich ob wir Shakespeares Heldinnen und Helden mit Hegel als „freie Künstler ih-rer selbst“ begreifen möchten, eine letzthin romantische Vorstellung, die doch wohl am besten zu Hamlet passt, oder ob wir, wie Stephen Greenblatt es getan hat, mit-hilfe Shakespeares über die gegenwärtige Krise der demokratischen Repräsentation sprechen wollen, weil das vivere civile , also die Teilhabe am Gemeinwesen, auch ein großes Thema der Renaissance ist.

Teilhabe konkretisiert sich in Wahlen wie in der Übernahme von Ämtern – hoher wie niedriger. Während Shakespeares Vater für einige Zeit der öffentlich bestallte ale taster Stratfords war, nicht jeder konnte schließlich Lordkanzler werden, gab es noch in der römischen Kaiserzeit – wenigstens dem Namen nach – die traditionelle Ämterlaufbahn des cursus honorum . So sieht sich bereits Cassius in seinem Zorn zu der rhetorischen Frage veranlasst, ob die res publica mit ihren Ämtern und Würden nicht reiner ‚Plunder‘ wäre, wenn sie nur dazu diente, Cäsars ‚Gemeinheit‘ durch falschen Glanz zu übertünchen:

[…] when it serves

For the base matter to illuminate

So vile a thing as Caesar? (1.3.108–110)

Daher können wir erneut die Frage stellen, wem Shakespeares stärker zugetan war – Ovid oder Vergil? Dass wir Shakespeare politisch gelesen haben, gestattet uns mitnich-ten schon, diese Frage zugunsten Vergils zu beantworten. Von den Iden des März ist schließlich auch im 15. Buch der Metamorphosen die Rede. Die holde Venus, heißt es dort, entriss Caesars sterbendem Leib die Seele, um sie unter die Sterne zu versetzen. Divus Iulius also auch bei Ovid, doch mit einem Wortspiel, „caeso de corpore“, das es erlaubt, Cäsars Übertritt in die Unsterblichkeit als Kaiserschnitt zu imaginieren.226Gegenüber einem Gott ist das mehr als respektlos. Augustus mag, auch ohne dass er die-se Zeilen kannte, gewusst haben, warum er die Verbannung des Dichters nicht aufhob.

Als Macbeth erklärt, er wolle nicht den „römischen Narren“ geben (5.10.1), also nicht freiwillig aus dem Leben scheiden, muss er hören, dass sein Schicksal be-siegelt ist, hatten ihm doch die Hexen prophezeit, er könne nur von einem Mann bezwungen werden, der keine natürliche Geburt hatte. Ein solcher aber nähert sich ihm gerade:

Macduff was from his mother’s womb / Untimely ripped (5.10.15f.).

Das ist selbstredend eine Parodie der Anagnorisis des tragischen Helden, der hier ein Verdammter ist, dem von Anfang an die Hölle Calvins vorherbestimmt war. Shakespeare spielt mit paganen wie christlichen Mythologemen.

Er ist aber gleichermaßen in den Niederungen des politischen Alltags zu Hause. So hält im ersten Teil von Henry IV der auf Standesetikette bedachte Bolingbroke seinem Sohn tatsächlich einen liederlichen Lebenswandel vor, und zwar ungefähr so, wie dieser es durch sein freches Schauspiel in der Kneipe antizipiert hat. Doch scheint der alte König blind für die Bildungsnotwendigkeiten des Thronfolgers:

[…] thou hast lost thy princely privilege

With vile participation ( 1 Henry IV , 3.2.86f.).

Das sagt ausgerechnet der von Hotspur als „vile politician“ verunglimpf-te Thronräuber, für den „Teilhabe“ offenbar nichts anderes ist als ein Mangel an Distanz zum ‚gemeinen Volk‘ und damit eines Prinzen unwürdig. So durfte es ge-wiss in jedem frühneuzeitlichem Fürstenspiegel stehen, obschon König Jakob im Basilikon Doron seinem Nachfolger nahelegt, es allein aus Gründen opportuner Distanzierung von den politisch ambitionierten Puritanern mit der Sittenstrenge nicht zu übertreiben und deshalb auch ausgelassener Volksfeststimmung ein ge-wisses Maß an königlichem Wohlwollen entgegenzubringen.227

Dass hier in beiden Fällen, also hinsichtlich des Regierungshandeln des Vaters wie der jugendlichen Eskapaden des Sohnes, der Verzicht auf das herabwürdigen-de Epitheton „vile“ nichts Geringeres bedeuten könnte als den Beginn einer neuen Zeit, muss nicht einmal Shakespeare bewusst gewesen sein. Für uns sollte zählen, dass es sich mithilfe seiner Dramen verständlich machen lässt.

Die Pax Augusta beruhte ebenso auf Repression wie die Befriedung Englands nach den Rosenkriegen, und Shakespeare möchte in den Königsdramen wohl doch kein zweiter Vergil sein. Allenfalls der Chor in Henry V erinnert von fern an das arma virumque cano , den Beginn des Vergilschen Epos.228

Doch zeigt Shakespeare uns, was es bedeutet, wenn Ordnungen zerbrechen und die Teilhabe zur Parodie gerät: „Thou hast most traiterously corrupted the youth of the realm by erecting a grammar school“ ( 2 Henry VI , 4.7.30f.), lautet die Anklage, die Jack Cade als Anführer einer Volkserhebung, der gerade London eingenommen hat, Lord Saye entgegenschleudert und die in ihrem dumpfen Ressentiment, das sich sogleich in mörderischen Aktionen entlädt, schwer zu übertreffen ist. Die Stimmung der Londoner Bevölkerung gegenüber diesem Aufrührer scheint überdies von dersel-ben Volatilität wie die politischen Sympathien der römischen Unterschicht in der spä-ten Republik. Am Ende aber sind es hier wie dort Adelsfaktionen, die das Geschehen bestimmen, auch wenn sich einige von ihnen auf ein populariter agere verstehen.

Es wäre indessen gänzlich verfehlt, die Aeneis auf ihren Charakter als Propagandawerk einer siegreichen Bürgerkriegspartei zu reduzieren, auch wenn sie uns im krassen Unterschied zu Shakespeares Römerdramen nicht einmal ah-nen lässt, dass der anfangs als Jüngling geschmähte Oktavian, dessen staatspoli-tische Leistung sie zelebriert, in Wahrheit „a chill and mature terrorist“ (Ronald Syme)229 war. Für Aeneas ist die Staatsräson wichtiger als die Liebe, aber doch wiederum nicht so wichtig, dass er auf seine Reise in die Unterwelt hätte verzich-ten können, die ihn auch zu Dido führt. Shakespeares Antonius entscheidet sich hingegen mit aller Konsequenz „für den Osten“, aber erst nachdem er sich einem Wahrsager anvertraut hat, so wie sich auch Cleopatra erst für die Liebe entscheidet und jedes Kalkül fahren lässt, als sie erkennt, dass politisch bei Oktavian nichts mehr zu holen ist.

Obwohl als Reichsmythologie konzipiert, lässt sich  – so sagt uns die Altphilologie – auch die Aeneis als eine Anthropodizee lesen.230 In einem solchen Rechtfertigungscharakter mag denn tatsächlich der Bedeutungsüberschuss gro-ßer Dichtung liegen – bei Vergil wie bei Shakespeare, der indessen als Skeptiker einen „Willen zur Wirklichkeit“ besaß, der geradezu auf eine „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ (Panajotis Kondylis)231 hinauslaufen musste. Die sinnliche Welt der Shakespeare-Bühne aber präsentiert sich eben auch als eine gleichermaßen anzie-hende wie abstoßende Welt der Grausamkeiten, die gerade darin zu ihrer Epoche in einem mimetischen Verhältnis steht. Wenn wir diese „Rehabilitation“ nicht nur ovidisch, sondern auch protoaufklärerisch nennen wollen, dürfte sich am Ende gar der poetische Intensitätsdiskurs als politisch erweisen.

Doch sollten wir nicht vergessen, dass für Shakespeare das Theater der eigent-liche Ort der Teilhabe ist, als der Ort der Ambiguitäten, an dem der mehr als zwei-tausendjährige Kampf gegen den „Irrthum“ (Nietzsche) wenigstens intermittierend geführt, im Idealfall die stets komplexe „Wahrheit“ zur „Poesie“ erhoben (Heine) und damit schließlich auch der Dogmatismus herausgefordert wird, der in seinen philosophischen wie religiösen Erscheinungsformen jünger ist als das Theater. Dass es dabei auch um Deutungshoheit beziehungsweise Macht geht, steht außer Frage. So hat unlängst Simon Critchley daran erinnert, dass es Platon war, der auf die theatrokratia die (Herrschaft der) philosophia folgen lassen wollte. Damit macht Critchley freilich die Polis zur Heldin der Tragödie und das Theater zum „Klebstoff der Demokratie“.232 In dieselbe Richtung, doch umsichtiger und auch pessimisti-scher argumentieren Marina und Herfried Münkler, indem sie in einem als Agenda betitelten politischen Essay betonen, dass das Theater der griechischen Polis in be-sonderer Weise der Schärfung der politischen Urteilskraft diente, wie solches in der Neuzeit allenfalls noch bei Shakespeare möglich gewesen sei.233 Nicht nur der Staat, sondern auch das Theater lebt eben von Voraussetzungen, die es selber nicht garantieren kann.

Wie aber verhält es sich mit der ‚Wahrheitssuche‘ beziehungsweise mit Shakespeares ‚Ideen‘? Im Methodendenken der frühen Neuzeit erscheint ‚Wahrheit‘ erstmalig eher als etwas „zu Erarbeitende[s]“ denn „evident Gegebenes“.234 Der proteushaften Natur, so Francis Bacon, sei nur durch die trials and vexations of art beizukommen.235 Der Perspektivenwechsel im Shakespeare-Drama könnte da-her ein Analogon zum frühneuzeitlichen Methodendenken sein.236 In Bezug auf die Welt der ‚Ideen‘ aber meinte schon Leopold von Ranke, nichts sei uneuropäi-scher als der vollständige Sieg einer einzigen Lehre.237 Wenn wir uns daher heute Europa nach einer Serie von Metamorphosen als eine „nachimperiale politische Großform“ (Peter Sloterdijk) vorstellen möchten, dann könnte sich darin auch eine Grundhaltung offenbaren, zu deren Ausprägung Shakespeare stärker beigetragen hat als jeder andere europäische Dichter und vielleicht auch weiterhin ein wenig beitragen könnte, wenn wir zulassen, dass ein Theater, das unterhalten und zugleich politisch sein will, seine Aufgabe nicht in der Belehrung, sondern in der Schärfung der politischen Urteilskraft sieht. Geht es nämlich für das gegenwärtige Europa da-rum, eine „neue Balance zwischen Fakten und Narrativen“ in einer „Weltordnung ohne Hüter“ zu finden,238 darf behauptet werden, dass Shakespeare zu Beginn der Neuzeit mit den Mitteln des Theaters im Grunde etwas Ähnliches unternommen hat, selbst wenn er vielleicht doch ‚nur‘ unterhalten wollte. So könnten wir uns mit ihm auf das Wagnis einlassen, Ordnungen ohne Hüter zu denken.

Nach ihm aber regten sich bekanntlich zunächst einmal die Puritaner, die das Theater verboten, bis dann – nach Restauration und Glorreicher Revolution – ganz allmählich Heines „steinkohlenqualmige, maschinenschnurrende, kirchengängeri-sche und schlecht besoffene England“239 entstand – eine Beschreibung, aus der man mit etwas Wohlwollen sogar eine Aussage über die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften herauslesen kann, auch wenn wir nicht gleich behaupten wollen, dass Heine die Systemtheorie antizipiert hätte. Dass England ein Vorreiter der Moderne war, ist allerdings unbestritten und konnte wiederum nicht ohne Folgen für das Theater bleiben.

Die Gattung des bürgerlichen Zeitalters ist indessen der Roman, der es freilich mit dem Objektivismus des Shakespeare-Dramas aufzunehmen hätte, um etwas auch nur entfernt Kongeniales zu liefern.240 Denn bei Shakespeare treffen wir auf ein Ethos, das gleichermaßen durch seinen „Willen zur Wirklichkeit“ wie durch seinen Skeptizismus geformt wurde, der mitnichten ein Indikator für „Nervenschwäche“ (Nietzsche) ist. Shakespeare hat keine Oratio de dignitate hominis hinterlassen.241Der Objektivismus der dramatischen Gattung verträgt sich weder mit deklamieren-der Rhetorik noch mit Belehrung. Der Shakespearesche Humanismus will zeigen, wie Menschen wirklich sind, und die über sie gefundene Wahrheit zur Poesie er-heben. Dieser mimetische Anspruch lässt sich nicht negieren. Er ist auch nicht naiv, wenngleich die Art und Weise seiner Einlösung an einmalige Voraussetzungen ge-bunden war. Dies mithilfe einer politischen Lektüre der Dramen zu verdeutlichen, war das Anliegen.

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Literaturverzeichnis