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: Klimaethik – Klimapolitik – Klimasoziologie

Klimaethik – Klimapolitik – Klimasoziologie

Zur Theorie der sozialen Klimakatastrophe

Inhalt

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Einleitung

Klimaethik ist keine klassische Disziplin der Philosophie. Ihre Entstehung, gesellschaftliche Re-levanz und Aktualität gründen in der seit rund drei Jahrzehnten prägnant wachsenden öffent-lichen Wahrnehmung, dass der menschliche Lebensstil klimatisch-ökologische Veränderungen hervorbringt, die sich negativ auf soziale Lebensgrundlagen auswirken.1 Die Philosophie hat sich lange Zeit nicht explizit mit den ethischen Fragen dieser gesellschaftlichen Entwicklung auseinandergesetzt. Nachdem im Dezember 1988 die Vollversammlung der Vereinten Nationen in ihrer 43. Sitzung den Schutz des Klimas als „Teil des gemeinsamen Erbes der Menschheit“ proklamiert hatte,2 wurde die Klimadebatte zunächst durch die zu leistende Überzeugungsarbeit der Wissenschaftler sowie Umwelt- und Klimaschützer geprägt, den Klimawandel politisch und die Ressourcennutzung ökonomisch zu thematisieren. Es vergingen zunächst einige Jahre, bis sich die Philosophie dem Zusammenhang von ökologischen, ökonomischen, sozialen und poli-tischen Bedingungen hinsichtlich des Klimawandels widmete, und damit letztendlich auch zu einer größer werdenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung beitrug. Drei Jahrzehnte sind mittlerweile vergangen und zahlreiche Klimakonferenzen wurden gehalten. Errungenschaften wie das Rahmenübereinkommen über Klimaänderungen der Vereinten Nationen (UNFCCC), das Kyoto-Protokoll oder das Klimaabkommen von Paris sind daraus hervorgegangen. Neben internationalen Rahmenabkommen übernahmen darüber hinaus Regierungen Klimastrategien in ihre nationale Politik und Unternehmen begannen sich einer grüneren Unternehmensphilo-sophie zu verschreiben. Klimaschutz und Nachhaltigkeit sind heute weitestgehend in der Gesell-schaft angekommen – zumindest scheint es so.

Der Klimawandel wird meist mit einem Anstieg der globalen Mitteltemperatur assoziiert. Sinnbildlich stehen hierfür die Ziele, die globale Erwärmung auf 1,5 bzw. 2°C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen, um einen gefährlichen Klimawandel zu verhindern. Nun stellen globale Mittelwerte an sich kein Risiko dar. Nach dem Risikoforscher Ortwin Renn liegt das Risiko im Klimawandel vielmehr in der Unwissenheit. Man weiß, dass man vom Klimawan-del betroffen sein wird, und zwar in einem globalen Ausmaß, aber nicht in welcher konkreten Form. Die vollkommenen Auswirkungen des Klimawandels liegen nicht offen. Darin unter-scheidet er sich von gewöhnlichen Risiken.3 Konkretisierend lässt sich sagen, dass das Risiko in den Folgen einer ansteigenden Konzentration der atmosphärischen Treibhausgase und einer damit verbundenen Klimaerwärmung liegt, wobei nicht völlig vorherzusehen ist, wie sich die Folgen konkret auf den Planeten auswirken. Nach Ausräumung der anfangs bestehenden wis-senschaftlichen Zweifel, lässt sich heute mit Gewissheit sagen, dass der Mensch mit seinen Ak-tivitäten maßgeblich zum Anstieg der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre beiträgt und somit das Klima beeinflusst. Auch wenn die vollkommenen Auswirkungen nicht gänzlich vorhersehbar sind, sind klimawandelbedingte Umweltveränderungen wie der steigende Mee-resspiegel oder Desertifikationen bereits zu erkennen. Hinzu kommen Änderungen in den Wettermustern: Tropische Stürme, Überschwemmungen sowie Dürren haben über die letzten Jahrzehnte an Intensität und Häufigkeit zugenommen. Diese Veränderungen und Wetterphä-nomene gefährden bereits die Lebensgrundlage vieler Menschen in verschiedenen Regionen dieser Welt.

Allein während des Zeitraums der Erstellung dieser Arbeit traten zahlreiche wetterbedingte Extremereignisse auf, die Katastrophen mit enormen Ausmaßen nach sich zogen. Die weltwei-ten Rückversicherer sprechen von einem eindeutigen Trend, der sich mit dem Anhalten der globalen Erwärmung voraussichtlich weiter verschlimmern wird. Die Hurrikansaison 2017 mit den Stürmen „Harvey“, „Irma“ und „Maria“, der drohende Wasserkollaps in Kapstadt im Früh-jahr 2018 aufgrund anhaltender Trockenheit oder die Waldbrände in Kalifornien in der zweiten Hälfte desselbigen Jahres sind lediglich drei neuere, prominentere Phänomene innerhalb einer relativ kurzen Periode, die sich in einer Reihe von globalen wetterbedingten Extremereignis-sen einordnen. 2017 entstand ein Schaden durch wetterbedingte Katastrophen in Höhe von 320 Milliarden US Dollar – das teuerste Jahr bis dahin nach 2011.4 Dabei nehmen nicht nur die entstehenden Schäden und Verluste katastrophale Ausmaße an: 2017 haben 18 Millionen Menschen ihr Zuhause aufgrund von Fluten, Stürmen, Dürren, Waldbränden, Erdrutschen und Extremtemperaturen verlassen müssen und gelten gewissermaßen als Vertriebene.5 Über die nächsten Jahrzehnte könnten sich bis zu 135 Millionen Menschen gezwungen sehen, ihre Hei-mat aufgrund von Desertifikation und Landdegradation zu verlassen.6 Als in Deutschland der Sommer 2016 vorüber war und Meteorologen und Klimawissenschaftler ihn zum heißesten seit Beginn der Aufzeichnungen erklärten (bereits die Jahre zuvor galten im Schnitt als die wärms-ten seit Aufzeichnungsbeginn), übte die Opposition Kritik an der Bundesregierung, dass diese mehr unternehmen müsse, um die „Klimakatastrophe“ zu verhindern. Die Art und Weise, wie der Klimaschutz in die nationale Politik integriert werde, sei nicht ausreichend. Der Begriff der Klimakatastrophe hat sich in den vergangenen Jahren etabliert, besonders im Zusammenhang mit dem Ausblick auf den klimabedingten Anstieg von Wetterextremen. Teils wird ihm auch das Adjektiv „sozial“ vorangestellt, um auf die gravierenden Auswirkungen zu verweisen, die die Extremereignisse auf das menschliche Leben haben.

Die soziale Klimakatastrophe zu klären, ist Gegenstand der folgenden Arbeit. Es wird sich he-rausstellen, dass sich hinter dem Begriff deutlich mehr verbirgt, als lediglich auf eine Zunahme extremer Wetterphänomene zu verweisen. Mit einer sozialen Klimakatastrophe hängen Themen zusammen, die ihren Ursprung nicht ausschließlich in der Klimatologie haben. Die Analyse der Theorie der sozialen Klimakatastrophe wird den Bogen von Philosophie bzw. Ethik über Poli-tikwissenschaft bis zur Soziologie spannen. Somit werden wir es mit Klimapolitik, Klimaethik und in gewisser Weise mit einer Klimasoziologie zu tun haben, wobei es nicht darum geht, die Bereiche strikt voneinander abzugrenzen, sondern sich vielmehr der verschiedenen Bereiche zu bedienen, um ein umfassendes Verständnis zu bekommen.

Klimapolitik verweist zunächst auf den Konsens, dass der Klimawandel als ein Problem mit einer Reichweite wahrgenommen wird, das politisch thematisiert werden muss. Mit dem global anwachsenden Treibhausgasanstieg und den damit verbundenen globalen Auswirkungen, sah sich die Politik gezwungen, die Problematik nicht länger als Politikum des Umweltschutzes zu betrachten, sondern ein agierendes Klimaschutzrecht zu entwerfen, unter dem die Emissionen reduziert sowie die Gesellschaften gegenüber den Folgen der globalen Erwärmung angepasst werden sollen. Das von der internationalen Staatengemeinschaft entworfene UNFCCC im Jahre 1992, mit dem Ziel, die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre so weit zu stabilisieren, dass ein gefährlicher Klimawandel ausbleibt, gilt als wesentlicher Anfang der internationalen Klimapolitik. Die Erreichung internationaler Ziele hängt jedoch grundlegend von den Bemü-hungen der einzelnen Länder ab, inwieweit klimapolitische Strategien auf nationaler Ebene um-gesetzt werden.

Klimasoziologie ist hingegen ein neuer Begriff. Dieser soll nicht implizieren, dass innerhalb der Soziologie ein Bereich entstanden ist, der sich explizit mit dem Klimawandel auseinander-setzt, vielmehr verweist der Begriff auf die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Ursa-che des Klimawandels und seinen Folgen. Als Wissenschaft zur Gesellschaft und des sozialen Verhaltens eröffnet die Soziologie Perspektiven und Ansätze, die gesellschaftliche Perzeption des Klimawandels und die soziale Dimension der Folgen zu analysieren, ohne hierfür einen ge-sonderten Fachbereich etablieren zu müssen.

Klimaethik schließt an die Fragen an, mit der sich die Klimapolitik konfrontiert sieht. Sie thematisiert die räumliche und zeitliche Asymmetrie zwischen dem Verursachen des anthropo-genen Klimawandels und dem Erfahren der Auswirkungen und diskutiert diesbezüglich die

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Reichweite moralischer Pflichten und Verantwortungen. Der Umstand, dass der Großteil der ausgestoßenen Emissionen aus den reichen Industrienationen stammt, der ärmere Süden aller-dings am meisten von den klimatischen Veränderungen betroffen ist, ohne die Wirkung und die Ausmaße tatsächlich bestimmen zu können, war letztendlich ausschlaggebend, einen neuen Bereich der angewandten Ethik zu etablieren und den Klimawandel nicht als reines Thema der Umweltethik zu verstehen, in der ökologische Probleme mit einem deutlich unmittelbareren und direkteren Einfluss auf das Leben behandelt werden. Bisher stand über weite Strecken in der Klimaethik die Klimagerechtigkeit im Mittelpunkt, das heißt, Verteilungsprinzipien und Handlungspflichten wurden im Hinblick auf Gerechtigkeit geprüft. In dieser Arbeit wollen wir uns allerdings von der herkömmlichen Klimaethik distanzieren und einen anderen Weg ein-schlagen. Zunächst ist die Philosophie jene Disziplin, die Fragen nach dem Was stellt, wie eben was unter der sozialen Klimakatastrophe verstanden werden kann. Aber durch sie lässt sich auch eine Grundlage für die interdisziplinäre Thematik der Analyse gewinnen. Des Weiteren stellt sie ein Instrumentarium innerhalb der Analyse selbst dar. Um die soziale Klimakatast-rophe zu verstehen, reicht es nicht aus, klimapolitische Entwicklungen wiederzugeben. Wir müssen klimatologisch-ökologische Veränderungen gesellschaftlichen Umständen gegenüber-stellen. Der daraus resultierende Komplex repräsentiert einen Prozess, der sich vom Ursprung des Klimawandels über gegenwärtige Bemühungen bis zu zukünftigen Auswirkungen erstreckt. Besonders die Ethik vermag es, Vergangenes und Gegenwärtiges im Hinblick auf Zukünftiges zu reflektieren. In dieser philosophischen Reflexion lassen sich gesellschaftliche Gegebenheiten und klimapolitische Handlungsentscheidungen unter Betrachtung von Ereignissen und Verän-derungen, die im Zuge des Klimawandels ein Risiko bzw. eine Bedrohung für die Sicherheit und die Lebensgrundlage darstellen, einordnen. Dies bedeutet, dass hier ein ethischer Ansatz ver-folgt wird, der weitaus umsichtiger ist, als dies bisher in der Klimaethik der Fall war. Klimaethi-sche Diskussionen konzentrieren sich meist auf einzelne Teilfragen. Bestimmendes Thema ist dabei die Frage nach Reduktionszielen für CO2

. Die Tragweite des Klimawandels ist allerdings weitaus größer. Handlungen und Auswirkungen müssen gesellschaftlich eingeordnet werden. Die Diskussion über Reduktionsziele deckt nur einen Teil der Klimaproblematik ab. Hierdurch verkommt der Klimawandel zu einem Emissionsproblem, das er nur teilweise ist. In dieser Ar-beit sollen hingegen die Verflechtungen innerhalb und zwischen Gesellschaften miteinbezogen werden, wodurch letztendlich sichtlich gemacht wird, worin die eigentliche Katastrophe besteht.

Den Anfang wird der obligatorische Teil einer jeden Arbeit zum Klimawandel machen, mit dem ein kurzer Überblick über die wissenschaftliche Grundlage zum Klimawandel aufgezeigt wird. Dabei liegt der Schwerpunkt auf klimatischen und ökologischen Auswirkungen. Hitze-wellen, Stürme, Überschwemmungen, Erdrutsche und Lawinen und extreme Veränderungen in Niederschlagsmustern, Dürren oder der Meeresspiegelanstieg stellen Gefahren für die mensch-liche Gesundheit, Nahrungssicherheit oder das Trinkwasserangebot dar. Das Eintreten dieser

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physischen Phänomene muss die Grundlage einer Debatte über die soziale Klimakatastrophe sein.

Das erste Kapitel (erster Teil) beginnt zunächst mit einer Einführung zur herkömmlichen Klimaethik. Aus einer exemplarischen Darstellung üblicher klimaethischer Herangehensweisen soll veranschaulicht werden, dass, wenn der Klimaethik ein Wert in der Klimadebatte zuge-schrieben werden soll, ihre Arbeit interdisziplinärer und weitsichtiger stattfinden muss, als sie bisher ausfiel. Dieser Gedanke wird im Kapitel anhand der Thematisierung des Hauptgegen-stands der internationalen Klimadebatte erfolgen, nämlich anhand der Klimapolitik und ihrer zwei Hauptthemen Mitigation (Maßnahmen zur Emissionsreduzierung) und Adaptation (An-passung an den Klimawandel). Wir wollen den Stellenwert beider Bereiche mithilfe einer kriti-schen Meinung aus der Literatur zum Klimawandel abwiegen, bevor wir die Tragweite klima-politischer Entscheidungen analysieren, unter anderem am Beispiel des Inselstaats Tuvalu im Südpazifik. Hierdurch sollen die Schwierigkeiten der Klimaschutzstrategien aufgezeigt werden. Anhand einer philosophischen Reflexion der Klimapolitik werden wir die Vielschichtigkeit der klimapolitischen Debatte sehen, inklusive jener Aspekte, die in der Klimaethik bisher überwie-gend vernachlässigt wurden.

Klimapolitik ist in erster Linie ein Resultat der Wahrnehmung und Anerkennung der Existenz des Klimawandels, und der Klimawandel ist wiederum ein Produkt der menschlichen Entwick-lung. Im Kapitel 2 wird anhand Ulrich Becks Risikogesellschaft bzw. Weltrisikogesellschaft auf diese Korrelation eingegangen. Ausgehend von der Absicht, Armut und Verteilungsungleich-heiten zu beheben, hat die Menschheit in der Vergangenheit eine Entwicklung eingeschlagen, aus der neue Gefahren resultieren. Dabei sind diese neuen Gefahren eigentlich lediglich Neben-produkte jener Entwicklung, die die Absicht hatte, der Gesellschaft ein besseres Leben zu er-möglichen. Allerdings sind diese heutzutage von solch einer Dimension, dass sie das politische Geschehen entscheidend prägen.

Nachdem das vorangegangene Kapitel im Sinne Becks ein erstes Verständnis von Risiko in Abhängigkeit von Wahrnehmung geliefert hat, wird sich Kapitel 3 zunächst weiter mit dem Ri-sikobegriff befassen. Dabei wird er anders ausgelegt, indem Bezug auf den Eintritt von klimabe-dingten Extremereignissen und vor allem der gesellschaftlichen Lage genommen wird. Hierbei stellt der Begriff der Verwundbarkeit ein entscheidender Faktor dar, aus dessen Betrachtung sich das Gebiet der nachhaltigen Entwicklung eröffnet, wodurch ebenfalls die Frage nach der menschlichen Sicherheit als übergeordnetem Entwicklungskonzept gestellt wird. Es wird sich zeigen, dass die Anfälligkeit gegenüber Extremereignissen im Zuge des Klimawandels eng mit Entwicklungsfragen verbunden ist und Entwicklung nach Amartya Sen eine Möglichkeit ist, Risiko und Verwundbarkeit zu reduzieren.

Den Abschluss des ersten Teils bildet Hannah Arendts Verständnis über Politik und Ethik. Das Zusammenleben und das Zusammenwirken von Menschen stellen in Arendts Philosophie

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entscheidende Elemente dar, um etwas bewirken zu können. Der Klimawandel existiert nicht nur für eine Person, sondern ist ein soziales wie politisches Ereignis. Die Einbeziehung von anderen Menschen in die Urteilsfindung ist nach Arendt entscheidend, um Erfolge erzielen zu können.

Mit dem Klimawandel werden soziale Ereignisse wie Katastrophen, Krisen und Konflikte in Verbindung gebracht. Im fünften Kapitel (zweiter Teil) sollen diese Begriffe etwas näher erläu-tert werden, um den Zusammenhang zwischen jenen sozialen Phänomenen und dem Klima-wandel im weiteren Verlauf zu klären. Kapitel 6 befasst sich näher mit dem Zusammenhang zwischen den Auswirkungen des Klimawandels (beispielsweise in Form von Umweltdegrada-tion) und Konflikten, die sich in einem gewaltsamen Austrag zu Katastrophen weiterentwickeln können. Dies wirft die Frage auf, welche Rolle klimatisch-ökologische Faktoren neben sozialen, ökonomischen und politischen Umständen in Konflikten einnehmen. Kapitel 7 veranschaulicht daraufhin durch drei aus Bangladesch, dem Sudan und den USA stammende Beispiele, inwie-weit natürliche Extremereignisse Einfluss auf Konflikte nehmen bzw. die Entstehung von Katas-trophen beeinflussen können.

Kapitel 8 befasst sich letztendlich mit der Entstehung einer Katastrophe an sich. Hierbei wird besonders die Soziologie zurate gezogen, einerseits die Katastrophensoziologie, anderseits die Systemtheorie Niklas Luhmanns. Es wird sich zeigen, dass aus soziologischer Sicht eine Ka-tastrophe weitaus komplexer ist, als mediale Berichterstattungen oder Schadenszahlen eines Unglücks implizieren. Die Ausführungen in diesem Kapitel reichen über die Thematiken Ver-wundbarkeit und Risiko hinaus und führen zu der Grundlage sozialer Prozesse, wodurch die Bedeutung von Kommunikation und Handlungsrationalitäten in Katastrophenzeiten entschlüs-selt werden soll (ohne klare Prognosen zu einem Katastrophenverlauf abzugeben).

In der Arbeit werden vier Kernthemen für die Erklärung einer sozialen Klimakatastrophe behandelt, die sich teils über mehrere Kapitel erstrecken: (1) die gegenwärtige Situation und Diskussion über den Klimawandel, wobei die internationale Klimapolitik und ihre Instrumen-te den Rahmen bilden; (2) die gesellschaftliche Perzeption eines gefährlichen Klimawandels; (3) warum der Klimawandel mit seinen Folgen ein Risiko und eine Sicherheitsgefährdung für den Menschen darstellen; und (4) wie es zu einer konkreten Katastrophe kommt. Um die Punkte deutlicher zu trennen, ist die Arbeit in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil befasst sich mit dem politischen und gesellschaftlichen Umgang des Klimawandels. Die gesellschaftliche Situation und Wahrnehmung gelten zunächst als Referenz für politische Entscheidungen; weiter ist die Gesellschaft Objekt, das mit klimatischen und ökologischen Veränderungen konfrontiert wird. Im zweiten Teil wird Punkt (4) grundlegend thematisiert. Aufbauend auf dem Verständnis aus Teil 1, werden Katastrophen und Konflikte näher analysiert. In Bezug auf den Klimawandel heißt dies, dass hinterfragt wird, welchen Einfluss klimatisch-ökologische Veränderungen auf gesellschaftliche Umstände bzw. Krisen nehmen.

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0 Der Klimawandel als ökologische und ethisch-politische Herausforderung: Fakten und Prognosen

Im Wesentlichen haben wir unseren momentanen Wissensstand dem IPCC ( Intergovernmental Panel on Climate Change ) zu verdanken, einem zwischenstaatlichen Ausschuss, der seit seiner Gründung durch die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) im Jahre 1988 mit seinen bislang fünf veröffentlichten Sachstands-berichten1 und weiteren Sonderberichten zur Klimaänderung nicht nur Standardreferenzwerk liefert, sondern überhaupt den vom Menschen verursachten Klimawandel darstellt. Dabei be-wertet das IPCC Informationen und Forschungen zum Klimawandel von überall auf der Welt, schätzt die Folgen des Klimawandels auf Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft ab, entwirft realis-tische Strategien zur Reaktion und fasst diese zusammen.2 Das IPCC betreibt demzufolge selbst keine eigentliche Klimaforschung. Waren die ersten Sachstandsberichte noch unsicher und mit einigen Zweifeln behaftet, gab der Bericht aus dem Jahre 2007, mit seiner Berufung auf detail-lierte und präzisere Forschungsergebnisse, Aufschluss über das veränderte Klima und räumte die von Anfang an herrschenden Zweifel an einem anthropogenen Klimawandel letztendlich beiseite. Zwar stößt man nach wie vor auf Klimaskeptiker (deren Anzahl über die Jahre immer weiter abnahm), doch ist die Aussage des IPCC und die der meisten Klimaforscher unmissver-ständlich: Der Mensch ist im Großen und Ganzen durch seine Aktivitäten für den Klimawandel verantwortlich.

Dieses Kapitel soll dazu dienen, die derzeitige Forschung mit ihren Ergebnissen und prognos-tizierten Folgen zum Klimawandel angemessen darzustellen, um somit eine ausreichende Basis vorzufinden, um politische Konzepte, ethische Überlegungen und soziologische Betrachtun-gen daran anzuschließen. Da die Arbeit pragmatisch ausgelegt ist, sollte die wissenschaftliche Grundlage zumindest in Maßen geschildert werden, geht aus ihr immerhin das Themengebiet dieser Arbeit hervor.

0.1 Der Treibhauseffekt

Das Prinzip, das sich hinter unserer mittleren Temperatur auf der Erde verbirgt, ist physikalisch gesehen recht leicht verständlich. Bekanntlich wird unser Planet von der Sonne angestrahlt. Diese Sonnenstrahlung kann nicht ewig auf der Erde verbleiben, sondern wird wieder abge-strahlt, sodass letztendlich eine einfache Energiebilanz entsteht: Die von der Erde ins All abge-strahlte Wärme gleicht die absorbierte Sonnenstrahlung der Erde im Mittel aus.3 Nun absorbiert nicht nur die Materie auf unserem Planeten Wärme. Wenn sich die Energiebilanz ausschließ-lich durch die eingestrahlte Sonnenenergie und der von der Oberfläche wieder abgestrahlten Wärmestrahlung bilden würde, das heißt, es gäbe ein gleiches Rückstreuvermögen (das Rück-streuvermögen wird auch Albedo genannt) zurück ins Weltall wie Sonneneinstrahlung einfällt, würde die Oberflächentemperatur heute im globalen Mittel etwa –18°C betragen. Dass wir solch eine Temperatur nicht vorfinden, haben wir der Atmosphäre zu verdanken. Die in ihr befind-lichen Gase Wasserdampf (H2

O), Kohlendioxid (CO2

), Ozon (O3

), Methan (CH4

) und Distick-stoffoxid (N2

O, auch Lachgas genannt) absorbieren einen kleinen Teil der Sonnenstrahlung und geben diese in Form von Wärmestrahlung wieder ab. Aufgrund ihres geringen Vorkommens innerhalb der Atmosphäre werden sie auch Spurengase genannt. Diese in Richtung Erde ab-gegebene Wärmestrahlung übertrifft die nicht absorbierte Sonnenstrahlung und bewirkt eine höhere Energieeinstrahlung. Die Folge ist, dass sich die Erdoberfläche erwärmt (und infolge verschiedener Transportvorgänge auch die untere Atmosphäre).4

Die von der Erdoberfläche wieder abgegebene Wärmestrahlung wird wiederum zum Teil von den atmosphärischen Spurengasen absorbiert und erneut zurück zur Erde gestrahlt, so-dass nur ein Teil der von der Oberfläche abgestrahlten Energie ins Weltall gelangt. Auf die Oberfläche trifft demnach Sonnenstrahlung und die von den Spurengasen (erneut) abgege-bene Wärmestrahlung, sodass ein Ungleichgewicht in der Energiebilanz entsteht, das aus-geglichen wird, indem die Erdoberfläche die erhöhte Wärmestrahlungsmenge wieder abgibt. Dieser Prozess wird Treibhauseffekt genannt; und die beteiligten Gase deshalb Treibhausgase.5Obwohl der Anteil an Treibhausgasen in der Atmosphäre neben Stickstoff (78 %), Sauerstoff (21 %) und Edelgasen weniger als 1 % ausmacht, sind jene Gase der ausschlaggebende Faktor für unser Klima.

Der Grund, dass sich unser Klima verändert und sich unsere globalen Temperaturen im Mittel erhöhen, ist auf den menschlichen Einfluss zurückzuführen. Mit seinen produzierten Emissio-nen verändert er die Zusammensetzung der Atmosphäre. Darum spricht man in diesem Zusam-menhang vom anthropogenen Treibhauseffekt. Bedenkt man, dass der Anteil der Treibhausgase in der Atmosphäre weniger als ein Prozent beträgt, sie dennoch für unser Klima verantwortlich sind, ist es eine logische Konsequenz, dass mehr Spurengase in der Atmosphäre Einfluss auf die globalen Temperaturen nehmen.

Die dem vierten Sachstandsbericht des IPCC zugrundeliegenden Messungen zeigten, in-wieweit sich die Zusammensetzung der Atmosphäre über die Jahrhunderte geändert hat. Zwar gibt es direkte und kontinuierliche Messungen der Kohlendioxidkonzentration erst seit den 1950er Jahren, doch ist es mithilfe von Eisbohrkernen möglich, Daten von mehreren Jahrtau-senden zu erfassen. Jahr für Jahr lagern sich Schichten von Schnee auf Eisgletschern ab, in-dem der dort fallende Schnee aufgrund der vorherrschenden Kälte nicht abtaut. Die saisonale Schneeschicht erstreckt sich direkt über die vorangegangene und presst aufgrund ihres Gewichts die älteren, unter ihr liegenden Schichten zu Eis. Für die Forschung ist besonders das Eis auf Grönland und der Antarktis interessant. Auf Grönland reichen die vorliegenden Jahresschichten bis zu ca. 120 000 Jahre in die Vergangenheit, in der Antarktis sogar über 800 000 Jahre zurück. An diesem Eis können eine Vielzahl von Parametern gemessen werden. Bedeutend ist dabei das Sauerstoff-Isotop 18, das sich innerhalb von Wassermolekülen befindet. Wassermoleküle mit diesem Isotop verdunsten im Vergleich zum üblichen Sauerstoff-Isotop 16 nicht ganz so schnell. Eine sogenannte Fraktionierung (die Verschiebung der Häufigkeit von Isotopen) ist temperatur-abhängig. Somit kann der Gehalt des Isotops im Eisbohrkern als ein annäherndes Maß (Proxy genannt) für ehemalige Temperaturen genommen werden.6

Andere wichtige Größen sind der im Eis gemessene Staubgehalt und die Zusammensetzung der Luft, die im Eis in kleinen Bläschen eingeschlossen ist. Mit ihnen lässt sich die damalige Zu-sammensetzung der Atmosphäre rekonstruieren und der Gehalt der Spurengase bestimmen.7 Mit weiteren sogenannten Klimaarchiven lassen sich noch zahlreiche andere Proxy-Daten ge-winnen, wie die Eismenge der Erde, Salzgehalt der Meere oder Niederschlagsmengen. Aus Tief-seesedimenten lassen sich sogar Daten gewinnen, die bis zu Hunderten von Millionen Jahren zurückreichen. Allerdings ist die zeitliche Auflösung dabei deutlich geringer als bei Eiskernen. Für die wissenschaftliche Forschung ist entscheidend, dass Ergebnisse durch zahlreiche, unab-hängige Datensätze und Verfahren bestätigt werden, damit sie belastbar sind.8 Das IPCC hat für seine Berichte zahlreiche Messungen und Daten ausgewertet und gibt auf dieser Grundlage die Ergebnisse in seinem Bericht mit einer hohen Wahrscheinlichkeit an.

Mithilfe der Analyse von Eisbohrkernen konnte herausgefunden werden, dass die atmosphä-rische Konzentration von Kohlendioxid, Methan und Lachgas seit 1750 markant zugenommen hat – ab dem Zeitpunkt, als der Mensch anfing, fossile Brennstoffe zu verbrennen. Die heutige Treibhausgaskonzentration übertrifft die Werte von vor vielen Jahrtausenden bei Weitem. Um genau zu sein, gab es solche Konzentrationen seit über 650 000 Jahren nicht mehr, also Jahr-hunderttausende bevor der Homo sapiens die Erde bevölkerte. Die Emissionen des wichtigsten anthropogenen Treibhausgases CO2 nahmen allein zwischen 1970 und 2004 um etwa 80 % zu. Der gesamte Treibhausgasausstoß um 70 %. Der Anteil des Kohlendioxids in der Atmosphäre nahm über die letzten Jahrhunderte von einem vorindustriellen Wert von etwa 280 ppm (parts per million) auf 379 ppm im Jahre 2005 zu, die globale Methankonzentration von etwa 715 ppm auf 1774 ppm und die Lachgaskonzentration stieg seit 1750 von 270 ppm auf 319 ppm. Zusätz-lich zu den natürlichen Spurengase traten die künstlich vom Menschen geschaffenen FCKW-Gase in die Atmosphäre, deren Konzentration zwar durch das internationale Verbot abnimmt, nachdem erkannt wurde, was sie für eine zerstörerische Wirkung auf die Ozonschicht haben, doch werden auch sie noch aufgrund ihrer langen Verweildauer von teils 100 Jahren das Klima mitbestimmen.9 Mittlerweile weiß man, dass sich Lachgas nicht nur stark – trotz seines relativ geringen Vorkommens – auf den Treibhauseffekt auswirkt, sondern sich zudem negativ auf die Ozonschicht. Darüber hinaus ist die Abbauzeit von N2

0 mit durchschnittlich 120 Jahren länger als die der anderen Spurengase.10

Wie sehr sich die Strahlung auf die Erde vermehrt hat, lässt sich anhand des Strahlungs-antriebs zeigen. Er gibt an, wie stark der Strahlungshaushalt durch ein oder mehrere Gase (aber auch durch Änderungen der Bewölkung oder der Sonnenaktivität) verändert wird.11Der Strahlungsantrieb wird in Watt pro Quadratmeter angegeben. Der derzeitige gesamte Strahlungsantrieb beträgt durch die Zunahme an Kohlendioxid, Methan und Lachgas +2,3 [+2,1 bis +2,5]W/m².12 Zieht man die vom Menschen erzeugten Aerosole (Schwebstoffe in der Atmosphäre, die sozusagen das Pendant zu den Treibhausgasen darstellen) und die Wolken-albedo ab, die beide einen kühlenden Effekt haben, bekommt man einen durchschnittlichen, durch menschliche Aktivitäten erzeugten Netto-Strahlungsantrieb von +1,6 [+0,6 bis +2,4]W/m².13

Abbildung 1: Globale anthropogene Treibhausgasemissionen von 1970 bis 2004. (a) Weltweite jährliche Emissionen anthropogener Treibhausgase 1970–2004. (b) Anteil unterschiedlicher anthropogener THG an den Gesamtemissionen im Jahr 2004 als CO 2

-Äquivalent (Emissionen anderer Treibhausgase als Kohlendioxid (CO 2

) werden zur besseren Vergleichbarkeit entsprechend ihrem globalen Erwärmungspotential in CO 2

-Äquivalente umgerechnet (CO 2

 = 1), (Umweltbundesamt, Eintrag zu CO 2

-Äquivalent)). (c) Anteil unterschiedlicher Sektoren an den gesamten anthropogenen THG-Emissionen im Jahr 2004 als CO 2

-Äq. (Forstwirtschaft schließt Entwaldung mit ein). Aus: IPCC 2008, S. 6, Abb. SPM. 3.

0.2 Das Klima verändert sich

Im Gegensatz zum Wetter, das sich knapp auf zwei Wochen vorhersagen lässt, betrachtet man beim Klima das gemittelte Wetter über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Dabei ist das Klima erst vorhersagbar, wenn selbst Abweichungen in den sich veränderten Randbedingungen, zum Beispiel Anomalien der Meeresoberflächentemperatur oder der Meereisausdehnung, vor-hersagbar sind. „Chaotische Systeme wie die Atmosphäre sind also unter bestimmten Bedingun-gen auch auf Zeitskalen von […] Jahren bzw. Jahrzehnten vorhersagbar. […] Bei Vorhersagen zum globalen Wandel versucht man also nicht das Wetter selbst, sondern die Statistik des Wet-ters bei Veränderungen bestimmter Randbedingungen vorherzusagen.“14 Doch im Gegensatz zu den mit heutigen Techniken ziemlich sicheren Rekonstruierungen der früheren Verhältnisse, ist der Blick in die Zukunft ungemein komplexer: „In der Klimaforschung und -modellierung soll-ten wir anerkennen, dass wir es mit einem gekoppelten, nichtlinearen, chaotischen System zu tun haben und dass deshalb Langzeitvorhersagen über zukünftige Klimazustände nicht möglich sind. Wir können höchstens erwarten, eine Vorhersage über die Wahrscheinlichkeitsverteilung der möglichen zukünftigen Stadien des Systems zu erreichen.“15 0.2.1 Steigende Temperaturen

Die Erwärmung des Klimasystems ist durch den Anstieg der Treibhauskonzentration eine logi-sche Konsequenz. Seit dem vorindustriellen Zeitalter sind die globalen Temperaturen im Mittel mittlerweile um etwas mehr als 1°C gestiegen. Von einem Verweis auf eine globale Mitteltem-peratur wird in der Regel abgesehen, da für ihre Berechnung ein lückenloses Netz an Messsta-tionen auf der Welt vorhanden sein müsste.16 Der 100-jährige lineare Trend von 1906 bis 2005 wurde auf 0,74 [0,56 bis 0.92]°C bemessen. Der lineare Erwärmungstrend seit 1956 ist dabei mit seinen 0,13 [0,10 bis 0,16]°C pro Jahrzehnt fast zweimal so groß wie derjenige über das ganze Jahrhundert hinweg.17 Laut dem Klimabericht der NOAA ( National Oceanic and Atmospheric Administration ) für 2020 steigt die globale Temperatur im Mittel pro Jahrzehnt seit 1981 gar um 0,18°C.18 Die den Berechnungen zugrunde liegenden Messwerte stammen von vielen voneinan-der unabhängigen Datensätzen von verschiedenen Wetterstationen. Dabei werden lokale Effekte wie Städte, die in der Nähe von Wetterstationen als Wärmeinseln agieren, herauskorrigiert. Eine Verfälschung der Messwerte liegt demnach nicht vor.19 Darüber hinaus werden die Datensätze aus verschiedenen Messstationen von überall auf der Welt gewonnen. Zwar gibt es immer noch Gebiete, aus denen aufgrund fehlender Wetterstationen Daten fehlen, so zum Beispiel in weni-ger entwickelten Ländern, der Trend ist trotzdem eindeutig.20

In den 4,5 Milliarden Jahren, in denen nun unsere Erde existiert, gab es auf unserem Planeten immer wieder wärmere und kältere Phasen. Auch das Steigen und Fallen von Temperaturen in der Erdgeschichte korreliert teilweise mit der Kohlendioxidkonzentration. Dabei gab es in der Klimageschichte bisher nur zwei Phasen, in denen der CO2

-Gehalt unter 1000 ppm (zur Erinnerung: im Jahre 2005 betrug er 379 ppm) betrug: in der jüngeren Klimageschichte der vergangenen Millionen Jahre und in einem früheren Zeitraum vor etwa 300 Millionen Jahre. Ansonsten war die Erde weitgehend mit ihren hohen Temperaturen und CO2

-Konzentrationen eisfrei. Vor 100 Millionen Jahren begann unsere Erde abzukühlen, bis vor zwei bis drei Millio-nen Jahre ein neues Eiszeitalter begann, in dem wir uns auch heute noch befinden. Allerdings lief die Abkühlung der letzten 100 Millionen Jahre nicht gleichmäßig und ungestört ab: Vor 55 Millionen Jahren gab es an der Grenze vom Zeitalter des Paläozäns zum Eozän einen ra-santen Temperaturanstieg ( Paleocene-Eocene Thermal Maximum , PETM) von ca. 5 bis 6°C, da eine große Menge an Kohlendioxid in die Atmosphäre gelang. Der Auslöser hierfür kann bisher nicht mit Sicherheit bestimmt werden, am Meeresgrund freigewordenes Methaneisvorkommen, Meteoriten oder vulkanischer Kohlenstoff könnten die Erwärmung verursacht haben. Klima-forscher sehen zwischen der heutigen Entwicklung und dem damaligen Temperaturmaximum vor 55 Millionen Jahren Parallelen.21 Der damalige Temperaturanstieg vollzog sich in solch einer Geschwindigkeit, dass sich die Dauer des Anstiegs mit heutigen Methoden nicht ermitteln lässt. Die Auswirkungen des PETM auf die Erde sind allerdings klar: Neben dem Temperaturanstieg von 5 bis 6°C übersäuerten die Ozeane und Arten starben massenhaft aus. Anschließend benö-tigte die Erde 20 000 Jahre, um die Mengen des freigewordenen Kohlenstoffs zu absorbieren.22

Ein natürlicher Grund von immer wiederkehrenden Eiszeiten ist in den Milankovitch-Zyklen zu finden, die heute zum größten Teil anerkannt sind. Benannt sind sie nach dem gleichnamigen serbischen Astronomen, der die Theorie aufgestellt hat, dass sich unter anderem die Erdbahn um die Sonne mit der Zeit ändert. Diese Zyklen kommen in Perioden von 100 000, 41 000 und 22 000 Jahren vor. Insgesamt hängen drei Phänomene damit zusammen: (1) verändert sich die Erdbahn innerhalb von ca. 100 000 Jahren von einer Ellipse zu fast einem Kreis und wieder zurück zu einer Ellipse; (2) mit einer Periode von ca. 41 000 Jahren ändert sich die Neigung der Erdachse (Nutation) und variiert zwischen 22 und 24,5° (heutzutage beträgt die Nutation 23,5); und (3) ist die Erde keine perfekte Kugel – aufgrund ihres „Bauchs“ am Äquator „taumelt“ sie, sodass die Erdachse einen Kreis im Raum beschreibt. Diese Periode von ca. 22 000 Jahren be-stimmt die Jahreszeit, an der die Nord- bzw. Südhalbkugel der Sonne am nächsten ist. Erstere zwei Effekte beeinflussen die solare Einstrahlung. Die Milankovitch-Zyklen sind entscheidender Impulsgeber für klimabestimmende Prozesse.23 Allerdings ist die Forschung heute noch nicht so weit, natürliche Klimaänderungen in Gänze wissenschaftlich zu bestätigen, was der Komplexität und diverser Rückkopplungseffekte unseres Klimas geschuldet ist.

Obwohl sich unsere Erde seit zwei bis drei Millionen Jahren in einer Eiszeit befindet, leben wir momentan in einer Warmphase, von der ausgegangen wird, dass diese noch sehr lange anhalten wird. Es wird angenommen, dass die nächste Eiszeit erst in 50 000 Jahren eintreten wird.24 Vor ca. 15 000 Jahren begann sich die globale Temperatur über einen Zeitraum von 5000 Jahren zu erwärmen, womit die derzeitige als Holozän bekannte Warmphase, in der wir heute leben, be-gann und nun seit 10 000 Jahren anhält. Charakteristisch für das Holozän ist das relativ stabile Klima. Dies ist ein Grund dafür, dass der Mensch seit Beginn dieser Warmphase die Landwirt-schaft entdeckte und sesshaft werden konnte. Obwohl das Holozän eher ruhig ist, gab es teil-weise über die Jahrtausende größere Veränderungen, beispielsweise wandelte sich die Sahara durch Änderungen der Monsunzirkulation von einer besiedelten Savanne zu einer Wüste; in Grönland wurde ab dem späten 14. Jahrhundert das Klima so kalt, dass sich die Wikinger ge-zwungen sahen, ihre dortigen Siedlungen zu verlassen. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die wärmeren Temperaturen des Mittelalters wieder erreicht.25

Innerhalb von Klimaepochen treten immer wieder wärmere und kältere Phasen auf. Im Ho-lozän wirken sich diese Perioden zwangsläufig auf das Leben der Menschen aus. Zwar können bestimmte historische Klimaereignisse auch heute noch nicht mit völliger Sicherheit beschrie-ben werden, doch können Wissenschaftler mit derzeitigen Methoden durchaus Erklärungen für Veränderungen liefern. Man sollte sich bewusst sein, dass bereits Temperaturschwankungen von wenigen Graden darüber entscheiden, ob es sich um eine Kalt- oder Warmphase handelt. Der Mittelwert der Temperatur hat dabei einen besonderen Charakter, da er die lokale und re-gionale Umverteilung von Wärme ausgleicht. Die „kleine Eiszeit“ im 17. und 18. Jahrhundert war letztendlich nur etwa 0,2 bis 0,6°C kälter als die Temperatur im Schnitt während des Mittel-alters.26 Der heutige Temperaturanstieg auf über 15°C ist allerdings ein Novum. Denn erstens ist die Zeit von der vorindustriellen Zeit bis heute aus klimatologischer Sicht eine sehr kurze Phase; und zweitens ist er nicht auf natürliche Umstände zurückzuführen, sondern auf menschliche Aktivitäten.

Für die kommenden Jahrzehnte ist mit einer weiteren Erwärmung zu rechnen. Selbst wenn die Konzentrationen der Treibhausgase und der Aerosole auf einem Niveau vom Jahre 2000 konstant gehalten werden würden, würde sich unser Klima dennoch um etwa 0,1°C pro Jahr-zehnt erwärmen.27 Konkretere Prognosen sind schwierig, da der Grad des Temperaturanstiegs von unserem heutigen Handeln abhängt, je nachdem welcher Weg eingeschlagen wird. Um die zukünftige Erwärmung trotzdem veranschaulichen zu können, arbeitet das IPCC mit verschie-denen Modellen. Mit unterschiedlichen Parametern und verschiedenen Prämissen, werden Zukunftsszenarien simuliert. Je nachdem welche Handlungsoptionen unter ökonomisch plau-siblen Gegebenheiten vorliegen und umgesetzt werden, werden Konsequenzen aufgezeigt. Im Grunde funktionieren die Modelle nach dem „Wenn-dann-Prinzip“: bei einem Anstieg von CO2um x, würde dies zu einer Temperaturerhöhung y führen.28

Diese SRES-Szenarien, die im IPCC-Sonderbericht ( Special Report on Emissions Scenarios , SRES) genauer beschrieben werden, zeigen, wie sich das Klima unter demographischen, wirt-schaftlichen und technologischen Wandel verändern könnte.29 Zudem wird in den Modellen von keinen potentiellen Klimaschutzmaßnahmen ausgegangen, sondern es werden lediglich die miteinberechnet, die heute bereits technologisch umsetzbar sind:

Die Bandbreite der besten Schätzungen der SRES-Szenarien von einer Temperaturveränderung bis zum Zeitraum 2090–2099, ausgehend von der Temperatur im globalen Mittel von 1980–1999, reichen von einem Anstieg von 1,8 bis 4,0°C. Der gesamte wahrscheinliche Unsicherheits-bereich aller Szenarien zusammengenommen reicht allerdings von 1,1 bis 6,4°C.31 Die momen-tane Situation und Entwicklung lässt eher eine Erwärmung im oberen als im unteren Bereich der Bandbreite bis zum Ende dieses Jahrhunderts erwarten. Ein Erwärmungstrend ist klar zu er-kennen. 2013 berichtete man, dass die Jahre 2001 bis 2012 alle zu den dreizehn wärmsten Jahren seit der Temperaturaufzeichnung 1850 gehörten.32 2017 hieß es, dass 16 der 17 wärmsten Jahre nach 2000 auftraten, die fünf wärmsten nach 2010.33 Ein klares Ende des globalen Emissions-anstiegs ist bisher nicht zu erkennen. Einige Klimaexperten sind der Meinung, dass mittlerweile eine Begrenzung der Erwärmung am Ende des Jahrhunderts auf weniger als 2°C gegenüber dem vorindustriellen Niveau nur äußerst schwer zu erreichen sei. Dafür hätten ab 2015 die Emissio-nen rapide abnehmen müssen. Unter der momentanen Entwicklung steuere man vielmehr einer durchschnittlichen Temperaturerhöhung am Ende des Jahrhunderts von 4 bis 6°C entgegen.34Laut dem IPCC müsste bis 2050 eine Netto-Null an Emissionen erreicht werden (dies bedeutet, dass bereits ausgestoßene Treibhausgase der Atmosphäre entzogen werden müssten), um den Anstieg auf unter 2°C tatsächlich begrenzen zu können.35 0.2.2 Wandel der Kryosphäre und der Ozeane

Im Einklang mit der Temperaturerhöhung stehen der Anstieg der Ozeane und die Abnahme der Kryosphäre, also jener Teil der Erde, in dem Wasser im gefrorenen Zustand vorliegt, wie bei Gletschern oder ganz allgemein Schneebedeckungen. Dabei vollzieht sich die Entwicklung in den nördlichen Polarregionen besonders schnell. Als das IPCC seinen vierten Sachstands-bericht 2007 veröffentlichte, haben die Temperaturen an der Obergrenze der arktischen Perma-frostschicht seit 1980 bereits um 3°C zugenommen. Aus Satellitendaten ist ersichtlich, dass die durchschnittliche jährliche Ausdehnung des arktischen Meereises um 2,7 [2,1 bis 3,3] % seit 1978 pro Jahrzehnt geschrumpft ist. Im Sommer ist die Abnahme mit 7,4 [5,0 bis 9,8] % pro Jahrzehnt wesentlich größer. Die Maximalausdehnung des saisonal gefrorenen Bodens hat auf der Nordhalbkugel seit 1900 um etwa 7 % abgenommen; im Frühjahr können sogar Abnahmen von bis zu 15 % auftreten. Aber nicht nur in den nördlichen Breiten ist ein Rückgang zu er-kennen, im Mittel gehen ebenso die Gebirgsgletscher und Schneebedeckungen in der südlichen Hemisphäre zurück.36

Schmelzende Gletscher und auftauende hochalpine Gebirgsregionen bergen ein gefährliches Risiko in sich. Über Jahrhunderte haben Gletschereisschichten Geröll an die Oberfläche ge-drückt. Mit dem Auftauen wird die Masse frei und lose, woraufhin die Abhänge drohen abzu-rutschen. Folglich stellt sich ein erhöhtes Risiko gegenüber Fels-, Schlamm- und Eislawinen ein.

Die Entwicklung des Auftauens von Permafrostböden, hauptsächlich in Sibirien, China und Kanada, wo ihre Dicke teilweise 1,5 km beträgt, muss besonders betrachtet werden. Der Per-mafrostboden in Westsibirien hat eine ungefähre Fläche von Deutschland und Frankreich zu-sammengenommen. In diesem Permafrostboden sind riesige Vorkommen an Methan eingefro-ren. Sollte der Permafrost auftauen, würden diese Reserven freigesetzt werden, was zu einem sprunghaften Anstieg der Methankonzentration in der Atmosphäre führen könnte. „Könnte“, da der Prozess des Auftauens chemischen Einfluss auf die in den Böden gespeicherten Reserven nimmt. Durch das Auftauen der zugefrorenen Torfmoore würde CO2 freigegeben werden. Je nachdem, wie sehr sich der Permafrost erwärmt, gibt der Torfboden mehr CO2 ab. Gelangt je-doch durch das Auftauen viel Feuchtigkeit in die Torfmoore, wird das Kohlendioxid nicht mehr in Form von CO2 freigesetzt, sondern in Form von Methan, das ein potenteres Treibhausgas dar-stellt, jedoch kürzer als CO2 in der Atmosphäre verweilt. Aufgrund der aktuellen Entwicklung wird befürchtet, dass bis zum Jahr 2100 90 % des arktischen Permafrosts bis zu einer Tiefe von 3 m abgeschmolzen sein werden.37

Abschmelzende Gebirgsgletscher und abfließendes Schmelzwasser könnten sogar seismolo-gische Auswirkungen haben. Indem das Schmelzwasser in die Meere abfließt, könnte sich das Gewicht der kontinentalen Erdplatten so sehr ändern, dass daraus eine Verschiebung der Erd-platten resultieren würde und Erdbeben auslösen könnte. Studien hierzu sind allerdings noch sehr rar und vage, sodass Erdbeben im breiten wissenschaftlichen Diskurs nicht als Konsequen-zen des Klimawandels gesehen werden.38

In ihrem Bericht zum Klima 2012, verdeutlichte die WMO, dass die Abnahme der arktischen Kryosphäre merkbar anhält. Mitte März hat das arktische Eis seine maximale Ausdehnung er-reicht. Danach fängt es an zu schmelzen bis es Mitte September sein Minimum erreicht hat. Die Messungen zum Eisrückgang stellten allesamt Negativrekorde dar. Das Maximum der Eisfläche im März 2012 war 3,4 % geringer als seine durchschnittliche Ausdehnung von 1979 bis 2000. Als es Mitte September sein jährliches Minimum erreicht hatte, lag es beispielsweise 18 % unter der Ausdehnung vom September 2007. Dies liegt wiederum 49 % unter dem durchschnittlichen Minimum aus dem Zeitraum 1979 bis 2000.39 49 % bedeuten in diesem Fall 3,3 Millionen km², was ungefähr der Fläche Indiens entspricht.40

Insgesamt ist die Fläche des arktischen Eises seit 1979 um über 20 % zurückgegangen. Nach U-Boot-Messungen beträgt die Stärke, also die Dicke des Eises, nur noch circa 60 % zu der von vor vier Jahrzehnten. Da es sich allerdings um Packeis handelt, nimmt dieses Abschmelzen keinen direkten Einfluss auf einen Anstieg des Meeresspiegels. Das Eis schwimmt bereits im Meerwasser und verdrängt somit ein entsprechendes Wasservolumen. Das Schmelzen des arkti-schen Packeises trägt jedoch anderweitig zur globalen Erwärmung bei: Wie bereits erwähnt, ist die Erwärmung der arktischen Oberfläche im Vergleich zum globalen Mittel besonders hoch, was an der hellen Oberfläche liegt. Das Eis reflektiert bis zu 90 % des einfallenden Sonnenlichts. Die hohe Albedo sorgt dafür, dass nicht viel Energie vor Ort gespeichert wird. Sollte sich das Eis weiter zurückziehen, würde mehr Wasser freiliegen. Wasser absorbiert aufgrund seines geringe-ren Rückstrahlvermögens mehr Wärme im Vergleich zu seinem gefrorenen Zustand. Die Folge wäre eine zusätzliche Erwärmung der Erde.41 Laut dem Klimaforscher Mojib Latif könnte dies Rückkopplungseffekte von solchen Ausmaßen nach sich ziehen, dass die Arktis bis Ende dieses Jahrhunderts im Sommer komplett eisfrei sein könnte.42

Veränderungen in der Antarktis sind durch die riesige zusammenhängende Eismasse unge-mein schwerer zu erkennen als in der Arktis. Dennoch lässt sich sagen, dass sich der Klima-wandel am Südpol bisher weniger dramatisch auswirkt als am Nordpol. Das Meereis reagiert hier weniger sensitiv auf den menschlichen Einfluss, da infolge relativ starker vertikaler Ver-mischungsprozesse im südlichen Ozean die anthropogene Erwärmung geringer ausfällt.43 Ein Abschmelzen des antarktischen Eisschildes hätte im Gegensatz zur Arktis eine unmittelbare Erhöhung des Meeresspiegels zur Folge, da sich hier die Eismassen, die sich im Laufe von Jahr-tausenden durch die Akkumulation von Schnee gebildet haben, zum größten Teil über Fest-land erstrecken. Die Antarktis ist im Gegensatz zum Nordpol ein zugefrorener Kontinent (Ant-arktika) und kein zugefrorener Ozean. 99,7 % der Oberfläche sind mit Eis bedeckt, mit einer durchschnittlichen Dicke von 2 km.44 Über das Festland hinaus ist Schelfeis mit dem Eisschild verbunden, das sich durch den Massenfluss des Inlandeises an den Rand der Eismassen gebil-det hat und nun über dem Meere schwimmt, ähnlich wie beim arktischen Packeis. Würde das komplette antarktische Eisschild abschmelzen, hätte dies einen Meeresspiegelanstieg von um die 60 m zur Folge.45

Basierend auf Daten verschiedener Satellitenmessungen der letzten Jahrzehnte lässt sich sogar eine Zunahme des antarktischen Eisschildes im Osten erkennen. Grund hierfür ist eine lokale Zunahme des Niederschlags. Beim Westantartkischen Eisschild (WAES) spielt sich hingegen eine andere Veränderung ab. Dort haben die Abflüsse aus dem Inneren des Eisschildes gen Ozean an Fließgeschwindigkeit zugenommen. Im Südosten des WAES können die Ströme das Ross-Eisschelf nicht mehr entsprechend versorgen, sodass seine Andickung abnimmt. In der Peninsula-Region, die nördlich des WAES liegt und sich Richtung Südamerika erstreckt, lässt sich eine ansteigende Oberflächentemperatur messen. 87 % der 244 dortigen Gletscher haben seit den 1960ern an Masse verloren. Der Trend setzt sich immer mehr in das Landesinnere zum WAES hinein fort. Insgesamt setzt sich der Massenverlust der Gebiete rund um das WAES fort, was zu einer Destabilisierung des Eisschildes führt. Galt die Antarktis früher als schlummernder Riese, sprechen Forscher nun von seinem Erwachen.46

Ein Ereignis im Februar 2002 zeigte, dass die Antarktis nicht vom Klimawandel verschont bleibt: Das Eisschelf Larsen B brach mit einer Größe von 3250 km² – das damit größer als Lu-xemburg ist – innerhalb weniger Wochen in unzählige Stücke auseinander. Bis dahin war es über 10 000 Jahre stabil. Da es sich um Schelfeis handelte, hatte der Zusammenbruch keinen direkten Einfluss auf den Meeresspiegelanstieg. Allerdings beschleunigten sich durch den Bruch die Eisströme des Kontinentaleies, die zuvor hinter dem Eisschelf lagen. Schnellere Eisströme bewirken ein stärkeres Schmelzen der im Inland gelegenen Gletscher. Gelangt aus dem Inland kommendes Schmelzwasser in die Ozeane, trägt es zum Anstieg des Meeresspiegels bei. Beim Fall von Larsen B stieg die Geschwindigkeit der Ströme um das bis zu achtfache.47

Nach dem Zusammenbruch von Larsen B ergaben Satellitendaten, dass das Eisschelf so-wohl durch die Erwärmung der Atmosphäre als auch des Ozeans kontinuierlich an der Ober- und Unterseite abgeschmolzen war (das Tiefenwasser des Weddellmeeres, das das Eisschilf umgab, erwärmte sich seit 1973 um 0,32°C), bis es so dünn wurde, dass es auseinanderbrach. Aufgrund der Zunahme der Abflussgeschwindigkeit der Gletscher und der Erwärmung des Ozeanwassers um das WAES, wurde ein Prozess in Gang gesetzt, der die Packeisschichten allmählich vom Meeresboden löst bzw. von unten her abtaut und das Eisschild zunehmend destabilisiert.48 Grundsätzlich ist das Abbrechen von Eisbergen (Kalben) um die Antark-tis nichts Außergewöhnliches. Doch zeigen die Dimension, wie verwundbar die Antarktis mittlerweile ist. Im Juli 2017 wurde vom nächsten großen Bruch berichtet. Vom Eisschelf Larsen C löste sich eine eine Billion Tonnen schwere Eisfläche (5800 km²) und reduzierte das Eisschelf um mehr als 12 %. Der abgebrochene Eisberg zählt als einer der größten je be-obachteten.49

Nach der Antarktis ist das Grönländische Eisschild das zweite Eisschild unserer Erde. Auf-grund von zentralen Schneefällen nimmt es an Dicke zu, an den Rändern schmilzt es hingegen. Unter normalen Bedingungen würden diese Vorgänge im Einklang stehen. Unter der Annah-me, dass sich die Erde zwischen 1,9 und 4,6°C erwärmt, fände am Grönländischen Eisschild ein Temperaturanstieg von 2,7°C statt – der lokal höher ausfallen könnte50 –, wodurch das Ab-schmelzen die Akkumulation des Eises voraussichtlich überwiegen würde. Dies hätte praktisch ein komplettes Abschmelzen des Grönlandeises zur Folge, das sich über Jahrtausende vollziehen würde. Dies ließe den Meeresspiegel um 7 m ansteigen. Es ist ungewiss, ob sich das Eisschild nach Stabilisierung und allmählicher Reduzierung der Treibhausgase jemals wiederbilden könnte.51 Ebenso wie in der Arktis, wurde auch am Grönländischen Eisschild über die letzten Jahre eine Zunahme dynamischer Prozesse festgestellt. Die Fließgeschwindigkeit des Eises hat zugenommen, folglich findet ein rascheres Abschmelzen statt.52

Bisher wird angenommen, dass 15 % des Meeresspiegelanstiegs auf die Verluste polarer Eis-schilder zurückzuführen sind. Schmelzende Gletscher und Eiskappen trugen 28 % bei. Die rest-lichen 57 % sind auf die thermische Ausdehnung zurückzuführen (wärmeres Wasser nimmt mehr Volumen ein). Von 1961 bis 2003 hat sich der Meeresspiegel um durchschnittlich 1,8 [1,3 bis 2,3] mm pro Jahr erhöht. Zwischen 1993 und 2003 etwa durchschnittlich 3,1 [2,4 bis 3,8] mm per annum.53 Der gesamte Anstieg seit 1870 wird auf rund 20 cm geschätzt. Laut geologischen Daten und historischen Quellen war der Meeresspiegel die Jahrtausende zuvor nahezu stabil.54Da die Eisschilde schneller auf die globale Erwärmung reagieren als angenommen, ist anzu-nehmen, dass der Meeresspiegelanstieg durch größere Mengen an Schmelzwasser deutlich zu-nehmen wird. In aktuellen Modellen ist das stärkere Abschmelzen der Eisschilde noch nicht mitberücksichtigt, wodurch der Anstieg eher unterschätzt als überschätzt wird. Darüber hinaus beinhalten die Rechnungen keine dynamischen Veränderungen. Der im Jahre 2001 dritte ver-öffentlichte Sachstandsbericht des IPCC gab einen prognostizierten Meeresspiegelanstieg zwi-schen 9 und 88 cm bis 2100 an. Aktuelle Entwicklungen lassen nun vermuten, dass der Anstieg eher dem oberen Rand der Spanne entsprechen könnte.

Obwohl der Anstieg der Meere mit der globalen Erwärmung zusammenhängt, reagieren die Weltmeere äußerst träge und zeitversetzt auf die Entwicklung des Temperatur- und atmo-sphärischen Kohlenstoffanstiegs. Könnte der Strahlungsantrieb bis zum Ende dieses Jahrhun-derts stabilisiert werden, würde sich die thermische Ausdehnung der Meere bis 2300 um 0,3 bis 0,8 m fortsetzen. Aufgrund der langen Verweildauer der Gase in der Atmosphäre würden sich zudem bis 2200 die Meerestemperaturen noch um 0,5°C erhöhen. Grund für die Zeit-verzögerung ist der ozeanische Wärmetransport in die Tiefen des Ozeans, der sich über Jahr-hunderte zieht.55

Das Verhalten der Ozeane auf den Klimawandel stellt nach wie vor eine unbekannte Grö-ße in den Modellen dar, was ein Problem hinsichtlich der Genauigkeit ist, da die ozeanische Entwicklung eine bedeutende Rolle im Klimawandel einnimmt. Hierfür schauen wir uns die Massenschichtung in den Ozeanen etwas genauer an. Die oberflächennahen Schichten der Ozeane reagieren unmittelbar in Zeiträumen von Wochen bis Monaten auf veränderliche at-mosphärische Wind-, Strahlungs- und Niederschlagsfelder. Diese Veränderungen erzeugen Schwankungen in den Strömungs- und Schichtungsfelder. In der Tiefsee vollziehen sich hin-gegen solche Änderungen über Jahrzehnte bis Jahrhunderte, da gewaltige Wassermassen daran beteiligt sind. Meeresschichten weisen unterschiedliche Dichten auf, abhängig von Tempera-tur und Salzgehalt. Natürliche Erwärmung, Niederschlag und Verdunstung beeinflussen dar-über hinaus die Dichte der oberen Schicht. Trotz der unterschiedlichen Dichten zwischen den Schichten, findet ein vertikaler Wassermassenaustausch statt. Normalerweise steigt warmes Wasser aus den Tiefen auf, gibt dabei seinen Wärmegehalt an die Atmosphäre ab, nimmt at-mosphärische Gase auf und sinkt nach seiner Abkühlung wieder ab. Dieser Prozess wird Kon-vektion genannt.56 Klimatische Veränderungen und eine Verdünnung des Meerwassers durch Süßwasser, das durch Gletscherschmelzen in die Ozeane gelangt, könnten in Zukunft den Was-sermassenaustausch erschweren, da sich die oberen Wasserschichten zunehmend stärker von den unteren unterscheiden.

Solch eine Entwicklung hätte schwerwiegende Auswirkungen auf die thermohaline Zirkula-tion. Die thermohaline Zirkulation beschreibt das Absinken kalter Wassermassen in den nörd-lichen Breiten des Atlantiks. Nach dem Absinken der kalten Wassermassen strömen diese in großen Tiefen Richtung Äquator. Im südlicheren Atlantik geschieht hingegen der umgekehrte Vorgang, das heißt, warmes Wasser steigt an die Oberfläche und fließt Richtung Norden. Bei dieser Umwälzung werden Energien frei, die dem gesamten Energiebedarf der Menschheit ent-sprechen. Europa verdankt unter anderem der thermohalinen Zirkulation sein mildes Klima. Die erwähnten Änderungen der Dichten in den ozeanischen Sichten aufgrund thermischer Ausdehnung und Verdünnung durch Süßwasser wirken sich negativ auf die Zirkulation aus. So-wohl der Temperaturanstieg als auch der Rückgang des Salzgehalts könnten die Durchmischung so stark schwächen, dass die thermohaline Zirkulation im Atlantik zum Versiegen kommen könnte. Dies wird zwar nicht in diesem Jahrhundert passieren, allerdings, sofern der Klimawan-del nicht ausgebremst wird, wird ein völliges Versiegen des Wärmestroms auf eine Wahrschein-lichkeit von über 50 % angesetzt.57 Dies hätte eine relative Abkühlung im Nordatlantikraum um mehrere Grad zur Folge. „Relativ“, da die Änderungen der Temperaturen durch die globale Er-wärmung nicht berücksichtigt sind. Die Südhalbkugel würde sich hingegen erwärmen. Ebenso würde der Nordatlantik allein durch die Änderung der Strömungssituation praktisch ohne Ver-zögerung um bis zu einem Meter ansteigen. Ohne diesen vertikalen Wasseraustausch würde sich die Tiefsee schneller erwärmen, was auf langer Sicht einen weiteren Anstieg um einen halben Meter bedeuten würde.58 Allerdings sind auch hier mehr Modelle und Simulationen nötig, um präzisere und aussagekräftigere Angaben zu tätigen.

In Verbindung mit dem Klima stellen die Ozeane einen weiteren wichtigen Faktor dar: Sie sind der größte Kohlenstoffspeicher unserer Erde. Gegenwärtig sind in den Weltmeeren etwa fünfzigmal mehr an CO2 gespeichert als in der Atmosphäre. Jährlich nehmen sie rund 2 Gi-gatonnen an Kohlenstoff auf, was etwa 30 % der anthropogenen CO2

-Emissionen entspricht. Damit haben sie nicht nur eine Speicherfunktion, sondern dienen auch als Senke, denn durch das Absorbieren der Emissionen verhindern sie, dass ein großer Teil in die Atmosphäre gelangt. Nachdem die Ozeane durch die oberen Wasserschichten CO2 aufgenommen haben, werden die Gase durch den beschriebenen Wassermassenaustausch über Jahrzehnte in die Tiefsee gemischt. In den Ozeanen wird das aufgenommene CO2 chemisch aktiv, dies bedeutet, das im Wasser gelöste Kohlendioxid reduziert den pH-Wert der Meere. In der Tiefsee findet eine langsame Auflösung kalkhaltiger Sedimente statt, womit der Versauerung entgegenwirkt wird, sodass der pH-Wert der Meere annähernd konstant bleibt. Durch die drastisch gestiegenen anthropogenen Emissionen nehmen die Ozeane allerdings mehr auf als sie vertragen. Die Folge ist ein seit 1800 allmählich sinkender pH-Wert, also eine Versauerung der Meere. Anthropogene Treibhausgase lagern sich tausendmal schneller in die Meere ein, als dies auf natürliche Art und Weise ge-schieht. Die Ozeane kommen mit dem CO2

-Abbau nicht mehr hinterher. Eine weitere Erwär-mung der Meeresoberfläche wirkt sich zudem nachteilig auf die Aufnahmefähigkeit der Ozeane für Kohlenstoff aus. Zudem bremst die schwerer werdende Vermischung der Wasserschichten den CO2

-Abbau. Werden durch diese Versauerung biologische Prozesse gestört, könnte sich die Senkenfunktion der Ozeane weiter verschlechtern. Die Störung biologischer Prozesse hätte zudem negative Auswirkungen auf marine Ökosysteme, wie Veränderungen bei Meeresorganis-men oder schwindende Fischbestände.59

Häufiger auftretende Wetterextreme werden als jene Auswirkungen des Klimawandels angese-hen, die ihn am deutlichsten spürbar machen. Heiße Tage und Nächte wurden in den letzten Jahren immer häufiger, wohingegen kalte Tage und Nächte und Frost über den meisten Land-gebieten weniger häufig auftraten. Auch die Anzahl der Hitzewellen nahm zu, hauptsächlich in Gebieten, in denen bereits ein wärmeres Klima vorherrscht. Die Folge ist eine Zunahme der hitzebedingten Sterblichkeit. Allein der Hitzesommer in Europa 2003 hat zwischen 20 000 und 30 000 Menschenleben gefordert.60

Ein Anstieg von Starkniederschlägen und damit zusammenhängenden hohen Wasserspiegeln wurden ebenso weltweit gemessen. In Deutschland gab es in den letzten zwei Jahrzehnten mit der Oderflut 1997, der Elbflut 2002 und der Donauflut 2013 nicht nur drei Ereignisse mit Re-kordpegelständen, sondern auch mit Rekordschäden. Ein wärmeres Klima begünstigt ein häufi-geres Aufkommen hydrologischer (Überschwemmungen) und klimatologischer Wetterextreme (Dürren, Waldbrände). Für jedes Grad Erwärmung enthält die Luft 7 % mehr Wasserdampf. Hierdurch steigt die Wahrscheinlichkeit an Starkregen, da warme Luft mit mehr Feuchtigkeit gesättigt ist. Ebenso steigt durch die Erwärmung die Verdunstungsrate, sodass bei mittleren konstanten Niederschlägen die Bodenfeuchte schneller verloren geht, sodass das Risiko gegen-über Dürren zunimmt.61 In Europa hat besonders die Iberische Halbinsel mit zunehmender Trockenheit zu kämpfen. Neben Dürren steigt zudem auch das Risiko gegenüber Waldbränden. Weltweit lässt sich ein stärkeres Auftreten von Dürreperioden in äußerst trockenen Gebieten er-kennen. Da in solchen Regionen zunehmende Trockenheit meist mit unberechenbareren Regen und Starkniederschlägen einhergeht, erhöht sich zusätzlich das Risiko gegenüber Überflutun-gen, da die Erde so stark ausgetrocknet ist, dass Wasser in großen Mengen nicht aufgenommen werden kann.62

Allerdings wäre es falsch, das Auftreten von Wetterextremen allein dem Klimawandel zuzu-schreiben. Wetterextreme gab es schon immer, sind in der Regel allerdings ein eher selteneres Phänomen. Der Klimawandel beeinflusst jedoch das Austreten von Wetterextremen hin zu häu-figeren und intensiveren Ereignissen. Veranschaulicht wird diese Entwicklung gerne mit einem gezinkten Würfel. Dabei steht das Zinken darin, dass der Mensch durch den erhöhten Ausstoß klimapotenter Gase die Temperaturen auf den Planeten erhöht, was zu mehr Wetterextremen führt, ebenso wie der Würfel mehr Sechsen hervorbringt. Wetterextreme gab es schon zuvor, genauso wie der Würfel bereits vor dem Zinken Sechsen gewürfelt hat. Statistisch lässt sich fest-halten, dass die extremen Ereignisse, die es zuvor schon gab, nun öfter eintreten. Andere Ereig-nisse treten jedoch weiterhin ein, so wie der gezinkte Würfel auch weiterhin noch andere Zahlen außer der Sechs würfelt.63

Ein Wetterphänomen, das oftmals mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht wird, ist das häufigere und intensivere Auftreten von Hurrikans. Hurrikans sind an den Küstengebieten Amerikas auftretende Wirbelstürme mit einer Windgeschwindigkeit von mind. 120 km/h (im Nordwestpazifik werden sie Taifune genannt, im indischen Ozean und südlichem Pazifik wie-derum Zyklone). Allerdings geht die Wissenschaft davon aus, dass das Auftreten von Hurrikans einem natürlichen Zyklus mit unterschiedlich langen Intervallen unterliegt, das heißt, dass sie in bestimmten Zeiten statistisch mal mehr, mal weniger häufig vorkommen. Auch wenn dieses Intervall nicht absolut bestimmt werden kann, sind seit den 1990er Jahren permanente Schwan-kungen in ihrem Auftreten zu erkennen. Folglich scheint das numerische Auftreten der tropi-schen Wirbelstürme im amerikanischen Atlantik nicht mit dem Klimawandel zusammenzu-hängen. Seit einigen Jahren unterliegt das jährliche Auftreten aber nicht länger einer normalen Durchschnittszahl, die diesen Zyklus bestätigen würde. Das System ist chaotischer geworden, ist nicht mehr so stabil wie früher und unterliegt starken Schwankungen; die Tendenz geht zu extremeren Jahren.64 Die Wissenschaft hat die komplexe Systematik hinter dem Auftreten von Hurrikans noch nicht entschlüsselt und kann daher nicht mit Sicherheit sagen, inwieweit das verstärkte Aufkommen der tropischen Wirbelstürme mit einem Anstieg der Treibhausgaskon-zentration zusammenhängt. Es mehren sich allerdings die Hinweise, dass es eine Korrelation zwischen Häufigkeit und Klimawandel gibt.65

Eindeutiger ist hingegen der Zusammenhang zwischen der Zunahme an Intensität der tropi-schen Wirbelstürme und dem Klimawandel. Entscheidender Faktor spielt dabei die Erwärmung der Meeresoberfläche. Die Wassertemperaturen der tropischen Ozeane haben in den vergan-genen 50 Jahren um 0,5°C zugenommen. Dadurch hat sich die Energiezunahme der Wirbel-stürme um etwa 70 % erhöht.66 Zusätzlich wirkt die Verschiebung der Tropopause (die zwischen Troposphäre und Stratosphäre liegende Übergangsschicht) auf die Entwicklung ein. Diese hat sich nach oben in Richtung Stratosphäre verschoben, sodass die Troposphäre – die unterste Schicht in der Atmosphäre – größer geworden ist. Die größer gewordene Troposphäre wärmt sich in Folge eines verstärkten Treibhausgasausstoßes auf, wodurch mehr Wasserdampf konden-siert und tropischen Stürmen mehr Energie zugeführt wird.67 In Verbindung mit einem anwach-senden Meeresspiegel können zudem intensivere Stürme mehr Wasser mit sich führen, sodass Sturmfluten und Überschwemmungen in Zukunft noch verheerender ausfallen könnten. Diese Entwicklung ist besonders im westlichen Atlantik zu erkennen. In anderen Gebieten lassen sich bisher weniger deutlich solche Muster erkennen.

0.3 Folgen für Ökosysteme

Der Klimawandel wirkt sich nachhaltig auf die weltweiten Ökosysteme aus. Ökosysteme re-agieren nicht alle gleich auf klimatische Veränderungen, doch reagieren sie alle meist äußerst sensibel. Es ist zweifelhaft, ob all die verschiedenen Ökosysteme, so wie wir sie kennen, sich ausreichend schnell an die klimatischen Veränderungen anpassen können. Ansonsten könnte mit großen Einschnitten in die Biodiversität zu rechnen sein. Manch einer befürchtet gar ein annäherndes Artenaussterben wie beim oben erwähnten PETM vor 55 Millionen Jahren.68

In den letzten Jahrzehnten wurde in der Antarktis ein starker Rückgang des Krillvorkom-mens entdeckt. Die zentimeterkleinen Leuchtgarnelen stellen einen der wichtigsten Bestand-teile des antarktischen Ökosystems dar. Zwischen dem Salzwasser und dem schwimmenden Eis, am halb gefrorenen Saum, wachsen große Mengen an mikroskopisch kleinem Plankton, das den Krill ernährt. Mit dem Rückgang des antarktischen Eises gehen die Mengen an Plankton und folglich auch die Krillbestände zurück. Aufzeichnungen verweisen auf einen Rückgang der Bestände um 40 % pro Jahrzehnt. Salpen kommen hingegen besser mit den Veränderungen zurecht. Diese Spezies war zuvor in nördlicheren Gewässern beheimatet. Sie besitzen äußerst bescheidene Ernährungsbedürfnisse und benötigen keine große Planktondichte zum Überle-ben. Auch aufgrund des wärmer werdenden Gewässers in der nordwestlichen Antarktis haben sie sich vermehrt. Allerdings sind sie so nährstoffarm, dass sich kein größeres Lebewesen von ihnen ernähren kann. Damit ist die Nahrungskette des Südpolarmeers gefährdet, weil es keine andere Spezies gibt, die den Rückgang des Krills ersetzt. Krill ist die Hauptnahrung für diverse maritime Lebensarten wie Fische, Wale, Pinguine, Robben oder auch Albatrosse.69 Pinguine wie Kaiserpinguine haben sowohl Krill als auch Fisch, der sich vom Krill ernährt, auf ihrem Speise-plan. Der Krillrückgang wirkt sich unmittelbar auf ihren Bestand aus. Ihre Population war um das Jahr 2000 nur noch halb so groß wie dreißig Jahre zuvor. Die Zahl der Adeliepinguine ist sogar bereits um 70 % zurückgegangen.70

Die für die Antarktis 24 zuständigen Staaten und die EU haben sich Ende Oktober 2016 auf eine antarktische Schutzzone geeinigt. Die seit dem Jahre 2012 geführten Verhandlungen waren zuvor erfolglos, da Russland Nachteile für seine Fischerflotte sah. Nun soll in den kommenden 35 Jahren auf einer Fläche von 1,55 Millionen Quadratkilometern im Rossmeer Fischfang ver-boten sein. Damit ist es das größte Meeresschutzgebiet der Erde. Das Ökosystem im antarkti-schen Rossmeer ist einmalig aufgrund seiner Ursprünglichkeit. Viele Wissenschaftler sehen es als das letzte intakte marine Ökosystem an. Daher gilt es als perfektes Gebiet, um zu erforschen, wie der Klimawandel unseren Planeten beeinflusst, was ebenfalls Veränderungen im Artenauf-kommen umfasst, wie der Krillbestand.71

Korallenriffe gehören zu den schönsten und farbenreichsten Orten unserer Natur. Der An-stieg der Meerestemperaturen, die Versauerung der Ozeane und eine stärkere Sonneneinstrah-lung versetzen die Riffe jedoch seit einiger Zeit unter vermehrten Stress, mit der Folge, dass sie ausbleichen. Das Ausbleichen resultiert aus ungleichen Verbindungen aufgrund veränderter Bedingungen. Polypen, die in etwa der Seeanemone ähneln, gehen mit Zooxanthellen, einem bestimmten Algentyp, eine Symbiose ein. Der Korallenpolyp bietet den Algen ein Heim sowie Nährstoffe an, wohingegen die Zooxanthellen den Polypen mit durch Fotosynthese gewonnener Energie versorgen. Höhere Wassertemperaturen und ein zu hoher CO2

-Gehalt wirken sich ne-gativ auf das Gleichgewicht des Austausches aus, wodurch die Verbindung gebrochen wird und die Riffe ausbleichen.72 Sobald sich die Meeresoberfläche etwa 1°C über dem saisonalen Maxi-mum erwärmt, setzt das Ausbleichen ein. Vor 1979 war solch ein Ausbleichen weitestgehend unbekannt. Dennoch ist es den Korallen möglich, sich zu regenerieren, sofern die Erwärmung bei etwa einem Grad bleibt. Stehen die Korallen dauerhaft unter Stress, wenn das Ausbleichen also von anhaltender Dauer ist, weil die Oberflächentemperatur des Meeres auf über 2°C an-steigt, sterben die Korallen aus.73 Bereits heute ist rund die Hälfte der weltweiten Korallenriffe verschwunden.74 Bisher kann nicht beantwortet werden, wie häufig sich Korallenriffe regenerie-ren und sich neuen Bedingungen anpassen können. Es wird befürchtet, dass ihre Anpassungs-fähigkeit nicht mit der Erwärmung und Versauerung Schritt halten kann. Das Great Barrier Reef vor der Nordostküste Australiens, das größtes Riff in unseren Ozeanen, erlitt herbe, bleibende Schäden, als es in den Sommern von 1998 und 2002 einer enormen Bleiche unterlag. 42 bzw. 54 % des Riffes waren vom Ausbleichen betroffen und konnte sich davon nicht vollkommen erholen.75

El Niño und La Niña sind zwei weitere Phänomene, die erhebliche Auswirkungen auf Öko-systeme haben, gar in einem globalen Ausmaß. Sie treten im Mittel alle vier Jahre auf. Wäh-rend einer El-Niño-Phase erwärmt sich das Wasser vor der Westküste Südamerikas um mehrere Grad. Die Phase hängt mit der südlichen Oszillation zusammen, die eine Art Druckschaukel zwischen dem südostasiatischen Tiefdruckgebiet und dem südostpazifischen Hochdruckgebiet darstellt, und den damit einhergehenden Passatwinden im äquatorialen Bereich des Pazifiks. Im Fachterminus wird daher auch von der El Niño Southern Oscillation (ENSO) gesprochen. Unter normalen Umständen quillt im östlichen Pazifik vor der Küste Südamerikas entlang des Äquators unter dem Einfluss der Passatwinde kaltes Wasser an die Meeresoberfläche. Während einer El-Niño-Phase steigt allerdings der Luftdruck über dem westlichen Pazifik und sinkt über dem östlichen Pazifik, wodurch die Passatwinde zum Erliegen kommen und der Aufstieg kalten Wassers reduziert wird. Dadurch steigen die Temperaturen im Ostpazifik um mehrere Grad an. Nach einer El-Niño-Phase tritt eine La-Niña-Phase ein, unter der warme Wassermassen des Ostpazifiks nach Westen strömen und große Temperaturgegensätze entstehen. Die Passatwinde treten wieder ein und erlangen eine über einen längeren Zeitraum anhaltende Stärke.76

El Niño sowie La Niña sind zwei natürliche Ereignisse, allerdings wird angenommen, dass es eine Hebelwirkung durch den Klimawandel gibt, da steigende Luft- und Meerestemperaturen beiden Phasen mehr Energie zuführen und die Auswirkungen extremer ausfallen. Fällt El Niño besonders stark aus, kann dies Auswirkungen auf den größten Teil des Erdballs haben. Folgen können sintflutartige Niederschläge im Osten Südamerikas, Dürren und damit zusammenhän-gende Waldbrände in Südostasien oder Klimaanomalien in Afrika, Nordamerika und sogar in Europa sein.

Kaum ein Ökosystem wird mit dem Klimawandel so in Verbindung gebracht wie das der tropischen Wälder im Amazonasgebiet, im Kongo und in Indonesien. Tropische Wälder gel-ten nach den Ozeanen als die größte natürliche Senke für Kohlenstoffdioxid. Ihr Charakter als zweitgrößte Senke bleibt allerdings nur bestehen, solange durch eine entsprechende Größe der Wälder ihre Aufnahmekapazität gewahrt wird – ansonsten mutieren sie zu einer CO2

-Quel-le. Intakte Wälder nehmen durch die Photosynthese mehr Kohlenstoff auf, als sie durch ihr Ausatmen abgegeben. Hierdurch haben tropische Wälder bisher entscheidend dazu beigetra-gen, dass weniger Treibhausgase als produziert in die Atmosphäre gelangen. Landnutzungsän-derungen, Abholzungen sowie Waldbrände gefährden das Senkenpotential tropischer Wälder. Allein durch globale Landnutzungsänderungen wurden zwischen 1750 und 2000 schätzungs-weise 463 Milliarden Tonnen an Kohlenstoff (Pg C) freigesetzt. Von den insgesamt 463 gerie-ten allerdings nur 174 Pg C in die Atmosphäre. Der Rest wird unter anderem in den Ozeanen und in terrestrischen Ökosystemen gespeichert.77 Klimatische Veränderungen und menschliche Einwirkungen verschlechtern zunehmend die Absorptions-Bilanz. Während der Phase der El Niño Southern Oscillation in den Jahren 1997 bis 1998, brannten 20 Millionen Hektar an tropi-schem Regenwald. Rund 3 Pg C gelangten daraufhin in die Atmosphäre. Neben Waldbränden und veränderter Landnutzung stellen Änderungen im Wasserkreislauf einen weiteren kritischen Aspekt dar. Im Zuge veränderter Niederschlagsmuster könnte in den Tropen ein kritischer Grenzwert an Wasserverfügbarkeit unterschritten werden, was ein Fortbestehen der Wälder gefährden würde. Tropische Wälder könnten daraufhin austrocknen und sich immer mehr zu Savannen entwickeln.78 In den letzten Jahren hat sich bei langanhaltenden Dürreperioden die Wahrscheinlichkeit für Flächenbrände nicht nur erhöht, sondern es stellte sich heraus, dass ab einem bestimmten Zeitraum der Wald sich von einer Dürre nicht mehr erholen kann und ab-stirbt. Durch Austrocknung und immer häufiger werdende Waldbrände könnte das Amazonas-gebiet zum CO2

-Produzenten werden, dies bedeutet, dass durch Waldbrände mehr Emissionen in die Luft gelangen, als durch den nachwachsenden Wald absorbiert werden. Dabei resultiert die steigende Trockenheit im Amazonasgebiet vor allem aus den steigenden Temperauren im tropischen Atlantik.79

Ähnlich wie Meere können auch Wälder im Zuge von wachsenden CO2

-Mengen versauern. Die Folge ist eine beschränkte Aufnahme und Verarbeitung des Gases sowie die Abgabe des aufgenommenen Treibhausgases über Flüsse. Letztendlich lässt dies die Konzentration in den Meeren zusätzlich ansteigen. Sollten die tropischen Regenwälder aufgrund von Übersäuerung und Erwärmung ihren Senkenmechanismus verlieren und kollabieren, würde der Treibhausgas-anstieg exponentiell nach oben springen.

Bevor wir zu den Folgen des Klimawandels für den Menschen kommen, wollen wir noch den direkten Einfluss von Temperaturanstieg und Wetterextremen auf die Tier- und Pflanzen-welt betrachten. Etwa 80 % aller global beobachteten Veränderungen bei Spezies wird auf den Klimawandel zurückgeführt.80 Es ist sehr sicher, dass eine Erwärmung von ein bis zwei Grad große Auswirkungen auf die Biodiversität haben wird. Neben Änderungen in der Reproduktion, nehmen steigende Temperaturen Einfluss auf das Wanderverhalten von Arten. Der Klimawan-del zwingt Arten in Lebensräume zu migrieren, in denen für sie noch geeignete Bedingungen herrschen.81 Aufgrund des Temperaturanstiegs flüchten seit Jahren in Gebirgen beheimatete Tier- und Pflanzenarten in höhergelegene Gebiete, sofern dies möglich ist. In Australien durch-geführte Studien ergaben, dass in Gebirgsregionen (höher als 600 m) eine Erwärmung von 1°C einen Artenverlust von 40 % zur Folge hat. Bei einer Erwärmung von 3,5°C wird der Verlust auf 90 % prognostiziert. Arten reagieren unterschiedlich auf die Veränderungen des Klimas. Je nach ihrer Körpergröße und ihren Überlebensvoraussetzungen, halten sich Spezies an unterschied-lichen Orten innerhalb eines Ökosystems auf. Dabei ist ihre Beheimatung, also der Ort, an dem sie sich im Ökosystem primär aufhalten, ein entscheidender Faktor für ihre Anpassungsfähig-keit. Verschiebt sich ein Ökosystem oder unterliegt es einer Verkleinerung, sind beispielsweise jene Arten, die sich im Zentrum aufhalten, nicht unbedingt zur Migration gezwungen. Anders verhält es sich bei jenen Arten, die sich am Rande des Ökosystems befinden. Hängt ihre Le-bensgrundlage an dem Ökosystem, sind sie gezwungen, dem Ökosystem zu folgen. Damit sind opportunistische, robuste Arten, die schneller zu einem Wandern tendieren, und sich somit gegenüber den Veränderungen in ihrem Ökosystem besser anpassen können, im Vorteil. Nicht zu unterschätzen sind hierbei menschliche Eingriffe, die das Migrieren erschweren. Mensch-liche Nutzflächen und Bauten können große Hindernisse für kleinere Lebewesen und Pflanzen-arten darstellen. Wasserbegrenzungen (Seen, Flussläufe etc.) oder spezielle Gegebenheiten im Ökosystem betreffend Geologie und Flora können weitere Erschwernisse bereiten.82

Innerhalb eines Ökosystemen existieren Interdependenz zwischen verschiedenen Arten. Spe-zies leben und agieren nicht isoliert voneinander. Leben und Entwicklung einer Art bedingen das Leben anderer Arten. Sollte eine Spezies vom Klimawandel betroffen sein, wird dies mit gro-ßer Wahrscheinlichkeit Konsequenzen für mindestens eine weitere Art haben, zum Beispiel in Form von schwindenden Nahrungsquellen, sei es durch einen Populationsrückgang oder durch die Migration einer Art. Unterschiedliche Anpassungsfähigkeiten oder zeitliche Verschiebun-gen von Umweltphänomenen können einschneidende Auswirkungen auf Teile einer Nahrungs-kette haben. In den letzten Jahrzehnten sind beispielsweise Molche immer früher zum Brüten in die Teiche gewandert, Frösche hingegen nicht. Dadurch besitzen die Larven der Molche schon eine recht beachtliche Größe, wenn die Larven der Frösche aus ihren Eiern schlüpfen. Die Folge ist, dass die Molche die Larven der Frösche verstärkt fressen und die Froschpopulation zurück-geht.83 Frösche und Kröten tragen nicht nur zur Stabilität des Ökosystems bei, manche Arten stellen auch eine wichtige Quelle für Substanzen in der Medikamentenforschung und -entwick-lung dar. Damit können Veränderungen in der Biodiversität, wie schwindende Frosch- und Krö-tenpopulationen, Einfluss auf das menschliche Leben und die menschliche Gesundheit nehmen. Der Vollständigkeit halber soll nicht unerwähnt bleiben, dass nicht überall auf diesem Planeten die Frosch- und Krötenpopulation zurückgeht. In manchen Regionen stellen sie entgegen der beschriebenen Veränderung nach wie vor eine Plage dar.

Bei einigen Reptilienarten wirkt sich der Temperarturanstieg unmittelbarer auf die Populati-on aus. Bei bestimmten Schildkröten, Echsen, Krokodilen und Alligatoren hängt das Geschlecht der Neugeborenen von der Temperatur während des Eierausbrütens ab. So entscheidet ein Grad mehr oder weniger darüber, ob ein Männchen oder Weibchen zur Welt kommt. Die globale Er-wärmung nimmt hier direkten Einfluss auf das Geschlechterverhältnis und ist mitentscheidend, ob dieses Verhältnis aus dem Gleichgewicht gerät und die Fortpflanzung einer Spezies gestört wird.84

Andere Arten profitieren wiederum von den sich verändernden Bedingungen. Durch häufiger werdende Starkniederschläge und anschließende Überflutungen in trockenen und tropischen Regionen steigt beispielsweise die Verbreitung von Stechmücken. Höhere Temperaturen und stehende Gewässer bieten perfekte Brutbedingungen für Malaria, Dengue- oder Rifttalfieber-Erreger in tropischen sowie subtropischen Regionen. Natürliche Feinde der Stechmücken sind Frosch- und Krötenarten. Sollten ihre Bestände tatsächlich abnehmen, könnte das Risiko, sich mit den erwähnten Krankheiten zu infizieren, deutlich zunehmen.

Hiermit sind wird bereits bei den Folgen für den Menschen angelangt, auf die wir im Fol-genden etwas näher eingehen wollen. Zum Ende dieses Abschnittes sollte allerdings erwähnt werden, dass sich der Klimawandel in der Tat negativ auf die Ökosysteme und Biodiversität aus-wirkt, gar mit der Möglichkeit, dass ganze Ökosysteme zusammenbrechen; auf lange Sicht kann sich das Leben auf der Erde von einem drastischen Klimaumschwung aber erholen, „indem es neue Arten hervorbringt und neue Ökosysteme schafft“, so der IPCC. „Menschen können das nicht.“85

0.4 Folgen für den Menschen

Wir haben gesehen, dass klimatischer Wandel sich auf die Biodiversität in Ökosystemen auswirkt und das menschliche Leben ebenfalls davon beeinflusst werden kann. Generell wird das Ausster-ben von Arten als Verlust für die Vielfalt erachtet. Rein objektiv gesehen muss sich jedoch nicht jeder Verlust gänzlich negativ auf das menschliche Leben auswirken. Das menschliche Leben ist nicht von sämtlichen Existenzen der Natur abhängig oder geht nicht mit jeder Spezies eine Symbiose ein. Selbst wenn eine Spezies einen ökonomischen Nutzen hat, da aus ihr bestimmte Substanzen gewonnen werden, die für die Produktion oder ähnliches verwendet werden, muss ihr Aussterben keinen großen Einschnitt in das menschliche Leben bedeuten, wenn sich Substi-tute finden lassen, das heißt, wenn sich Ersatz für die aus der Natur bezogenen Stoffe finden lässt. Können Substitute gefunden oder entwickelt werden, oder ruft der Verlust einer Spezies kaum negative Veränderungen hervor, würde der Verlust als weniger schwerliegend angesehen werden. Hierbei würde Biodiversitätsverlust in Relation zu einem Nutzenverlust evaluiert werden. Be-trachtet man den Verlust aus einem subjektiven Standpunkt, könnte die Bewertung des Verlustes hingegen weit weniger nüchtern ausfallen. Der im Zuge des Klimawandels stattfindende Biodi-versitätsverlust ist nicht rein natürlich, sondern geht auf anthropogene Einwirkungen zurück. Ein Verlust der ökologischen Vielseitigkeit, und eine damit einhergehende schwindende Ästhetik der natürlichen Umwelt, kann den Menschen auf einer subjektiven Ebene bewegen. Er wird sich klar darüber, dass er mit seiner Lebensweise, dies trifft besonders auf jene in westlichen und aufstei-genden Wirtschaftsnationen zu, zu einem Verlust beigetragen hat, der irreversibel ist. Das Sich-bewusst-werden, dass der Mensch als Gattung einen unnatürlichen Biodiversitätsverlust in Gang gesetzt hat und dass Möglichkeiten zu einer Besserung nicht wahrgenommen wurden, die diesen Verlust möglicherweise verhindern hätten können, lassen den Menschen möglicherweise in An-dacht versinken, in der er erst realisiert, welche Bedeutung die Vielfalt der Natur in seinem Leben hatte. Allerdings birgt der Biodiversitätsverlust weitaus mehr in sich als psychische Betroffenheit hervorzurufen. Die letzten Jahre haben gezeigt, was ein menschlicher Eingriff in die Biodiversität und aus dem Gleichgewicht geratene Ökosysteme für weitflächige Folgen für die Menschheit mit sich bringen können. Die Ebola-Pandemie in Westafrika und möglicherweise auch der Ausbruch des COVID-19-Viruses haben ihren Ursprung in der Übertragung eines Erregers von Tier auf Mensch (sogenannte Zoonosen), das durch den menschlichen Eingriff in die Ökosysteme be-günstigt wird. An einigen Stellen in dieser Arbeit werden wir in einem klimawandelspezifischen Kontext sehen, dass eine intakte Umwelt Schutz vor Extremereignissen bietet und somit direkt mit dem menschlichen Leben in Verbindung steht.

Neben dem Biodiversitätsverlust wirkt sich der Klimawandel vielfältig auf das menschliche Leben aus. Matthias Bruckner identifiziert in seiner Arbeit sechs Bereiche, die vom Klimawan-del betroffen sind, und deren Veränderungen negative Auswirkungen für den Menschen dar-stellen: Naturkatastrophen , Landwirtschaft und Nahrungssicherheit , Gesundheit , Frischwasser sowie Küsten- und Meeresgebiete .86 Bruckner bezieht dies auf weniger entwickelte Länder, die als besonders verwundbar gegenüber dem Klimawandel gelten. Im Folgenden wollen wir nach Bruckner etwas näher auf diese sechs Auswirkungen eingehen.

1.  Sogenannte Naturkatastrophen 87 gelten als eine der schlimmsten Bedrohungen für die menschliche Sicherheit. Naturkatastrophen lassen sich in geophysikalische (Erdbeben, Vulkan-ausbrüche), meteorologische (Stürme), hydrologische (Überschwemmungen, Lawinen, Erd-rutsche) und klimatologische (Dürren, Waldbrände, Temperaturextreme) Ereignisse kategori-sieren. Unter diesen Kategorien sind es die geophysikalischen Ereignisse, die nicht mit dem Klimawandel im Zusammenhang stehen (die These, dass sich durch Abschmelzen der Kryo-sphäre die Kontinentalplatten anfangen zu verschieben, soll hier nicht berücksichtigt werden). Von allen anderen wird erwartet, dass ihre Häufigkeit und Intensität durch den Klimawandel zunehmen werden. Diese Ereignisse haben nicht lediglich aufgrund ihres Auftretens Auswir-kungen auf den Menschen. Verwundbarkeit und die Belastbarkeit des natürlichen und mensch-lichen Systems sind entscheidende Komponenten, warum sie als gefährlich für den Menschen angesehen werden, oftmals mit schwerwiegenden und langfristigen Folgen. Dies wird in Kapitel 3 näher erläutert.

Die im Zuge des Klimawandels häufiger auftretenden Hitze- und Kältewellen sind Wetterphä-nomene, die man in der Regel weniger als Katastrophen bezeichnen würde. Sie unterscheiden sich auf den ersten Blick erheblich von den anderen Extremereignissen wie Lawinen, Über-schwemmungen oder Wirbelstürmen, da hier materielle (Wasser, Schnee, Schlamm) oder im-materielle (Sturm-) Massen bewegt werden, die Schäden und Verluste verursachen. Die katas-trophischen Ausmaße von Hitzewellen zeigen sich oft durch Folgeerscheinungen wie Dürren oder Waldbrände. Hierdurch sind sie visuell zugänglich. Dennoch lassen sich Hitze- und Kälte-wellen an sich mit Katastrophen in Verbindung bringen, wenn man ihre Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit (erhöhte Sterblichkeit durch sehr hohe oder niedrige Temperaturen), landwirtschaftliche Produktion (Ernteausfälle), Ökosysteme sowie Energie- und Wasserwirt-schaft (besonders während Hitzewellen) bezieht. Jene Bereiche werden unter Extremtemperatu-ren einem erhöhten Stress ausgesetzt, der teils erhebliche Einschnitte im gesellschaftlichen und menschlichen Leben bewirkt.

Starkniederschläge sind die am häufigsten auftretenden Extremphänomene. Sie rufen Fluten und Überschwemmungen hervor. Die Zunahme der Häufigkeit und Intensivität an Starknie-derschlägen hat über die letzten Jahre zu einem erheblichen Anstieg an Überschwemmungen gesorgt. Überschwemmungen bzw. Fluten entstehen durch Wechselbeziehungen zwischen Nie-derschlag, Oberflächenabfluss, Wind, Abdampfen, lokaler Topografie und dem Meeresspiegel in Küstenregionen. Allein in China waren in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten über 210 Mil-lionen Menschen von Überschwemmungen betroffen.88 Südasien und Lateinamerika sind jene Regionen auf der Welt, die besonders mit Überschwemmungen konfrontiert werden. Neben dem Verlust von Leben verursachen sie Zerstörung an Siedlungen, Industrieparks und ande-rem physikalischen Kapital. Die Auswirkungen beschränken sich jedoch nicht nur auf Verwüs-tung. In Überflutungsregionen treten oft zusätzliche gesundheitliche Probleme auf. Herrscht im Überflutungsgebiet eine schwache sanitäre Infrastruktur, sind meist Krankheiten wie Diarrhö, Cholera, Kryptosporidiose und typhoides Fieber die Folge. Zwar sind gesundheitliche Folge-erscheinungen hauptsächlich in einkommensschwachen Ländern Begleiterscheinungen, doch waren unter anderem die Zerstörungen durch die Hurrikans Katrina und Rita in den USA im Jahre 2005 so enorm, dass auch hier die Wasserversorgung mit Fäkalbakterien verschmutz wur-de, was zu zahlreichen Durchfallerkrankungen und erhöhten Todesraten führte. Zudem lässt es sich kaum verhindern, dass durch Überschwemmungen gefährliche Chemikalien, Schwerme-talle oder andere gefährliche Substanzen in die Sedimente sowie Erde versickern, wodurch sie ihren Weg in das Grundwasser finden.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden in Zukunft Dürren zunehmen, besonders in Gebie-ten, die bereits als trocken gelten. Dabei ist es nicht auszuschließen, dass manche Gebiete von längeren Trockenzeiten heimgesucht werden und zur gleichen Zeit der jährliche Niederschlag ansteigt. Dies hängt damit zusammen, dass Niederschlagsereignisse zwar seltener werden, wenn sie aber eintreten, besonders stark ausfallen. In trockenen Gebieten tritt dann das Phänomen auf, dass die ausgedorrte Erde die Massen an Wasser nicht aufnehmen kann und folglich Über-schwemmung entstehen. In erster Linie werden allerdings Dürren mit Verlusten der Ernte as-soziiert. Häufiger und länger auftretende Dürren könnten die Nahrungssicherheit eines Landes bedrohen. Mit einer zunehmenden Trockenheit steigt ebenso das Risiko gegenüber Wandbrän-den. Schlechter werdende Lebensverhältnisse, gepaart mit einer schwachen Nahrungsmittelver-sorgung, sind oftmals Auslöser für Migration der ländlichen Bevölkerung in urbane Gebiete.89 Je nachdem wie groß die Migrationsbewegung ausfällt, kann die urbane Infrastruktur durch eine akute Mehrbelastung an ihre Grenzen kommen. Die sanitären Anlagen in den Städten in we-niger entwickelten Ländern sind meist auf diese Mehrbelastung nicht ausgelegt, was wiederum zu einem Anstieg von infektiösen Krankheiten führt. In Verbindung mit einer zunehmenden Weltbevölkerung, die sich immer mehr in Städten ansiedelt, steuert man auf eine prekäre Situa-tion zu. Bis 2030 werden voraussichtlich zwischen 60 und 70 % der Weltbevölkerung in Städten leben. Allerdings hält in vielen Regionen der Ausbau der Städte mit dem Zuzug nicht mit. 60 % der Infrastruktur und Häuser müssen in urbanen Regionen in Afrika und Asien noch errichtet werden, um auf das urbane Bevölkerungswachstum entsprechend vorbereitet zu sein.90 Mög-licherweise repräsentiert keine Stadt das überschnelle urbane Wachstum auf dieser Welt so wie die nigerianische Stadt Lagos, deren Bevölkerung in den letzten 60 Jahren von 300 000 auf über 8 Millionen anwuchs.

2. Der Landwirtschaft stehen aufgrund des verändernden Klimas neue Herausforderungen bevor. Entscheidend ist dabei, inwiefern die Natur und die aus ihr gewonnen Produkte auf die veränderten klimatischen Bedingungen reagieren. Entlang des Äquators sowie südlich davon wirken sich bereits steigende Temperaturen und unberechenbarere gewordene Wettermuster negativ auf die Nahrungsproduktion aus. In den nördlicheren Breiten, allen voran in Nord-europa, könnten die wärmeren Temperaturen und eine höhere CO2

-Konzentration in der At-mosphäre hingegen eine Ertragssteigerung mit sich bringen, da die Entwicklung dem Pflanzen-wachstum dienlich ist. Die neuen Bedingungen sorgen mittlerweile dafür, dass seit ein paar Jahren der Weinanbau in Skandinavien ein neu gewonnener Wirtschaftszweig ist. Doch die In-teraktion zwischen weiter ansteigenden Temperaturen und veränderten Niederschlagsmengen könnte den positiven Düngeeffekt des Kohlendioxids im Mittel überwiegen.

3. Gerade in tropischen und subtropischen Gebieten könnte der Klimawandel die Nahrungs- mittelsicherheit unterminieren. Unter Eintritt der hohen emissionsstarken SRES-Szenarien könnten sogar bis 2080 signifikante Rückgänge von bis zu 30 % in Afrika und Teilen Asien er-wartet werden. Selbst wenn die globalen Emissionen stark begrenzt werden, wäre ein Einschnitt der Erträge von bis zu 10 % immer noch äußerst wahrscheinlich. Bei einem Temperaturanstieg von über 2°C müsste in fast jedem Teil dieser Welt ein Produktionsrückgang erwartet werden. Die wirtschaftliche Folge wäre ein Anstieg der weltweiten Getreidepreise im Laufe des Jahr-hunderts. Bereits heute leiden einige Regionen unter Mangel an Nahrungsmitteln, besonders in Afrika und Asien. Rund 690 Millionen Menschen litten nach Angaben der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) 2019 an Hunger, wobei besonders die Extremfälle an Unterernährung tendenziell zunehmen.91 Demgegenüber stehen 1,9 Milliarden, hauptsächlich in der westlichen Welt, die unter Fettleibigkeit leiden.92

Regionale Krisen verursachen Millionen neue Hungerleidende. Zugänge zu einer stabilen Nahrungsmittelversorgung fallen weg, teils aufgrund steigender Nahrungsmittelpreise. Dabei müssen veränderte Niederschlagsmuster nicht der Hauptgrund von Nahrungsmittelknappheit sein. Oftmals sind es große Migrationsbewegungen, die den Lebensmittelmarkt erschöpfen. Unter gleichbleibenden Anbaubedingungen könnte das anhaltende Wachstum der Weltbevöl-kerung zusätzlichen Stress auf die Nahrungssicherheit in bestimmten Regionen haben.

Selbst die positive landwirtschaftliche Entwicklung in den nördlicheren Breiten wird aller Vo-raussicht nicht von langfristiger Dauer sein. In den letzten Jahren haben Wetterextreme wie Hit-zewellen oder Niederschlagsextreme auch in gemäßigteren Breiten zu Ernteverlusten geführt. Es wird damit gerechnet, dass in Zukunft Dürreperioden in Europa häufiger auftreten werden.93Exaktere Prognosen von Klimamodellen könnten helfen, regionale Missernten zu reduzieren.

4. Wie haben bereits gezeigt, dass der Klimawandel Auswirkungen auf die menschliche Ge- sundheit hat. Hitzewellen, Dürren und Fluten führen zu einer steigenden Mortalität und Mor-bidität. Insbesondere Kinder, Frauen, ältere Menschen, Menschen mit Vorerkrankungen und jene mit schwachem Zugang zu Hilfsleistungen gelten am verwundbarsten. Neben naheliegen-den Folgen wie aus Hitzewellen resultierende Hitzeschläge, Hunger im Zuge von Dürren oder körperliche Verletzungen während Flutereignissen (Fluten mit katastrophischen Dimensionen können zudem psychische Belastungsstörungen bei den Betroffenen hervorrufen; dass während dieser Ereignisse Gesundheitsdienste vorübergehend ausfallen können, verschärft die Lage zu-sätzlich), stellt die Ausbreitung von Infektionskrankheiten einen großen Aspekt dar. Reduzierte Frischwasserverfügbarkeit oder durch Bakterien kontaminiertes Trinkwasser erhöhen Mor-talität und Morbidität. Verschmutztes Wasser, mangelhafte sanitäre Anlagen sowie Abwasser-systeme und unzureichende Hygienestandards gehören mit zu den größten Problemen in Ent-wicklungsländern, wodurch die Auswirkungen von Extremereignissen besonders verheerend ausfallen können.94

Wahrscheinlich wird die Verbreitung von Infektionskrankheiten wie Malaria in Zukunft stei-gen. Besonders Afrika wird davon betroffen sein, wo bereits jetzt 90 % aller Malariafälle auf-treten. Laut einer in der Fachzeitschrift für Medizin The Lancet veröffentlichen Studie, wird ein Anstieg der Malariafälle von 16 bis 28 % in Afrika bis 2100 erwartet. Der Studie lagen die Sze-narien B1 (wenig Treibhausgasemissionen), A2a (mittelmäßige Treibhausgasemissionen) und A1FI (hohe Emissionen) zugrunde: Unter allen drei Szenarien stiegen die Infektionen. Dabei ergab ein kleiner bis größerer Temperaturanstieg sowie eine Reduktion (unter B1) als auch ein Anstieg (unter A2a und A1FI) des Niederschlags eine längere Malariasaison mit folglich mehr Infektionen. Zwar bleibt die räumliche Ausbreitung der Krankheit bemerkenswert gering, doch ist der potentielle Effekt des Klimawandels in Gebieten, in denen bereits die Übertragung der Krankheit existiert, mit einer monatlich höheren Ansteckungsrate zwischen 28 und 42 % be-trächtlich.95

Ähnlich sieht es beim Dengue-Fieber aus, nur dass sich hier die Verbreitung nicht auf einen Kontinent zentralisiert, sondern ebenfalls Süd- und Mittelamerika sowie Südostasien davon be-troffen sein könnten. Auch hier wird ein Anstieg der Infektion aufgrund steigender Tempera-turen und höhere Niederschlagsmengen vermutet. Selbst in Dürrezeiten wird sich der Stech-mückenbestand vergrößern, da Moskitos ideale Brutbedingungen in den vermehrt installierten Wasserreservoiren finden, die zur Anpassung an den Klimawandel installiert wurden. Zukünf-tige Zika-Epidemien könnten nachhaltigere Veränderungen in der Gesellschaft Lateinamerikas hervorrufen. Aufgrund höherer Ansteckungsfälle könnten mehr Neugeborene mit körperlichen Beeinträchtigungen zur Welt kommen. Dies hätte sozioökonomische Auswirkungen, da ein grö-ßer werdender Anteil der Bevölkerung mit körperlichen Beeinträchtigungen geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben wird. Durch solch einen gravierenden Einschnitt bei der Anzahl von Lohnempfängern könnte eine neue Armutsgeneration entstehen.96 In der nördlichen He-misphäre werden zukünftig allergische Krankheiten vermehrt auftreten. Durch das frühere Ein-setzen des Frühlings (der Klimawandel verschiebt die Jahreszeiten97) verlängert sich zwangs-läufig die Pollensaison. Eine höhere CO2

-Konzentration und höhere Temperaturen begünstigen zudem die Pollenproduktion.98

5. Ein weiterer Punkt, der durch die klimatischen Veränderungen beeinflusst wird, ist die Wasserverfügbarkeit . Das Wasserangebot ist von der Wasserinfrastruktur und von verschieden Wassertechniken abhängig, die in weniger entwickelten Ländern oftmals unzureichend vorhan-den sind. Der Klimawandel verändert Niederschlagsmuster, Gesamtabfluss und Flussläufe und beeinflusst auf diesem Wege die Wasserverfügbarkeit. Steigende Temperaturen können sich ne-gativ auf die Qualität des Wassers auswirken, ebenso können starke Niederschlagsereignisse und Fluten das Wasser verschmutzen. Das Grundwasser von Küstengebieten, vor allem das kleiner Inselstaaten, ist durch den Meeresspiegelanstieg und die damit einhergehenden Salzwasserin-trusion gefährdet. Dies hat negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und den Agrarsektor.

Änderungen von Flussläufen und des Gesamtabflusses, beispielsweise aufgrund schmelzender Gletscher, haben des Weiteren Auswirkungen auf Wasserkraftwerke. Profitieren solche Kraft-werke zum Beispiel in Skandinavien durch einen verstärkten Abfluss, reduziert sich die aus Was-serkraft gewonnene Energie in Süd- und Südosteuropa im Zuge von Trockenheit. Sofern keine Alternative in südlichen Regionen gefunden wird, könnte der damit einhergehende Energie-verlust zu schwächeren Produktionsleistungen führen.99 Höhere Temperaturen werden voraus-sichtlich die Nachfrage an Wasser für den häuslichen Gebrauch wie zum Kühlen und zum Trin-ken erhöhen. Sollten aufgrund Trockenheit staatliche Wasserrationierungen ausgerufen werden (so bereits in Spanien, Italien, Kalifornien oder Südafrika in den letzten Jahren), stößt eine erhöhte Wassernachfrage auf ein reduziertes Wasserangebot, insbesondere wenn das Bevölke-rungswachstum die Süßwasserverfügbarkeit zusätzlich belastet. In einer ohnehin angespannten gesellschaftlichen Lage könnte dies zu einer Erhöhung des Risikos gegenüber Konflikten führen.

6.  Küsten- und Meeresgebiete werden auf vielfache Art und Weise vom Klimawandel beein-flusst. Meeresspiegelanstieg, Versauerung und Erwärmung der Ozeane und tropische Stürme nehmen Einfluss auf das alltägliche Leben. Besonders der Meeresspiegelanstieg ist im Hinblick auf eine Überschwemmung von niedriggelegenen Küstengebieten bedrohlich, da die Wasser-massen bewohntes Land oder Nutzflächen direkt zerstören oder durch Salzwasserintrusion sowie Ausspülung von giftigen Materialien am Land das Gebiet nachhaltig schädigen. Küs-tengebiete sind die am dichtest besiedelten Gebiete dieser Erde. Meist befinden sich in den küstennahen Ballungsgebieten Industrieparks, wodurch sich die Wahrscheinlichkeit einer che-mischen Kontamination der Böden erhöht. Der Meeresspiegelanstieg stellt eine Gefahr dar, die sich schneller entwickelt als ursprünglich angenommen. Die Arbeitsgruppe I des IPCC zur Physical Science Basis revidierte in ihrem fünften Sachstandsbericht die sechs Jahre zuvor angegebenen Prognosen zum Meeresspiegelanstieg, da der Zufluss an Schmelzwasser in die Meere den Spiegel schneller ansteigen lässt, als dies im vierten Sachstandsbericht 2007 ange-geben wurde.100

Mit der Erwärmung der Meere erhöht sich die Gefahr von tropischen Wirbelstürmen, Ver-sauerung der Ozeane sowie Ausbleichung von Korallenriffen. Beide letztere Punkte haben negative Folgen für den Fischfang, da Fischbestände schwinden, weil Arten aussterben oder Fischschwärme in andere Gebiete migrieren. Auch hiervon sind besonders einkommens-schwache Länder betroffen, in denen der Fischfang nach wie vor einen bedeutenden Wirt-schaftszweig darstellt.101 Absterbende Korallenriffe wirken sich darüber hinaus negativ auf den Tourismus aus.

Dieser äußerst kurze Überblick102 hat gezeigt, wie sich der Klimawandel auf unser Leben und unsere Ökosysteme auswirkt bzw. in Zukunft auswirken wird. Steigende Luft- und Meeres-temperaturen setzten die Ökosysteme in einem Maße unter Stress, dass ihre natürliche Anpas-sungsfähigkeit mit dem Klimawandel nicht Schritt hält. Dabei ist nicht nur die Natur betroffen: Temperaturanstiege, Änderungen in den Niederschlagsmustern, Meeresspiegelanstieg und Wet-terextreme haben direkte Auswirkungen auf das menschliche Leben. Beeinträchtigungen unse-rer Gesundheit, Schäden und Verluste in wirtschaftlichen und ökologischen Sektoren durch Hitze- und Kältewellen, Fluten, Stürme, Brände oder Dürren werden erhebliche Einschnitte in das menschliche Leben nehmen. Bestimmte soziale Schichten und Menschen in Regionen, die besonders vom Klimawandel betroffen sind, werden am Rande ihrer Belastungsfähigkeit gera-ten. Das soziale Gefüge könnte hierdurch überwältigt werden.103

Die dargestellten Folgen für den Menschen bereiten die Grundlage dieser Arbeit. Mit die-ser Basis, dass der Klimawandel erhebliche Auswirkungen auf das menschliche Leben hat und soziale Systeme teilweise unter Stress gesetzt werden, sollen nun die Konsequenzen und Ver-flechtungen näher analysiert werden, um die katastrophischen Dimensionen des Klimawandels zu verstehen. Zunächst wollen wir uns mit dem Punkt befassen, dass sich die Politik in der Situation befindet, der Regulator des Klimaschutzes zu sein und sie demnach die Verantwor-tung trägt, bzw. die Verantwortung einer Gesellschaft repräsentiert, geeignete Maßnahmen zum Klimaschutz auf den Weg zu bringen, um negative Konsequenzen zu begrenze.

0.2 Das Klima verändert sich

Im Gegensatz zum Wetter, das sich knapp auf zwei Wochen vorhersagen lässt, betrachtet man beim Klima das gemittelte Wetter über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Dabei ist das Klima erst vorhersagbar, wenn selbst Abweichungen in den sich veränderten Randbedingungen, zum Beispiel Anomalien der Meeresoberflächentemperatur oder der Meereisausdehnung, vor-hersagbar sind. „Chaotische Systeme wie die Atmosphäre sind also unter bestimmten Bedingun-gen auch auf Zeitskalen von […] Jahren bzw. Jahrzehnten vorhersagbar. […] Bei Vorhersagen zum globalen Wandel versucht man also nicht das Wetter selbst, sondern die Statistik des Wet-ters bei Veränderungen bestimmter Randbedingungen vorherzusagen.“14 Doch im Gegensatz zu den mit heutigen Techniken ziemlich sicheren Rekonstruierungen der früheren Verhältnisse, ist der Blick in die Zukunft ungemein komplexer: „In der Klimaforschung und -modellierung soll-ten wir anerkennen, dass wir es mit einem gekoppelten, nichtlinearen, chaotischen System zu tun haben und dass deshalb Langzeitvorhersagen über zukünftige Klimazustände nicht möglich sind. Wir können höchstens erwarten, eine Vorhersage über die Wahrscheinlichkeitsverteilung der möglichen zukünftigen Stadien des Systems zu erreichen.“15 0.2.1 Steigende Temperaturen

Die Erwärmung des Klimasystems ist durch den Anstieg der Treibhauskonzentration eine logi-sche Konsequenz. Seit dem vorindustriellen Zeitalter sind die globalen Temperaturen im Mittel mittlerweile um etwas mehr als 1°C gestiegen. Von einem Verweis auf eine globale Mitteltem-peratur wird in der Regel abgesehen, da für ihre Berechnung ein lückenloses Netz an Messsta-tionen auf der Welt vorhanden sein müsste.16 Der 100-jährige lineare Trend von 1906 bis 2005 wurde auf 0,74 [0,56 bis 0.92]°C bemessen. Der lineare Erwärmungstrend seit 1956 ist dabei mit seinen 0,13 [0,10 bis 0,16]°C pro Jahrzehnt fast zweimal so groß wie derjenige über das ganze Jahrhundert hinweg.17 Laut dem Klimabericht der NOAA ( National Oceanic and Atmospheric Administration ) für 2020 steigt die globale Temperatur im Mittel pro Jahrzehnt seit 1981 gar um 0,18°C.18 Die den Berechnungen zugrunde liegenden Messwerte stammen von vielen voneinan-der unabhängigen Datensätzen von verschiedenen Wetterstationen. Dabei werden lokale Effekte wie Städte, die in der Nähe von Wetterstationen als Wärmeinseln agieren, herauskorrigiert. Eine Verfälschung der Messwerte liegt demnach nicht vor.19 Darüber hinaus werden die Datensätze aus verschiedenen Messstationen von überall auf der Welt gewonnen. Zwar gibt es immer noch Gebiete, aus denen aufgrund fehlender Wetterstationen Daten fehlen, so zum Beispiel in weni-ger entwickelten Ländern, der Trend ist trotzdem eindeutig.20

In den 4,5 Milliarden Jahren, in denen nun unsere Erde existiert, gab es auf unserem Planeten immer wieder wärmere und kältere Phasen. Auch das Steigen und Fallen von Temperaturen in der Erdgeschichte korreliert teilweise mit der Kohlendioxidkonzentration. Dabei gab es in der Klimageschichte bisher nur zwei Phasen, in denen der CO2

-Gehalt unter 1000 ppm (zur Erinnerung: im Jahre 2005 betrug er 379 ppm) betrug: in der jüngeren Klimageschichte der vergangenen Millionen Jahre und in einem früheren Zeitraum vor etwa 300 Millionen Jahre. Ansonsten war die Erde weitgehend mit ihren hohen Temperaturen und CO2

-Konzentrationen eisfrei. Vor 100 Millionen Jahren begann unsere Erde abzukühlen, bis vor zwei bis drei Millio-nen Jahre ein neues Eiszeitalter begann, in dem wir uns auch heute noch befinden. Allerdings lief die Abkühlung der letzten 100 Millionen Jahre nicht gleichmäßig und ungestört ab: Vor 55 Millionen Jahren gab es an der Grenze vom Zeitalter des Paläozäns zum Eozän einen ra-santen Temperaturanstieg ( Paleocene-Eocene Thermal Maximum , PETM) von ca. 5 bis 6°C, da eine große Menge an Kohlendioxid in die Atmosphäre gelang. Der Auslöser hierfür kann bisher nicht mit Sicherheit bestimmt werden, am Meeresgrund freigewordenes Methaneisvorkommen, Meteoriten oder vulkanischer Kohlenstoff könnten die Erwärmung verursacht haben. Klima-forscher sehen zwischen der heutigen Entwicklung und dem damaligen Temperaturmaximum vor 55 Millionen Jahren Parallelen.21 Der damalige Temperaturanstieg vollzog sich in solch einer Geschwindigkeit, dass sich die Dauer des Anstiegs mit heutigen Methoden nicht ermitteln lässt. Die Auswirkungen des PETM auf die Erde sind allerdings klar: Neben dem Temperaturanstieg von 5 bis 6°C übersäuerten die Ozeane und Arten starben massenhaft aus. Anschließend benö-tigte die Erde 20 000 Jahre, um die Mengen des freigewordenen Kohlenstoffs zu absorbieren.22

Ein natürlicher Grund von immer wiederkehrenden Eiszeiten ist in den Milankovitch-Zyklen zu finden, die heute zum größten Teil anerkannt sind. Benannt sind sie nach dem gleichnamigen serbischen Astronomen, der die Theorie aufgestellt hat, dass sich unter anderem die Erdbahn um die Sonne mit der Zeit ändert. Diese Zyklen kommen in Perioden von 100 000, 41 000 und 22 000 Jahren vor. Insgesamt hängen drei Phänomene damit zusammen: (1) verändert sich die Erdbahn innerhalb von ca. 100 000 Jahren von einer Ellipse zu fast einem Kreis und wieder zurück zu einer Ellipse; (2) mit einer Periode von ca. 41 000 Jahren ändert sich die Neigung der Erdachse (Nutation) und variiert zwischen 22 und 24,5° (heutzutage beträgt die Nutation 23,5); und (3) ist die Erde keine perfekte Kugel – aufgrund ihres „Bauchs“ am Äquator „taumelt“ sie, sodass die Erdachse einen Kreis im Raum beschreibt. Diese Periode von ca. 22 000 Jahren be-stimmt die Jahreszeit, an der die Nord- bzw. Südhalbkugel der Sonne am nächsten ist. Erstere zwei Effekte beeinflussen die solare Einstrahlung. Die Milankovitch-Zyklen sind entscheidender Impulsgeber für klimabestimmende Prozesse.23 Allerdings ist die Forschung heute noch nicht so weit, natürliche Klimaänderungen in Gänze wissenschaftlich zu bestätigen, was der Komplexität und diverser Rückkopplungseffekte unseres Klimas geschuldet ist.

Obwohl sich unsere Erde seit zwei bis drei Millionen Jahren in einer Eiszeit befindet, leben wir momentan in einer Warmphase, von der ausgegangen wird, dass diese noch sehr lange anhalten wird. Es wird angenommen, dass die nächste Eiszeit erst in 50 000 Jahren eintreten wird.24 Vor ca. 15 000 Jahren begann sich die globale Temperatur über einen Zeitraum von 5000 Jahren zu erwärmen, womit die derzeitige als Holozän bekannte Warmphase, in der wir heute leben, be-gann und nun seit 10 000 Jahren anhält. Charakteristisch für das Holozän ist das relativ stabile Klima. Dies ist ein Grund dafür, dass der Mensch seit Beginn dieser Warmphase die Landwirt-schaft entdeckte und sesshaft werden konnte. Obwohl das Holozän eher ruhig ist, gab es teil-weise über die Jahrtausende größere Veränderungen, beispielsweise wandelte sich die Sahara durch Änderungen der Monsunzirkulation von einer besiedelten Savanne zu einer Wüste; in Grönland wurde ab dem späten 14. Jahrhundert das Klima so kalt, dass sich die Wikinger ge-zwungen sahen, ihre dortigen Siedlungen zu verlassen. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die wärmeren Temperaturen des Mittelalters wieder erreicht.25

Innerhalb von Klimaepochen treten immer wieder wärmere und kältere Phasen auf. Im Ho-lozän wirken sich diese Perioden zwangsläufig auf das Leben der Menschen aus. Zwar können bestimmte historische Klimaereignisse auch heute noch nicht mit völliger Sicherheit beschrie-ben werden, doch können Wissenschaftler mit derzeitigen Methoden durchaus Erklärungen für Veränderungen liefern. Man sollte sich bewusst sein, dass bereits Temperaturschwankungen von wenigen Graden darüber entscheiden, ob es sich um eine Kalt- oder Warmphase handelt. Der Mittelwert der Temperatur hat dabei einen besonderen Charakter, da er die lokale und re-gionale Umverteilung von Wärme ausgleicht. Die „kleine Eiszeit“ im 17. und 18. Jahrhundert war letztendlich nur etwa 0,2 bis 0,6°C kälter als die Temperatur im Schnitt während des Mittel-alters.26 Der heutige Temperaturanstieg auf über 15°C ist allerdings ein Novum. Denn erstens ist die Zeit von der vorindustriellen Zeit bis heute aus klimatologischer Sicht eine sehr kurze Phase; und zweitens ist er nicht auf natürliche Umstände zurückzuführen, sondern auf menschliche Aktivitäten.

Für die kommenden Jahrzehnte ist mit einer weiteren Erwärmung zu rechnen. Selbst wenn die Konzentrationen der Treibhausgase und der Aerosole auf einem Niveau vom Jahre 2000 konstant gehalten werden würden, würde sich unser Klima dennoch um etwa 0,1°C pro Jahr-zehnt erwärmen.27 Konkretere Prognosen sind schwierig, da der Grad des Temperaturanstiegs von unserem heutigen Handeln abhängt, je nachdem welcher Weg eingeschlagen wird. Um die zukünftige Erwärmung trotzdem veranschaulichen zu können, arbeitet das IPCC mit verschie-denen Modellen. Mit unterschiedlichen Parametern und verschiedenen Prämissen, werden Zukunftsszenarien simuliert. Je nachdem welche Handlungsoptionen unter ökonomisch plau-siblen Gegebenheiten vorliegen und umgesetzt werden, werden Konsequenzen aufgezeigt. Im Grunde funktionieren die Modelle nach dem „Wenn-dann-Prinzip“: bei einem Anstieg von CO2um x, würde dies zu einer Temperaturerhöhung y führen.28

Diese SRES-Szenarien, die im IPCC-Sonderbericht ( Special Report on Emissions Scenarios , SRES) genauer beschrieben werden, zeigen, wie sich das Klima unter demographischen, wirt-schaftlichen und technologischen Wandel verändern könnte.29 Zudem wird in den Modellen von keinen potentiellen Klimaschutzmaßnahmen ausgegangen, sondern es werden lediglich die miteinberechnet, die heute bereits technologisch umsetzbar sind:

Die Bandbreite der besten Schätzungen der SRES-Szenarien von einer Temperaturveränderung bis zum Zeitraum 2090–2099, ausgehend von der Temperatur im globalen Mittel von 1980–1999, reichen von einem Anstieg von 1,8 bis 4,0°C. Der gesamte wahrscheinliche Unsicherheits-bereich aller Szenarien zusammengenommen reicht allerdings von 1,1 bis 6,4°C.31 Die momen-tane Situation und Entwicklung lässt eher eine Erwärmung im oberen als im unteren Bereich der Bandbreite bis zum Ende dieses Jahrhunderts erwarten. Ein Erwärmungstrend ist klar zu er-kennen. 2013 berichtete man, dass die Jahre 2001 bis 2012 alle zu den dreizehn wärmsten Jahren seit der Temperaturaufzeichnung 1850 gehörten.32 2017 hieß es, dass 16 der 17 wärmsten Jahre nach 2000 auftraten, die fünf wärmsten nach 2010.33 Ein klares Ende des globalen Emissions-anstiegs ist bisher nicht zu erkennen. Einige Klimaexperten sind der Meinung, dass mittlerweile eine Begrenzung der Erwärmung am Ende des Jahrhunderts auf weniger als 2°C gegenüber dem vorindustriellen Niveau nur äußerst schwer zu erreichen sei. Dafür hätten ab 2015 die Emissio-nen rapide abnehmen müssen. Unter der momentanen Entwicklung steuere man vielmehr einer durchschnittlichen Temperaturerhöhung am Ende des Jahrhunderts von 4 bis 6°C entgegen.34Laut dem IPCC müsste bis 2050 eine Netto-Null an Emissionen erreicht werden (dies bedeutet, dass bereits ausgestoßene Treibhausgase der Atmosphäre entzogen werden müssten), um den Anstieg auf unter 2°C tatsächlich begrenzen zu können.35 0.2.2 Wandel der Kryosphäre und der Ozeane

Im Einklang mit der Temperaturerhöhung stehen der Anstieg der Ozeane und die Abnahme der Kryosphäre, also jener Teil der Erde, in dem Wasser im gefrorenen Zustand vorliegt, wie bei Gletschern oder ganz allgemein Schneebedeckungen. Dabei vollzieht sich die Entwicklung in den nördlichen Polarregionen besonders schnell. Als das IPCC seinen vierten Sachstands-bericht 2007 veröffentlichte, haben die Temperaturen an der Obergrenze der arktischen Perma-frostschicht seit 1980 bereits um 3°C zugenommen. Aus Satellitendaten ist ersichtlich, dass die durchschnittliche jährliche Ausdehnung des arktischen Meereises um 2,7 [2,1 bis 3,3] % seit 1978 pro Jahrzehnt geschrumpft ist. Im Sommer ist die Abnahme mit 7,4 [5,0 bis 9,8] % pro Jahrzehnt wesentlich größer. Die Maximalausdehnung des saisonal gefrorenen Bodens hat auf der Nordhalbkugel seit 1900 um etwa 7 % abgenommen; im Frühjahr können sogar Abnahmen von bis zu 15 % auftreten. Aber nicht nur in den nördlichen Breiten ist ein Rückgang zu er-kennen, im Mittel gehen ebenso die Gebirgsgletscher und Schneebedeckungen in der südlichen Hemisphäre zurück.36

Schmelzende Gletscher und auftauende hochalpine Gebirgsregionen bergen ein gefährliches Risiko in sich. Über Jahrhunderte haben Gletschereisschichten Geröll an die Oberfläche ge-drückt. Mit dem Auftauen wird die Masse frei und lose, woraufhin die Abhänge drohen abzu-rutschen. Folglich stellt sich ein erhöhtes Risiko gegenüber Fels-, Schlamm- und Eislawinen ein.

Die Entwicklung des Auftauens von Permafrostböden, hauptsächlich in Sibirien, China und Kanada, wo ihre Dicke teilweise 1,5 km beträgt, muss besonders betrachtet werden. Der Per-mafrostboden in Westsibirien hat eine ungefähre Fläche von Deutschland und Frankreich zu-sammengenommen. In diesem Permafrostboden sind riesige Vorkommen an Methan eingefro-ren. Sollte der Permafrost auftauen, würden diese Reserven freigesetzt werden, was zu einem sprunghaften Anstieg der Methankonzentration in der Atmosphäre führen könnte. „Könnte“, da der Prozess des Auftauens chemischen Einfluss auf die in den Böden gespeicherten Reserven nimmt. Durch das Auftauen der zugefrorenen Torfmoore würde CO2 freigegeben werden. Je nachdem, wie sehr sich der Permafrost erwärmt, gibt der Torfboden mehr CO2 ab. Gelangt je-doch durch das Auftauen viel Feuchtigkeit in die Torfmoore, wird das Kohlendioxid nicht mehr in Form von CO2 freigesetzt, sondern in Form von Methan, das ein potenteres Treibhausgas dar-stellt, jedoch kürzer als CO2 in der Atmosphäre verweilt. Aufgrund der aktuellen Entwicklung wird befürchtet, dass bis zum Jahr 2100 90 % des arktischen Permafrosts bis zu einer Tiefe von 3 m abgeschmolzen sein werden.37

Abschmelzende Gebirgsgletscher und abfließendes Schmelzwasser könnten sogar seismolo-gische Auswirkungen haben. Indem das Schmelzwasser in die Meere abfließt, könnte sich das Gewicht der kontinentalen Erdplatten so sehr ändern, dass daraus eine Verschiebung der Erd-platten resultieren würde und Erdbeben auslösen könnte. Studien hierzu sind allerdings noch sehr rar und vage, sodass Erdbeben im breiten wissenschaftlichen Diskurs nicht als Konsequen-zen des Klimawandels gesehen werden.38

In ihrem Bericht zum Klima 2012, verdeutlichte die WMO, dass die Abnahme der arktischen Kryosphäre merkbar anhält. Mitte März hat das arktische Eis seine maximale Ausdehnung er-reicht. Danach fängt es an zu schmelzen bis es Mitte September sein Minimum erreicht hat. Die Messungen zum Eisrückgang stellten allesamt Negativrekorde dar. Das Maximum der Eisfläche im März 2012 war 3,4 % geringer als seine durchschnittliche Ausdehnung von 1979 bis 2000. Als es Mitte September sein jährliches Minimum erreicht hatte, lag es beispielsweise 18 % unter der Ausdehnung vom September 2007. Dies liegt wiederum 49 % unter dem durchschnittlichen Minimum aus dem Zeitraum 1979 bis 2000.39 49 % bedeuten in diesem Fall 3,3 Millionen km², was ungefähr der Fläche Indiens entspricht.40

Insgesamt ist die Fläche des arktischen Eises seit 1979 um über 20 % zurückgegangen. Nach U-Boot-Messungen beträgt die Stärke, also die Dicke des Eises, nur noch circa 60 % zu der von vor vier Jahrzehnten. Da es sich allerdings um Packeis handelt, nimmt dieses Abschmelzen keinen direkten Einfluss auf einen Anstieg des Meeresspiegels. Das Eis schwimmt bereits im Meerwasser und verdrängt somit ein entsprechendes Wasservolumen. Das Schmelzen des arkti-schen Packeises trägt jedoch anderweitig zur globalen Erwärmung bei: Wie bereits erwähnt, ist die Erwärmung der arktischen Oberfläche im Vergleich zum globalen Mittel besonders hoch, was an der hellen Oberfläche liegt. Das Eis reflektiert bis zu 90 % des einfallenden Sonnenlichts. Die hohe Albedo sorgt dafür, dass nicht viel Energie vor Ort gespeichert wird. Sollte sich das Eis weiter zurückziehen, würde mehr Wasser freiliegen. Wasser absorbiert aufgrund seines geringe-ren Rückstrahlvermögens mehr Wärme im Vergleich zu seinem gefrorenen Zustand. Die Folge wäre eine zusätzliche Erwärmung der Erde.41 Laut dem Klimaforscher Mojib Latif könnte dies Rückkopplungseffekte von solchen Ausmaßen nach sich ziehen, dass die Arktis bis Ende dieses Jahrhunderts im Sommer komplett eisfrei sein könnte.42

Veränderungen in der Antarktis sind durch die riesige zusammenhängende Eismasse unge-mein schwerer zu erkennen als in der Arktis. Dennoch lässt sich sagen, dass sich der Klima-wandel am Südpol bisher weniger dramatisch auswirkt als am Nordpol. Das Meereis reagiert hier weniger sensitiv auf den menschlichen Einfluss, da infolge relativ starker vertikaler Ver-mischungsprozesse im südlichen Ozean die anthropogene Erwärmung geringer ausfällt.43 Ein Abschmelzen des antarktischen Eisschildes hätte im Gegensatz zur Arktis eine unmittelbare Erhöhung des Meeresspiegels zur Folge, da sich hier die Eismassen, die sich im Laufe von Jahr-tausenden durch die Akkumulation von Schnee gebildet haben, zum größten Teil über Fest-land erstrecken. Die Antarktis ist im Gegensatz zum Nordpol ein zugefrorener Kontinent (Ant-arktika) und kein zugefrorener Ozean. 99,7 % der Oberfläche sind mit Eis bedeckt, mit einer durchschnittlichen Dicke von 2 km.44 Über das Festland hinaus ist Schelfeis mit dem Eisschild verbunden, das sich durch den Massenfluss des Inlandeises an den Rand der Eismassen gebil-det hat und nun über dem Meere schwimmt, ähnlich wie beim arktischen Packeis. Würde das komplette antarktische Eisschild abschmelzen, hätte dies einen Meeresspiegelanstieg von um die 60 m zur Folge.45

Basierend auf Daten verschiedener Satellitenmessungen der letzten Jahrzehnte lässt sich sogar eine Zunahme des antarktischen Eisschildes im Osten erkennen. Grund hierfür ist eine lokale Zunahme des Niederschlags. Beim Westantartkischen Eisschild (WAES) spielt sich hingegen eine andere Veränderung ab. Dort haben die Abflüsse aus dem Inneren des Eisschildes gen Ozean an Fließgeschwindigkeit zugenommen. Im Südosten des WAES können die Ströme das Ross-Eisschelf nicht mehr entsprechend versorgen, sodass seine Andickung abnimmt. In der Peninsula-Region, die nördlich des WAES liegt und sich Richtung Südamerika erstreckt, lässt sich eine ansteigende Oberflächentemperatur messen. 87 % der 244 dortigen Gletscher haben seit den 1960ern an Masse verloren. Der Trend setzt sich immer mehr in das Landesinnere zum WAES hinein fort. Insgesamt setzt sich der Massenverlust der Gebiete rund um das WAES fort, was zu einer Destabilisierung des Eisschildes führt. Galt die Antarktis früher als schlummernder Riese, sprechen Forscher nun von seinem Erwachen.46

Ein Ereignis im Februar 2002 zeigte, dass die Antarktis nicht vom Klimawandel verschont bleibt: Das Eisschelf Larsen B brach mit einer Größe von 3250 km² – das damit größer als Lu-xemburg ist – innerhalb weniger Wochen in unzählige Stücke auseinander. Bis dahin war es über 10 000 Jahre stabil. Da es sich um Schelfeis handelte, hatte der Zusammenbruch keinen direkten Einfluss auf den Meeresspiegelanstieg. Allerdings beschleunigten sich durch den Bruch die Eisströme des Kontinentaleies, die zuvor hinter dem Eisschelf lagen. Schnellere Eisströme bewirken ein stärkeres Schmelzen der im Inland gelegenen Gletscher. Gelangt aus dem Inland kommendes Schmelzwasser in die Ozeane, trägt es zum Anstieg des Meeresspiegels bei. Beim Fall von Larsen B stieg die Geschwindigkeit der Ströme um das bis zu achtfache.47

Nach dem Zusammenbruch von Larsen B ergaben Satellitendaten, dass das Eisschelf so-wohl durch die Erwärmung der Atmosphäre als auch des Ozeans kontinuierlich an der Ober- und Unterseite abgeschmolzen war (das Tiefenwasser des Weddellmeeres, das das Eisschilf umgab, erwärmte sich seit 1973 um 0,32°C), bis es so dünn wurde, dass es auseinanderbrach. Aufgrund der Zunahme der Abflussgeschwindigkeit der Gletscher und der Erwärmung des Ozeanwassers um das WAES, wurde ein Prozess in Gang gesetzt, der die Packeisschichten allmählich vom Meeresboden löst bzw. von unten her abtaut und das Eisschild zunehmend destabilisiert.48 Grundsätzlich ist das Abbrechen von Eisbergen (Kalben) um die Antark-tis nichts Außergewöhnliches. Doch zeigen die Dimension, wie verwundbar die Antarktis mittlerweile ist. Im Juli 2017 wurde vom nächsten großen Bruch berichtet. Vom Eisschelf Larsen C löste sich eine eine Billion Tonnen schwere Eisfläche (5800 km²) und reduzierte das Eisschelf um mehr als 12 %. Der abgebrochene Eisberg zählt als einer der größten je be-obachteten.49

Nach der Antarktis ist das Grönländische Eisschild das zweite Eisschild unserer Erde. Auf-grund von zentralen Schneefällen nimmt es an Dicke zu, an den Rändern schmilzt es hingegen. Unter normalen Bedingungen würden diese Vorgänge im Einklang stehen. Unter der Annah-me, dass sich die Erde zwischen 1,9 und 4,6°C erwärmt, fände am Grönländischen Eisschild ein Temperaturanstieg von 2,7°C statt – der lokal höher ausfallen könnte50 –, wodurch das Ab-schmelzen die Akkumulation des Eises voraussichtlich überwiegen würde. Dies hätte praktisch ein komplettes Abschmelzen des Grönlandeises zur Folge, das sich über Jahrtausende vollziehen würde. Dies ließe den Meeresspiegel um 7 m ansteigen. Es ist ungewiss, ob sich das Eisschild nach Stabilisierung und allmählicher Reduzierung der Treibhausgase jemals wiederbilden könnte.51 Ebenso wie in der Arktis, wurde auch am Grönländischen Eisschild über die letzten Jahre eine Zunahme dynamischer Prozesse festgestellt. Die Fließgeschwindigkeit des Eises hat zugenommen, folglich findet ein rascheres Abschmelzen statt.52

Bisher wird angenommen, dass 15 % des Meeresspiegelanstiegs auf die Verluste polarer Eis-schilder zurückzuführen sind. Schmelzende Gletscher und Eiskappen trugen 28 % bei. Die rest-lichen 57 % sind auf die thermische Ausdehnung zurückzuführen (wärmeres Wasser nimmt mehr Volumen ein). Von 1961 bis 2003 hat sich der Meeresspiegel um durchschnittlich 1,8 [1,3 bis 2,3] mm pro Jahr erhöht. Zwischen 1993 und 2003 etwa durchschnittlich 3,1 [2,4 bis 3,8] mm per annum.53 Der gesamte Anstieg seit 1870 wird auf rund 20 cm geschätzt. Laut geologischen Daten und historischen Quellen war der Meeresspiegel die Jahrtausende zuvor nahezu stabil.54Da die Eisschilde schneller auf die globale Erwärmung reagieren als angenommen, ist anzu-nehmen, dass der Meeresspiegelanstieg durch größere Mengen an Schmelzwasser deutlich zu-nehmen wird. In aktuellen Modellen ist das stärkere Abschmelzen der Eisschilde noch nicht mitberücksichtigt, wodurch der Anstieg eher unterschätzt als überschätzt wird. Darüber hinaus beinhalten die Rechnungen keine dynamischen Veränderungen. Der im Jahre 2001 dritte ver-öffentlichte Sachstandsbericht des IPCC gab einen prognostizierten Meeresspiegelanstieg zwi-schen 9 und 88 cm bis 2100 an. Aktuelle Entwicklungen lassen nun vermuten, dass der Anstieg eher dem oberen Rand der Spanne entsprechen könnte.

Obwohl der Anstieg der Meere mit der globalen Erwärmung zusammenhängt, reagieren die Weltmeere äußerst träge und zeitversetzt auf die Entwicklung des Temperatur- und atmo-sphärischen Kohlenstoffanstiegs. Könnte der Strahlungsantrieb bis zum Ende dieses Jahrhun-derts stabilisiert werden, würde sich die thermische Ausdehnung der Meere bis 2300 um 0,3 bis 0,8 m fortsetzen. Aufgrund der langen Verweildauer der Gase in der Atmosphäre würden sich zudem bis 2200 die Meerestemperaturen noch um 0,5°C erhöhen. Grund für die Zeit-verzögerung ist der ozeanische Wärmetransport in die Tiefen des Ozeans, der sich über Jahr-hunderte zieht.55

Das Verhalten der Ozeane auf den Klimawandel stellt nach wie vor eine unbekannte Grö-ße in den Modellen dar, was ein Problem hinsichtlich der Genauigkeit ist, da die ozeanische Entwicklung eine bedeutende Rolle im Klimawandel einnimmt. Hierfür schauen wir uns die Massenschichtung in den Ozeanen etwas genauer an. Die oberflächennahen Schichten der Ozeane reagieren unmittelbar in Zeiträumen von Wochen bis Monaten auf veränderliche at-mosphärische Wind-, Strahlungs- und Niederschlagsfelder. Diese Veränderungen erzeugen Schwankungen in den Strömungs- und Schichtungsfelder. In der Tiefsee vollziehen sich hin-gegen solche Änderungen über Jahrzehnte bis Jahrhunderte, da gewaltige Wassermassen daran beteiligt sind. Meeresschichten weisen unterschiedliche Dichten auf, abhängig von Tempera-tur und Salzgehalt. Natürliche Erwärmung, Niederschlag und Verdunstung beeinflussen dar-über hinaus die Dichte der oberen Schicht. Trotz der unterschiedlichen Dichten zwischen den Schichten, findet ein vertikaler Wassermassenaustausch statt. Normalerweise steigt warmes Wasser aus den Tiefen auf, gibt dabei seinen Wärmegehalt an die Atmosphäre ab, nimmt at-mosphärische Gase auf und sinkt nach seiner Abkühlung wieder ab. Dieser Prozess wird Kon-vektion genannt.56 Klimatische Veränderungen und eine Verdünnung des Meerwassers durch Süßwasser, das durch Gletscherschmelzen in die Ozeane gelangt, könnten in Zukunft den Was-sermassenaustausch erschweren, da sich die oberen Wasserschichten zunehmend stärker von den unteren unterscheiden.

Solch eine Entwicklung hätte schwerwiegende Auswirkungen auf die thermohaline Zirkula-tion. Die thermohaline Zirkulation beschreibt das Absinken kalter Wassermassen in den nörd-lichen Breiten des Atlantiks. Nach dem Absinken der kalten Wassermassen strömen diese in großen Tiefen Richtung Äquator. Im südlicheren Atlantik geschieht hingegen der umgekehrte Vorgang, das heißt, warmes Wasser steigt an die Oberfläche und fließt Richtung Norden. Bei dieser Umwälzung werden Energien frei, die dem gesamten Energiebedarf der Menschheit ent-sprechen. Europa verdankt unter anderem der thermohalinen Zirkulation sein mildes Klima. Die erwähnten Änderungen der Dichten in den ozeanischen Sichten aufgrund thermischer Ausdehnung und Verdünnung durch Süßwasser wirken sich negativ auf die Zirkulation aus. So-wohl der Temperaturanstieg als auch der Rückgang des Salzgehalts könnten die Durchmischung so stark schwächen, dass die thermohaline Zirkulation im Atlantik zum Versiegen kommen könnte. Dies wird zwar nicht in diesem Jahrhundert passieren, allerdings, sofern der Klimawan-del nicht ausgebremst wird, wird ein völliges Versiegen des Wärmestroms auf eine Wahrschein-lichkeit von über 50 % angesetzt.57 Dies hätte eine relative Abkühlung im Nordatlantikraum um mehrere Grad zur Folge. „Relativ“, da die Änderungen der Temperaturen durch die globale Er-wärmung nicht berücksichtigt sind. Die Südhalbkugel würde sich hingegen erwärmen. Ebenso würde der Nordatlantik allein durch die Änderung der Strömungssituation praktisch ohne Ver-zögerung um bis zu einem Meter ansteigen. Ohne diesen vertikalen Wasseraustausch würde sich die Tiefsee schneller erwärmen, was auf langer Sicht einen weiteren Anstieg um einen halben Meter bedeuten würde.58 Allerdings sind auch hier mehr Modelle und Simulationen nötig, um präzisere und aussagekräftigere Angaben zu tätigen.

In Verbindung mit dem Klima stellen die Ozeane einen weiteren wichtigen Faktor dar: Sie sind der größte Kohlenstoffspeicher unserer Erde. Gegenwärtig sind in den Weltmeeren etwa fünfzigmal mehr an CO2 gespeichert als in der Atmosphäre. Jährlich nehmen sie rund 2 Gi-gatonnen an Kohlenstoff auf, was etwa 30 % der anthropogenen CO2

-Emissionen entspricht. Damit haben sie nicht nur eine Speicherfunktion, sondern dienen auch als Senke, denn durch das Absorbieren der Emissionen verhindern sie, dass ein großer Teil in die Atmosphäre gelangt. Nachdem die Ozeane durch die oberen Wasserschichten CO2 aufgenommen haben, werden die Gase durch den beschriebenen Wassermassenaustausch über Jahrzehnte in die Tiefsee gemischt. In den Ozeanen wird das aufgenommene CO2 chemisch aktiv, dies bedeutet, das im Wasser gelöste Kohlendioxid reduziert den pH-Wert der Meere. In der Tiefsee findet eine langsame Auflösung kalkhaltiger Sedimente statt, womit der Versauerung entgegenwirkt wird, sodass der pH-Wert der Meere annähernd konstant bleibt. Durch die drastisch gestiegenen anthropogenen Emissionen nehmen die Ozeane allerdings mehr auf als sie vertragen. Die Folge ist ein seit 1800 allmählich sinkender pH-Wert, also eine Versauerung der Meere. Anthropogene Treibhausgase lagern sich tausendmal schneller in die Meere ein, als dies auf natürliche Art und Weise ge-schieht. Die Ozeane kommen mit dem CO2

-Abbau nicht mehr hinterher. Eine weitere Erwär-mung der Meeresoberfläche wirkt sich zudem nachteilig auf die Aufnahmefähigkeit der Ozeane für Kohlenstoff aus. Zudem bremst die schwerer werdende Vermischung der Wasserschichten den CO2

-Abbau. Werden durch diese Versauerung biologische Prozesse gestört, könnte sich die Senkenfunktion der Ozeane weiter verschlechtern. Die Störung biologischer Prozesse hätte zudem negative Auswirkungen auf marine Ökosysteme, wie Veränderungen bei Meeresorganis-men oder schwindende Fischbestände.59

Häufiger auftretende Wetterextreme werden als jene Auswirkungen des Klimawandels angese-hen, die ihn am deutlichsten spürbar machen. Heiße Tage und Nächte wurden in den letzten Jahren immer häufiger, wohingegen kalte Tage und Nächte und Frost über den meisten Land-gebieten weniger häufig auftraten. Auch die Anzahl der Hitzewellen nahm zu, hauptsächlich in Gebieten, in denen bereits ein wärmeres Klima vorherrscht. Die Folge ist eine Zunahme der hitzebedingten Sterblichkeit. Allein der Hitzesommer in Europa 2003 hat zwischen 20 000 und 30 000 Menschenleben gefordert.60

Ein Anstieg von Starkniederschlägen und damit zusammenhängenden hohen Wasserspiegeln wurden ebenso weltweit gemessen. In Deutschland gab es in den letzten zwei Jahrzehnten mit der Oderflut 1997, der Elbflut 2002 und der Donauflut 2013 nicht nur drei Ereignisse mit Re-kordpegelständen, sondern auch mit Rekordschäden. Ein wärmeres Klima begünstigt ein häufi-geres Aufkommen hydrologischer (Überschwemmungen) und klimatologischer Wetterextreme (Dürren, Waldbrände). Für jedes Grad Erwärmung enthält die Luft 7 % mehr Wasserdampf. Hierdurch steigt die Wahrscheinlichkeit an Starkregen, da warme Luft mit mehr Feuchtigkeit gesättigt ist. Ebenso steigt durch die Erwärmung die Verdunstungsrate, sodass bei mittleren konstanten Niederschlägen die Bodenfeuchte schneller verloren geht, sodass das Risiko gegen-über Dürren zunimmt.61 In Europa hat besonders die Iberische Halbinsel mit zunehmender Trockenheit zu kämpfen. Neben Dürren steigt zudem auch das Risiko gegenüber Waldbränden. Weltweit lässt sich ein stärkeres Auftreten von Dürreperioden in äußerst trockenen Gebieten er-kennen. Da in solchen Regionen zunehmende Trockenheit meist mit unberechenbareren Regen und Starkniederschlägen einhergeht, erhöht sich zusätzlich das Risiko gegenüber Überflutun-gen, da die Erde so stark ausgetrocknet ist, dass Wasser in großen Mengen nicht aufgenommen werden kann.62

Allerdings wäre es falsch, das Auftreten von Wetterextremen allein dem Klimawandel zuzu-schreiben. Wetterextreme gab es schon immer, sind in der Regel allerdings ein eher selteneres Phänomen. Der Klimawandel beeinflusst jedoch das Austreten von Wetterextremen hin zu häu-figeren und intensiveren Ereignissen. Veranschaulicht wird diese Entwicklung gerne mit einem gezinkten Würfel. Dabei steht das Zinken darin, dass der Mensch durch den erhöhten Ausstoß klimapotenter Gase die Temperaturen auf den Planeten erhöht, was zu mehr Wetterextremen führt, ebenso wie der Würfel mehr Sechsen hervorbringt. Wetterextreme gab es schon zuvor, genauso wie der Würfel bereits vor dem Zinken Sechsen gewürfelt hat. Statistisch lässt sich fest-halten, dass die extremen Ereignisse, die es zuvor schon gab, nun öfter eintreten. Andere Ereig-nisse treten jedoch weiterhin ein, so wie der gezinkte Würfel auch weiterhin noch andere Zahlen außer der Sechs würfelt.63

Ein Wetterphänomen, das oftmals mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht wird, ist das häufigere und intensivere Auftreten von Hurrikans. Hurrikans sind an den Küstengebieten Amerikas auftretende Wirbelstürme mit einer Windgeschwindigkeit von mind. 120 km/h (im Nordwestpazifik werden sie Taifune genannt, im indischen Ozean und südlichem Pazifik wie-derum Zyklone). Allerdings geht die Wissenschaft davon aus, dass das Auftreten von Hurrikans einem natürlichen Zyklus mit unterschiedlich langen Intervallen unterliegt, das heißt, dass sie in bestimmten Zeiten statistisch mal mehr, mal weniger häufig vorkommen. Auch wenn dieses Intervall nicht absolut bestimmt werden kann, sind seit den 1990er Jahren permanente Schwan-kungen in ihrem Auftreten zu erkennen. Folglich scheint das numerische Auftreten der tropi-schen Wirbelstürme im amerikanischen Atlantik nicht mit dem Klimawandel zusammenzu-hängen. Seit einigen Jahren unterliegt das jährliche Auftreten aber nicht länger einer normalen Durchschnittszahl, die diesen Zyklus bestätigen würde. Das System ist chaotischer geworden, ist nicht mehr so stabil wie früher und unterliegt starken Schwankungen; die Tendenz geht zu extremeren Jahren.64 Die Wissenschaft hat die komplexe Systematik hinter dem Auftreten von Hurrikans noch nicht entschlüsselt und kann daher nicht mit Sicherheit sagen, inwieweit das verstärkte Aufkommen der tropischen Wirbelstürme mit einem Anstieg der Treibhausgaskon-zentration zusammenhängt. Es mehren sich allerdings die Hinweise, dass es eine Korrelation zwischen Häufigkeit und Klimawandel gibt.65

Eindeutiger ist hingegen der Zusammenhang zwischen der Zunahme an Intensität der tropi-schen Wirbelstürme und dem Klimawandel. Entscheidender Faktor spielt dabei die Erwärmung der Meeresoberfläche. Die Wassertemperaturen der tropischen Ozeane haben in den vergan-genen 50 Jahren um 0,5°C zugenommen. Dadurch hat sich die Energiezunahme der Wirbel-stürme um etwa 70 % erhöht.66 Zusätzlich wirkt die Verschiebung der Tropopause (die zwischen Troposphäre und Stratosphäre liegende Übergangsschicht) auf die Entwicklung ein. Diese hat sich nach oben in Richtung Stratosphäre verschoben, sodass die Troposphäre – die unterste Schicht in der Atmosphäre – größer geworden ist. Die größer gewordene Troposphäre wärmt sich in Folge eines verstärkten Treibhausgasausstoßes auf, wodurch mehr Wasserdampf konden-siert und tropischen Stürmen mehr Energie zugeführt wird.67 In Verbindung mit einem anwach-senden Meeresspiegel können zudem intensivere Stürme mehr Wasser mit sich führen, sodass Sturmfluten und Überschwemmungen in Zukunft noch verheerender ausfallen könnten. Diese Entwicklung ist besonders im westlichen Atlantik zu erkennen. In anderen Gebieten lassen sich bisher weniger deutlich solche Muster erkennen.

0.3 Folgen für Ökosysteme

Der Klimawandel wirkt sich nachhaltig auf die weltweiten Ökosysteme aus. Ökosysteme re-agieren nicht alle gleich auf klimatische Veränderungen, doch reagieren sie alle meist äußerst sensibel. Es ist zweifelhaft, ob all die verschiedenen Ökosysteme, so wie wir sie kennen, sich ausreichend schnell an die klimatischen Veränderungen anpassen können. Ansonsten könnte mit großen Einschnitten in die Biodiversität zu rechnen sein. Manch einer befürchtet gar ein annäherndes Artenaussterben wie beim oben erwähnten PETM vor 55 Millionen Jahren.68

In den letzten Jahrzehnten wurde in der Antarktis ein starker Rückgang des Krillvorkom-mens entdeckt. Die zentimeterkleinen Leuchtgarnelen stellen einen der wichtigsten Bestand-teile des antarktischen Ökosystems dar. Zwischen dem Salzwasser und dem schwimmenden Eis, am halb gefrorenen Saum, wachsen große Mengen an mikroskopisch kleinem Plankton, das den Krill ernährt. Mit dem Rückgang des antarktischen Eises gehen die Mengen an Plankton und folglich auch die Krillbestände zurück. Aufzeichnungen verweisen auf einen Rückgang der Bestände um 40 % pro Jahrzehnt. Salpen kommen hingegen besser mit den Veränderungen zurecht. Diese Spezies war zuvor in nördlicheren Gewässern beheimatet. Sie besitzen äußerst bescheidene Ernährungsbedürfnisse und benötigen keine große Planktondichte zum Überle-ben. Auch aufgrund des wärmer werdenden Gewässers in der nordwestlichen Antarktis haben sie sich vermehrt. Allerdings sind sie so nährstoffarm, dass sich kein größeres Lebewesen von ihnen ernähren kann. Damit ist die Nahrungskette des Südpolarmeers gefährdet, weil es keine andere Spezies gibt, die den Rückgang des Krills ersetzt. Krill ist die Hauptnahrung für diverse maritime Lebensarten wie Fische, Wale, Pinguine, Robben oder auch Albatrosse.69 Pinguine wie Kaiserpinguine haben sowohl Krill als auch Fisch, der sich vom Krill ernährt, auf ihrem Speise-plan. Der Krillrückgang wirkt sich unmittelbar auf ihren Bestand aus. Ihre Population war um das Jahr 2000 nur noch halb so groß wie dreißig Jahre zuvor. Die Zahl der Adeliepinguine ist sogar bereits um 70 % zurückgegangen.70

Die für die Antarktis 24 zuständigen Staaten und die EU haben sich Ende Oktober 2016 auf eine antarktische Schutzzone geeinigt. Die seit dem Jahre 2012 geführten Verhandlungen waren zuvor erfolglos, da Russland Nachteile für seine Fischerflotte sah. Nun soll in den kommenden 35 Jahren auf einer Fläche von 1,55 Millionen Quadratkilometern im Rossmeer Fischfang ver-boten sein. Damit ist es das größte Meeresschutzgebiet der Erde. Das Ökosystem im antarkti-schen Rossmeer ist einmalig aufgrund seiner Ursprünglichkeit. Viele Wissenschaftler sehen es als das letzte intakte marine Ökosystem an. Daher gilt es als perfektes Gebiet, um zu erforschen, wie der Klimawandel unseren Planeten beeinflusst, was ebenfalls Veränderungen im Artenauf-kommen umfasst, wie der Krillbestand.71

Korallenriffe gehören zu den schönsten und farbenreichsten Orten unserer Natur. Der An-stieg der Meerestemperaturen, die Versauerung der Ozeane und eine stärkere Sonneneinstrah-lung versetzen die Riffe jedoch seit einiger Zeit unter vermehrten Stress, mit der Folge, dass sie ausbleichen. Das Ausbleichen resultiert aus ungleichen Verbindungen aufgrund veränderter Bedingungen. Polypen, die in etwa der Seeanemone ähneln, gehen mit Zooxanthellen, einem bestimmten Algentyp, eine Symbiose ein. Der Korallenpolyp bietet den Algen ein Heim sowie Nährstoffe an, wohingegen die Zooxanthellen den Polypen mit durch Fotosynthese gewonnener Energie versorgen. Höhere Wassertemperaturen und ein zu hoher CO2

-Gehalt wirken sich ne-gativ auf das Gleichgewicht des Austausches aus, wodurch die Verbindung gebrochen wird und die Riffe ausbleichen.72 Sobald sich die Meeresoberfläche etwa 1°C über dem saisonalen Maxi-mum erwärmt, setzt das Ausbleichen ein. Vor 1979 war solch ein Ausbleichen weitestgehend unbekannt. Dennoch ist es den Korallen möglich, sich zu regenerieren, sofern die Erwärmung bei etwa einem Grad bleibt. Stehen die Korallen dauerhaft unter Stress, wenn das Ausbleichen also von anhaltender Dauer ist, weil die Oberflächentemperatur des Meeres auf über 2°C an-steigt, sterben die Korallen aus.73 Bereits heute ist rund die Hälfte der weltweiten Korallenriffe verschwunden.74 Bisher kann nicht beantwortet werden, wie häufig sich Korallenriffe regenerie-ren und sich neuen Bedingungen anpassen können. Es wird befürchtet, dass ihre Anpassungs-fähigkeit nicht mit der Erwärmung und Versauerung Schritt halten kann. Das Great Barrier Reef vor der Nordostküste Australiens, das größtes Riff in unseren Ozeanen, erlitt herbe, bleibende Schäden, als es in den Sommern von 1998 und 2002 einer enormen Bleiche unterlag. 42 bzw. 54 % des Riffes waren vom Ausbleichen betroffen und konnte sich davon nicht vollkommen erholen.75

El Niño und La Niña sind zwei weitere Phänomene, die erhebliche Auswirkungen auf Öko-systeme haben, gar in einem globalen Ausmaß. Sie treten im Mittel alle vier Jahre auf. Wäh-rend einer El-Niño-Phase erwärmt sich das Wasser vor der Westküste Südamerikas um mehrere Grad. Die Phase hängt mit der südlichen Oszillation zusammen, die eine Art Druckschaukel zwischen dem südostasiatischen Tiefdruckgebiet und dem südostpazifischen Hochdruckgebiet darstellt, und den damit einhergehenden Passatwinden im äquatorialen Bereich des Pazifiks. Im Fachterminus wird daher auch von der El Niño Southern Oscillation (ENSO) gesprochen. Unter normalen Umständen quillt im östlichen Pazifik vor der Küste Südamerikas entlang des Äquators unter dem Einfluss der Passatwinde kaltes Wasser an die Meeresoberfläche. Während einer El-Niño-Phase steigt allerdings der Luftdruck über dem westlichen Pazifik und sinkt über dem östlichen Pazifik, wodurch die Passatwinde zum Erliegen kommen und der Aufstieg kalten Wassers reduziert wird. Dadurch steigen die Temperaturen im Ostpazifik um mehrere Grad an. Nach einer El-Niño-Phase tritt eine La-Niña-Phase ein, unter der warme Wassermassen des Ostpazifiks nach Westen strömen und große Temperaturgegensätze entstehen. Die Passatwinde treten wieder ein und erlangen eine über einen längeren Zeitraum anhaltende Stärke.76

El Niño sowie La Niña sind zwei natürliche Ereignisse, allerdings wird angenommen, dass es eine Hebelwirkung durch den Klimawandel gibt, da steigende Luft- und Meerestemperaturen beiden Phasen mehr Energie zuführen und die Auswirkungen extremer ausfallen. Fällt El Niño besonders stark aus, kann dies Auswirkungen auf den größten Teil des Erdballs haben. Folgen können sintflutartige Niederschläge im Osten Südamerikas, Dürren und damit zusammenhän-gende Waldbrände in Südostasien oder Klimaanomalien in Afrika, Nordamerika und sogar in Europa sein.

Kaum ein Ökosystem wird mit dem Klimawandel so in Verbindung gebracht wie das der tropischen Wälder im Amazonasgebiet, im Kongo und in Indonesien. Tropische Wälder gel-ten nach den Ozeanen als die größte natürliche Senke für Kohlenstoffdioxid. Ihr Charakter als zweitgrößte Senke bleibt allerdings nur bestehen, solange durch eine entsprechende Größe der Wälder ihre Aufnahmekapazität gewahrt wird – ansonsten mutieren sie zu einer CO2

-Quel-le. Intakte Wälder nehmen durch die Photosynthese mehr Kohlenstoff auf, als sie durch ihr Ausatmen abgegeben. Hierdurch haben tropische Wälder bisher entscheidend dazu beigetra-gen, dass weniger Treibhausgase als produziert in die Atmosphäre gelangen. Landnutzungsän-derungen, Abholzungen sowie Waldbrände gefährden das Senkenpotential tropischer Wälder. Allein durch globale Landnutzungsänderungen wurden zwischen 1750 und 2000 schätzungs-weise 463 Milliarden Tonnen an Kohlenstoff (Pg C) freigesetzt. Von den insgesamt 463 gerie-ten allerdings nur 174 Pg C in die Atmosphäre. Der Rest wird unter anderem in den Ozeanen und in terrestrischen Ökosystemen gespeichert.77 Klimatische Veränderungen und menschliche Einwirkungen verschlechtern zunehmend die Absorptions-Bilanz. Während der Phase der El Niño Southern Oscillation in den Jahren 1997 bis 1998, brannten 20 Millionen Hektar an tropi-schem Regenwald. Rund 3 Pg C gelangten daraufhin in die Atmosphäre. Neben Waldbränden und veränderter Landnutzung stellen Änderungen im Wasserkreislauf einen weiteren kritischen Aspekt dar. Im Zuge veränderter Niederschlagsmuster könnte in den Tropen ein kritischer Grenzwert an Wasserverfügbarkeit unterschritten werden, was ein Fortbestehen der Wälder gefährden würde. Tropische Wälder könnten daraufhin austrocknen und sich immer mehr zu Savannen entwickeln.78 In den letzten Jahren hat sich bei langanhaltenden Dürreperioden die Wahrscheinlichkeit für Flächenbrände nicht nur erhöht, sondern es stellte sich heraus, dass ab einem bestimmten Zeitraum der Wald sich von einer Dürre nicht mehr erholen kann und ab-stirbt. Durch Austrocknung und immer häufiger werdende Waldbrände könnte das Amazonas-gebiet zum CO2

-Produzenten werden, dies bedeutet, dass durch Waldbrände mehr Emissionen in die Luft gelangen, als durch den nachwachsenden Wald absorbiert werden. Dabei resultiert die steigende Trockenheit im Amazonasgebiet vor allem aus den steigenden Temperauren im tropischen Atlantik.79

Ähnlich wie Meere können auch Wälder im Zuge von wachsenden CO2

-Mengen versauern. Die Folge ist eine beschränkte Aufnahme und Verarbeitung des Gases sowie die Abgabe des aufgenommenen Treibhausgases über Flüsse. Letztendlich lässt dies die Konzentration in den Meeren zusätzlich ansteigen. Sollten die tropischen Regenwälder aufgrund von Übersäuerung und Erwärmung ihren Senkenmechanismus verlieren und kollabieren, würde der Treibhausgas-anstieg exponentiell nach oben springen.

Bevor wir zu den Folgen des Klimawandels für den Menschen kommen, wollen wir noch den direkten Einfluss von Temperaturanstieg und Wetterextremen auf die Tier- und Pflanzen-welt betrachten. Etwa 80 % aller global beobachteten Veränderungen bei Spezies wird auf den Klimawandel zurückgeführt.80 Es ist sehr sicher, dass eine Erwärmung von ein bis zwei Grad große Auswirkungen auf die Biodiversität haben wird. Neben Änderungen in der Reproduktion, nehmen steigende Temperaturen Einfluss auf das Wanderverhalten von Arten. Der Klimawan-del zwingt Arten in Lebensräume zu migrieren, in denen für sie noch geeignete Bedingungen herrschen.81 Aufgrund des Temperaturanstiegs flüchten seit Jahren in Gebirgen beheimatete Tier- und Pflanzenarten in höhergelegene Gebiete, sofern dies möglich ist. In Australien durch-geführte Studien ergaben, dass in Gebirgsregionen (höher als 600 m) eine Erwärmung von 1°C einen Artenverlust von 40 % zur Folge hat. Bei einer Erwärmung von 3,5°C wird der Verlust auf 90 % prognostiziert. Arten reagieren unterschiedlich auf die Veränderungen des Klimas. Je nach ihrer Körpergröße und ihren Überlebensvoraussetzungen, halten sich Spezies an unterschied-lichen Orten innerhalb eines Ökosystems auf. Dabei ist ihre Beheimatung, also der Ort, an dem sie sich im Ökosystem primär aufhalten, ein entscheidender Faktor für ihre Anpassungsfähig-keit. Verschiebt sich ein Ökosystem oder unterliegt es einer Verkleinerung, sind beispielsweise jene Arten, die sich im Zentrum aufhalten, nicht unbedingt zur Migration gezwungen. Anders verhält es sich bei jenen Arten, die sich am Rande des Ökosystems befinden. Hängt ihre Le-bensgrundlage an dem Ökosystem, sind sie gezwungen, dem Ökosystem zu folgen. Damit sind opportunistische, robuste Arten, die schneller zu einem Wandern tendieren, und sich somit gegenüber den Veränderungen in ihrem Ökosystem besser anpassen können, im Vorteil. Nicht zu unterschätzen sind hierbei menschliche Eingriffe, die das Migrieren erschweren. Mensch-liche Nutzflächen und Bauten können große Hindernisse für kleinere Lebewesen und Pflanzen-arten darstellen. Wasserbegrenzungen (Seen, Flussläufe etc.) oder spezielle Gegebenheiten im Ökosystem betreffend Geologie und Flora können weitere Erschwernisse bereiten.82

Innerhalb eines Ökosystemen existieren Interdependenz zwischen verschiedenen Arten. Spe-zies leben und agieren nicht isoliert voneinander. Leben und Entwicklung einer Art bedingen das Leben anderer Arten. Sollte eine Spezies vom Klimawandel betroffen sein, wird dies mit gro-ßer Wahrscheinlichkeit Konsequenzen für mindestens eine weitere Art haben, zum Beispiel in Form von schwindenden Nahrungsquellen, sei es durch einen Populationsrückgang oder durch die Migration einer Art. Unterschiedliche Anpassungsfähigkeiten oder zeitliche Verschiebun-gen von Umweltphänomenen können einschneidende Auswirkungen auf Teile einer Nahrungs-kette haben. In den letzten Jahrzehnten sind beispielsweise Molche immer früher zum Brüten in die Teiche gewandert, Frösche hingegen nicht. Dadurch besitzen die Larven der Molche schon eine recht beachtliche Größe, wenn die Larven der Frösche aus ihren Eiern schlüpfen. Die Folge ist, dass die Molche die Larven der Frösche verstärkt fressen und die Froschpopulation zurück-geht.83 Frösche und Kröten tragen nicht nur zur Stabilität des Ökosystems bei, manche Arten stellen auch eine wichtige Quelle für Substanzen in der Medikamentenforschung und -entwick-lung dar. Damit können Veränderungen in der Biodiversität, wie schwindende Frosch- und Krö-tenpopulationen, Einfluss auf das menschliche Leben und die menschliche Gesundheit nehmen. Der Vollständigkeit halber soll nicht unerwähnt bleiben, dass nicht überall auf diesem Planeten die Frosch- und Krötenpopulation zurückgeht. In manchen Regionen stellen sie entgegen der beschriebenen Veränderung nach wie vor eine Plage dar.

Bei einigen Reptilienarten wirkt sich der Temperarturanstieg unmittelbarer auf die Populati-on aus. Bei bestimmten Schildkröten, Echsen, Krokodilen und Alligatoren hängt das Geschlecht der Neugeborenen von der Temperatur während des Eierausbrütens ab. So entscheidet ein Grad mehr oder weniger darüber, ob ein Männchen oder Weibchen zur Welt kommt. Die globale Er-wärmung nimmt hier direkten Einfluss auf das Geschlechterverhältnis und ist mitentscheidend, ob dieses Verhältnis aus dem Gleichgewicht gerät und die Fortpflanzung einer Spezies gestört wird.84

Andere Arten profitieren wiederum von den sich verändernden Bedingungen. Durch häufiger werdende Starkniederschläge und anschließende Überflutungen in trockenen und tropischen Regionen steigt beispielsweise die Verbreitung von Stechmücken. Höhere Temperaturen und stehende Gewässer bieten perfekte Brutbedingungen für Malaria, Dengue- oder Rifttalfieber-Erreger in tropischen sowie subtropischen Regionen. Natürliche Feinde der Stechmücken sind Frosch- und Krötenarten. Sollten ihre Bestände tatsächlich abnehmen, könnte das Risiko, sich mit den erwähnten Krankheiten zu infizieren, deutlich zunehmen.

Hiermit sind wird bereits bei den Folgen für den Menschen angelangt, auf die wir im Fol-genden etwas näher eingehen wollen. Zum Ende dieses Abschnittes sollte allerdings erwähnt werden, dass sich der Klimawandel in der Tat negativ auf die Ökosysteme und Biodiversität aus-wirkt, gar mit der Möglichkeit, dass ganze Ökosysteme zusammenbrechen; auf lange Sicht kann sich das Leben auf der Erde von einem drastischen Klimaumschwung aber erholen, „indem es neue Arten hervorbringt und neue Ökosysteme schafft“, so der IPCC. „Menschen können das nicht.“85

0.4 Folgen für den Menschen

Wir haben gesehen, dass klimatischer Wandel sich auf die Biodiversität in Ökosystemen auswirkt und das menschliche Leben ebenfalls davon beeinflusst werden kann. Generell wird das Ausster-ben von Arten als Verlust für die Vielfalt erachtet. Rein objektiv gesehen muss sich jedoch nicht jeder Verlust gänzlich negativ auf das menschliche Leben auswirken. Das menschliche Leben ist nicht von sämtlichen Existenzen der Natur abhängig oder geht nicht mit jeder Spezies eine Symbiose ein. Selbst wenn eine Spezies einen ökonomischen Nutzen hat, da aus ihr bestimmte Substanzen gewonnen werden, die für die Produktion oder ähnliches verwendet werden, muss ihr Aussterben keinen großen Einschnitt in das menschliche Leben bedeuten, wenn sich Substi-tute finden lassen, das heißt, wenn sich Ersatz für die aus der Natur bezogenen Stoffe finden lässt. Können Substitute gefunden oder entwickelt werden, oder ruft der Verlust einer Spezies kaum negative Veränderungen hervor, würde der Verlust als weniger schwerliegend angesehen werden. Hierbei würde Biodiversitätsverlust in Relation zu einem Nutzenverlust evaluiert werden. Be-trachtet man den Verlust aus einem subjektiven Standpunkt, könnte die Bewertung des Verlustes hingegen weit weniger nüchtern ausfallen. Der im Zuge des Klimawandels stattfindende Biodi-versitätsverlust ist nicht rein natürlich, sondern geht auf anthropogene Einwirkungen zurück. Ein Verlust der ökologischen Vielseitigkeit, und eine damit einhergehende schwindende Ästhetik der natürlichen Umwelt, kann den Menschen auf einer subjektiven Ebene bewegen. Er wird sich klar darüber, dass er mit seiner Lebensweise, dies trifft besonders auf jene in westlichen und aufstei-genden Wirtschaftsnationen zu, zu einem Verlust beigetragen hat, der irreversibel ist. Das Sich-bewusst-werden, dass der Mensch als Gattung einen unnatürlichen Biodiversitätsverlust in Gang gesetzt hat und dass Möglichkeiten zu einer Besserung nicht wahrgenommen wurden, die diesen Verlust möglicherweise verhindern hätten können, lassen den Menschen möglicherweise in An-dacht versinken, in der er erst realisiert, welche Bedeutung die Vielfalt der Natur in seinem Leben hatte. Allerdings birgt der Biodiversitätsverlust weitaus mehr in sich als psychische Betroffenheit hervorzurufen. Die letzten Jahre haben gezeigt, was ein menschlicher Eingriff in die Biodiversität und aus dem Gleichgewicht geratene Ökosysteme für weitflächige Folgen für die Menschheit mit sich bringen können. Die Ebola-Pandemie in Westafrika und möglicherweise auch der Ausbruch des COVID-19-Viruses haben ihren Ursprung in der Übertragung eines Erregers von Tier auf Mensch (sogenannte Zoonosen), das durch den menschlichen Eingriff in die Ökosysteme be-günstigt wird. An einigen Stellen in dieser Arbeit werden wir in einem klimawandelspezifischen Kontext sehen, dass eine intakte Umwelt Schutz vor Extremereignissen bietet und somit direkt mit dem menschlichen Leben in Verbindung steht.

Neben dem Biodiversitätsverlust wirkt sich der Klimawandel vielfältig auf das menschliche Leben aus. Matthias Bruckner identifiziert in seiner Arbeit sechs Bereiche, die vom Klimawan-del betroffen sind, und deren Veränderungen negative Auswirkungen für den Menschen dar-stellen: Naturkatastrophen , Landwirtschaft und Nahrungssicherheit , Gesundheit , Frischwasser sowie Küsten- und Meeresgebiete .86 Bruckner bezieht dies auf weniger entwickelte Länder, die als besonders verwundbar gegenüber dem Klimawandel gelten. Im Folgenden wollen wir nach Bruckner etwas näher auf diese sechs Auswirkungen eingehen.

1.  Sogenannte Naturkatastrophen 87 gelten als eine der schlimmsten Bedrohungen für die menschliche Sicherheit. Naturkatastrophen lassen sich in geophysikalische (Erdbeben, Vulkan-ausbrüche), meteorologische (Stürme), hydrologische (Überschwemmungen, Lawinen, Erd-rutsche) und klimatologische (Dürren, Waldbrände, Temperaturextreme) Ereignisse kategori-sieren. Unter diesen Kategorien sind es die geophysikalischen Ereignisse, die nicht mit dem Klimawandel im Zusammenhang stehen (die These, dass sich durch Abschmelzen der Kryo-sphäre die Kontinentalplatten anfangen zu verschieben, soll hier nicht berücksichtigt werden). Von allen anderen wird erwartet, dass ihre Häufigkeit und Intensität durch den Klimawandel zunehmen werden. Diese Ereignisse haben nicht lediglich aufgrund ihres Auftretens Auswir-kungen auf den Menschen. Verwundbarkeit und die Belastbarkeit des natürlichen und mensch-lichen Systems sind entscheidende Komponenten, warum sie als gefährlich für den Menschen angesehen werden, oftmals mit schwerwiegenden und langfristigen Folgen. Dies wird in Kapitel 3 näher erläutert.

Die im Zuge des Klimawandels häufiger auftretenden Hitze- und Kältewellen sind Wetterphä-nomene, die man in der Regel weniger als Katastrophen bezeichnen würde. Sie unterscheiden sich auf den ersten Blick erheblich von den anderen Extremereignissen wie Lawinen, Über-schwemmungen oder Wirbelstürmen, da hier materielle (Wasser, Schnee, Schlamm) oder im-materielle (Sturm-) Massen bewegt werden, die Schäden und Verluste verursachen. Die katas-trophischen Ausmaße von Hitzewellen zeigen sich oft durch Folgeerscheinungen wie Dürren oder Waldbrände. Hierdurch sind sie visuell zugänglich. Dennoch lassen sich Hitze- und Kälte-wellen an sich mit Katastrophen in Verbindung bringen, wenn man ihre Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit (erhöhte Sterblichkeit durch sehr hohe oder niedrige Temperaturen), landwirtschaftliche Produktion (Ernteausfälle), Ökosysteme sowie Energie- und Wasserwirt-schaft (besonders während Hitzewellen) bezieht. Jene Bereiche werden unter Extremtemperatu-ren einem erhöhten Stress ausgesetzt, der teils erhebliche Einschnitte im gesellschaftlichen und menschlichen Leben bewirkt.

Starkniederschläge sind die am häufigsten auftretenden Extremphänomene. Sie rufen Fluten und Überschwemmungen hervor. Die Zunahme der Häufigkeit und Intensivität an Starknie-derschlägen hat über die letzten Jahre zu einem erheblichen Anstieg an Überschwemmungen gesorgt. Überschwemmungen bzw. Fluten entstehen durch Wechselbeziehungen zwischen Nie-derschlag, Oberflächenabfluss, Wind, Abdampfen, lokaler Topografie und dem Meeresspiegel in Küstenregionen. Allein in China waren in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten über 210 Mil-lionen Menschen von Überschwemmungen betroffen.88 Südasien und Lateinamerika sind jene Regionen auf der Welt, die besonders mit Überschwemmungen konfrontiert werden. Neben dem Verlust von Leben verursachen sie Zerstörung an Siedlungen, Industrieparks und ande-rem physikalischen Kapital. Die Auswirkungen beschränken sich jedoch nicht nur auf Verwüs-tung. In Überflutungsregionen treten oft zusätzliche gesundheitliche Probleme auf. Herrscht im Überflutungsgebiet eine schwache sanitäre Infrastruktur, sind meist Krankheiten wie Diarrhö, Cholera, Kryptosporidiose und typhoides Fieber die Folge. Zwar sind gesundheitliche Folge-erscheinungen hauptsächlich in einkommensschwachen Ländern Begleiterscheinungen, doch waren unter anderem die Zerstörungen durch die Hurrikans Katrina und Rita in den USA im Jahre 2005 so enorm, dass auch hier die Wasserversorgung mit Fäkalbakterien verschmutz wur-de, was zu zahlreichen Durchfallerkrankungen und erhöhten Todesraten führte. Zudem lässt es sich kaum verhindern, dass durch Überschwemmungen gefährliche Chemikalien, Schwerme-talle oder andere gefährliche Substanzen in die Sedimente sowie Erde versickern, wodurch sie ihren Weg in das Grundwasser finden.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden in Zukunft Dürren zunehmen, besonders in Gebie-ten, die bereits als trocken gelten. Dabei ist es nicht auszuschließen, dass manche Gebiete von längeren Trockenzeiten heimgesucht werden und zur gleichen Zeit der jährliche Niederschlag ansteigt. Dies hängt damit zusammen, dass Niederschlagsereignisse zwar seltener werden, wenn sie aber eintreten, besonders stark ausfallen. In trockenen Gebieten tritt dann das Phänomen auf, dass die ausgedorrte Erde die Massen an Wasser nicht aufnehmen kann und folglich Über-schwemmung entstehen. In erster Linie werden allerdings Dürren mit Verlusten der Ernte as-soziiert. Häufiger und länger auftretende Dürren könnten die Nahrungssicherheit eines Landes bedrohen. Mit einer zunehmenden Trockenheit steigt ebenso das Risiko gegenüber Wandbrän-den. Schlechter werdende Lebensverhältnisse, gepaart mit einer schwachen Nahrungsmittelver-sorgung, sind oftmals Auslöser für Migration der ländlichen Bevölkerung in urbane Gebiete.89 Je nachdem wie groß die Migrationsbewegung ausfällt, kann die urbane Infrastruktur durch eine akute Mehrbelastung an ihre Grenzen kommen. Die sanitären Anlagen in den Städten in we-niger entwickelten Ländern sind meist auf diese Mehrbelastung nicht ausgelegt, was wiederum zu einem Anstieg von infektiösen Krankheiten führt. In Verbindung mit einer zunehmenden Weltbevölkerung, die sich immer mehr in Städten ansiedelt, steuert man auf eine prekäre Situa-tion zu. Bis 2030 werden voraussichtlich zwischen 60 und 70 % der Weltbevölkerung in Städten leben. Allerdings hält in vielen Regionen der Ausbau der Städte mit dem Zuzug nicht mit. 60 % der Infrastruktur und Häuser müssen in urbanen Regionen in Afrika und Asien noch errichtet werden, um auf das urbane Bevölkerungswachstum entsprechend vorbereitet zu sein.90 Mög-licherweise repräsentiert keine Stadt das überschnelle urbane Wachstum auf dieser Welt so wie die nigerianische Stadt Lagos, deren Bevölkerung in den letzten 60 Jahren von 300 000 auf über 8 Millionen anwuchs.

2. Der Landwirtschaft stehen aufgrund des verändernden Klimas neue Herausforderungen bevor. Entscheidend ist dabei, inwiefern die Natur und die aus ihr gewonnen Produkte auf die veränderten klimatischen Bedingungen reagieren. Entlang des Äquators sowie südlich davon wirken sich bereits steigende Temperaturen und unberechenbarere gewordene Wettermuster negativ auf die Nahrungsproduktion aus. In den nördlicheren Breiten, allen voran in Nord-europa, könnten die wärmeren Temperaturen und eine höhere CO2

-Konzentration in der At-mosphäre hingegen eine Ertragssteigerung mit sich bringen, da die Entwicklung dem Pflanzen-wachstum dienlich ist. Die neuen Bedingungen sorgen mittlerweile dafür, dass seit ein paar Jahren der Weinanbau in Skandinavien ein neu gewonnener Wirtschaftszweig ist. Doch die In-teraktion zwischen weiter ansteigenden Temperaturen und veränderten Niederschlagsmengen könnte den positiven Düngeeffekt des Kohlendioxids im Mittel überwiegen.

3. Gerade in tropischen und subtropischen Gebieten könnte der Klimawandel die Nahrungs- mittelsicherheit unterminieren. Unter Eintritt der hohen emissionsstarken SRES-Szenarien könnten sogar bis 2080 signifikante Rückgänge von bis zu 30 % in Afrika und Teilen Asien er-wartet werden. Selbst wenn die globalen Emissionen stark begrenzt werden, wäre ein Einschnitt der Erträge von bis zu 10 % immer noch äußerst wahrscheinlich. Bei einem Temperaturanstieg von über 2°C müsste in fast jedem Teil dieser Welt ein Produktionsrückgang erwartet werden. Die wirtschaftliche Folge wäre ein Anstieg der weltweiten Getreidepreise im Laufe des Jahr-hunderts. Bereits heute leiden einige Regionen unter Mangel an Nahrungsmitteln, besonders in Afrika und Asien. Rund 690 Millionen Menschen litten nach Angaben der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) 2019 an Hunger, wobei besonders die Extremfälle an Unterernährung tendenziell zunehmen.91 Demgegenüber stehen 1,9 Milliarden, hauptsächlich in der westlichen Welt, die unter Fettleibigkeit leiden.92

Regionale Krisen verursachen Millionen neue Hungerleidende. Zugänge zu einer stabilen Nahrungsmittelversorgung fallen weg, teils aufgrund steigender Nahrungsmittelpreise. Dabei müssen veränderte Niederschlagsmuster nicht der Hauptgrund von Nahrungsmittelknappheit sein. Oftmals sind es große Migrationsbewegungen, die den Lebensmittelmarkt erschöpfen. Unter gleichbleibenden Anbaubedingungen könnte das anhaltende Wachstum der Weltbevöl-kerung zusätzlichen Stress auf die Nahrungssicherheit in bestimmten Regionen haben.

Selbst die positive landwirtschaftliche Entwicklung in den nördlicheren Breiten wird aller Vo-raussicht nicht von langfristiger Dauer sein. In den letzten Jahren haben Wetterextreme wie Hit-zewellen oder Niederschlagsextreme auch in gemäßigteren Breiten zu Ernteverlusten geführt. Es wird damit gerechnet, dass in Zukunft Dürreperioden in Europa häufiger auftreten werden.93Exaktere Prognosen von Klimamodellen könnten helfen, regionale Missernten zu reduzieren.

4. Wie haben bereits gezeigt, dass der Klimawandel Auswirkungen auf die menschliche Ge- sundheit hat. Hitzewellen, Dürren und Fluten führen zu einer steigenden Mortalität und Mor-bidität. Insbesondere Kinder, Frauen, ältere Menschen, Menschen mit Vorerkrankungen und jene mit schwachem Zugang zu Hilfsleistungen gelten am verwundbarsten. Neben naheliegen-den Folgen wie aus Hitzewellen resultierende Hitzeschläge, Hunger im Zuge von Dürren oder körperliche Verletzungen während Flutereignissen (Fluten mit katastrophischen Dimensionen können zudem psychische Belastungsstörungen bei den Betroffenen hervorrufen; dass während dieser Ereignisse Gesundheitsdienste vorübergehend ausfallen können, verschärft die Lage zu-sätzlich), stellt die Ausbreitung von Infektionskrankheiten einen großen Aspekt dar. Reduzierte Frischwasserverfügbarkeit oder durch Bakterien kontaminiertes Trinkwasser erhöhen Mor-talität und Morbidität. Verschmutztes Wasser, mangelhafte sanitäre Anlagen sowie Abwasser-systeme und unzureichende Hygienestandards gehören mit zu den größten Problemen in Ent-wicklungsländern, wodurch die Auswirkungen von Extremereignissen besonders verheerend ausfallen können.94

Wahrscheinlich wird die Verbreitung von Infektionskrankheiten wie Malaria in Zukunft stei-gen. Besonders Afrika wird davon betroffen sein, wo bereits jetzt 90 % aller Malariafälle auf-treten. Laut einer in der Fachzeitschrift für Medizin The Lancet veröffentlichen Studie, wird ein Anstieg der Malariafälle von 16 bis 28 % in Afrika bis 2100 erwartet. Der Studie lagen die Sze-narien B1 (wenig Treibhausgasemissionen), A2a (mittelmäßige Treibhausgasemissionen) und A1FI (hohe Emissionen) zugrunde: Unter allen drei Szenarien stiegen die Infektionen. Dabei ergab ein kleiner bis größerer Temperaturanstieg sowie eine Reduktion (unter B1) als auch ein Anstieg (unter A2a und A1FI) des Niederschlags eine längere Malariasaison mit folglich mehr Infektionen. Zwar bleibt die räumliche Ausbreitung der Krankheit bemerkenswert gering, doch ist der potentielle Effekt des Klimawandels in Gebieten, in denen bereits die Übertragung der Krankheit existiert, mit einer monatlich höheren Ansteckungsrate zwischen 28 und 42 % be-trächtlich.95

Ähnlich sieht es beim Dengue-Fieber aus, nur dass sich hier die Verbreitung nicht auf einen Kontinent zentralisiert, sondern ebenfalls Süd- und Mittelamerika sowie Südostasien davon be-troffen sein könnten. Auch hier wird ein Anstieg der Infektion aufgrund steigender Tempera-turen und höhere Niederschlagsmengen vermutet. Selbst in Dürrezeiten wird sich der Stech-mückenbestand vergrößern, da Moskitos ideale Brutbedingungen in den vermehrt installierten Wasserreservoiren finden, die zur Anpassung an den Klimawandel installiert wurden. Zukünf-tige Zika-Epidemien könnten nachhaltigere Veränderungen in der Gesellschaft Lateinamerikas hervorrufen. Aufgrund höherer Ansteckungsfälle könnten mehr Neugeborene mit körperlichen Beeinträchtigungen zur Welt kommen. Dies hätte sozioökonomische Auswirkungen, da ein grö-ßer werdender Anteil der Bevölkerung mit körperlichen Beeinträchtigungen geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben wird. Durch solch einen gravierenden Einschnitt bei der Anzahl von Lohnempfängern könnte eine neue Armutsgeneration entstehen.96 In der nördlichen He-misphäre werden zukünftig allergische Krankheiten vermehrt auftreten. Durch das frühere Ein-setzen des Frühlings (der Klimawandel verschiebt die Jahreszeiten97) verlängert sich zwangs-läufig die Pollensaison. Eine höhere CO2

-Konzentration und höhere Temperaturen begünstigen zudem die Pollenproduktion.98

5. Ein weiterer Punkt, der durch die klimatischen Veränderungen beeinflusst wird, ist die Wasserverfügbarkeit . Das Wasserangebot ist von der Wasserinfrastruktur und von verschieden Wassertechniken abhängig, die in weniger entwickelten Ländern oftmals unzureichend vorhan-den sind. Der Klimawandel verändert Niederschlagsmuster, Gesamtabfluss und Flussläufe und beeinflusst auf diesem Wege die Wasserverfügbarkeit. Steigende Temperaturen können sich ne-gativ auf die Qualität des Wassers auswirken, ebenso können starke Niederschlagsereignisse und Fluten das Wasser verschmutzen. Das Grundwasser von Küstengebieten, vor allem das kleiner Inselstaaten, ist durch den Meeresspiegelanstieg und die damit einhergehenden Salzwasserin-trusion gefährdet. Dies hat negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und den Agrarsektor.

Änderungen von Flussläufen und des Gesamtabflusses, beispielsweise aufgrund schmelzender Gletscher, haben des Weiteren Auswirkungen auf Wasserkraftwerke. Profitieren solche Kraft-werke zum Beispiel in Skandinavien durch einen verstärkten Abfluss, reduziert sich die aus Was-serkraft gewonnene Energie in Süd- und Südosteuropa im Zuge von Trockenheit. Sofern keine Alternative in südlichen Regionen gefunden wird, könnte der damit einhergehende Energie-verlust zu schwächeren Produktionsleistungen führen.99 Höhere Temperaturen werden voraus-sichtlich die Nachfrage an Wasser für den häuslichen Gebrauch wie zum Kühlen und zum Trin-ken erhöhen. Sollten aufgrund Trockenheit staatliche Wasserrationierungen ausgerufen werden (so bereits in Spanien, Italien, Kalifornien oder Südafrika in den letzten Jahren), stößt eine erhöhte Wassernachfrage auf ein reduziertes Wasserangebot, insbesondere wenn das Bevölke-rungswachstum die Süßwasserverfügbarkeit zusätzlich belastet. In einer ohnehin angespannten gesellschaftlichen Lage könnte dies zu einer Erhöhung des Risikos gegenüber Konflikten führen.

6.  Küsten- und Meeresgebiete werden auf vielfache Art und Weise vom Klimawandel beein-flusst. Meeresspiegelanstieg, Versauerung und Erwärmung der Ozeane und tropische Stürme nehmen Einfluss auf das alltägliche Leben. Besonders der Meeresspiegelanstieg ist im Hinblick auf eine Überschwemmung von niedriggelegenen Küstengebieten bedrohlich, da die Wasser-massen bewohntes Land oder Nutzflächen direkt zerstören oder durch Salzwasserintrusion sowie Ausspülung von giftigen Materialien am Land das Gebiet nachhaltig schädigen. Küs-tengebiete sind die am dichtest besiedelten Gebiete dieser Erde. Meist befinden sich in den küstennahen Ballungsgebieten Industrieparks, wodurch sich die Wahrscheinlichkeit einer che-mischen Kontamination der Böden erhöht. Der Meeresspiegelanstieg stellt eine Gefahr dar, die sich schneller entwickelt als ursprünglich angenommen. Die Arbeitsgruppe I des IPCC zur Physical Science Basis revidierte in ihrem fünften Sachstandsbericht die sechs Jahre zuvor angegebenen Prognosen zum Meeresspiegelanstieg, da der Zufluss an Schmelzwasser in die Meere den Spiegel schneller ansteigen lässt, als dies im vierten Sachstandsbericht 2007 ange-geben wurde.100

Mit der Erwärmung der Meere erhöht sich die Gefahr von tropischen Wirbelstürmen, Ver-sauerung der Ozeane sowie Ausbleichung von Korallenriffen. Beide letztere Punkte haben negative Folgen für den Fischfang, da Fischbestände schwinden, weil Arten aussterben oder Fischschwärme in andere Gebiete migrieren. Auch hiervon sind besonders einkommens-schwache Länder betroffen, in denen der Fischfang nach wie vor einen bedeutenden Wirt-schaftszweig darstellt.101 Absterbende Korallenriffe wirken sich darüber hinaus negativ auf den Tourismus aus.

Dieser äußerst kurze Überblick102 hat gezeigt, wie sich der Klimawandel auf unser Leben und unsere Ökosysteme auswirkt bzw. in Zukunft auswirken wird. Steigende Luft- und Meeres-temperaturen setzten die Ökosysteme in einem Maße unter Stress, dass ihre natürliche Anpas-sungsfähigkeit mit dem Klimawandel nicht Schritt hält. Dabei ist nicht nur die Natur betroffen: Temperaturanstiege, Änderungen in den Niederschlagsmustern, Meeresspiegelanstieg und Wet-terextreme haben direkte Auswirkungen auf das menschliche Leben. Beeinträchtigungen unse-rer Gesundheit, Schäden und Verluste in wirtschaftlichen und ökologischen Sektoren durch Hitze- und Kältewellen, Fluten, Stürme, Brände oder Dürren werden erhebliche Einschnitte in das menschliche Leben nehmen. Bestimmte soziale Schichten und Menschen in Regionen, die besonders vom Klimawandel betroffen sind, werden am Rande ihrer Belastungsfähigkeit gera-ten. Das soziale Gefüge könnte hierdurch überwältigt werden.103

Die dargestellten Folgen für den Menschen bereiten die Grundlage dieser Arbeit. Mit die-ser Basis, dass der Klimawandel erhebliche Auswirkungen auf das menschliche Leben hat und soziale Systeme teilweise unter Stress gesetzt werden, sollen nun die Konsequenzen und Ver-flechtungen näher analysiert werden, um die katastrophischen Dimensionen des Klimawandels zu verstehen. Zunächst wollen wir uns mit dem Punkt befassen, dass sich die Politik in der Situation befindet, der Regulator des Klimaschutzes zu sein und sie demnach die Verantwor-tung trägt, bzw. die Verantwortung einer Gesellschaft repräsentiert, geeignete Maßnahmen zum Klimaschutz auf den Weg zu bringen, um negative Konsequenzen zu begrenze.

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Erster Teil

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1 Eine philosophische Reflexion der Klimapolitik anhand ihrer zwei Hauptbereiche Mitigation und Adaptation

1.1 Einführendes im Zuge einer Neuausrichtung der Klimaethik

Seit den Anfängen der öffentlichen, breiten Klimadiskussionen in den 1990ern, räumten die Ergebnisse zur Klimaforschung mehr und mehr Zweifel beiseite. Dass der Mensch für den Klimawandel verantwortlich ist, daran zweifeln heute nur noch wenige. Zu eindeutig sind die wissenschaftlichen Fakten, die mittlerweile seit knapp drei Jahrzehnten vom IPCC in seinen Sachstandsberichten zusammengefasst werden und als Grundlage für Debatten und Verhandlungen dienen. Das IPCC hat maßgeblich zur Entwicklung beigetragen, wie der Klimawandel heute wahrgenommen wird. Vom Fall, mit dem sich Klimawissenschaft-ler und Umweltschützer beschäftigen, hin zum dominierenden Thema der nationalen und internationalen Politik sowie des öffentlichen Bewusstseins. Politik und Wirtschaft sind ge-fordert, Gesellschaften anzupassen und den Klimawandel zu stoppen, indem entsprechende Maßnahmen umgesetzt werden, die mit den Regeln der Wirtschaftlichkeit vereinbar sind. Inwiefern kann die Philosophie neben diesen mächtigen, pragmatischen Disziplinen Fuß fassen und vor allem, auf welche Weise kann sie einen wertvollen Beitrag in der Klimadis-kussion leisten?

Politik und Ökonomie verfolgen meist Ansätze, die durch das Interesse gekennzeichnet sind, nationale ökonomische und politische Machtpositionen zu erhalten. Dies muss an sich nicht falsch sein, denn um Machtpositionen erhalten zu können, muss zuallererst Macht vorhanden sein, und Macht bedeutet in aller Regel Handlungsfähigkeit, die notwendig ist, um Strukturen überhaupt anpassen zu können. Problematisch ist nur, wenn die vorhandene Macht nicht effi-zient genutzt wird. So gehe es nach Dieter Birnbacher in der politischen Klimadebatte primär darum, ‚Reibungsverluste‘ im Inneren und Äußeren zu vermeiden und Wege aus der Krise zu finden, die den Übergang vom Status quo zu einem nachhaltig aufrechtzuerhaltenden Zustand

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nicht übermäßig erschweren.1 Die Folge ist, dass politische Übereinkommen und Maßnahmen auf bestehende Verhältnisse aufbauen, aus denen heraus eine nachhaltigere Entwicklung ein-geleitet oder Reduktionsziele angesteuert werden sollen. Aus dieser Position heraus wird nur selten hinterfragt, ob bestehende Ausgangssituationen überhaupt als gerecht gelten oder ob be-stehende Strukturen gar aufgebrochen werden müssten, um Nachhaltigkeit und Reduktionsziele effizient erreichen zu können.

Der Versuch, gegenwärtige politische Machtkonstellationen zu erhalten und Konfliktpoten-tiale zu vermeiden, zeigt sich unter anderem am Kyoto-Protokoll, das 1997 auf der dritten Ver-tragsstaatenkonferenz ( Conference of the Parties, COP  3) verabschiedet wurde. Die Parteien vereinbarten, dass sie ihre Emissionen bis 2012 so weit reduzieren, dass sie um 5 % unter dem Niveau von 1990 liegen. Inwieweit die Emissionsverteilung unter den Ländern zum ausgewähl-ten Referenzjahr als gerecht oder legitim anzusehen ist, wurde nicht in Frage gestellt.

Der größte Anteil der historischen sowie der aktuellen Emissionen an Treibhausgasen stammt von den Industrienationen. Seit 200 Jahren trägt ihr C02

-Ausstoß maßgeblich zum Anstieg der atmosphärischen Treibhausgaskonzentration bei, wodurch sie hauptverantwortlich für den anthropogenen Klimawandel sind. Unter Berücksichtigung dieser Historie wäre es unfair, die Emissionsreduzierung ebenfalls von weniger entwickelten Ländern zu erwarten, die damit ihre wirtschaftliche Entwicklung schwächen würden, aber besonders auch so lange nach wie vor die Industrienationen für den größten Anteil der atmosphärischen Treibhausgasbelastung ver-antwortlich sind. So wurde im Kyoto-Protokoll vereinbart, dass (1) die entwickelten Staaten ihre Emissionen zu reduzieren haben und (2) sie weniger entwickelte Länder dabei unterstüt-zen sollten, sich gegenüber den veränderten klimatischen Verhältnissen anzupassen. Den Ent-wicklungsländern ebenso wie den emissionsstarken Schwellenländern wie China und Indien wurden vorerst keine Reduktionsziele auferlegt. Hierdurch wurde ein Abkommen kreiert, dass bestehende Machtverhältnisse nicht dissoziiert und dennoch als fair angesehen wird.

Das mittelfristige Ziel der internationalen Klimapolitik ist allerdings eine drastische Senkung der weltweiten Emissionen, was eine Reduzierung der Emissionen nicht nur in den Industrie-nationen bedeutet, sondern auch eine Reduzierung in den Schwellenländern sowie in den Ent-wicklungsländern miteinschließt. Dies ist eine unausweichliche Konsequenz, um eine Stabilisie-rung der Treibhausgaskonzentration erreichen zu können. Darin schwingt auch eine moralische Dimension mit. Viele würden es als unfair erachten, dass sowohl Reiche als auch Arme in den entwickelten Ländern einen Lebensstil aufgeben sollen, den zur selben Zeit reichere Bevölke-rungsschichten in Entwicklungsländern annehmen und praktizieren, als sei der Mehrkonsum an CO2 in letztgenannten Ländern ohne Bedeutung. Das UNFCCC folgt daher dem Grundsatz, dass die Länder eine gemeinsame, aber unterschiedliche Verantwortung tragen, was bedeutet, dass im Klimaregime die Industriestaaten aufgrund ihrer historischen Emissionen die Haupt-verantwortung tragen, ohne die Entwicklungsstaaten in Hinsicht auf ihre wachsenden Emissio-nen von jeglicher Verantwortung freizusprechen. 1995 wurde auf der ersten Klimakonferenz in Berlin (COP 1) darauf verwiesen, dass man sich beim Klimaschutzprozess im Klaren sein soll, dass die meisten Emissionen von den entwickelten Ländern stammen, aber die Emissionen in den Entwicklungsländern, die zu diesem Zeitpunkt noch relativ gering waren, ansteigen werden, im Zuge der Erreichung ihrer sozialen und Entwicklungsziele.2 20  Jahre nach dem Berliner Mandat haben wir den Punkt erreicht, an dem Entwicklungs- und Schwellenländer zusammen-genommen mehr Emissionen ausstoßen als die entwickelten Länder.3 Dieser Umstand ändert die politischen Verantwortungsverhältnisse. Ein erfolgreicher Klimaschutz kann ohne die Mit-wirkung der Entwicklungsländer nicht gelingen, folglich dürfen diese in Zukunft nicht erneut von Reduktionspflichten freigesprochen werden, sofern man eine drastische Reduzierung des globalen Ausstoßes wirklich erreichen möchte. Damit wird den Entwicklungsländern letztend-lich insgesamt weniger an Emissionen zustehen – das heißt, die Aufsummierung sämtlicher aus-gestoßener Emissionen seit 1800 inklusive der zukünftigen produzierten Mengen – im Vergleich zu den Mengen, die die entwickelten Staaten über denselben Zeitraum ausgestoßen haben bzw. noch ausstoßen werden. Allerdings, indem das Ausgangsniveau von 1990 als gegeben akzeptiert wurde, wurde das Konfliktpotential einer Debatte über historische und zukünftige Emissions-verteilungen und deren Aufwiegung minimiert.

In der Klimaethik wird hingegen ein Ansatz verfolgt, der weitaus unabhängiger und losge-löst von Bestrebungen ist, bestehende Machtverhältnisse weitestgehend zu erhalten. Was unter-nommen werden soll und wieweit Verantwortung reicht, wird aus einer unparteiischen und egalitaristischen Position heraus untersucht. Dabei werden auch bestehende Strukturen infrage gestellt, ob diese gerecht seien oder ob bereits die als gegeben angesehene Ausgangsposition Schwächen aufzeigt. Beispielsweise hat Hans Jonas in seinem 1979 erschienen Werk „Prinzip Verantwortung“ die Schwäche der demokratischen Systeme aufgezeigt, dass sie ihrer Verant-wortung, die ökologischen Probleme unserer Zeit zu lösen, nur schwerlich nachkommen kön-nen, da der demokratischen Führung der konsequente Weitblick fehle, da sie auf kurzfristige Machterhaltung ausgelegt sei.4 Wenn wir die Demokratien unserer Zeit betrachten, befinden sich unter ihnen gerade jene Industrienationen (USA, Europa, Kanada, Australien, Japan, Süd-korea) und aufstrebende Volkswirtschaften (Indien, Brasilien, Südafrika, Indonesien, Malay-sia), die mit den Hauptanteil des weltweiten Treibhausgasausstoßes tragen. Die Schwäche der demokratischen Systeme, langfristige Probleme zu beheben, mag zutreffend sein, doch können wir Jonas’ Argument entgegenstellen, dass ebenso wenig zu erkennen ist, dass autoritäre und halb-autoritäre geführte Regime, wie zum Beispiel der Iran und die Golfstaaten, ihre Macht die letzten Jahre genutzt haben, Umweltzerstörung und den hohen Treibhausgasausstoß in ihren Ländern zu stoppen.

Aufgrund ihrer Unabhängigkeit vermag es die Klimaethik nüchterner auf Zustände zu bli-cken, ebenso grundlegende Überlegungen anzustellen. Wie in den anderen Teildisziplinen der angewandten Ethik, verfolgt auch die Klimaethik den Ansatz, ihre ethischen Überlegungen zwi-schen drei Ebenen anzustellen: der idealen, der nichtidealen und der pragmatisch-strategischen Ebene. Auf der idealen Ebene wird nach einer ethisch wünschenswerten Lösung gefragt. Der re-ale Handlungsrahmen wie Rechtsgrundlagen oder moralisch-psychologische Grenzen der Ver-wirklichung moralischer Forderungen spielen auf dieser Ebene zunächst keine Rolle. Es sollen Zielgrößen formuliert werden, um für die in der Praxis geltenden Normen eine Referenz zu ha-ben. Auf der nichtidealen Ebene geht es dann um eine Übersetzung der ethisch optimalen Ziele in praxisnähere Normen. Die idealen Normen müssen unter der Berücksichtigung faktischer Gegebenheiten wie Verhaltensnormen, geltende Verträge und rechtliche sowie völkerrechtliche Grundsätze angeglichen werden, damit sie unter Realbedingungen Anwendung erlangen könn-ten. Auf der letzten Ebene, der pragmatisch-strategischen Ebene, geht es letztendlich um die Durchsetzung der nichtidealen Normen unter faktisch bestehenden Bedingungen. Strategien müssen entwickelt und abgewogen werden, um die nichtidealen Normen bestmöglich umsetzen zu können, ohne dass viel von ihrem Gehalt verloren geht, aber auch ohne bestehende Rechte zu verletzen.5

Die über zwei Schritte stattfindende Übersetzung und Angleichung einer idealen Lösung an reale, herrschende Gegebenheiten, gleicht einem Abstieg. Von einer ethisch wünschenswerten Lösung muss der Weg zu konkreten Handlungsanleitungen gefunden werden, die unter politi-schen Bedingungen umsetzbar sind. Hier lag bisher das Problem der Klimaethik. Ihre Entwürfe endeten häufig in Szenarien, die wenig Bezug zur Realität hatten, da in der Übersetzung ihrer Zielvorgaben die realen Bedingungen zu wenig oder falsch berücksichtigt wurden oder ihre grundlegenden Überlegungen kaum praxisrelevant waren. So wird ihren Entwürfen die politi-sche Bedeutung abgesprochen, oder wird zumindest bezweifelt.

Um das Problem zu verstehen, müssen wir nur die Anfangsbedingungen betrachten. Die Stär-ke der Klimaethik ist ihre Unabhängigkeit. Sie verfolgt das Ziel, möglichst unparteiisch und egalitär zu diskutieren. Dies sind ihre Prinzipien, unten denen sie ihre Diskussion bis zum Ende durchführt. In dieser Stärke liegt jedoch zugleich ihre Schwäche. Ihre Ziele, die unter unpartei-ischen und egalitaristischen Vorstellungen gebildet wurden, müssen letzten Endes in die politi-sche Situation überführt werden, in der Machtverhältnisse und Interessenlagen das Geschehen diktieren. Neben machtpolitischen Aspekten sind zudem spezifisch soziale und ökonomische Situationen, die in den jeweiligen Ländern herrschen, von Relevanz. Unparteiische und ega-litaristische Normen zählen hier nur bedingt. Damit lassen sich die Ziele nur bedingt in eine weitaus komplexere politische Konstellation integrieren, basieren sie doch von Grund auf ideale Bedingungen. Das Ergebnis ist, dass klimaethische Ergebnisse teilweise weit weg von realen klimapolitischen Gegebenheiten liegen und kaum einen Einfluss auf die Debatte nehmen. So-mit stellt sich die Besonderheit der klimaethischen Position als Makel heraus. Die vergangenen Klimakonferenzen verdeutlichten abermals, dass Diskussionen über Klimaziele von politischen und wirtschaftlichen Interessen geprägt sind. Unter Aufrechterhaltung der Interessenlagen, ist es nur schwer möglich, den politischen Vertretern Zugeständnisse zum Schutz des globalen Klimas abzuverlangen.6 Folglich ist es bereits eine Herausforderung, unter den Spannungen, die von den verschiedenen Interessen der politischen Parteien geschürt werden, am Ende einer Konferenz überhaupt irgendwelche Ziele präsentieren zu können.

Eine Auflösung der Diskrepanz zwischen Klimapolitik, die von nationalen Interessen we-sentlich geprägt wird, und klimaethischen Entwürfe, die Machtkonstellationen ausblenden, erscheint beinahe als unmöglich. In beiden Gebieten werden Argumente unterschiedlich pri-orisiert. Dieter Birnbacher bemerkt, dass politische Akteure bei ihren Forderungen auf voll-kommene oder geschuldete Pflichten verweisen. Sie berufen sich auf Gerechtigkeitsprinzipien oder klagen Rechte ein, die eine stärkere normative Kraft besitzen. Die Klimaethik behandele demgegenüber vollkommene und unvollkommene Pflichten als gleichberechtigt. Pflichten und Apellen, die zum Beispiel eine Angleichung der Lebenschancen zwischen den entwickelten Län-dern und den Ländern des Südens oder Präventionsmaßnahmen für Schäden ohne eigenes Ver-schulden fordern, wird der gleiche Charakter zugeschrieben, wie Rechten, die auf historischen Gerechtigkeitsprinzipien basieren.7

Wir wollen die Problematik der politischen Bedeutung klimaethischer Ansätze anhand einer der bekanntesten Beiträge der Klimaethik darstellen. Peter Singers Ausführung verdeutlicht zu-nächst den egalitaristischen Gedanken der Klimaethik, indem Emissionen auf den Pro-Kopf-Ausstoß bezogen werden.8 Dies bedeutet, dass jedem Staat eine konkrete Obergrenze an zu-lässigen Emissionen zugesprochen wird, die sich anhand seiner Bevölkerungsgröße errechnet. Damit wird nicht nur für eine gleiche Verteilung der weltweiten Emissionen argumentiert, es wird zudem die Bevölkerungspolitik mitberücksichtigt. Während die Bevölkerungsthematik seit längerem in der Klimaethik integriert ist, wird die ansteigende Weltbevölkerung in klimapo-litischen Abhandlungen eher vernachlässigt. Im Hinblick auf die heutige gesellschaftlich-ökono-mische Situation und die Energieerzeugung, geht ein Bevölkerungswachstum immer noch mit einem Anstieg des Pro-Kopf-Ausstoßes von fossilen Energieträgern einher. Die Formulierung eines egalitären Reduktionsziels mit Bezug auf die Bevölkerung in einem festgelegten Referenz-jahr berücksichtigt dies. Denn die weltweiten Emissionen müssen so weit reduziert werden, dass eine gefährliche Störung des Klimasystems ausbleibt, und zwar für 7 Milliarden Menschen, für knapp 10 Milliarden in der Mitte sowie für über 11 Milliarden zum Ende dieses Jahrhunderts.9

Noch vor einigen Jahren bezog sich die chinesische Regierung in der politischen Diskussion auf ihren Pro-Kopf-Ausstoß. Aufgrund der Milliardenbevölkerung ihres Landes fiel dieser weit-aus geringer als der der USA, Japans, Kanadas oder Europas aus. Schon zu dieser Zeit galt China neben den USA als der größte CO2

-Produzent im Hinblick auf die Gesamtemissionen eines Landes, doch mit dem Verweis auf die Pro-Kopf-Emissionen hatte die Regierung ein strategi-sches Argument, sich der Diskussion über Reduktionsziele zu entziehen. Über nationale Inte-ressen hinaus wurde der Pro-Kopf-Ausstoß in der politischen Debatte allerdings nie dazu ver-wendet, um Restriktionen unter den Staaten auszuhandeln.

Singer plädiert für eine vollkommen gleiche Verteilung an Pro-Kopf-Emissionen. Ausgangs-punkt seines Ansatzes ist die Frage, warum jemand einen größeren Anspruch auf einen Teil der Atmosphäre haben sollte als jemand anderes. Die Antwort scheint zunächst evident zu sein: Niemand sollte ein solches Recht besitzen. Wenn niemand ein solches Recht besitzt, die Men-schen in den Industrienationen aber seit langer Zeit deutlich mehr ausstoßen als jene, die in weniger entwickelten Ländern wohnen, stößt man unweigerlich auf die Frage, wie der vergan-gene Mehr-Ausstoß der Industrienationen betreffend Kompensationsleistungen oder besondere Zugeständnisse gegenüber den weniger entwickelten Ländern, so wie es im Kyoto-Protokoll der Fall war, behandelt werden soll. Die Frage über vergangene Emissionen wird seit den Anfängen der Klimaethik diskutiert und wirft einen Komplex von Fragen auf: Können aktuelle Generatio-nen für die Sünden ihrer Vorgänger haftbar gemacht werden, zumal vorangegangene Generatio-nen mit besten Gewissen gehandelt haben, um Armut zu beseitigen und Wohlstand zu fördern, ohne wissenschaftliche Kenntnis zu besitzen, dass der Ausstoß an Treibhausgasen negative Aus-wirkungen auf die Erde hat; allerdings könnte dennoch eine Verpflichtung der Industriestaa-ten gegenüber den Rest der Welt bestehen, da ihr heutiger Wohlstand im Wesentlichen auf die Übernutzung natürlicher und fossiler Ressourcen beruht und sie mit ihrem erwirtschafteten Reichtum in der Lage sind, Maßnahmen umzusetzen.10 Singer löst dieses Problem, indem er wie die internationale Staatengemeinschaft im Kyoto-Protokoll 1990 als Referenzjahr nimmt. In diesem Jahr veröffentliche das IPCC seinen aller ersten Sachstandsbericht und eröffnete damit der Weltbevölkerung, dass es begründbare Anzeichen gibt, dass ein Mehr an Treibhausgasen Ri-siken und Gefahrenmomente in sich bergen. Und um die Sache nicht zu komplizieren, soll ange-nommen werden, dass „die armen Nationen großzügig über die Vergangenheit hinwegsehen“11.

Der nächste und wesentliche Schritt in Singers Ansatz ist die Entscheidung, wie viel jede Na-tion emittieren darf. Singer strebt hierbei keine Senkung des Treibhausgasausstoßes an, sondern er zielt lediglich auf eine Stabilisierung der weltweiten Emissionen zum gegenwärtigen Zeit-punkt seines Vorschlags ab. Nach Recherchen und Errechnungen ergäbe dies, dass jede Person eine Tonne an Kohlendioxid pro Jahr verbrauchen dürfe. Die Pro-Kopf-Emissionen der meisten Entwicklungsländer liegen weit unter Singers Grenzwert, wohingegen eine Person in einem ent-wickelten Land meist weit über eine Tonne CO2 im Jahr produziert. Um den jährlichen Grenz-wert einzuhalten, müssen die entwickelten Länder folglich ihre Emissionen reduzieren. Länder, die unter dem Grenzwert liegen, könnten im Jahr mehr ausstoßen als zuvor. Nun birgt eine egalitäre Verteilung an Emissionsrechten nach den Bevölkerungszahlen der Länder das Risiko, dass Länder Anreize für einen Bevölkerungsanstieg schaffen könnten, um auf diesem Wege ins-gesamt mehr an Treibhausgasen ausstoßen zu dürfen. Anstatt den globalen Ausstoß zu brem-sen, würde er in die Höhe wachsen. Um dies zu verhindern, schlägt Singer vor, entweder die Verteilung an eine fixe Bevölkerungszahl in einem bestimmten Jahr zu koppeln, beispielweise an das Referenzjahr 1990; oder an die geschätzte Bevölkerungsentwicklung eines Landes über einen mittelfristigen Zeitraum. Letzteres würde die unterschiedlichen Zusammensetzungen der Gesellschaften aus Jung und Alt berücksichtigen, denn Staaten, mit einem höheren Anteil an jungen Menschen, werden in den nächsten paar Jahrzehnten tendenziell stärker anwachsen als Gesellschaften, mit einem höheren Anteil an älteren Menschen. Mit eine auf konkrete Bevölke-rungszahlen ausgerichtete egalitäre Verteilung von Emissionsrechten sollen somit auch unter Berücksichtigung eines Bevölkerungswachstums die Emissionen stabilisiert werden. Staaten, deren Bevölkerungen seit Jahren rapide anwachsen, müssten ihre Bevölkerungspolitik überden-ken, ob sie nicht Maßnahmen ergreifen sollten, ihre Geburtenrate zu senken. Darüber hinaus sollen die Staaten die Möglichkeit haben, ihre zugewiesenen Emissionsrechte an andere Staaten zu verkaufen oder von anderen Staaten Emissionsrechte zu erwerben. Hierdurch könnten be-sonders Staaten, deren Pro-Kopf-Verbrauch unter einer Tonne liegt, von ihrem geringen Aus-stoß profitieren, indem sie ihre überschüssigen Rechte an Industriestaaten veräußern, die wie-derum die Möglichkeit hätten, allmählich ihre Volkswirtschaften dem Niveau von 1 t CO2

/Kopf anzupassen.

Einen weiteren Entwurf, der sich nicht wesentlich von dem Singers unterscheidet, dennoch an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben soll, ist das Denkmodell von „Kontraktion und Kon-vergenz“.12 Ebenfalls auf Grundlage der Überzeugung, dass kein Land ein Recht habe, mehr als andere zu emittieren, würden die Staaten im Zuge ihrer Anpassung auf einen gemeinsamen Zielkorridor zusteuern. Hierbei soll der Treibhausgasausstoß der Volkswirtschaften mit den gleichwertigen Ansprüchen anderer vereinbar sein und garantieren, dass Umwelt und Klima geschont werden. Während der Kontraktionsphase sollen die Länder ihren Treibhausgasaus-stoß so weit anpassen, dass sich der Pro-Kopf-Ausstoß dem ausgegebenen Zielwert annähert, wobei unter damaligen Umständen, wie bei Singer, von 1 t CO2

/Kopf ausgegangen wurde. Dies bedeutet, während die Industriestaaten ihren Verbrauch reduzieren müssen, haben die weniger entwickelten Länder Spielraum nach oben. In der Konvergenzphase nähert sich der Verbrauch der einzelnen Länder so weit an, dass letztendlich der Zielkorridor erreicht wird und die Pro-Kopf-Emissionen der Länder angeglichen sind. Da im Zuge des kontinuierlichen Bevölkerungs-wachstums die globalen Gesamtemissionen aller Voraussicht zunehmen werden, müsste der Pro-Kopf-Ausstoß in Zukunft weiter angepasst werden, was bedeuten würde, er müsste weiter gesenkt werden, damit das Zielniveau erhalten bliebe.

Sowohl Singers Ansatz als auch das Denkmodell zu Kontraktion und Konvergenz charakte-risieren sich grundlegend durch einen einheitlichen Pro-Kopf-Ausstoß. Nach Madeleine Hey-ward gibt es drei Grundprinzipien, auf die sich Argumentationen in der Klimadebatte stützen: Gleichheit, Verantwortung und Leistungsfähigkeit. Dabei begründet sich Gleichheit durch Sou-veränität (alle Staaten haben das gleiche Recht an der Atmosphäre), Vergleichbarkeit (alle Staa-ten sollen sich am Klimaschutz beteiligen) – beide sind im Kyoto-Protokoll reflektiert – und eben durch Egalitarismus (alle Menschen haben ein Recht auf gleiche Anteile an der atmosphä-rischen Allmende).13 Von allen Prinzipien ragt der Egalitarismus heraus, da in ihm ein kosmo-politischer Fokus auf ein jedes Individuum zu finden ist. Singer verdeutlicht diesen Fokus mit seiner Eingangsfrage, warum jemand mehr Ausstoßen dürfe als jemand anderes. Allerdings mag dies in der idealen Sphäre als fair gelten, bei genauerer Untersuchung zeigt sich, dass hierin die realen Verhältnisse nur ungenügend berücksichtigt werden. Die Ausblendung der historischen Pro-Kopf-Emissionen stellt dabei nicht das wesentliche Problem dar. Denn nach heutigem Kenntnisstand wissen wir, dass die Erreichung von mehr Wohlstand keine hohe Zunahme an Emissionen bedeuten muss,14 und sich darüber hinaus ein hohes Emissionsniveau negativ auf das Wohlbefinden auswirkt (siehe die besonders in Großstädten existierende Luftverschmut-zung und die damit zusammenhängenden Gesundheitsprobleme). Die Streitfrage, dass die Fest-setzung eines Grenzwertes bedeutet, dass den Entwicklungsstaaten insgesamt deutlich weniger Volumen an zu emittierenden Treibhausgasen als den entwickelten Staaten zusteht, kann daher vernachlässigt werden. Für das Wohl der globalen Bevölkerung und unter Berücksichtigung des heutigen Wissens- und Technologiestands, können Energiewirtschaft, Agrarwirtschaft, Verkehr und Bauwesen nachhaltig gestaltet werden, sodass aus der ungleichen Verteilung der Emissio-nen kein Nachteil gegenüber den Ländern des Südens entstehen muss. Eine internationale Zu-sammenarbeit, um Gesellschaften und Märkte im Sinne der Nachhaltigkeit auszurichten und zu entwickeln, ist dabei allerdings unabdingbar.

Das Problem liegt vielmehr am Grundprinzip selbst, Emissionsrechte unter den Erdenbür-gern in gleichen Teilen zu verteilen. Wird jedem Individuum das Recht erteilt, die gleiche Menge an Treibhausgasen in die Atmosphäre auszustoßen, impliziert dies, dass in den Ländern gleiche Umstände vorliegen, was faktisch nicht der Fall ist. Rund um den Globus besitzen Länder un-terschiedliche Vorkommen an fossilen Rohstoffen, wodurch sich mit der Zeit unterschiedliche historische Abhängigkeiten gegenüber fossilen Energieträgern entwickelt haben. Die Differenz ist möglicherweise selbst im politischen System eines Landes zu finden. Demokratien weisen tendenziell ein höheres Wachstum und Konsumverhalten auf, was meist zu einem Anstieg an Emissionen führt, als dies zum Beispiel in sozialistischen Systemen der Fall ist. Den Einwänden könnte entgegengehalten werden, dass es sich beim angestrebten Ziel um eine Ideologie hande-le, die die Reduzierung der Treibhausgase vorsieht, gleichwohl es verschiedene historische Ab-hängigkeiten von fossilen Rohstoffen gibt. Es solle primär um die Verringerung der Emissionen zum Schutz des Klimas gehen, nicht um die Aufrechterhaltung von Emissionsgewohnheiten. Doch selbst wenn von den unterschiedlichen historischen Emissionsgewohnheiten abgese-hen wird, wird beim egalitaristischen Ansatz vernachlässigt, dass in den Weltregionen unter-schiedliche Ökosystemen vorzufinden sind. Ökosysteme versorgen den Menschen mit wichti-gen Naturgütern, wobei sich der Reichtum der natürlichen Ressourcen von Region zu Region unterscheidet. Ökosysteme und ihre Güter sind wichtige Faktoren in einer Entwicklung, die auf die Anpassung gesellschaftlicher Mechanismen abzielt, um umweltfreundlicher zu agieren und Emissionen einzusparen. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Ökosysteme bedeutet dies allerdings, dass manche Regionen von ihrer natürlichen Umwelt mehr profitieren als andere. Am offensichtlichsten zeigt sich dies an der häuslichen Temperaturregulierung. Während nörd-liche, südliche oder tropische Länder einen hohen Energieaufwand zum Heizen bzw. Kühlen haben, profitieren Länder in gemäßigteren Breiten hingegen vom milden Klima. Wenn wir auf den wirtschaftlichen Sektor schauen, finden wir ein weiteres Argument gegen eine Gleichver-teilung von Pro-Kopf-Emissionen. Große Volkswirtschaften produzieren Güter nicht nur für den heimischen Markt, sondern haben in der Regel ein hohes Exportvolumen, sodass andere Länder von der ausländischen Produktion profitieren. Letztere können die Güter nutzen, ohne sie Produzieren zu müssen und sparen somit die Emissionen ein, die bei der Produktion anfal-len. Je nach Größe oder Art der Gütermenge können hier beachtliche Unterschiede entstehen. Beispielweise benötigt allein die Herstellung von Aluminium so viel Energie, dass ihr Anteil am nationalen Gesamtendenergieverbrauch einige Prozent betragen kann. Zusätzlich werden bei der Aluminiumherstellung die Treibhausgase CO und CO2 freigesetzt. Wir sehen also, dass ein egalitaristischer Ansatz unter idealen Bedingungen als gerecht gelten mag, ihm aber unter realen Verhältnissen die praktische Bedeutung abhandenkommt.

Neben mangelnder Berücksichtigung realer Bedingungen, wurde zudem die These aufgestellt, dass sich die Klimaethik mit grundlegenden Überlegungen zum Klimaschutz beschäftigt, die kaum praxisrelevant seien. Hierfür wollen wir uns die Debatte über die Pflichten des Einzel-nen zum individuellen Klimaschutz anschauen. Die Veröffentlichung eines Artikels von Walter Sinnott-Armstrong15 zu dieser Thematik erfuhr in der Klimaethik große Resonanz und veran-lasste Autoren, über individuelle Pflichten zum Klimaschutz zu diskutieren. Um die Diskussion einfach zu halten, wählt Sinnott-Armstrongs einen konkreten Fall und fragt, ob es moralische Verpflichtungen gäbe, auf eine Autofahrt an einem Sonntagnachmittag zu verzichten, die nur zum reinen Spaß unternommen werde, bei der fossiler Kraftstoff verbrannt wird, ohne einen namhaften Nutzen daraus zu gewinnen. Falls solch eine verschwenderische Spaßfahrt mora-lisch falsch sein sollte, müsste dies aus einem generellen moralischen Prinzip hergeleitet werden können. So bedient sich der Autor einer Reihe verschiedener moralischer Prinzipien, die aus diversen ethischen Gebieten stammen, wie grundsätzliche Handlungsprinzipien (niemanden Schaden zufügen, Probleme und Risiken nicht zu verschlimmern), deontologische Prinzipien, angelehnt an Immanuel Kants Imperative, oder Kollektivprinzipen betreffend rechtliche Regel-überschreitungen sowie kontrafaktische, konsequentialistische Prinzipen. Nach Abarbeitung der Prinzipien kommt er letztendlich zu dem Ergebnis, dass kein generell moralisches Prin-zip begründet werden könne, welche die Handlung als moralisch falsch charakterisiere. Dabei stützt er seine Aussage auf das Argument, dass der Klimawandel ein Problem von solch einer Dimension sei, dass die Autofahrt eines Individuums nicht die Ursache des Klimawandels sei und diesen auch nicht verschlimmere. Sollte sich ein einzelner dazu entscheiden, wenig fossile Brennstoffe zu nutzen, sein Haus zu isolieren oder Strom aus erneuerbaren Energien zu ge-winnen, sei dies wunderbar, trage jedoch wenig bis gar nicht dazu bei, die globale Erwärmung zu stoppen. Es liege allein an den Regierungen, Lösungen zu finden und diese umzusetzen, so Sinnott-Armstrong.16

Hinsichtlich der ausgestoßenen Menge an CO2 argumentiert auch Mark Bryant Budolfson, dass das einzelne Individuum seine Emissionen nicht signifikant reduzieren müsse, da dies kei-nen Effekt hätte (hinzu sei es noch kostspielig). Aber besonders da wir wissen würden, dass Mil-liarden von Menschen in China, Indien und der Rest der Welt sich nicht um den Klimawandel scheren, und dies auch in Zukunft nicht tun, bis es letztlich zu spät sei.17 Avram Hiller verneint hingegen die These, dass individuelle Handlungen zu unbedeutend seien, um irgendeinen Effekt auf den Klimawandel zu haben. Wenn individuelle Handlungen wie Sonntagsausfahrten keine Ursachen des Klimawandels seien, was sollte dann den Klimawandel verursachen. Nach ihm bewirken individuelle Handlungen durchaus einen Unterschied im Hinblick auf die Gesamt-situation.18 Auch Steve Vanderheiden stimmt diesem zu. Zwar habe eine individuelle Handlung keine eindeutige Verschlimmerung des Klimawandels zur Folge, doch die einzelnen Handlun-gen zusammengenommen verursachen bedeutenden Schaden. Unter Berufung auf Derek Parfit argumentiert er, es könne eine Handlung, auch wenn sie für sich allein genommen keinen Scha-den bewirkt, als falsch angesehen werden, weil sie eine aus einer Reihe von Handlungen ist, die in der Summe Menschen schadet.19 Einen anderen Ansatz verfolgt hingegen Dale Jamieson. Nach ihm seien klassisch ethische Ansätze wie der Utilitarismus oder die Deontologie ungeeig-net, die Frage nach dem individuellen Beitrag zum Klimawandel aufzulösen, vielmehr müssten wir uns einer Tugendethik bedienen:

Bernward Gesang fragt wiederum, was wäre, wenn die ‚Partei‘ um Sinnott-Armstrong Recht hätte und unser individueller Beitrag zu den Klimagasemissionen tatsächlich so gering ist, dass er nicht ins Gewicht fällt, hieße das wirklich, dass der Einzelne nichts gegen den Klimawan-del unternehmen könne. Gesang kommt dabei zu zwei Ergebnissen: man müsse zwar das Auto nicht stehen lassen, aber man könne sich trotzdem an Klimaschutzprojekten beteiligen und da-für Werbung betreiben; oder man reduziere tatsächlich seine Emissionen und diene auf diesem Wege als Vorbild.21

Was lässt sich aus dieser Diskussion nun gewinnen? Zu Gesangs These hinsichtlich eines individuellen Beitrags zum Klimaschutz lässt sich wenig einwenden. Klimaschutz ist auch eine gesellschaftliche Bewegung, die von Individuen getragen wird. Die schwedische Schü-lerin und Klimaaktivistin Greta Thunberg wurde bekannt durch ihre beherzten Reden auf der COP 24 in Katowice im Dezember 2018 und auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos im darauffolgenden Monat, indem sie die mangelnden Bemühungen der Politik kritisierte, zu wenig gegen den Klimawandel zu unternehmen. Ihrem Protest für mehr Klimaschutz schlos-sen sich Schüler auf der ganzen Welt an.22 Im weltweiten Demonstrieren der Schüler liegt zu-dem ein ethisches Moment, nämlich im gemeinsamen Beklagen und Ertragen der Situation, dass Polkappen schmelzen, Flüsse und Seen versiegen, Arten aussterben oder Wetterextreme Verwüstungen hinterlassen, egal ob man diesen direkt ausgesetzt ist oder sie durch mediale Mittel erfährt. Jeder erlebt die Situation für sich individuell, aber auch vereint mit anderen, das letztendlich verbindet und woraus Handlungen und Taten folgen können.23 Einer der bekanntesten individuellen Beiträge zum Klimaschutz stammt von Yacouba Sawadogo, der für seine Arbeit 2018 den Alternativen Nobelpreis erhielt. Der Bauer aus Burkina Faso hat mithilfe der Weiterentwicklung der traditionellen Zaï-Anbautechnik über die Jahrzehnte 40 Hektar Bäume angepflanzt, wodurch er einerseits die Wüstenausbreitung der Sahelzone mindert und andererseits für die steigende Bevölkerung dringend benötigte Nahrungsquellen schafft.24 Zahlreiche andere Beispiele ließen sich hier noch anreihen, in denen der Einsatz Einzelner und der kleiner Gruppen zu einem regionalen Umdenken für mehr Klima- bzw. Umweltschutz geführt hat.

Doch wie relevant ist nun die geführte Diskussion um Sinnott-Armstrongs These für die kli-mapolitische Praxis? Der globale CO2

-Ausstoß ist nach wie vor hoch. Nachdem sich die Emis-sionen zwischen 2013 und 2016 stabilisiert hatten und man hoffte, der Höhepunkt sei erreicht, wuchsen die CO2

-Emissionen in den darauffolgenden Jahren aufgrund einer anhaltend hohen Nachfrage von Öl und Erdgas sowie eines starken globalen Wirtschaftswachstums und erreich-ten 2019 einen neuen Rekordwert von 36,4 Milliarden Tonnen.25 Nun stößt ein Auto zwischen 100 und 150 g CO2 pro Kilometer aus, besonders umweltschädliche Autos emittieren gar über 300 g/km an Kohlenstoffdioxid. Setzen wir den Ausstoß den weltweit ausgestoßenen 36,4 Gt CO2von 2019 gegenüber, kann Sinnott-Armstrongs These durchaus nachvollzogen werden, dass sei-ne Vergnügungsfahrt – egal um welches Auto es sich handelt – nur unbedeutend zum globalen Ausstoß beiträgt. Anders sieht es hingegen aus, wenn die Pro-Kopf-Emissionen als Referenz hinzugezogen werden. Gehen wir davon aus, dass für die Fahrt ein Auto genutzt wird, das als sportlich gilt und von Autoliebhabern sowie Autoren von Automagazinen in der Regel als fahr-freudig beschrieben werden würde, dementsprechend mehr als die üblichen Autos ausstößt, sagen wir 300 g/km CO2.

Mit diesem Auto werden 100 km zurückgelegt, was bedeuten wür-de, dass während der Fahrt 30 kg CO2 produziert werden. Nehmen wir nun Singers jährlichen Grenzwert von 1 t CO2 pro Kopf, durch den ursprünglich eine Stabilisierung der weltweiten Treibhausgaskonzentration auf einem nicht-klimaschädlichen Niveau erreicht werden hätte können, erscheint die einzelne Fahrt nicht mehr ganz so unbedeutend, da sie bereits 3 % der gesamten jährlichen zulässigen Emissionen ausmachen würde. Trotzdem lässt sich hierdurch kein moralisches Verbot der Fahrt herleiten. Vielmehr veranschaulicht die Rechnung, wie der ausgewählte Grenzwert von der Aktion belastet wird und man vielleicht besonnener mit seinen zugesprochenen Emissionen umgehen sollte. Die Emissionen könnten aber letztendlich auch anders eingespart werden, sodass man auf die Fahrt nicht verzichten müsste. Letztendlich geht es nur darum, dass die jährlichen Gesamtemissionen den Grenzwert von 1 t CO2

/Kopf am Ende des Jahres nicht übertreffen.

In Anbetracht der anhaltenden steigenden globalen Gesamtemissionen, müssen Wege ein-geleitet werden, mit denen die Emissionen in den Sektoren Energie, Verkehr, Bau und Industrie sowie Agrarwirtschaft stark reduziert werden. So obliegt es der Politik, in Kooperation mit der Wirtschaft, Strategien zu entwickeln und Maßnahmen einzuleiten, mit denen Emissionen im großen Maßstab gesenkt werden. Darüber hinaus müssen Anreize auf dem Markt geschaffen werden, damit die Bevölkerung nachhaltigere Alternativen zu umwelt- und klimaschädlichen Gütern nachfragt. Die Haltung eines Individuums kann zwar etwas bewirken, doch im Normal-fall gleicht sie dem ‚Tropfen auf dem heißen Stein‘. Seine Haltung kann für eine Entwicklung und für ein Umdenken stehen, womit ein Zeichen gesetzt wird. Der individuelle Verzicht auf eine Autofahrt, also die Aktion für sich genommen, wird jedoch keine Änderung der Gesamtsitua-tion bewirken, trotz der Tatsache, dass die gefährliche Dimension des Klimawandels aus der Ge-samtheit einzelner, vernachlässigbarer Handlungen resultiert. Im Hinblick auf das Gesamtauf-kommen der anthropogenen Treibhausgase ist sie so unbedeutend, dass dem Verzicht höchstens ein moralischer Wert zukommt, nämlich nicht (im kleinsten Maßstab) zu der Verschlechterung des Klimawandels beizutragen.

Zur Lösung des Problems wären vielleicht Denkansätze zielführender, die hinterfragen, wa-rum es Menschen für nötig halten oder gewollt sind, sich Autos mit hohem Emissionsaus-stoß zuzulegen oder die den Ansatz umdrehen und nicht nach dem individuellen Beitrag zum Klimawandel fragen, sondern thematisieren, dass eine jede Person mit den negativen Aus-wirkungen des Klimawandels leben muss. Mit Ersterem werden gesellschaftliche Verhältnisse überprüft, wie zum Beispiel, ob der Markt tatsächliche Alternativen bietet oder ob mehr in technologischem Fortschritt investieret werden muss, ob die Infrastruktur für Alternativen in ausreichendem Maße vorhanden ist oder ob wir unser Konsumverhalten überdenken sollten. Hierbei werden ebenso essenzielle Fragen aufgeworfen, wie wir überhaupt leben wollen. Letz-teres hebt hingegen die Globalität des Klimawandels hervor und verdeutlicht, dass die Aus-wirkungen des Klimawandels weder vor nationalen noch sozialen Grenzen haltmachen (auch wenn Länder und soziale Gruppen unterschiedlich von den Folgen betroffen sind) und folglich für die Lösung des Problems nationale sowie internationale Abkommen und Maßnahmen nötig sind, wobei nationale Strategien die globale Dimension des Klimawandels mitberücksichtigen müssen. Was mit der globalen Dimension nationaler Strategien gemeint ist, wird am Beispiel Chinas deutlich: China hat in den letzten Jahren seine Anstrengungen zum Klimaschutz im Rahmen seines neu überarbeiteten Umweltschutzgesetzes, das 2015 in Kraft trat, intensiviert. Allerdings weist einiges darauf hin, dass dieser Schritt für die Regierung als unausweichlich angesehen wurde, um das Wohl der eigenen Bevölkerung zu wahren, nachdem im Laufe des chinesischen Wirtschaftswachstums mehr und mehr Ökosysteme verseucht wurden und die Luft in den Großstädten zur realen Gefahr wurde. In den letzten Jahren fiel der Kohleverbrauch des Landes, da durch erneuerbare Energiequellen zunehmend saubere Energie in das Strom-netz eingespeist wurde. Ein abnehmender CO2

-Ausstoß aufgrund weniger Kohlekraftwerke in China sollte eigentlich einen positiven Effekt auf das Weltklima bedeuten, allerdings wird die-

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ser Effekt nichtig, wenn chinesische Institutionen zur selben Zeit in Malaysia, Indonesien oder Bangladesch weiter in kohlekonsumierende Sektoren investieren und ihren CO2

-Ausstoß in gewisser Weise externalisieren.26

Welchen Nutzen hat nun die Klimaethik für die politische Praxis, wenn Modelle entworfen werden, die stark von idealen Normen gekennzeichnet sind oder Diskussionen schon von Grund auf nur bedingt relevant sind? Trotz der herrschenden Differenz zwischen idealen Normen und Praxisnormen, ist die Klimaethik nach Dieter Birnbacher unentbehrlich. Ideale Normen sind der Bezugspunkt für praktische Normen und geben diesen eine „Fundierung“. „Ohne die ideale Moral hingen die für die Praxis tauglichen Moralnormen in der Luft.“27 Zudem bietet der Ab-stieg von der idealen Sphäre zur konkreten Handlungsebene kritisches Potential, geltende Moral und Regeln in Frage zu stellen. Demnach bietet die Klimaethik eine moralische Orientierung gegenüber der Politik. Der Wert der Klimaethik liegt somit in der Möglichkeit, sie als Referenz zu nutzen, auf die man zurückgreifen kann, wenn es um politisch-rechtliche Entwürfe und Be-schlüsse geht. Allerdings besitzen Politiker und wirtschaftliche Eliten nicht allzu oft die Muse, sich bei ihren Entscheidungen mit einem Blick auf ethische Gedankenmodelle Empfehlungen einzuholen.

Meiner Ansicht nach besitzt die Klimaethik jedoch noch einen weiteren Wert und könnte mit ihrem Inhalt weitaus mehr zur Klimadebatte beitragen, als sie es mit ihrer Art und Weise bisher tat. Hierfür müsste sie ihren Blick erweitern und die eigentliche Tragweite des Klimawandels be-trachten. Hauptgegenstand der Klimaethik ist seit ihren Anfängen die Auflösung des Dilemmas über nationale Reduktionsziele. Dies änderte sich kaum in den vergangenen Jahren. Aufgrund dieser Fokussierung erweckt das Gros der klimaethischen Beiträge den Eindruck, dass der Kli-mawandel ein vom Menschen gemachtes Umweltproblem sei, das durch die Reduzierung und Stabilisierung der Treibhausgaskonzentration behoben werden könne.28 Die gesellschaftliche bzw. menschliche Dimension des Klimawandels, dass mit dem Klimawandel fruchtbares Land verloren geht, Lebensgrundlagen wegbrechen, Nahrungsknappheit und Wassermangel entste-hen und Menschen einen Ausweg in Migration suchen, blieb in der klimaethischen Debatte weitestgehend unberücksichtigt. Die Problematik des Klimawandels ergibt sich nicht lediglich aus der Regulierung des Treibhausgasausstoßes. Sie gründet in einem politischen, ökologischen, ökonomischen und sozial-kulturellen Komplex, der aus dem Spannungsfeld zwischen unserem Lebensstil, den damit verbundenem hohen Verbrauch fossiler Brennstoffe, den daraus entste-henden Klima- und Umweltveränderungen und die Verschlechterung der Lebensbedingungen unter existierenden gesellschaftlichen Bedingungen, besonders im ärmeren Süden, resultiert.

Bei solch einem Komplex und diversen Einflussfaktoren können genuin-klimatische Thema-tiken kaum unabhängig von gesellschaftlichen Bedingungen betrachtet werden, wie folgendes Beispiel verdeutlicht: Die Sahelzone ist auf dem afrikanischen Kontinent das Übergangsgebiet zwischen dem nördlichen Wüstengebiet und den feuchteren Savannengebieten im Süden. Das Klima der Sahelzone ist unstabil und variiert alle paar Jahre, allerdings wurde sie in der zweiten Hälfte des vorherigen Jahrhunderts von einer außergewöhnlich schweren Trockenheit heim-gesucht, die auf natürliche Klimaschwankungen, aber auch teilweise auf den Anstieg der Treib-hausgase zurückzuführen ist. Obwohl sich die Sahelzone im Moment durch vermehrte Nieder-schläge von den schweren Dürren der 1970er und 1980er teilweise erholt, wird die Region im Zuge der globalen Erwärmung trockener werden.29 Damit geht ein Verlust der Lebensgrundla-ge einher, da Land für die Landwirtschaft schwindet, die der dominierende wirtschaftliche Sek-tor der Region ist. Es wäre allerdings falsch, die Lebenssituation ausschließlich in Verbindung zum klimatischen Wandel zu betrachten, ohne die bestehenden gesellschaftlichen Umstände. Die Sahelzone gehört zu den ärmsten Regionen dieser Welt, folglich sind die sozioökonomi-schen Mittel gering, sich an die veränderten Umstände anzupassen. Umweltdegradation durch Überweidung, Abholzung und Übernutzung von natürlichen Ressourcen tragen in der Region seit Jahrzehnten zur ausbreitenden Desertifikation bei. Steigende Temperaturen im Zuge kli-matischer Änderungen verschärfen die vorliegenden Umweltbedingungen. Hinzu kommt ein äußerst hohes Bevölkerungswachstum, das den Umweltstress erhöht. Mit Aussicht auf bessere Lebensbedingungen fliehen Menschen aus den vertrockneten Regionen der Sahelzone in die Städte, wodurch die Kapazitäten der urbanen Einrichtungen überlastet werden. Die ethnisch-re-ligiösen Konflikte der Region und Krisen betreffend Nahrungsknappheit und Mangel an natür-lichen Ressourcen tragen darüber hinaus zu einer Verschlechterung der gesellschaftlichen Lage bei, wodurch Vertreibung weiter angetrieben wird.30

Mit dem Klimawandel hängen Thematiken zusammen, die unter das Hoheitsgebiet der Na-tur-, Politik-, Wirtschafts-, Sozial-, Rechts- sowie den Geisteswissenschaften31 fallen, die aber keinesfalls im Bereich einer Disziplin allein gelöst werden können, sondern nur unter Einbin-dung der anderen. Die Philosophie als Geisteswissenschaft kann hierbei als interdisziplinäres Bindeglied zwischen den Wissenschaften agieren. Das oben beschriebene Spannungsfeld, das sich zwischen Ursprung des Klimawandels und seinen Auswirkungen bildet, beinhaltet darüber hinaus Themen, die philosophisch geprägt sind, wie die Frage nach unserem Verhältnis zu unse-rer Umwelt oder wie Verantwortung und Kooperation innerhalb der Staatengemeinschaft wahr-genommen werden sollten, besonders unter dem Aspekt, dass wenige entwickelte Länder nicht nur am verwundbarsten gegenüber den nachteiligen Folgen des Klimawandels sind, sondern auch nicht die Möglichkeiten haben, sich diesen gegenüber ausreichend anzupassen. Dies wirft wiederum Fragen über Entwicklung, Sicherheit und Lebensgrundlagen auf. Im Zuge der Ana-lyse der katastrophischen Dimension des Klimawandels, wollen wir uns diesen Fragen widmen. Damit wird verstärkt der Blick auf die Folgen des Klimawandels und die Lebensbedingungen der Betroffenen gerichtet, allerdings ohne die Ursache des Klimawandels unberücksichtigt zu lassen. Unter diesem Perspektivwechsel muss die Klimaethik zu weiten Teilen auch als eine Ent-wicklungsethik verstanden werden.

Beginnen wollen wir die Analyse zunächst mit der Betrachtung der internationalen Klima-politik. Darunter fallen ihre zwei Hauptbereiche Mitigation , was die Reduzierung der Treib-hausgasemissionen ist und Adaptation , die die Anpassung an die Folgen durch die klimatischen Veränderungen umfasst. Anhand des klimapolitischen Rahmens lässt sich der Status quo auf-zeigen, aus dem heraus politische Ziele sowie gesellschaftliche Werte, die unter klimapolitischen Bemühungen zur Disposition stehen, thematisiert werden können.

1.2 Die Klimarahmenkonventionen

Am 9. Mai 1992 wurde in New York ein entscheidender Schritt zu einem internationalen Kli-mavertragswerk vollbracht: Das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klima-änderungen ( United Nations Framework Convention on Climate Change , UNFCCC) wurde ver-abschiedet und im selbigen Jahr in Rio de Janeiro von 154 Staaten unterschrieben und ratifiziert. Zum ersten Mal wurde damit ein rechtliches Übereinkommen statuiert, mit dem Ziel, die Treib-hausgaskonzentrationen in der Atmosphäre auf einem Niveau zu stabilisieren, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert werden soll (Art. 2 UNFCCC). Nachdem auf zwei bereits vorangegangen Klimakonferenzen die Bemühungen der UN vergeb-lich waren, das damalige gewohnheitsrechtliche Verbot erheblicher grenzüberschreitender Luft-verunreinigung im Völkerrecht durch ein konkretes Abkommen zu ersetzen, war letztendlich die Beweislast der wissenschaftlichen Forschungsergebnisse des ersten Berichts des Weltklima-rates von 1990, dass der Mensch durch sein Handeln in das Klima eingreift, zu erdrückend.32So wurde dem Klimawandel, vier Jahre nachdem er von den Vereinten Nationen zum common concern of mankind proklamiert wurde,33 sein eigener Rechtsgrundsatz im Völkerrecht gegeben.

Bis zum Rahmenübereinkommen von 1992 machte das Umweltvölkerrecht eine lange Ent-wicklung durch, die beim völkerrechtlichen Nachbarrecht und den Normen zum Artenschutz und zur Ressourcennutzung ihren Anfang nahm. Dabei spielte der damalige tief im Nachbarrecht verankerte Gedanke der unbegrenzten Souveränität eines Einzelstaates eine entscheidende Rolle. Heute ist dieser Gedanke nicht mehr zeitgemäß. Dieser Souveränitätsgedanke, dass ein Emis- sions staat über sämtliche Aktivitäten in seinem Gebiet frei entscheiden darf, seien sie umweltge-fährdend oder umweltbelastend, konfligierte mit dem Prinzip der territorialen Integrität, das be-sagt, dass ein Immissions staat einen grundsätzlichen Anspruch hat, dass ohne seine Zustimmung Gebietsbeeinträchtigungen von außen unterbleiben sollen. Daraus entstanden recht früh neben völkerrechtlichen Verträgen drei Fälle im völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht, die den juristi-schen Anknüpfungspunkt über viele Jahre lieferten, inwiefern ein geschädigter Staat Ansprüche gegen einen Schädiger äußern kann.34 Mit dem Fortschritt in der Forschung und wachsenden Kenntnisstand betreffend Umweltprobleme, reichte das Gewohnheitsrecht des völkerrechtlichen Nachbarrechts nicht mehr aus, eine ausreichende Gesetzesgrundlage für die Weltgemeinschaft zu bieten. Langfristig gesehen unterliegen die Gegebenheiten in unserer Umwelt ständigen Verän-derungen. Die konkreten Fälle des Gewohnheitsrechts, mit ihren abstrakten Normen, ohne feste Grundsätze und detaillierte Aspekte, waren auf Dauer ungeeignet, eine Grundlage für die anhal-tende ökologische Entwicklung zu bieten. Ein konkretes Abkommen war folglich nötig, das zu-dem seinen Fokus nicht auf einen einzelnen Staat setzt, sondern das Handeln in Relation zu den Auswirkungen setzt. So ist das UNFCCC allein durch seine Neuausrichtung rechtlich bedeutend, dass nicht mehr die Immissionen im Vordergrund stehen, sondern die Emissionen der Staaten. Der Klimawandel ist ein Problem, das sich über alle Grenzen hinwegsetzt und wahrlich gren- zenlos ist. Durch die Akkumulation des globalen Treibhausgasausstoßes findet der Klimawandel nicht ausschließlich an einem bestimmten Ort statt, sodass Umweltbelastungen als Folgen des Klimawandels bei unmittelbar betroffenen Staaten nicht „isolierbar“ und als zurechenbar auftre-ten.35 Ein völkerrechtliches Immissionsverbot könnte den weiträumigen, grenzüberschreitenden Umweltbeeinträchtigungen nicht gerecht werden.36 Kein Staat kann für eine bestimmte Folge, die in einem anderen Staat auftritt, verlangt werden. Ein Urteil wegen eines völkerrechtlichen Delikts, dass sich ein Staat völkerrechtswidrig verhält, scheitert damit. Der wechselnde Ansatz-punkt im UNFCCC gegenüber dem vorangegangenen Gewohnheitsrecht, die Emissionen in den Vordergrund zu setzen, war somit die nötige Konsequenz.

Damit völkerrechtliche Verträge annähernd rechtskräftigen Charakter bekommen, sollten sie von möglichst vielen Staaten unterzeichnet werden. Auf internationaler politischer Bühne treten die Staaten als ihr eigener Souverän auf, wodurch es schwierig ist, ein zwingendes, völkerrecht-liches Klimaschutzrecht mit rechtlichen Pflichten zu verabschieden. Auch wenn Staaten ein inter-nationales Vertragswerk unterzeichnen, steht ihre Unterzeichnung gewissermaßen lediglich für eine freiwillige Verpflichtung. Um dieses traditionelle Souveränitätsverständnis abzuschwächen, strebte man mit dem UNFCCC einen neuen Charakter des Umweltrechts an. Aus einem Nach-barrecht sollte ein Welt -Umweltrecht entstehen, mit dem Umweltmedien unmittelbar geschützt werden sollten. Dies bedeutet, dass sich der Schutz nicht mehr allein auf rein anthropozentrische Interessen bezieht, wenn Nutzungsinteressen eines Staates verletzt werden. Mit der Bestrebung, einen neuen Charakter des Umweltrechts zu schaffen und den Souveränitätsgedanken zu redu-zieren, waren zudem die Aushandlungen des UNFCCC entscheidend, da es darum ging, dass sich die Länder ihrer regionalen und globalen Verantwortung bewusst werden sollten, um daraus eine globale Partnerschaft zwischen den Staaten ableiten zu können. Durch diesen Prozess hat sich das Klimaschutzrecht vom klassischen Koexistenz- zum Kooperationsrecht weiterentwickelt.37

Das Rahmenübereinkommen unterzeichneten damals 154 der 194 Vertragsstaaten und ver-pflichteten sich auf diesem Wege, im Sinne der Nachhaltigkeit ( sustainability ) die Treibhausgas-konzentration in der Atmosphäre auf einem Niveau zu stabilisieren, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert werden soll. Dies soll in einem Zeitraum erreicht werden, in dem sich die Ökosysteme auf natürliche Weise den Klimaänderungen an-passen können (Art. 2 UNFCCC). Wie bereits im Kapitel zuvor erwähnt, tragen die Länder durch ihren unterschiedlichen Ausstoß an CO2 unterschiedlich zum Klimawandel bei. Darüber hinaus besitzen sie nicht die gleichen Möglichkeiten, zur Stabilisierung der globalen Emissionen beizutragen. Deshalb soll nach dem Grundsatz gehandelt werden, dass die Vertragsparteien sich entsprechend „ihren gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten“ und ihren je-weiligen Fähigkeiten sowie ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage daran beteiligen sollen, das Klimasystem zum Wohl heutiger und künftiger Generationen zu schützen (Einführung & Art. 3 Abs. 1 UNFCCC). Nach Wolfgang Sachs und Tilman Santarius wurde mit dem Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung, „grundsätzlich die rechtliche Bedeutung vergangener Taten für die Gegenwart anerkannt“. Und was wie ein diplomatisches Zugeständnis aussehe, ließe sich auch wie ein Eingeständnis lesen – auch wenn dies damit nicht beabsichtigt sei –, nämlich, dass der Norden im Laufe der letzten Jahrhunderte gegenüber dem Süden öko-logische Schulden angesammelt hat, indem er Anteile des Umweltraums verzehrt hat, die heute dem Süden für seine Entwicklung fehlen.38

Weiter wird unter Art. 3 Abs. 3 darauf hingewiesen, dass die Vertragsparteien Vorsorgemaß-nahmen treffen sollen, um „den Ursachen der Klimaänderungen vorzubeugen, sie zu verhin-dern oder sie so gering wie möglich zu halten und die nachteiligen Auswirkungen der Klima-änderungen abschwächen“ ( mitigate ). Dabei soll das Fehlen einer völligen wissenschaftlichen Gewissheit nicht als Grund für das Aufschieben von Maßnahmen dienen, wo ernsthafte oder nicht wiedergutzumachende Schäden drohen. Die Vertragsparteien sollen sich verpflichten, un-ter der Berücksichtigung ihrer gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten, in ihren einschlägigen Politiken bei Maßnahmen in den Bereichen Soziales, Wirtschaft und Um-welt soweit wie möglich Überlegungen zu Klimaänderungen einzubeziehen. Hierin sollen ge-eignete Methoden zur Abschwächung ( to mitigate ) der Klimaänderungen oder zur Anpassung ( to adapt ) miteinbezogen werden. Diese gewählten Methoden sollen die nachteiligen Auswir-kungen auf Wirtschaft, Volksgesundheit und Umweltqualität so gering wie möglich halten (Art. 4 Abs. 1f UNFCCC). Art. 4 Abs. 2a besagt explizit, dass speziell die entwickelten Länder mit ihrer nationalen Politik entsprechende Maßnahmen zur Abschwächung der Klimaänderungen ergreifen sollen, indem sie ihre anthropogenen Emissionen von Treibhausgasen begrenzen und Treibhausgasspeicher39 schützen und erweitern.

In diesem Satzeinschub des Art. 4 Abs. 1f werden zum ersten Mal gemeinsam die Begriffe Abschwächung (Mitigation) und Anpassung (Adaptation) konkret als zwei umzusetzende Maß-nahmen benannt, um gegen den Klimawandel vorzugehen. Hingegen zu adaptiven Maßnahmen wird in Bezug auf mitigative Maßnahmen erwähnt, dass insbesondere die entwickelten Länder ihre Emissionen reduzieren sollen und in natürliche Treibhausgasspeicher (auch Senken ge-nannt) investieren sollen. Aus Art. 4 UNFCCC folgt daher, dass die entwickelten Länder haupt-sächlich für die Reduzierung des Treibhausgasausstoßes verantwortlich sind, allerdings sollen in jedem Land Maßnahmen zur Anpassung gegen die Klimaänderungen unternommen werden.

Bevor wir weiter fortschreiten, ist es zunächst nötig, dass beide Begriffe genauer definiert wer-den. Im Synthesebericht des IPCC 2007b werden beide Maßnahmen unter Annex II wie folgt definiert:

Fünf Jahre nach der Ratifizierung des UNFCCC wurde das Protokoll von Kyoto implementiert, um das Rahmenübereinkommen zu konkretisieren, genauere Ziele festzulegen und um darzu-legen, wie mitigative Maßnahmen durchzuführen seien. Das Protokoll sah eine Reduzierung der gesamten Treibhausgase von mindestens 5 % unter dem Emissionsniveau von 1990 vor, das als Basisjahr ausgerufen wurde. Dies sollte innerhalb des Zeitraums von 2008 bis 2012 geschehen (Art. 3 Abs. 1 Kyoto-Protokoll).41 Einigen Ländern wurde dabei gestattet, dass sie das Niveau von 1990 halten dürfen (Neuseeland, Russland, Ukraine) bzw. aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage sogar mehr emittieren dürfen (Island, Norwegen, Australien). Andere Staaten legten sich hingegen individuelle, weitreichendere Reduktionsziele auf. So wollte die Europäische Union ihren Ausstoß um 8 % senken, Kanada, Ungarn, Polen und Japan um 6 % (Annex B Kyoto-Pro-tokoll).

Um die angestrebte Reduktion zu erreichen, wurde ein Emissionshandel eingeführt, der al-lerdings nur einen Handel zwischen den Industrienationen vorsah. Die Industriestaaten und ihre nationalen Ökonomien sollen Emissionsrechte zugesprochen bekommen, die sie anderen Industrienationen veräußern können, wenn sie einen Überschuss an Rechten haben, oder von anderen Nationen per Handel bekommen können, wenn sie zusätzlich zu ihren zugesproche-nen Rechten mehr aufgrund eines höheren Emissionsausstoß brauchen. Setzen die entwickelten Länder Maßnahmen zur Abschwächung der Klimaänderungen um, bekommen sie Emissions-gutschriften; ebenso für ökologische Projekte, die man in weniger entwickelten Ländern im-plementiert. Auf diese Weise sollten für die Industriestaaten Anreize geschaffen werden, dass sie dem Grundsatz Folge leisten, weniger entwickelte Staaten zu unterstützen, eine saubere und nachhaltige Entwicklung einzuleiten.

Allerdings ging die völkerrechtliche Kooperation zwischen den Staaten zunächst in die Brü-che, denn das Protokoll konnte vorerst nicht in Kraft treten. Die Ratifizierung scheiterte an der unter Art. 25 formulierten Bedingung, dass nicht weniger als 55 Parteien das Abkommen unter-zeichnen und dass sich unter den unterzeichnenden Parteien die Verursacher von mind. 55 % der CO2

-Emissionen von 1990 befinden müssen. Mitentscheiden hierfür waren die USA, die als damaliger größter Produzent von Kohlendioxid das Protokoll nicht unterzeichneten. Erst 2005 wurde das Kyoto-Protokoll offiziell ratifiziert, nachdem unter anderem Russland seine Unter-schrift abgab, die damals für 17 % der weltweiten Emissionen verantwortlich waren.

1.3 Der Weg nach Kyoto

Für viele Wissenschaftler ging das Kyoto-Protokoll nicht weit genug, um das Klima ausreichend zu schützen. Schon damals bemängelten Experten, dass das angestrebte Reduktionsziel, die Emissionen auf einen Wert knapp unter den von 1990 zu verringern, nicht bedeutend genug sei, um einen gefährlichen Klimawandel zu stoppen. Hinzu kam, dass der Aufbau des Emissions-handels von Anfang an großer Kritik ausgesetzt war.42 Ein Handel von Emissionen, der aus-schließlich zwischen den Industriestaaten stattfindet, verhindert gerade das, was erreicht werden soll, nämlich den weniger entwickelten Ländern einen Anreiz zu schaffen, ihr angestrebtes Wirt-schaftswachstum mit erneuerbaren und umweltfreundlichen Technologien zu verwirklichen. Da ihnen keine Zertifikate zur Verfügung standen, konnten sie keine überschüssigen Emissions-rechte veräußern und so Kapital für neue Technologien erwirtschaften. Ein gewinnbringender Handel zwischen den Ländern des Südens und den Industriestaaten blieb somit aus. Für die weniger entwickelten Länder wäre es folglich kostengünstiger gewesen, ihren größer werden-den Energiebedarf mit weiterhin billigen Kohlekraftwerken zu produzieren. Dabei wäre es vor allem in weniger entwickelten Ländern einfacher, eine nachhaltige Infrastruktur aufzubauen, im Vergleich zu den Anstrengungen und finanziellen Mitteln, die benötigt werden, um bereits ent-wickelte Staaten zu transformieren. Ohne die Möglichkeit, selbst ihre Mittel zu generieren, um ausreichend Investitionskapital für eine nachhaltige Entwicklung aufzubringen, blieben (und so auch nach wie vor) weniger entwickelte Staaten auf die Hilfe der Industrienationen angewiesen. Vor allem Letzteres wurde von manch einem Autor als eine Art „Ökokolonialismus“ gesehen, da sich Industrienationen durch Projekte in weniger entwickelten Ländern ihrer eigenen Verpflich-tung entledigen und die Art des Mechanismus dazu führt, dass die Staaten des ärmeren Südens in eine Abhängigkeit des reichen Nordens getrieben werden.43 Doch hat die erste Verpflich-tungsperiode von 2008 bis 2012 gezeigt, dass ein Freikaufen der Industrienationen gar nicht erst nötig war, da viel zu viel Emissionszertifikate den großen emittierenden Unternehmen zur Verfügung standen. So hatten sie erst gar keinen Zwang, etwas zu verändern.44 Wirtschaftlich gab es somit keinen Anreiz, die Emissionen zu reduzieren. Die Konsequenz war ein kontinuier-licher Anstieg des globalen CO2

-Ausstoßes von Jahr zu Jahr auf neue Rekordniveaus und die Verfehlung des Ziels des Kyoto-Protokolls.

Da das Reduktionsziel nicht erreicht wurde, wurde die Verpflichtungsperiode des Kyoto-Pro-tokolls auf der COP 18 in Doha im Jahre 2012 um weitere acht Jahre auf 2020 verlängert. Die folgenden Klimakonferenzen hatten von da an vor allem die Aufgabe die vielen offenen Fra-gen zu klären und weiterführende Verhandlungen zu konkretisieren, besonders im Hinblick auf die Klimakonferenz in Paris 2015. Hier sollte ein neuer Welt-Klimavertrag ausgehandelt werden, damit nach dem Auslaufen des Kyoto-Protokolls ein anschließendes Rechtswerk zum Klimaschutz zur Verfügung steht. Aber vor allem waren die weiteren Konferenzen wichtig, um den Zusammenhalt unter der Staatengemeinschaft wieder zu beschwören, der durch das kol-lektive Nicht-Erfüllen gelitten hat. Der gemeinsame Geist, der beim historischen Abschluss des UNFCCC unter den Vertragsparteien herrschte, schien verschwunden. Neben der Vernachläs-sigung der Ziele während der ersten Verpflichtungsperiode war die Finanzierung der Maßnah-men immer wieder Anlass für Diskussionen zwischen den Nationen, insbesondere zwischen In-dustrie- und Schwellenländern. Um eine Basis für einen zukünftigen umfassenden Klimaschutz zu haben, mussten folglich diese Fragen geklärt werden.

Bei der Klimakonferenz in Warschau im November 2013 (COP 19), die insbesondere für eine Fortsetzung der Verhandlungen für den neuen in Angriff genommenen Welt-Klimavertrag die-nen sollte, lagen die weltweiten Emissionen durch fossile Brennstoffe 61 % über dem Niveau von 1990: ein neuer Rekord.45 Auch in den folgenden Jahren sollten neue Rekordhochs an Treib-hausgasemissionen erreicht werden, begleitet von einem Anstieg klimabedingter Katastrophen. Trotzdem verfielen die Diskussionen auf den Konferenzen in die sich über die letzten Jahre eingependelte Lethargie. Anstatt entscheidende Meilensteine für einen Welt-Klimavertrag zu setzen, wurden von einigen Vertretern neue wissenschaftliche Belege und neue Untersuchungen eingefordert. Dazu mussten immer wieder neue Rückschläge verkraftet werden, wie dass Russ-land, Japan und Neuseeland an der verlängerten Verpflichtungsperiode des Kyoto-Protokolls bis 2020 nicht mehr teilnahmen. Kanada trat sogar nach der Klimakonferenz 2011 im südafrikani-schen Durban (COP 17) ganz aus dem Kyoto-Protokoll aus. In Warschau kündete Australien an, seine Klimaschutzziele abschwächen zu wollen.

Es herrschte eine große Asymmetrie zwischen den Forderungen von Umweltverbänden und NGOs (Nichtregierungsorganisationen) und den Bemühungen auf politischer Bühne. Von NGOs und Klimaschutzverfechtern wurden nur allzu häufig die langsame Verhandlungsge-schwindigkeit und Verzögerungstaktiken von emissionsstarken Ländern wie China oder Indien aber auch den USA angeprangert. Besonders die Rollen Chinas und Indiens bereiteten Prob-leme während der Verhandlungen. Beide sahen sich immer noch als Entwicklungsländer, ob-wohl beide weltweite Spitzenwerte an CO2 produzierten. China hat die USA bereits vor Jahren als CO2

-Topproduzent abgelöst (im Jahre 2007 vermeldeten die Medien zum aller ersten Mal einen Führungswechsel).46 2017 emittierte das Land der Mitte 10,151  Milliarden  Tonnen an CO2

(10,151 Gt CO2

), gefolgt von den USA mit 5,312 Gt und Indien mit 2,431 Gt. Zum Vergleich: Die Europäische Union verursachte 3,499 Gt, wovon Deutschland mit 802 Millionen Tonnen (0,802 Gt) am meisten produzierte. Der weltweite Ausstoß an CO2 betrug 36,183 Gt, das heißt, China verursacht bereits weit über ein Viertel der globalen Emissionen.47 Früher bezog sich das bevölkerungsreichste Land der Erde auf seine pro Kopf Emissionen, die aufgrund der enorm hohen Bevölkerung relativ gering waren. 2017 lagen diese jedoch mit 7,2 t pro Kopf deutlich über den globalen Durchschnitt (4,8 t), wobei damit immer noch deutlich hinter denen der USA (17,0 t). Indien spielt hierin mit 1,8 t eine weniger bedeutende Rolle.48 Doch bärgen nicht die pro Kopf, sondern die Gesamtemissionen eines Landes die Gefahr einer Dramatisierung des Klimas in sich. Nach Hochrechnungen könnten die BRICS-Staaten China und Indien zusam-men mit Brasilien schon in wenigen Jahren den gesamten historischen CO2

-Ausstoß der west-lichen Industrieländer übertreffen.49,50 Dies würde die Rolle der BRICS-Staaten und der weniger entwickelten Länder in der Klimapolitik deutlich verändern. Ein Teil dieser Staaten machte in den vergangenen Jahren immer wieder deutlich, dass ihnen nicht die Hauptschuld des histo-rischen anthropogenen Klimawandels zukomme und sie auf die gleiche Art und Weise wie es die heutigen Industrienationen taten, also mit günstiger, auf Kohle basierender Energiewirt-schaft, ihre Nationen zu Wohlstand führen wollen. Nehmen die Emissionen weiterhin deutlich in diesen Staaten zu, hätten sie einen Großteil ihres selbst zugesprochenen Kredits verbraucht. Besonders auf dem asiatischen Kontinent befindet sich eine Vielzahl von stark wachsenden Volkswirtschaften (neben China und Indien wären hier Indonesien, Malaysia, die Philippinen, Thailand, Vietnam sowie Laos, Kambodscha und Myanmar zu nennen). Auch in Ost- und Süd-ostasien muss es deshalb um die Erreichung von Wohlstand und Sicherheit im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung gehen und wirtschaftliche Chancen nicht mit steigenden Emissionen und gravierenden Eingriffen in die Umwelt zu erkaufen. Der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) Hans Joachim Schellnhuber meint sogar, „[d]ie Länder Asiens hal-ten die Zukunft der Erde in der Hand“51. Die Bedeutung dieser Staaten bezieht sich dabei nicht lediglich auf die Gefahr, dass im Zuge ihres Wachstums der globale Ausstoß stark ansteigen und somit ihre Emissionen zukünftig einen wesentlichen Einfluss auf das Weltklima nehmen könnten, sondern ebenso auf ihr Potential, eine ökologische, saubere Transformation auf dem Weltmarkt zu fördern, und so Wachstum und Wohlstand zu schaffen. Dieser Ausblick in die nähere Zukunft darf allerdings nicht verschleiern, dass die westlichen Nationen nach wie vor zu den Hauptemittenten zählen und ihre Emissionsminderungen größer ausfallen müssen, als dies momentan der Fall ist.

Die letzten Hoffnungen auf ein Aufrechterhalten der internationalen Klimapolitik lagen auf der 21. Klimakonferenz von Paris (COP 21), die vom 30. November bis 11. Dezember 2015 tag-te. Viele Experten waren der Meinung, falls sich die Teilnehmer hier auf kein Folgeabkommen für das Kyoto-Protokoll einigen können, wäre der Kampf gegen den Klimawandel verloren. Die Hoffnungen auf ein umfassendes, bindendes Abkommen waren gering, nachdem die vorange-gangenen Konferenzen mehr als ernüchternd verliefen. Doch trotz der schlechten Vorzeichen, schienen sich die Gesandten der Bedeutung dieser Konferenz bewusst zu sein, sodass letztend-lich die erhoffte Nachricht über die gemeinsame Formulierung von Klimaschutzzielen zum Ab-schluss der Konferenz an die Öffentlichkeit trat. Wohl auch durch den Druck der Zivilgesell-schaft und der Allianz der Ehrgeizigen ( High Ambition Coalition ), die am Ende der Konferenz auf über 100 Mitglieder anwuchs und somit die Mehrheit der Vertragsparteien darstellte. Ein wichtiges Zeichen lieferten die USA unter der damaligen Obama-Regierung, die sich der Koali-tion, bestehend aus allen EU-Staaten und 79 weiteren Staaten aus Afrika, der Karibik und aus dem pazifischen Raum, anschlossen. Es folgten Japan, Kanada, Australien, mehrere asiatische und lateinamerikanische Länder, darunter zuletzt Brasilien.52

Als größter Erfolg des Abkommens zählt das neue Ziel, den Temperaturanstieg im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf bis zu 1,5°C zu begrenzen. Solch ein ambitioniertes Ziel war überraschend. Damit näherte man sich den Forderungen vieler Experten, die das 2-Grad-Ziel, das 2010 auf der Vertragsstaatenkonferenz in Cancún (COP 16) ausgerufen wurde, als zu gering ansahen, um einen gefährlichen Wandel zu stoppen. Auch aufgrund dieses neuen, ambitionier-teren Ziels, gilt der Klimavertrag von Paris als Meilenstein und wird als großer Erfolg angesehen. So kam es nicht von ungefähr, dass der Abschluss weltweit bejubelt wurde. Der Entschluss der Staatengemeinschaft setzte ein Zeichen, die Bemühungen gegen den Klimawandel zu intensi-vieren.

Des Weiteren wurde die Verantwortung unten den Ländern neu verteilt. Wie bereits weiter oben erwähnt, tragen die Entwicklungsländer mittlerweile mit ihren ansteigenden Emissionen maßgeblich zum Klimawandel bei. Beim Abschluss des UNFCCC 1992 galten die Industrie-nationen noch als alleiniger Verursacher des anthropogenen Klimawandels. Dies hat sich mit den Verhandlungen in Paris geändert. Die Entwicklung der Schwellenländer, insbesondere die Chinas und Indiens, wird nicht länger vernachlässigt. Auch sie werden nun zur Verantwortung aufgerufen, Strategien zum Klimaschutz zu entwerfen.

Trotzdem stellt sich die Frage, wie die globale Erwärmung so stark gebremst werden kann, damit sie innerhalb des Ziels bleibt. Bereits vor der COP 21 sahen einige Klimaexperten und Wissenschaftler die Erfüllung des 2-Grad-Ziels unter der aktuellen Entwicklung als unwahr-scheinlich an. Der Pariser-Vertrag beinhaltet zudem keine verbindlichen Verpflichtungen zur Umsetzung radikaler Maßnahmen betreffend Emissionsreduzierungen. Diese werden jedoch nötig sein, um überhaupt annähernd das Ziel erreichen zu können. Des Weiteren sollte der Scheitelpunkt ( peak ) des globalen Treibhausgasausstoßes möglichst schnell erreicht werden, damit in der zweiten Jahrhunderthälfte ein Gleichgewicht zwischen den anthropogenen Emis-sionen und den CO2

-bindenden Senken hergestellt werden kann, besonders im Hinblick auf die geringer werdende Aufnahmekapazität der Senken (Ozeane und Regenwälder). Manch Wissenschaftler sieht die Erfüllung des ambitionierten Ziels mit herkömmlichen Emissions-reduzierungen als nicht mehr ausreichend. Flächendeckende Negativ-Emissions-Technologien seien zusätzlich notwendig.53 Dies bedeutet, dass bereits ausgestoßene Emissionen aus der At-mosphäre gefiltert und in Anlagen zur Energieproduktion eingespeist werden, woraufhin das CO2 beispielsweise in Gesteinsformationen dauerhaft gespeichert werden würde.54 Doch wie realistisch sind solche Technologien, die unter dem Überbegriff Geo-Engineering 55 fallen? Be-rücksichtigt man die Menge des jährlich ausgestoßenen CO2 und die bereits in der Atmosphäre befindlichen Partikel, sind gigantische Flächen an Gesteinsformationen zum Einspeisen nötig. Dabei kann niemand garantieren, dass das eingespeiste CO2 auch wirklich im Gestein bleibt – man denke nur an Gesteinsbrüche durch Erdbeben. Dies könnte eine schlagartige Freisetzung von Treibhausgasen in die Atmosphäre zur Folge haben. Für Klimawissenschaftler gelten solche Methoden momentan noch als „magical thinking“56.

Sowohl für die annähernde Erreichung des 1,5-Grad-Ziels als auch des 2-Grad-Ziels ist eine Transformation der herrschenden Gegebenheiten von Nöten. Der sicherste und möglichste Weg ist derjenige, der mit erprobten Technologien und umsetzbaren Strategien begangen wird, die bereits zum jetzigen Moment vorliegen. Allerdings ist die Transformation nicht allein mit Tech-nologien zu bewerkstelligen. Auf mittel- bis langfristiger Sicht müssen sich tiefgreifende ge-sellschaftliche Veränderungen vollziehen. Ein oberflächliches Justieren der Stellschrauben wird keine Erfolge erzielen. Es reicht nicht lediglich aus, Kohlekraftwerke durch Formen der erneuer-baren Energieerzeugung auszutauschen oder Verbrennungsmotoren durch Elektroantriebe zu ersetzen. Die Produktionsleistung erneuerbarer Energien hat eine verhältnismäßig geringe Effi-zienz, wodurch es zweifelhaft ist, dass mit ihr ein weiterhin weltweit wachsender Energiebedarf gesättigt werden kann. Hinzu kommt der ökologische Aspekt. Der Abbau von Rohstoffen, die für die Herstellung sogenannter sauberer Energieformen momentan benötigt werden, hinter-lässt gravierende Spuren in den Ökosystemen. Die Art und Weise, wie die aktuelle Debatte über den Ausbau der E-Mobilität in Politik und Industrie geführt wird, nämlich dass derzeitig mit Verbrennungsmotor fahrende Autos mit der Zeit durch Autos mit Elektroantrieb ersetzt werden sollen, verdeutlicht, dass sich die Verantwortlichen zwar bewusst sind, dass Änderungen im Ver-kehr unumgänglich sind, um nationale Klimaschutzziele zu erreichen, der langfristige Aspekt in der Debatte aber scheinbar völlig ausgeblendet wird. Betrachtet man, dass mit einer Eins-zu-eins-Ersetzung der herkömmlichen betriebenen Autos durch E-Autos der Batteriebedarf, und damit die Nachfrage nach Rohstoffen wie Kupfer, Nickel, Aluminium, Mangan, Kobalt und Li-thium, die zur Batterieherstellung benötigt werden, rasant steigen wird, sich der Energiebedarf zudem stark erhöhen wird, nicht nur wegen der Vielzahl an Batterien, sondern auch aufgrund höherer Ladezyklen aufgrund niedriger Reichweiten von E-Autos, und die damit einhergehende benötigte Infrastruktur an Ladesäulen, die wiederum mit aus erneuerbaren Energien gewonne-nem Strom versorgt werden muss, stellen sich begründete Zweifel, ob diese Strategie wirklich vollkommen nachhaltig, geschweige umsetzbar ist.

Das Abkommen von Paris fordert von den Vertragsparteien, dass sie ihre Bemühungen zur Umsetzung mitigativer Maßnahmen höchstmöglich verbessern sollen (IV Abs. c Pariser Ab-kommen) und bis 202057 entsprechende langfristige Strategien vorlegen sollen (Art. 4 Pariser Abkommen). Eine Transformation kann nur dann erfolgversprechend sein, „wenn die unter dem UNFCCC-Rahmenwerk geschaffenen technologischen Bestimmungen, Mechanismen und Einrichtungen in Richtung einer strukturellen Transformation weisen, indem sozial- und um-weltverträgliche Technologien eingesetzt sowie falsche und unausgereifte technische Lösungen sowie technologische Irrwege verhindert werden“58.

Doch da eine völlige Rechtsverbindlichkeit des Abkommens von Paris fehlt, überlässt das Ab-kommen den Parteien, wie sie ihre Ziele konkret erreichen wollen; oder vielmehr, wie ambitio-niert sie sind, die Ziele umsetzen zu wollen. Normalerweise verfolgen die Staaten zunächst ihre eigenen nationalen Interessen. Nationale Interessen nahmen nicht selten erheblichen Einfluss auf Klimaverhandlungen, sodass das internationale Wohl stets einen mächtigen Gegenspieler hatte. Die amerikanischen Juristen Eric A. Posner und David A. Weisbach sind der Auffassung, dass mit einem bindenden internationalen Vertrag über Emissionsbegrenzungen erst dann zu rechnen sei, wenn sich alle vertragschließenden Nationen daraus einen Vorteil ausrechnen.59Die Historie belegt diese Aussage leider nur zu sehr. In jüngerer Vergangenheit scheiterten tiefgreifendere Abmachungen oftmals, da Länder wie die USA, China und Indien auf die Er-reichung ihrer nationalen Wirtschaftsinteressen pochten. Und auch nach der Ratifizierung des Abkommens beeinflussen nationale Interessen weiterhin international politische Entscheidun-gen. Stimmte die USA unter der Obama-Regierung noch für das Pariser Abkommen, sah der Folgepräsident Donald Trump das Abkommen als Gefährdung der amerikanischen Volkswirt-schaft und bezeichnete es als „sehr unfair für Amerika“60. Die Folge war, dass die USA unter der Trump-Regierung Mitte 2017 ihren Austritt aus dem Abkommen bekannt gaben.

Präsident Trumps Besorgnis, dass Klimaschutz eine Gefährdung für die Volkswirtschaft dar-stellt, ist nicht neu. Seit Beginn der Klimaverhandlungen ist die Streitfrage über die Kosten für den Klimaschutz fester Bestandteil der Debatte. Und tatsächlich stellt eines der größten Hinder-nisse zur Erreichung der Klimaziele die Finanzierung mitigativer sowie adaptiver Maßnahmen dar. Eine nachhaltige Transformation und Anpassungen an den Klimawandel sind teuer. Be-sonders weniger entwickelte Staaten sehen sich nicht in der Lage, ohne internationale Unter-stützung ihre Wirtschaften mit umweltfreundlichen Technologien einem nachhaltigen Wandel zu unterziehen. Sie nehmen weiterhin die Industriestaaten als Hauptverursacher des anthropo-genen Klimawandels in die Pflicht, die finanzielle Hauptlast des Umbruchs zu tragen. Im Ab-kommen von Paris wurde darauf verzichtet, die Verpflichtung der Industrieländer hinsichtlich der Finanzhilfe für die Entwicklungsländer näher zu bestimmen. Das Abkommen sagt lediglich, dass die entwickelten Staaten finanzielle Unterstützung bereitstellen sollen (Art. 9 Abs. 1 Pari-ser Abkommen). Die Industrieländer werden aufgefordert, auch weiterhin die Führung für die Mobilisierung der Klimafinanzierung zu übernehmen. Andere Länder werden ermutigt, solch eine Unterstützung auf freiwilligem Wege durchzuführen (Art. 9 Abs. 2 und Art. 3 Pariser Ab-kommen).

Bereits 2009 wurde auf der Klimakonferenz in Kopenhagen (COP 15) über eine Lösung für die Finanzierung nachgedacht, mit dem Ergebnis, dass die Industriestaaten die Einzahlung in einen Klimafonds zusagten, der ab dem Jahre 2020 jährlich 100 Milliarden US-Dollar an we-niger entwickelte Länder zur Umsetzung mitigativer und adaptiver Maßnahmen ausschütten sollte. Um das zu erreichen, werden laut Internationaler Energieagentur mindestens 5 Billionen benötigt. Dieser Grüne Klimafonds ( Green Climate Fund , GCF) ist der größte Fonds, der dem Klimawandel gewidmet ist. Je 50 % seines Volumens sind für Mitigation bzw. Adaptation vor-gesehen. Bisher hat er sein nötiges Volumen noch nicht erreicht. Die jährliche globale Klimafi-nanzierung sank sogar zwischen 2011 und 2013 zwei Mal. Nach Angaben der OECD käme man im Moment (Stand Ende 2015) auf eine jährliche Ausschüttung von nur 57 Milliarden statt den angestrebten 100 Milliarden US-Dollar.61

Trotzdem gilt das Abkommen von Paris weiterhin als Erfolg, was auch damit zusammen-hängt, dass Adaptation stärker in den Fokus rückte. Der Klimafolgenanpassung wurde über lange Zeit neben dem Ziel der Emissionsreduzierung wenig Beachtung geschenkt. Die neu zu-geteilte Bedeutung des Bereichs zeigt sich nicht nur am umfassenden, separaten Artikel für Ad-aptation, sondern auch durch die Hereinnahme des noch recht jungen Programms Loss & Da- mage (Verluste und Schäden), dem ebenfalls ein eigenständiger Artikel gewidmet wurde. Loss & Damage wurde als neuer UNFCCC-Mechanismus auf der Konferenz in Warschau (COP 19) zwei Jahre zuvor eingeführt. Das Programm verfolgt die Umsetzung wirksamer Methoden und Maßnahmen zur Bewertung und zum Umgang mit Klimarisiken. Durch die Einführung des ‚Warschau-Mechanismus‘ bekommt die Sphäre Loss & Damage im Zuge von Extremereignissen und schleichenden Veränderungen Prägnanz in der Klimapolitik. Beschäftigte sich man zuvor im Bereich Anpassung an den Klimawandel, dass man von veränderten Umweltverhältnissen gefährdet ist und folglich Maßnahmen zur Sicherheit getroffen werden müssen, werden nun mit Loss & Damage die potentiellen Auswirkungen festgesetzt und bewertet, wie sich der Kli-mawandel auf unser Leben auswirkt. Unter dem Warschau Mechanismus zu Loss & Damage soll das Verständnis von Risikomanagement, die Kommunikation und Koordination zwischen den vom Klimawandel betroffenen Stakeholdern sowie die Ausführung von Klimarisikoma-nagement verbessert werden. Unter den Aufgabenbereich des Programms fällt des Weiteren die Festsetzung der Gefährdung des Verlusts kultureller, nicht-wirtschaftlicher Güter im Zuge klimatischer und ökologischer Veränderungen. Diese Thematik schenkte man zuvor eher in Nebendiskussion Aufmerksamkeit, wodurch man die Verluste zu nachteiligen Nebenauswir-kungen des Klimawandels verkommen hat lassen. Der Warschau-Mechanismus gilt als wichtige Schnittstelle zwischen der Anpassung an den Klimawandel und der Katastrophenvorbeugung. Mithilfe von Loss & Damage soll die von einigen Wissenschaftlern bereits seit Jahren geforderte bessere Zusammenarbeit und Kooperation zwischen beiden Disziplinen gelingen.

Das Pariser Abkommen wurde bereits am 5. Oktober des darauffolgenden Jahres ratifiziert (der Zeitraum zwischen Verabschiedung und Ratifizierung des Kyoto-Protokolls betrug zum Vergleich 8 Jahre), nachdem das EU-Parlament mit großer Mehrheit für das Abkommen ge-stimmt und damit für die nötige Voraussetzung der Ratifizierung der Weltstaatengemeinschaft gesorgt hatte, dass mindestens 55 % der Vertragsparteien das Abkommen unterschreiben, die für wenigstens 55 % des weltweiten Ausstoßes an Treibhausgasen verantwortlich sind. Bereits vor der EU hatten damals wichtige Länder wie die USA und China für das Abkommen gestimmt. Alle 195 Mitgliedsstaaten waren sich einig, dass gegen den Klimawandel etwas unternommen werden muss. Somit trat das Pariser Abkommen nach Art. 21 Abs. 1 am 4. November 2016 in Kraft, genau 30 Tage, nachdem die Hürde der Ratifizierungsvoraussetzung genommen wurde.62Mit der Unterzeichnung des Pariser Abkommens verpflichten sich die Parteien einen nationalen Klimaschutzbeitrag ( nationally determined contribution, NDC ) zu leisten, um zur Erreichung des Ziels, die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad zu begrenzen, beizutragen.63

Während der 22. Klimakonferenz in Marrakesch Ende 2016, die zugleich die erste Konferenz war, auf der über die Umsetzung des Abkommens verhandelt wurde, belegten Forscher der Uni-versität East Anglia mit ihrer Studie zur CO2

-Entwicklung, dass sich der globale CO2

-Ausstoß stabilisiert habe, obwohl die Weltwirtschaft wächst. Zuvor stieg der Ausstoß bis 2013 jährlich im Schnitt um 2,3 %. Die Stabilisierung war unter anderem auf die sinkenden Emissionen der beiden Hauptemittenten China (–0,7 %) und den USA (–2,6 %) im Jahre 2015 zurückzufüh-ren. Besonders China hat sich in den letzten Jahren zu eines der Länder entwickelt, die diverse Initiativen zum Klimaschutz einleiteten. Neben dem Ausbau erneuerbarer Energien, der staat-lichen Förderung der E-Mobilität oder des Ausbaus der Infrastruktur für Hochgeschwindig-keitszüge, verfolgt das Land das ehrgeizige Ziel, dass bis 2035 38 % des Landes begrünt sein sollen. Im Zuge seines Aufforstungsplans macht China allein ein Viertel der seit 2000 beob-achteten weltweiten neu begrünten Fläche aus.64 Allerdings hat China selbst für sich das Ziel ausgegeben, erst spätestens 2030 den absoluten Höchststand an Emissionen erreicht zu haben. Bis 2060 solle die Volksrepublik Kohlenstoffneutralität erzielt haben.65 Folglich hält China bis 2030 an der Energiegewinnung durch Kohle fest und die Reduzierung der Emissionen im Jahre 2015 war kein Signal für eine klare Trendwende. Ebenso verlaufen Europas Emissionsreduzie-rungen nicht allzu stringent. Nachdem man die Jahre zuvor einen Rückgang der Emissionen verzeichnen konnte, nahmen sie 2015 um 1,4 % beispielsweise wieder zu.66 Ebenso stiegen die weltweiten Emissionen in den darauffolgenden Jahren kontinuierlich. Die Hoffnung, man habe bereits Mitte der 2010er Dekade den Höchststand erreicht, war somit ein Trugschluss. Erst der globale Shutdown aufgrund der globalen Corona-Pandemie 2020 sorgte für einen Stopp des ansteigenden CO2

-Trends. Und obwohl die Pandemie und das weltweite Herunterfahren der Produktion von zahlreichen Instituten und Organisationen als Chance bezeichnet wurden, aus der Situation zu lernen und in nachhaltigere Strategien verstärkt zu investieren,67 ist noch keine Trendwende hinsichtlich großangelegter Maßnahme zu erkennen. Ruft man sich zudem ins Ge-dächtnis, dass bereits mit dem Kyoto-Protokoll eine globale Emissionsreduzierung von 5 % im Vergleich zum Basisjahr 1990 geplant wurde, der Erfüllungszeitraum wegen Nicht-Erfüllung von 2012 auf 2020 verlängert wurde, dann im Jahre 2015 ein neues Klimaabkommen statuiert wurde, welches das Ziel ausgibt, die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad zu begrenzen, fragt man sich unweigerlich, mit welchen konkreten CO2

-Minderungsmaßnahmen die Ziele erreicht werden sollen.

Knapp zwei Jahre nach dem offiziellen Inkrafttreten des Pariser Abkommens mahnte der Weltklimarat IPCC im Oktober 2018, dass es nach wie vor möglich sei, die Erderwärmung auf 1,5°C zu begrenzen, aber dies verlange „beispiellose Veränderungen“68. Diese Veränderungen seien bei der Stromerzeugung, beim Verkehr, in der Landwirtschaft, in der Industrie und in der städtischen Infrastruktur nötig. Bisher bleiben diese Veränderungen weitestgehend aus. Bereits jetzt habe sich die Erde um einen Grad im Vergleich zum Beginn der Industrialisierung er-wärmt. Das IPCC unterstreicht zudem, dass die Begrenzung auf 1,5°C nötig sei, um ein großes Artensterben zu verhindern. Während die Korallenriffe beispielsweise bei einer Erwärmung von 2°C mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit komplett verschwinden werden, könnten bei 1,5°C bis zu 30 % überleben. Ebenso könnte der Meeresspiegelanstieg um 10 cm abgeschwächt werden, wodurch 10 Millionen Menschen weniger dem damit verbundenen Risiken ausgesetzt wären; die Arktis wäre im Sommer auch wahrscheinlich nur einmal im Jahrhundert eisfrei und nicht einmal pro Jahrzehnt.69

Mit welchen nationalen Maßnahmen und mit welchem Finanzierungsmechanismus die Ziele des Pariser Abkommens umgesetzt werden sollen, sind bisher eher vage. Auch die Konferenzen nach Paris gaben keinen großen Aufschluss, wie die Länder den Inhalt des Pariser Abkommens konkret umsetzen wollen. Auf der COP 24 in Katowice im Dezember 2018 konnten sich die Vertragsparteien immerhin auf das Regelwerk zur Umsetzung des Pariser Abkommens eini-gen. Ungewissheit herrscht nach wie vor über die Klimafinanzierung. Der Grüne Klimafonds reicht momentan nicht aus, um Maßnahmen in den weniger entwickelten Länder weltweit zu finanzieren. Die Industriestaaten gehören nach wie vor zu den Hauptemittenten, ambitionierte Klimapolitik lässt sich allerdings nur bei wenigen dieser Staaten finden. Auch beim Pariser Ab-kommen gilt – mag es auch umfassender und weitreichender im Vergleich zu seinem Vorgänger dem Kyoto-Protokoll sein –, die formulierten Ziele sind ein neuer Anfang in die richtige Ent-wicklung. Sie bleiben allerdings auch nur ein Anfang, wenn nicht deutlich mehr Anstrengungen unternommen werden und ein Bruch mit herkömmlicher Energiegewinnung und gewohntem Konsumverhalten geschieht.70

1.4 Vertrauen auf Adaptation? Die Sicht aus einer skeptischen Position

Der Klimawandel gilt aufgrund seiner nachteiligen, langfristigen Folgen als das größte Prob-lem unserer Zeit. Demgegenüber erzielen die Klimakonferenzen für manch einen nicht die er-wünschten Resultate, um diesem Problem ausreichend zu entgegnen. Nicht selten werden daher Klimakonferenzen von Enttäuschung, Bedauern oder Wut begleitet. Der Grund mangelnder Fortschritte und Zugeständnisse während der Klimaverhandlungen wird oft im Verhältnis zwi-schen Politik und Wirtschaft ausgemacht. Regierungen der Industrienationen hätten sich in der Vergangenheit zu sehr von den Interessen großer Unternehmen leiten lassen, die auf fossile Brennstoffe setzen.71 Die hohen Kosten, die bei einer Transformation der Energieerzeugung in Richtung erneuerbare Energien anfallen würden, galten über die Jahre als wesentlichen Grund in der Öffentlichkeit, warum Energieversorger den Wandel verzögern. Insbesondere solange die Energiegewinnung aus Kohlekraftwerken weiterhin ein günstiges Mittel darstellt. Laut dem IPCC müssen die Emissionen allerdings drastisch gekürzt werden, um die Erwärmung auf unter 2°C begrenzen zu können. Sollten die Emissionen nicht zurückgehen, prophezeien gewisse Au-toren sogar beinahe Weltuntergangsszenarien.72 Der Wissenschaftler James Lovelock spricht gar von einem Milliardensterben durch die globale Erwärmung bis zum Ende dieses Jahrhun-derts.73 Panik erweist sich jedoch meist als schlechter Begleiter während Krisen; in Anbetracht einer Verschlimmerung der Lebensbedingungen durch einen voranschreitenden Klimawandel, wollen wir die Problematik sachlich analysieren.

Über viele Jahre konzentrierte sich die Klimapolitik überwiegend auf die Thematisierung Emissionen zu reduzieren. Einigen Wirtschaftsverbänden und Ökonomen war diese Konzent-rierung ein Dorn im Auge, da bereits eine leichte Reduzierung des CO2

-Ausstoßes mit enormen Kosten verbunden wurde. Das Bruttoinlandsprodukt der einzelnen Länder würde folglich un-ter einer Emissionsminderung leiden. Die Verfechter eines Wandels, die höhere Investitionen in erneuerbare Energien verlangen, sehen hingegen auch heute noch einen Rückgang des BIPs als notwendiges Übel, zumal der Rückgang nur temporär wäre, da eine ‚Energiewende‘ neue, boomende Wirtschaftszweige hervorrufen würde. Die praktische Umsetzung der deutschen Energiewende zeigt jedoch, dass der Versuch mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war bzw. immer noch ist (man denke nur an die deutschen Solarunternehmen, die Insolvenz an-meldeten, der langsame Ausbau oder vor allem die steigenden Energiekosten für Abnehmer). Zwar decken erneuerbare Energien in Deutschland mittlerweile einen wesentlichen Anteil des nationalen Strombedarfs, Energie aus Kohle stellt allerdings nach wie vor einen bedeutenden Anteil dar. Die deutsche Regierung tat sich über viele Jahre schwer, das Thema Kohleausstieg anzugehen, das als obligatorisch gilt, um die Emissionen endgültig senken zu können. Die hierfür gegründete 28-köpfige Kohlekommission hat sich letztendlich im Januar 2019 geeinigt, bis spätestens Ende 2038 keinen Strom mehr aus Kohle zu erzeugen. Für einige Organisationen und Klimaaktivisten ist dieser Zeitpunkt weitaus zu spät angesetzt.74 Neben Umsetzungsprob-lemen zählt der Einfluss aus Wirtschaft und Industrie als weiterer Faktor, der die Wende über die Jahre ausgebremst hat, aber auch der Einfluss der Bürger. Der Großteil der Bevölkerung begrüßt zwar den Ausbau der erneuerbaren Energien, jedoch oftmals nur solange man nicht selbst davon betroffen ist und Windparks und Strom-Trassen nicht vor der eigenen Haustüre zu sehen sind.75 Nach über zehn Jahren deutscher Energiewende lässt sich heute sagen, dass sie hinsichtlich ihrer Effizienz weit hinter den Ansprüchen liegt.76

Deutschland galt mit seiner Energiewende einst als Vorbild und Vorreiter. Man sah den deut-schen Versuch, einen machbaren Umstieg auf erneuerbare Energien zu erzielen, als mitentschei-dend, um andere Länder zu einem Umstieg bewegen zu können. Mittlerweile setzen andere Länder den Ausbau erneuerbarer Energien deutlich erfolgreicher um.77 Deutschlands Energie-wende gilt anderen gar als Referenz, es besser zu machen. Indiens Wirtschaft wächst rasant, dabei spielen Investitionen in den Sektor der erneuerbaren Energien eine wesentliche Rolle, um das Land möglichst schnell mit einem hohen Anteil von sauberer Energie zu versorgen. „Was Indien innerhalb von sieben bis zehn Jahren versucht zu erreichen, für das brauchte Deutsch-land über zwei Jahrzehnte“, so Arunabha Ghosh und Kanika Chawla vom Council on Energy, Environment and Water in Neu-Delhi.78

Intensivere Wetterphänomene, Rekordtemperaturen oder die Abspaltung von Eisschilden sind Phänomene, die durch eine ansteigende CO2

-Konzentration beeinflusst werden, folglich sind diese Ereignisse sinnbildlich für die Dringlichkeit, die Emissionen zu reduzieren. Es ist darum naheliegend, dass die Reduzierung der anthropogenen Treibhausgase das beherrschende Thema des Klimaschutzes seit drei Jahrzehnten ist. Trotz der öffentlich eingeräumten Priorität von Mitigation stiegen die Emissionen in den letzten Jahren kontinuierlich – auch in Europa – und erreichten neue Emissionsrekorde. Nun machte das IPCC im Oktober 2018 erneut deutlich, wie wichtig die Erreichung des 1,5-Grad-Ziels sei, und eine Erreichung sei nach wie vor mög-lich. Allerdings waren bereits vor dem Abkommen von Paris viele Wissenschaftler der Meinung, dass das ursprüngliche 2-Grad-Ziel kaum mehr zu erreichen sei. In den letzten Jahren haben sich kaum tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen vollzogen, die auf eine Erreichung des Ziels hindeuten. Ein Grad hat sich die Erde bereits erwärmt, einen halben Grad dürfte sie sich noch erwärmen. Laut IPCC müsste bis 2030 der globale Kohlenstoffdioxidausstoß um 45 % ge-senkt werden im Vergleich zum Ausstoß von 2010; bis Mitte dieses Jahrhunderts müsste eine netto Null erreicht werden, das heißt, dass nicht nur der anthropogene CO2

-Ausstoß enden muss, sondern zusätzlich Emissionen aus der Atmosphäre entfernt werden müssen.79 Zwangs-läufig stellt sich die Frage nach der Machbarkeit. Im Hinblick auf schleppende klimapolitische Entwicklungen sowie auf bereits herrschende Zweifel gegenüber der Erreichung des 2-Grad-Zieles vor Paris, wird unter anderem von einem „impossible dream“ oder utopischen Ziel ge-sprochen.80 Sollte dies Anlass geben, den Hauptansatz in der Klimapolitik zu überdenken und den Schwerpunkt von Mitigation auf Adaptation, also Klimafolgenanpassung zu verlegen? Ist man möglicherweise an einem Punkt angelangt, an dem man lieber im höchsten Maße auf Scha-densbegrenzung aus sein sollte, da die angestrebten Reduzierungsziele scheinbar kaum mehr zu erreichen sind?

Bereits vor einigen Jahren äußerte der Leiter des Copenhagen Consensus Center, Bjørn Lom-borg, dass es bedeutendere und vor allem effizientere Maßnahmen gäbe, sich den klimatisch veränderten Umständen anzupassen, als mit allen Mitteln zu versuchen, den weltweiten Treib-hausgasausstoß deutlich zu verringern. Zwar sprach auch er von einer CO2

-Reduzierung, doch ist diese für ihn nicht der wesentliche Punkt. Aus wirtschaftlicher Sicht sollte ein deutlich gerin-gerer Kostenaufwand erbracht werden, als die Verfolgung der Ziele des Kyoto-Protokolls letzt-endlich erfordern würde. Aus seiner Sicht müsse der Schwerpunkt auf Adaptation liegen und nicht auf Mitigation, nicht nur weil es um einiges kostengünstiger sei, sondern auch erfolgver-sprechender.

Wie bereits erwähnt, fokussierte die Klimapolitik über die vergangenen Jahre, ebenso wie die öffentliche Wahrnehmung, eine CO2

-Reduktion. Die Darstellungen irreversibler Folgen eines unkontrollierten Temperaturanstiegs, wie das Abschmelzen des Grönländischen Eisschildes oder das Aussterben zahlreicher Arten,81 veranschaulichen die Notwendigkeit einer solchen CO2

-Reduzierung. Nur mitigative Maßnahmen vermögen es solche Endfolgen zu verhindern. Adaptation wurde während desselben Zeitraums nur im geringen Ausmaß behandelt. Laut Da-niel Sarewitz und Roger Pielke Jr. resultiert diese Vernachlässigung aus der Tatsache, dass Adap-tation erst gar keine Referenz innerhalb der Politik und der Literatur gefunden hat.82

In der Tat widmeten sich die Abkommen vor Paris nur unwesentlich der Anpassung an den Klimawandel. Das Kyoto-Protokoll beschränkt sich hauptsächlich auf Emissionsreduzie-rungen im Zuge der Einführung des Zertifikatehandels. Auch in der Zielformulierung des UNFCCC unter Art. 2 wird von der Stabilisierung des Treibhausgaskonzentrationsniveaus in-nerhalb eines Zeitraums gesprochen, „der ausreicht, damit sich die Ökosysteme auf natürliche Weise den Klimaänderungen anpassen können, die Nahrungsmittelerzeugung nicht bedroht wird und die wirtschaftliche Entwicklung auf nachhaltige Weise fortgeführt werden kann“. Doch selbst wenn dies gelingen würde, würden Länder nach wie vor mit den negativen Aus-wirkungen des Klimawandels konfrontiert werden, da Phänomene wie Meeresspiegelanstieg, globale Erwärmung und unberechenbarere Wetterereignisse nicht plötzlich enden würden. Ein Erfolg bei der Reduzierung des globalen Treibhausgasausstoßes würde Anpassungsmaß-nahmen folglich nicht obsolet machen. Entgegen Sarewitz und Pielkes These wurde dieser Umstand allerdings nicht völlig ignoriert. Das UNFCCC fordert bereits seit seiner Verab-schiedung eine Arbeit sowohl im mitigativen als auch im adaptiven Bereich. Unter Art. 4 des UNFCCC wird die Notwendigkeit der Anpassung an die Auswirkungen der Klimaänderun-gen nach nationalem und regionalem Maßstab im Hinblick auf eine soziale, ökonomische und umweltbetreffende Politik mehrfach erwähnt. In den Jahren vor der Verabschiedung des Abkommens von Paris wurden die Bemühungen zu Adaptation im Rahmen des UNFCCC Mechanismen nochmals erweitert, indem die Anpassungsprogramme NAPA und NAP, der Warschau Mechanismus zu Loss & Damage sowie der Adaptation Fund oder der Green Cli-mate Fund zur Finanzierung ins Leben gerufen wurden. Veröffentlichungen des IPCC zu Adaptation und Verwundbarkeit sorgten zudem für eine Präsenz der Anpassung an den Kli-mawandel auf klimapolitischer Bühne.83 Dennoch ist beiden Autoren zuzustimmen, dass Ad-aptation über die Jahre vernachlässigt wurde. Aufgrund dieser Vernachlässigung ist das wis-senschaftliche Fundament für Entscheidungsfragen deutlich weniger ausgeprägt, als dies bei mitigativen Fragen der Fall ist. Hierdurch existiert ein Mangel an Daten, Auswertungen und anderen diversen Grundlagen, die für Adaptation ein ausgeprägtes Fundament bilden sollten. Lomborgs These, anpassende Maßnahmen seien kostengünstiger und erfolgversprechender, haftet somit zumindest gewisse Zweifel an.

Bjørn Lomborg plädierte über Jahre hinweg für einen stärkeren Fokus auf Anpassungsstra-tegien sowie damit verbundene gesellschaftliche Probleme, teils auf sehr kontroverse Art und Weise.84 Bereits vor über zehn Jahren wies er in der öffentlichen Diskussion darauf hin, dass nicht nur der Klimawandel zu bekämpfen sei, sondern vielerlei Probleme: nur durch eine Be-kämpfung sozialer Probleme und der zusätzlichen Installation anpassender Maßnahmen, könne man auf einer Kosten-/Nutzen-basierenden Analyse das Klimaproblem effizient lösen. Er pran-gerte zudem die übertriebene Berichterstattung über den Klimawandel an und den Versuch ihn mit unnützen Mitteln, wie beispielsweise mit einer zu überzogenen CO2

-Steuer, zu bekämpfen. Wir wollen im Weiteren weder auf Lomborgs Position detailliert eingehen noch seine Argumen-tation genauer analysieren.85 Wir wollen jedoch Lomborgs Hauptaussage, dass eine Fokussie-rung und Konzentrierung auf adaptive Maßnahmen die effizienteste Herangehensweise an den Klimawandel sei, dazu nutzen, einen weiteren Blick auf die Klimaproblematik zu bekommen.

Lomborg erachtet die angestrebte CO2

-Reduzierung des Kyoto-Protokolls (5 % unter dem Emissionswert von 1990) als schlechte Ressourcennutzung. Die Erfüllung der Reduzierungs-ziele hätte nur marginale Auswirkungen auf den Temperaturanstieg und der Nutzen würde in keiner vernünftigen Relation zu den Kosten stehen. Noch bis ins übernächste Jahrhundert seien damit die Kosten für uns höher als der Nutzen. Erst die Generationen im 24. Jahrhundert wür-den vom Kyoto-Protokoll profitieren. Nach seiner Ansicht würde eine konsequente Umsetzung des Kyoto-Protokolls unter Mitwirkung der USA lediglich eine Verringerung von 0,18°C bis zum Ende dieses Jahrhunderts zur Folge haben. Die Investitionen verrechnet mit dem erzielten Nutzen würden aber Kosten von ein paar Billionen US-Dollar verursachen.86 Folglich ist für Lomborg eine Emissionsminderung nicht die beste Methode dem Klimawandel zu begegnen. Zwar zeigen ökonomische Modelle, dass eine Reduzierung von Emissionen gerechtfertigt sei,87allerdings, entgegen den Zielvorgaben von Kyoto und den Plädoyers vieler Klimaschützer, ver-lange die „optimale Politik“ seiner Meinung nach nur eine bescheidene Einschränkung des CO2

-Ausstoßes: „Es gibt keinen wirtschaftlichen Grund, besonders weit über die kleine, optimale dimensionierte Initiative hinauszugehen.“88

Ein prominenter Ansatz, der die Reduzierung von Emissionen effizient voranbringen soll, stellt die Besteuerung von CO2 dar. Die Frage hinter diesem Ansatz ist, wieviel Schaden würde eine Tonne anrichten, wenn man sie in die Atmosphäre freisetzt? Und zu welchem Preis könne man diesen Ausstoß vermeiden?89 (Die Vorstellung einer Tonne Kohlendioxid ist sehr abstrakt, sie entspricht zum Beispiel 400 l Erdöl oder 360 kg Steinkohle. Ein Einfamilienhaus in Mittel-europa mit Ölheizung verursacht jährlich ungefähr 5 t CO2

).90 Überwiegend befassen sich öko-nomische Modelle mit einer CO2

-Steuer und versuchen darzustellen, wie hoch die Besteuerung sein müsste, damit Kohlendioxid nicht ausgestoßen und unser Klima nachhaltig geschützt wer-den würde. Lomborg spricht sich hierbei für eine schlichte Besteuerung von 2 US-Dollar bzw. maximal 14 US-Dollar pro Tonne aus. Damit könne man zwar nicht die Temperaturen signifi-kant senken, jedoch wäre es im Vergleich zum Kyoto-Protokoll weitaus günstiger und würde im Verhältnis mehr nützen. Dies sei allerdings nur ein kleiner Schritt zur Besserung. Weiter schlägt Lomborg vor, dass jede Nation sich verpflichten sollte, 0,05 % ihres Bruttoinlandsprodukts jähr-lich in CO2

-freie Energietechnologien zu investieren. Auf diese Weise könnte in Zukunft ein Markt mit ausreichend energieeffizienten Technologien geschaffen werden, auf dem vor allem Technologien zu vernünftigen Preisen angeboten werden könnten.91

Im Wesentlichen geht es ihm jedoch darum, sich den neuen Klimaumständen anzupassen, anstatt eine teure CO2

-Reduzierung zu verwirklichen, bei der die wenigen positive Effekte nur mit einiger Verzögerung eintreten würden, da Emissionsminderungen ihren Effekt erst Ende des Jahrhunderts erzielen würden. Mit adaptiven Maßnahmen könnte weltweit die Verwund-barkeit gegenüber dem Klimawandel verringert werden. Man würde damit nicht Gefahr lau-fen, mit einschneidenden Entscheidungen den Klimawandel schlimmer zu machen als sein ur-sprüngliches Problem sei.92

Lomborg schlägt vor, dass gegen den steigenden Meeresspiegel Flutwehre, Deiche und Dämme sowie Küstenschutzmaßnahmen errichtet werden sollten. In seltenen Fällen müsste man auch Land aufgeben, um sich vor Katastrophen schützen zu können. Mithilfe von klug konzipierten Schutzmaßnahmen, die mit relativ geringen Kosten umzusetzen seien, könnte man überwie-gend die Zahl der Betroffenen drastisch gegen null reduzieren. Selbst die kleinen pazifischen Inselstaaten wie Mikronesien oder Tuvalu, an denen der Meeresspiegelanstieg nagt, könnten auf diese Weise so gut wie komplett gerettet werden. Ebenso könnte in Bangladesch das Flutrisiko durch Küstenschutzmaßnahmen praktisch gegen null gesenkt werden.93 In Gebieten, die durch übertretende Flüsse gefährdet sind, müssten anpassende Maßnahmen ebenfalls durchgeführt werden. Doch sollte man hier in Zukunft die Bevölkerung besser über Überschwemmungs-gefahren aufklären, sodass erst gar keine Baugebiete in flutgefährdeten Gebieten öffentlich ge-fördert oder wenigstens die Vorsichtsmaßnahmen nicht ausbleiben werden.94

Auch der in den Kapiteln 0.3 und 0.4 geschilderten ansteigenden Malariainfektion, die auf-grund steigender Temperaturen und häufiger werdenden Starkniederschlägen erwartet wird, könnte mit kostengünstigen Lösungen entgegengetreten werden. Malaria sei eine armutsbeding-te Krankheit. Der Zugang zur medizinischen Versorgung müsste sich daher für arme Familien verbessern. Eine flächendeckende Verteilung von Moskitonetzen könnte zudem die Gefährdung für eine Infektion deutlich verringern.95 Lomborg geht sogar so weit, dass mithilfe adaptiver Maßnahmen der Armutsprozess aufgehalten werden könnte. Sofern die richtigen Maßnahmen gewählt würden, könnten steigenden Temperaturen dazu beitragen, die Not der Ärmsten dieser Welt zu verringern. Beispielsweise fließt aufgrund der globalen Erwärmung mehr Schmelzwas-ser, das von den Gletschern im Himalaja stammt, in die Täler, was die effektive Wassermenge der Flüsse ansteigen lässt. Mit verbesserten Wasservorratssystemen könnte dieses Schmelzwas-ser zum größten Teil aufgefangen werden, wovon die landwirtschaftliche Produktivität profitie-ren würde. Darüber hinaus hätte man über fünfzig Jahre lang zusätzliche Wasserreserven zur Verfügung, um andere Probleme in den Angriff nehmen zu können.96

Roger A. Pielke Jr., der sich in seiner Forschung unter anderem mit Wetterextremen befasst, vertritt prinzipiell dieselbe Ansicht wie der Leiter des Copenhagen Consensus Center. Fluten und Stürme sind jene klimabedingten Naturphänomene, die weltweit am meisten Schaden verursa-chen.97 Dabei fallen die wirtschaftlichen Kosten der Katastrophen aufgrund des großen Wohl-stands in entwickelten Ländern besonders hoch aus. In weniger entwickelten Ländern verursa-chen die Katastrophen zwar geringeren finanziellen Schaden, doch können sie hier erheblichere Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Lage und die Entwicklungssituation eines Landes nehmen. Besonders weniger entwickelte Ländern sind von diesen Extremereignissen betrof-fen. Pielke ist der Meinung, möge der Umfang CO2

-reduzierender Maßnahmen auch noch so hoch sein, Mitigation komme nicht annähernd an die Effektivität von anpassenden Maßnah-men heran. Speziell im Hinblick auf sogenannte Naturkatastrophen sollte man daher adaptive Maßnahmen fördern, um Verwundbarkeit zu reduzieren, anstatt sie durch Energiepolitik zu modellieren.98

Sowohl Lomborg als auch Pielke sprechen sich für eine Verbesserung der Vorbeugemaß-nahmen aus. Es fange bereits bei der Planung der Häuser und ihren Bebauungsplänen an. Ge-fährliche Zonen müssten unbebaut bleiben, ebenso sollten Häuser standhafter und robuster gegenüber Stürmen werden. Des Weiteren sollte man in bessere Frühwarnsysteme, wirksame Evakuierungsmöglichkeiten und zuverlässigere Wettervorhersagen investieren. Umgebungen müssen besser gegenüber Katastrophen angepasst werden. Eine Verschlechterung der Umwelt-bedingungen bewirke eine höhere Katastrophenanfälligkeit, folglich müssen Umweltbedingun-gen durch eine Förderung anpassender Maßnahmen besser geschützt werden.99

Lomborgs Argumentation liegt die Überzeugung zugrunde, dass einerseits der Klimawandel Veränderungen hervorruft, an die man sich gut anpassen kann und andererseits, dass klima-tische Veränderungen auch positive Effekte erzeugen können. Man könnte sagen, es ist eine Frage der Perspektive, im stärkeren Schmelzen der Gletscher im Himalaya nicht nur ein höheres Risiko für Überschwemmungen zu sehen, sondern eine Gelegenheit, die Wasserverfügbarkeit zu erhöhen, sofern in den betroffenen Regionen entsprechende Maßnahmen umgesetzt werden. Die Klimaforschung bestätigt durchaus, dass der Klimawandel gewisse Nutzenvorteile bringt, allerdings wird ein tatsächlicher Nutzenzuwachs lediglich für wenige Regionen prognostiziert, der darüber hinaus voraussichtlich nur für einen überschaubaren Zeitraum anhalten wird. Aus-gehend von Lomborgs und Pielkes Ausführungen, wollen wir in den folgenden Unterkapiteln näher ihre Standpunkte untersuchen, nicht nur in der Gegenüberstellung mit der Klimafor-schung, sondern auch hinsichtlich ihrer Machbarkeit und Reichweite sowie damit zusammen-hängender Probleme in der Klimapolitik.

1.5 Notwendiger Blick in die Zukunft

Lomborg weist auf ein Problem hin, das fraglos zur internationalen Klimapolitik gestellt werden muss; bzw. nicht unbedingt zur Klimapolitik selbst, aber hinsichtlich der Effizienz ihrer Umset-zung. Der ursprüngliche Plan, bis 2012 große Mengen an CO2 einzusparen, wurde bei weitem verfehlt. Das Kyoto-Protokoll kann demnach als gescheitert angesehen werden. Im Hinblick auf den weltweiten Energiemix sind die auftretenden Komplikationen bei der Transformation des Energiesystems am offensichtlichsten. Andere Bereiche sind hingegen erst am Anfang, sich mit kritischen Fragen zum nachhaltigen Wandel auseinanderzusetzen: Baukonzepte müssen hin-sichtlich einer regenerativen Energieversorgung überdenkt werden, die Wahl des Verkehrsmittel zur täglichen Arbeit darf nicht mehr in solchen Dimensionen auf das Auto mit Verbrennungs-motor fallen, demensprechend muss weitflächig in Alternativen investiert werden, die urbane Infrastruktur muss kompakter werden, der Fleischkonsum muss kritisch hinterfragt werden, auch wie Landwirtschaft betrieben werden soll, ebenso wie Rohstoffe abgebaut und genutzt wer-den sollen etc. Solch eine Transformation wird in der Regel als äußerst kostenintensiv beschrie-ben, darüber hinaus sind enorme Bemühungen nötig und der Wandel greift tief in das soziale und ökonomische Gefüge ein. Oftmals liegt es nahe, tiefgreifende Veränderungen als nicht rea-listisch oder umsetzbar abzutun. Doch die fehlende Machbarkeit kann auch als Vorwand ver-wendet werden. Dass eine Veränderung hin zu nachhaltigeren Bedingungen als ‚Überforderung‘ oder ‚Zumutung‘ abgelehnt wird, muss nicht unbedingt mit dem Umstand verbunden sein, dass die Transformation Bemühungen abverlangt, die die Verantwortlichen über alle Grenzen des Machtbaren hinweg versetzen würden. Oftmals stößt ein Wandel vielmehr auf Bequemlichkeit und Widerwillen, eingespielte Gewohnheiten zu überdenken oder anzupassen.100

Die Geburtsstunde des anthropogenen Klimawandels lässt sich mit dem Beginn der in-dustriellen Revolution terminieren. Seitdem steigen die globalen Emissionen durch mensch-liche Aktivitäten kontinuierlich an. Die logische Grundlage der Klimapolitik ist, sich dem Ursprung des Problems zu widmen. Das heißt, den weltweiten Ausstoß so weit zu reduzieren, damit sich das Klima mittel- bis langfristig nicht weiter verschlimmert. Allerdings sind kli-mabedingte Phänomene wie ein Anstieg der Temperaturen sowie des Meeresspiegels oder ein häufigeres Auftreten von Wetterextremen längst keine Resultate von Klimamodellen mehr, sondern wirken sich bereits heute auf die Lebensgrundlage von Menschen aus. Diese Phäno-mene werden im Laufe dieses Jahrhunderts mit großer Wahrscheinlichkeit weiter zunehmen, selbst wenn von heute auf morgen der Treibhausgasausstoß gestoppt werden würde. Aufgrund der Verweildauer von Treibhausgasen (Kohlendioxid verweilt durchschnittlich 120 Jahre in der Atmosphäre) werden heute ausgestoßene Gase das Klima noch bis in das nächste Jahr-hundert beeinflussen. Folglich können Reduzierungsmaßnahmen nicht jene klimatischen Gefährdungen verhindern, die bereits in der Gegenwart auftreten. Eine möglichst schnelle Reaktion auf klimatische Gefährdungen bietet demzufolge nur Adaptation. Die Anpassung an den Klimawandel ist die einzige Lösung, um die Gesellschaft gegen akute und zeitnahe Ver-änderungen zu rüsten.

Würde man Lomborgs Position Folge leisten, also den klimapolitischen Fokus klar auf Ad-aptation legen, könnte man die Widerstandsfähigkeit gegenüber akuten und zeitnahen Gefah-ren erhöhen. Regionen, die einen ansteigenden Überflutungsrisiko ausgesetzt sind, wären nach Lomborg dann gesichert. Jedoch grenzt dieser Ansatz die weitere klimatische Entwicklung aus. Der Schutz durch Adaptation ist zeitlich limitiert. Eine Sicherung bedrohter Küsten, Städte oder Gebiete wäre nur für die nähere Zukunft geschaffen. Selbst wenn neben der Anpassung, die von Lomborg geforderte gemäßigte Politik der Kohlendioxidreduzierung verfolgt werden würde, ist es höchst zweifelhaft, dass damit das Klima in Zukunft stabil gehalten werden könnte. In Anbe-tracht der wachsenden atmosphärischen CO2

-Belastung über die letzten Jahre und derzeitigen Prognosen, kann eigentlich gesagt werden, dass diese Politik nicht ausreichend ist. Die vor-geschlagene maximale Besteuerung von 14 US-Dollar pro Tonne Kohlendioxid zwingt in den Industrienationen kein Unternehmen und kaum eine Familie, Gewohnheiten zu überdenken. Der Abgasskandal der deutschen Automobilindustrie 2017 verdeutlicht dies. Die Unternehmen haben es bevorzugt in eine Software zu investieren, durch die Grenzwerte auf dem Prüfstand eingehalten werden konnten, wissend, dass sie damit Betrug begehen, anstatt tatsächlich ihre Motoren- und Abgastechnologie weiterzuentwickeln, damit die Emissionen auch unter realen Bedingungen unter den Richtwerten liegen.

Die Mehrheit der Experten ist sich einig, dass eine Begrenzung des Temperaturanstiegs auf unter zwei Grad bis Ende dieses Jahrhunderts nötig ist, um negative Auswirkungen in Grenzen zu halten. Dabei wird die Erreichung des Ziels nur unter Berücksichtigung urbaner Regionen möglich sein. Metropolregionen verursachen über 70 % der globalen Emissionen. Die Migration in Städte wird weiter anhalten, besonders in Afrika und Asien. Bis 2030 werden 60 % der Welt-bevölkerung in Städten wohnen, was unter heutigen Bedingungen bedeutet, dass die aus Städten stammenden Emissionen weiter zunehmen werden. Zwei Drittel der globalen Wirtschaftsleis-tung wird in Städten produziert, bis 2030 wird dies auf über drei Viertel anwachsen.101 Zwangs-läufig werden über die kommenden Jahre der urbane Energie- und Wasserbedarf steigen. Städte sind jedoch nicht nur eine Treibhausgasquelle, sie besitzen auch großes Potential, Emissionen zu reduzieren. Dichtere, kompaktere Städte, wodurch Transportwege verringert und Alternati-ven zum Auto attraktiver werden (Fahrrad, zu Fuß gehen), mit einer effizienteren Infrastruktur sowie Stadtplanung, die ausreichend Grünflächen berücksichtigt, sind Mittel, den urbanen CO2

-Ausstoß zu verringern. Nebeneffekt dieser Maßnahmen ist eine steigende Produktivität in den Metropolen. In den USA weisen beispielsweise jene Städte, in denen man besonders gut zu Fuß unterwegs sein kann (man spricht von walkable cities ), ein um 38 % höheres BIP pro Kopf auf als in Städten, in denen dies nicht der Fall ist.102

Nach momentanem Stand steuert die Erde einer deutlichen Temperaturerhöhung entgegen, die weit über dem angestrebten Ziel liegt.103 Eine moderate Klimapolitik wird folglich nicht den nötigen Erfolg bringen. Sollte die Temperaturerhöhung über 2°C anwachsen, wird darüber hi-naus befürchtet, dass die negativen Auswirkungen des Klimawandels Dimensionen erreichen könnten, in denen adaptive Maßnahmen an ihre Grenzen kommen.

Dennoch ist die Bedeutung der Anpassung an den Klimawandel unabdingbar. Sie ist wesent-liches Mittel, um Verwundbarkeit zu verringern. Gerade im Hinblick auf aktuelle und zeitna-he Gefahren wurde ihr auf politischer Bühne zu wenig Beachtung geschenkt. Doch wäre es verkehrt, einen Umsturz der klimapolitischen Prioritäten herbeizuführen. Selbst wenn Emis-sionseinsparungen keine sofortigen Ergebnisse erzielen, ist der Blick in die Zukunft nötig. Der Klimawandel ist ein Problem, das sowohl gegenwärtig, in naher Zukunft und über das 21. Jahr-hundert hinaus betrachtet werden muss. Je mehr Treibhausgase in die Atmosphäre gelangen, desto größer und schwerwiegender fallen die Veränderungen aus. Die Folgen eines zu hohen CO2

-Ausstoßes können dabei nicht kontrolliert werden. Sich auf anpassende Maßnahmen zu verlassen, setzt den Schutz der kommenden Generationen aufs Spiel. Zumal die Reichweite ad-aptiver Maßnahmen begrenzt ist. Natürliche Extremphänomene können Ausmaße annehmen, die jeglichen möglichen physischen Schutz übersteigen. Miami Beach fürchtet, dass es durch den ansteigenden Meeresspiegel irgendwann versinken wird. Die Stadt entschied sich daher, 400 Millionen US-Dollar in elektrische Pumpen und eine Höherlegung der Straßen zu investie-ren, damit die Bevölkerung besser vor Überschwemmungen geschützt ist. Trotzdem wird davon ausgegangen, dass diese Maßnahmen nur 40 bis 50 Jahre ihren Zweck erfüllen werden.104 Auch in ariden und semiariden Regionen können adaptive Maßnahmen nur in einem zeitlich be-schränkten Ausmaß Besserung leisten. In vielen dieser Regionen haben Trockenheit und Was-sermangel über die letzten Jahre zugenommen. Mit weiter steigenden Temperaturen würde sich die Trinkwassersituation zusehends verschärfen.105 Und dort, wo es nicht regnet, kann auch mit-hilfe adaptiver Maßnahmen kaum Wasser gespeichert werden. Erfolgreiche Klimapolitik kann daher nur über das Zusammenspiel von Mitigation und Adaptation über lange Zeit erfolgreich sein. Gesellschaften müssen sich den neuen Bedingungen anpassen, wobei zusätzlich durch eine Senkung des anthropogenen Treibhausgasausstoßes eine Verschlimmerung der klimatischen Veränderungen entgegengewirkt wird, um künftigen Generationen überhaupt die Möglichkeit zu geben, sich vor den negativen Auswirkungen des Klimawandels weiter schützen zu können.

Der Mensch tut sich schwer, sich mit Ereignissen zu beschäftigen, die erst in Zukunft ein-treten. Selbst wenn davon ausgegangen werden kann, dass zukünftige Veränderungen noch in den Zeitraum des eigenen Lebens fallen werden. Ungleich schwerer ist es eine Beziehung zu zukünftigen Generationen herzustellen. Zu der Generation der Enkelkinder lässt sich ein noch halbwegs emotionaler Bezug aufbauen. Problematischer wird es mit Generationen, die darüber hinaus anzunehmen sind. Nahestehendes scheint für den Menschen relevanter zu sein und ruft in ihm ein tieferes Empfinden hervor, als dies im Hinblick auf künftige Menschen der Fall ist. Ähnlich verhält es sich mit räumlicher Distanz. Mag man auch zur selben Zeit auf diesen Plane-ten leben, hat der Mensch doch eine emotionalere Bindung zu Zeitgenossen, die aus derselben Region stammen oder die gleiche Nationalität teilen, als zu Menschen, die auf einem anderen Kontinent leben. Tritt in einem fernen Land eine Katastrophe ein, gedenkt man der Opfer, mög-licherweise schließt man noch ihre Angehörigen in seinem Bedauern mit ein. Die Katastrophe kann ein Gefühl der Traurigkeit oder Bestürzung hervorrufen. Befinden sich unter den Opfern Landsleute, steigert sich die Anteilnahme, bis zu einem Äußerstem, wenn sich Angehörige, Nah-stehende oder Menschen aus der eigenen sozialen Bezugsgruppe unter den Opfern befinden.106

Die zeitliche und räumliche Distanz ist ein Hindernis für unsere Motivation, Maßnahmen zu treffen, die uns selbst wenig bis gar nicht zugutekommen. Berücksichtigt man in seinen Ent-scheidungen jene Menschen, die trotz einer zeitlichen oder räumlichen Distanz entfernt von uns liegen, wird dies als moralisch höchst ehrenhaft erachtet. Eine generelle Einforderung eines Handelns zum Wohle Fremder und entfernt Stehender stößt aber oftmals auf Gegenwehr. Auch in den Wissenschaften herrscht darüber Uneinigkeit, wie sehr Nah- und Fernstehende berück-sichtigt werden sollten. Wirtschaftswissenschaftler neigen beispielsweise dazu, „dem menschli-chen Hang zu Nahorientierung Zugeständnisse zu machen und Näheres gegenüber Fernerem zu bevorzugen“107. Dass Näheres gegenüber Fernerem höher diskontiert wird, ist der menschlichen Psyche eigen. Die beiden englischen Wirtschaftswissenschaftler Robert und Edward Skidelsky sprechen sich beispielsweise wie folgt übereine höhere Wertschätzung von zeitlich Nahem aus und nehmen dabei kritisch Bezug auf die Position von Nicolas Stern, der in seinem Stern Re- view 108 eine Gleichbehandlung aller kommenden Generationen vertritt:

Durchaus erscheint diese Sicht der Autoren als menschlicher, doch bedeutet dies nicht, dass sie dadurch auch die richtige ist. Birnbacher merkt hierzu an, „[e]in derartiger Schluss liefe auf eine krasse Form des naturalistischen Fehlschlusses hinaus“110.

Eine der klassisch ökonomischen entgegengesetzten Position ist nicht nur beim Stern Review zu finden, sondern vor allem in der Philosophie. Rationalistische Moralphilosophen universa-lisieren die zeitliche Verantwortung und gestehen Fernerem denselben Anspruch auf Berück-sichtigung wie zeitlich, räumlich oder emotional Näherstehendem. Nehmen wir zum Beispiel Immanuel Kant als Vertreter der rationalistischen Moralphilosophie. In seiner Idee zu einer allge- meinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht schreibt er, dass es die menschliche Natur mit sich bringe, „selbst in Ansehung der allerentferntesten Epoche, die unsere Gattung treffen soll, nicht gleichgültig zu sein, wenn sie nur mit Sicherheit erwartet werden kann“111. Für Kant scheint es selbstverständlich zu sein, dass wir in unserem Handeln kommende Menschen miteinbeziehen. Unsere Verantwortung erstreckt sich über die künftige Menschheit qua unserer Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht. Als Menschen sind wir damit zwangsläufig verantwortlich gegenüber allen Menschen, auch gegenüber jenen, die noch nicht existieren. Dabei kann die Ungewissheit über eine zukünftige Existenz von Menschen vernachlässigt werden, denn solange es Menschen gibt, kann davon ausgegangen werden, dass unter realistischen Bedingungen auch kommen-de Generationen diesen Planeten bevölkern werden. Kants Gedanke ist im Hinblick auf die menschliche Intuition von normativem Charakter. Kant stellt eine Forderung, wie es sein sollte, wodurch das tatsächliche Wesen der menschlichen Psyche, nämlich weit Entferntes geringer als Naheliegendes zu diskontieren, automatisch einen Makel bekommt. Würde man der Posi-tion Ferneres gegenüber Näherem geringer zu diskontieren Folge leisten, hieße dies nach Kants Norm, einen Makel der menschlichen Psyche zu unterstützen.

Kants Sichtweise findet durchaus Begründung. Die aktuelle Generation ist durch ihre frühere Existenz im Vergleich zu kommenden Generationen in einer günstigeren Lage in Anbetracht des natürlich vorhandenen Reichtums an Rohstoffen. Mit der Zeit werden diese natürlichen Schätze von Generation zu Generation immer weiter abnehmen, sei es durch den Klimawan-del, dem vom Menschen betrieben Raubbau oder beidem. Die Qualität der geringer werdenden Ressourcen nimmt darüber hinaus aufgrund von Verschmutzung oder Übernutzung weiter ab. Dies bedeutet zunächst, dass die frühere Generation gegenüber der kommenden bessergestellt ist. Des Weiteren verschlechtert die derzeitige Generation die Lage kommender Genrationen aktiv durch ihr gegenwärtiges Handeln und beeinflusst das Leben kommender Generationen unmittelbar. Jede Generation verursacht durch ihr Handeln neue Probleme, mit denen zukünfti-ge Generationen ungewollt konfrontiert werden. Jede Generation fügt dem menschlichen Fort-bestehen generationseigene Probleme zu, die zwangsläufig weitervererbt werden. Beispielswei-se werden die Generationen des 21. Jahrhunderts immer noch mit der Aufarbeitung und den Auswirkungen der Kriege aus der ersten Hälfte des vorangegangenen Jahrhunderts konfrontiert sein. Zum Beispiel hat die Diskussion im deutschen Bundestag 2016 über den angeblichen112Völkermord der Türkei an den Armeniern in den Jahren 1915 und 1916 zu erheblichen poli-tischen Spannungen zwischen beiden Ländern geführt; ganze Stadtviertel müssen auch heute noch geräumt werden, wenn bei Bauarbeiten Fliegerbomben aus dem Zweiten Weltkrieg ge-funden werden. In beiden Beispielen waren Menschen betroffen, die weder am angeblichen Völ-kermord vor über 100 Jahren beteiligt waren noch hat der Großteil, der seine Häuser aufgrund von Sicherheitsvorkehrungen räumen muss, den Zweiten Weltkrieg miterlebt. Eine Langzeit-verantwortung des Menschen gegenüber kommenden Menschen mag aus empirisch-psycho-logischer Sicht ein Ideal sein, doch erwächst aus der Besserstellung einer Generation gegenüber zukünftigen durchaus eine Verpflichtung, die dem kantischen Verantwortungsideal durchaus Kraft verleiht.

Werfen wir nochmals einen Blick auf den klassischen ökonomischen Ansatz der zeitlichen Diskontierung. Die unterschiedliche Gewichtung von Näherem und Ferneren entspricht nicht nur dem menschlichen Habitus, sondern entspringt einem technischen Mittel. In den Wirt-schaftswissenschaften wird häufig mit Kosten-Nutzen-Modellen gearbeitet. Diese Modelle ba-sieren auf eine nicht-gleichgewichtete Diskontierung von Gütern und Gegenständen. Mitent-scheidend hierfür ist die Schwierigkeit, wie Zukünftiges bewertet werden soll. Diese ungleiche Diskontierung hat Auswirkungen auf die Betrachtung von Gütern bzw. Ereignissen in der Ge-genwart. Werden beispielsweise zukünftige Ereignisse mit höheren Kosten diskontiert, tendiert man eher dazu, entsprechende Maßnahmen in die Zukunft zu verschieben. Entscheidungen, die heute beschlossen werden, um das Klima in der Zukunft zu schützen, haben möglicherweise keinen großen Nutzen in der Gegenwart, verursachen aber Kosten zu Lasten der gegenwärtigen Generation. Der Großteil wird sich kaum bereitwillig Einschränkungen auferlegen, damit Zu-künftiges, von dem selbst nicht profitiert wird, nicht allzu gravierend ausfällt. Ein solches Vor-gehen wäre ausschließlich auf das Wohl der zukünftigen Generationen ausgerichtet. Die Öko-nomie präferiert den Ansatz, dass zukünftige Güter, egal ob sie negativ oder positiv sind, mit der Zeit geringer gewichtet werden. Hintergedanke hiervon ist die Annahme, dass Güter zukünftig aufgrund von Sättigung weniger nachgefragt werden bzw. negativ bewertete Güter weniger ins Gewicht fallen. Ebenso steigt die Wahrscheinlichkeit, dass im Laufe der Zeit Mittel gegen nega-tiv bewertete Güter gefunden werden. Die Güter unterliegen somit einen abnehmenden Grenz-nutzen. Wenn man diesen Ansatz konsequent verfolgt, ist Klimaschutz mit seiner Reduzierung von Treibhausgasen ein Problem, das besser in der Zukunft gelöst werden sollte.

Der Wirtschaftswissenschaftler Gary Yohe teilt die Zukunft in zwei Abschnitte ein. Er spricht sich für die Betrachtung zeitnaher Fragen aus, die gelöst werden sollten, während man sich weiterhin die Fähigkeit bewahrt, mit neuen Fortschritten auf Klimarisiken einzuwirken. Lang-fristige Probleme, die uns nur eine Last aufbürden, seien sowieso im Moment nicht zu lösen.113Yohes These kann als ein Appell verstanden werden, nicht länger mit Anstrengungen zum Kli-maschutz zu warten. Besonders weniger entwickelte Länder haben bereits mit den negativen Auswirkungen des Klimawandels zu leben und sind nur gering gegenüber diesen angepasst. Auch viele Technologien und Techniken zur Installierung erneuerbarer Energien und zur Um-setzung von Nachhaltigkeitskonzepten sind bereits verfügbar und können genutzt werden. Yohes These kann mit einem Drahtseilakt verglichen werden. Nach ihm soll der Fokus auf der-zeitige Entwicklungen gerichtet sein, um aktuelle und zeitnahe Gefahren zu minimieren. Hier-bei soll die Fähigkeit bewahrt werden, im Zuge des Fortschritts weiter in der Zukunft liegende Veränderungen im Laufe der Zeit anzugehen. Doch wie weit bewirken wir mit unserem gegen-wärtigen Handeln bzw. Nicht-Handeln langfristige Probleme? Inwieweit lassen sich zukünfti-ge Klimarisiken noch regulieren, wenn jetzt auf Maßnahmen verzichtet wird? Niemand kann den Tipping Point festsetzen, an dem die Situation zu eskalieren droht. Den Blick ausschließ-lich auf zeitnahe Fragen  – angenommen unter zeitnah werden die kommenden Jahrzehnte verstanden – zu werfen, birgt die Gefahr, sich letztendlich doch die Fähigkeit zu berauben, zukünftigen Entwicklungen entgegenzuwirken. Sicherlich ist es sinnvoll Grenzen zu ziehen. Sind Veränderungen nicht mehr kausal zu rechnen, das heißt, dass die aus der Gegenwart bis in die Zukunft reichenden Kausallinien unklar werden oder sich so unauflösbar miteinander vermischen, dass sich diese nicht mehr eindeutig dem Gegenwartshandeln zurechnen lassen, wäre eine intensive Beschäftigung damit vergebene Mühe.114 Dies trifft aber nicht auf Umwelt-veränderungen in diesem Jahrhundert zu. Zwar kann dem Auftreten von Klimaphänomenen keine absolute Sicherheit zugewiesen werden, doch gilt die Zunahmen von Wetterextremen hinsichtlich ihres Auftretens und ihrer Intensivität bereits heute als wahrscheinlich bis sehr wahrscheinlich. Aktuelle Entwicklungen bestätigen diesen Trend. Zukünftige Entwicklungen, nicht nur zeitnahe, lassen sich demzufolge vorhersehen, auch aufgrund der Kenntnis, dass aus-gestoßene Treibhausgase teilweise über 100 Jahre in der Atmosphäre verweilen und sie folglich das Klima über diesen Zeitraum beeinflussen. Es gibt wenig Zweifel, dass sich die Tempera-turen weiter erwärmen werden, wenn weiterhin große Mengen an CO2 ausgestoßen werden. Ebenso gibt es wenig Zweifel, dass sich solch eine Entwicklung negativ aus das Leben auswir-ken wird. Ein Jahrhundert ist in der Klimatologie eine winzige Zeitspanne. Für uns ist es aber jene Zeitspanne, in der entschieden wird, welche Dimensionen der Klimawandel in Zukunft einnehmen wird. Und letztendlich liegt die menschliche Dimension des Klimawandels auch darin, mit den Konsequenzen leben zu müssen.

Die Theorie des abnehmenden Grenznutzens geht von einem technologischen Fortschritt aus, sodass das Problem von negativ gewichteten Gütern in Zukunft abnehmen wird. In Anbetracht dieses Verständnisses wäre die Maxime, durch adaptive Maßnahmen die Verwundbarkeit zu verringern und die globale Erwärmung in Zukunft mit neuer Technik zu beheben. Not hat schon immer erfinderisch gemacht. Risiken wurden mit dem Fortschritt der Technik im Nachhinein nur noch zu hypothetischen Risiken. Technischer Fortschritt birgt allerdings auch immer selbst „hypothetische Risiken“ in sich.115 Hypothetische Risiken werden dabei nicht mit ins Kalkül gezogen, da sie aus logischen, physikalischen oder technischen Gründen zur Entwicklungszeit einer Technologie gar nicht erkannt werden können. Ein späterer Stand der Technik ermöglicht meist erst die benötigte Analyse, um ein Ausmaß der Folgen wirklich abzuschätzen.116 Unge-achtet dessen, ist der Zeitraum nicht festzusetzen, wann solche Technologien ausgereift sein werden, falls sie überhaupt entwickelt werden. Entscheidend für unser Handeln sollten daher jene Mittel sein, die innerhalb des Rahmens unserer Möglichkeiten liegen; dass wir uns für die Alternative entscheiden, „deren schlimmste nicht auszuschließende Folge vergleichsweise am wenigsten schlimm ist“117.

Neben dem Risiko, das technologischer Fortschritt mit sich bringt, stellen räumliche und sozi-ale Diskrepanz weitere Probleme dar, wodurch die Theorie des abnehmenden Grenznutzens als ungeeignet für den Klimawandel erscheint. Im Sinne des abnehmenden Grenznutzens werden heutigen Produkten, die als eine Art von Luxus angesehen werden, in Zukunft aufgrund einer Sättigungsentwicklung geringeren Wert beigemessen. Solch eine Sättigungsentwicklung wird sich jedoch überwiegend in entwickelten Ländern abspielen, denn aufgrund der voraussichtlich weiter zunehmenden Wohlstandskluft zwischen nördlicher und südlicher Hemisphäre wird ein abnehmender Nutzen solcher Güter im ärmeren Süden kaum eine Rolle spielen. Stattdessen könnte sich der Wert natürlicher Güter deutlich erhöhen. Im Zuge von Erwärmung, Dürren und ausbleibenden Regenfällen sowie Versalzung von Böden aufgrund von Überschwemmungen, gekoppelt mit einem Bevölkerungswachstum, werden in einigen Regionen ertragreiche Agrar-flächen rar werden. Die Folge ist Stagnation oder ein Verlust der landwirtschaftlichen Güter-produktion. In dieser Entwicklung würde sich der subjektive Wert von natürlichen Ressour-cen erhöhen. Doch nicht nur in weniger entwickelten Ländern kann der Wert von natürlichen Gütern steigen. In westlichen Ländern wird seit Jahren das Problem einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich wahrgenommen. Trotz eines kontinuierlichen Wirtschaftswachstums haben immer mehr Menschen der unteren sozialen Schichten Schwierigkeiten sich eine ausrei-chende Güterversorgung zu leisten. Die Sättigungsentwicklung von bestimmten Gütern könn-te für diese Schichten nur bedingt von Belang sein – werden sie aufgrund einer relativen De-privation diese Konsumentwicklung möglicherweise erst gar nicht wahrnehmen. Unerwartete Wertsteigung könnten diejenigen Güter erfahren, die sich im Zuge des Wirtschaftswachstums in Zeiten des Klimawandels verknappen, sei es durch einen sinkenden Bestand oder aufgrund eines wachsenden Bedürfnisses nach ihnen. Sollten Naturgüter wie intakte Landschaften oder die Artenvielfalt schwinden, könnte sich ihr Wert deutlich erhöhen. Solche Wertsteigerungen werden in der Regel in einer Theorie des abnehmenden Grenznutzens nicht berücksichtigt. Die Frage wird sein, inwieweit diese abnehmenden Güter ersetzt werden können. Besonders bei Naturgütern, die nicht unbedingt für den Produktionsprozess benötigt werden, aber Einfluss auf die Lebensqualität nehmen, ist anzuzweifeln, ob sich für grüne Wiesen und weiße Berge adäquate Substitute finden lassen.118

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1.6 Die Entscheidungskraft ökonomischer Studien zu Fragen des Klimawandels

Der ökonomische Faktor bei der Bekämpfung des Klimawandels ist bei der politischen Ent-scheidungsfindungen mitbestimmender Aspekt. Die Abwägung von Kosten und Nutzen sind Hauptkriterien für die Wahl von Strategien, Projekten und Maßnahmen. Daraus erwächst ein nicht unerhebliches Problem, wie wissenschaftliche Daten zum Klimawandel in ökonomische Modelle integriert werden können. Darüber hinaus liegen Ergebnisse ökonomischer Modelle teilweise stark auseinander. Bjørn Lomborg stützte seine Meinung auf ökonomische Studien, die ihn zu der Meinung veranlassten, der Schwerpunkt müsse auf Adaptation und der Behebung von Entwicklungsmissständen liegen. Zusammen mit einer geringen Reduzierung des globalen Treibhausgasausstoßes sei dies die effizienteste Lösung. Der bekannteste ökonomische Report zum Klimawandel, der im Auftrag der britischen Regierung unter der Leitung vom ehemaligen Chefökonom der Weltbank Nicholas Stern 2006 veröffentlicht wurde, kam hingegen zu dem Er-gebnis, dass schnell gehandelt und der Ausstoß von CO2 drastisch verteuert werden müsse, um die Auswirkungen des Klimawandels begrenzen zu können.119

Eine der schwierigsten Fragen bei der ökonomischen Modellierung ist die Frage nach der Ge-wichtung von Variablen. Das vorangegangene Unterkapitel deutete bereits in Bezug auf den An-satz der Wirtschaftswissenschaftler Robert und Edward Skidelsky an, dass ein Ergebnis auch von der gewählten Grundhaltung abhängen kann. Dazu gibt es Objekte, wie zum Beispiel kulturelle Güter oder die Ästhetik der Natur, die mit ihrer eigentlichen Tragweite kaum in ökonomische Modelle integriert werden können, da ihnen keine Preise bzw. kein eindeutiger monetärer Wert zugeordnet werden kann.

Ein ökonomisches Modell zum Klimawandel wird entworfen, indem zukünftige Veränderun-gen wie ein Anstieg des Meeresspiegels, der Temperaturen, der atmosphärischen CO2

-Konzent-ration oder Änderungen in Regen- und Sturmmustern hinsichtlich ihrer ökonomischen Folgen bewertet werden. Hierbei ist die Entscheidung zu treffen, welcher methodologischer Ansatz ge-wählt werden soll, der in zwei grundlegende Arten unterteilt werden kann. Ein methodologi-scher Ansatz nimmt die physischen Effekte des Klimawandels als Grundlage. Diese werden aus einer Kombination von Laborexperimenten und Modellen über das Klima und seine Auswir-kungen gewonnen ( enumerative method ). Dabei müssen den physischen Auswirkungen Preise zugeordnet werden. So wird in Form von Preisen/Kosten festgesetzt, wie sich zum Beispiel ein Temperaturanstieg von x auf die Agrarproduktion auswirkt oder wie sich ein Meeresspiegel-anstieg im Zusammenhang mit einem Landverlust oder mit eventuellen zusätzlichen Küsten-schutzmaßnahmen preislich auswirkt. Der andere Ansatz basiert auf statistische Auswertungen, bei dem tatsächliche Beobachtungen in diversen Ländern hinzugezogen werden. Man unter-sucht dabei den Zusammenhang zwischen den tatsächlich aufgetretenen Veränderungen und den daraus resultierenden Preisveränderungen und extrapoliert dies auf zukünftige Klimafolgen und andere Länder ( statistical approach ).120

Beiden Methodologien haften Komplikationen an: Beim statistischen Ansatz liegen kon-krete Werte vor, die dem Modell einen nahen Realitätsbezug bescheinigen. Fluten sind bei-spielsweise ein häufiges, in weiten Teilen dieser Welt regelmäßig auftretendes Naturphäno-men, sodass eine hohe Anzahl an existierenden Daten über die Folgen vorliegen. Hinsichtlich vergangener Ereignisse lässt sich eine recht genaue Extrapolation erzielen. Jedoch wird eine Erhöhung der Intensität von Extremereignissen in Zukunft erwartet, sodass zukünftige Aus-wirkungen aktuelle Werte übersteigen können. Problematischer ist es mit natürlichen Phä-nomenen, die für gewisse Regionen prognostiziert werden, die jedoch bisher dort nicht auf-getreten sind. Besonders bei Dürren wird davon ausgegangen, dass diese in Zukunft auch in Regionen auftreten können, die bisher noch nicht davon betroffen waren. Eine weitere Schwierigkeit ist die Ungenauigkeit einer Extrapolation eines vorhandenen Datensatzes der Region A auf Region B. Diese regionale Extrapolation kann nur schwer die spezifischen ge-sellschaftlichen Interdependenzen der Region B im vollen Maße berücksichtigen. Hinzu kommt, dass sich die Auswirkungen einer Katastrophe selbst von Region zu Region innerhalb eines betroffenen Landes oft unterscheiden. Der gesamtwirtschaftliche Verlust, wie sehr sich eine Katastrophe auf die nationale Ökonomie ausgewirkt hat, referiert nicht auf die einzelnen Schäden in den verschiedenen Regionen. Manche Landesregionen reagieren weitaus sensiti-ver auf Umwelteinflüsse, wohingegen andere mit weniger Verlusten zu leben haben. Einerseits liegt das am Extremphänomen selbst, das nicht über das ganze Land hinweg gleich stark auf-tritt, andererseits an der unterschiedlichen regionalen Verwundbarkeit. Zudem sind in den unterschiedlichen Regionen meist verschiedene Wirtschaftszweige angesiedelt. In einer Re-gion mag verstärkt Viehzucht vorliegen, in einer anderen vielmehr Ackerbau, eine andere mag wiederum vom Dienstleistungssektor geprägt sein.

Auch ein Ansatz basierend auf Klima- und Labormodellen wird immer mit gewissen Un-genauigkeiten in den Prognosen behaftet sein. Als Großbritannien Anfang 2014 von Über-schwemmungen heimgesucht wurde, gaben Klimaexperten zu, dass sie mit solchen Entwick-lungen erst zwanzig Jahre später gerechnet hätten. Ebenso korrigierte sich das IPCC in seinem fünften Sachstandsbericht, indem es einen weitaus schnelleren Anstieg der Meere einräumte, als dies im vorherigen Bericht geschildert wurde. Die Notwendigkeit, bei ökonomischen Klima-modellen Gütern einen Preis zuzuweisen, der auf Hypothesen beruht und die ungenaue Berück-sichtigung von räumlichen Interdependenzen aufgrund unvollständiger oder nicht vorliegender Daten, machen die Modelle fehleranfällig.

Trotz den existierenden Komplikationen bei der Modellierung kommt der Großteil der öko-nomischen Studien zu einem Ergebnis: Eine Erwärmung von ein bis zwei Grad kann positiv ausfallen, alles darüber ist durchweg negativ.121 Doch impliziert dieses Ergebnis nicht, dass eine Erwärmung um bis zu 2°C für jede Region auf dieser Welt einen positiven Effekt bedeutet. Einen Nutzenzuwachs ist hauptsächlich in den Industrienationen zu erwarten, in denen ohnehin be-reits am meisten erwirtschaftet wird. Leicht steigende Temperaturen könnten sich positiv auf die Produktion auswirken, da sich leicht wärmere Temperaturen und eine leicht höhere CO2

-Kon-zentration positiv auf das Wachstum auswirken. Dies bringt zudem die Möglichkeit mit, neue Anbaugebiete zu erschließen und neue Sorten in der Landwirtschaft anzubauen. In tropischen Regionen hingegen, in denen der größte Teil der Weltbevölkerung beheimatet ist, bereitet ein leichter Temperaturanstieg bereits erhebliche Probleme für die Wasserversorgung. Hier ist viel-mehr ein Rückgang des produktiven Ertrags zu erwarten.122 Häufiger und intensiver auftreten-de Wetterextreme wie Fluten, Dürren, Hitzewellen oder Stürme werden zunehmend Produk-tionsausfälle auf der südlichen Halbkugel verursachen.123 Ein globaler Nutzenzuwachs resultiert demnach aus der Rechnung, da höhere Gewinne in den ertragsstarken Ländern die Verluste der ertragsschwachen übersteigen.

Das Ergebnis eines globalen Nutzenzuwachses deckt sich allerdings nicht mit einer qualita-tiven Wertsteigerung der Lebensgrundlage. Ein Großteil der Pflanzen- und Tierarten wird be-reits durch eine geringe Erwärmung unter hohen Stress gesetzt. Ökosysteme sind teilweise nicht mehr in der Lage sich gegenüber Umweltveränderungen anzupassen.124 Auch für den Menschen bedeuten Temperaturverschiebungen physischen Stress. Besonders ältere Menschen reagieren äußert sensitiv auf Temperaturschwankungen, da im höheren Alter die körperliche Fähigkeit nachlässt, sich an Änderungen anzupassen. Bereits vor einigen Jahren wurde eine deutlich ge-stiegene Sterblichkeitsrate aufgrund häufiger auftretender Hitze- und Kältewellen verzeichnet.125Hinzu kommen weitere gesundheitliche Unglücksfälle im Zuge häufiger und intensiver auftre-tender Flut- und Sturmereignisse. Dieser Einschnitt in die Lebensqualität lässt sich ökonomisch nur bedingt messen, indem beispielsweise steigende Kosten anhand einer höheren Nachfra-ge nach Medikamenten oder anhand steigender Krankenhaus- und Arztbesuchen analysiert werden. Auch das Aussterben biologischer Arten und das Schwinden der ökologischen Viel-falt kann wirtschaftlich nur bemessen werden, wenn diese eine Funktionen im menschlichen Produktionskreislauf hatten. Kann ein Substitut für die ausgestorbene Art gefunden werden, sodass die Produktionskette eines Gutes weiter fortbestehen kann, könnte der ökonomisch Ef-fekt am möglichen Mehraufwand gesehen werden, der nötig ist, um das Substitut technologisch und technisch in die Produktion einzubinden. Sollte die Einführung des Substituts von keinem Mehraufwand begleitet werden, würde aus ökonomischer Sicht sogar von einem gleichbleiben-den Nutzen gesprochen werden. Ökonomisch wäre demnach das Aussterben einer Art unbe-deutend.

Dies verdeutlicht, dass es Dimensionen gibt, die nicht monetär zu erfassen sind. Selbst wenn einem Leben bzw. einer Lebensgrundlage ein ökonomischer Nutzen zugewiesen wird, wird das Preisäquivalent dem wahren Wert nie gerecht werden. Der Prioritarismus ist eine Form des Utilitarismus‘, der mit einer ethischen Wertung beabsichtigt, die Idee des Nutzens gerechter zu gestalten, indem Nutzenzuwächse unterschiedlich gewichtet werden. Auf diese Weise wird ver-sucht, einen Unterschied zwischen sozialen Gruppen einzuführen. Für Person A, die aus öko-nomischer Sicht eher schlechter gestellt ist, wird ein Nutzenzuwachs x eine größere Bedeutung haben im Vergleich zu Person B, die ökonomisch bessergestellt ist. Gleiches Prinzip gilt bei einem Nutzenverlust. Person A wird unter einem Nutzenverlust y voraussichtlich mehr leiden als Person B.126 Der Slogan „Weniger ist leer“ von Brot für die Welt im Zusammenhang mit der Darstellung einer mit ein paar Reiskörnern gefüllten Schale veranschaulicht den Sinn dieses Konzepts recht treffend. Auch wenn der Prioritarismus eine ethische Dimension einbringt, bleibt das Nutzenmodell limitiert. Nutzenmodelle sind nicht in der Lage, Lebensqualität oder die umfangreiche Bedeutung von Objekten treffend aufzugreifen.

Dies wird besonders bei Gütern deutlich, die eine kulturelle, spirituelle oder religiöse Bedeu-tung haben. Ein Verlust eines kulturellen oder religiösen Monuments hat eine weitreichendere Tragweite als lediglich der Verlust seines materiellen Wertes, der meist überschaubar ist. De-sertifikationen, Stürme, Fluten und Überschwemmungen bedrohen religiöse Monumente von indigenen Völkern, die kulturelle Mittelpunkte in ihren Leben repräsentieren. Der tatsächliche Wert könnte bei einem Verlust nie gemessen werden.

Eindringlicher ist die Frage nach dem eigentlichen Wert des Lebens selbst. Beispielsweise setzt eine Studie den Verlust von Wohnungsraum in Miami Beach auf Milliarden von US-Dollar fest. Durch den Meeresspiegelanstieg sind zahlreiche am Wasser gelegene Apartmenthäuser ge-fährdet, die preislich alle im oberen Luxussegment angesiedelt sind. Diese ökonomische Studie vermag es allerdings nicht direkt zu verdeutlichen, dass voraussichtlich Menschen ihr Leben im Zuge eines verstärkten Auftretens von Sturmfluten und Hurrikans in dieser Region lassen werden. Die heutige Entwicklung lässt beinahe vermuten, dass ökonomischen Schäden mehr Beachtung geschenkt wird als menschlichen Verlusten. Frank Ackerman treibt dies auf die Spit-ze, indem er Überlegungen anstellt, ob das Leben eines Menschen „verpreislicht“ werden sollte, damit es in Studien berücksichtigt werden kann. Der Verlust eines Lebens wäre damit objektiv greifbar.127 Dies scheint absurd zu sein. Doch finden in der heutigen Zeit allzu oft Überlegungen statt, in denen Kosten und nicht das Wohl maßgeblich zur Entscheidungsfindung beitragen. Man denke nur an die Diskussion über Senioren in Heimen, wenn sie als sozialer Kostenfaktor gesehen werden. Zahlreiche Menschen greifen im Diskounter zu Billigfleisch, obwohl der Ver-zehr von gutem, dementsprechend auch teurerem Fleisch, dem eigenen Körper besser tut. So werden Bewertungen miteinander vermischt und gegeneinander abgewogen, die nicht von der-selben Kategorie sind. Immanuel Kant zieht hier eine eindeutige Trennung, indem er die Welt in zwei Kategorien einteilt. Was bloß einen relativen Wert hat, hat einen Preis und „[a]n dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis er-haben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“.128 Damit setzt er zumindest das menschliche Leben als unantastbar. Die Problematik des immateriellen Wertes von gewissen Ländereien und Gütern greift Kant dabei jedoch nicht auf.

Der Wirtschaftswissenschaftler Richard Tol räumt ein, dass ökonomische Studien von einer Vielzahl von Unsicherheitsfaktoren begleitet sind. Aufgrund fehlender Informationen sind ne-gative Überraschungen deutlich wahrscheinlicher als positive. Der Grad an Ungewissheit sei beträchtlich und wahrscheinlich unterbewertet. Das Maß und die Intensität der Forschungsbe-mühungen hinsichtlich ökonomischer Auswirkungen des Klimawandels scheinen unvereinbar mit der erkennbaren Tragweite des Klimaproblems, der erwarteten Kosten für Lösungen und der Größe der Forschungslücken. Momentan könnten Ökonomen nicht mit Zuversicht sagen, ob die diskutierten Investitionen zu hoch oder zu niedrig seien.129

Wir sollten uns bewusst sein, dass durch ein ungenügendes Handeln viel verspielt werden kann. Die in der Zukunft vorhandenen Chancen, frühere Versäumnisse wiedergutzumachen, könnten aufgrund heutiger Nachlässigkeit stark begrenzt sein. Da durch den Klimawandel Ar-ten, Lebensräume, Kulturen und Leben schwinden, sollte der Zukunft nicht leichtfertigt gegen-übergetreten werden. Nicht sämtliche Entscheidungen sollten auf Kosten-Nutzen-Analysen be-ruhen. Es gibt Bereiche, die zu wertvoll sind, um Preise zu haben. Dale Jamieson verdeutlich dies, indem er erwähnt, dass es auch heute nach wie vor Regionen auf diesen Planeten gibt, in denen das Leben ohne eine monetarisierte Ökonomie stattfindet.130 Doch auch wenn bestimm-ten Objekten kein zu messender Wert zugesprochen werden kann, müssen Entscheidungen von Vernunft geleitet werden. Alles Erdenkliche aufzubringen, um alle möglichen Auswirkungen verhindern zu wollen, könnten die heutige und kommende Generationen ebenso ins Unglück stürzen:

Gegenwärtiges und Zukünftiges sollten nach den Möglichkeiten und Bedingungen der Umset-zung gegeneinander abgewogen werden. Es wird nicht verlangt, dass für den Erhalt eines Gutes mehr aufgewendet wird, als seiner Bedeutung gerecht wird. Es wäre doch zweifelhaft, Mittel in überdimensionalem Ausmaß für den Schutz eines religiösen Artefakts aufzuwenden, wodurch die betroffene Bevölkerung am Ende gezwungen wäre, ein durchweg armseliges Leben führen zu müssen.

Kosten-Nutzen-Modelle liefern für gewisse Bereiche ungenügende Resultate. Ökonomische Modelle sind nicht in der Lage, sämtliche Verluste tatsächlich widerzuspiegeln. Angenommen sogenannte Klimaflüchtlinge erhielten Entschädigungszahlungen von einem Industriestaat, der als großer CO2

-Produzent mitverantwortlich für die klimabedingte Migration ist. Wäre die Ent-schädigungszahlung größer als der ökonomische Wert des Eigentums, den der Migrierende in seiner Heimat zurücklassen würde, könnte die Flucht sogar als monetär lukrativ angesehen wer-den. Doch können Heimatverlust, kulturelle Entwurzelung oder die Schwierigkeiten, die bei der Integration auftreten, niemals gemessen werden, weil sie schlichtweg nicht marktfähig sind.132

Trotz der Kritik an Kosten-Nutzen-Analysen sind diese nach wie vor wichtiger Bestandteil der Klimapolitik. Vor allem werden sie in einer greifbaren Maßeinheit durchgeführt, das jeder ver-steht und so auf eine Art und Weise jedem zugänglich ist. Auch wenn es ethisch wünschenswert wäre, Normen und Werte tatsächlich absolut anzusehen, konfligieren solche Ansprüche nur allzu häufig mit realen Bedingungen. Zwar kann jedes Problem meist auf unterschiedlichstem Weg gelöst werden, doch liegt nur eine begrenzte Anzahl von Ressourcen vor. Zeit, Geld, insti-tutionelle Kapazitäten sowie Wissen sind alles Ressourcen, die in der Realität nur im begrenzten Maße vorliegen. Kosten-Nutzen-Analysen sind ein Mittel, Entscheidungsfindungen unterstüt-zen zu können, wo investiert werden sollundin was und wann die Investition getätigt werden sollten. Damit können sie ein wichtiges Mittel sein, Ziele effizient erreichen zu können.

1.7 Adaptation: Eine Herausforderung

Die Anpassung an den Klimawandel ist essenziell, eine klare Fokussierung darauf wäre aber fatal, da die Reichweite von Adaptation begrenzt ist und eine Abmilderung zukünftiger Klima-auswirkungen nur mit einer Reduzierung des Treibhausgasausstoßes gelingen kann. Im Gegen-satz zu mitigativen Maßnahmen scheint die Anpassung an den Klimawandel das einfachere Mittel zu sein. Die Diskussionen über CO2

-Einsparungen haben von Anfang an politisch sowie wirtschaftlich hohe Wellen geschlagen. Betreffend Adaptation blieb eine solche Diskussion bis-her aus. Für Lomborg ist sie wie erwähnt die effizienteste Methode. Allerdings ist auch die An-passung an den Klimawandel hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit und ihres finanziellen Aufwands intensiv. Nach Samuel Fankhauser befindet sich die Forschung hierzu noch in den Kinderschu-hen, sodass keine genauen Angaben bezüglich Kosten gemacht werden können.133 Diese Aus-sage wurde zwar vor über zehn Jahren getätigt, doch wird sich zeigen, dass Adaptation nach wie vor eine notwendige, jedoch keinesfalls eine leichte Aufgabe darstellt.

Dies lässt sich besonders am Fall des steigenden Meeresspiegels verdeutlichen. Bis zum Ende dieses Jahrhunderts wird ein Anstieg des Meeresspiegels von 26 bis 82 cm erwartet, je nach SRES-Szenario.134 Über die Hälfte der heutigen Weltbevölkerung lebt direkt oder in der Nähe von Küsten. Küstennahe Metropolen wie Tokyo, Jakarta, Mumbai, New York, Shanghai, Lagos oder London bieten mit ihren Wirtschaftszentren der wachsenden Weltbevölkerung Platz. Acht der zehn größten Städte dieser Welt liegen am Meer.135 Damit stellen marine Veränderungen eine Bedrohung für den Großteil der Erdbevölkerung dar.

Die Bedrohung der Küsten wird häufig alleinig mit dem Klimawandel in Verbindung ge-bracht. Allerdings ist es vielmehr die Summe an Faktoren, warum Küsten bedroht sind. Küsten-gebiete sind allein aufgrund ihrer Lage gefährdete Gebiete, vor allem kleine Inseln und Küsten in Deltagebieten sind seit jeher äußerst verwundbar. Küsten bieten wichtigen und produktiven Ökosystemen eine Heimat, die allerdings äußerst sensibel auf steigende Meere reagieren.136 Eine hohe Bevölkerungsdichte und wirtschaftliche Aktivitäten wirken sich zudem negativ auf die Verwundbarkeit der Küstengebiete aus.137 Der Meeresspiegelanstieg ist hierbei keine Gefähr-dung, die ausschließlich aus klimatischen Veränderungen resultiert. Um dies zu verdeutlichen, spricht man im Fachterminus vom relativen Meeresspiegelanstieg, der sämtliche Einwirkun-gen auf den Meeresspiegelanstieg berücksichtigt. Neben klimatischen Veränderungen wie die globale Erwärmung und die Änderung der Ozeanströmungen treten nicht-klimatischbedingte Prozesse wie Hebe- oder Senkungsprozesse hinzu, die auf tektonische, glaziale, natürliche oder anthropogene Einflüsse zurückzuführen sind.138

Der relative Meeresspiegelanstieg ruft sofortige sowie langzeitige Veränderungen hervor. Zu den sofortigen Effekten gehören Submersion (das Untertauchen des Festlandes unter dem Mee-resspiegel, auch ‚Badewanneneffekt‘ genannt), zunehmendes Überfluten des Küstengebietes und Salzwasserintrusion im Oberflächengewässer. Langzeitwirkungen umfassen den Verlust an Feuchtgebieten (inklusive Änderungen des Wasserstands), Salinität durch höhere Wasserstände, Erschwerung des Wasserablaufs, Erosionen an Stränden und Kliffen sowie Salzwasserintrusion des Grundwassers. Langzeitwirkungen sind keine plötzlichen Prozesse, sondern verlaufen viel-mehr langsam, doch korrelieren sie mit den sofortigen Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs und verschärfen diesen. Folgeerscheinungen können dabei Erosionen bei sedimentären Formen (z. B. Sanddünen, Korallenriffe und Mangroven) sein. Diese stellen unter gesunden Bedingun-gen einen natürlichen Schutz für Ökosysteme dar. Verschlechtert sich ihre Verfassung durch Erosion, steigt die Wahrscheinlichkeit von Überflutungen.139

Küstengebiete an veränderte Bedingungen anzupassen ist eine Herausforderung, da neben den klimatischen Veränderungen auch die nicht-klimatischen Faktoren berücksichtigt werden müssen. Diese Zwischenwirkung an den einzelnen Küstenabschnitten zu verstehen ist mit ho-hem wissenschaftlichem Aufwand verbunden. Der Großteil der Küsten Afrikas, Südostasiens und die der kleinen Inseln im Pazifik sind vom relativen Meeresspiegelanstieg betroffen. In den USA leiden 80 bis 90 % der Strände an Erosion, weltweit sind es 70 %.140 Eine weltweite Anpas-sung der Küstenstreifen ist folglich utopisch.

Verschiedene Auswirkungen brauchen verschiedenartige Maßnahmen. Lomborg und Piel-ke sprachen von verbesserten Frühwarnsystemen, Änderungen des Bebauungsverhaltens und einem besseren Schutz vor dem steigenden Meerwasser. Der Schutz vor steigenden Meeren ist allerdings komplex: Erosionen müssen berücksichtigt werden, die Einspeisung von Salzwasser in das Grund- und Oberflächenwasser soll verhindert werden, Gebäude müssen flutresistent gebaut sein, aber auch das Abfließen von Hochwasser zurück in die Meere muss ermöglicht werden. Das IPCC gab in einem frühen Bericht zum Hochwasserschutz drei grundlegende Beispiele für Adaptionsstrategien gegenüber steigenden Gewässern: (1) der Rückzug aus Küs-tengegenden ( retreat ), (2) eine bessere Anpassung der Behausungen an Küsten, ohne dass ver-sucht wird, Überschwemmungen zu verhindern ( accomodation ), zum Beispiel durch Stelzen unter dem Hausfundament oder salzresistentes Saatgut, und (3) eine Sicherung durch Schutz-maßnahmen ( protection ) wie Schutzwälle oder Deiche sowie Dünen oder entsprechende Ve-getation.141 Welche Variante auch gewählt wird, sie wird immer ökologische, ökonomische und soziale Auswirkungen haben. Am offensichtlichsten zeigt dies das Verlassen der Küsten-gegend ( retreat ). Hierbei hätte man den sichersten Schutz gegen Fluten gewählt, zudem würde man dem Ökosystem gewähren, sich selbst gegenüber den Veränderungen anzupassen. Doch fiele der lokale Wirtschaftssektor des Fischfangs weg, ebenso gingen küstennahe Feuchtgebie-te verloren, da man sich gegen einen Schutz entschieden hätte (ökologische Auswirkungen). Die Bewohner müssten ihren Besitz aufgeben, würden von Umzugskosten belastet und neue Gebäude müssten in andere Regionen gebaut werden (ökonomische Auswirkungen). Solch ein Umzug hat immer Potential für Konflikte. Migranten werden mit Sprachproblemen, eth-nischen Spannungen oder religiöser Diskriminierung konfrontiert. Zudem kann eine Auf-gabe der Heimat einen seelischen Schaden verursachen (soziale Auswirkungen). Rechtliche Hindernisse, sofern die Migration über Ländergrenzen hinweg geschieht, könnten zusätzlich hinzutreten.

Neben ökonomischen, sozialen und ökologischen Problemen spielt der Faktor Zeit eine ent-scheidende Rolle. Die Planung von geeigneten Strategien und deren Umsetzung kann viele Jahre in Anspruch nehmen. Klimaänderungen können auf der anderen Seite jedoch früher als erwar-tet eintreffen. Weiterhin müssen die Maßnahmen immer wieder erneuert und teils angepasst werden.142 Gerade Schutzmaßnahmen und bauliche Anpassungen verursachen hohe Wartungs- und Instandhaltungskosten. Hinzu kommt das Risiko, dass adaptive Maßnahmen die Lage in anderen Sektoren verschlimmern könnten, da es sich bei adaptiven Maßnahmen um integrierte Ansätze handelt, die Einfluss auf die Umgebung eines Systems nehmen. Für das Küstenmanage-ment muss die richtige Ausgewogenheit zwischen sozioökonomischen Aktivitäten, menschli-cher Sicherheit und dem ökologischen System der Küstenzonen in Ansehung des steigenden Meeresspiegels gefunden werden.143

Adaptation kann mit einem erheblichen Aufwand verbunden sein, sodass manche Maßnah-men aufgrund von Kostengründen nur in hochentwickelten Ländern Sinn machen.144 Die in manchen Küstenregionen vorherrschende hohe Bevölkerungsdichte schränkt zudem die Mög-lichkeiten der Anpassung stark ein. Für manche Agglomerationen scheinen nur noch Ausnah-meeinfälle den benötigten Schutz zu liefern. Indonesiens Hauptstadt Jakarta gehört zu jenen Städten auf der Welt, die gegenüber Überschwemmungen am gefährdetsten sind. In der schnell anwachsenden und dicht besiedelten Metropole, die mittlerweile über 10 Millionen Einwoh-ner hat (Tendenz weiter stark steigend), sind gewisse Stadtviertel beinahe regelmäßig während der Regenzeit überflutet. Dabei erwächst das Überschwemmungsrisiko nicht ausschließlich aus dem Meeresspiegelanstieg, sondern zusätzlich durch Bodensenkungen. Neben natürlichen Va-riationen ist dies besonders auf die urbane Entwicklung der Stadt in den letzten drei Jahrzehnten zurückzuführen. Eine erhöhte Grundwasserentnahme und zunehmender Druck auf den Boden aufgrund neuer Bauten setzen die Stadt um 1 bis 15 cm/Jahr herab, in einigen wenigen Stellen gar bis zu 28 cm pro Jahr.145 Ein Mammut-Projekt soll die zu versinken drohende Metropole ret-ten. Ein 32 km langer Damm soll in der Form eines Garudas, ein mystischer Vogel und Wappen-tier des Landes, in der Bucht von Jakarta gebaut werden. Die geschätzten Kosten dieser National Capital Integrated Coastal Development (NCICD) betragen 40 Milliarden US-Dollar. Kosten, die das Land nicht allein tragen kann. So beteiligt sich ein Konsortium an indonesischen Baufirmen, die dafür das Recht erhalten, auf den aufgeschütteten Inseln in der Bucht Gebäudekomplexe zu errichten.146 Im Hinblick auf die enormen Kosten, die manch ein Projekt zum Schutz der Be-völkerung mit sich bringt, kann die Umsetzung ohne die Beteiligung der Privatwirtschaft nicht ermöglicht werden. Dies birgt jedoch das Risiko, dass Schutzmaßnahmen unter dem Einfluss von Profitaussichten von privaten Unternehmen umgesetzt werden, anstatt die Verwundbarkeit bestmöglich zu verringern.

Viele Lösungen mögen ökonomisch sinnvoll sein, scheitern allerdings aufgrund sozialer oder ökologischer Faktoren. Ebenso können Maßnahmen aus sozialer und ökologischer Sicht als ge-eignet gelten, sind aber finanziell nicht umsetzbar. Eine genaue Analyse des Systems, in dem Maßnahmen integriert werden sollen, ist entscheidend, ob das System letztendlich vor den Aus-wirkungen des Klimawandel widerstandsfähig ist. Da Adaptation lange Zeit ein Nebendasein in der Klimapolitik zukam, besteht heute großer Nachholbedarf in der Forschung betreffend Umstandsanalysen, aber auch Datengewinnung. Großbritannien ist mit einer Küstenlinie von 12 500 km eines der Länder Europas, das besonders Flutereignissen ausgesetzt ist. Anfang 2014 wurde das Königreich von Stürmen und Hochwasser vereinnahmt, die in solch einer Größe erst nach 2030 von Klimaexperten erwartet wurden. Schon während der Hochwasserkatastrophe wurde festgestellt und kritisiert, dass die Regierung die Jahre zuvor zu wenig unternommen habe, um solch eine Katastrophe zu verhindern und darüber hinaus falsche Maßnahmen instal-liert wurden, um das Land vor Hochwasser zu schützen.147

In weniger entwickelten Ländern sieht die Lage ungleich schwerer aus. Selbst eine optima-le Lösung im Sinne von Kosten und Nutzen könnten die Kapazitäten vor Ort überwältigen.148Folglich ist es nötig, die Forderung des UNFCCC umzusetzen, adaptive Maßnahmen zu ei-ner internationalen Angelegenheit zu machen, damit diese keine alleinige nationale Aufgabe bleiben.

1.8 Adaptive Herausforderungen am Beispiel des pazifischen Inselstaates Tuvalu

Die Auswahl adaptiver Optionen ist meist von Anfang an begrenzt. Finanzielle, geographische, demographische, technische, personelle oder institutionelle Bedingungen, die vor Ort vorliegen, limitieren die Auswahl. Im Folgenden wollen wir etwas näher auf die Situation des kleinen Insel-staates Tuvalu eingehen. Besonders die kleinen Inselstaaten sehen sich größer werdenden Risi-ken in Form des steigenden Meeresspiegels oder tropischer Stürme ausgesetzt. Als Zyklon Pam im März 2015 auf Tuvalu traf, zerstörte er Häuser und schwemmte die Ernte hinweg. 45 % der Bevölkerung wurden vertrieben.149 Die vorherrschenden Gegebenheiten auf den kleinen Insel-staaten erschweren es, Veränderungen zum Schutz der Bevölkerung vorzunehmen. Meist ist nur eine unzureichende Infrastruktur vorhanden, zudem weisen sie eine niedrige wirtschaftliche Entwicklung auf. Charakteristisch für ihre Wirtschaft ist der Mangel an personellen Mitteln und institutionellen Kapazitäten. Darüber hinaus sind die Staaten aufgrund ihres geringen Ausma-ßes und ihrer Abgelegenheit von jenen natürlichen Ressourcen abhängig, die gerade im Zuge des Klimawandels schwinden.150 Ihre Situation, sich mit ihren vorhanden, limitierten Mitteln gegenüber dem Meeresspiegelanstieg, den veränderten Strömungen und Wettermustern sowie häufigeren und intensiveren tropischen Stürmen anzupassen, ist sinnbildlich für den Klimawan-del, als eine noch nie für den Menschen dagewesene Gefahr, mit der gelebt werden muss. Des-halb werden die kleinen Inselstaaten in den Medien oftmals als die symbolischen ersten Opfer der globalen Erwärmung dargestellt.151

Tuvalu ist ein Inselstaat im Pazifischen Ozean mit 11  000 Einwohnern. Das Staatsgebiet erstreckt sich über neun kleine Inseln, die nördlich von Neuseeland und östlich von Papua-Neuguinea liegen. Diese neun Koralleninseln sind Atolle, die sich ringförmig um eine Lagune anordnen. Mit einer gesamten Landfläche von 26 km2 gehört Tuvalu zu den kleinsten Staaten dieser Erde. Die Hauptstadt Funafuti, die sich über das größte Atoll erstreckt, hat eine maximale Ausdehnung von nicht mehr als 500 m in der Breite. An manchen Stellen ist der Inselstreifen gar nur wenige Meter breit.

Tuvalu gehört zu jenen kleinen Inselstaaten, die seit Beginn der Klimakonferenzen für ein energischeres Umsetzen der Klimaziele plädieren. Sie befürchten, dass die steigenden Meere ihre Inseln in absehbarer Zeit vollkommen überschwemmen könnten.152 Die kleinen Inselnatio-nen haben nicht die wirtschaftlichen Mittel, um sich an die veränderten Umstände anzupassen. Neben der finanziellen Situation scheitern umfangreiche Anpassungsstrategien an der geogra-phischen und demographischen Situation. Das Leben in den kleinen Inselstaaten spielt sich auf engsten Raum unmittelbar am Meer ab, sozusagen vom Wasser eingeschlossen. Die Atolle sind nicht besonders hoch, sodass sich das Land nicht entscheidend vom Meeresspiegel abhebt. Der höchste Punkt auf Funafuti ist eine drei Meter hohe Geröllhalde, die durch den Hurrikan Bebe im Jahre 1972 vom Strand her aufgetürmt wurde.153 Das Leben auf Atollen bringt neben dem geringen Ausmaß einen weiteren kritischen Aspekt mit sich: Die Morphologie der Atolle hängt vollkommen vom Korallenwachstum ab. Ökosysteme wie die von Tuvalu reagieren höchst sen-sibel auf Umweltveränderungen. Steigen die Oberflächentemperaturen und der CO2

-Gehalt der Ozeane weiter an, werden die Korallenriffe verstärkt ausbleichen. Die Folge wäre ein Massen-sterben der Korallenriffe. Mit dem Absterben der Riffe verlören die Atolle ihren natürlichen Schutz gegenüber dem steigenden Meeresspiegel. Zeit und Land sind keine Faktoren, welche die Inselbewohner ausreichend zur Verfügung haben. Auf den Fidschiinseln werden bereits ganze Dörfer in die Hanglagen im Inselinneren umgesiedelt, um auf die Verschiebung der Küsten-linien von teils 25 m innerhalb weniger Jahre zu reagieren. Statt Fischfang betreiben die Dorf-bewohner dann Ackerbau und Schweinezucht.154 Solch eine retreat- Maßnahme ist auf Tuvalu aufgrund der geringen Breite der Inseln nicht möglich. Natürliche Erhebungen gibt es zudem nicht, die das Meerwasser bei Fluten zurückhalten. Das steigende Wasser droht von allen Seiten die Inseln zu verschlucken. Physische Bauten wie Flutmauern ( protection ) sind ebenfalls nur schwer zu installieren, da für ausreichend große Schutzwälle der Platz fehlt. Da das Meer bereits an den Küsten nagt, würden die Schutzwälle ohnehin in absehbarer Zeit ins Wasser stürzen.

Der Meeresspiegel hat sich von 1901 bis 2010 um 0,19 [0,17 bis 0,21]m erhöht. Zwischen 1993 und 2010 (3,2 [2,8 bis 3,6]mm yr-1) hat sich im Schnitt der globale jährliche Anstieg des Meeres-spiegels gegenüber dem Zeitraum 1901 und 2010 (1,7 [1,5 bis 1,9]mm yr-1) fast verdoppelt.155Tuvalu erfährt diesen Meeresspiegelanstieg hautnah. Dabei ist nicht der durchschnittliche An-stieg entscheidend, sondern die Extremwerte, die der Anstieg mit sich bringt. Auch früher schon wurde der Atoll-Staat von Überschwemmungen heimgesucht, doch seit zwanzig Jahren finden diese vermehrt und stärker statt. Die höchsten Wasserstände während der Flut sind um einen viertel Meter gestiegen. Während der Springtide, die fünf- bis sechsmal im Jahr das Land heim-sucht, bilden sich über längere Zeit Salzwasserseen mit einer Länge von bis zu 100 m und einer Tiefe von 30 cm. Da bei Hochwasser große Teile der Inseln überschwemmt werden, vermischt sich das salzige Meerwasser mit den Wasserreserven. Die Fluten drücken gar das Grundwas-ser an die Oberfläche, sodass die Inseln von innen heraus überschwemmt werden. Die Folgen sind kaputte, unfruchtbare Böden, unbrauchbare Ernten (ein in den letzten Jahren verstärktes Auftreten von Dürren kommt erschwerend hinzu), Vegetationsveränderungen und absterben-de Pflanzen sowie Kokospalmen. Die Tuvaluer sind verstärkt gezwungen auf importierte Nah-rungsmittel zurückgreifen, jedoch fehlt bei der Bevölkerung zum großen Teil das Geld, um sich die Importgüter leisten zu können. Eine regelmäßige Versorgung von außen kann nicht gewähr-leistet werden, da schlechtes Wetter oftmals die Zulieferung der Importe unmöglich macht.156

Auch Tuvalus Nachbarinselstaat Kiribati hat mit den Folgen des Klimawandels zu kämpfen. Bereits 1999 wurden dort zwei unbewohnte Inseln vollkommen vom Meer verschlungen.157Doch obwohl Landverlust aufgrund des relativen Meeresspiegelanstiegs augenscheinlich ist, er-öffnete die Auswertung von Satellitendaten durch Arthur P. Webb, ein Experte für die Region der kleinen Inselstaaten im Pazifik, der bereits als führender Autor beim IPCC-Sachstandsbe-richt mitwirkte, und Paul S. Kench von der Universität Auckland eine andere Sichtweise. Ihre Studie präsentierte zum ersten Mal eine quantitative Analyse von physischen Veränderungen in 27 Atoll-Inseln im zentralen Pazifik über eine Zeitspanne von 19 bis 61 Jahren. Je 43 % der aus-gewerteten Inseln aus Tuvalu, Kiribati und den föderierten Staaten Mikronesiens blieben stabil bzw. verzeichneten sogar einen Flächenzuwachs. Der geringere Teil der beobachteten Inseln (14 %) verlor hingegen an Fläche. Die Satellitenbilder zeigten, dass die Inseln über die Jahre teils starkem Wandel unterzogen sind und ihre Umrisse sich dabei stark verändert haben. Zwar schwinden aufgrund des relativen Meeresspiegelanstiegs die direkt am Ozean liegenden Küs-tenstücke, doch wachsen die Inseln auf den gegenüberliegenden Seiten bzw. an den Lagunen im Inneren der Inseln an, sodass nicht nur der Verlust an Fläche kompensiert wurde, sondern einige Inseln sogar einen Nettozuwachs erreichen konnten. Die Erklärung für dieses Phäno-men scheint eine Anhäufung von Sedimenten zu sein, die durch Veränderungen im Wind- und Wellensystem kontrolliert wird. Ebenso tragen Stürme sedimentäre Ablagerungen weg von der Küste zur gegenüberliegenden Küstenseite.158

Zwar zeigt die Studie von Webb und Kench, dass die oftmals mediale Berichterstattung über den baldigen Untergang der pazifischen Inseln überzeichnet ist, doch widerlegt sie nicht die These, dass die kleinen Inselstaaten gegenüber dem steigenden Meeresspiegel außer Gefahr sind. Vielmehr ist sie ein Beleg für die Verwundbarkeit gegenüber dem steigenden Meer, Erosionen und tropischen Stürmen. Diese Faktoren unterwerfen die Inseln einem starken geomorpho-logischen Wandel. Eine Beschleunigung dieses Wandels ist im Zuge eines schnelleren Meeres-spiegelanstiegs nicht undenkbar. Die Umsetzung adaptiver Maßnahmen müsste folglich nicht nur auf dem klimatischen Wandel basieren, sondern komplexe Umweltmechanismen wie der Abtragungsprozess der jeweiligen Inseln müssten berücksichtigt werden. Hierfür müssen aus-reichend Daten und Informationen vorliegen. Bereits in ihrem NAPA ( National Adaptation Pro- gramme of Action ) hat die Regierung Tuvalus darauf verwiesen, dass sie zwar Maßnahmen zum Schutz ihrer Bevölkerung unternommen habe, ihr aber die Mittel für umfangreichere Strategien fehlen.159 Flächendeckende Datenerhebungen und eine anschließende Umsetzung von nachhal-tigen Projekten sind außerhalb ihrer Möglichkeiten.

Bereits heute ist die Hälfte der Einwohner Tuvalus auf Lebensmittel- und Finanzunterstützun-gen angewiesen. Die Wiederherstellung der durch Fluten und Stürmen entstandenen Verluste und Schäden sowie der Bau anpassender Maßnahmen ist nur mithilfe internationaler Partner möglich.160 Das ständige Erneuern schlichter Ufermauern schützt das Leben vor steigenden Flu-ten auf Dauer nicht. Die Flucht ins Landesinnere ist aufgrund der geringen Ausmaße der Atolle nicht möglich. Auf langer Sicht scheint eine Emigration unausweichlich zu sein. Diese hängt aber von der freiwilligen Aufnahme anderer Länder ab. „Es gibt keinen anderen Ort hinzuge-hen“, so der CEO von Greenpeace Australia Pacific .161 Die Regierung Tuvalus plante bereits ein Auswanderungsprogramm für seine Bürger nach Neuseeland und Australien.162 Dieses scheiter-te jedoch auf Seiten der aufnehmenden Länder, da diese auf die allgemein existierenden Einrei-severfahren verwiesen.163 Aus juristischer Sicht ist hierbei gegenüber Australien und Neuseeland nichts zu beanstanden. Zwar könnte Australien eine moralische Verpflichtung zugesprochen werden, da es einer der Hauptemittenten von CO2 ist und somit maßgeblich zum Klimawandel und zum Meeresspiegelanstieg beigetragen hat, allerdings sind nach den Genfer Bestimmungen über Flüchtlinge Menschen, die ihre Heimat aufgrund sogenannter Naturkatastrophen verlas-sen haben, weder Flüchtlinge noch Verfolgte im rechtlichen Sinne.

Die scheinbar bevorstehende, unausweichliche Migration der Bewohner von den kleinen pazifischen Inseln wurde bereits in der Öffentlichkeit häufig erwähnt. Dennoch deckt sie sich nicht mit der tatsächlichen Absicht der Inselbewohner. Für die Bewohner ist die Anpassung gegenüber den Umweltveränderungen weitaus relevanter als die Verhandlung über bilaterale Auswanderungsabkommen. Zu einem gewissen Grad wurde die mediale Kanonisierung der klimabedingten Migration im Pazifik zu einem Mittel des populistischen Umwelt- und Klima-schutzes erkoren. Die Mehrheit der Tuvaluer auf Funafuti befasst sich kaum mit der Flucht ihrer Heimat. Für sie ist das Verlassen des Atolls im Moment noch keine Option. Viele sehen gar keine Notwendigkeit darin. Eine massenhafte Auswanderung würde darüber hinaus ein rasches Aus-sterben der Kultur und des Insellebens bedeuten. Nur ein geringer Teil der Bevölkerung scheint aufgrund des Klimawandels die Insel verlassen zu wollen. Religion und eine enge Verbindung zur Natur spielen für die meisten die Hauptrolle, warum sie ihre Heimat nicht verlassen wol-len. Einige können sich erst gar nicht vorstellen, dass ihre Heimat in den nächsten Jahrzehnten untergehen könnte, wo Gott sie doch geschaffen habe.164 Letztere Aussage ist sinnbildlich für die immer noch herrschende Diskrepanz zwischen Wissen und Vorstellung, nicht nur in der pazi-fischen Region, sondern in vielen Teilen auf der Welt. Veränderungen in der umliegenden Natur mögen zwar wahrgenommen werden, aber nicht jeder in der Bevölkerung erklärt sich dies mit anhaltenden naturwissenschaftlichen Prozessen. Dies heißt nicht, dass die Erklärung der Ver-änderungen ausschließlich im Göttlichem oder Spirituellem gesucht wird. Die Veränderungen werden von einigen einfach akzeptiert, ohne dabei nach dem Grund zu fragen. Dies bedeutet allerdings auch, dass manch einer in den spürbaren Veränderungen keine langanhaltende Ent-wicklung sieht, die sich in den kommenden Jahren womöglich noch verschärfen könnte. Folg-lich sehen sie nicht unbedingt Bedarf, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Sie leben mit den Veränderungen und glauben daran, dass sich die Situation wieder normalisieren wird. Einige mögen sogar die wissenschaftlichen Vorhersagen kennen, misstrauen diesen allerdings, und vertrauen weiterhin auf ihre traditionellen Methoden, die sie von ihren Vorfahren erlernt haben, und diese wiederum von ihren Vorfahren, beispielsweise zur Wettervorhersage oder zur Bestimmung zur Saatzeit beim Ackerbau.165

Diese Wissens- bzw. Einstellungsdiskrepanz stellt ein Hindernis dar. Bevor neue Maßnahmen zum Umwelt- und Klimaschutz umgesetzt werden, muss besonders in weniger entwickelten Ländern häufig erst Aufklärungsarbeit bei der Bevölkerung betrieben werden. Dies kann aller-dings auch eine Chance sein. Normalerweise werden Planung und Umsetzung von Schutz- und Anpassungsmaßnahmen als Aufgabe der nationalen Behörden angesehen. Die Gesetzgebung und der Regierungsauftrag sehen vor, dass die Regierung die Bürger vor Gefahren und Risiken bewahrt. Auf diese Weise werden die institutionelle Verantwortung und die finanzielle Ressour-cenverteilung festgelegt. Unter Berücksichtigung der lokalen Erfordernisse und unter Miteinbe-ziehung des regionalen Gemeinwesens, sollen die zuständigen Institutionen dann entsprechend handeln.166 Nach Roger Pielke Jr. et.al. ist dieser sogenannte top-down- Ansatz notwendig, da nur Regierungen die Vorausschau und den langfristigen Blick haben, die strategische Führung und benötigten Ressourcen bereitzustellen.167 Jedoch zeigen besonders die vorangegangen Jahrzehn-te, dass der langfristige Blick häufig von kurzfristigen, wirtschaftlichen Interessen getrübt wird. Für einen top-down -Ansatz ist ein starker Regierungsapparat notwendig. Gerade dieser fehlt in weniger entwickelten Ländern, in denen knappe finanzielle sowie institutionelle Kapazitäten meist vorzufinden sind.

Folglich könnte ein anderer Ansatz die Lösung sein, der nicht nur von ‚oben herab‘ organi-siert, sondern näher auf lokale Interessen und Gegebenheiten eingeht und dabei großes Poten-tial generiert. Dieses Potential ist in der Bevölkerung zu finden. Gerade in weniger entwickelten Ländern kann die Bevölkerung wichtige Hinweise zu lokalen Bedingungen liefern, da sie auf ein Wissen zurückgreifen kann, das Tag für Tag durch die Anwendung im Alltag bereichert wird.168 Indem eine Struktur geschaffen wird, die es erlaubt, Schlüsselfragen, Konzepte und Me-thoden sowie lokale und kulturelle Gewohnheiten miteinander zu verbinden, könnten sich ins-titutionelle Behörden und die Bevölkerung annähern.169 Bürger würden somit nicht nur bei der Planung involviert werden, sondern ihre Miteinbeziehung liefert erst die Grundlage für Maß-nahmen und Projekte. Nebeneffekt der Einbindung der Bevölkerung wäre die Aufklärung über bestehende Missstände. Gerade die Zusammenarbeit zwischen Staat und Bevölkerung schärft das Bewusstsein vorhandener Veränderungen und Probleme, und zwar auf beiden Seiten. Nicht nur würden die Bürger über die Absicht des Staates aufgeklärt werden, beispielsweise über die Notwendigkeit neuer landwirtschaftlicher Strategien, um der Erwärmung und schwankenden Niederschlägen zu entgegnen, sondern die Bürger könnten neben ihrem Fachwissen auch ihre Bedürfnisse einbringen. Dies stärkt nicht nur den Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft, der Bevölkerung kommt hiermit auch eine Verantwortung zuteil, selbst zur Verbesserung ihrer Lebensgrundlage beitragen zu können.

Mit einem solchen bottom-up -Ansatz könnten verstärkt die unterschiedlichen örtlichen Gege-benheiten und Interessen bei der Projektplanung und -umsetzung miteinfließen. Im pazifischen Inselstaat Vanuatu hat beispielsweise die Regierung vor ein paar Jahren ein Projekt gestartet, bei dem Wissenschaftler mit der dortigen indigenen Bevölkerung zusammenarbeiten. Bei diesem Versuch werden die Ergebnisse der traditionellen Wettervorhersage, die auf der Beobachtung natürlicher Ereignisse wie dem Wolkenzug oder wie nah Schildkröten ihre gelegten Eier am Meer vergraben basiert, mit der modernen Wettervorhersage abgeglichen. Ziel der Regierung ist es, die moderne Wettervorhersage durch das traditionelle Verfahren zu ergänzen und bestenfalls zu verbessern.170 Traditionelle Methoden repräsentieren indigene Lebensweisen und sind in der Regel fester Bestandteil kulturellen Lebens. Mit einer staatlich unterstützten Zusammenarbeit werden diese Formen konserviert. In vielen indigenen Bevölkerungsgruppen wird der west-liche Einfluss als eine Art Gefährdung angesehen, der die traditionelle Lebensweise allmählich vertreibt. Projekte wie die in Vanuatu können der Gefahr eines Verlusts des indigenen Lebens verhindern.

Der hier beschriebene Ansatz ist allerdings kein reiner bottom-up- Ansatz. Zwar ist die Einbin-dung der Bevölkerung ein Zeichen, dass von unten nach oben gearbeitet wird, doch geschieht diese Einbindung in der Regel im Rahmen von staatlichen Programmen, in denen internationa-le bzw. nationale Gesetze die Grundstruktur legen (so zum Beispiel bei der Einbindung von NA-PAs und NAPs in nationale Entwicklungspläne) und nationale Regierungsinstitutionen Unter-stützung leisten. Korrekt wäre es demnach von einer Kombination von top-down und bottom-up zu sprechen, also einem hybriden Ansatz. Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass es mittlerweile durchaus weltweit Programme gibt, die aus Initiative einzelner Person, Gruppen oder Gemeinden gestartet wurden, die beabsichtigen, zu einer ökologischen Verbesserung bei-zutragen, ohne die Unterstützung von Regierungen oder großer Organisationen.171

Die Diskussionen über Migrationsprogramme werden auch weiterhin nicht abnehmen, vor allem da sich auf langer Sicht ein (zumindest teilweiser) Untergang der Inseln ereignen könnte. Die Regierung Kiribatis hat bereits Land auf Fidschi gekauft, um ihrer Bevölkerung die Mög-lichkeit zu geben, in den Nachbarstaat überzusiedeln.172 Dennoch sollten nationale Interessen vorerst Priorität haben, um einen Verbleib auf den Inseln zu ermöglichen. Mit dem Verlas-sen der Inseln würde sich ein zwangsläufiger irreversibler Verlust der Kultur einstellen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, dass Adaptation zusammen mit Mitigation betrieben werden muss, um eine längerfristige Grundlage zu haben, Schutz vor steigenden Meeren bieten zu kön-nen, bevor Migration als eine unausweichliche Lösung von Adaptation angesehen wird.173 Um hierbei erfolgreich zu sein, ist eine Reihe an Informationen notwendig. Neben Klimadaten aus Klimamodellen müssen zudem Daten aus entsprechenden Kontexten vorliegen, wie zum Bei-spiel geomorphologische Veränderungen in den pazifischen Atollen. Kontextspezifische Daten und Informationen sind wesentlich für die Umsetzung von Adaptation. Hinzu kommt vieles mehr: Information und Wissen über strategische, politische und rechtliche Dokumente müs-sen vorliegen, da sie die Grundlage einer Umsetzung von Maßnahmen darstellen; Risiko- und Verwundbarkeitseinschätzungen sowie sozioökonomische Analysen müssen entworfen werden; Kapazitäten müssen bewertet werden; Klarheit über die Finanzierung und über mögliche sowie vorliegende Interventionen muss herrschen.

Für die Umsetzung ist internationale Unterstützung unabdingbar. 2001 bzw. 2013 leitete das UNFCCC mit dem National Adaptation Programme of Action (NAPA)und dem National Ad- aptation Plan (NAP) zwei Programme ein, die die Umsicht der Regierungen auf Klimafolgen und Anpassung stärken sollen. Während NAPA beabsichtige, dass weniger entwickelte Länder dringend benötigte Sofortmaßnahmen ergreifen sollten, was dazu führte, dass manche Länder sich zum aller ersten Mal überhaupt mit der Anpassung gegenüber Klimafolgen beschäftigten, richtet sich NAP auch an Entwicklungsländer, mit dem Ziel, mittel- und langfristige Anpas-sungsstrategien zu erzielen, wodurch NAP einen prozessorientierten Charakter hat. NAPs sollen in die nationalen Entwicklungspläne der einzelnen Länder integriert werden, sodass Adaptation ein wesentlicher Bestandteil ihrer nationalen Entwicklungspolitik wird.174 Tuvalu hat beide Pro-gramme unter internationaler Mitwirkung des Entwicklungsprogramms der Vereinten Natio-nen ( United Nations Development Programme , UNDP) umgesetzt und hat damit den Prozess einer mittel- bis langfristigen Anpassung eingeleitet. Schlüsselpunkte des Tuvaluer NAP sind unter anderem der Mangel an Bewusstsein gegenüber dem Klimawandel, die Gefährdung der Agrarproduktion durch das Salzwasser und die fehlende Unterstützung der Industrienationen („big greenhouse gas (GHG) emitters“). Vielfach wird der herrschende Mangel thematisiert, der in verschiedenen Bereichen herrscht, wie der Infrastruktur, auf institutioneller Ebene oder bei Anpassungs- und Mitigationsinitiativen.175

Für die Regierung Tuvalus stellen der Schutz der Küstengebiete sowie die Nahrungs- und Trinkwasserversorgung die wichtigsten Aufgaben dar. 2017 wurde die Umsetzung des Tuva- lu Coastal Adaptation Project gestartet. Mithilfe des GCF wurden 36 Millionen US-Dollar ge-neriert, wobei die Regierung Tuvalus selbst 2,9 Millionen US-Dollar dazu beisteuerte. Diese Gelder sollen ermöglichen, dass bis zum Ende des Projekts im Jahre 2024 2780 m Küstenlinie, inklusive Häuser, Schulen und Krankenhäuser, geschützt sind. Knapp 30 % der Bevölkerung sollen hiervon profitieren.176 Mit weiterer finanzieller Unterstützung von Japan und Neusee-land wurde zudem ein Projekt für die Beseitigung und das Recyceln von angespültem Müll sowie durch Extremereignisse entstandene Trümmer gestartet.177 Der Anfangsschritt für einen Verbleib der Tuvaluer in ihre Heimat wurde somit gemacht. Es wäre schwerwiegend, wenn auf-grund ausgehender finanzieller Mittel oder ausbleibender Unterstützung den Tuvaluern die Chance genommen werden würde, selbst über ihre Zukunft auf ihrem Atoll zu entscheiden.

1.9 Auf der Suche nach Kooperation

Klimapolitik ist keine Entweder-Oder-Frage zwischen Mitigation und Adaptation. Nur die Um-setzung beider Bereiche ermöglicht eine erfolgreiche Klimapolitik, mit der gefährliche Auswir-kungen bestmöglich kurz- bis langfristig verhindert werden können. Mit der Realisierung von Adaptation wird der Grad der Auswirkungen abgemildert und Mitigation trägt dazu bei, dass gefährliche klimatische Veränderungen entschleunigt und in ihrem Ausmaß reduziert werden. Bleiben Maßnahmen aus und steigt die globale Temperatur auf über 1,5°C an, ist aller Voraus-sicht mit einem höheren Grad gefährlicher Auswirkungen zu rechnen, wodurch mehr Schäden und Verluste entstehen. „Eine zuvor vernachlässigte Wahrnehmung von Verantwortung steigert die zu einem späteren Zeitpunkt wahrzunehmende Verantwortung.“178 Für die Umsetzung bei-der Bereiche sind hohe Mittel notwendig. Entgegen Lomborgs These, stellt sich die Anpassung an den Klimawandel keinesfalls als die günstigere Option heraus, sodass auch für sie Investitio-nen in einer Höhe nötig sind, die die Kapazitäten einiger Länder übersteigen. Damit stellt sich eine klassische Streitfrage der Klimaethik und der Klimapolitik: Wer trägt die Kosten, wer über-nimmt Verantwortung? Weniger entwickelte Länder sind zum großen Teil nicht in der Lage, wenigstens Minimalziele umzusetzen, um die Lebensgrundlage ihrer Bevölkerung zu schützen. Neben fehlenden Ressourcen, institutionellen Kapazitäten und technischen Mitteln sowie Wis-sen, liegt die Variable Zeit in einem begrenzten Ausmaß vor. Zwar ist der Klimawandel ein langfristiges Phänomen, doch verläuft die Zeitspanne zwischen dem Hier und Jetzt und dem Beginn gravierender Übel fließend. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird nicht ausreichend Zeit vorhanden sein, damit die Länder des Südens aus eigenen Kräften solch einen wirtschaftlichen und technischen Fortschritt erzielen, um selbst in der Lage zu sein, die benötigten Mittel für einen nachhaltigen Klimaschutz und die Klimafolgenanpassung aufzubringen.

Die Situation der Länder des Südens gleicht einem Dilemma: Obwohl sie am wenigstens zum anthropogenen Klimawandel beigetragen haben, sind sie am stärksten von den negativen Aus-wirkungen des Klimawandels betroffen. Und obwohl sie bereits die gefährlichen Veränderungen vor Augen haben, ist es ihnen kaum möglich, sich vor diesen mit eigenen Mitteln ausreichend zu schützen. Sie sind auf die Unterstützung der Industriestaaten angewiesen. Um dieses Abhängig-keitsverhältnis möglichst fair aufzulösen, wurde vor allem in der Klimaethik über drei Prinzipien diskutiert: (1) jene Länder, die maßgeblich zum anthropogenen Klimawandel beigetragen haben, müssen für die Kosten aufkommen (Verursacherprinzip/ polluter pays principle ); (2) die Länder, die am meisten davon profitiert haben (Nutznießerprinzip/ benefit principle ); oder (3) jene Länder stehen in der Pflicht, die in der Lage sind, Unterstützung zu leisten (Leistungsfähigkeitsprinzip/ ability to pay principle ). Die Prinzipien basieren auf dem Grundsatz, die Leistungen und die Un-terstützung, die die Länder den zu unterstützenden Staaten zukommen lassen, als Kompensati-onsleistungen für frühere bzw. gegenwärtige Emissionen anzusehen. Mithilfe dieser zu leistenden Kompensationsleistungen sollen Anpassungsmaßnahmen und die Etablierung eines nachhalti-gen Klimaschutzes vorangetrieben werden. Bleiben Kompensationsleistungen aus, bedeutet dies, die Kosten des Klimawandels werden auf die Entwicklungsländer externalisiert, und zwar reaktiv. Die Länder des Südens würden auf Schäden und Verluste sitzen bleiben, die im Zuge von wetter-bedingten Extremereignissen entstehen. Damit wäre ein ‚ polluted pays principle ‘ entstanden.

Um solch ein pollted pays principle zu verhindern, ist eine Zusammenarbeit innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft unausweichlich. Aus finanzieller Sicht sieht diese Ko-operation stark senkrecht aus. Überwiegend die Industriestaaten bzw. die Staaten, die in der wirtschaftlichen Lage sind, bringen Leistungen in Form monetärer und technischer Mittel für weniger entwickelte Länder auf. Und die historische Verantwortung, unter Berücksichtigung von Gerechtigkeitsaspekten, schreibt den westlichen und Industrienationen heute auch kaum jemand ab. Doch so sehr uns intuitiv erscheint, dass den entwickelten Staaten eine besondere Rolle der Verantwortung auf Grundlage der Gerechtigkeit obliegt, die Begründung dessen ist keinesfalls trivial. Gerechtigkeit mag eine, wenn nicht sogar die stärkste Begründung für Hand-lung und Verantwortung sein, sie ist allerdings kein einheitliches Konzept. Vielmehr sammeln sich unter dem Begriff verschiedene Denktraditionen, die häufig untereinander unvereinbar sind oder für einen bestimmten Kontext ungeeignet sind.179

Das Verursacherprinzip erscheint nach unseren Wertvorstellungen das eindringlichste zu sein, um gewissen Nationen eine besondere Verantwortung im Klimaschutz zuzuschreiben. Schon als Kind bekommt man beigebracht, dass man den Müll, den man gemacht hat, entsorgen soll. So simpel das Prinzip in der Theorie auch sein mag, seine praktische Durchführung lässt sich keinesfalls ohne Einwände durchführen. Da sich die Summe der produzierten Emissionen über einen Zeitraum von über 200 Jahren erstreckt, stellt sich die Frage, inwiefern eine Nation oder die derzeitig lebenden Generationen für das vergangene Handeln verantwortlich gemacht werden können. Zumal die Produktion von Treibhausgasen ohne das Wissen geschah, welche Auswirkungen hierbei entstehen. Heute geht der Konsens in die Richtung, den Fokus auf die Emissionen ab den 1990ern zu legen, da es von da an konkrete Anzeichen gab, dass der Ausstoß einen anthropogenen Klimawandel verursacht.180 Doch selbst mit dem großzügigen Hinweg-sehen über Vergangenes, die unterschiedliche geographische Lage hinsichtlich des Klimas, die in einem Staat herrscht, und das Vorhandensein von Ökosystemen mit dem Zugang zu unter-schiedlichen Ressourcen, wie bereits im ersten Kapitel dieses ersten Teils angesprochen, bergen Potential, begründete Einwände gegen eine eindeutige Verantwortungszuschreibung vorzubrin-gen.

Anders als in der Diskussion um das Verursacherprinzip, ist es nach dem Nutznießerprinzip egal, ob die Verursacher wissentlich oder unwissentlich gehandelt haben, oder wie lange die Handlungen zurückliegen. Wurden durch vergangenes Handeln Vorteile und ein Wohlstands-anstieg geschaffen, von dem Generationen heute profitieren, obliegt diesen Kompensationen zu leisten. In Anbetracht der Zeit ist es allerdings fraglich, inwiefern jenen weit in der Vergan-genheit zurückliegenden Kausallinien heutige Gegebenheiten klar zugeordnet werden können, auch im Hinblick darauf, dass sich im Laufe der Zeit unter verschiedensten Einflüssen neue Kausallinien hinzubilden.

Das Leistungsfähigkeitsprinzip charakterisiert sich vor allem durch seine zwischenmensch-liche Dimension. Ungeachtet vergangener Gegebenheiten, wird jener zum Handeln gerufen, der schlichtweg die Möglichkeit hat. Diese Gerechtigkeitsgesinnung kommt vor allem in Not- und Katastrophenlagen zum Vorschein, wenn es nicht um Ursachen geht, sondern darum, Hilfe zu leisten für jene, die in Not geraten sind. Dies bedeutet in Falle der Klimapolitik allerdings, dass das Prinzip außer Acht lässt, wie wirtschaftlicher Wohlstand erzeugt wurde. Nach dem Prinzip sind jene zum Handeln bemächtigt und aufgefordert, die die Fähigkeit besitzen, ungeachtet des-sen, auf welchem Wege sie erreicht wurde. Damit bietet das Leistungsfähigkeitsprinzip zumin-dest keinen Anreiz mehr Klimaschutz zu tätigen bzw. sein Wirtschaften zu ändern.

Somit ist es fragwürdig, ob Verursacher-, Leistungsfähigkeits- oder das Nutznießerprinzip eine universell gerechte Lösung bieten. Der Grundsatz des UNFCCC, dass es unter den Partei-en eine gemeinsame, aber unterschiedliche Verantwortung gibt, kann allerdings als eine hybri-de Lösung angesehen werden, die die drei Prinzipien vereint. Mit der Kombinierung können grundsätzliche Einwände gegen die einzelnen Prinzipien aufgelöst werden, allerdings schwächt dies den normativen Charakter des Prinzips. Man könnte demnach den UNFCCC-Grundsatz mehr als ein Leitprinzip ansehen, das die internationale Klimapolitik mit dem Gedanken der Gerechtigkeit einfärbt.

Die Problematik der Anwendung von Gerechtigkeitsaspekten in Verantwortungsfragen in-nerhalb der Klimadiskussion zeigt sich vor allem in der Situation der BRICS-Staaten wie China und Indien. Ihr CO2

-Ausstoß hat in der jüngeren Vergangenheit aufgrund eines von Kohle-kraftwerken getragenen Wirtschaftswachstums signifikant zugenommen. Ihre historische Ver-antwortung im Hinblick auf ihren vergangenen Ausstoß ist jedoch gering. Des Weiteren haben China und Indien nach wie vor mit eigenen wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu kämp-fen. Auf Basis ihres geringen Ausstoßes in der Vergangenheit sowie existierender Entwicklungs-

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defizite haben sich beide Länder in der Vergangenheit von einer klaren Verantwortung, ihre Emissionen zu reduzieren, selbst freigesprochen. Nach dem UNFCCC-Grundsatz, dass die Par-teien sich nach ihren jeweiligen Fähigkeiten und ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage an der Zusammenarbeit beteiligen sollen, war der Freispruch beider durchaus nachvollziehbar. Indiens Stellung war zu der Zeit zwischen der Beschließung des Kyoto-Protokolls und der Vorberei-tungszeit des Pariser Abkommens so rigoros, dass es zwar an den Klimakonferenzen teilnahm, für irgendwelche Übereinkommen aber nur bereit war, sofern es darin nicht selbst eingebunden war. Es wurde gar angekündigt, die Kohle weiter stark zu fördern, um Millionen von Menschen aus der Armut zu befördern.181 Indiens damalige Haltung mag auf internationaler Ebene nach-vollziehbar gewesen sein, doch wie hätte damals das Land seine Haltung gegenüber einem gro-ßen Teil seiner eigenen Bevölkerung rechtfertigen können, nämlich jenem, der in Armut lebt, der in einem Land lebt, das besonders schwer vom Klimawandel betroffen ist182 – und bekann-termaßen ist besonders die arme Bevölkerung von den Auswirkungen des Klimawandels hart betroffen –, während die reichere Bevölkerungsschicht des Landes einem weitaus geringeren Risiko ausgesetzt ist?

Mittlerweile birgt die Haltung Chinas sowie die Indiens weniger Konfliktpotential. Beide Na-tionen unternehmen auf nationaler Ebene Anstrengungen ihre Emissionen zu senken. Chinas Wirtschaft ist im Bereich der erneuerbaren Energien dank staatlicher Subventionen sogar auf dem Weg zur Weltmacht.183 Die Betrachtung drei Jahrzehnter internationaler Klimapolitik zeigt allerdings, dass nicht unbedingt die Definierung einer Verantwortung Probleme bereitet, son-dern das ausführende Handeln und die Zusammenarbeit der Parteien an sich – jene Aspekte, die letztendlich eine erfolgreiche Klimapolitik ausmachen.

Auch Anton Leist sieht in der Zusammenarbeit der Staaten einen herausragenden Punkt. Nach ihm sei es nötig, dass die Staaten als „Sozialkollektiv“ auftreten, um ein wirksames Klimaregime realisieren zu können. Jedes Mitglied sei dabei anerkannt, nicht mehr und nicht weniger. Inner-halb dieses Sozialkollektivs kann dann ein Austausch unter den Mitgliedern stattfinden. Leists Gedanke steht im Einklang mit der im UNFCCC formulierten Forderung der Weitergabe und Unterstützung von Technologien, Know-how und finanziellen Mitteln unter den Vertragsstaa-ten. Im Sozialkollektiv beruhe die Beziehung zwischen den Mitgliedern auf einer ökonomischen und einer fairen Kooperation. Geschehe bei ersterer die Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil, allein auf der Basis individuellen Selbstinteresses, fände hingegen bei letzterer eine Zu-sammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil auf Basis moralischer Überzeugungen statt.184 Das So-zialkollektiv hat folglich nicht nur eine moralische Komponente, sondern ebenfalls einen öko-nomischen Nutzenaspekt. Das Klima ist ein öffentliches Gut, an dem sich jeder bedienen kann, mit dem aber auch jeder leben muss. Ein Handeln bzw. Nicht-Handeln wirkt sich immer auch auf andere aus. Allerdings hat der Akteur nicht die Kontrolle darüber, ob und welchen Schaden sein Handeln verursacht. Handeln die Mitglieder des Kollektivs nicht kooperativ, „so regt ein verringertes [sic!] Nutzen seitens Akteur A die Restnutzer dazu an, seinen Nutzen und damit potentiellen Schaden gegenüber dem öffentlichen Gut zu übernehmen. Handeln sie kooperativ, bleiben diese Folgen aus.“185 Zwischenstaatliche Kooperation bzw. Rücksichtnahme ist demnach die Bedingung, um einen schlimmeren Klimawandel abzuwenden. Auf diese Weise verhindern die Staaten einen geringer werdenden Nutzen, der aus der Verschlechterung eines öffentlichen Gutes oder natürlicher Ressourcen resultiert.

Leists Ansatz, eine Aufgabe – hier der Zusammenschluss zum Sozialkollektiv – auf ökono-mische wie moralische Gründe zu stützen, ist keine Seltenheit. Deutschland erklärt beispiels-weise seine Entwicklungszusammenarbeit unter anderem damit, dass man selbst Nutzen daraus ziehen würde. Auf der Homepage des Bundesministeriums für wissenschaftliche Zusammen-arbeit und Entwicklung heißt es: „Entwicklungszusammenarbeit, die darauf ausgerichtet ist, die Volkswirtschaften in den Kooperationsländern zu stabilisieren, stärkt auch die Wirtschaft in Deutschland […].“186 Pessimistisch interpretiert könnte eine solche Formulierung implizieren, dass eine Argumentation aus rein moralischen Gründen niemand überzeugen würde. Mora-lische Gründe scheinen nicht ausreichend Anlass zu bieten, eine Handlung oder Haltung zu bekräftigen. Folglich unterstreicht man moralische Gründe mit einem auf Nutzen basierenden Aspekt, um dem Vorhaben mehr Tragkraft zu verleihen. Zusätzlich lässt die Zusammenfüh-rung der ökonomischen mit der moralischen Sichtweise den ökonomische Nutzenaspekt als nicht völlig opportunistisch erscheinen. Auf diese Weise verfolge man individuelle Interessen, auch weil sie etwas Positives für die Staatengemeinschaft bewirken. Damit werden individuelle Interessen moralisch vertretbar. Diese Vorgehensweise ist eine Art argumentativer Standard ge-worden. Dennoch sollte berücksichtigt werden, dass moralische Entscheidungen an sich keine ökonomischen Motive haben. Mag auch eine Überlappung stattfinden, sind moralische von öko-nomischen Gründen zu trennen. Ansonsten würden moralische Fragen der Wirtschaftlichkeit obliegen. Moralität hätte sein Dasein als Grundlage zwischenmenschlicher Handlungsregeln und Wertmaßstäben verloren. Entstehende Reize oder Spannungen zwischen Moral und ande-ren (wirtschaftlichen, sozialen, politischen, kulturellen) Sichtweisen sind dabei gerade entschei-dend, um ideale und nicht-ideale Normen anzugleichen und der Gemeinschaft eine normative Ordnung an die Hand zu geben.187 Im Kapitel 1.1 haben wir bereits dieses Spannungsverhältnis und die heutigen Schwierigkeiten diskutiert. Während politische Denkweisen darauf ausgelegt sind, Machtverhältnisse zu erhalten, berücksichtigen klimaethische Modelle nur ungenügend reale Gegebenheiten. Auf diese Weise bleibt es schwierig, Normen anzugleichen und eine ethi-sche Dimension in politische Entscheidungen einfließen zu lassen.

Leist stützt seinen Ansatz auf das nach ihm wichtigste moralische Gebot, nämlich anderen keinen Schaden zuzufügen. Allerdings stellt er fest, dass gerade die moralisch folgenreichsten Handlungen diejenigen seien, in denen die Folgen des Handelns nicht völlig autonom kon-trolliert werden können. Handlungen werden meist von anderen auf irgendeine Weise mit-bestimmt. Durch den Einfluss anderer ergäbe sich letztendlich, ob eine Handlung gute oder schlechte Auswirkungen bewirke. Zwangsläufig müssen man die Rolle anderer im eigenen Handeln berücksichtigen. Andererseits sei eine effektive Moral „kaum denkbar“, so Leist.188 In Fragen des Klimawandels gelangt man damit in weite Sphären, da das Handeln eines einzel-nen Staates im Kontext des globalen Geschehens gesehen wird. Das heißt, dass das individuelle Handeln nicht nur ein Handeln innerhalb einer geschlossenen Gruppe ist, sondern eines im Kontext der ganzen Menschheit (inklusive künftiger Generationen). Diese Perspektive zwingt den Blick auf das Individuum, das, ungeachtet seiner Nationalität und Herkunft, letztendlich mit den Konsequenzen des Klimawandels zu leben haben muss. Paul Harris schlägt daher einen alternativen Ansatz vor. Das gegenwärtige Klimaregime konzentriere sich zu sehr auf die Rech-te und Pflichten der Staaten, während zur selben Zeit die Rechte und Pflichten der Menschen ignoriert werden. Dies bedeutet nicht, dass der Staat aus der Betrachtung ausgeschlossen werde, doch sollte das Individuum im Mittelpunkt stehen und wie der Staat es unterstützen kann, seine Rechte wahrzunehmen und seinen Pflichten nachzugehen.189 Wir werden auf die Beziehung des Menschen und des Staates später noch treffen, wenn es um den Klimawandel als Gefährdung der menschlichen Sicherheit geht.

Die Diskussion über moralische Pflichten, wie anderen keinen Schaden zuzufügen oder ande-re in seinen Entscheidungen miteinzuschließen, wird dabei erst relevant, weil es eine Gemein-schaft gibt. Gäbe es diese nicht, wäre solch eine Diskussion obsolet. „Nur innerhalb sozialer Ge-meinschaften […] kann es moralische Pflichten geben.“190 Der Einzelne als Adressat moralischer Pflichten ist folglich nur in einer sozialen Gemeinschaft denkbar. Gibt es keine Ansammlung von Individuen, unter denen Interaktion stattfindet, könnten dem Einzelnen keine Pflichten gegenüber seinen Mitmenschen zugewiesen werden. Das, was für ein Individuum gilt, kann dabei auch auf einen Staat extrapoliert werden. Der Staat ist ein repräsentatives Handlungsorgan für die Gesamtheit der im Staate lebenden Individuen, der in Austausch zu anderen Staaten tritt und dabei die Interessen der Individuen vertritt. Demnach ist es möglich, auch von moralischen Verpflichtungen von Staaten innerhalb des Staatenkollektivs zu reden.

Betrachten wir als nächstes den Terminus „faire Kooperation“. Dieser impliziert von gleich-aufgeteilten Aufwendungen der Parteien innerhalb des Kollektivs auszugehen; oder wenigstens von einem entsprechend fair aufgeteilten Ertrag unter den Ländern, je nach vorangegangen erbrachten Leistungen der einzelnen Staaten im Zuge der eingegangenen Kooperation. Durch unterschiedliche ökonomische, soziale oder ökologische Verhältnisse in den jeweiligen Ländern sind die Ausgangsbedingungen der Kooperation allerdings offensichtlich ungleich. Folglich ist bereits die Ausgangssituation nicht fair. Nach Leist sorgt dieser Umstand dennoch für keinen Bruch der Kooperation. Die Kooperation hat für die Parteien einen beitragenden und einen nutznießenden Aspekt. Beide müssen sich nicht unbedingt quantitativ oder qualitativ entspre-chen, auch wenn dies möglich sei. Solange beide Aspekte vorhanden seien, liegt eine gegenseiti-ge, wenn auch nicht notwendig symmetrische Kooperation vor.191

Dies lässt sich anhand des moralischen Aspekts der Kooperation verdeutlichen. Zunächst ist eine Kooperation notwendig, um den Klimawandel abzumildern. Dies kann nur effektiv sein, wenn sich hinreichend andere Staaten am Erhalt des Gutes Klima beteiligen. Nun sind nicht alle innerhalb der Gemeinschaft gleich fähig, sich mit gleichen Mitteln am Klimaschutz zu be-teiligen. Es gibt einen graduellen Unterschied zwischen den Ländern. Des Weiteren stellt sich die generelle Frage zwischen dem Verhältnis von Nutzen und Lasten. Von niemand könne ge-fordert werden, so Leist, dass er höhere Lasten zum Erhalt des Guts beiträgt, als er von ihm Nutzen hat. Nutzen und Lasten sollen demnach proportional sein: „[…] wer vom Gut höheren Nutzen (Emissionen) hat, sollte auch höhere Lasten (Mitigation, Adaptation) zu seinem Erhalt tragen.“192 Aus beiden Aspekten erwächst die Pflicht zum Klimaschutz, zunächst aufgrund der Effektivität und weiter aufgrund des erzielten Nutzens, der mit dem Klimaschutz steigt. Da we-niger entwickelte Länder ebenfalls vom Klimaschutz profitieren, hieße das, dass auch sie nicht völlig frei von zu erbringenden Anstrengungen sind.

Problematisch wird es, wenn nur wenige bis keiner innerhalb der Gemeinschaft handelt. Er-folgreicher Klimaschutz gelingt nur, wenn ausreichend Akteure sich der Umsetzung von Maß-nahmen verpflichten. Das Nicht-Handeln anderer entlaste uns nicht, unseren moralischen Nor-men zu folgen. Jeder einzelne ist Adressat moralischer Pflichten und folglich verpflichtet, so weit wie möglich seine Pflichten zu erfüllen. Darin sehen wir den Ausdruck der „moralischen Auto-nomie und damit konform mit der starken Bedeutung, die wir in unserer Kultur generell der Autonomie zurechnen“.193 Allerdings bewirkt das Handeln eines einzelnen für sich genommen relativ wenig. So mag sich ein Staat moralisch verpflichtet sehen, etwas gegen den globalen Kli-mawandel zu unternehmen, sollten sich allerdings andere nicht daran beteiligen, wird aus dem moralischen Beweggrund nichts gewonnen, außer vielleicht moralische Genugtuung für einen selbst. Sollte Norwegen sein Ziel erreichen, bis 2030 CO2

-frei zu sein, würde dies als eine her-ausragende Leistung erachtet werden. Verfolgt der Rest der Welt allerdings keine ehrgeizige Kli-mapolitik, hätten Norwegens Emissionseinsparungen lediglich einen marginalen Effekt auf das Weltklima. Erfolgreicher Klimaschutz steht und fällt somit mit Kooperation unter den Staaten.

Leists Gerechtigkeitsgedanke, Schaden zu vermeiden bzw. niemanden Schaden zuzufügen, ist simpel. In der praktischen Ausführung stößt dieses Paradigma der gerechten und fairen Koope-ration jedoch immer wieder auf Hindernisse. Vom angestrebten Klimaschutz im Rahmen des UNFCCC könnte jede Partei auf lange Sicht einen Nutzen ziehen. Die Gradualität der Verant-wortung unter den Staaten, die sich aus historischen Emissionen und den aktuellen sozioöko-nomischen Gegebenheiten (Einkommen, Nahrungssicherheit, Rolle der Geschlechter, Zugang zur Grundversorgung etc.) ergibt, ist zudem halbwegs einsehbar und fair und revolutioniert nicht die bestehenden Machtverhältnisse. Trotzdem sind Verhandlungen von Meinungsver-schiedenheiten unter den Vertragsstaaten und vom Druck diverser Lobbys geprägt, wodurch eine permanente Aufrechterhaltung der gewünschten Kooperation erschwert wird. Zu hoch scheint die Angst vor einem Einbruch der eigenen Wirtschaft und dem folgenden Verlust der Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt zu sein, falls sich ein Staat entgegen anderer zu einer konsequenten Klimapolitik entscheiden würde. Abwartende und verwaltende Staaten scheinen sich hingegen immer noch ein Vorteil aus ihrem Verhalten zu erhoffen. Denn vom kollektiven Ziel, Treibhausgase zu reduzieren, profitieren auch jene Staaten, die sich nicht an der Reduzie-rung beteiligen. Und indem letztere Staaten keinerlei Aufwendungen für Mitigation ausgeben, um ihren CO2

-Ausstoß zu senken, müssen sie auch keine Einbußen in ihren Volkswirtschaften befürchten. Unter dieser Haltung kann keine ökonomische Kooperation, die auf gegenseitigen Vorteil ausgerichtet ist, aufrechterhalten werden, lediglich eine „nutznießende Kooperation“ unter der Maxime, je weniger sich an globalen Zielen beteiligt wird, desto mehr Umsatz könnte erzielt werden.

Anfang 2014, bei der Veröffentlichung des Berichts der dritten Arbeitsgruppe Mitigation of Climate Change zum fünften Sachstandsbericht des IPCC (AR5), machte der Co-Vorsitzende der Arbeitsgruppe und zugleich der stellvertretende Direktor und Chefökonom des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung Ottmar Edenhofer deutlich, dass es nicht die Welt koste, den Planeten zu retten. Zwar steuere man aktuell mit anhaltenden steigenden Treibhausgasen einer Erwärmung von mehreren Grad bis zum Ende des Jahrhunderts an, doch sei das 2-Grad-Ziel mit einem schnellen Wandel weg von Kohle, Gas und Öl im nächsten Jahrzehnt, maximal der nächsten zwei Dekaden, noch erreichbar. Die nötigen Investitionen dafür würden bei einem jährlichen Wirtschaftswachstum von 1,6 bis 3,0 % mit 0,06 Prozentpunkten zu Buche schla-gen.194 Schnell ist das ausschlaggebende Adjektiv. Nach der Verabschiedung des Abkommens von Paris haben sich zunächst weder das politische Bild noch die Mahnungen entscheidend geändert. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) mahnte in seinem Emissi- ons Gap Report 2017 , dass dringender Bedarf bestünde, kurzfristige Maßnahmen zu beschleu-nigen und langfristige, nationale Maßnahmen ambitionierter anzugehen, wenn die Ziele von Paris noch erreichbar sein sollten. Die Mittel seien hierfür bereits vorhanden, die zudem auch längst kosten-effektiv seien. Drei Jahre nach der Aussage Edenhofers, sieht das UNEP die Lage hinsichtlich der Erwärmung dramatischer. Unter der aktuellen Entwicklung, selbst wenn alle vorgelegten Klimaschutzzusagen der Länder eingehalten werden würden, spricht es von einer Erhöhung um mindestens drei Grad im Vergleich zu der Zeit vor der Industrialisierung. Egal ob man die Erwärmung auf 1,5 oder 2,0 Grad begrenzen möchte, bei Fortführung der heutigen Pläne würde man im Jahr 2030 zwischen 11 und 19 Gt CO2

-Äquivalent zu viel ausstoßen.195

Betrachtet man die Langfristigkeit und die Globalität des Klimawandels und welche wirt-schaftlichen Verluste allein in diesem Jahrhundert damit verbunden sein könnten, sollte man die Kosten einer nachhaltigen Transformation als zu verkraften ansehen. Besonders im Hinblick auf die Langfristigkeit erscheint ein Handeln weitaus erfolgsversprechender zu sein als Kosten, die mit der Transformation anfallen, vermeiden zu wollen. Ein Herausschieben von Maßnahmen wird weitaus kostenintensiver ausfallen, wenn klimabedingte Katastrophen aller Voraussicht weiter zunehmen und deren Auswirkungen nicht abgemildert werden.

Da es keine wahren bindenden Klimaverträge gibt, müssen die Staaten selbst zur Einsicht ge-langen, dass eine effiziente Klimapolitik ohne eine umfassende Kooperation nicht möglich ist. Wir leben in einer Welt, in denen Regierungen mächtig sind und ausschlaggebende Entschei-dungen treffen. Nach Leist verhalten sich Nationen aber in der Regel als „egoistische Akteure“.196Hinzu tritt nach Birnbacher ein „Motivationsproblem“, das effektive Handlungen unterminiert. Dieses setzt sich aus drei Faktoren zusammen, die in den vorangegangen Unterkapiteln bereits Erwähnung fanden: (1) der Zukunftsbezug ist abstrakt, da Folgen des Klimawandels zum größ-ten Teil für uns nicht mehr erlebbar sind; (2) die soziale Distanz gegenüber den Hauptbetrof-fenen und (3) die Trägheit, den zur Gewohnheit gewordenen Lebensstil zu verändern.197 Die Machbarkeit des Wandels ist somit mit selbsterschaffenen Hindernissen gepflastert.

Ein alleiniges Plädieren auf eine Verinnerlichung des kooperativen Verhaltens scheint da-her nicht die Lösung zu sein, die Kooperation unter den Staaten zu stärken. Möglicherweise muss das Plädoyer eindringlicher ausfallen, damit Komplikationen überwunden werden. Alle Regierungen haben zum Beispiel gemein, dass sie das Wohl ihrer Nation erweitern bzw. Ge-fahren, Leid und Not reduzieren wollen. Ungeachtet internationaler Kooperation ist dies ein universelles Regierungsziel.198 Vergegenwärtigt man sich die Langfristigkeit des Klimawandels, die Irreversibilität der Folgen und zunehmende Verwüstungen sowie ein möglicher Verlust der Lebensgrundlage im Zuge intensiver und häufiger auftretender Extremphänomen, mag das Vor-sorgeprinzip als staatliche Maxime geeigneter sein, um Klimaschutz grundlegend zu rechtfer-tigen, als zunächst an die Kooperationsfähigkeit der Staaten zu appellieren. Yuval Noah Harari beschreibt, dass es nicht nur von einer moralischen Dimension war, dass man im Laufe der Menschheitsgeschichte jedem Menschen einen Wert zugeschrieben hat, sie mit Rechten aus-gestattet hat und Demokratien für mehr Freiheit eingeführt hat, sondern all dies war auch der Schlüssel für mehr Leistungsfähigkeit und wirtschaftliches Wachstum. „In vielen, wenn nicht sogar den meisten Fällen war es das ökonomische und nicht das moralische Argument, das Tyrannen und Militärregierungen von einer Liberalisierung überzeugte.“199 Möglicherweise tritt in Zukunft ein ähnliches Umdenken ein, wenn wir an einem Punkt angelangt sind, an dem Regierungs- und Wirtschaftsvertreter sich für eine nachhaltige Entwicklung entscheiden, nicht weil der Schutz von Ökosystemen moralisch ist, sondern weil es nötig ist, um nationales Wohl in einer sich veränderten Umwelt zu erhalten und auszubauen. Nachdem die chinesische Regie-rung über die letzten zwei, drei Jahrzehnte ein beispielloses Wirtschaftswachstum vorangetrie-ben hat, kam sie mittlerweile zur Einsicht, dass die Art und Weise des Wachstums keine Zukunft hat. Flutereignisse haben im Zuge der Umgestaltung natürlicher Räume und des Klimawandels immer größere Dimensionen angenommen; Ökosysteme sind aufgrund mangelnder Umwelt-standards verseucht und die Luftverschmutzung in Großstädten stellt eine akute Gefahr für die Gesundheit der chinesischen Bevölkerung dar. Hierdurch entstehen Schäden für Bevölkerung und Wirtschaft. Das Umdenken der Regierung gründet folglich nicht im Erkennen ihrer ko-operativen Position innerhalb der Staatengemeinschaft, sondern zur Abwendung von Risiken für ihre eigene Nation. Dass Nachhaltigkeit einen wirtschaftlichen Nutzen hat, zeigen darüber hinaus erfolgreiche Beispiele aus der Wirtschaft. Nachhaltigkeit kann nicht nur eine freiwillige Strategie sein, sondern im wirtschaftlichen Sinne sowohl eine strategische Notwendigkeit als auch ein strategisches Unterscheidungsmerkmal.200

Aus der Einsicht, dass eine Reduzierung des Treibhausgasausstoßes, anpassende Maßnah-men und nachhaltige Konzepte für das nationale Wohl entscheidend sind, muss letztendlich der nächste Schritt erwachsen, dass das nationale Wohl auch von den Bemühungen anderer Staaten abhängt. Mit diesem Schritt kann schließlich das Vorsorgeprinzip auch zur fairen Kooperation führen. Die Arbeit der Vereinten Nationen und ihrer Sonderorganisationen hat unter Unterstüt-zung der internationalen Staatengemeinschaft in jüngerer Vergangenheit viel zur nachhaltigen internationalen Zusammenarbeit beigetragen. Projekte wie die Millenniums-Entwicklungszie-le, die nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs), das Hyogo und Sendai Rahmenabkommen zur Katastrophenrisikoreduzierung, Programme zur Anpassung an den Klimawandel (NAPA und NAP) sowie die Klimaabkommen (UNFCCC, Kyoto-Protokoll, Abkommen von Paris) stellen allesamt Fahrpläne dar, um auf internationaler Ebene Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu er-reichen und auf diesem Wege Defizite zu beseitigen, Risiken zu minimieren und Wohl zu er-weitern. Um hierin erfolgreich zu sein, wird kein Staat um eine Kooperation herumkommen, auch wenn er primär beabsichtigt, Missstände und eine Gefährdung der Lebensgrundlage im eigenen Land zu verhindern.

Wie aus einer opportunistischen Sichtweise kooperatives Handeln entstehen kann, zeigen folgende Schritte: (1)  Wahrnehmung der Regierung von Risiken; (2)  Bewusstsein darüber, dass diese Risiken die Sicherheit, das Wohl und die Entwicklung des Landes gefährden; (3)  Entschei- dung, entsprechende Maßnahmen einzuleiten, um diese nationalen Zielen zu erhalten; (4)  Er- kennung , dass andere Länder mit ähnlichen Risiken zu leben haben und diese Risiken sowie das (Nicht-)Handeln anderer Länder nachteilige Auswirkungen auf die Erreichung der eigenen nationalen Ziele haben können; und schließlich (5)  Einsicht, dass darum nur eine Zusammen-arbeit im Kollektiv langfristig erfolgsversprechend sein kann.

Dieser Prozess beruht zwar auf eine opportunistische Sichtweise, Risiken vom eigenen Ho-heitsgebiet fernzuhalten, doch beinhalten die Schritte (4) und (5) ein hohes ethisches Potential. Im Erkennen, dass andere Länder sich in einer ähnlichen Situation befinden und ebenso mit Risiken konfrontiert werden, die demselben Phänomen entwachsen, nämlich dem anthropo-genen Klimawandel, kann ein Verantwortungsgefühl entstehen, das innerhalb der internationa-len Staatengemeinschaft zum Tragen kommt. Dabei ist das gemeinsame Erkennen zugleich ein gemeinsames Erleben von Extremereignissen, gefährlichen Umweltveränderungen und Sicher-heitsgefährdungen, das den Parteien verdeutlicht, wie wichtig ein gemeinsames Handeln ist. Aus einem Wahrnehmungsprozess, der zunächst primär ökonomisch geprägt war, entwächst schließlich eine moralische Überzeugung zum Handeln.

Wir reden hier von einem Gedankenmodell, das ‚lediglich‘ auf die Verhinderung von Not, Gefahr, Unglück und Elend ausgerichtet ist. Die Klimathematik wird auf diesem Wege deutlich unkomplizierter. Jedoch zollt dieser Minimalismus auch Tribut. Benevolentes Verhalten wird auf diesem Weg eher auf geringerem Niveau stattfinden. Neben der Achtung von Minimal-bedingungen und den Schutz von Gesundheit, Subsistenz und Leben, werden einige Staaten weiterhin auf den durch den Klimawandel neu entstehenden Nutzen setzen, um den nationa-len Wohlstand zu erweitern (wie die Erschließung neuer Ressourcen oder die Nutzung neuer Seewege, die durch das Abtauen bisher zugefrorener Bodenflächen oder der Arktis entstehen könnten). Zudem ist der Erfolg dieses Minimalismus an die Weitsicht der Staaten geknüpft, dass diese erkennen, dass der Schritt zu einem kooperativen Klimaschutz unter den Ländern nötig ist, bevor Verluste und Gefahren in ihrem eigenen Land akut werden. Jene Weitsicht fehlte allerdings oftmals bei vergangenen Klimakonferenzen, obwohl aktuelle Auswirkungen der klimatischen Veränderungen bereits erahnen lassen, was auf die Menschen zukünftig zu-kommen könnte.

Müssen solche Abstriche in Kauf genommen werden, um letztendlich Erfolg in der Klima-politik zu erzielen? Oder ist der Versuch, auf politisches Verhalten möglichst realitätsnah ein-zugehen der eigentliche Erfolgsverlust, da man sich von ambitionierten Zielen verabschiedet? Unter Betrachtung der Klimapolitikhistorie erübrigt sich die Frage zu weiten Teilen. Mittler-weile befinden wir uns nicht mehr am Anfang der Klimaverhandlungen. Die negativen Folgen der Klima- und Umweltveränderungen stellen bereits konkrete Probleme dar. Regierungen sind zum Handeln gezwungen, um negative Veränderungen zu entgegnen. Mit dem Kyoto-Protokoll wurde in den 1990ern ein ambitioniertes Abkommen ausgehandelt. Rückwirkend muss festgestellt werden, dass es zu ambitioniert war. Die Ziele wurden weit verfehlt. Die Um-setzung von Mitigation und Adaptation verlaufen weiterhin schleppend, obwohl die Gefahr des Klimawandels weltweit anerkannt wird. Das Abkommen von Paris 2015 galt bereits als letzte Hoffnung, ob die internationale Klimapolitik überhaupt weiterhin Bestand haben wird. Ein minimalistisches Motiv ist die konsequenteLösung, nachdem ehrgeizigere Vorhaben in den letzten zwei Jahrzehnten nicht den gewünschten Erfolg erbrachten. Dies ist allerdings nicht gleichbedeutend mit einer Aufgabe, sondern nur ein Paradigmenwechsel. Im Fokus steht nun die Verwundbarkeit einer Nation und nicht der mögliche wirtschaftliche Nutzen, der mit ei-ner gesellschaftlichen Transformation erzielt werden könnte. Die Reduzierung des Treibhaus-gasausstoßes und sich gegenüber veränderten Umweltbedingungen anzupassen ist allerdings letztendlich unabdingbar, um Wohlstand zu erhalten und zu erweitern sowie Nutzeneinbrüche zu verhindern.

1.10 Grundgedanken des Akzelerationismus als Leitlinien zur Bewältigung des Klimawandels

Der Abschluss dieses Kapitels bildet ein kleiner Exkurs über eine noch recht junge, politische Philosophie. Diese versteht sich selbst als Kapitalismuskritik und entspringt dabei den Wurzeln der Philosophie Karl Marx’. An dieser Stelle soll jedoch keine Kritik am Kapitalismus diskutiert werden, sondern wir wollen die Strukturprobleme der heutigen Zeit betrachten, die der soge-nannte Akzelerationismus aufdeckt. Hierbei lassen sich einige Rückschlüsse auf die schleppend verlaufenden Maßnahmen zum Klimawandel ziehen.

Häufig wird die Ökonomie bzw. die Industrie als Grund gesehen, warum Entscheidungspro-zesse und Maßnahmen zum Klimaschutz nicht in solch einem Umfang und einer Geschwindig-keit umgesetzt werden, wie sie manch einer für notwendig hält, um den Klimawandel wirksam zu begegnen.201 Langsame, gering tiefgreifende Entscheidungsprozesse hemmen den wissen-schaftlichen und technologischen Fortschritt, da wenig Bedarf gesehen wird, große Verände-rungen zu erreichen. Die Folge ist ein Mangel an benötigten technischen Mitteln. Da Adaptation zum Beispiel über viele Jahre ein Nebenschauplatz der Klimapolitik war, wurde die Generierung von Informationen und Daten nicht ausreichend gefördert. Diese Informationen und Daten fehlen heute bei der Umsetzung von adaptiven Maßnahmen. Nach dem Akzelerationismus ist dieser Umstand des mangelnden Fortschritts nicht direkt in der Ökonomie zu finden, sondern vielmehr in der Disharmonie zwischen Politik und Ökonomie, Wissenschaft und Technologie. Allerdings verkennt der Akzelerationismus nicht die bestehenden Strukturen. Anders als andere linke Theorien, die den Kapitalismus und gegenwärtige politische Strukturen nicht nur kritisie-ren, sondern einen völligen Systemumbruch propagieren, schätzt er die Errungenschaften der ökonomischen Entwicklung der Moderne. Er will jene Errungenschaften des Kapitalismus nicht verbannen, sondern nutzen, um die Akzeleration – die Beschleunigung – anzunehmen und zu steuern.202

Wir befinden uns in einer Zeit, in der nationale sowie internationale Politik mit Krisen und Katastrophen konfrontiert werden, die Ausmaße erreichen, die die Erfahrungen der Institu-tionen übersteigen. Mit der Ausbeutung der Ressourcen, besonders der Wasser- und fossilen Energiereserven, mit Hungerkrisen, Kollaps ökonomischer Modelle, neuen heißen und kalten Kriegen und dem Klimawandel stehen der globalen Zivilisation möglicherweise ‚Apokalypsen‘ entgegen, die die Politik mit ihren gegenwärtigen Normen und Organisationsstrukturen nicht bewältigen kann. Die Folge dieser Unfähigkeit sind reale Destabilisierungsprobleme.203 Dies zeigt sich besonders dramatisch beim Klimawandel. Die Politik ist momentan nur ungenügend in der Lage, neue Ideen und Organisationsformen hervorzubringen, um auf den Wandel ange-messen reagieren zu können. Schleppende Verhandlungen und der langsame gesellschaftliche Transformationsprozess verdeutlichen dies. Die neuen Probleme werden mit alten Strukturen und Herangehensweisen angegangen, die in ihrem potentiellen Ausmaß alles uns bisher Be-kannte übersteigen könnten. Nach dem Akzelerationismus kann die Menschheit auf diese Weise den Problemen und Konflikten unserer Zeit nicht Herr werden.

Die Gesellschaft wurde durch den Kapitalismus transformiert und geprägt. Ein Wirtschafts-wachstum nahm Einzug in der Welt, das rasante Entwicklungen im sozialen und technologi-schen Bereich forcierte. Die Geschwindigkeit, die sich im Zuge der Entwicklung gebildet hat, bestimmt unseren Alltag. Wir eilen mit der Zeit, um nicht abgehängt zu werden. Dabei bewegen wir uns in einem fest vom Kapitalismus geschaffenem Umfeld und richten uns nach den pro-duzierten Möglichkeiten. Wir schlagen Wege ein, die sich nach Wertschöpfungsketten richten, wir üben Berufe aus, die das Wirtschaftssystem kreiert und schaffen Institutionen ab, die im Zuge der Entwicklung überflüssig geworden sind. Doch trotz der hohen Geschwindigkeit ist der Ablauf zirkulär, da er nur Wiederholungen hervorbringt. Der Anstieg der Geschwindigkeit läuft nur innerhalb einer Menge von strikt definierten kapitalistischen Parametern ab, die selbst stabil bleiben. In diesem festgefahrenen Ablauf kann kein experimenteller Entdeckungspro-zess innerhalb des allgemeinen Raums der Möglichkeiten geschehen.204 Srnicek und Williams sprechen gar von einer Versklavung der Technowissenschaften durch den Kapitalismus. Da die Wissenschaften sich lediglich nach den Zielen richten, die dem Kapitalismus nützlich seien, wüssten wir gar nicht, wozu ein moderner technosozialer Organismus im Stande sei. Niemand wisse, welche Möglichkeiten in der Technologie und wissenschaftlichen Forschung stecken, da ihr Potential nicht ausgeschöpft werde.205 Darum ist der Kapitalismus aus heutigem Stand nach den Anhängern des Akzelerationismus ein fortschrittshemmendes System, das in seinem Trott die Probleme unserer Welt nicht mehr lösen kann.

Die Vertreter der neuen philosophisch-politischen Bewegung prangern die fehlenden Ant-worten auf die Probleme unserer heutigen Zeit an. Der Klimawandel schreitet voran und die momentane Geschwindigkeit, in der Entscheidungen zur Anpassung und Milderung getrof-fen werden, scheinen nicht mit der eigentlichen Umweltveränderung Schritt zu halten. Ist der Mensch vielleicht gar nicht in der Lage, die richtigen Maßnahmen zu treffen? Die Krisen scheinen uns über den Kopf zu wachsen. Zu schnell scheint das Geschehen fortzuschreiten, ohne passend darauf antworten zu können. Zunehmende Terrorgefahren, Epidemien, kulturelle Homogenisierung, wachsende globale Ungleichheit und die manifeste Indifferenz der Märkte können nicht als Fortschritt angesehen werden. Nach Armen Avanessian sind die heutigen Kri-sen „das Resultat der notwendigerweise fallenden Profitrate ein einer auf Innovation geeichten kapitalistischen Ökonomie“206. Um die Situation zu beruhigen, werde versucht, auf die Krise mit Entschleunigung zu reagieren. Dahinter stecke der Wunsch nach Ausgleich, einem tiefsitzenden Begehren nach Gleichgewicht und Ruhe. Bei all den „nostalgischen Entschleunigungsphanta-sien“ werde nicht daran gedacht, dass die Lage in Wirklichkeit schlimmer sein könnte. Die „Be-ruhigungsnostalgiker“ geben den Ton an, „die aus strukturellen Gründen nicht denken können, dass es sich bei ‚der Krise‘ vielleicht um mehr als eine bloß temporäre Irritation handelt, sondern um einen tatsächlichen Kollaps des Systems“.207

Normalerweise werden Krisen als Möglichkeiten eines Transformationsprozesses gesehen. Ohne Krisen gäbe es keine gesellschaftliche Entwicklung. Nach Avanessian verweist Krisen-haftigkeit allerdings auf ein falsches Bewusstsein, welches die bestehende Ordnung in Gefahr sieht. Statt einen wahren Transformationsprozess einzuleiten, um die Krise zu bereinigen, zielt dieser nur auf die Ausweitung des eigenen Machtbereiches ab. Die Krise an sich wird damit nicht gelöst. Stattdessen bleibt der Diskurs über die Krise erhalten. Doch woher kommt diese Hartnäckigkeit des Krisendiskurses? Die Antwort ist banal: durch das Kritisieren der Situation; durch das gebannte Starren der Kritik auf die Krise, durch die die Krise überhaupt erst ihre Legitimität bezieht. Krise und Kritik sind ein eingespieltes Paar, so die Vertreter des Akzelera-tionismus. Beide sind aufeinander angewiesen. Und anstatt, dass eine Besserung der Situation mit der offenbarenden Kritik geschieht, bleibt durch das Zusammenspiel zwischen Krise und Kritik die Krise erhalten. Erst durch die ausgesprochene Krise wird die Krise stabilisiert und zukunftsfähig. Indem die Kritik die Auswirkungen der Krise reflektiert, werden die Grenzen der Krise durch die Kritik ausgelotet und ein gegebenes Ganzes bleibt durch die Grenzbestimmung der Reflexion in unserem Blick verharren.

Den Ausweg aus dieser Krisenfixierung sehen die Vertreter in der Rekursion. Sie verharrt nicht innerhalb der gesetzten Grenzen, sondern will diese gerade sprengen, um ein neues Gan-zes zu schaffen: „[Rekursion impliziert] stets eine Grenzverletzung, einen Zugriff auf die Gegen-stände der Erkenntnis oder den Eingriff in die innere Dynamik von Prozessen, um so ein neues Ganzes herzustellen. Auf der Ebene der Epistemologie impliziert dies eine Veränderung der Möglichkeiten von Wissen, und auf dem Feld der Politik wird so die Veränderung von Zielset-zungen möglich.“208

Im Gegensatz zu den realen Gewohnheiten, der Krise mit Verlangsamung und Entschleuni-gung zu begegnen, müssten die Prozesse beschleunigt werden, mit Akzeleration, um eine Ver-besserung des Zustands zu erreichen. Beschleunigung ist allerdings nicht gleichbedeutend mit einer bloßen Geschwindigkeitssteigerung, dass alles noch schneller wird und Elend und Leid in der Welt letztendlich nur noch größer werden und der Klimawandel weiter fortschreitet, bis letzten Endes die große Änderung geschieht.209 Politisches Handeln und Denken benötigt heute epistemische Akzeleration. Eine auf die Zukunft orientierte Beschleunigungspolitik, die progressives Denken und Handeln möglich macht und einen spekulativen Blick auf zukünftige politische Systeme eröffnet. Für diesen Schritt ist politisches Handeln auf der Höhe des wissen-schaftlichen, technologischen und medialen Status quo erforderlich.210 Nicht eine Geschwindig-keitserhöhung, sondern eine bewusste Beschleunigung soll der Ausweg sein. Und zwar mit den grundlegenden Mitteln, die der Kapitalismus bereits zur Verfügung gestellt hat: „Die Grund-überzeugung des Akzelerationismus lautet, dass die einzige radikale politische Antwort auf den Kapitalismus darin besteht, dessen entwurzelnde, verfremdende, decodierende und abstrahie-rende Tendenzen zu beschleunigen, – und keineswegs darin, gegen ihn zu protestieren, ihn zu unterbrechen, oder darauf zu warten, dass er an seinen Widersprüchen zugrunde geht […].“211

In der Tat sind nur geringe Anzeichen zu erkennen, dass im letzten Jahrzehnt eine nachhaltige Entwicklung beschleunigt wurde. Vorschläge für tiefgreifendere Maßnahmen wurden häufig von Oppositionellen abgewiesen oder durch Lobbyarbeit ausgebremst. Zwar eröffnen Wissen-schaften mit ihrer Forschung eine spekulative Schau, die uns zeigt, dass wir in eine Zukunft mit einem Zuwachs an Gefährdungen steuern, dennoch werden Maßnahmen herausgezögert, da beachtlich viel innerhalb der Staatengemeinschaft abgewogen werden muss. Änderungen blei-ben dadurch weiterhin von herkömmlichen Lösungsansätzen inspiriert, die die Probleme viel-mehr regulieren, anstatt zu beheben.

Um Krisen zu überwinden, will der Akzelerationismus das System von innen heraus verän-dern. Er sieht die tatsächlichen Produktivkräfte des Kapitalismus und will diese verborgenen Kräfte freisetzen. Hierfür soll der Prozess der technologischen Evolution beschleunigt wer-den. Wichtig ist dabei, dass der technologische Prozess nicht von der Gesellschaft abgekop-pelt werden soll bzw. nicht ohne gesellschaftspolitisches Handeln zur Rettung geschaffen ist. Technik und Gesellschaft sind immer untrennbar miteinander verbunden. Es wird nicht davon ausgegangen, dass durch eine alleinige Beschleunigung der Technik politische Konflikte über-windet werden können. Die Technologie soll beschleunigt werden, weil sie gebraucht wird, um sich in sozialen Konflikten durchzusetzen. Für solch eine Entwicklung muss laut des Ak-zelerationismus eine schlagkräftige, neue politische Infrastruktur aufgebaut werden, die es er-möglicht, ernsthaft über Kapital- und Ressourcenflüsse nachzudenken. Mit der Absicht, dass anschließend eine Ökologie der Organisation und ein Pluralismus aus Kräften entsteht, die fortwährend aufeinander reagieren und sich gegenseitig verstärken.212 Auf diesem Wege soll nicht länger ein zirkulärer, ein sich festgefahrener Prozess das Geschehen bestimmen, sondern durch progressives Denken und Handeln soll sich der Mensch mit der Gesellschaft und der Umwelt auseinandersetzen.

Solch ein Denken und Handeln müssen zukunftsorientiert sein. Die Wahrheit liegt darum nicht in der Vergangenheit oder in der Gegenwart. Es sollen Umstände geändert, Krisen über-wunden werden. Dies wird nicht sofort in der Gegenwart geschehen. Für den Akzelerationisten muss daher Abstand, Distanz zu diesen zeitlichen Ebenen aufgebaut werden. Dies gelingt nur, wenn aus der Zukunft auf die Gegenwart zurückgeblickt wird. Denn die Zukunft ist es, die transformatorische Wirkung ausübt und die Kontingenz und Veränderbarkeit unserer Gegen-wart bewerkstelligen kann. Mit anderen Worten: Man muss die Gegenwart aus einer Zukunft heraus verstehen. Nach Avanessian leben wir in einer Welt, die uns spekulative Temporalität aufzwingt. Indem an der Börse Preise festgesetzt werden, werden beispielsweise Annahmen über eine zukünftige Realität. Dieser Prozess stelle Realität her und funktioniere zudem in ihr, obwohl sie nicht der tatsächlich empfundenen Gegenwart entspricht. Bleibt unser Blick gebannt auf die Gegenwart oder gar auf die Vergangenheit gerichtet, werden wir nichts ändern können. Die Finanzwelt hätte bereits begriffen, dass die Gegenwart von der Zukunft bestimmt sei. Eben-so ändern sich Normen, die im Hinblick auf die Zukunft aber nur spekulativ zu erreichen seien; Kriterien müssen bestimmt werden, nach denen wir die Dinge verändern wollen. Hierfür sei Wissen und Einsicht in ökonomische und technologische Verläufe notwendig.213 Der Akzelera-tionismus hat daher die besondere Idee, die Gegenwart durch die Zukunft zu bestimmen: „Die Perspektive des Akzelerationismus zielt auf die Zukunft. Aber […] nicht nur […] als ein Zurück in die Zukunft, sondern als ein Zurück aus der Zukunft. Denn die Gegenwart erhält nur ihre Kontingenz und Offenheit (zurück), wenn sie von einer erst zu entwerfenden Zukunft aus in den Blick genommen werden kann.“214 Für solch eine verwegene Herangehensweise, die Gegenwart mit einem Blick aus der Zukunft zurück zu verändern, muss das technowissenschaftliche Poten-tial unserer Zeit ausgeschöpft werden und nicht mit den in kapitalistischen Zielen gesteckten Grenzen gehemmt bleiben.

Letztendlich ist nach Ansicht dieser politischen Philosophie nur eine prometheische Politik – das heißt eine Politik, die sich dem Wissen, des Maßstabs und der Zielsetzung verschrieben hat –215 in der Lage, mit einer größtmöglichen Beherrschung der Gesellschaft und ihrer Umwelt, mit den globalen Problemen unserer Zeit fertigzuwerden.216 Die Beziehung zwischen Wissen, Macht und Politischem muss hierbei aufrechterhalten werden. In solch einer Beziehung kann politische Antizipation geschehen. Dabei werden keine futurologischen Normen erstellt, an denen der Fortschritt abzugleichen wäre, sondern durch die Skizzierung der Probleme und Lö-sungslinien könne sich erfolgreiche Antizipation ereignen.217

Der Klimawandel bereitet bereits einigen Regionen dieser Welt erhebliche Schwierigkeiten. In der Zukunft werden klimatische Veränderungen mit großer Wahrscheinlichkeit gravierende Einschnitte in das sozioökonomische Gefüge der Gesellschaft verursachen. Es sind Veränderun-gen, mit denen die Menschheit nur wenig bis keine Erfahrung hat. Zwar ist der anthropogene Klimawandel aus den Zeiten des Kapitalismus entsprungen, jedoch ist zweifelhaft, ob er auch die umfangreichen Antworten in seiner momentanen Struktur generieren kann. Im Sinne des Akze-lerationismus müssten die Veränderungen mithilfe der Wissenschaften antizipiert werden, um Strukturen und Normen der zukünftigen Veränderungen anzupassen. Klimahistorische Ereig-nisse können nur bedingt als Muster oder Beispiele zu einer gelungenen Anpassung beitragen, da sie nur bedingt den zukünftigen Änderungen entsprechen. Die Politik müsste sich mit den Daten und Informationen der Wissenschaften verknüpfen, indem sie auf Klimasimulationen oder auf die in bestimmten empirischen Beweisen eingebettete Artikulation naturwissenschaft-lichen Wissens über Umweltveränderungen zurückgreift, um so eine Politik zu betreiben, die die Veränderungen im Lichte von wahrscheinlichen Prognosen sieht. Dabei muss die strategische Antizipation nicht punktgenau sein, was durch die Komplexität naturwissenschaftlicher Model-le und des Faktums eines unvollkommenen Wissens ohnehin nicht möglich ist. „[S]tattdessen liegt die kognitive Bedeutung in der Art und Weise, wie sie bestimmte allgemeine Tendenzen angemessen verfolgen kann, um einen Rahmen zu entwerfen, in dem politisches Handeln statt-finden kann.“218 Die Politik müsse sich daher der Bedeutung von ökonomischen, soziologischen und politischen Analysen bewusst werden, die sie befähigen, Karten unserer komplexen Welt zu erstellen und damit potentielle Pfade für wirksame Aktionen aufgezeigt werden können.219Mit dem Zugriff auf verschiedene wissenschaftliche Studien könnten grundlegende Prinzipien gewonnen werden, um geeignete politische Maßnahmen umzusetzen.

So viel zum kurzen Exkurs der politischen Philosophie der Akzeleration. Wie bei jeder Positi-on lassen sich auch hier Kritikpunkte finden. So stellt sich die Frage, wie genau eine Beschleuni-gung stattfinden kann, bei der man nicht die Kontrolle verliert. Bereits heute kann die Judikative kaum mit technologischen Erneuerungen mithalten. Wie könnten sich finanzielle Mittel für die Forschung generieren lassen, ohne dass die Wissenschaft von der Wirtschaft abhängig bleibt. Dies ist aber nicht die Stelle, an der eine kritische Diskussion über den Akzelerationismus ge-schrieben werden soll. Es sollte lediglich aus einer kritischen Sichtweise auf das aktuelle System eine weitere Position gewonnen werden, um zu verdeutlichen, wie sehr die Aktualität der Wis-senschaft für politische Entscheidungen relevant ist. Letztendlich ist es die Politik, die den Weg einschlagen muss, indem sie ihre Entscheidungen über Zukünftiges trifft. Hierbei muss sie sich der Wissenschaft bedienen, da ihre Wahl auf wissenschaftliche Ergebnisse angewiesen ist. Wei-ter zeigte die Position des Akzelerationismus, dass ungenügend empirisches Wissen kein Grund sein darf, auf Maßnahmen gegenüber dem Klimawandel zu verzichten. Vergangenes eignet sich nur bedingt, um Rückschlüsse auf Zukünftiges zu ziehen, da die Zukunft keine Kopie der Ver-gangenheit ist. Klimaskeptische Meinungen, dass sich das Klima seit Beginn der Erde schon immer geändert oder dass sich das Klima immer entsprechend den Einflüssen angepasst habe, sind keine Anhaltspunkte der gegenwärtigen und zukünftigen Klimaentwicklung. Eine Re-produktion der Vergangenheit nimmt die Zukunft nicht als Entscheidungsgrundlage, sondern bleibt weitestgehend an den Gegebenheiten der Vergangenheit haften. Unvollkommenes Wissen über bevorstehende, mögliche ökologische, ökonomische und soziale Veränderungen im Zuge des Klimawandels, dürfen daher nicht als Angriffspunkte für Kritik dienen. Denn die gegenwär-tigen und zukünftigen Auswirkungen des Klimawandels können nur durch Antizipation gelöst werden und nicht mithilfe des Vertrauens auf Wissen, das durch Vergangenes konstituiert wird.

Der Akzelerationismus hat die Entstehung der aktuellen Weltprobleme im alten Kapitalismus gesehen. Im nächsten Kapitel werden wir uns etwas näher mit dem Ursprung dieser Probleme befassen. Hierbei werden wir uns unter anderem mit der gesellschaftlichen Risikowahrneh-mung befassen, die überhaupt die Grundbedingung ist, um Gefahren als Risiko zu erkennen und dann entsprechend reagieren zu können. Die Erkennung einer Gefahr, die gesellschaftliche Wahrnehmung und die kritische Auseinandersetzung damit, ob und wie Gegenmaßnahmen einzuleiten sind, beschreibt einen soziologischen Prozess, der mit entscheidend ist, wie katast-rophische Dimensionen mit dem Klimawandel in Verbindung gesetzt werden können.

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2 Der Umgang mit Gefahr: Ulrich Becks Risikogesellschaften

Im vorherigen Kapitel wurde auf die internationale Klimapolitik und deren Ausführung eingegan-gen. Diesen liegt die Überzeugung zugrunde, dass es einen Klimawandel gibt. So wurden die ersten Schritte, die zu einem kooperativen Handeln führen, als Wahrnehmung eines Risikos und das Be-wusstsein darüber, dass dieses Risiko Sicherheit, Wohl und Entwicklung gefährden kann, benannt. Dabei handelt es um kein Risiko, das natürlicher Ursache ist, sondern eines, das vom Menschen durch sein eigenes Handeln selbst geschaffen wurde. Folglich ist die Menschheit gezwungen, sich nicht nur mit dem Risiko auseinanderzusetzen, sondern ebenfalls mit ihrem eigenen Handeln. Die-se Erkenntnis setzt allerdings eine gesellschaftliche Entwicklung voraus. Allein etwas als Risiko zu erachten, ist mit einer gesellschaftlichen Antizipation und Wahrnehmung einer Gefahr verbunden. Dabei haben wir es aus soziologischer Sicht mit einem sozialen Phänomen zu tun.

Im Folgenden wollen wir mithilfe Ulrich Becks sozialkonstruktivistischen Ansatzes näher die-ses soziale Phänomen erklären; dies bedeutet, zu schauen, welch soziales Handeln den Einzug des Risikos in die Gesellschaft bedingt. Bereits Mitte der achtziger Jahre beschrieb Ulrich Beck den Wandel der modernen Gesellschaft hin zur „Risikogesellschaft“.1 Nachdem die Gesellschaft in der Vergangenheit unentwegt Ressourcen verbraucht hat und diese allmählich zur Neige ge-hen, wird sie mit zweierlei Dingen konfrontiert: (1) mit der Findung von Alternativen zu den knapper werdenden Ressourcen; und (2) mit neuen Gefahren, die aus Ersterem resultieren. Und längst sind aus jenen Gefahren, die einst einzelne Gesellschaften bedroht haben, Gefahren ent-wachsen, die von globaler Reichweite sind. Stellten damals beispielsweise Atomkraftwerke oder regionales Waldsterben Bedrohungen dar, sprechen wir heute unter anderem von einer globalen Klimakatastrophe. Die Risikogesellschaft wurde zur „Weltrisikogesellschaft“.2

2.1 Die latente Gefahr innerhalb der Risikogesellschaft

Historisch gesehen liegt der Ursprung des heutigen Übels mit dem Beginn der Industrialisie-rung. Mit dem damaligen Beginn des Verbrennens von Kohle in England um 1700 stiegen die CO2

-Emissionen allmählich an. Als weite Teile Europas im Laufe der folgenden eineinhalb Jahr-hunderte ebenfalls auf Kohle als Energiequelle umstiegen, wuchs mit der Produktion neuer Reichtümer auch der Ausstoß der Treibhausgase. Soziologisch ging damit ein Wandel durch die Gesellschaft. Mit technischen Erneuerungen und der wirtschaftlichen Entwicklung spielte sich ein Modernisierungsprozess in den kommenden Jahrhunderten ab. Das Ziel war das Beheben von Knappheit, die Herstellung einer besseren Verteilung und die Minderung von Verteilungs-konflikten. Durch den Modernisierungsprozess sollte der Weg zum gesellschaftlichen Reichtum erschlossen werden, während der gesellschaftliche Mangelzustand behoben werden sollte. In der sogenannten Dritten Welt stehen auch heute noch zum großen Teil diese Punkte im Vor-dergrund. Mit der Modernisierung wurde ein Niveau von menschlichen und technologischen Produktivkräften sowie von rechtlichen und sozialstaatlichen Sicherungen und Regelungen er-reicht, wodurch echte materielle Not objektiv verringert wurde. Es wurde ein Niveau erreicht, mit dem Not sozial ausgegrenzt werden konnte. So gesehen muss nur noch eine gesellschaftliche Minderheit mit den historischen Übeln leben. Im Zuge des Modernisierungsprozesses stellten sich allerdings Risiken und Selbstbedrohungspotentiale in einem anwachsenden Ausmaß ein. So wurden mit der Industrialisierung und der wissenschaftlich-technischen Entwicklung in der westlichen Welt zwar Reichtümer generiert, doch wissen wir heute, dass „[i]n der fortgeschritte-nen Moderne die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch mit der gesellschaftli-chen Produktion von Risiken [einhergeht]“3. Es sind nicht mehr Verteilungsprobleme und -kon-flikte, wie sie noch in der Mangelgesellschaft im Vordergrund standen, sondern Probleme und Konflikte, die aus der Produktion, Definition und Verteilung wissenschaftlich-technisch produ-zierter Risiken entstehen. Letztere Probleme überlagern nun erstere.4 Nicht mehr die Verteilung von Reichtum, sondern die Verteilung von Risiko ist zum Problem geworden. Anstatt Mangel zu beseitigen, müssen nun Risiken beseitigt werden, die erneut die Lebensgrundlage des Einzelnen bedrohen. Das Bedrohungspotential, das Risiken innewohnt, ist dabei wesentliches Attribut. Nach Becks Verständnis handeln Risiken von der Möglichkeit künftiger Ereignisse. Eine Be-drohung mag vorerst nur im Raum der Möglichkeiten existieren. Dadurch stellt sie ein Risiko dar. Ein Risiko wandelt sich dann in ein Unglück oder in eine Katastrophe, wenn die Bedrohung tatsächlich eintritt.

Die Gesellschaft wird mit Risiken konfrontiert, die sie selbst geschaffen hat. Es sind Risiken, die aus dem Modernisierungsprozess entstanden sind, unbewusst und ungewollt. Diese Risiken wurden nicht primär geschaffen. Es sind Begleiterscheinungen des Modernisierungsprozes-ses, Nebenfolgen aus der wirtschaftlich-technischen Entwicklung, jene Entwicklung, durch die Reichtum und geringere Verteilungskonflikte erreicht wurden. Das Schwerwiegende der Risiken ist, dass sie meist nicht in den Bereichen bleiben, aus denen sie hervorgehen, sondern sie über-lagern sich: Jeder kann davon betroffen sein. Die Risiken werden zugewiesen und sind nicht auswählbar, noch sind sie individuell besitzbar. Man wird gezwungen, mit ihnen zu leben. So entsteht eine Verteilung von Risiken, über die zunächst neues Wissen gewonnen werden muss. Es stellt sich die Frage, wie mit diesen Risiken umgegangen werden muss, jetzt, da sie der Gesell-schaft zugehörig sind. Sie verschwinden nicht, sondern sie sind fester Bestandteil der Entwick-lung. Dabei herrscht immer die Gefahr, dass mit weiteren wissenschaftlichen und technischen Erneuerungen weitere Risiken entstehen. Selbst technische Lösungen, die gefunden wurden, um Nebenrisiken zu verringern oder zu beheben, können wiederum Quelle neuer Risiken sein. Somit werden Nebenfolgen der Nebenfolgen zur Gefahr. Dies führt zu der Situation, dass sich Politik und Gesellschaft heute hauptsächlich mit diesen Nebenfolgen des Entwicklungsprozes-ses auseinandersetzen müssen.

Analysen und spezifische Diskussion über auftretende Gefahren (oder Diskussionen über Gefahren, die sich erst im hypothetischen Stadium befinden) finden zunächst nicht in der Öf-fentlichkeit statt. Damit sich Öffentlichkeit oder Politik mit Gefahren beschäftigen, muss erst eine Grundlage geschaffen werden. Man könnte auch prägnanter formulieren, damit sie sich mit Gefahren überhaupt beschäftigen können . Heutzutage ist der Mensch von Gefährdungen umgeben, die der Wahrnehmung zum großen Teil (noch) nicht offen, nicht sichtbar dalie-gen. Folglich müssen Gefahren zunächst erkenntlich gemacht werden. Hierbei ist der normale Bürger auf das ‚Wahrnehmungsorgan‘ der Wissenschaft angewiesen. Mithilfe von Theorien, Experimenten und Messinstrumenten werden Gefährdungen erst als sichtbar interpretiert. Sie schaffen die Grundlage, damit die Öffentlichkeit einen Zugang zu ihnen bekommt. Doch nicht nur für die Diagnose der Gefährdung ist die Wissenschaft notwendig, auch die Bekämpfung ihrer Ursachen ist meist nur mithilfe des gesamten Arsenals der wissenschaftlichen Mess-, Experimentier- und Argumentationsinstrumente möglich. Hohe Spezialkenntnisse sind von Nöten, ebenso die Bereitschaft und die Fähigkeit zur unkonventionellen Analyse, durchaus gepaart mit allgemein kostspieligen technischen Anlagen und Messinstrumenten.5 Die Tatsa-che, dass die Diagnose und die Lösung der Gefährdungen zwangsläufig den hierfür benötigten speziellen Mitteln der Wissenschaften vorbehalten sind, fehlen dem Laien grundlegende Mittel zum Reagieren. Er muss den Resultaten der Wissenschaftler vertrauen. Von den Gefährdungen ist ungewollt jedermann betroffen. Sich aber damit intensiv auseinanderzusetzen ist aufgrund des hohen wissenschaftlichen Spezifikationsgrades nur dem kleinsten Teil der Bevölkerung überlassen.

Nach Beck liegt die historisch neuartige Qualität der heutigen Risiken in einem gleich drei-fachen Sinne im wissenschaftlichen und sozialen Konstrukt begründet: Wissenschaft ist heute (Mit)Ursache, Definitionsmedium und Lösungsquelle von Risiken. Damit wird die wissen-schaftlich-technische Entwicklung aufgrund des Wechselspiels zwischen selbst miterzeugten und mitdefinierten Risiken und deren öffentlichen sowie sozialen Kritik widerspruchsvoll.6In Anbetracht dieses Wechselspiels könnte zynisch kritisiert werden, was das eigentliche Ziel der heutigen Wissenschaft ist, wenn sie ihre Berechtigung durch ihr eigenes Handwerk erwirbt und sich selbst zum Gegenstand hat. Denn hierbei befindet sie sich in ihrer eigenen zirkulä-ren Erschaffung von Risiken. Nach Beck beschäftigen sich die Wissenschaft heute mit dem, was aus ihren eigenen Reihen stammt. „Die Wissenschaften werden jetzt beim Gang in die Praxis mit ihrer eigenen objektivierten Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert: mit sich selbst als Produkt und Produzent der Wirklichkeit und Probleme, die sie zu analysieren und zu bewältigen haben.“7 Sie sind nicht mehr nur Quelle der Problemlösung, sondern Quelle der Problemursache. Sie verzeichnen neben Erfolgen auch Niederlagen, an denen sie gemessen werden.8 Nach Beck herrscht zudem eine geringe Kontrolle von außen. Die Wissenschaften scheinen ein in sich geschlossenes System zu sein. Allerdings muss dem entgegengehalten wer-den, dass diese innere Geschlossenheit relativ ist. Forschungsbereiche, die in Deutschland an Hochschulen angesiedelt sind, unterliegen beispielsweise oftmals einem kommerzielleren Ein-fluss als an Universitäten, da eine engere Verbindung von Industrie und Wirtschaft mit den Instituten besteht. Indem Industrie und Wirtschaft Forschungsprojekte finanzieren, können Forschungsinhalte nicht ganz davon freigesprochen werden, dass finanzstarke Unternehmen Einfluss auf anwendungsbezogene Forschungen nehmen. Aufgrund dieser Einwirkung ist das Wissenschaftssystem relativ geschlossen. Becks These mag demnach eher auf universitäre For-schungseinrichtungen zutreffen.

Ab einem gewissen Ausmaß können Gefährdungen nicht mehr allein in den Wissenschaften behandelt werden. Werden Gefährdungen, die sich zuvor der menschlichen Wahrnehmung entzogen haben, allmählich sichtbar, wird ihnen gesellschaftliche Brisanz zugesprochen: „Die Naturschäden und -zerstörungen vollziehen sich nicht mehr nur in der eigenerfahrungslosen Sphäre chemisch-physikalisch-biologischer Wirkungsketten, sondern stechen immer deutli-cher ins Auge, in Nase und Ohren“9 (wobei nicht unbedingt klar sein muss, ob sich Risiken verschärft haben oder lediglich der öffentliche Blick für sie). Die Diskussion über Natur- und Umweltzerstörung, die in naturwissenschaftlichen Kategorien und Formeln geführt wurde, schwappt dann auf die Öffentlichkeit über. Denn letztendlich wohnt in der wissenschaftlichen „Verelendungsformel“ eine soziale, kulturelle und politische Bedeutung inne. Eine beispiels-weise ausschließlich in naturwissenschaftliche Kategorien geführte Diskussion über Umwelt-zerstörung würde die soziale und kulturelle Bedeutung ihrer Auswirkungen ausklammern. Wissenschaftliche Probleme werden politisch, wenn das Waldsterben neben einem gesund-heitlichen zu einem sozialen Risiko wächst. Die Beseitigung der Ursachen wird zum Politikum; Politik und Öffentlichkeit mischen sich in die Analyse des Problems und in die Findung von Bewältigungsstrategien ein. Denn geht es nicht nur um gesundheitliche Folgeprobleme, son-dern um soziale, wirtschaftliche und politische Nebenfolgen der Nebenfolgen, wie Marktein-brüche, Entwertung des Kapitals, bürokratische Kontrollen betrieblicher Entscheidungen, Er-öffnung neuer Märkte, Mammutkosten, Gerichtsverfahren, Gesichtsverlust – dann bekommen Katastrophen politisches Potential.10

Während der Industrialisierung sah man die Gesellschaft als geschlossenes System. Natur wurde der Gesellschaft gegenübergestellt, wurde sogar durch die Gesellschaft unterworfen. Die Behebung von Verteilungskonflikten und Armut wurde im eingegrenzten System Gesellschaft fokussiert. Natur wurde als nicht zur Gesellschaft zugehörend betrachtet. Die aus dieser Ent-wicklung hervorgegangenen Risiken beschränken sich jedoch nicht auf die Gesellschaft. Die Folgen des industriellen Fortschritts werden heute durch den Raubbau an der Natur und durch eine nie dagewesene Umweltzerstörung repräsentiert. Die Belastungen auf die Natur sind so hoch, dass ihre Veränderungen eine Gefahr für den Menschen darstellen. Folglich ist Gesell-schaft nicht ohne Natur zu begreifen. Die Handlungen der Menschheit hat in den letzten Jahr-hunderten die Natur unter solch einen Stress versetzt, dass ihr Wandel nun die Menschheit unter Stress setzt. Naturzerstörungen sind längst keine bloßen Naturzerstörungen mehr, son-dern integraler Bestandteil unseres Lebens, Bestandteil sozialer, ökonomischer und politischer Dynamiken. Mit anderen Worten: Naturzerstörungen wurden vergesellschaftet. Das drastische Einwirken auf Ökosysteme reflektiert sich in sozioökonomische Gefährdungen. Katastrophen wie der Hurrikan Katrina zeigen deutlich, wie sehr das menschliche Leben von der natürlichen Umwelt abhängt. Bei der Risikogesellschaft handelt es sich auch deshalb um eine Risikogesell-schaft, da von der Integration der Natur ausgegangen wird (werden muss). Umweltprobleme stellen auch Probleme für die gesellschaftlichen Teilsysteme dar. Natur ist Gesellschaft, ebenso wie Gesellschaft (auch) Natur ist.11 Lösungen müssen demzufolge ökologische Faktoren mit-berücksichtigen.

2.2 Der Wandel zur Weltrisikogesellschaft

Das Weltgeschehen wird heute von Katastrophen (mit-)geprägt, die sich nicht auf einzelne Staa-ten beschränken. Heutige Katastrophen haben globale Ausmaße. Nicht nur in den Nachrich-ten bekommen wir davon mit, wir selbst sind davon betroffen, seien es Rekordtemperaturen, Terrorattacken oder Flüchtlingsströme. Wir sprechen nicht mehr nur von Risiken, sondern von Weltrisiken, die wir zu bewältigen versuchen. Dementsprechend hat sich die Risikogesellschaft zur Weltrisikogesellschaft gewandelt. Nach Beck liegt dem Weltrisiko eine Realitätsinszenierung inne. Inszenierung bedeutet hierbei nicht die künstliche Verfälschung, sondern die soziale Konst-ruktion oder soziale Definition. Die Unterscheidung zwischen Risiko als antizipierte Katastrophe und der tatsächlichen Katastrophe verlange eine Beschäftigung mit der Inszenierung. Denn nur durch die Vergegenwärtigung, das heißt die Inszenierung des Weltrisikos, würde die Zukunft der Katastrophe Gegenwart. Dieses Mittel ermögliche eine direkte Einflussnahme auf gegenwärtige Entscheidungen, um drohende Katastrophen abzuwenden.12 Damit ist Risiko im Sinne Becks ein hergestelltes Wissensobjekt, das zum Triebmittel einer reflexiven Wende werden kann.

Anders als Beck spricht Willy Viehöver nicht von einer Inszenierung des Risikos, sondern von einer erzählten Katastrophe. Auch in diesem Terminus wird eine mögliche Zukunft ver-gegenwärtigt. Die Katastrophe ist hier weder ein gegenwärtiges noch ein vergangenes Ereignis. Sie ist kein klassisches Unglück, das jemand widerfahren ist und über das erzählt wird. Keine aufgenommenen Bilder können die Katastrophe belegen. Die Katastrophe ist vielmehr ein Mit-tel, um etwas zu verändern. Indem Viehöver von einer erzählten Katastrophe spricht, impliziert er die Wichtigkeit, dass die Katastrophe nicht nur erzählt wird, sondern wie sie erzählt wird. Ein herkömmlicher Geschichtenerzähler legt besonderen Wert darauf, dass er den Inhalt seiner Geschichte durch sprachliche Mittel und stilistische Figuren möglichst lebhaft und spannend wiedergibt. Bei der erzählten Katastrophe über den Klimawandel müssen die Erzähler, deren Rollen anfangs hauptsächlich von Wissenschaftlern eingenommen wurden, die gesammelten Daten und Fakten in situative Ereignisse sprachlich darstellen, damit der Hörer Zugang zur Katastrophe bekommt. Mit der bloßen Präsentation von Zahlen, die aus Untersuchungen von Eisbohrkernen gewonnen wurden, wird der Laie nur wenig anfangen können. Der Modus der Erzählung ist entscheidend. Die Katastrophe muss konfiguriert werden, indem gezeigt wird, dass sich durch den Anstieg der Spurengase in der Atmosphäre unser Klima verändert und dar-aus eindeutige Auswirkungen wie Dürren und Überschwemmungen resultieren.

Nach Viehöver ist die erzählte Katastrophe über den Klimawandel ein Mittel der Einsicht und des Erkennens. Die Narration über die Klimakatastrophe soll unser Denken und Handeln beeinflussen und besonders die Politik zu aktiven Handlungen motivieren. Damit dies gelingt, müssen allerdings die Expertengruppen als Erzähler vor den Wissenschaften und der Öffent-lichkeit bestehen. Dies bedeutet, dass die Erzählung einerseits aufgrund ihrer narrativen Form erfolgversprechend sein muss: sie sollte eine episodische und polare Strukturierung aufwei-sen, sie muss den Konflikt benennen und die Akteure (Held und sein Gegenspieler) müssen hinsichtlich eines Konflikts charakterisiert werden, sodass die Konstruktion eines dramati-schen plots entsteht. Und andererseits müssen die wissenschaftlichen Ergebnisse, die dem plot zugrunde liegen, ausreichend und korrekt sein. Bereits Anfang der 1990er war der plot der erzählten Katastrophe über den Klimawandel dramatisch. Es wurde über häufiger werdende Wetterextreme erzählt, ein Anstieg des Meeresspiegels und der Auslöser (Anti-Held) wurde ebenfalls benannt, nämlich der Mensch, der durch seine Verbrennung von fossilen Brennstof-fen den anthropogenen Klimawandel heraufbeschwört hat. Die wissenschaftlichen Ergebnisse waren jedoch nicht ausreichend und die Prognosen von Unsicherheiten geprägt. Die Erzäh-lung bestand somit nicht vor den Entscheidungsträgern. Mittlerweile hat sich die erzählte Katastrophe durch das Ausräumen der Zweifel eines anthropogenen Klimawandels etabliert. Durch die Narration der Katastrophe wurde das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft re-interpretiert.13

Sowohl bei Becks Inszenierung des Weltrisikos als auch bei Viehövers erzählter Katastrophe lässt sich das wesentliche Mittel erkennen, Zukünftiges zu vergegenwärtigen. Im Grundver-ständnis sehen wir hierbei Ähnlichkeiten zum Akzelerationismus, dass innerhalb der Gesell-schaft eine spekulative Schau notwendig ist, um sich gegenüber den Risiken der Zukunft zu wappnen.

Die inszenierten Risiken, die in weiten Teilen der Welt bereits Realität geworden sind, sind von drastischer Qualität. Die Wahl des Begriffs „Weltrisiko“ lässt bereits vermuten, dass die Risi-ken von einer Dimension sind, wodurch sie nicht vollkommen kontrollierbar und beherrschbar sind. Beck weist diesen Risiken drei Merkmale zu, um die Dimensionen der Risiken zu cha-rakterisieren: (1) Die Risiken sind nicht-eingrenzbare, globale Risiken, die oft mit irreparablen Schäden verbunden sind. (2) Eine vorsorgende Nachsorge für den am schlimmsten denkbaren Unfall ist nicht möglich. (3) Die Folgen sind raum-zeitlich unbegrenzt, sie werden zum Ereignis mit Anfang ohne Ende.14 Unter der Existenz solcher Risiken ist die Sicherheit brüchig gewor-den. Eine vollkommene Versicherung ist nicht möglich, die die Menschen nach dem Eintreten eines Desasters wieder auffangen würde. „ Die ‚Restrisikogesellschaft‘ ist eine versicherungslose Gesellschaft geworden , deren Versicherungsschutz paradoxerweise mit der Größe der Gefahr abnimmt. Denn keine Institution, keine reale und wohl auch keine denkbare, kann auf den dro-henden ‚GAU‘  […] vorbereitet sein  […].“15 Die Globalität der Risiken macht es zudem un-möglich, sich von den Auswirkungen zu distanzieren. Dies bedeutet, dass ein Versuch scheitern wird, sie auf politischer Bühne zu ignorieren, um ihnen auf diese Weise entkommen zu können.

Schauen wir uns die drei Merkmale mit Bezug auf den Klimawandel etwas genauer an, zu-nächst Delokalisation : Die Ursachen und Wirkungen der Risiken sind auf keinen geographi-schen Ort oder Raum begrenzt. Damit sind sie allgegenwärtig. Weiter Unkalkulierbarkeit : Die Risiken basieren auf dem nicht völlig vorhandenen absoluten Wissen der Wissenschaften und auf normativem Dissens. In gewisser Weise sind die Risiken damit unkalkulierbar. Aus der Ver-flechtung mit dem Merkmal Unkalkulierbarkeit, findet die Delokalisierung der Risiken auf drei Ebenen statt: räumlich, zeitlich und sozial. Und letztlich das dritte Merkmal Nicht-Kompen- sierbarkeit : Die Schäden der früheren Moderne fielen in den Sicherheitsraum, das heißt, auch wenn sie größeren Ausmaßes waren, waren sie kompensierbar. Zahlungen konnten ihre schäd-lichen Auswirkungen rückgängig machen. Die neuen Risiken sind in ihrem Ausmaß hingegen unumkehrbar. Statt Kompensation müssen Vorsorge und Vorbeugung getroffen werden. Dafür müssen Risiken antizipiert werden und im besten Fall folgt bereits eine Reaktion im Stadion des Nicht-sicheren-Wissens.16

Der Klimawandel ist sinnbildlich für die neuen Dimensionen der Weltrisiken. Er ist ein globa-les Risiko, das weder innerhalb nationalstaatlicher Grenzen bleibt noch sich räumlichzuordnen lässt ( Delokalisation ). Die Industrienationen, als Hauptverantwortliche der anthropogenen Kli-maveränderungen, sind ebenso betroffen wie jene Länder, die kaum zur globalen Erwärmung beitragen. Allerdings werden besonders letztgenannte am schwersten darunter zu leiden haben ( soziale Ebene).

Das zweite Merkmal Unkalkulierbarkeit hat vor allem die anfängliche Debatte um den Klima-wandel geprägt. Die Wissenschaften hegten bereits Befürchtungen, dass der Mensch negativen Einfluss auf das Klima nimmt, wohingegen sich die internationale Staatengemeinschaft noch im Zweifel befand, belegt durch die Wissenslücken, auf die in den beiden ersten IPCC-Sachstand-berichten hingewiesenen wurde. Zwar sind die Hauptzweifel längst ausgeräumt, doch sind die wahren Ausmaße nicht absolut vorherzubestimmen. „Der Klimawandel ist eine vielseitige (von Dürren bis Fluten) und mehrdimensionale (von lokal bis global) Gefahr, die kurz-, mittel- und langfristige Aspekte und unbekannte Folgen hat.“17 Damit wird es immer Ereignisse geben, die anders eintreten oder verlaufen, wie ursprünglich prognostiziert, wie zum Beispiel das IPCC in seinem fünften Sachstandsbericht (AR5) feststellte, dass der Meeresspiegel schneller steigt als angenommen, da sich ein Schmelzen des Südpols schneller als erwartet vollzieht.

Die zeitliche Ebene des Klimawandels ist kaum einsehbar. Der Mensch produziert weiterhin Emissionen, wodurch die atmosphärische Treibhausgaskonzentration bis in das nächste Jahr-hundert beeinflusst wird. Die Reaktion der Ozeane auf eine höhere CO2

-Aufnahme und eine Erwärmung des Wassers wird sich gar über Jahrhunderte vollziehen. Rückkopplungseffekte von Temperaturerhöhungen, der Polkappenschmelze, der Degradation der tropischen Wälder oder ozeanische Strömungseigenschaften lassen sich nur vage angeben. Indem der naturwis-senschaftliche Komplex auf bestehende Umwelteinflüsse tritt, ist es darüber hinaus unmöglich vorherzusagen, in welchem Ausmaß gewisse Veränderungen in konkreten Regionen eintreten werden ( räumliche Ebene).

Die Nicht-Kompensierbarkeit von Extremereignissen wie Fluten, tropischen Stürmen, Wald-bränden oder Dürren wird auf Dauer markant werden, besonders wenn jene Phänomene tief in soziale Strukturen eingreifen. Rückversicherungsgesellschaften warnen bereits vor den zuneh-menden Extremereignissen. Vorbeugende Maßnahmen zur Erhöhung der Widerstandsfähig-keit im Zusammenspiel mit CO2

-reduzierenden Maßnahmen sind folglich essenziell.

Neben der Erkennung eines solchen Risikos, das sich über Grenzen hinwegsetzt, für das eine vorsorgende Nachsorge für die schlimmsten denkbaren Auswirkungen nicht möglich sind und das sich zeitlich nicht terminieren lässt, ist die Einstufung des globalen auch als ein nationales Risiko maßgebender Schritt für ein entschiedeneres Handeln. Sind das eigene Wohl und die nationale Entwicklung gefährdet, stößt die Einleitung von Maßnahmen zur Minderung der Be-drohung, was meist auch immer Einschnitte für das eigene Leben bedeutet, in der Regel auf weniger Gegenwehr, als wenn das Risiko ‚lediglich‘ auf einer nur schwer zu greifenden globalen Ebene definiert wird. Die globale Ursache des Klimawandels bedeutet allerdings, dass das natio-nale Risiko mit eigenen Maßnahmen nur bedingt reduziert werden kann. Es lassen sich haupt-sächlich nur die eigenen, nationalen Emissionen beeinflussen.18 Das Risiko erwächst jedoch aus der Akkumulation des weltweiten CO2

-Ausstoßes. Somit ist der Effekt des eigenen Han-delns auf Erhalt und Sicherung des nationalen Wohlstandsniveaus limitiert. Staaten entscheiden sich auf dieser Grundlage eine Zusammenarbeit einzugehen, um eine Reduzierung der globalen Emissionen zu erreichen und damit eine Abschwächung der Wirkungen im eigenen Land zu erzielen. Weiter oben haben wir diskutiert, dass diese Kooperation nicht nur auf ökonomischen Gesichtspunkten basieren, sondern auch eine moralische Komponente haben kann. Steht das individuelle Selbstinteresse beim ökonomischen Aspekt der Kooperation im Vordergrund, ist beim anderen Gesichtspunkt hingegen die moralische Überzeugung die Triebfeder.

Besonders im gemeinsamen Erleben der Gefährdungen liegt ein ethisches Moment. An die-sem Erleben haftet die Einsicht, dass das Handeln bzw. Nicht-Handeln eines Staates Einfluss auf Wohl oder Leid eines anderen Staates nimmt: Aus dieser Einsicht erwächst eine Verantwor-tung. Obwohl diese Einsicht unten den Staaten weitestgehend existent ist, mahnt die Wissen-schaft, dass Maßnahmen gegen den Klimawandel weitaus schneller vollzogen werden müssen. Ein entscheidender Punkt, dass der Verlauf einer nachhaltigen Transformation weniger schnell als erwünscht abläuft, mag die Divergenz unter den Staaten sein, aus welcher Position heraus sie betrachten und handeln. Während in vielen Industriestaaten die Auswirkungen des Klima-wandel für das eigene Territorium weitestgehend noch Erwartungen sind – das heißt, dass der Großteil der befürchteten Folgen noch im hypothetischen Raum existiert –, sind die Länder des Südens bereits mit dem Wahrwerden der Risiken konfrontiert. Die letztendliche Motivation, tiefgreifende Maßnahmen einzuleiten, unterscheidet sich daher von Land zu Land aufgrund des unterschiedlichen Erfahrungsraums, wie der Klimawandel das Leben vor Ort prägt.

2.3 Die Schwierigkeit, Gefahr als Risiko zu etablieren

Becks sozialkonstruktivistischer Risikobegriff handelt vom gesellschaftseigenen Prozess, wie so-ziale Erscheinungen entstehen und diese zur Realität werden – im Fachjargon ist hierbei von objektivieren die Rede. Der Umgang mit Gefahren wäre solch ein gesellschaftseigener Prozess. Beck spricht bei seiner Risikogesellschaft über Gefahren wie Radioaktivität, Schad- und Giftstof-fe in Luft, Wasser, Nahrungsmitteln sowie den damit einhergehenden Kurz- und Langzeitfolgen bei Pflanze, Tier und Mensch. Diese Gefahren stellen Risiken dar, die irreversible Schäden ver-ursachen können, dennoch bleiben sie im Kern unsichtbar. Sie entziehen sich dem unmittel-baren, menschlichen Wahrnehmungsvermögen, bis sie mithilfe wissenschaftlicher Prozeduren aufgedeckt werden. Die Aufdeckung von Risiken basiert auf kausale Interpretationen; „[Risiken] stellen sich also erst und nur im (wissenschaftlichen bzw. antiwissenschaftlichen) Wissen um sie her, können im Wissen verändert, verkleinert oder vergrößert, dramatisiert oder verharmlost werden und sind insofern im besonderen Maße offen für soziale Definitionsprozesse “19. Damit ist Wissen abhängig von denjenigen, die sich damit beschäftigen oder die nötige Fachexpertise besitzen bzw. vorgeben, diese zu haben, und sich der Analyse eines Risikos annehmen.

Diese Experten sind jedoch nicht über alle Zweifel erhaben. Als Außenstehender ist es schwer in das Gebilde Wissenschaft hineinzublicken, doch wird als Laie davon ausgegangen, dass die Wissenschaften von einer allgemein verständlichen Vernunft und vom Auftrag, die Welt besser zu machen, geleitet sind. Mithilfe wissenschaftlicher Tests und Messmethoden de-cken sie Risiken auf oder finden Verbesserungen, um existierende Gefahren zu verringern. Doch entgegen der weitläufigen Meinung muss sich wissenschaftlicher Fortschritt nicht nach den Regeln der Vernunft vollziehen. Auch Wissenschaften gehen irrationale Wege. Es finden Paradigmenwechsel statt, die die Wissenschaftler in verschiedene Lager reisen und zwischen denen keine Verständigung möglich ist. Machtspiele werden betrieben, mit fairen und unfai-ren, vernünftigen und unvernünftigen Mitteln, um zu entscheiden, wer die richtige Sichtweise vertritt. Dann, wenn sich ein Paradigma etabliert hat, geht das geregelte Spiel der Wissenschaf-ten weiter.20 In gewisser Weise ist die Öffentlichkeit diesen wissenschaftlichen Intrigen ausge-liefert. Da sie kaum Einblick in die Arbeitsweise der Wissenschaften hat, kann sie sich kaum ein fundiertes Urteil über die Fachexpertise bilden. Es liegt an den Fachbereichen, das Vertrauen der Öffentlichkeit nicht zu missbrauchen. Indem sie ihre Ergebnisse verständlich formulieren, machen sie Forschungsresultate auch außerhalb eines höchst speziellen Bereiches verständlich. Forschungsstudien müssen sozusagen den Anforderungen der Endverbraucher entsprechen. Grundvoraussetzung ist, dass sie Öffentlichkeit die Forschungen zum Wohle der Allgemeinheit anerkennt.

Die Öffentlichkeit muss darauf vertrauen, dass die Wissenschaften sie zur rechten Zeit über entdeckte Gefahren aufklärt und diese nicht verschweigt. Eine Aufklärung ist meist erst dann erfolgsversprechend, wenn erkannte Gefahren relevant sind und es genügend stichhaltige Infor-mationen und Daten zu ihnen gibt, um sie zu beweisen. Allerdings müssen Gefahren heutzutage ein beinahe erschreckendes Ausmaß einnehmen, damit den Wissenschaftlern Gehör geliehen wird. Die Allgemeinheit lebt in einer Welt eines gefühlten Informationsüberflusses. Erscheint die Gefahr als nur ein geringes Risiko oder kann das ihr anhaftende Risiko nur angedeutet wer-den, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die wissenschaftliche Meldung im Informationsfluss untergeht. Gesellschaftliche Abläufe haben sich so stark etabliert, dass Änderungen und ein Umdenken mit Hürden verbunden sind. Nur allzu schnell verfällt die Allgemeinheit wieder ihren Routinen des Alltags und träumt von morgen, statt sich vom möglichen übermorgen aus der Ruhe bringen zu lassen.

Bereits Wilson (1858), Balfour (1866) und ausführlicher Arrhenius in den Jahren 1896 und 1897 haben über einen Klimawandel als Folge des menschlichen Raubbaus an der Natur ge-schrieben. In Deutschland unternahm Flohn die ersten Untersuchungen, die er 1941 in einem Seminar an der Universität Würzburg zum Thema „Tätigkeit des Menschen als Klimafaktor“ darstellte.21 Erst in den 1990er wurde das Thema anthropogener Klimawandel letztendlich auf international politischer Ebene durch das UNFCCC etabliert. Auch hier unterlagen dem angeb-lichen Risiko noch Zweifel und Skepsis, da die Wissenschaften nicht in der Lage waren, diese auszuräumen. Erst der dritte Sachstandsbericht (TAR) des IPCC 2001 sorgte dafür, dass Zweifel nachließen und der Klimawandel in seiner Relevanz in die Mitte der Gesellschaft gelang.

Die Ozonproblematik wurde hingegen deutlich schneller als gesellschaftliches Problem aner-kannt. Mitte der 1970er erkannte man die Ursachen und Folgen des Ozonloches. Insbesondere Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW-Gase), die als Kältemittel in Kühlaggregaten, als Zellglas bei Kunststoffverschäumungen und als Treibgas bei Spraydosen verwendet wurden, gelangen ca. 10–15  Jahre nach ihrer Freisetzung in die Stratosphäre. Dort zerbrechen sie und setzen Chloratome und -oxide frei, die daraufhin mit O3

(Ozon) reagieren und es zu Sauerstoff (O2

) ab-bauen. Durch diesen langjährigen chemischen und physikalischen Prozess bildet sich ein Loch in der Atmosphäre, wodurch UVB-Strahlen ungehindert durch die Stratosphäre dringen und eine erhöhte Gefahr für Immunsystem- und Augenschädigungen sowie Hautkrebs entsteht. Die wissenschaftlichen Ergebnisse über das Risiko des Ozonabbaus waren früh stichhaltig, sodass 1985 mit dem Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht und mit dem Montrealer Protokoll von 1987 konkrete Maßnahmen statuiert wurden.22 Zwar ist die Ozonproblematik weiterhin existent, doch hat sich über die Jahre das Ozonloch so weit zurückgebildet, dass sie als annähernd gelöst angesehen wird.

Eine Gefahr muss erkannt und anerkannt werden, damit sie als Risiko wahrgenommen wird. Nach Beck ist Risiko die Antizipation einer Gefahr bzw. einer Katastrophe. Werden mögliche Gefahren oder Katastrophen nicht antizipiert, existiert demzufolge auch kein Risiko. Risiken nehmen in die Gesellschaft Einzug, indem die Möglichkeit künftiger Ereignisse und Entwick-lungen thematisiert wird. Ein Weltzustand wird vergegenwärtigt, den es als solchen noch nicht gibt. Damit besitzt die Antizipation einer Katastrophe keine räumlich-zeitliche oder gar soziale Konkretion. „Die Kategorie des Risikos meint also die umstrittene Wirklichkeit der Möglichkeit, die einerseits von der bloß spekulativen Möglichkeit, andererseits dem eingetretenen Katastro-phenfall abzugrenzen ist.“23 Erst wenn eine Katastrophe Wirklichkeit wird, kann sie räumlich, zeitlich und sozial bestimmt werden. Davor handelt das Risiko von einem möglichen Ereignis in der Zukunft, das so lange als Risiko gilt, bis es eintritt, also real wird. Wenn es letztendlich eintritt, wird das Risiko zur Katastrophe: die antizipierte Bedrohung wird Realität. Dennoch kann das Risiko großen Einfluss auf Entscheidungen haben, selbst wenn sie lediglich im poten-tiellen Stadium angesiedelt wird. Da Erwartungen ständig von Bedrohungen bestimmt werden, werden wir ständig damit konfrontiert. Unsere Köpfe sind damit ‚besetzt‘ und unser Handeln wird davon geleitet.24 Risiko ist ein sozial hergestelltes Wissensobjekt, das zum Triebmittel einer reflexiven Wende werden kann. Auf diese Weise bekommt die antizipierte Bedrohung politische Kraft. Der anthropogene Klimawandel hatte anfangs keine politische Kraft, da er aufgrund des Fehlens klarer wissenschaftlicher Ergebnisse für den Großteil der Bevölkerung und der Politik keine Bedrohung darstellte. Unsichere Studien schürten Klimaskepsis. Mit dem Ausräumen der wissenschaftlichen Zweifel durch konkreter werdende Sachstandsberichte des IPCC wurde er jedoch als Weltrisiko anerkannt. Der Klimawandel als weltweite Bedrohung wurde innerhalb des gesellschaftlichen Lebens vergegenwärtigt. Umweltschützer, NGOs und Autoren wissen-schaftlicher Studien wurden plötzlich wahrgenommen; Industrie und Wirtschaft erklärten ihre umweltfreundlichen, nachhaltigen Geschäftsvorhaben und sogar Verfasser extremer Meinun-gen, die einen annähernden Weltuntergang prognostizierten, fanden Gehör. Der festgefahrene Ablauf destabilisierte sich und Raum für politisches Handeln öffnete sich.

Bevor eine Gefahr als Risiko etabliert wird, hat sich die Wissenschaft meist bereits zuvor mit jener Gefahr auseinandergesetzt. Die Öffentlichkeit besteht allerdings nicht ausschließlich aus fachkundigen Experten, sodass sie die dem Risiko zugrundeliegenden wissenschaftlichen Prak-tiken kaum verstehen bzw. einsehen können. Folglich gibt es eine Differenz zwischen der Risi-kowahrnehmung und der akkuraten, wissenschaftlichen Expertenbetrachtung. Nach Beck wird die Risikowahrnehmung des einzelnen Laien weitestgehend als individuelle Reaktion und Ant-wort auf objektive Risiken gemäß verschiedenen Heuristiken des individuellen Urteilens und Verstehens betrachtet und analysiert.25 Aufgrund der Möglichkeit, dass der Einzelne nur den Zugang zu einer einseitigen Berichterstattung wählt, unterliegt er einem Mangel bzw. vielmehr einer Unausgewogenheit an Informationen. So kann es passieren, dass selbst Untergangstheo-rien Zustimmung erfahren. Ebenso können ein grundsätzliches Fehlen an Wissen, unterschied-liche Expertenmeinungen, das Bekanntmachen falscher Messstatistiken oder der aus Prinzip verharrende Zweifel dazu führen, dass Risiko als überschätztes Problem kategorisiert wird und es folglich als irrelevant und überzogen eingestuft wird.

Die Inszenierung des Risikos kann je nach Wahrnehmung des Risikos in der Öffentlichkeit unterschiedlich ausfallen. Manch einer hält die vergegenwärtigte Bedrohung als zu abstrakt, manch anderen stürzt sie in Hysterie. Mangelnder Zugang zu wissenschaftlichen Informatio-nen oder ein Überfluss an einseitigen Berichten beeinflussen die Risikowahrnehmung. Obwohl die Globalisierung die Grundlage schafft, einen globalen, schnellen Wissensaustausch zu er-möglichen, hält sich eine Differenz der Wahrnehmung über Weltrisiken hartnäckig. Hierbei prallen vom Politischen, Persönlichen oder Kulturellen geprägte Weltansichten aufeinander. Dennoch ist die Inszenierung des Risikos Grundlage, um Vorsorge und Vorbeugung für eine mögliche Katastrophe zu treffen. Der Informationsfluss muss hierfür ausgewogen sein. Allge-meine Aussagen über den Klimawandel vermögen kaum tatkräftige Pläne zu etablieren. Das In-formationsquantum muss konkrete Hinweise und Auskünfte über bestimmte Szenarien bieten. Zum Beispiel verweist die Globalität des Klimawandels nicht auf regionale Gefahren. Regionale Ausmaße der Veränderungen müssen untersucht werden, um Maßnahmen einzuleiten, wobei gesellschaftliche und ökologische Bedingungen berücksichtigt werden müssen. Was in Rotter-dam hilfreich ist, um sich vor dem steigenden Meeresspiegel zu schützen, ist nicht unbedingt auf den Malediven hilfreich. Liegen solche spezifischen Ergebnisse nicht vor, lässt sich aus dem inszenierten Risiko nur wenig Wert schöpfen.

Selbst wenn eine Gefahr erfolgreich als Risiko inszeniert wurde, muss dies keine Transfor-mation zum Besseren bedeuten. Die Staaten sind sich der Gefährdung durch den Klimawandel bewusst, die wissenschaftlichen Fakten liegen offen dar, die Technologie ist auf einem Stand, die Gesellschaft entsprechend anzupassen, dennoch lahmt die Transformation. Umfangreiche emis-sionsreduzierende Maßnahmen, um schwerwiegende Klimafolgen mit großer Wahrscheinlich-keit abzuwenden, könnten nach dem Ökonom Nicholas Stern bereits mit knapp einem Prozent jährlich des globalen BIP umgesetzt werden.26 Die meisten Experten sind der Überzeugung, dass die Kosten für vorbeugende Maßnahmen günstiger seien als die aufzubringenden Kosten, die durch die Klimafolgen entstehen würden. Hiermit gelangen wir erneut zum Motivationspro-blem, das im vorherigen Kapitel beschrieben wurde. Manchmal ist der Mensch innerhalb einer Gruppe erst dann völlig überzeugt und sieht die unabdingbare Notwendigkeit zum Handeln, wenn die Auswirkungen tatsächlich zu spüren und stechend sind. Heute muss allerdings die zu-künftige Katastrophe nicht mehr ausschließlich vergegenwärtigt werden. Der Klimawandel ist längst Gegenwart und das Risiko Realität geworden.

Zwar gilt Risiko aufgrund wissenschaftlicher Methoden als objektives Phänomen, doch ist das Risiko keine objektiv messbare Größe. Risiken werden durch widersprüchliche Beurteilungen einzelner Gruppen und Bevölkerungsgruppen mitinszeniert. Erst die kulturelle Wahrnehmung und Bewertung von Risiken beurteilen letztendlich das Risiko als dringlich oder gefahrvoll. Dies bedeutet, dass nicht die wahre Existenz das Risiko zu einem Risiko macht, sondern die Form der Wahrnehmung – selbst wenn das Risiko bereits in gewissen Teilen der Welt zur tatsäch-lichen Katastrophe geworden ist. Die Menschen in den Ländern des Südens werden bereits mit den Gefahren des Klimawandels konfrontiert. Aber wie deren Risiko hier wahrgenommen wird, hängt davon ab, wie hier darüber entschieden wird. In der Tat sind die am wenigsten entwickel-ten Länder durch ihre soziale und ökonomische Verwundbarkeit äußerst anfällig. Armut, große gesellschaftliche Ungleichheiten, politische Instabilität, Länder, die von gesellschaftlichen Kri-sen geprägt sind, weisen eine größere Verwundbarkeit auf als die reichen Länder des Westens. Risiko ist geprägt von Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Gewisse Länder besitzen die Position, um zu entscheiden, wie Risiko inszeniert werden soll. „Risiko ist […] ein durch und durch unter weltgesellschaftlichen Machtverhältnissen sozial konstruiertes und inszeniertes Phänomen, in dem einige die Kapazität haben, Risiko zu definieren, andere dagegen nicht.“27 „Je größer und objektiver ein Risiko erscheint, desto mehr hängt seine Wirklichkeit von seiner kulturellen Be-wertung ab. Anders gesagt: Die Objektivität eines Risikos ist Produkt seiner Wahrnehmung und seiner (eben auch sachlichen) Inszenierung.“28 Beck erläutert weiter, dass sich im Umgang mit Risiken keiner auf eine externe Realität berufen könne. Die Risiken, die wir zu erkennen glauben und die uns Furcht einflößen, seien das Spiegelbild unserer selbst, unserer kulturellen Wahrneh-mungen. In diesem Gegeneinander kultureller Gewissheiten oder eben im Horizont einer ent-stehenden weltweiten Solidarität, würden globale Risiken wirklich werden.29 Aber letztendlich entscheiden diejenigen über die Inszenierung, die über Macht verfügen. Sie können durch ihre wissenschaftlichen und vor allem politischen Mittel die selbsterzeugten Risiken definieren. Und sie sind es, die darüber entscheiden, wer besonders Risiken ausgesetzt ist.30 Die Möglichkeit der Industrieländer über die globale Inszenierung innerhalb der Weltrisikogesellschaft zu entschei-den, schürt demnach weiterhin Klassenunterschiede und Ungleichheiten in der Welt.

Wir haben nun von der Risiko-Inszenierung im Zuge der gesellschaftlichen Auseinander-setzung mit Gefahren gesprochen. Hierbei lernten wir Risiko als Wissensobjekt kennen, um ge-sellschaftlichen Wandel einzuleiten. Allerdings gibt es zwischen den Ländern Unterschiede, in-wieweit das Risiko aufgrund von konkreten Auswirkungen präsent ist. Dementsprechend wird die Einleitung von notwendigen Maßnahmen oftmals mit einer unterschiedlichen Dringlichkeit angesehen. Im besten Fall muss diese Subjektivität überwunden werden, um eine globale, ganz-heitliche Transformation simultan einzuleiten, und nicht in lokalen Etappen, je nachdem wann ein Land an dem Punkt angelangt ist, an dem es in gewisser Weise gezwungen ist, seine Wirt-schaft wirklich nachhaltig zu verändern.

Nachdem die soziologische Dimension von Gefahren bzw. Risiko nun geschildert wurde, ist es im folgenden Kapitel an der Zeit, die entwicklungspolitische Dimension des Klimawandels zu betrachten. Dabei soll unter anderem analysiert werden, inwiefern der Klimawandel eine Ge-fährdung der Sicherheit für den Menschen darstellt. Grundlage hierfür ist die vorangegangene Argumentation, dass im politischen Diskurs die Folgen des Klimawandels für den Menschen stärker in Betracht gezogen werden müssen und im Hinblick der Schutzfunktionen, die der Staat gegenüber seiner Bevölkerung innehat, die Abwendung von Not und Leid durch zu leis-tende Vorsorge ein wesentliches Triebmittel für Climate Action ist.

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3 Klimawandel als Sicherheitsgefährdung

Je weiter der Klimawandel uneingeschränkt voranschreitet, desto deutlicher wird, dass er eine Gefahr für Gesundheit, Wohl, Entwicklung und Leben ist. Er reicht weit über das Niveau ei-nes Umweltproblems. Bevor der Punkt erreicht wird, an dem dies dramatisch augenscheinlich wird, wird in dieser Arbeit dafür argumentiert, den Klimawandel aus Sicht der menschlichen Sicherheit – der human security  –zu betrachten. Dies sorgt für einen Perspektivwechsel: Der Klimawandel ist nicht (mehr) nur ein Problem, das vom Menschen geschaffen wurde, sondern vielmehr ein Problem für den Menschen. Dabei muss die gesamte Tragweite der Auswirkun-gen berücksichtigt werden, wodurch politische, ökologische, ökonomische und sozial-kulturelle Faktoren in die Analyse miteinfließen. Der 2007 veröffentlichte Sachstandsbericht des IPCC und insbesondere die Ergebnisse der zweiten Arbeitsgruppe Impacts, Adaptation and Vulnerabi- lity thematisierten zum ersten Mal in einer Deutlichkeit, was der Klimawandel für Mensch und Umwelt bedeutet: höhere Temperaturen, Anstieg des Meeresspiegels, Häufung und Verschär-fung von Wetterextremen. Damit hängen Folgeerscheinungen wie Unterernährung, Zerstörung von Gebäuden, Infrastruktur sowie ganzen Wirtschaftszweigen und Industrien zusammen, ebenso klima- und wetterbedingte Krankheiten. Die menschliche Existenz, ihr Wohlbefinden, ihre Gesundheit sowie ihre Fähigkeit zur Selbstversorgung werden hierdurch gefährdet.1 Da-mit greifen die Auswirkungen des Klimawandels tief in das soziale Gefüge einer Gesellschaft. In Anbetracht der Klimafolgen, was sie für die Sicherheit bedeuten und welche Bemühungen unternommen werden müssen, um diese zu reduzieren, stellen sich fundamentale, humanitäre Fragen hinsichtlich notwendiger Faktoren, die ein Leben ermöglichen, das als sicher und frei gelten kann.

3.1 Erste Thematisierung des Klimawandels vor dem UN-Sicherheitsrat

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hielt am 17. April 2007 seine allererste Debatte zu den Auswirkungen des Klimawandels betreffend Frieden und Sicherheit. Einige Delegierte hegten Zweifel, ob der Sicherheitsrat hierfür das geeignete Forum sei, erstreckt sich doch sein Auf-gabenbereich über die Wahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit. Der damalige Generalsekretär Ban Ki-moon machte verständlich, dass der Klimawandel längst nicht mehr als ein Problem angesehen werden dürfe, das ausschließlich Auswirkungen auf Umwelt, Soziales und Ökonomie habe, sondern ebenso auf Frieden und Sicherheit. Wenn Ressourcen, wie Ener-gie, Wasser oder bebaubares Land knapp werden, leide unser fragiles Ökosystem und die Lage unter den Gruppen und Individuen spanne sich zunehmend an. Dies könne zu einem Zusam-menbruch von bestehenden Verhaltensregeln und offenen Konflikten führen. Eine Verschlech-terung der Umwelt berge speziell in konfliktanfälligen Regionen großes Potential in sich, die herrschende Lage vor Ort zu destabilisieren, besonders wenn diese durch einen ungleichen Ver-teilungszugang zu knappen Ressourcen geprägt oder der Zugang durch politische Motive be-stimmt sei. Darum appellierte Ban an eine nachhaltige Lebensweise. Verglichen zu den Kosten, die mögliche Konflikte und Konfliktfolgen verursachen, seien die Investitionen in die Vorbeu-gung bedeutend geringer – finanziell, aber vor allem im Hinblick auf den Schutz menschlichen Lebens sowie Lebensqualität. Maßnahmen zur Vorbeugung müssen mit einer ökonomischen und sozialen Entwicklung vereinbar sein. Die Auswirkungen des Klimawandels seien in vielen Bereichen zu spüren: Landwirtschaft, Sicherung der Nahrungsversorgung, Ozeane und Küsten-regionen, Biodiversität und Ökosysteme, Wasserressourcen, menschliche Gesundheit, mensch-liche Siedlungsgebiete, Energie, Transport und Industrie, extreme Wetterereignisse. Ban Ki-moon verwies die Teilnehmer des Sicherheitsrates auf das mögliche Konfliktpotential, das mit klimatischen Veränderungen eintritt. Fluten und Dürren und die damit zusammenhängenden Kosten könnten die institutionellen Möglichkeiten von Staaten, Konflikte auf friedlichem und demokratischem Wege zu lösen, schwächen, da Gesellschaften polarisiert oder Bevölkerungs-gruppen an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden könnten. Klimabedingte Migrationen könnte vorherrschende Spannungen und Konflikte vertiefen, speziell in Regionen mit einer gro-ßen Anzahl migrierter Gruppen. Weiter könnten knappere Ressourcen wie Wasser und Nah-rung friedliche Konkurrenz in Gewaltbereitschaft transformieren. Diese Szenarios sollen nach Ban als Alarmsignal, nicht als Panikmache dienen („all alarming, though not alarmist“).2

Damit schließt sich Ban Ki-moon dem ehemaligen UN-Generalsekretär und seinem Vorgän-ger Kofi Annan an, der ein halbes Jahr zuvor auf der Vertragsstaatenkonferenz des UNFCCC in Nairobi erklärte, dass dem Klimawandel genauso viel Beachtung geschenkt werden müsse wie Konflikten, Armut und der Ausbreitung tödlicher Waffen, die traditionell große politische Auf-merksamkeit bekämen.3 Der Klimawandel ist längst kein Umweltproblem mehr, sondern eine tatsächliche Bedrohung der Sicherheit.

3.2 Die Bemessung von Risiko und seine Variablen

In der Katastrophenforschung wird bei natürlichen Extremereignissen zwischen plötzlich und langsam einsetzenden Ereignissen ( sudden and slow onset events ) unterschieden. Beide Be-griffe können auch als intensive bzw. extensive Ereignisse umschrieben werden, wobei dann die Kategorie anhand der Mortalität und Zerstörung von Behausungen definiert wird, nicht anhand des zeitlichen Eintretens von Ereignissen. Das United Nations Office for Disaster Risk Reduction (bzw. United Nations International Strategy for Disaster Reduction , UNISDR) arbei-tet hierbei mit konkreten Grenzwerten.4,5 Erdbeben, Tsunamis, plötzliche Massenbewegun-gen, Fluten oder tropische Wirbelstürme werden als intensive Gefahren angesehen (wobei beide erstgenannten nicht mit dem Klimawandel im Zusammenhang stehen); Dürren und langsame Massenbewegungen sind hingegen zu den extensiven zu zählen. In der Regel ver-ursacht ein plötzlich eintretendes Extremereignis höhere Schäden und Verluste als ein lang-sam verlaufendes, wodurch die Kategorie der plötzlich einsetzenden Ereignisse als Synonym für intensive Ereignisse zählt, bzw. langsam einsetzende Ereignisse als extensive angesehen werden.

Neben der Katastrophenforschung spricht auch das UNFCCC von langsam einsetzenden Er-eignissen, allerdings bezieht dieses die Kategorie nicht auf konkrete Extremereignisse, sondern auf grundlegende Klima- und Umweltveränderungen, die sich über viele Jahrzehnte strecken. Im Rahmen des Programms zu Loss & Damage definiert das UNFCCC den Meeresspiegelan-stieg, steigende Temperaturen, die Versauerung der Ozeane, der Rückgang der Gletscher, Ver-salzung, Land- und Walddegradation, Verlust an Biodiversität und Desertifikation als langsam einsetzende Ereignisse.6 Diese Klima- und Umweltveränderungen können wiederum die Ursa-che von Dürren oder langsamen Massenbewegungen sein, die im Bereich der Katastrophenfor-schung als slow onset events bezeichnet werden.

Die Kategorisierung von Extremereignissen bzw. Umweltveränderungen ist eine Sache, die andere, die weitaus komplexere, ist jedoch, zu evaluieren, wie anfällig eine Gesellschaft gegen-über jenen Extremereignissen ist. Hierfür betrachtet man in der Regel mehrere Faktoren, an de-nen die gesellschaftliche Situation gemessen werden soll. Die Faktoren berücksichtigen grundle-gende Lebensbedingungen und gesellschaftliche Umstände, die mitentscheidend sind, wie hoch ein Risiko gegenüber potentiellen Verlusten an Leben, Besitztümern, Lebensgrundlagen etc. ist, die einer Gemeinschaft oder Gesellschaft in einer zukünftigen Periode im Zuge des Eintretens von sudden oder slow onset events widerfahren könnte.7

Wir bekommen es an dieser Stelle mit einem Verständnis von Risiko zu tun, das sich zu jenem von Ulrich Beck unterscheidet. Becks sozialkonstruktivistischer Begriff referiert auf soziale Pro-zesse hinsichtlich eines Strukturwandels und der gesellschaftlichen Perzeption von Gefahren. Im Sinne Becks mögen Gefahren objektiv vorhanden sein, dennoch stellen sie kein Risiko dar, solange sie nicht innerhalb der Gesellschaft thematisiert werden. Damit wird Risiko als Ergebnis gesellschaftlicher Perzeption und anschließenden Entscheidungen und Handlungen verstanden. Ist eine soziale Gruppe einer Gefahr ausgesetzt, sie diese jedoch weder wahrnimmt noch richtig interpretiert, ist sie hochgradig verwundbar. Im Folgenden steht Risiko hingegen im unmittel-baren Zusammenhang mit Schäden und Verlusten. Anhand dieses Risikoterminus – der unter anderem in den angrenzenden Bereichen der internationalen Entwicklungsstudien Verwen-dung findet – wird versucht, Ursache und Wirkung von Gefahrenereignissen zu analysieren. Es gibt durchaus Verbindungen zwischen beiden Risikobegriffen. Eine Gefahr muss gesellschaft-lich erst als Risiko bewertet werden, um sich den Ursachen und Wirkungen zu widmen. Weiter nähert sich der nun eingeführte Risikobegriff der soziologischen Gesellschaftsstudie Becks an, wenn Lebensbedingungen, die von Gefahren geprägt sind, in einem breiteren Kontext einer Gesellschaftsentwicklung hinterfragt werden. Die Thematisierung von Gefahren ist somit eine Vorbedingung einer erfolgreichen Lebenshaltung.

Wir wollen uns zunächst mit den Faktoren beschäftigen, die für die Analyse von Gefahren-ereignissen und ihren Auswirkungen in der Gesellschaft verwendet werden. Wenn Risiko als Messgrößte für potentielle Schäden und Verluste verstanden wird, wird Risiko üblicherweise als eine sich aus drei verschiedenen Variablen bildende Funktion ausgedrückt: Hazard , Exposure, Vulnerability . Daraus geht folgende Formel hervor:

R1: Risk = Hazard * Vulnerability * Exposure 3.2.1 Das Ausgesetztsein einer Gefahr: hazard und exposure

Jährlich sind etwa 200 Millionen Menschen von verschiedensten Naturereignissen betroffen. Während die Anzahl der Todesopfer in den letzten Jahrzehnten abgenommen hat, steigen hin-gegen die volkswirtschaftlichen Schäden an.8 Primärer Auslöser für solche Auswirkungen ist zunächst das Auftreten eines Gefahrereignisses ( hazard ). Das Gefahrenereignis muss grund-sätzlich nicht ein natürliches, sondern kann ein vom menschengemachtes sein, das zum Beispiel einen technischen oder chemischen Hintergrund hat. Das UNISDR definiert hazard in seiner Terminologie als „[e]in gefährliches Phänomen, eine Substanz, eine menschliche Aktivität oder eine Bedingung, die Lebensverlust, Verletzungen oder andere gesundheitliche Auswirkungen, Eigentumsschäden, Verlust der Lebensgrundlage und Leistungen, soziale und wirtschaftliche Störungen, oder Umweltschäden verursachen kann“9. In dieser Arbeit betrachten wir die Phä-nomene, die als hydrologische (Überschwemmungen, Lawinen, Erdrutsche), meteorologische (Stürme) und klimatologische (Extremtemperaturen, Dürren, Waldbrände) Ereignisse kate-gorisiert werden und deren Auftreten sowie Intensität vom Klimawandel beeinflusst werden. In der Debatte über die Auswirkungen des Klimawandels wird häufig lediglich das extremere Auftreten von diesen Ereignissen aufgrund klimatischer und atmosphärischer Veränderungen thematisiert. Dabei bleibt jedoch ungeachtet, dass oftmals die vom Menschen hervorgerufene Umweltdegradation ein zusätzlicher Faktor darstellt, warum diese Ereignisse letztendlich dra-matische Dimensionen erreichen. Des Weiteren kann Umweltdegradation, die aus natürlichen ökologischen Veränderungen, menschlichem Wirtschaften sowie im Zuge eines Bevölkerungs-wachstums resultiert, selbst ein hazard sein.

Fallen die Auswirkungen, die aus dem Auftreten der genannten Extremphänomene hervorge-hen, beträchtlich aus, wird das Gesamtereignis meist als Naturkatastrophe umschrieben. Aller-dings resultiert die gefährliche Dimension des Auftretens solcher Ereignisse aus dem Umstand, dass sie für den Menschen eine Gefahr darstellen, da sie in das Leben einer Gemeinschaft oder Gesellschaft einbrechen. Eine Lawine oder Überflutung fernab der Zivilisation stellt kaum eine Gefahr für ein soziales System dar. Dies bedeutet, dass der Begriff ‚Naturkatastrophe‘ die Situa-tion ungenügend beschreibt bzw. auf ein unzureichendes Verständnis verweist. Tropische Stür-me, Überschwemmungen, Dürren oder Massenbewegungen, welche den scheinbaren Anstoß für eine Katastrophe geben, sind natürliche Phänomene, auch wenn wir ihnen die Dimensionen des Extremen zuordnen. Für die Natur selbst stellen diese Extremphänomene nur bedingt eine Katastrophe dar.

Dies führt zu dem folgenden Faktor, dass ein hazard nur ein Risiko darstellen kann, wenn man diesem potentiell ausgesetzt ist, man folglich eine Exposition diesem gegenüber aufweist – im englischen Fachjargon ist von exposure die Rede: „Menschen, Eigentum, Systeme oder andere Elemente, die in gefährlichen Gegenden ( hazard zones ) anwesend sind, die dadurch Subjekt von Verlusten sind.“10 Etwas umfangreicher beschreibt das IPCC in einem Sonderbericht exposure :Betrachtet man diese Definition genauer, lassen sich verschiedene Einflussgrößen für exposure erkennen. Zunächst (1)  räumlich , da das Ausgesetztsein sich in erster Linie auf den Aufenthalt von Menschen oder das Vorhandensein konkreter und abstrakter Bauten bzw. Güter in einem bestimmten Ort bezieht; weiter (2)  zeitlich , da beispielsweise gewisse Landstriche in gewissen Jahreszeiten von Gefahrenereignissen heimgesucht werden (beispielsweise Fluten in tropischen Regionen zur Regenzeit); und (3)  human bzw. sozial , da gewisse Bevölkerungsgruppen, wie Kin-der, Senioren und Frauen, aber auch marginalisierte Gruppen, gewissen Gefahrenereignissen stärker ausgesetzt sind. In der Regel werden allerdings (2) und (3) den Faktoren hazard bzw. vulnerability zugeordnet.

Der am häufigste auftretende Umstand betreffend exposure ist ungeeigneter Siedlungsbau bzw. das Bauen ohne vorherrschende Umweltgegebenheiten zu berücksichtigen. Wird Wohn-raum an steilen, kargen Hängen erschlossen, erhöht sich das Risiko gegenüber Lawinen und Erdrutschen. Wird der Raum entlang von Flüssen und Seen bebaut, erhöht sich zwangsläufig die Gefahr einer Überschwemmung. Folgendes Beispiels aus Nepal veranschaulicht dies: Zwischen 2004 und 2009 siedelten sich 200 Haushalte an einem Flussufer an. Die neue Siedlung bestand hauptsächlich aus Wellblechhäusern. Dieses Gebiet war jedoch bereits vor der Ansiedlung an-fällig gegenüber Hochwasser, unter anderem während der Monsunregenzeit, wenn Regenfälle stärker und häufiger auftreten. Mit ihrem Zuzug in ein Überschwemmungsgebiet setzten sich die Menschen somit einer Gefahr aus. Wurde das Hochwasser vor dem Siedlungsbau lediglich als Hochwasser eingestuft, verband man die auftretenden Fluten mit Beginn des Siedlungsbaus plötzlich mit einem Katastrophenereignis.12

Exposition kann sich verschärfen, falls in einer Gemeinde keine oder nur unzureichende Evakuierungspläne und Frühwarnsysteme vorliegen. Hierdurch intensiviert sich das Verhält-nis von Eintritt eines Extremereignisses und diesem gegenüber ausgesetzt sein. Des Weiteren fällt die Exposition regional meist unterschiedlich aus, selbst innerhalb eines größeren Stadtge-biets. Urbane Randbezirke sind häufig anfälliger gegenüber Extremereignissen und mit weniger Schutzmaßnahmen ausgestattet im Vergleich zum Stadtzentrum. In den Randgebieten urbaner Ballungsräume hausen häufig gesellschaftlich marginalisierte Gruppen und ärmere Menschen, da ihre ökonomischen Möglichkeiten begrenzt sind, Wohnraum innerhalb der Stadt zu erwer-ben.13 Besonders in weniger entwickelten Ländern weisen die Randbezirke von Ballungsräumen häufig nicht nur mangelnde Schutzmaßnahmen auf, sondern sind von einer generell schwachen Infrastruktur und dürftigen, unsicheren Siedlungsbau geprägt. Diese soziale Komponente der Exposition führt uns zur nächsten Variablen, zur (sozialen) Vulnerabilität von Gruppen und Gemeinden. 3.2.2 Vulnerabilität

Vulnerabilität gilt nicht nur als die ausschlaggebendste Variable hinsichtlich des Ausmaßes eines Risikos, sie bietet auch am meisten Interpretationsspielraum. Ein Entwicklungshelfer mag sie als die Wahrscheinlichkeit sehen, in Armut zu geraten, ein Wirtschaftswissenschaftler wiede-rum verbindet sie mit möglichen Einbußen des BIPs oder des Einkommens. Eine einheitliche Definition von Verwundbarkeit gibt es nicht, darum sollen im Folgenden ein paar Definitionen analysiert werden.

Die Bedeutung der Variable für das Gesamtrisiko und ihr Zusammenwirken mit der Variable Exposition, lässt sich beispielsweise anhand der japanischen Hauptstadt aufzeigen. Tokio be-findet sich in einer Region, in der das Auftreten von Erdbeben aufgrund des Zusammentreffens tektonischer Platten äußerst hoch ist. Über die Jahre hat die Regierung viele Strukturmaßnah-men gefördert, um auf die Erdbebengefahr zu reagieren und sich demgegenüber anzupassen. Die Wahrscheinlichkeit eines Eintretens eines Erdbebens ist nach wie vor hoch – die Variab-len hazard als auch exposure sindfolglichgegeben. Mit einem professionellen Frühwarnsystem konnte allerdings die Exposition verringert werden, und die umgesetzten Strukturmaßnahmen lassen die Vulnerabilität so weit senken, dass das Erdbebenrisiko weitaus geringer ausfällt.

Gesellschaftliche Umstände stellen meist den ausschlaggebenden Faktor dar, warum Extrem-ereignisse einen hohen Verwüstungsgrad bewirken. Da der Eintritt eines natürlichen Gefah-renereignisses normalerweise nicht zu verhindern ist und es nur begrenzte Möglichkeiten gibt, exposure zu reduzieren, ist es folglich die Hauptaufgabe, Vulnerabilität so weit zu senken, damit das Risiko gegenüber Verlusten und Schäden durch extreme Phänomene geringer ausfällt. Ver-wundbarkeit ist allerdings kein Faktor, der sich objektiv eindeutig bemessen lässt. Er ist ein Komplex aus verschiedenen Komponenten wie Umwelt und Ökonomie, Infrastruktur, sozialen Faktoren, Gesundheitsversorgung oder Wohnbedingungen.

Wir wollen zunächst eine Definition von Paul Shaffer zu Vulnerabilität betrachten, die veran-schaulicht, dass Definitionen sehr speziell ausfallen können. Shaffer verbindet mit Vulnerabilität nicht die gesellschaftlichen Bedingungen im Zusammenhang mit einem technischen, chemi-schen oder ökologischen Extremfall. In einem Bericht über Strategien zur Armutsreduzierung beschreibt er Verwundbarkeit als einen wesentlichen Faktor im Hinblick auf Armut:

Für Shaffer bedeutet Vulnerabilität die Wahrscheinlichkeit, in Armut bzw. in noch größere Ar-mut zu fallen. Für den Autor hat Vulnerabilität demzufolge eine klare menschliche Dimension. Die Verschlechterung der Lage ( downside risk ) kann durch einen Stress oder Schock entstehen. Ersteres verläuft allmählich zunehmend und setzt graduell ein, Letzteres plötzlich und unvor-hergesehen. Unabhängig von dieser Definition, lassen sich beide Begriffe ebenfalls auf Klimaer-eignisse beziehen. Extremereignisse wie Überschwemmungen, tropische Stürme oder Lawinen setzen plötzlich ein und können die Lage eines Systems innerhalb kürzester Zeit verschlechtern. Folglich sind sie als Schocks anzusehen. Man denke hierbei an die Kategorie sudden onset events oder auch an intensive Ereignisse . Ein Stress wiederum beschreibt schleichende Umweltverän-derungen (Desertifikation, Meeresspiegelanstieg, Umweltdegradation) und versetzt ein System unter zunehmenden Druck indem beispielsweise Wasser- und Nahrungsreserven knapper wer-den. Stress kann als Synonym für langsam einsetzende oder für extensive Ereignisse gesehen werden. Shaffer sieht Vulnerabilität als Funktion zweier Variablen: Response und Exosure. Res- ponse ist die Reaktiondes Systems auf die Verschlechterung derLage,also die Reaktion auf das Hineingeraten in (größere) Armut. Dies umfasst die Fähigkeit eines Systems, sich von einem Schock oder Stress zu erholen. Hinzu kommt die Exposition eines Gefahrenmoments. Exposure wird hier folglich in die Definition von Vulnerabilität integriert. Shaffer sieht exposure somit nicht unabhängig, wie es in der Formel R1 ‚Risiko=Gefahrenereignis*Verwundbarkeit*Exposi-tion‘ dargestellt wird, sondern der Fakt, dass man einem Schock bzw. Stress ausgesetzt ist, be-wirkt nach Shaffers Verständnis Vulnerabilität.

Ohne in seiner Definition näher auf die Gründe, die möglichen Auslöser von downside risk ,einzugehen, eröffnet Shaffer das komplette Feld von denkbaren Gefahren. Etwaige Katastro-phen wie Kriege, Konflikte, Wirtschaftskrisen oder der Tod eines Familienangehörigen, der maßgeblich zur Versorgung der Familie beigetragen hat, sind als Auslöser des Abwärtstrends vorstellbar. Shaffers Definition ist somit einerseits sehr allgemein gehalten, andererseits je-doch sehr stark eingeschränkt, da Armut die alleinige Referenz darstellt. Demnach gelten hier ein System, eine Gruppe oder eine Person als verwundbar, wenn der Sturz der Betroffenen in (größere) Armut mündet. Armutsbekämpfung ist eine wesentliche soziale Aufgabe und bildet beispielsweise den allerersten Punkt der nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs). Um aber zu erklären, warum ein System Verluste und Schäden erleidet, reicht die Definition Shaffers nicht weit genug.

Der Sachstandsbericht des IPCC eröffnet ein anderes Verständnis von Vulnerabilität. Ent-sprechend des Aufgabengebiets des IPCC, bezieht sich die Definition auf klimatische Verände-rungen:

Zunächst bezieht das IPCC Verwundbarkeit auf Systeme, nicht auf Menschen. Verwundbar-keit ist das Maß, zu dem Systeme gegenüber verschiedenen Klimaveränderungen- und auswir-kungen anfällig sind. Es wird folglich nicht mehr von Wahrscheinlichkeit gesprochen, dass ein Subjekt (hier ein System) gegenüber etwas anfällig ist, sondern das Maß der Anfälligkeit. Vul-nerabilität wird hier als Funktion der Charakteristika eines Klimaphänomens (Art, Ausmaß, Geschwindigkeit), die Tatsache, dass das System diesen ausgesetzt ist und letztendlich die Fähig-keiten des Systems, mit diesem Klimaphänomen umzugehen ( response ), verstanden. Wir finden hier zwei wesentliche Faktoren: einen externen Faktor, der die Charakteristika des Klimaphäno-mens beschreibt und einen internen, nämlich die Schwierigkeit oder Unfähigkeit (Sensitivität und Anpassungskapazität) eines Systems, mit den Klimaveränderungen umzugehen. Auch die Definition des IPCC impliziert Teile der Formel R1. So sind die Naturphänomene mit ihren Eigenschaften letztendlich der Faktor hazard und der Umstand, dass ein System Klimaänderun-gen ausgesetzt ist, exposure . Nur der interne Faktor beschreibt näher die systemeigenen Eigen-schaften, warum gerade ein System mehr oder weniger verwundbar ist.

Durch die ausschließliche Beziehung auf Systeme und die Verbindung zu negativen Klima-änderungen, ist es naheliegend, dass das IPCC hier die Priorität auf Ökosysteme legt. Ein Bezug auf das im UNFCCC unter Art. 2 formulierte Ziel, dass eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert werden soll, ist offensichtlich. Dabei soll die Treibhausgaskonzent-ration in der Atmosphäre innerhalb eines Zeitraums auf solch einem Niveau stabilisiert werden, „damit sich die Ökosysteme auf natürliche Weise den Klimaänderungen anpassen können […]“. Die Definition des IPCC sieht die gefährlichen Auswirkungen der Klimaänderungen und re-feriert auf die ungenügenden Kapazitäten von ökologischen Systemen und deren Sensitivität. Sensitivität wird als systemeigene Eigenschaft erwähnt, die grundlegend ist, warum ein System verwundbar gegenüber äußeren Klimaeinflüssen ist.

Die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit GmbH (GTZ), heute der Deut-schen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH angehörend, spricht statt Vulnerabilität von Katastrophenanfälligkeit. Der Fokus wird somit auf jegliche katastrophischen Ereignisse gelegt, die einem System widerfahren können. Damit referiert die Definition auf die Verfassung eines gesellschaftlichen Systems.

Die Katastrophenanfälligkeit bezieht sich hier auf den Umgang mit dem Ereignis ( response ). Vulnerabilität werden hierbei drei Dimensionen zugeschrieben: eine externe (von außen her-angetragene Bedrohungen), eine interne (internes Unvermögen mit Bedrohungen umzugehen, also fehlende Bewältigungsstrategien) sowie eine zeitliche (das Unvermögen, sich schnell wieder von den Schäden zu erholen).17 Im Kern bedeutet Verwundbarkeit (bzw. Katastrophenanfällig-keit), dass ein System aufgrund seiner internen Verfassung nicht angemessen auf ein Ereignis reagieren kann, wodurch schlimmere Folgen nicht abgewendet werden können, sich vor diesen zu schützen sowie sich von diesen zeitnah zu erholen. Dabei können die Ereignisse plötzlich, spontan oder schleichend eintreten. Auch hier wird nicht genau differenziert, worin die Schwä-che des Systems besteht, allerdings widmet sich die Definition der Systemeigenschaft, indem sie eine interne und zeitliche Dimension beschreibt.

Eine knappe Definition von Verwundbarkeit liefert das UNISDR. Hier finden wir letztend-lich eine Umschreibung der Eigenschaften des Systems, mit seinen verschiedenen Faktoren und Prozessen, aus denen sich die Anfälligkeit des Systems ergibt. Vulnerabilität wird hierbei als Komplex verschiedener gesellschaftlicher Umstände geschildert:

Das UNISDR bezieht Vulnerabilität auf physische (z. B. Bauten) sowie auf soziale, ökonomi-sche und ökologische Faktoren bzw. Prozesse. Damit benennt das UNISDR jene Größen, die unter anderem einem sozialen, menschlichen System zugehörig sind. Anders als bei vorherigen Definitionen, werden diese Größen in Verbindung mit der Anfälligkeit ( susceptibility ) einer be-troffenen Gruppe gebracht. Ihr Einfluss auf die Anpassungskapazität wird nicht weiter erwähnt. Des Weiteren wird die Anfälligkeit gegenüber keinem Ereignis abgegrenzt. Damit sind sowohl natürliche Extremereignisse, die von außerhalb der Gemeinschaft ihren Ursprung haben kön-nen, sowie systemeigene wie Krisen oder Bürgerkriege abgedeckt. Aufgrund der Referierung auf systemeigene Größen, auf denen Anfälligkeit gründet, bekommt die Definition des UNISDR eine soziologische Reichweite, da verdeutlicht wird, dass der Grund einer Katastrophe im Zu-stand einer Gesellschaft zu finden ist und nicht ausschließlich bei externen Größen.

Verfolgen wir diesen Gedanken über die Anfälligkeit, die sich aus sozialen, ökonomischen und ökologischen Faktoren bzw. Prozessen bildet (physische Faktoren wollen wir ausklam-mern), weiter, kommen wir zu dem Ergebnis, dass Vulnerabilität als ein dynamischer Faktor verstanden werden muss. Denn die genannten Komponenten werden nicht starr miteinander verflochten sein, sondern sowohl innerhalb des sozialen, ökonomischen und ökologischen Be-reichs wird es unterschiedliche Wirkungen gegenüber unterschiedlichen Ereignissen geben, als auch verschiedene Zwischenwirkungen unter den Bereichen als Reaktion auf diverse Ereignisse. Dies kann wiederum bedeutet, dass das System mit seinen Komponenten nicht ganzheitlich an-fällig sein muss. So können beispielsweise ökologische Faktoren und Prozesse gegenüber einem bestimmten Ereignis anfälliger sein als soziale oder umgekehrt. Dennoch hängen die einzelnen Bereiche zu bestimmten Graden voneinander ab. Eine schlimme Dürre wird sich nicht nur auf ökologische Prozesse auswirken. Wenn sie Ernten dezimiert, haftet ihr ein ökonomischer Faktor an, ebenso ein sozialer, wenn bestimmte Gruppen besonders schlimm von ihr betroffen sind. Unter die soziale Sphäre lassen sich Faktoren wie Wohlstand, Bildung, Berufsstand, Wohlerge-hen und Gesundheit, ebenso Geschlecht, Alter, gesellschaftliche Klasse, Ethnie, Immigrations-status (‚legal‘ oder ‚illegal‘) und das Eingebundensein in soziale Netzwerke zählen. Jene Faktoren sind mitentscheidend, wie verwundbar eine Person oder eine soziale Gruppe ist. Aufgrund der Eigenschaften oder Zugehörigkeit, weisen soziale Gruppen unterschiedliche Grade an Ver-wundbarkeit gegenüber bestimmten Ereignissen auf (soziale Vulnerabilität). Je nach sozialen Umständen besitzen die Mitglieder Kapazitäten zum Antizipieren, Bewältigen, Erwehren und Erholen von Gefahrenereignissen.19

Ben Wisner lässt diesen Umstand in seiner Definition von Verwundbarkeit miteinfließen. Die Anfälligkeit gegenüber Gefahrenereignissen wird bei ihm durch soziale Eigenschaften und Fä-higkeiten von Individuen oder Gruppen charakterisiert:

Durch das Setzen der Verwundbarkeit in Abhängigkeit der Eigenschaften einer Person oder Gruppe, wird impliziert, dass Individuen oder Gruppen nicht alle gleich anfällig und verwund-bar gegenüber bestimmten Ereignissen sind, folglich auch nicht jeder mit den gleichen Verlus-ten, Schäden und Leiden im Notfall leben muss.

Wisner erwähnt darüber hinaus, dass sich Verwundbarkeit aus dem Zusammenwirken von lebensbestimmenden Komponenten einer Person bildet: „It involves a combination of factors that determine the degree to which someone’s life, livelihood, property and other assets are put at risk by a discrete and identifiable event (or series or ‚cascade‘ of such events) in nature and in society.“21

Wisner setzt die Verfassung, die Charakteristika des Systems, einem externen Gefahrener-eignis gegenüber. Die systemeigenen Eigenschaften entscheiden, wie sehr der Mensch in der Lage ist, Gefahrenereignisse zu antizipieren, sie zu bewältigen, ihnen zu widerstehen und sich von ihnen zu erholen. Diese Fähigkeiten werden in der Literatur häufig unter dem Begriff der Widerstandfähigkeit (Resilienz) zusammengefasst. Das UNISDR definiert Resilienz hinsichtlich natürliche Extremereignisse beispielsweise wie folgt:22

Das UNISDR versteht unter Resilienz den Folgen von Gefahrenereignissen zu widerstehen ( to resist ), sie zu mildern ( to absorb ), sich ihnen gegenüber entsprechend anzupassen ( to accommo- date ) und sich von ihnen zu erholen ( to recover ), und dies zeitnah und effizient. Die Grundlage, dies zu ermöglichen, ist das Vorhandensein von Mitteln, Wissen und Kapazitäten, damit Maß-nahmen und Umstrukturierungen umgesetzt werden können. Dies einem jeden Land zu er-möglichen, ist laut der Zielformulierung des UNFCCC das Ziel, das durch internationale Unter-stützung erreicht werden soll. Gefahrenmomente und gesellschaftliche Gegebenheiten müssen analysiert werden, um anschließend eine Verbesserung der Situation mit Katastrophenvorsorge und der Anpassung an klimatische und ökologische Veränderungen zu erzielen. Oftmals setzt die Analyse erst mit dem Eintritt einer Katastrophe ein, zum Unglück der Betroffenen. Der Wie-deraufbau bereitet dann allerdings die Möglichkeit, zuvor existierende Fehler zu beheben und die Verwundbarkeit zu reduzieren. Solch ein Wiederaufbau kann sich über Monate bis Jahre erstrecken.24

Nachdem nun ein paar Definitionen dargestellt wurden, lässt sich zusammenfassen, dass bei der Festlegung der Verwundbarkeit der Zustand eines Systems, einer Gruppe oder eines Menschen dem Eintritt eines Ereignisses gegenübergestellt wird. Der Zustand des Systems ist mitentscheidend, wie hoch das Ausmaß des Unglücks ausfällt, bzw. ob überhaupt ein Unglück entsteht. Vulnerabilität hat demnach einen intrinsischen Charakter. Über was sich genau die De-finition erstreckt, hängt letztendlich von der Institution und dem wissenschaftlichen Bereich ab. Das Katastrophenrisikomanagement verfolgt beispielsweise umfangreichere Ziele als lediglich die Armut zu reduzieren und berücksichtigt menschliche, gesellschaftliche Komponenten von Vulnerabilität. Die Klimaforschung arbeitet hingegen mit einer biophysikalischen Definition, das heißt, dass der Fokus auf die Anfälligkeit und die Anpassungskapazität eines naturwissen-schaftlichen Systems gegenüber dem Klimawandel und seinen negativen Auswirkungen gesetzt wird.25

Neben dem Verständnis, ob dieses sozial oder biophysikalisch geprägt ist, kann weiter die Reichweite von Verwundbarkeit variieren. Ausgehend von einem intrinsischen Charakter der Vulnerabilität im System, das sich aus den Bedingungen, die innerhalb einer Gruppe oder eines Systems vorzufinden sind, ableitet und die über die „internal side of risk“ bestimmen, lassen sich nach Jörn Birkmann weitere Kreise ziehen, je nachdem, was unter Verwundbarkeit gefasst werden soll.26

Wenn wir uns Abbildung 2 anschauen, sehen wir als zweite Sphäre das Verständnis, Vulne-rabilität als die Wahrscheinlichkeit zu betrachten, mit der man ein Ereignis ausgesetzt ist. Wir können hier Shaffers Definition einordnen, der in seiner Definition von der Wahrscheinlichkeit in Armut oder in noch größere zu fallen spricht. Eine auf den Menschen ausgerichtete ( human centred ) Definition muss allerdings nicht speziell ausgerichtet sein. Durchaus kann sich eine hu- man-centred -Definition von Vulnerabilität auf die Wahrscheinlichkeit beziehen, Verletzungen, Tod, Verluste und Unterbrechungen der Lebensgrundlage während eines Extremereignisses zu erfahren.27

Abbildung 2: Key spheres of the concept of vulnerability. Aus: Birkmann 2005.

Die weiteren hier analysierten Definitionen waren umfassender und verstanden Verwundbar-keit nicht nur als eine Wahrscheinlichkeit, mit einem Gefahrenereignis konfrontiert zu werden, sondern bezogen die Verwundbarkeit auf die Anfälligkeit. Dies bedeutet, der Zustand eines Sys-tems oder einer Gesellschaft an sich wurde zunächst berücksichtigt. Zusätzlich wurde der inter-ne Zustand einem hazard event gegenübergestellt . Dies eröffnet die Frage, wie ein System mit dem Ereignis umgehen und sich von den Schäden erholen kann. So umfasste die Definition der GTZ über Katastrophenanfälligkeit zunächst die unzureichende Fähigkeit, sich von den außen kommenden Ereignissen zu schützen; ebenso die fehlende Fähigkeit sich schnell von diesen Er-eignissen zu erholen. Wir bewegen uns mit dieser Definition weg vom ausschließlichen human- centred -Verständnis und erreichen den dualistischen Ansatz, indem die Anfälligkeit ( susceptibi- lity ) um die Fähigkeit mit einem Schock oder Stress umzugehen ( coping capacity ) erweitert wird.

Um das Risiko des Klimawandels zu bewerten, stellt der dualistische Ansatz von Verwund-barkeit jedoch immer noch ein zu enges Bild dar. Gerade im Hinblick auf das Zusammenwirken von Klimawandel und Nachhaltigkeit reicht die Unterteilung in Anfälligkeit und Erholungs-kapazitäten nicht aus. Verwundbarkeit gegenüber den Auswirkungen des Klimawandels cha-rakterisiert sich neben der Wahrscheinlichkeit gefährlicher Auswirkungen und der Fähigkeit sich davon zu erholen durch die vielfältigen Auswirkungen, die in weite Teile des menschlichen Lebens dringen (Soziales, Ökonomie, Ökologie). Hinzu spielen die Anpassungsbedingungen eine Rolle. Diese Bedingungen sind es, die in Projekten unter NAPA ( National Adaptation Pro- grammes of Action ), NAP ( National Adaptation Plan ) oder dem Sendai Framework for Disaster Risk Reduction analysiert werden, um Vulnerabilität gezielt zu verringern.

Im Hinblick auf Klima- und Umweltfolgen lässt sich Verwundbarkeit nicht auf äußere (ge-fährliche Auswirkungen, die durch Veränderungen im Klimasystem entstehen) und innere Umstände (Anfälligkeit und Anpassungskapazität) beschränken. Dies wird besonders deutlich, wenn man berücksichtigt, dass menschliche Aktivitäten die Intensität des Eintretens eines Ext-remereignisses beeinflussen, sei es, da ausgestoßene Emissionen die Zusammensetzung der At-mosphäre verändern oder da menschliche Aktivitäten direkte Änderungen in der umliegenden Umwelt in Form von Degradation hervorrufen. Die Zwischenwirkung von Umwelt und Gesell-schaft wirkt sich letztendlich auf die Verwundbarkeit aus. „Die Vulnerabilität eines Individuums oder einer Gruppe gegenüber dem Klimawandel oder klimainduzierten Katastrophen wird […] durch ein komplexes Feld von sozialen, ökonomischen, politischen und ökologischen Faktoren beeinflusst, die auf unterschiedlichen Ebenen wirken, die in Kombination Vulnerabilität be-einflussen.“28 Übernutzung, falsche Nutzung von Ressourcen, umweltfeindliche Praktiken und fehlende Anpassungs- sowie Vorsorgestrategien sind Faktoren, die Verwundbarkeit beeinflus-sen. Nicht nur der Eintritt eines natürlichen Extremphänomens stellt die Gefahr dar, sondern die Wurzel findet sich im menschlichen Bereich. Die Bedingungen einer Katastrophe, eines Un-glücks oder einer Notsituation liegen innerhalb der Gesellschaft.

Dieses Grundverständnis hat sich über die letzten Jahrzehnte allmählich manifestiert. Die Gründung und Etablierung von neuen Institutionen (z. B. UNFCCC, UNISDR) oder die Her-ausgabe von Berichten (z. B. Brundtland-Bericht zur nachhaltigen Entwicklung, UNDP-Report zur menschlichen Sicherheit), die in ihrer Arbeit und ihrem Inhalt den Menschen als Mittel-punkt sehen, steuerten zu diesem Fokuswechsel bei. Das Verwundbarkeitsverständnis verviel-fältigte sich dabei. Man bewegte sich weg von der primär physikalischen Strukturanalyse, hin zu einer breiten, interdisziplinären Analyse eines mehrdimensionalen Konzepts.29

Im Hinblick auf Klimafolgen und die Tatsache, dass menschliche Aktivitäten katastrophische Entwicklungen bewirken, sollte eine geeignete Verwundbarkeitsdefinition in den beiden äuße-ren Sphären von Birkmanns Abbildung zu finden sein. Die Defintion von Wisner und die des UNISDR entsprechen solch einem breiteren Verständnis. Unter Berücksichtigung der von Wis-ner und des UNISDR erwähnten Bedingungen und Elemente, könnte eine möglich umfassende Vulnerabilitätsdefinition wie folgt aussehen:

Mit der Klärung der Variablen hazard, exposure und vulnerability steht die Formel R1 in einem deutlicheren Licht dar und der Begriff des Risikos ist klarer verständlich. Trotz der Analyse der einzelnen Variablen, bleibt dieses Risikoverständnis einfach, bildet sich Risiko doch aus einem gesellschaftlichen Prozess heraus, nicht aus starren gesellschaftlichen, nebeneinander existieren-den Bedingungen bzw. Variablen. 3.2.3 Risiko

Zum Anfang dieses Kapitels wurde die Formel R1 eingeführt, um vorab ein Verständnis über die Zusammensetzung von Risiko zu haben und um vom Risikobegriff Becks differenzieren zu können. In der Erläuterung über Vulnerabilität hatten wir das Beispiel, dass das Ausgesetztsein eines Gefahrenereignisses im Begriff der Verwundbarkeit mitberücksichtigt wurde. Ist dies der Fall, ändert sich die übliche Formel und ergibt folgendes Ergebnis:

Risk = Hazard * Vulnerability

Diese Formel setzt das Risiko zwei gegeneinander wirkende Kräfte gegenüber: Gefahrenereignis vs. Verwundbarkeit. Wobei exposure in der Verwundbarkeitsvariable mitinbegriffen ist. Auch diese Risikoformel ist in verschiedenen Literaturen vorzufinden. Ebenso lässt sich aus exposure und vulnerability die Anpassungsfähigkeit eines Systems separat auflisten, sodass sich folgende Formel ergibt, mit der ab und zu Risiko dargestellt wird:30

Risk = Hazard * Exposure * Vulnerability

Adaptive Capacity

Exposition und Verwundbarkeit liegen bei dieser Formel wieder separat als Variablen dar. Zu-dem wurde die Anpassungskapazität ( adaptive capacity ), also der Grad zu dem Menschen oder Systeme fähig sind, sich gegenüber Gefahrenereignissen anzupassen, als separater Punkt an-gegeben. Im vorangegangenen Abschnitt wurde dies überwiegend als verwundbarkeitszugehö-render Aspekt angesehen. Wird die Anpassungskapazität separat betrachtet, wird sie im Divisor angesetzt, da sie die Auswirkungen eines Gefahrenereignisses reduziert und sich mindernd auf Risiko auswirkt. Nun ist die Anpassungskapazität ein sehr enger Begriff. In Verwundbarkeits-definitionen, die die adaptive capacity integrieren, findet man in der Regel zusätzlich coping capacities oder die ability to anticipate, recover, absorb etc.All diese Faktoren tragen positiv dazu bei, dass Auswirkungen begrenzt werden. Somit wäre es präziser, wenn nicht ausschließlich von adaptive capacity gesprochen wird, sondern beispielsweise von capacity measures .31

Das Risikokonstrukt wird durch die Wahl der Variablen und den darin beinhalteten Faktoren dargestellt. Wie bereits erwähnt, bleibt das Risikokonstrukt durch solche Formeln simplifiziert. Zwar können die Variablen mit verschiedenen Informationen vervollständigt werden, doch bleibt ein genaueres Verständnis aus, welche Prozesse Risiko zugrunde liegen. Vielmehr findet eine Auflistung an Variablen statt, die nicht konkret verdeutlicht, wie ökonomische, soziale oder ökologische Prozesse gesellschaftliches Risiko bewirken. In der Realität unterliegt dieses Risiko einem dynamischen Prozess. Um dies zu verdeutlichen, sollen zwei Risikomodelle veranschau-licht werden, die diesen prozessualen Charakter genauer aufzeigen. 3.2.3.1 Pressure and Release Model

Zunächst wollen wir uns das Pressure and Release Model (PAR-Modell) von Wisner et al . an-schauen, das auf der Formel Risk = Hazard x Vulnerability basiert.32 Die Zusammensetzung des Risikos aus Gefahrenereignis und Verwundbarkeit veranschaulicht, dass sich ein gesellschaft-liches System in einem Spannungsverhältnis beider Komponenten befindet. Sowohl die Mög-lichkeit, dass ein Extremereignis eintritt, als auch die vorhandene Verwundbarkeit, üben Druck ( pressure ) auf die Mitglieder des Systems aus. Um Risiko zu reduzieren, muss daher entweder das Gefahrenereignis aus der Welt geschafft werden, was nur schwer möglich ist, oder eben die Vulnerabilität muss herabgesetzt werden. Mit anderen Worten: pressure muss im System abge-baut werden. Dieser Prozess wird im Modell als release betitelt.

Abbildung 3: Pressure and Release (PAR) model: the progression of vulnerability.

Aus: Wisner et al. 2004, S. 51.

Im PAR-Modell setzt sich Verwundbarkeit aus drei progressiven Ebenen zusammen: Root Causes, Dynamic Pressures und Unsafe Conditions (Abbildung 3). Als Root Causes gelten unter anderem ökonomische, demographische und politische Prozesse. Diese beeinflussen oder gar bestimmen die Zu- und Verteilung von Ressourcen an verschiedene Gruppen innerhalb der Ge-sellschaft. Ebenso sind unter Root Causes die Stabilität eines Staates zu zählen, worunter das von Polizei und Militär kontrollierte Gewaltmonopol fällt, sowie eine verantwortungsvolle Führung der Regierung, die Wahrung der Gesetze und Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung. Die Ebene Dynamic Pressures beinhaltet alle Prozesse und Handlungen, die die Auswirkungen der Root Causes in Unsafe Conditions wandeln und kanalisieren, sowohl zeitlich als auch räumlich.

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Diese Dynamic Pressures beinhalten Epidemien, rapide Urbanisierung, Abholzung oder gewalt-same Konflikte, beeinflusst von gesellschaftlichen Mangelzuständen. Nach Wisner et al . müssen diese Pressures nicht immer schlecht oder verwundbarkeitsinduzierend sein. Bevor sich eine Verbesserung eines Zustandes einstellt, finden meist zuvor Krisen statt, in gewisser Weise auch Konflikte. Sie können einen Prozess in Gang setzen, der zu gesellschaftlichen Entwicklungen und Fortschritten führt. Bleibt die positive Entwicklung allerdings aus, erreicht die Gesellschaft den Zustand der Unsafe Conditions . Darunter sind jene spezifischen Formen zu verstehen, die die Vulnerabilität einer Bevölkerung in zeitlicher und räumlicher Verbindung zu einem Ge-fahrenereignis ausdrücken. Beispiele wären gefährliche Wohnbedingungen sowie gefährliche Lebensgrundlagen oder der schwierige Zugang zu Ressourcen.33

Letztgenannte Punkte sind besonders in Entwicklungsländern zu beobachten. Dabei sind de-ren Ursprünge tief im sozialen Gefüge und der Struktur der jeweiligen Gesellschaften verankert. Haben gewisse soziale Schichten aufgrund ihres sozioökonomischen Hintergrunds (z. B. feh-lender Zugang zu Bildung aufgrund geringem Einkommen), ihrer kulturellen Herkunft (Migra-tion, Ausgestoßene/Unberührbare/Dalits), ihres Familienstands (Scheidung, Alleinerziehende) oder aufgrund einer körperlichen Beeinträchtigungen kaum Möglichkeiten auf dem Arbeits-markt erfolgreich zu sein, bleibt ihnen oftmals nur jene Arbeit, die sie großen Gefahren aussetzt und die unter schlechten Bedingungen betrieben wird, die darüber hinaus nicht ausreichend entlohnt wird, um mit ihr aus der Armut zu entkommen.34 Aufgrund ihrer ökonomischen und sozialen Lage sind sie gezwungen, Behausungen in katastrophenanfälligen Slums zu beziehen, für die keine Bebauungs- und Siedlungspläne vorliegen, da den verantwortlichen Institutionen die Kapazitäten fehlen, entsprechend auf rasche Urbanisierung und Bevölkerungswachstum zu reagieren.

Wisners et al. dynamische Verständnis vertritt die Vorstellung, dass Verwundbarkeit aus Root Causes und verschiedenen Triebfedern hervorgeht, wobei die Triebfedern Umstände, Entwick-lungen und Prozesse sind, die aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen stammen. Dabei können Hazards die Dynamic Pressures verschärfen. Maßnahmen zur Reduzierung von Ver-wundbarkeit müssen folglich die Abhängigkeiten im dreifachen Aufbau von Verwundbarkeit berücksichtigen. Die Autoren des PAR-Modells räumen ein, dass es in multi-kausalen Situatio-nen und einer dynamischen Umwelt schwierig sein kann, zwischen Kausalzusammenhängen der verschiedenen Dynamic Pressures und den Unsafe Conditions und den Auswirkungen der Root Causes auf Dynamic Pressures zu differenzieren. Beispielsweise stellt die als Dynamic Pres- sure kategorisierterasche Urbanisierung in einigen weniger entwickelten Regionen gar keine Triebfeder für gefährliche Entwicklungen dar, hingegen in anderen Teilen wird sie als eine der Hauptprobleme ausgemacht.35 Die Kategorien müssen folglich im lokalen Kontext betrachtet werden. Trotz der Schwierigkeit einer konkreten Differenzierung, zeigt das PAR-Modell ein Ver-ständnis, dass Risiko aus einem dynamisch gesellschaftlichen Prozess entsteht. Dies beinhaltet die Zwischenwirkungen, die zwischen den gesellschaftlichen Bereichen im Zuge von sozialen, ökonomischen, ökologischen und politischen Veränderungen entstehen. Auf diese Weise be-schränkt sich das Modell nicht auf das reine Wiederfahren einer Gefahr, sondern setzt dieses in einem prozessualen Zusammenhang. 3.2.3.2 BBC Conceptual Framework Model

Heutzutage wird eine nachhaltige Entwicklung in Verbindung zu drei gesellschaftlichen Berei-chen gesetzt: Soziales, Ökonomie und Ökologie. Das BBC conceptual framework Modell, das auf die Arbeit von Bogardi, Birkmann und Cardona zurückgeht,36 setzt Risiko explizit in Zusam-menhang zu diesen drei Sektoren. Damit wird entgegen dem PAR-Modell nicht mit konkreten Defiziten, Missständen oder Krisen gearbeitet, sondern mit einer übergeordneten Einteilung in Soziales, Ökonomie und Ökologie, denen spezielle wie alltägliche gesellschaftliche Zustän-de und Entwicklungen zugeordnet werden können. Mit der konkreten Aufteilung in Soziales, Ökonomie und Ökologie wird darüber hinaus die Idee der Nachhaltigkeit direkt implementiert. Auch das BBC-Konzept ordnet Verwundbarkeit einem Prozess zu, folglich wird auch hier Ver-wundbarkeit dynamisch verstanden. Im Gegensatz zum PAR-Modell sind im BBC-Konzept Be-wältigungskapazitäten ( coping capacities ) und potentielle Interventionsmaßnahmen ( potential intervention tools ) als seperate verwundbarkeitsreduzierende Bereiche integriert.

Vulnerabilität konstituiert sich im BBC-Modell aus sozialen, ökonomischen und ökologi-schen Umständen sowie Prozessen. Solch eine Aufgliederung ermöglich es einerseits Verwund-barkeitsindikatoren dimensionszugehörend zu kategorisieren, andererseits verwundbarkeits-reduzierende Maßnahmen gezielt den einzelnen Bereichen zuzuweisen. Zwischenwirkungen zwischen den Sektoren sollen dabei nicht ausgeschlossen werden. Verwundbarkeit resultiert oftmals nicht aus einer eindimensionalen Krise, sondern erwächst aus den Zwischenwirkungen von Sozialem, Ökonomie und Ökologie. Die Aufgliederung der Verwundbarkeit verdeutlicht darüber hinaus, dass, wenn in den einzelnen Bereichen gezielt die Verwundbarkeit herabgesetzt wird, sich im Endeffekt das gesellschaftliche Gesamtrisiko verringert.

Das BBC-Modell arbeitet mit zwei Stadien von Risiko. Das Stadium t=0 steht für den gesell-schaftlichen Zustand, indem die Katastrophe noch nicht eingetreten ist, also das Risiko noch nicht real geworden ist; im Stadium t=1 ist dasRisiko bzw. die Katastrophe eingetreten und das gesellschaftliche System reagiert darauf. So stehen während einer Katastrophe ( t=1 ) Katastro-phen- und Notfallmanagement im Vordergrund, während beim Stadium t=0 Katastrophenvor-beugung oder Anpassungsstrategien entscheidende Rollen spielen. Das Stadium t=0 ist zudem das Stadium, indem mitigative Maßnahmen geplant und umgesetzt werden, um einen Risiko-anstieg auf langer Sicht vorzubeugen. Durch die Differenzierung zwischen t=0 und t=1 wird all jenen Programmen und Maßnahmen Raum gegeben, die einen gesellschaftlichen Effekt auf Katastropheneintritt sowie Katastrophenverlauf haben.37 Um jedoch letztendlich Risiko wirklich effektiv zu reduzieren, wird nach Birkmann eine Thematisierung dessen im öffentlichen Leben benötigt. Eine Vulnerabilitäts- und damit eine Risikoreduzierung könne nur möglich sein, wenn die Thematisierung und Umsetzung von Maßnahmen in täglichen Entscheidungsprozessen in-tegriert werde.38

Sämtliche Maßnahmen zur Vulnerabilitätsreduzierung sollen innerhalb der Bereiche Sozia-les, Ökonomie und Ökologie analysiert werden. Dies ergibt beispielsweise, dass die ökologische Verwundbarkeit (Biodiversitätsverlust, Umweltdegradation) durch Emissionsregulierungen oder Renaturierung, die soziale (Verlust oder Verschlimmerung von Lebensbedingungen bzw. Gesundheit) durch ein Katastrophenfrühwarnsystem oder generelle Entwicklungsmaßnahmen, oder die ökonomische (physische Schäden und Verluste) durch (Rück-)Versicherungen verrin-gert werden könnte. So wie es in jeder Sphäre Potential gibt, Verwundbarkeit zu reduzieren, gibt es ebenso die Möglichkeit, dass das spezifische (ökologische, soziale, ökonomische) Risiko durch mangelnde oder falsche Strategien zunimmt.

Die Weitsichtigkeit der Autoren zeigt sich unter anderem darin, dass sie die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung und die Reduzierung der Verwundbarkeit verlinken. Ausschlagge-bende Maßnahmen, um Klimafolgen zu reduzieren, reichen bis tief in Entwicklungsstandards. Um dies zu erreichen, muss nicht nur der globale Treibhausgasausstoß verringert werden sowie Adaptation und Katastrophenrisikomanagement betrieben werden, es müssen auch gesellschaft-liche Gewohnheiten wie das Konsumverhalten überdenkt werden. Neben all den Diskussionen zum Klimawandel wird oft die Tatsache vernachlässigt, dass Umweltdegradation ebenso auf menschliches Wirtschaften und Handeln (Abholzung, Chemieabfluss in Gewässer, übermäßige Produktion von Müll, mangelndes Recycling etc.) zurückzuführen ist. Indem das Modell dies durch die Einbringung der ökologischen Sphäre berücksichtigt, verlinkt es gesellschaftliches Le-ben mit seiner Umwelt konkreter als das PAR-Modell, in dem Beispiele von ökologischen Ver-änderungen erwähnt werden. Allerdings verzichtet das BBC-Modell auf eine politische Sphäre, die bei Wisner et al . in Form von institutionellen Kapazitäten und dem politischen System mit-einfließt. Politische Spannungen oder eine mangelnde Funktionsfähigkeit politischer Institu-tionen können durchaus zu erhöhten Risiken führen, sei es durch politische Umstürze oder da Regierungen nicht in der Lage sind, auf Krisen und Missstände entsprechend zu reagieren (mehr hierzu im zweiten Teil).

Abbildung 4: The BBC conceptual framework.

Aus: Birkmann 2006.

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Die weiteren Variablen der Risikoformel R1 exposure und hazard lassen sich ebenfalls im BBC-Modell finden. Hazard ist die Voraussetzung für das Risikomodell. Jedoch beschränkt sich das Modell lediglich auf natürliche Extremereignisse. Reine soziale oder technische Krisen werden im BBC-Modell nicht betrachtet. Exposure bildet die räumliche Komponente neben der dyna-mischen im Konzept. Auch hier gehen die Autoren vom grundsätzlichen Verständnis aus, dass ein System oder Element gefährdet ist, wenn es einem potentiellen Ereignis ausgesetzt ist. Darü-ber hinaus sehen die Autoren in exposure auch den Grad des Ausgesetztseins einer bestimmten Einheit. Neben der Anzahl von Häusern in gefahrenanfälligen Regionen bekommen so bei-spielsweise auch kritische Infrastrukturelemente wie Schulen, die für eine besondere gesell-schaftliche Gruppe stehen, einen Raum. „Demnach ist exposure ein teilweises Charakteristikum von Vulnerabilität“39, wie wir es bereits zu Anfang betreffend exposure erwähnt hatten.

Das BBC-Modell sieht Vulnerabilität als ein Konstrukt ökonomischer, sozialer und ökologi-scher Verwundbarkeit. Ebenso wie einzelne Risikosphären innerhalb der jeweiligen Bereiche angesiedelt sein können, sind Bewältigungskapazitäten sozial, ökologisch oder ökonomisch ge-prägt. Im Hinblick auf die vielfältigen gesellschaftlichen Verflechtungen, die durch den Klima-wandel unter Stress gesetzt werden, erscheint eine Aufgliederung der gesellschaftlichen Ver-wundbarkeit in ökonomische, soziale als auch ökologische Faktoren am treffendsten. Zumal die aktuelle Nachhaltigkeitsdiskussion jene drei Sphären umfasst. Eine Maßnahme gilt als nachhal-tig, wenn sie eine Situation sozial, ökonomisch und ökologisch fördert, ohne einen Sektor dabei zu beeinträchtigen. Nehmen wir das Beispiel des Katastrophenrisikomanagements: Nachdem der Tsunami im Indischen Ozean Ende 2004 verheerende Auswirkungen hervorbrachte, wurde im Januar 2005 im japanischen Kobe von 168 UN-Mitgliedsstaaten mit dem Hyogo Framework for Action ein gemeinsamer Rahmenaktionsplan für die Umsetzung von risikoreduzierenden Maßnahmen von Katastrophen ins Leben gerufen. Darin wurde erklärt, dass Maßnahmen zur Reduzierung des Katastrophenrisikos vollkommen in Programme der nachhaltigen Entwick-lung integriert werden sollen.40 2015, zehn Jahre später auf der Konferenz in Sendai, wurde die-ser Grundsatz nochmals im Rahmenabkommen zur Reduzierung von Katastrophenrisiken be-kräftigt. Eine nachhaltige Entwicklung gilt als unausweichlich, um Risikoreduzierungen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu erzielen.41

In der Praxis ist nach wie vor die simplere Formel R1 die am weitest verbreitete, um Risiko zu veranschaulichen. Denn umfassen zwar das PAR-Modell sowie das BBC-Konzept die inner-gesellschaftlichen Zustände, doch gilt in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit der Grundsatz ‚ keep it simple ‘, um möglichst wirkungsvoll arbeiten zu können.

Neben den vorgestellten Modellen gibt es noch zahlreiche weitere Risikomodelle, doch ba-sieren sie alle meist auf demselben Verständnis, dass Risiko in Abhängigkeit eines Gefahren-ereignisses und von Verwundbarkeit steht.42 Hieraus zeigt sich, dass es im Wesentlichen um die Reduzierung der Verwundbarkeit geht, um die Auswirkungen von Klimafolgen zu senken. Letztendlich unterscheiden sich die einzelnen Modelle hinsichtlich der Natur des x, sofern Risi-ko als eine Gefahr + x ausgedrückt wird.

Trotz der Differenzen unter den Risikobegriffen, wird Risiko als eine Art Gefahr angesehen, die sich negativ auf das menschliche Leben auswirken kann. Ban Ki-moon hat in seiner Rede vor dem UN-Sicherheitsrat den Klimawandel in Zusammenhang mit der Gefährdung des mensch-lichen Lebens gebracht. Daher wollen wir uns nun näher mit dieser Sphäre der Gefährdung be-fassen, wobei wir Bezug auf Sicherheit, Menschenrechte und Entwicklung nehmen, die in ihrem Kern alle auf eine Vermeidung von solch einer Gefährdung ausgerichtet sind.

3.3 Menschliche Sicherheit, Menschenrechte und menschliche Entwicklung: Drei korrelierende Konzepte in Zeiten des Klimawandels

3.3.1 Menschliche Sicherheit als integrierendes Leitmotiv 3.3.1.1 Von Sicherheit zur menschlichen Sicherheit Ähnlich wie bei den Begriffen Risiko und Verwundbarkeit, hat sich kein einheitlicher Sicher-heitsbegriff etabliert. Aufgrund seiner politischen Bedeutung wird der Begriff unter anderem nationalstaatlichen Zielen angepasst, was eine Vereinheitlichung schwierig macht. Lothar Brock lieferte eine wohl unstrittige Annäherung des Begriffs, „wonach Sicherheit die Abwesenheit von Krieg bedeutet, ohne aber mit Frieden gleichgesetzt werden zu können“43. Geprägt durch den Kalten Krieg, verstand man unter Sicherheit ursprünglich den Schutz vor Bedrohungen, die von außerhalb der eigenen Staatsgrenzen zugetragen werden. Mit dem Ende des Kalten Krieges hat der Sicherheitsbegriff jedoch eine Entwicklung vollzogen. Die Unversehrtheit der souverä-nen Nationalstaaten stand nunmehr nicht mehr grundlegend im Vordergrund, sodass Sicher-heit nicht mehr bloß die Wahrung der nationalstaatlichen Integrität gegenüber äußeren Bedro-hungen bedeutete. Es setzte sich – auch durch die Globalisierung befördert – die Erkenntnis durch, „dass Unsicherheit, Instabilität und Gewalt nicht nur durch militärische Aggressionen herbeigeführt werden, sondern komplexe machtpolitische, ökonomische, soziokulturelle und ökologische Ursachen haben können“44. Der „Friedensdiskurs“ wurde somit zu einem „Sicher-heitsdiskurs“.45

Hinsichtlich der Auswirkungen des Klimawandels und entwicklungspolitischen Fragen fällt heute überwiegend der Begriff menschliche Sicherheit statt der große Überbegriff Sicherheit . Mit der Spezialisierung des Begriffs und einer damit denkbar einhergehenden Konkretisierung des Gegenstands, löst sich das Problem einer klaren Begriffsbestimmung allerdings nicht auf. Im wissenschaftlichen Diskurs gibt es weiterhin keine einheitliche Definition der menschlichen Si-cherheit. Auch die Abhandlungen über den Klimawandel als Gefährdungsfaktor der menschli-chen Sicherheit, die vor allem nach dem Sachstandsbericht der zweiten Arbeitsgruppe des IPCC aus dem Jahre 2007 einsetzten, konnten zu keiner einheitlichen Konsensbildung beitragen. Nach Hans Günter Brauch und Jürgen Scheffran liegt die Schwierigkeit, eine klare begriffliche Über-einstimmung zu finden, an der Tatsache, dass das Konzept der human security im wissenschaft-lichen Diskurs als ein alternativ normatives Paradigma angesehen wird. Zudem wird das Kon-zept in diversen Bereichen der Sozialwissenschaften diskutiert, in Entwicklungs-, Friedens- und in geringeren Ausmaßen auch in Umwelt- und Sicherheitsstudien. Viele Realisten ignorieren den Diskurs über die menschliche Sicherheit sogar vollkommen.46

Das Konzept der menschlichen Sicherheit geht auf das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) zurück, das den Begriff in seinem 1994 veröffentlichten Human Development Report einführte. Der beabsichtigte Paradigmenwechsel, der durch die Einführung verfolgt wur-de, kann als konsequente Weiterführung der Entwicklung des Sicherheitsbegriffs verstanden werden, die mit dem Ende des Kalten Krieges einsetzte. Mit der außenpolitischen Entspannung wendete man sich zumindest teilweise vom traditionellen Sicherheitsverständnis ab. Dieses tra-ditionelle Verständnis sieht in Sicherheit den alleinigen Schutz des territorialen Hoheitsgebietes, das heißt, es beschränkt sich auf Bedrohungen und Angriffe, die ihren Ursprung außerhalb des Staatsgebiets haben. Der traditionelle Sicherheitsbegriff wird vom Gedanken geprägt, dass die Staaten in ihrer Außendarstellung auf internationaler Ebene politische Macht, Anerkennung und Unabhängigkeit einfordern. Mit der Entwicklung hin zum Konzept der menschlichen Si-cherheit, änderte sich der Fokus. Es geht nicht mehr primär um die Außendarstellung der Staa-ten, sondern der Blick richtet sich nach innen, auf die Menschen, von denen der Staat seine Legitimität bezieht.47 Mit diesem Fokuswechsel steht nicht mehr der Staat als schadennehmen-de Identität im Mittelpunkt, sondern vielmehr rückt die Not und das Leid der Bürger in den Vordergrund. Der traditionelle Sicherheitsbegriff begann nach dem Kalten Krieg widersprüch-lich zu werden, da mehr Menschen von Krankheiten, Hunger, Bürgerkriegen oder sogenann-ten Naturkatastrophen bedroht werden als von zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen. Überlappen sich diese Krisen, können sie exponentiell anwachsen und in jegliche Bereiche des menschlichen Lebens eindringen. Diese Sichtweise hat zu einer Ausweitung der Sicherheits-begriffs geführt, sodass im Zusammenhang mit der menschlichen Sicherheit von einem breiten Sicherheitsbegriff gesprochen wird, entgegen des engen, traditionellen Sicherheitsbegriffs, der auf den Schutz des territorialen Hoheitsgebietes ausgelegt ist und sich auf gewaltsame, kriegeri-sche Bedrohungen beschränkt.48 Im Zuge der Erweiterung des Begriffs hat sich die Sicherung der Ländergrenzen auf die Sicherung der Lebensgrundlage ausgeweitet. Damit stehen vor allem Probleme wie Armut, Krankheiten und Umweltprobleme im Vordergrund.

Das UNDP postulierte in seinem Bericht, dass die Suche nach Sicherheit im Bereich der Ent-wicklung, nicht der Waffen liege.49 Keines der Hauptziele wie Frieden, Umweltschutz, Men-schenrechte oder Demokratisierung könne erreicht werden, wenn diese nicht im Kontext der nachhaltigen Entwicklung angegangen werden würden. Eine nachhaltige Entwicklung führe aus der Sicht des UNDP zur human security . Dabei müsse ein neues Paradigma für Entwicklung ge-schaffen werden. Die vom Kalten Krieg und des 20. Jahrhunderts geprägte Ansicht müsse sich wandeln. Die Menschen müssten in den Mittelpunkt der Entwicklung gesetzt werden, wie dies ursprünglich der Fall war; nicht mehr ökonomischer Wohlstand, der in unserer heutigen Ent-wicklung längst nicht mehr als bloßes Mittel, sondern fälschlicherweise immer mehr als Zweck angesehen wird. Das UNDP prangerte an, dass Gewinnmaximierung in unserer heutigen Welt relevanter sei als die Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten. Doch müsste der Schutz der Lebenschancen, sowohl heutiger als auch kommender Generationen, und der Respekt vor na-türlichen Systemen, gewahrt werden. Letztendlich setze eine nachhaltige Entwicklung die Prio-ritäten auf Armutsreduzierung, produktive Beschäftigung, soziale Integration und Umweltrege-neration, und zwar auf solch eine Art und Weise, dass gesellschaftliche Anpassungskapazitäten mit der Leistungsfähigkeit der Natur ins Gleichgewicht gebracht werden.

Mit dem neuen Paradigma einer nachhaltigen, menschlichen Entwicklung beabsichtige das UNDP, dass das menschliche Leben als Wert an sich gesetzt wird. Besonders in armen Gesell-schaften ist nicht die Lebensqualität gefährdet, sondern das Leben an sich. Hier setze das Konzept der menschlichen Sicherheit an. Viele Konflikte finden eher innerhalb der Staaten als zwischen den Staaten statt. „Für die meisten Menschen rührt ein Gefühl der Unsicherheit mehr aus den Sorgen über das tägliche Leben her als vor der Furcht vor einem katastrophischen Weltereig-nis.“50 Die Bedrohung eines nuklearen Holocaust hat seit dem Ende des Kalten Krieges deutlich abgenommen. Die Bedrohung globaler Armut ist allerdings existent, sowohl in armen sowie in reichen Ländern, ebenso Hungersnot, Krankheit, Umweltverschmutzung, Drogenhandel, Ter-rorismus, ethnische Auseinandersetzungen und soziale Desintegration.51 Indem menschliche Sicherheit auf den Menschen ausgerichtet werde und nicht länger die territoriale Sicherheit im Vordergrund stehe, sollen menschliche Bedürfnisse und Leid nicht mehr isoliert voneinander betrachtet werden, sondern als ein universelles, untereinander abhängiges Anliegen. Der Wan-del des Sicherheitsbegriffs hat demnach nicht nur zur menschlichen Sicherheit geführt, sondern sozusagen auch zur ‚humanen Sicherheit‘.

Menschliche Sicherheit steht im Wesentlichen für zwei sichere Lebenssituationen: „Erstens soll menschliche Sicherheit als Sicherheit vor chronischen Drohungen wie Hungersnot, Krank-heit und Unterdrückung gesehen werden. Zweitens bedeutet sie Schutz vor plötzlichen und schmerzhaften Störungen im täglichen Leben – ob Zuhause, in der Arbeit oder innerhalb der Gesellschaft.“52 Sinnbildlich für die Erreichung der Ziele stehen zwei Hauptprinzipien: „Freiheit von Furcht“ ( freedom from fear ) und „Freiheit von Not“ ( freedom from want ). Ersteres Prinzip umfasst auch das traditionelle Sicherheitsverständnis, letzteres bezieht sich hingegen auf die ökonomische und soziale Alltagssituation der Menschen. Somit repräsentiert besonders free- dom from want das menschliche Sicherheitskonzept, während der Grundsatz freedom from fear zeigt, dass außerstaatliche Gefährdungen nach wie vor eine Bedrohung der Sicherheit darstellen, nunmehr allerdings im Hinblick auf die menschliche Situation.

Um menschliche Sicherheit zu erreichen, muss insbesondere die alltägliche Lebenssituation der Menschen verbessert werden: „[…] Die Menschen sollten in der Lage sein, sich selbst ver-sorgen zu können: jeder Mensch sollte die Gelegenheit haben, seine aller nötigsten Bedürfnisse zu befriedigen und für seinen Lebensunterhalt sorgen zu können.“53 Dieser Formulierung liegt der Gedanke nahe, dass menschliche Sicherheit mit menschlicher Entwicklung gleichgesetzt wird. Allerdings ist dies nicht der Fall. Vielmehr sind sowohl menschliche Sicherheit als auch menschliche Entwicklung nötig, um eine Verbesserung der Lebenssituation erreichen zu kön-nen. Menschliche Entwicklung ist breiter definiert und steht für die Erweiterung der Wahlmög-lichkeiten der Menschen. Menschliche Sicherheit bedeutet hingegen, diese Wahlmöglichkeiten sicher und frei umsetzen zu können. Beide sind eng miteinander verflochten. Eine Verbesserung in einem Bereich kann die Chancen eines Fortschritts im anderen verbessern. Fehler in einem Sektor können wiederum die Lage im anderen verschlechtern. Sollte in einer Gesellschaft Si-cherheit und Entwicklung disparat vorliegen, könnte dies sogar zu menschlicher Deprivationen führen, bis hin zu Gewalt, sofern sich hierdurch die Lebensverhältnisse drastisch verschlim-mern. Beispielsweise kann die Bevölkerung in autokratisch geführten Staaten ihre vorliegenden Wahlmöglichkeiten meist sicher und frei nachgehen. Allerdings können die Wahlmöglichkei-ten vom Staatsapparat so stark beschnitten werden, dass die menschliche Entwicklung in solch einem Maße gehemmt wird, dass die Bürger einen Ausweg über Demonstration bis hin zu Auf-ständen oder in Revolutionen suchen.

Da das Konzept der menschlichen Sicherheit beabsichtigt, Freiheit von Furcht und Freiheit von Not zu erreichen, lässt sich folglich sagen, dass Furcht und Not die zwei Hauptzustände sind, die menschliche Sicherheit unterminieren – Furcht im Hinblick auf physische Angriff, die sich ein Land ausgesetzt sieht, wodurch die Menschen mit der Angst leben müssen, Opfer eines Anschlags zu werden; und Not hinsichtlich sozialer und ökonomischer Bedingungen, die die Lebensgrundlage des Individuums misslich gestalten. Allerdings auch das tägliche Leben in einem Land, das frei von jeglicher Bedrohung der Staatsgrenzen ist, kann Furcht beinhalten. In Zeiten terroristischer Anschläge hat sich die Furcht nach innen gewendet. Heute muss nicht erst ein Staat einen anderen angreifen, damit Menschen Furcht erleben. Furcht bedeutet auch, sich vor unberechenbareren Wettermustern zu fürchten, wenn hierdurch überlebenswichtige Nahrungsquellen bedroht werden, ebenso sich vor Migration zu fürchten, wenn sie einem als der einzige Ausweg erscheint, einer Gefahr zu entfliehen, vor einem politischen System, das immer radikaler wird, vor zunehmenden Konflikten oder vor zunehmend schlechter werden-den Lebensräumen. Die amerikanische Politologin Judith Shklar meint, dass am Leben zu sein, Furcht zu haben heiße.54 Diese Art von Furcht kann durchaus erdrückender sein als die Furcht vor einem Angriff auf die nationale Sicherheit, der man sich als einzelner ohnehin nur schwer erwehren kann. Darum sollte die Terminologie des UNDP nicht in die irreleiten. Auch wenn von Not gesprochen wird, schließt das nicht aus, dass Furcht als menschliches Empfinden in Zeiten der Not auftritt. 3.3.1.2 Weiterführende Überlegungen zur menschlichen Sicherheit

Unter der Leitung der ehemaligen UN-Hochkommissarin für Flüchtlinge, Sadako Ogata, und dem Wirtschafts-Nobelpreisträger Amartya Sen, wurde das Konzept der menschlichen Sicher-heit im Rahmen der Commission on Human Security (CHS) weitergeführt und konkretisiert. Die CHS verdeutlichte, dass die Staaten weiterhin die primäre Verantwortung für Sicherheit haben, doch genauso wie sie ihrer Bevölkerung Möglichkeiten eröffnen, können sie auch Stör-faktoren schaffen, wie politische und ökonomische Instabilitäten und Konflikte innerhalb der Staatsgrenzen. Oftmals ist dies der Vernachlässigung der staatlichen Sicherheitsverpflichtun-gen geschuldet, freiwillig oder unfreiwillig, weil der Staat aus irgendwelchen Gründen diesen nicht nachgehen kann oder der Staat selbst zur Bedrohung für die eigene Bevölkerung wird. Da es immer komplexer wird, Sicherheit in der heutigen Zeit zu garantieren, muss sich der Fo-kus „von der Sicherheit des Staates zur Sicherheit der Menschen erweitern – zur menschlichen Sicherheit“55. Nach der Kommission beinhaltet human security den Schutz lebensnotwendiger Freiheiten („vital freedoms“). Darunter zählen die zwei bereits vom UNDP definierten Haupt-komponenten Freiheit von Furcht und Freiheit von Not. Die Kommission fügte explizit noch die Freiheit selbstständig zu handeln ( freedom to take action on one’s own behalf ) hinzu. Dies findet sich in der Definition der Kommission wie folgt wieder:

Das UNDP hat mit seinem Bericht 1994 ein neues Konzept der Sicherheit eingeführt, welches das Augenmerk auf den Menschen und sein tägliches Leben richtet und damit auf jene Angele-genheiten, die eine wirkliche Bedrohung der menschlichen Sicherheit darstellen. Die CHS hat versucht dieses Konzept weiter zu konkretisieren und die Frage nach Sicherheit stärker in die Bereiche des täglichen Lebens zu integrieren. Doch die erhoffte Wirkung, hiermit das Konzept in der Debatte weitflächig zu etablieren und zu bekräftigen, blieb aus, eher nahm die Kritik an dem Konzept zu. Einige Verfechter des engen Begriffs lehnten die Arbeit des CHS ab, weil der Sicherheitsbegriff hierdurch nur noch breiter wurde. Indem die Definition weiter ausgelegt wur-de, unterliegt das Konzept der Schwierigkeit, überhaupt eine Abgrenzung zu anderen Themen ziehen zu können. Der Begriff scheint sich über alle politischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Themen zu spannen. Der Begriff strebt an, fast alles zu erklären, aber erreicht in seiner Bestrebung nichts dergleichen. Hierdurch verliere er laut den Kritikern seine politische Anwendbarkeit.57

Neben dem Verlust der analytischen Schärfe durch die Aufweichung des Sicherheitskonzepts, wurde das Herunterspielen des Krieges als Sicherheitsrisiko und die damit verbundene Bedeu-tung der Nationalstaaten kritisiert. Gewann der enge Sicherheitsbegriff früher mit seinem Inhalt (Freiheit von physischer, direkter Gewalt) Klarheit, verwischen sich nun die Grenzen zwischen Sicherheit und Entwicklung. Zudem besteht die Gefahr, dass der Begriff der menschlichen Si-cherheit instrumentalisiert wird, indem militärische Interventionen zum Schutze der inner-staatlichen Sicherheit legitimiert werden, weil zivile Belange wie umweltpolitische Probleme sicherheitspolitisch „aufgeladen“ werden.58

Mit der kontroversen Aufweitung des Sicherheitsbegriffs wurde scheinbar das Gegenteil des eigentlichen Ziels, nämlich eine einheitliche, widerspruchsfreie Formulierung zu etablieren, er-reicht. Die Folge zeigt sich in diversen Abhandlungen betreffend Sicherheitsthematiken. Sofern Autoren ihre Argumentation auf die menschliche Sicherheit stützen, verwenden sie häufig eige-ne Formulierungen. Damit gibt es beinahe so viele verschiedene Definitionen zur menschlichen Sicherheit wie es Autoren zum Thema gibt. Es erscheint paradox, seine wissenschaftliche Arbeit auf einen Begriff und Gegenstand zu gründen, der nicht nur einiger Kritik ausgesetzt ist, son-dern der zudem in der wissenschaftlichen Literatur mit keiner klaren und eindeutigen Formu-lierungen vertreten ist. Trotz des Verfehlens einer einheitlichen Definition zur human security , kann die Entwicklung dennoch als erfolgreich angesehen werden. Allein die Tatsache, dass Au-toren in ihrer Arbeit eine Definition von menschlicher Sicherheit integrieren, verdeutlicht, dass der Grundgedanke, Sicherheit mit menschlichen Bedürfnissen zu verknüpfen, mittlerweile in der Wissenschaft sowie in der Entwicklungspolitik verankert ist. Entwicklungen wie der Klima-wandel, der sich mit seinen Folgen negativ auf die Lebensgrundlage der Menschen auswirkt, verstärkt zudem die Ansicht, dass Sicherheitsgefährdungen besonders für den Menschen aktuell wie nie sind.

Der wissenschaftliche Konsens versteht heute menschliche Sicherheit als eine Funktion zweier Faktoren: Wohlbefinden und Vermeidung großer Deprivation. Wobei zu Wohlbefinden (1) in-trinsisch geschätzte Bereiche wie Gesundheit, Freiheit oder Bildung zu zählen sind, (2) Wohl-stand als Mittel, um Wohlbefinden zu erreichen und (3) die Abwesenheit von Kriminalität oder Katastrophen als eine Erweiterung des Wohlbefindens.59 Trotz der großen Vielfalt an Formulie-rungen der human security, steht bei den Verfechtern immer der Mensch im Mittelpunkt. Ent-wicklung und Umwelt werden darüber hinaus als zentrale Komponenten angesehen. Sicherheit wird nicht länger von militärischen Missionen geprägt, die Schutz erkämpfen . Die Kombination aus Gesellschaft und sozialen Bewegungen spielt eine wesentliche Rolle, um die Belastbarkeit der Menschen zu stärken und ihre individuelle Situation zu verbessern. „Folglich impliziert das Konzept der menschlichen Sicherheit grundlegende Änderungen in der Rangfolge der Natio-nalstaaten, die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse ihrer Bürger zu befriedigen, um die Menschen vor mannigfachen Sicherheitsgefahren zu beschützen und sie darin zu stärken, diese mannigfachen Sicherheitsgefahren zu bewältigen.“60

Die Vereinten Nationen sehen im Ansatz der menschlichen Sicherheit einen Ansatz, der Staaten dabei unterstützen soll, Herausforderungen zu identifizieren, die das Überleben, Le-bensgrundlagen und die Würde der Menschen erschweren bzw. gefährden. Entsprechende Maßnahmen sollen eingeleitet werden, um diese Gefährdungen zu verhindern ( prevention oriented ). Dabei gilt das Prinzip, den Menschen in den Mittelpunkt zu setzen ( people-centred ) und den Schutz und die Handlungsfähigkeit aller Menschen zu stärken. Mit der Einführung der Agenda 2030 im September 2015 wurde der übergeordnete Grundsatz „ leaving no one be- hind “ der UN-Entwicklungspolitik eingeführt. Als entwicklungspolitisches Instrument fällt der human-security- Ansatz somit auch unter diesen Grundsatz. Um diesen Grundsatz Folge zu leisten, sollen Maßnahmen umfassend sein ( comprehensive ) und verschiedene Umstände be-rücksichtigt werden ( context specific ). Die zwei Pfeiler, (a) Freiheit von Furcht (mit dem Fokus auf Konflikte und die humanitäre Völkerrechtsagenda) und (b) Freiheit von Not (im Kontext der Agenda zur menschlichen Entwicklung), repräsentieren nach wie vor den UN-Ansatz. Der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan erweiterte dieses Zwei-Pfeiler-Modell mit seinem Bericht In Larger Freedom um einen weiteren Pfeiler, der Bezug auf Menschenrechte, Rechts-staatlichkeit und gute Regierungsführung nimmt und bezeichnet diesen Pfeiler als (c) „Frei-heit, in Würde zu leben“ ( freedom to live in dignity ),61 der mittlerweile fest im Konzept integriert ist. Lag der Fokus zuvor auf das Leid der Bürger, das ihnen im Alltag widerfährt, verdeutlicht der neuere Pfeiler, dass die Förderung der menschlichen Sicherheit nur mit einem Staat mög-lich ist, der ein möglichst konsolidiertes System aufweist, das das Wohl der Menschen mitbe-rücksichtigt.

Abbildung 5: Drei-Pfeiler-Modell der menschlichen Sicherheit.

Aus: United Nations Human Security Unit 2016.

Taylor Owen lehnt hingegen seine Vorstellung von menschlicher Sicherheit an die Arbeit der CHS an. Nach ihm bedeutet menschliche Sicherheit den Schutz des zentralen Kerns aller menschlichen Leben vor kritischen und allgegenwärtigen Bedrohungen, seien sie persönlicher oder politischer Natur, Umwelt, Ökonomie, Nahrung oder Gesundheit betreffend. Owen schlägt darüber hinaus vor, um den Konflikt zwischen den Anhängern breiter und enger Konzepte auf-zulösen, das Konzept auf einen Grenzwert basierend aufzubauen, der den Grad der Sicherheits-gefährdung betrachtet und nicht den Grund der Bedrohung diskutiert. Menschliche Sicherheit müsse erkennen, dass es keinen Unterschied gibt, ob man seinen Tod durch Fluten, übertrag-bare Krankheiten oder Krieg erleide, ebenso wie durch jede andere Art von vermeidbaren Ge-fahren.62

Sabina Alkire sieht human security im Lichte der vielen verschiedenen Definitionen. Sicher-heit soll Sicherheit vor chronischen Bedrohungen wie Hunger, Krankheiten und Repressionen bedeuten; ebenso Schutz vor plötzlichen und schmerzlichen Störungen des täglichen Lebens. Die Menschen sollten die Leistungsfähigkeit besitzen, Bedrohungen, die ihre Bedürfnisse, Rech-te und Werte gefährden, selbst bewältigen zu können.63 Barnett und Adger sehen Letzteres be-sonders durch den Klimawandel und seine Folgen konfligiert, beispielsweise indem der Zu-gang zu natürlichen Ressourcen reduziert vorliegt, der zentral für die Aufrechterhaltung der Lebensgrundlage ist. Des Weiteren schwächt der Klimawandel die Kapazitäten der Staaten, um Hilfeleistungen seiner Bevölkerung bereitzustellen, damit Lebensgrundlagen aufrechterhalten und Frieden gewahrt werden kann.64 Ist diese Gewährung der Lebensgrundlage nicht mehr möglich, könnte unter bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen das Risiko gewalttätiger Konflikte und umweltinduzierter Migration steigen. Dies würde einen noch größeren Zustand der menschlichen Unsicherheit hervorrufen.

Obwohl es keine detaillierte Übereinstimmung in der wissenschaftlichen und politischen De-batte zur menschlichen Sicherheit gibt, herrscht grundsätzlich Einigkeit, dass heutzutage Si-cherheit auf den Menschen ausgerichtet werden muss und alltägliche Bedrohungen ebenso zur Sicherheitsgefährdung zu zählen sind wie Katastrophen oder Kriege. Menschliche Entwicklung wird dabei als das wesentliche Mittel angesehen, Sicherheitsgefährdungen zu reduzieren und die Menschen zu befähigen, Unsicherheiten zu bewältigen. Es lässt sich resümieren, dass mensch-liche Sicherheit einen Zustand beabsichtigt, indem Chancen und Wahlmöglichkeiten, die im Zuge der menschlichen Entwicklung entstehen, sicher und frei von Furcht und Not umgesetzt werden können. Die Stärke des Konzepts der menschlichen Sicherheit ist seine verbindende Kraft, da es menschliche Bedürfnisse, die im Entwicklungskontext Relevanz erhalten, Men-schenrechte, Sicherheits- und Freiheitsfragen miteinander verknüpft. Nach Vorstellung dieses übergeordneten Ansatzes lässt sich in Bezug auf die vorherig vorgestellte Variable Vulnerabilität anschließen, dass die Umsetzung des Ansatzes der menschlichen Sicherheit im Wesentlichen präventiv ablaufen soll, um insbesondere Freiheit von Not erreichen zu können. Prävention lässt sich wiederum durch die Förderung menschlicher Entwicklung erreichen. Mit ihr sollen die Ursachen von Verwundbarkeit bekämpft werden, unter der Motivation, Risiken weitestgehend zu verhindern, bevor sie eine konkrete Not und Unsicherheit für den Menschen darstellen. 3.3.2 Klimawandel als Verletzung der Menschenrechte

Der nächste Schritt ist nun, näher auf die Förderung der menschlichen Entwicklung einzugehen und anschließend den Klimawandel im Konzept der human security einzuordnen. Zuvor wollen wir allerdings noch eine Konzeption ansprechen, die untrennbar mit der menschlichen Sicher-heit zusammenhängt: das Konzept der Menschenrechte, das 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde und das vor allem als Werkzeug zum Schutz der Ärmsten angesehen wird.

Mit seinem Bericht In Larger Freedom erweiterte Kofi Annan das Konzept der human security um die Freiheit, in Würde zu leben ( freeedom to live in dignity ), wodurch er die Dimension der Menschenrechte dem Konzept zufügte. Die Debatte zur menschlichen Sicherheit wurde damit auch zu einer Debatte der Menschenrechte. Man könnte gar so weit gehen, die Bedeutung der menschlichen Sicherheit über die Erfüllung der Menschenrechte zu definieren. Nach Bertrand Ramcharan ist die Essenz der menschlichen Sicherheit die Menschenrechte zu respektieren.65Die Wahrung der Menschenrechte ist folglich von herausragender Bedeutung, die menschliche Sicherheit zu fördern.

In den letzten Jahren wurde von manch Autor der Klimawandel als ein Ereignis beschrieben, der die Wahrung der Menschenrechte gefährdet. Klimafolgen unterminieren ihre Aufrecht-erhaltung und gefährden somit auch die menschliche Sicherheit nachhaltig. Besonders die Ge-fährdung der Nahrungssicherheit, der Gesundheit und ökonomischer sowie ökologischer Le-bensgrundlagen und mangelnder Zugang zu sauberem Trinkwasser im Zuge steigender Meere, Fluten, Waldbränden sowie Desertifikation unterminieren die Menschenrechte. In den hierzu erschienen Abhandlungen wird der Klimawandel mit dem Verweis auf die Menschenrechte in-direkt als eine Gefährdung der menschlichen Sicherheit charakterisiert; was der Argumentation allerdings weitaus entscheidender zugrunde liegt, ist die Auslegung, dass Klimafolgen im direk-ten Bezug mit der Verletzung menschlicher Rechte stehen.

Einer der prominentesten Autoren ist diesbezüglich Simon Caney. Nach ihm bedeute das Recht auf Leben, dass niemand willkürlich seinem Leben beraubt werden dürfe. Mit dem Recht auf Gesundheit postuliert er, dass jede Person ein menschliches Recht besäße, dass ihr gesund-heitliches Wohlergehen von keinem Handeln Dritter gefährdet werden dürfe. Ebenso gäbe es ein Recht, das verhindere, dass die Mittel zum Lebensunterhalt sowie zur Versorgung durch das Handeln anderer entzogen werden.66 Da sowohl das Leben, die Gesundheit und die Le-bensgrundlage durch den Klimawandel bedroht werden, schließt Caney, dass jeder Mensch ein Recht hat, „nicht unter gefährlichen Klimaauswirkungen zu leiden“67.

Kein anderes Konzept rückt das einzelne Individuum so stark in den Mittelpunkt wie das Konzept der Menschenrechte. Der relevante Bezugspunkt ist die Existenz des Einzelnen – und diese ist verletzlich und bedarf Schutz. Diese grundlegende Überzeugung ist der minimale Kon-sens, der sich aus verschiedenen Moralauffassungen dieser Welt ergibt.68 Und mag der Konsens noch so basal sein, errichtet er die Grundlage des menschlichen Lebens in der Gemeinschaft. Die Rechte sind angeboren, universell, unveräußerlich, unteilbar und intergenerationell. Dem-nach sind Menschen ethisch-rechtlich gleichgestellt. Der Verweis auf die Menschenrechte in der Klimadebatte hat somit den Vorteil, dass die Thematik in gewisser Weise weniger abstrakt wird. Die Konsequenzen des Klimawandels können mit Bezug auf den Gesetzeskontext ausgelegt werden, sodass sie als Gefährdung der Rechte auf Leben, Gesundheit, angemessene Unterbrin-gung und Zugang zu Nahrung und Wasser angesehen werden könnten. Den Menschenrechten kommt hierdurch ein klarer moralischer, gar juristischer Richtwert in der Klimadebatte zu. Da-mit könnten sie möglicherweise gar die Grundlage für Sanktionen darstellen.69

Nun lässt sich der Klimawandel nicht selbst sanktionieren, sondern nur Individuen oder Ver-bände, bzw. nach dem Völkerrecht staatliche Verbände. Folglich würde die Suche nach einem Schuldigen unweigerlich mit der Ursache des Klimawandelszusammenhängen, was zu den westlichen Industrienationen führen würde. Ihr über zwei Jahrhunderte erwirtschafteter Wohl-stand unterminiert nun die Menschenrechte aller, besonders jener Menschen in weniger ent-wickelten Ländern. Mit der aktuellen Wohlstandsentwicklung der aufstrebenden Entwicklungs-länder, die größten Teils auf herkömmlichem Wege abläuft, wird die Gefährdung der Bereiche Leben, Gesundheit und Lebengrundlage durch ein sich weiter veränderndes Klima nicht ab-nehmen. Unter dieser Entwicklung kann nicht einmal die Gruppe der Industrienationen als der alleinige Schuldige des fortschreitenden Klimawandels gesehen werden. Die Grenzenlosigkeit des Klimawandels, sowohl betreffend Auswirkungen als auch Entstehung, macht schlichtweg eine eindeutige Schuldzuweisung unmöglich, auch wenn Rechte klar benennt werden können. Die Möglichkeit einer Festsetzung einer Strafverfolgung im Zusammenhang mit dem Völker-recht ist hierbei noch gar nicht berücksichtigt, denn Völkerrecht und Strafen stehen nicht ohne Weiteres in einem rechtlichen Zusammenhang.70

Ein sich auf die Menschenrechte stützender Ansatz kann dennoch eine ethische Orientierung für politisches Handeln bieten. Michael Reder äußert sich hierzu (indem er die juristische Sphä-re nicht ausklammert) wie folgt:

Die ethische Orientierung ist weitaus naheliegender als die tatsächliche Anwendung der Men-schenrechte auf juristischer Ebene. Nicht nur wegen der Schwierigkeit der Zurechenbarkeit, sondern werden Menschenrechte seit jeher verletzt, direkt durch das Handeln von Regierungen oder aufgrund eines existierenden Mangels. Sozialstaaten wahren in der Regel die Menschen-rechte, folglich sind in ihrem nationalen Kontext die Rechte besser gesichert. Anders sieht es in autokratischen Ländern aus, deren politische Ansichten oftmals stark mit den Grundsätzen jener fundamentaler Rechte in Konflikt stehen, da eine Sicherung der Rechte mit dem Durch-setzen politischer Machtinteressen kollidiert. Folglich steht eine Wahrung der Menschenrechte nicht unbedingt auf der politischen Agenda solcher Staaten. Ebenso sind in den am wenigsten entwickelten Ländern die Rechte nicht durchgehend gesichert, wobei sich der Grund im Ver-gleich zu autokratischen Ländern stark unterscheiden kann. Denn mag sich zwar eine Regie-rung der Sicherung der Menschenrechte verschrieben haben, aus entwicklungspolitischer Sicht mangelt jedoch die faktische Umsetzung, da im Land Armut, Unterernährung und fehlende Chancen herrschen und nicht die Möglichkeiten bestehen, aus eigener Hand diesen Mangel-zustand zu beheben. Somit bieten die Menschenrechte zunächst einmal einen internationalen Rahmen. Um hieraus rechtswirksame Pflichten ableiten zu können, müsste dieser Rahmen weit-flächig etabliert werden. Ihren Wert als Orientierungsinstrument wird allerdings auf der Ebene der internationalen Staatengemeinschaft geachtet. So fanden die Menschenrechte beispielsweise Einzug in das Pariser Abkommen 2015. In der Präambel wird darauf verwiesen, dass die Ver-tragsstaaten neben anderen Rechten auch ihre Verpflichtung gegenüber den Menschenrechten beachten sollen.72

Damit menschliche Sicherheit erreicht werden kann, müssen nicht nur Menschenrechte res-pektiert werden, menschliche Entwicklung muss gefördert werden, was besonders mit dem Pfei-ler freedom from want symbolisiert wird. Um das Konzept der menschlichen Sicherheit näher zu verstehen, fehlt nun noch eine genauere Darstellung der menschlichen Entwicklungsförderung. 3.3.3 Menschliche Entwicklung als Mittel Vulnerabilität zu reduzieren 3.3.3.1 Amartya Sens Ansatz zur menschlichen Entwicklung Neben seiner Mitwirkung bei der Ausformulierung des human-security- Begriffs, ist Amartya Sen als jener Autor zu nennen, der mit seiner Arbeit zur Fortführung des vom UNDP eta-blierten Konzepts der menschlichen Entwicklung mitgewirkt hat und mit seinen Ausführun-gen maßgeblich dazu beigetragen hat, dass das Entwicklungsverständnis über das Prinzip des wirtschaftlichen Wachstums hinausgeht. In seinem Werk Development as Freedom , für das er 1998 den Nobelpreis für Ökonomie erhielt, führt er aus, warum, obwohl ausreichend Reichtum in dieser Welt existiert, immer noch so viele Menschen arm sind, ein unfreies Leben führen und von Entwicklung abgeschnitten sind. Sen setzt Entwicklung nicht mit einem Anstieg des BIPs gleich, sondern nach ihm bedeutet Entwicklung die Vergrößerung der „wahren Freihei-ten“, nämlich individueller Freiheiten.73 Nur indem individuelle Freiheiten verwirklicht werden, ließe sich eine Minderung sozialer Ungerechtigkeiten erreichen. Die Qualität des menschlichen Lebens soll demnach nicht an Reichtum gemessen werden, sondern an der menschlichen Frei-heit. Sen verdeutlicht dies, indem er postuliert, dass Entwicklung als Freiheit zu verstehen sei. Dies sei Ansätzen entgegengesetzt, die in wachsenden Bruttonationaleinkommen oder steigen-den Einkommen Entwicklungsförderung sehen. Zwar könne wirtschaftliches Wachstum ein wichtiges Mittel zur Vergrößerung der Freiheiten für die Mitglieder der Gesellschaft bedeuten, dennoch bliebe es nur ein Mittel neben weiteren Determinanten. Steigendes Einkommen könne keinesfalls neue bzw. sich verschärfende Probleme wie anhaltende Armut, unerfüllte Grund-bedürfnisse, Hungersnöte oder natürliche Extremereignisse allein lösen. Ökonomische Nach-haltigkeit und gesellschaftliches Zusammenleben hänge nicht ausschließlich von Prosperität ab. Entwicklung als die Vergrößerung substantieller Freiheiten zu sehen, bedeute, direkt die Zwecke zu betrachten, die Entwicklung bedeutend machen, und sich nicht nur mit irgendwelchen Mit-teln zu beschäftigen. Um solch ein Entwicklungsverständnis zu verfolgen, muss der Entwick-lungsprozess, ebenso wie seine miteinschließenden Mittel und Wege, grundlegend hinterfragt werden, was Entwicklung überhaupt bedeutet. Nach Sen führt diese Hinterfragung zu dem Er-gebnis, Entwicklung als die Entfernung von Unfreiheiten zu sehen. Denn Unfreiheiten seien die Übel, worunter die Mitglieder der Gesellschaft wirklich zu leiden haben.74

Sens Ansatz ist eine Kritik am Prinzip, gesellschaftliche Probleme mit ökonomischem Wachs-tum lösen zu wollen, das in Vergangenheit immer mehr in den Vordergrund rückte. In gewisser Weise lässt sich hierbei auf Aristoteles verweisen, der bereits damals den Gelderwerb ledig-lich als ‚Mittel zum Zweck‘ angesehen hat.75 Sen reiht sich in diese Tradition ein, indem für ihn ökonomischer Wohlstand nur nützlich sei, um etwas anderes zu erreichen.76 Ökonomischer Wohlstand könne aber keine grundlegenden Unfreiheiten wie die Versagung von politischer Freiheit oder fundamentaler Bürgerrechte beseitigen. Doch will er der Ökonomie nicht völ-lig ihre Bedeutung absprechen. Vielmehr appelliert er, dass Ökonomie in Zusammenhang mit Philosophie betrieben wird. Dementsprechend spielt Freiheit eine zentrale und herausragende Rolle. Nur mit Freiheit gelänge es dem Menschen, die Art von Leben zu erreichen, welche am meisten geschätzt wird. Die Freiheit eines jeden einzelnen habe dabei einen intrinsischen Wert. Das Wachstum der Freiheit an sich sei hierbei für die gesamte Freiheit einer Person bedeutend. Wächst die Freiheit, gewinnt der Mensch mehr Möglichkeiten, was wiederum einen Nutzen-zuwachs für ihn und somit auch für die Gesellschaft bedeuten könnte. Im Zuge der Freiheits-förderung kann ökonomischer Wohlstand somit durchaus eine wichtige Rolle spielen. Darüber hinaus liegt der Freiheit noch ein ganz persönlicher Effekt inne: sie ist die ausschlaggebende Determinante von individueller Entschlusskraft und sozialer Leistungsfähigkeit. „Mehr Frei-heit stärkt die Fähigkeit der Menschen, sich selbst zu helfen und auf die Welt einzuwirken, und beides ist für den Entwicklungsprozess zentral.“77

Wesentliches Instrument bei Sens Idee, Entwicklung als Freiheit zu verstehen, ist der Ver-wirklichungschancenansatz, der sogenannte capability approach . Unter capabilites werden die Ausdrucksformen der Freiheit verstanden: „nämlich der substantiellen Freiheit, alternative Kombinationen von Funktionen78 zu verwirklichen (oder, weniger formell ausgedrückt, der Freiheit, unterschiedliche Lebensstile zu realisieren).“79 Es geht demnach um die Freiheit, dass der Mensch aus einem Spektrum von Verwirklichungschancen bzw. Tätigkeiten jene wählen kann, die das Individuum gerne wählen möchte. Dabei sollen die Verwirklichungschancen real vorliegen, also tatsächlich existieren, sodass sie dem Individuum wirklich zur Wahl stehen und ihm nicht nur auf einer theoretischen Ebene zugänglich sind. Weiter geht es nicht nur um die letztlich ausgewählten, umgesetzten Verwirklichungschancen, sondern auch um die Kombina-tion an realen capabilites , die der getroffenen Auswahl zugrunde lagen.80 Dies bedeutet, das Ver-hältnis von Funktion und der getroffenen Auswahl aus einem Spektrum von Verwirklichungs-chance ist relevant. Erst unter dem Hinzuziehen der Umstände, lassen sich Rückschlüsse auf die Entscheidung ziehen. Entscheidet sich ein wohlhabender Mensch zu fasten, kann die Funktion seiner Verwirklichungschance dieselbe sein, wie die einer bedürftigen Person, die aufgrund ih-rer Situation gezwungen ist, zu hungern. Doch während erstere sich frei zwischen einer Menge an capabilities entscheiden kann, bleibt die Entscheidung letzterer verwehrt. Die Freiheit be-misst sich somit aus der Menge an vorliegenden, frei wählbaren Verwirklichungschancen. Je mehr capabilites einem Individuum zur Auswahl stehen, die es tatsächlich umsetzen vermag, desto größer ist seine Freiheit.

Besonders im Hinblick auf Armut stellt Sen heraus, dass, um Entwicklung zu fördern, ge-sellschaftliche und individuelle Umstände berücksichtigt werden müssen, und zwar sowohl die Ursachen von Armut als auch daraus resultierende Deprivationen. Ein niedriges Einkommen mag der Hauptgrund für Armut sein, ebenso mit ein Grund für einen Mangel an individuellen Verwirklichungschancen, doch steht Armut für weitaus mehr als nur ein geringes Einkommen. Es ist wichtig zu betrachten, in was Armut gründet. In vielen Ländern sind mit Armut oder dem Mangel an elementaren Verwirklichungschancen Missstände wie frühe Mortalität, Unterernäh-rung (speziell bei Kindern), dauernde Morbidität oder weitflächiger Analphabetismus verbun-den.81 Entwicklung als Verbesserung und Erweiterung von Freiheit zu sehen, bedeutet sich mit diesen Deprivationen zu beschäftigen, Mängel und Unfreiheiten zu beseitigen. Die Beseitigung von Mängeln und Unfreiheiten ist nicht zu bewerkstelligen, indem allein Einkommen angeho-ben werden. Bildung, politische Partizipationsrechte, Zugang zu einem funktionierenden Ge-sundheitssystem, Religionsfreiheit und Grundrechte, die die Wahl zu einem mit guten Gründen geschätztem Leben ermöglichen, tragen unter anderem mit dazu bei, dass substantielle Freihei-ten erweitert werden und sich auf diesem Wege Armut verringert.82

Die angestrebte Expansion von Freiheit soll unter zweierlei Gesichtspunkten geschehen: (1) stellt die Erreichung von Freiheit das oberste Ziel ( primary end ) dar; und (2) ist Freiheit das wichtigste Mittel ( principal means ), Entwicklung zu fördern. Sen nennt erstere konstitutive Frei-heit. Die Freiheit, die als Mittel zur Schaffung von Verwirklichungschancen dient, hingegen ins-trumentelle Freiheit bzw. instrumentelle Freiheiten, da es sich hierbei um mehrere handelt. „Die konstitutive Funktion der Freiheit liegt in der Bedeutung der substantiellen Freiheit für die Be-reicherung des menschlichen Lebens. Zu den substantiellen Freiheiten zählen die elementaren Fähigkeiten, zum Beispiel die Möglichkeit, Hunger, Unterernährung, heilbare Krankheiten und vorzeitigen Tod zu vermeiden, wie auch jene Freiheiten, die darin bestehen, lesen und schreiben zu können, am politischen Geschehen zu partizipieren, seine Meinung unzensiert zu äußern usw.“83 Entwicklung heißt im konstitutiven Sinne grundlegende Freiheiten zu erweitern. „Da-nach ist Entwicklung ein Prozess, in dem die menschlichen Freiheiten erweitert werden, und diese Erwägung muss in die Bewertung der Entwicklung einfließen.“84 Sen betont, dass Entwick-lung breit gedacht werden müsse, worauf auch die konstitutive Freiheit abziele. So werde einer sehr wohlhabenden Person, die darin gehindert werde, sich frei zu äußern oder an öffentlichen Debatten und Entscheidungen teilzunehmen, etwas genommen, das zu schätzen sei. Ein breit gedachter Entwicklungsprozess könne einen solchen Mangel beseitigen, im Gegensatz zu einem verengten Entwicklungsverständnis, bei dem das Wachsen des Bruttosozialprodukts oder die Industrialisierung im Fokus stehe. Deshalb hat der breit ausgelegte Entwicklungsbegriff einen intrinsischen Wert. Freiheit ermöglicht hier dem Menschen selbstbestimmt zu leben. Zwei Frei-heiten lassen sich hierbei unterscheiden: Die passive Freiheit, die die Abwesenheit von Hinder-nissen oder Gefahren bedeutet und die aktive Freiheit, die dem Menschen die Möglichkeit gibt, nach eigenen Wünschen zu handeln.

Auch der Klimawandel lässt sich als Umstand erkennen, der gravierende Einschnitte in das menschliche Leben verursacht und das menschliche Leben ent reichert. Denn finanzielle Mittel helfen nur bedingt, wenn kein ausreichender Zugang zu Frischwasser oder Nahrung vorliegt oder eine Ausbreitung von Infektionskrankheiten die Freiheit beschränkt. Um solche Missstän-de zu beheben und substantielle Freiheiten zu ermöglichen, damit das menschliche Leben be-reichert wird, sollen instrumentelle Freiheiten gefördert werden.

Bei der instrumentellen Funktion von Freiheit handelt es sich um ein Mittel, um das oberste Ziel zu verwirklichen. „Die instrumentelle Funktion der Freiheit betrifft die Art und Weise, in der verschiedene Formen von Rechten, Chancen und Berechtigungen zur Erweiterung der menschlichen Freiheit im allgemeinen [sic!] beitragen und damit die Entwicklung befördern.“85In den instrumentellen Freiheiten ist demnach eine Entwicklung zu verstehen, mit der es er-möglicht werden soll, das primary end zu erreichen. Die Wirksamkeit der Freiheit als Instru-ment liegt darin, dass verschiedene Freiheitsarten mit anderen verknüpft werden und die einzel-nen Freiheiten sich gegenseitig fördern.

Sen erwähnt fünf besondere Typen von instrumentellen Freiheiten. Diese tragen dazu bei, dass dem Menschen Lebenswege zur Auswahl stehen, die es wert sind, gelebt zu werden, wo-durch letztendlich Freiheit erweitert wird: (1) politische Freiheiten (z. B. bürgerliche Rechte, politische, unzensierte Meinungsäußerung, Pressefreiheit, freies Wahlrecht), (2) ökonomische Vorteile (Ressourcenzugang für Konsum, Produktion und Handel), (3) soziale Chancen (Bil-dung, Gesundheitswesen), (4) Garantien für Transparenz (Freiheit, miteinander umzugehen und dabei die Gewähr zu haben, dass Offenheit und Durchsichtigkeit herrschen; z. B. als Prä-vention gegen Korruption) und (5) soziale Sicherheit (Arbeitslosenunterstützung, Sozialver-sicherungen, Mindestlöhne, Soforthilfen bei Hungersnöten).86 Wir wollen nicht im Detail auf diese fünf Arten eingehen. Die in Klammern angeführten Beispiele sollen hierfür genügen. Mit diesen instrumentellen Freiheiten sollen direkt die Verwirklichungschancen der Individu-en verbessert werden, einzeln betrachtet, aber auch indem sie sich gegenseitig ergänzen und verstärken.87 Mit Zugang zu Bildung steigt die Wahrscheinlichkeit einen Arbeitsplatz zu be-kommen, der einen Lebensunterhalt garantiert. Politische Freiheit in Form von demokrati-schen Regelungen fördert wiederum ökonomische Freiheit und hilft, die Freiheit zu Überleben abzusichern. Die positive Zwischenwirkungen unter den instrumentellen Freiheiten lässt sich am Beispiel einer Hungersnot zeigen. Sen stellt fest, dass bisher keinerlei Hungersnöte in De-mokratien entstanden sind, egal wie arm das demokratisch geführte Land auch war. Das liege daran, dass Hungersnöte regulativ äußerst leicht zu verhindern seien. Die Regierung müsste in erster Linie gewollt sein, diese zu verhindern. In einer Mehrparteiendemokratie, mit Wahlen und freien Medien, gäbe es große politische Anreize, vorbeugende Maßnahmen gegen den Hunger zu unternehmen.88

Freiheiten zu fördern bedeutet auch, Unfreiheiten zu überwinden. Für Sen steht ein negatives Freiheitsverständnis jedoch nicht im Vordergrund. Das Augenmerk liegt auf einer „Freiheit zu etwas“, nicht auf einer „Freiheit von etwas“. Letztere impliziere ein minimales Freiheitskonzept, das sich hauptsächlich auf die Zurückweisung von Zwängen, Sanktionen und Verbote seitens des Staates oder anderer beschränke.89 Ein negatives Freiheitsverständnis könne durchaus mit erheblichen Ungleichheiten einhergehen. Zum Beispiel könnten allen Bürgern die Schulbildung offenstehen, aber aufgrund hoher Kosten für Schulmaterial oder einem Lehrermangel in abge-legenen Gebieten wären bestimmte Gruppen faktisch von der Schulausbildung ausgeschlossen. „Die faktisch garantierte Unantastbarkeit von bestimmten allgemein weniger gewichteten Rech-ten kann einhergehen mit weitaus gewichtigeren Notlagen.“90

Damit Freiheiten und Verwirklichungschancen nicht nur potentiell bestehen, ist es entschei-dend, dass das Konzept auf einer „Freiheit zu etwas“ basiert. Damit liegt der Fokus auf jene Verwirklichungschancen, die auch tatsächlich von Bürgern erreicht werden können  – nicht jene Verwirklichungschancen, die unter bestimmten Umständen erreicht werden könnten. Im genannten Beispiel wäre dies ein ausreichendes Vermögen, um Schulmaterial kaufen zu kön-nen bzw. ausreichend Lehrer in abgelegeneren Orten vorzufinden. Die Auswahl von Verwirkli-chungschancen, die tatsächlich für eine Person zugänglich sind, wird von einem positiven Frei-heitsgedanken begleitet. In The Idea of Justice schreibt Sen hierzu:

Aus dieser Position heraus plädiert Sen für die individuelle Verantwortung, die eine jede Per-son für ihre Handlungen, folglich auch für ihr Leben hat. Die Wahl auf eine bestimmte Ver-wirklichungschance mag abhängig von sozialen, ökonomischen, ökologischen oder politischen Umständen sein, dennoch ist entscheidend, dass die Person selbst für ihre Wahl verantwortlich ist. In jeder ihrer Auswahl, ist ihre Verantwortung zu finden. Und dies ist in allen ihrer Belange der Fall: „Die Forderung nach sozialer Verantwortung auf Kosten persönlicher Verantwortung muss, in je verschiedenen Umfang, kontraproduktiv wirken. Es gibt keinen Ersatz für die per-sönliche Verantwortung.“92 Die Grundlage hierfür ist allerdings, dass das Individuum die nöti-gen Freiheiten besitzt: „Responsibility requires freedom“ – „Verantwortung braucht Freiheit“.93Setzt man sich für eine Förderung von menschlichen Freiheiten ein, bedeutet das zur gleichen Zeit, sich für individuelle Verantwortung einzusetzen.

Amartya Sens Entwicklungsphilosophie füllt das Konzept der menschlichen Entwicklung mit Inhalt. Die Idee Entwicklung als Freiheit zu verstehen, zeigt auf, dass Entwicklungsdefizite auf einen Mangel an Verwirklichungschancen zurückzuführen sind. Instrumentelle Freiheiten er-möglichen es den Menschen Chancen wahrzunehmen und Tätigkeiten auszuüben, um letztend-lich substantielle Freiheiten in Anspruch nehmen zu können. Liegen diese Freiheiten nicht in den ausreichenden Ausmaßen vor oder bleibt ihnen die Auswahl aufgrund individueller Um-stände verwehrt, bleiben verwundbare Individuen auch weiterhin verwundbar. Darüber hinaus erhält menschliche Entwicklung eine ethische Dimension, selbst für ihr Leben verantwortlich sein zu können. Wenn wir Adaptation im Sinne dieser Entwicklung verstehen, bedeutet dies, dass es nicht nur darum geht, Länder bei der Anpassung an den Klimawandel zu unterstützen, sondern den betroffenen Menschen zu ermöglichen, sich aus ihrer gefährdeten Lage selbst zu manövrieren. Selbst wenn dies nur im Rahmen der internationalen Kooperation möglich ist, da weniger entwickelte Länder nicht die benötigten Kapazitäten besitzen, verringert sich das ethi-sche Moment nicht, da den Menschen letztendlich nicht die Verantwortung genommen wird, sondern dabei unterstützt werden, mit entsprechenden Maßnahmen auf eine veränderte Um-welt zu reagieren. 3.3.3.2 Nachhaltigkeit als Grundprinzip der heutigen Entwicklungsdebatte

Neben der humanen Dimension der Entwicklung, wird heute Entwicklung insbesondere vom Begriff der Nachhaltigkeit geprägt. Seinen Ursprung hat der Begriff in der Forstwirtschaft, heute dient er als sinngebend für Entwicklung. Der moderne Nachhaltigkeitsbegriff wurde entschei-dend vom Brundtland-Bericht geprägt, der von der Weltkommission für Umwelt und Entwick-lung der Vereinten Nationen 1987 vorgestellt wurde. Darin heißt es, dass Nachhaltigkeit als jene Entwicklung verstanden wird, mit der die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation befriedigt werden können, ohne dass künftige Generationen schlechter gestellt werden ihre eigenen Be-dürfnisse zu erreichen.94 Nachhaltige Entwicklung basiert auf drei Säulen: Ökonomische Ent-wicklung, soziale Entwicklung und Umweltschutz. Sie stellt das Leitbild für soziales, ökonomi-sches und ökologisches Handeln dar. Der Begriff ist in der heutigen Gesellschaft omnipräsent. Unternehmen wollen nachhaltig produzieren und nachhaltige Produkte auf dem Markt bringen, der Agrarsektor wirbt mit einem nachhaltigen Anbau von Nahrungsmitteln, Städte verbinden ihren urbanen Entwicklungsplan mit Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeit gilt als Lösung gegen den Klimawandel. Der WBGU fordert zum Beispiel, Mitigation wie Adaptation im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung umzusetzen, um eine gesellschaftliche Transformation erreichen zu können.95 Das UNISDR fordert in einer Bekanntmachung für die schwedische Kommission für Klimawandel und Entwicklung, Katastrophenrisikoreduzierung ebenso in eine nachhaltigen Entwicklung einzubringen.96 Bei all jenen Forderungen, adaptive, mitigative oder katastrophen-risikoreduzierende Maßnahmen auf eine nachhaltige Art und Weise umzusetzen, wird oftmals vergessen, dass in vielen Regionen weniger entwickelter Länder nach wie vor klassische Ent-wicklungsfortschritte schlechthin fehlen, was die Lebenssituation der Menschen verwundbar macht.

Am 3. Oktober 2005, am internationalen Tag zur Katastrophenprävention, erklärte Kofi An-nan, dass man kein natürliches Unheil verhindern könne, aber man könne und müsse Individu-en und Gemeinschaften besser ausstatten, um diesem standzuhalten. „Die, die gegenüber dem Zorn der Natur am verwundbarsten sind, sind für gewöhnlich die Ärmsten, was bedeutet, wenn wir Armut reduzieren, reduzieren wir auch Verwundbarkeit.“97 Besonders Maßnahmen, die aus den Bereichen Adaptation und Katastrophenrisikomanagement stammen, wird das Potential zugesprochen, die Anfälligkeit gegenüber Extremereignissen zu senken und mögliche Schäden und Verluste zu reduzieren. Wird dabei allerdings nicht die Verbesserung der Lebensgrundlage berücksichtigt, bleibt die soziale Verwundbarkeit weiterhin hoch. Bereits geringe Auswirkungen können erhebliche Einschnitte in die Lebensgrundlage bedeuten, wenn Individuen, Familien oder soziale Gruppen keine Auffangmechanismen für einen Schock oder Stress haben. Wenn eine Familie arm war, bleibt sie auch arm, auch nachdem Dämme gebaut, Frühwarnsysteme installiert oder standhaftere Behausungen errichtet wurden.

In seinem Entwicklungsreport von 2007/2008 spricht das UNDP von etwa 2,6  Milliarden Menschen, die durch den Klimawandel eine Zukunft mit verringerten Chancen vorfinden wer-den.98 Armut ist hierbei ein prägender Faktor. Zunächst wirkt sich bereits existierende Armut negativ auf Vulnerabilität aus. Mit geringen Mitteln lässt sich weniger gut auf Veränderungen reagieren. Des Weiteren kann Armut (oder größere Armut) aus den Folgen des Klimawandels resultieren, wenn beispielsweise Überschwemmungen Hab und Gut wegspülen, Dürren und Desertifikationen Ernten und Acker- sowie Weideland vernichten oder klimabedingte Flucht einen zwingt, sein Eigentum zurückzulassen.

Damit Entwicklungsdefizite globale Aufmerksamkeit bekommen, deklarierten die Verein-ten Nationen und die Mitgliedsstaaten im Jahre 2000 acht Entwicklungsziele, die sogenann-ten Millennium Development Goals (MDGs). Diese wurden als Zielsetzung angesehen, um weltweit Armut, Hunger, Kindersterblichkeit zu senken bzw. um Schulbildung, Geschlechter-gleichstellung, Gesundheit, ökologische Nachhaltigkeit und globale Partnerschaften zu för-dern. Bis 2015 sollten in den jeweiligen Bereichen deutliche Erfolge erzielt werden.99 Immer wieder wird der Klimawandel als Phänomen dargestellt, der die Erreichung von Entwick-lungszielen beeinträchtigt und als Multiplikator bestehender Entwicklungsdefizite fungiert. Während der Erfüllungsperiode der MDGs identifizierten Tom Mitchell und Thomas Tanner, dass der Klimawandel Auswirkungen auf die Erfüllung aller acht Entwicklungsziele nehmen würde (Abbildung 6).

Trotz der Bedenken, dass aufgrund der klimatischen Veränderungen die Ziele unerfüllt blei-ben könnten, war man fünfzehn Jahre nach der Formulierung zufrieden. In einigen Bereichen der Jahrtausendziele konnten wesentliche Fortschritte erzielt werden. So nahm beispielsweise die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen laut UN zwischen 1990 und 2015 von 1,9 Milliarden auf 836 Millionen ab, die Sterblichkeitsrate von Kindern unter 5 Jahren wur-de weltweit um mehr als die Hälfte gesenkt und der Ausstoß ozonabbauender Stoffe wurde praktisch abgeschafft, sodass sich die Ozonschicht während des Erfüllungszeitraums deutlich erholt hatte. Allerdings konnten in einzelnen Regionen und Ländern keine solchen Erfolge ver-zeichnet werden. Die ärmsten Menschen und diejenigen, die aufgrund ihres Geschlechts, ihres Alters, einer Behinderung, ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder ihres Wohnorts benachteiligt sind bzw. werden, blieben trotz der Bestrebungen, die Entwicklungsziele zu erreichen, weiter-hin zurück.100

Abbildung 6: Auswirkungen des Klimawandels auf die MDGs.

Aus: Mitchell und Tanner 2006.

200

2015 war der Zeitraum für die MDGs vorbei. Dies war nicht gleichbedeutend mit einem Ende der internationalen Entwicklungsbestrebungen, sondern ermöglichte, neue Ziele zu formulie-ren, um weiterhin die Erfüllung der alten Ziele zu verfolgen, allerdings auch um die Ziele heuti-gen Bedürfnissen anzupassen. Das Ergebnis davon sind die Nachhaltigkeitsziele bzw. Sustaina- ble Development Goals oder kurz SDGs (Abbildung 7). Diese sind im Rahmen der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung eingebunden. Die Agenda 2030 folgt dem Grundsatz, „ leave no one behind “. Dementsprechend fallen die SDGs weitaus ambitionierter als die MDGs aus. Sie be-rücksichtigen nicht nur die Defizite in Entwicklungsländern, sondern stehen für eine weltweite Entwicklung. Folglich sind es Ziele, die auch in Industriestaaten Einzug halten sollen. Neben traditionellen Entwicklungszielen wurden soziale, ökologische und ökonomische Ziele in den Katalog aufgenommen, die unter dem Lichte einer nachhaltigen Entwicklung formuliert wur-den.101 Insgesamt sind es 17 SDGs, die die globale Entwicklung in die richtigen Bahnen bringen sollen. Zwei Ziele adressieren dabei direkt die Klimaproblematik. So wird unter SDG 7 die Um-setzung von bezahlbarer und sauberer Energie formuliert, wohingegen SDG 13 ganz allgemein Climate Action fordert.

Abbildung 7: Sustainable Development Goals (SDGs).

Quelle: United Nations.

Die nachhaltigen Entwicklungsziele fallen nicht nur universaler aus, sondern das Konzept verfolgt einen integrierten Ansatz. Nachhaltigkeit soll demnach nicht erreicht werden, indem einzelne Ziele nacheinander abgearbeitet werden, sondern die Umsetzung soll unter Berücksich-tigung von Synergieeffekten und Interdependenzen zwischen den einzelnen Zielen geschehen. Auf diese Weise soll die Erfüllung eines Zieles die Erfüllung weiterer Ziele begünstigen. Bereits in den Jahren vor der Verabschiedung der Agenda 2030, wurde im wissenschaftlichen Diskurs über Klimafolgen dafür argumentiert, dass sich Verwundbarkeit nur verringern ließe, wenn man gesellschaftliche Probleme nicht separat voneinander betrachtet. Denn nicht nur können sich ökologische, ökonomischen und soziale Probleme überschneiden, der Klimawandel agiert auch als ein Katalysator, wodurch es noch schwieriger ist, Probleme isoliert voneinander zu be-trachten.102 „Der Klimawandel ist kein isoliertes Problem. Vielmehr ist es seine Überlagerung mit Entwicklungsprozessen, die bestimmt, ob der Klimawandel ein Entwicklungshindernis dar-stellt.“103 Maßnahmen zur Mitigation, Adaptation und Katastrophenrisikoreduzierung müssten daher in breitere Entwicklungsmaßnahmen eingebunden werden.104 Mit der Umsetzung dieser Forderung ist es somit nötig, beispielsweise die Anpassung an den Klimawandel im Rahmen der SDGs mit verschiedenen Zielen zu verbinden. Grundsätzlich fällt sie unter SDG 13, Maß-nahmen zum Klimaschutz. Ihre Reichweite erstreckt sich allerdings auf weitere Ziele wie SDG 2 (Z ero Hunger ), SDG 6 ( Clean Water and Sanitation ), SDG 9 ( Industry, Innovation and Infras- tructure ), SDG 11 ( Sustainable Cities and Community ), SDG 14 ( Life below Water ) oder SDG 15 (Life on Land).

Wir wollen Ziel 2, Kein Hunger, und Ziel 11, nachhaltige Städte und Gemeinden, hinsichtlich der gesamtgesellschaftlichen Wirkung des Zieles Klimaschutz etwas näher betrachten. Hunger gehört nach wie zu den wichtigsten zu lösenden Problemen unserer Zeit. Laut UN ist jeder neunte Mensch unterernährt, wovon der größte Teil in Entwicklungsländern lebt. Zur gleichen Zeit stellt die Agrarwirtschaft den Sektor dar, wovon 40 % der globalen Bevölkerung ihren Le-bensunterhalt beziehen. In den meisten Entwicklungsstaaten ist sie einer der wichtigsten, wenn nicht sogar der wichtigste Wirtschaftszweig.105 Mangelnder Zugang zu Strom oder fehlende Bewässerungssysteme, starker Diversitätsverlust von Saatgut, Umweltdegradation aufgrund schlechter Anbau- und Erntetechniken, Nahrungsmittelverschwendung, ungleiche Verteilung von Anbauflächen, Kriege, schwache Unterstützung für Kleinbauer oder Ungleichheit zwi-schen Bäuerinnen und Bauern sind unter anderem gesellschaftliche Probleme, die Hunger ver-schärfen. Die Zahl der Menschen, die unter Hunger leiden, wird sich in Zukunft aufgrund des Bevölkerungswachstums und Klimawandels erhöhen. Um dieser Entwicklung zu entgegnen, müssen eine nachhaltige Lebensmittelproduktion und widerstandsfähigere agrarwirtschaftliche Praktiken etabliert werden. Hierdurch sollen Produktivität und Ertrag erhöht werden, während Ökosysteme erhalten bleiben und sich die Qualität von Land und Böden verbessert. Damit soll eine Stärkung der Anpassung gegenüber Dürren, Fluten oder anderen Desastern gelingen.106Eine Steigerung der Nahrungsmittelsicherheit ist folglich eng mit dem Ziel Climate Action ver-bunden.

Am Ziel, Städte und Siedlungen inklusiver, sicherer, widerstandsfähiger und nachhaltiger zu machen, reihen sich eine Vielzahl von weiteren Zielen an. Städte verursachen drei Viertel der weltweiten Emissionen, bieten jedoch auch über der Hälfte der Weltbevölkerung ein Zuhause. Urbane Ballungsräume sind Agglomerationen verschiedenster Kulturen, Religionen und sozia-ler Schichten. Gesellschaftliche Krisen, Exklusion und ethnische Segregation können daher tief im städtischen Leben verwurzelt sein, allerdings dienen sie auch als positives Beispiel für das menschliche Zusammenleben, darüber hinaus gelten sie als Zentren für Innovation und Ent-wicklung. SDG 11 ist zunächst ein Bekenntnis, dass eine nachhaltige Entwicklung nicht ohne die Berücksichtigung der urbanen Entwicklung machbar ist. Der Großteil der SDGs wird nicht erreicht werden können, wenn Städte und ihre Akteure außer Acht gelassen werden. Unkon-trollierte Urbanisierung kann erheblichen negativen Einfluss auf die Erreichung der Agenda 2030 nehmen, direkt sowie indirekt. Armut (SDG 1), Gesundheit (SDG 3), Bildung (SDG 4), Geschlechtergleichheit (SDG 5), widerstandsfähige Industrie und Infrastruktur (SDG 9), Kon-sum und Produktion (SDG 12), starke Institutionen (SDG 16) oder erfolgreiche Partnerschaften (SDG 17) sind zumindest im Hinblick auf das städtische Leben eng mit SDG 11 verflochten. Auch die ökologische Dimension von Städten ist enorm und hat eine globale Tragweite. Falsche Entwicklungen in den Bereichen Energieerzeugung, Wasser- und Abfallwirtschaft, Wohnungs-bau oder urbane Mobilität wirken sich auf einen Anstieg der Treibhausgase aus und können nachhaltige Folgen für umliegende Ökosysteme bedeuten.107

So vielversprechend der integrierte Ansatz ist, entstehen hierbei wieder neue Herausforderun-gen, die, wie immer noch existierende klassische Entwicklungsdefizite in vielen Regionen dieser Welt zeigen, während des Erfüllungszeitraums der MDGs nicht wesentlich geringer wurden. Insbesondere die institutionellen Aufgaben wachsen mit den SDGs an. Internationale Überein-kommen wie das Pariser Klimaschutzabkommen oder das Sendai-Abkommen zur Katastro-phenrisikoreduzierung müssen nun unter Abstimmung der anderen Ziele integriert werden.108Dieser Schritt ist notwendig, da aus der Integration die Richtlinie für kommende Entwicklungs-ansätze gezogen wird. Dabei muss die Synchronisierung der Ziele auf globaler, nationaler und lokaler Ebene vollzogen werden. Die Länder müssen das auf internationaler Ebene entworfe-ne Nachhaltigkeitsmodell in ihrer nationalen Entwicklungspolitik integrieren, zumindest nach dessen Vorbild agieren. Zwei wesentliche Thematiken stechen hierbei hervor: Durch die Inte-grierung der unterschiedlichen Ziele können zwar Synergieeffekte erwartet werden, allerdings, selbst wenn es Überschneidungen bei der Verfolgung der Ziele gibt, wird ein Fachbereich bei seiner Arbeit an einem SDG unterschiedliche Schwerpunkte setzen, als dies ein anderer Fach-bereich machen würde. Zum Beispiel überschneiden sich Climate Action (SDG 13) und Zero Hunger (SDG 2) als auch Clean Water and Sanitation (SDG 6), für alle drei Bereiche wird aller-dings unterschiedliche Fachexpertise benötigt. Dies erhöht die Anforderungen an Institutionen, ausreichend Wissen und Kapazitäten aufzubringen. Der integrierte Ansatz fordert nicht nur, die Ziele holistisch zu betrachten, sondern auch eine inklusive Denkweise bei der Umsetzung. Dies setzt eine enge Einbindung der Gesellschaft sowie der verschiedenen Wissenschaften voraus. Die dadurch gewonnen verschiedenen Perspektiven, Lebenserfahrungen und Wissensgrund-lagen könnten eine Stärke bedeuten, um auf den erhöhten Bedarf an Wissen und Kapazitäten zu antworten. Dies führt zugleich zur zweiten Thematik, nämlich eine erfolgreiche Kooperation auf globaler, zwischenstaatlicher, nationaler, institutioneller und gesellschaftlicher Ebene, bzw. im Sinne des SDG 17, eine Stärkung der Partnerschaft, um die Ziele zu erreichen. Kooperation und Kollaboration zwischen nationalen Regierungen, lokalen Behörden, Wissenschaftsinstitu-tionen, der privaten Wirtschaft und der Gesellschaft sind zentral, damit ein nachhaltiger Wan-del in die Gesellschaft einzieht. Besonders auf zwischenstaatlicher Ebene verlaufen Kooperation und Kollaboration schleppend, aber auch zwischen Politik und Privatwirtschaft. Statt Ziele ge-meinsam zu verfolgen, kämpfen besonders in den Industrienationen Politik und Wirtschaftsver-treter nach wie vor gegeneinander an. Eine erfolgreiche Zusammenarbeit ist unabdingbar, um ausreichend finanzielle Mittel als auch Wissen sowie institutionelle Kapazitäten109 generieren zu können. Doch stockt beispielsweise die Einzahlung in den internationalen Grünen Klimafonds, ebenso verfehlt die Europäische Union seit Jahren ihr Ziel, mindestens 0,7 % ihres Bruttonatio-naleinkommens in den Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit zu investie-ren, um auf diesem Wege Verwundbarkeit in südlichen Ländern zu beheben. Die Folge man-gelnder Mittel ist, dass ausführende Organe nicht die Maßnahmen umsetzen können, die nach Abschätzung der gesellschaftlichen Situation gegenüber kurzfristigen, mittel- und langfristigen Veränderungen als wichtig erachtet werden, um Verwundbarkeit zu reduzieren und nachhaltige Entwicklung bestmöglich voranzutreiben.

An dieser Stelle wollen wir uns eine Aussage Lomborgs in Erinnerung rufen, dessen Ansichten in Kapitel 1 als Grundlage einer dialektischen Argumentation dienten, um die Bedeutung von sowohl Mitigation als auch Adaptation herauszustellen. Lomborg schreibt, dass Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Anpassung notwendig seien, dass bei der ‚Hysterie‘ um den Klima-wandel wichtige, bereits existierende Probleme wie Armut, Hunger und Krankheiten allerdings ins Hintertreffen gerieten. Ein besserer Schutz vor dem Klimawandel könne nur gelingen, indem diese klassischen Entwicklungsprobleme behoben werden. Lomborg verfolgt allerding keinen integrierten Ansatz im Sinne der SDGs. Nach der Agenda 2030 resultiert ein besserer Klima-schutz nicht nur als Nebeneffekt im Zug einer Behebung von Armut oder Hunger, sondern weil der Faktor Klimawandel von Anfang an mitberücksichtigt wird. So sollen Maßnahmen zum Klimaschutz Probleme wie Nahrungsunsicherheit und Armut berücksichtigen, wie auch Maß-nahmen gegen Hunger und Armut klimatische Veränderungen in ihr Konzept miteinfließen lassen sollen. Da der Klimawandel bestehende Missstände verschärft, ist Klimaschutz auch eine Aufgabe Armut, Hunger und Krankheiten zu lindern. Darum ist es wichtig, Adaptation und Mi-tigation in das Konzept der Nachhaltigkeit einzubinden und bestehende Probleme nicht außen vor zu lassen. Denn Entwicklungsdefizite existieren auch ohne den Klimawandel. Das Hun-gerproblem kann nicht nur gelöst werden, indem resistenteres Saatgut in der Landwirtschaft verwendet wird, Anpflanzungszeiträume den Wetterveränderungen angepasst werden, Dämme errichtet werden, um die Saat vor Überschwemmungen zu schützen, Bewässerungssysteme ge-fördert werden oder Conservation Agriculture 110 betrieben wird. Viele Menschen hungern, weil sie einfach kein Geld für Nahrung haben. Strukturelle Ursachen stellen hierbei nach wie vor das Hauptproblem dar: schlechter Lohn, Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, fehlende soziale Absicherung, keine Ausbildung, körperliche oder geistige Beeinträchtigungen, Leben in Randgebieten, kein Zugang zum Arbeitsmarkt etc. Ebenso lässt sich mit einer Reduzierung der Armut nicht zwangsläufig eine Reduzierung der Vulnerabilität folgern.111 Auch bedeutet eine Vulnerabilitätsreduzierung nicht grundsätzlich eine Verringerung der Armut. Mit dem Konzept der nachhaltigen Entwicklungsziele soll darum garantiert werden, dass sämtliche Entwicklungs-defizite weiterhin im Fokus stehen und der gesamtgesellschaftliche Kontext relevant ist.

Die Agenda 2030 steht darüber hinaus für ein Verständniswandel, der sich über die letzten zwei Jahrzehnte in der Entwicklungspolitik vollzogen hat. Heute soll es darum gehen, Staaten im Zuge einer Zusammenarbeit zu bemächtigen, ihre Defizite und Missstände beheben zu können. Die Einbindung verschiedener Gesellschaftsteile, also die Stakeholder, die letztendlich von der Entwicklung profitieren sollen, ist fest mit diesem neuen Verständnis verbunden. Entwicklungs-förderung soll nicht mehr als reine Unterstützung angesehen werden, um ökonomisches Wachs-tum zu erzielen, das lange Zeit als charakteristisch für Entwicklung und als Mittel stand, Miss-ständen zu entgegnen. In einem Bericht aus dem Jahre 2000 äußerte sich die Weltbank noch, dass Nahrungssicherheit, Wasserknappheit, Vulnerabilität der Küstengebiete oder menschliche Gesundheit keineswegs neue Probleme in weniger entwickelten Länder seien. Der Klimawandel unterstreiche jedoch die Dringlichkeit, mit der diese Probleme gelöst werden müssen. Deshalb seien keine neuen Strategien nötig, die Lösung könne aber nur über ein wirtschaftliches Wachs-tum gehen.112 Auch Suarez und Ribot stellten die Wichtigkeit eines wirtschaftlichen Wachstums heraus. Nach ihnen würde die Zunahme des ökonomischen Outputs letztendlich Armut ver-ringern, wodurch indirekt die Verwundbarkeit gegenüber klimatischen Extremereignissen ver-ringert werden könnte.113

Zentraler Punkt des integrierten Nachhaltigkeitsansatzes muss es sein, das Leben der Men-schen tatsächlich zu verbessern, indem ihnen Möglichkeiten eröffnet werden, über deren Wahr-nehmung sich Verwundbarkeit reduzieren lässt. Ein paar Jahre vor der Etablierung der Agen-da 2030 kritisierte Asunción Lera St. Clair, dass die meisten Lösungsansätze, die Klimawandel und Armut vereinen, die Angelegenheit eher als technisches statt menschliches Problem sehen. Man beschäftige sich vielmehr damit, wie arme Länder an den Klimawandel angepasst werden könnten, anstatt herrschende Unfairness und irrgeführte Entwicklungsmodelle zu hinterfra-gen. Auch bemängelte sie die Sicht von Experten wie Jeffrey Sachs oder Nicholas Stern, die der Meinung seien, „dass wir mit einem sauberen Verwalten von Ressourcen, Technologien und Politik, Begleitherausforderungen von globaler Armut, Klimawandel, Kampf, Massenmigration und finanzielle und ökonomische Krisen lösen können“114. Indem diese Probleme mit ökonomi-schen Werkzeugen verständlich gemacht werden, erscheint es, dass man den Klimawandel mit wirtschaftlichem Wachstum zwanghaft in Verbindung bringen wolle. Nach St. Clair sei Vorsicht geboten, den Klimawandel nicht für eine ökonomische Entwicklung zu instrumentalisieren, auch wenn von einer nachhaltigen Entwicklung die Rede sei. Bevor man den Klimawandel in Entwicklungsprojekte einbinde, müsse man zuallererst die Anschauungen über Fortschritt und Entwicklung in Frage stellen.115

Trotz der Kritik St. Clairs an die Verwirtschaftlichung des Klimawandels, ist Wirtschaftlich-keit ein entscheidendes Kriterium. Finanzielle Ressourcen liegen nur beschränkt vor. Finanzielle Messgrößen sind demnach ein Kriterium, um Optionen überhaupt als machbar zu analysieren. Darüber hinaus machen finanzielle Größen den Entscheidungsträgern sowie den Laien die Aus-führungen zu bestimmten Sachverhalten verständlich. Zu verhindern ist jedoch eine Entwick-lung, die ausschließlich auf den wirtschaftlichen Aspekt ausgerichtet ist. Wachstum darf nicht mit Verwundbarkeits- und Armutsreduzierung gleichgesetzt werden. Dass es Bereiche und Di-mensionen im Leben gibt, die nicht finanziell gewichtet werden sollen/können, soll zu jeder Zeit allgegenwärtig sein. Aber vor allem darf die menschliche Dimension nicht negiert werden, auch wenn momentan zu befürchten ist, dass sie Entscheidungsträgern real erst bewusst wird, wenn Entwicklungsdefizite und Klimafolgen gravierende Nutzenverluste hervorrufen.

Der Katalog der nachhaltigen Entwicklungsziele ist daher wichtig, weil er gerade verdeutlicht, dass diverse Ziele wahrgenommen werden müssen und sich diese nicht unter übergeordnete Ziele subsumieren lassen. Indem die Erreichung eines jeden Ziels für sich analysiert wird, wird verhindert, dass Ziele wie die Reduzierung der Verwundbarkeit gegenüber dem Klimawandel ausschließlich mit Maßnahmen zur Armutsreduzierung realisiert werden wollen. Dies kann nicht von Erfolg gekrönt sein, denn die Relation zwischen Armut und Verwundbarkeit gegen-über dem Klimawandel ist komplex und nicht verhältnismäßig.116 Die verschiedenen Entwick-lungsprobleme bleiben unterschiedliche gesellschaftliche Probleme, auch wenn sie Interdepen-denzen aufweisen. Zum Beispiel ist Armut ein wesentlicher Grund, warum Haushalte nicht die finanziellen Mittel haben, um sich gegenüber Risiken zu schützen bzw. entsprechend anpassen zu können. Ausreichend finanzielle Mittel garantieren allerdings nicht, dass Schutz umgesetzt oder auf richtigem Wege vollzogen wird.

Es lässt sich somit resümieren, dass Entwicklungsprobleme und der Klimawandel eng ver-flochten sind. Folglich ist es wichtig, Maßnahmen gemeinsam im Lichte einer nachhaltigen Ent-wicklung zu sehen, in der der Mensch im Mittelpunkt steht, und bei Lösungsansätzen andere Nachhaltigkeitsziele mit zu berücksichtigen. Beispielsweise werden in vielen Projekten zum Katastrophenschutz gezielt Frauen eingebunden. Zunächst bringen sie besondere Erfahrungen und wertvolle Fähigkeiten mit, aber auf diese Weise gelingt auch eine Verbesserung der Ge-schlechtergleichstellung innerhalb der Gemeinschaft.117

Die Diskurse zur menschlichen Sicherheit, menschlichen Entwicklung und zu den Menschen-rechten haben in den letzten Jahren Einfluss auf entwicklungspolitische Entscheidungen genom-men. Mit der Etablierung des Konzepts der menschlichen Sicherheit, wurde der Sicherheitsbe-griff neu ausgelegt. Heute wird Sicherheit nicht mehr nur als physische Sicherheit angesehen, sondern die Sicherung von Grundbedürfnissen wie Nahrung, Gesundheit und Bildung fallen ebenso darunter, wie der Schutz staatlicher Grenzen. Hauptaugenmerkt liegt auf der Erweite-rung der individuellen Sicherheit, bzw. Unsicherheit zu erkennen und zu beheben. Das Konzept gründet auf der Verbindung von Freiheit von Furcht, Freiheit von Not und Freiheit, in Würde zu leben. Die Erweiterung des Sicherheitsverständnisses hat aber gleichzeitig zu einer Aufweichung des Begriffs geführt, wodurch sich Sicherheit nicht mehr eindeutig wie einst zuordnen lässt. Darin lässt sich die Frage anschließen, ob die Verbindung zwischen den drei Freiheiten wirklich klar ausführbar ist.

Mit der Debatte zur menschlichen Entwicklung wurde erreicht, dass Entwicklung nicht mehr allein als Erweiterung des Bruttonationalprodukts verstanden wird, sondern Deprivationen und Chancenmangel, mit denen das Individuum täglich konfrontiert wird, hauptsächlich im Fokus stehen müssen, um eine tatsächliche Verbesserung der Lebenssituation herbeizuführen. Mit der Einführung der nachhaltigen Entwicklungsziele hat sich der Diskurs erweitert, indem neben sozialen und ökonomischen Aspekten der ökologische präsent wurde. Da einzelne Entwick-lungsziele mit allen drei Bereichen abgestimmt werden sollen, lässt sich ein integrierter Ansatz verfolgen, sodass mit der Verfolgung eines Zieles die Umsetzung anderer Ziele begünstigt wird. Wie die Formulierung der 17 SDGs verdeutlicht, ist der Ansatz der menschlichen Entwicklung breiter gesellschaftlich verallgemeinert als dies beim Ansatz der menschlichen Sicherheit der Fall ist, der mit seinen drei Freiheiten explizit das Individuum adressiert.

Am deutlichsten steht beim Konzept der Menschenrechte das Individuum im Vordergrund, wo formulierte Rechte Schutz vor Ausgrenzung, Diskriminierung, Ungerechtigkeiten aber auch vor Gefährdungen des Lebens, der Gesundheit und der Lebensgrundlage bieten sollen. Auch wenn die rechtliche Grundlage der Menschenrechte aufgrund des Spannungsverhältnisses zwi-schen völkerrechtlichem und nationalem Rechtswerk kompliziert ist, weisen sie doch einen nor-mativen Charakter auf. Mit den Menschenrechten wird das natürliche Recht verbunden, das Leben eines Menschen zu schützen. Neben diesem moralisch-rechtlichen Grundsatz, bewirken die Rechte zudem, dass sich Lebensgrundlagen in Ausrichtung auf die Rechte verbessern. Damit weisen sie einen intrinsischen sowie instrumentellen Charakter auf. Besonders der intrinsische Charakter vermag es, motivierend zu wirken und Handlungen eine Richtung zu geben, um das Leben des Menschen zu schützen.

Zwar zählen alle drei Konzepte als eigenständige Ansätze, doch bilden sie einen weitaus stärkeren entwicklungspolitischen Rahmen, wenn sie als miteinander verbunden betrachtet werden. Besonders beim Konzept der menschlichen Sicherheit wird deutlich, dass der Schutz menschlicher Bedürfnisse eng mit menschlicher Entwicklung und den Menschenrechten kor-reliert. Neben dem eigentlichen Sicherheitskonzept werden die zwischen den drei Konzepten vorhandenen Nahtstellen berücksichtigt, wodurch sich ein umfassendes Entwicklungskonzept bildet, das verschiedene Perspektiven integriert, die aber alle auf dem gemeinsamen Grundsatz basieren, das Leben des Menschen zu verbessern. Des Gasper umschreibt dies wie folgt:

Des Casper geht noch weiter und sieht im human-security- Ansatz einen ethischen Ausruf, Sym-pathie und Solidarität gegenüber dem Menschen einzufordern. So stellt das Konzept als aller erstes die Frage nach der Perspektive, über wessen Sicherheit eigentlich diskutiert werden muss. Die Frage haben wir mittlerweile umfänglich beantwortet: nämlich die Sicherheit des Individu-ums, und zwar insbesondere desjenigen, das mit alltäglichen Deprivationen wie Hunger, Armut, Diskriminierung und mangelnden Chancen leben muss. Hierdurch fordere das Konzept, die Ursachen nationaler und globaler Spannungen und Konflikte zu untersuchen, womit gleichzei-tig Argumente geliefert werden, Verhalten auf Grundlage von Besonnenheit und Umsichtigkeit zu ändern, aber ebenso im Hinblick auf Gerechtigkeit und Sympathie.119 Hiermit eröffnet dieses Konzept das größte Potential, in ihm einen übergeordneten Rahmen für Entwicklungsfragen zu finden.

Im Kapitel 1 haben wir die internationale Klimapolitik reflektiert und thematisiert, dass sich das gegenwärtige Klimaregime sehr auf die Situation der Staaten fokussiert, begleitet von dem Anliegen, eine nachhaltige Wende zu erreichen, ohne dass bestehende politische Machtverhält-nisse zu sehr durcheinander gebracht oder umgestürzt werden. Paul Harris kritisiert hierzu, dass unter diesen Verhältnissen die Rechte und Pflichten der Menschen zu sehr ignoriert werden. Staaten sollen mehr berücksichtigen, wie sie das Individuum in den Mittelpunkt rücken kön-nen.120 Nach Analyse der Konzepte human security, human development und human rights, lässt sich sagen, dass die internationale Entwicklungspolitik jener Weg sein kann, unter dem Harris’ Forderung umgesetzt werden kann. Wird der Klimawandel als Bedrohung der menschlichen Sicherheit erachtet, weil er alltägliche Deprivationen hervorruft und verschlimmert, die als zu verhindernde Missstände im Kontext der menschlichen Entwicklung und der Menschenrechte gesehen werden, ließe sich eine human-centred- Klimapolitik in Verbindung mit der internatio-nalen Entwicklungspolitik betreiben. Auch wenn wir bejahen können, dass die Auswirkungen des Klimawandels entwicklungsrelevant sind – wir haben den Bezug klimatischer Veränderun-gen zu den Menschenrechten und den nachhaltigen Entwicklungszielen thematisiert –, so steht noch offen, wie genau der Klimawandel im Rahmen der menschlichen Sicherheit integriert wer-den kann.

3.4 Wege, den Klimawandel im Rahmen des Konzepts der menschlichen Sicherheit einzubinden

Um menschliche Sicherheit verwirklichen zu können, müssen sowohl die Menschenrechte ge-wahrt als auch Entwicklungschancen gefördert werden. Werden Menschenrechte unterminiert, wird zwangsläufig auch die menschliche Sicherheit unterminiert. Des Weiteren ist eine nachhal-tige Entwicklung wichtig, um Not zu mindern ( freedom from want ). Angelehnt an Sen können wir sagen, dass die Erweiterung individueller Entwicklungsmöglichkeiten die Grundlage bildet, gesellschaftliche Umstände nachhaltig zu verbessern.

Obwohl der Klimawandel in Verbindung mit einer Unterminierung der Menschenrechte und einer Verschlechterung von Entwicklungschancen gebracht wird, sind es genau genommen die Folgen seiner Auswirkungen, die Lebensbedingungen verschlechtern. Eine Dürre ist lediglich ein klimatisches Phänomen. Die Folge, dass daraus Nahrungsengpässe entstehen können, ist der eigentliche Missstand. Und hinzukommt, dass der Klimawandel meist keine genuine Ur-sache von Verschlechterungen ist, sondern klimatische Veränderungen treten in der Regel im Zusammenhang mit bereits vorhandenen Bedingungen auf. Lebensgrundlagen in semiariden Regionen gelten gegenüber dem Klimawandel nicht allein aufgrund eines trockener werdenden Klimas als gefährdet, sondern weil Abholzung, Übernutzung von Wasserreserven sowie nicht-nachhaltige landwirtschaftliche Anbaumethoden negativ auf die ökologische Verwundbarkeit einwirken. Streng genommen gibt es somit keine direkte Verbindung zwischen dem Konzept der menschlichen Sicherheit und dem Klimawandel, lediglich indirekt. Das Konzept basiert auf den drei Prinzipen freedom from fear, freedom from want und freedom to live in dignity . Keines zielt direkt auf den Klimawandel ab. Deshalb stellen sich Fragen, ob der Klimawandel im Kon-zept der menschlichen Sicherheit fest integriert werden kann, wenn offenbar Entwicklungsdefi-zite die grundlegende Problematik darstellen und nicht klimatische Veränderungen an sich; ist er wirklich eine Bedrohung der menschlichen Sicherheit oder stellen vielmehr die gesellschaft-lichen Missstände die Bedrohung dar, die durch ihn ‚lediglich‘ verschlimmert werden?

Der WBGU erweitert in seinem Bericht Sicherheitsrisiko Klimawandel den breiten Sicher-heitsbegriff bewusst um umweltbedingte Risiken. Auf diese Weise fällt der Fokus gezielt auch auf Umweltprobleme. Damit stünde der fortschreitende Klimawandel qua Definition als ein Si-cherheitsrisiko für den Menschen dar. Diverse sicherheitsgefährdende Probleme könnten somit im Zusammenhang mit ökologischen Auswirkungen analysiert werden, sofern eine Verbindung zwischen Klimawandel bzw. Umweltdegradation und gesellschaftlichen Gefährdungen existiert. Nach dem WBGU liegt das sicherheitsgefährdende Moment des Klimawandels vor allem in denjenigen Risiken und Dynamiken zugrunde, die die Schwelle zur Destabilisierung innerhalb von Gesellschaften und Staaten drohen zu überschreiten. Dies kann zu einer Situationen führen, aus der Konflikte resultieren – klimawandelbedingte Konflikte, die zum Typus „Neue Kriege“ zählen.121 „Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Elemente organisierten Verbrechens und Völkerrechtsverletzungen mit einer in der Regel internationalen Dimension vereinen und dass sich bei ihnen die Unterscheidung von öffentlichen und privaten, politischen und öko-nomischen Akteuren zunehmend auflöst.“122 Der WBGU will darum einen Sicherheitsbegriff etablieren, der weniger auf individuelle Schicksale fokussiert ist. Auf diese Weise soll unter an-derem auf politische Gegebenheiten und Erfordernisse eingegangen werden, um eine friedliche, globale Strukturpolitik zu schaffen.

Man könnte sagen, dass durch die erwachsenen Umweltprobleme eine neue Art von Sicher-heitsproblem entsteht. Nimmt man dieses als Anlass, die Sicherheitsthematik konkret um Um-weltprobleme zu erweitern, würde die Ökologie noch deutlicher in die Thematik integriert werden als dies der Fall wäre, wenn sie nur über das Konzept der nachhaltigen Entwicklung be-trachtet werden würde. Bisher galten Umweltprobleme nicht als Risikofaktor schlechthin. Auch in Zukunft muss nicht jede Umweltdegradation schwerwiegende Folgen haben. Allerdings zei-gen momentane Entwicklungen, dass sich Umweltveränderungen merkbar negativ auf den so-zioökonomischen Bereich auswirken (werden).123

Der Begriff der menschlichen Sicherheit des WBGU sieht gewaltsame Konflikte, die aus den Interdependenzen zwischen Gesellschaft und Umwelt hervorgehen können, als ein kol-lektives Sicherheitsproblem. Hierdurch erfährt die Sicherheitsfrage einen Rück-Wandel zum alten Verständnis, das Sicherheit anhand des Kollektivs ableitet. Menschliche Sicherheit be-rücksichtigt alltägliche Probleme des Individuums. Aus der individuellen Betrachtung werden dann Rückschlüsse auf die gesamtgesellschaftliche Situation gezogen. Umweltsicherheit nach dem WBGU würde hingegen zunächst als staatliches Problem verstanden werden, wovon sich dann Einzelschicksale ableiten ließen. Das Verständnis des WBGU ist pessimistisch ge-prägt. Sein Sicherheitsbegriff ist stark auf Konflikte und Kriege ausgelegt, die laut dem Beirat im Zuge des Klimawandels entstehen könnten. Unter dieser Betrachtung könnten klassische Entwicklungsmissstände vernachlässigt werden, die allerdings, unter der Voraussicht, dass der Klimawandel als Katalysator von Missständen agieren wird, gerade das Hauptproblem in Zukunft darstellen werden. Die seit dem Ende des Kalten Krieges geschehene Entwicklung der menschlichen Sicherheitsdebatte beabsichtigt gerade, den Fokus auf alltägliche Probleme zu setzen. Sollte sich der Klimawandel verschärfen, und dies tatsächlich mit einem Anstieg von Konflikten verbunden sein, ist wohl eher damit zu rechnen, dass diese Konflikte dadurch entstehen, weil tägliche, menschliche Bedürfnisse im Zuge einer klimatischbedingten Degra-dation nicht mehr gedeckt werden können und die Menschen in ihrer Hoffnungslosigkeit zu Gewalt greifen.

Einen anderen Gedanken verfolgt Hans Günther Brauch. Auch für ihn setzt der Klimawandel neue Herausforderungen an die menschliche Sicherheit. Darum müsse nach ihm das Sicher-heitskonzept auf Umweltfragen ausgedehnt werden. Allerdings will er nicht das Sicherheitsver-ständnis, sondern lediglich das Konzept erweitern, daher lehnt er seine Argumentation an das Drei-Pfeiler-Konzept der human security an. Damit im Konzept Umweltfragen besser berück-sichtigt werden, sprach sich Brauch auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen im April 2011 zur menschlichen Sicherheit für einen weiteren, vierten Pfeiler aus:

Brauchs vierter Pfeiler, Freiheit von Gefahrenereignissen ( freedom from hazard impacts ), weist zunächst eine ähnliche Reichweite wie der Pfeiler Freiheit von Furcht auf. Ähnlich wie bei phy-sischen Unsicherheiten im Zuge von Krieg und gewalttätigen Konflikten, sind von natürlichen Extremereignissen größere Mengen an Menschen zur selben Zeit gefährdet, darum spricht Brauch nicht nur vom Individuum als Sicherheitssubjekt, sondern von Gemeinden bzw. Ge-meinschaften ( communites ). Dennoch fokussiert er sich nicht auf die staatliche Sicherheit, wie der WBGU, sondern hebt den Zusammenhang zwischen Gefahrenereignissen und mensch-licher Sicherheit hervor. Dies bedeutet allerdings auch, dass weiterreichende gesellschaftliche Konsequenzen wie Migration oder Ausschreitungen, die die nationale Sicherheit destabilisieren könnten, unter dem vierten Pfeiler ungeachtet bleiben.

Weiter löst Brauch die Differenz zwischen Klimawandel und anthropogener Umweltdegrada-tion auf, indem er sich allgemein auf hazard impacts bezieht, unter denen sich diverse Ereignisse subsumieren lassen, sowohl klimatische Ereignisse, Ereignisse, die sich auf die vom Menschen gemachte Umweltdegradation zurückführen lassen, als auch die Kombination beider. Somit ist der Pfeiler nicht lediglich eine Erweiterung von freedom from fear, sondern hat eine klare öko-logische Gesinnung. Dies verdeutlicht sich mit der Erklärung, dass Extremereignisse schwer-wiegende Auswirkungen auf Wasser, Böden, Nahrung und die Sicherung der Lebensgrundlage haben. Damit wird die ökologische (Mit-)Ursache von Entwicklungshindernissen mit in die Sicherheitsanalyse genommen. Folglich lässt sich aus dem vierten Pfeiler eine Forderung der Reduzierung der ökologischen Verwundbarkeit ableiten, mit der eine Verringerung der Bedro-hung gegenüber klima- und umweltbedingter oder ähnlicher (z. B. geophysischer) Gefahren für die Gesellschaft erreicht werden soll. Freiheit von hazards wird dann erreicht, wenn Menschen besser vor potentiellen Gefahren gewarnt werden, sie vor diesen geschützt sind und selbst die Fähigkeit haben, sich ihnen gegenüber vorzubereiten bzw. anzupassen. In seiner Ausführung stellt Brauch heraus, dass die Auswirkungen von Extremereignissen häufig durch Armut, un-zureichender Lebensmittelversorgung und nicht angemessene Wohnbaumaßnahmen in über-schwemmungsgefährdeten Gebieten bzw. Küstenregionen intensiviert werden.125 Der Kontext des Pfeilers richtet sich folglich nach der Risikoformel R1, in der Risiko in Abhängigkeit von Gefahrenereignissen, Vulnerabilität und Exposition gesetzt wird.

Der vierte Pfeiler hebt sich von den anderen ab, da er das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt gezielt hervorhebt. Hierdurch wird auf den Umstand verwiesen, dass Bereiche wie Ge-sundheit, Trinkwasser, Boden und Nahrung oder die menschliche Lebensgrundlage abhängig von ökologischen Bedingungen sind. Verschlechtern sich die ökologischen Bedingungen, ver-schlechtert sich das menschliche Leben, was mit einer Gefährdung der menschlichen Sicherheit einhergeht. Der Klimawandel ruft eine solche Verschlechterung der ökologischen Bedingungen hervor. Folglich liegt im Konzept des vierten Pfeilers eine Botschaft inne: „Von ‚wir‘ sind die Be-drohung (aufgrund unseres Energieverbrauchs), geht es über zum ‚wir‘, die unseren Verbrauch ändern und unsere Führungsstrukturen anpassen müssen, um den globalen Treibhausgasaus-stoß zu reduzieren.“126 Dies reicht allerdings nicht aus. So erwähnt Brauch, dass gefährliche Er-eignisse nicht verhindert werden können, aber deren Auswirkung reduziert werden könnten. Damit verstärkt der Pfeiler die Forderung nach einer nachhaltigen Entwicklung inklusive Adap-tation und Katastrophenrisikomanagement neben Mitigation.

Sowohl der Ansatz des WBGU als auch der UN-nahe von Brauch sehen Klima- bzw. Um-weltveränderungen als Gefährdung der Sicherheit. Beide verfolgen mit ihren Ansätzen, dass aus Umweltproblemen resultierende Sicherheitsrisiken nicht länger aus dem herkömmlichen human-security- Konzept abgeleitet werden, sondern ökologische Gefährdungen direkt wahr-genommen werden sollen. Der WBGU setzt den Schwerpunkt auf Gefahren wie Konflikte und Kriege, die im Zuge von Umweltdegradation und Klimawandel entstehen könnten. Damit steht neben der Gesellschaft auch der Staat mit im Vordergrund. Brauch bleibt hingegen dem Kon-zept der menschlichen Sicherheit treu und sieht durch hazard impacts die Sicherung von Wasser, Boden, Nahrung und Gesundheit bedroht, woraus Unsicherheiten für den Einzelnen hervor-gehen können. Mit Brauchs Pfeiler bekommt besonders das Verhältnis Mensch – Umwelt si-cherheitsrelevante Aufmerksamkeit. Mit dem vierten Pfeiler soll verdeutlicht werden, negativen Umwelteinflüssen mit einer nachhaltigen Entwicklung entgegenzuwirken, um Verwundbarkeit zu reduzieren und die Bewältigungskapazitäten der Bevölkerung zu stärken. Hazard impacts als Bedrohung der menschlichen Sicherheit zu sehen, verweist somit ebenso auf die Konzepte der menschlichen Entwicklung und der Menschenrechte.

Die gezielte Erweiterung des Konzepts der menschlichen Sicherheit um die ökologische Di-mension, erleichtert nicht gerade die Umsetzung des Konzepts. Bereits die Ogata-Sen-Kommis-sion zur menschlichen Sicherheit im Jahre 2003 sorgte für eine Auflösung klarer Abgrenzungen bezüglich der verschiedenen Bereiche, die im Sicherheitsdiskurs thematisiert werden sollten, wodurch sich die Thematik, die sich hinter dem Begriff Sicherheit verbirgt, ausgedehnt und die Sicherheitsarbeit folglich kompliziert hat. Allerdings ist ein Zusammenhang von ökologischen Implikationen und Sicherheit nicht von der Hand zu weisen. Eine Ignorierung von Klimafolgen und Umweltdegradation wäre somit nachlässig, sofern beabsichtigt wird, die Sicherheitsdebatte wirklich sinnvoll zu führen. Richard Jolly und Deepayan Basu Ray äußern sich hierzu wie folgt:Allerdings weisen sie ebenso darauf hin:

Wenn Unsicherheit aus verschiedenen Arten und Formen resultiert, muss sich die Politik mit diesen beschäftigen und Maßnahmen finden, teilweise auch im Lichte eines neuen Ansatzes, diesen Formen zu entgegnen. Eine Aufweitung des Konzepts der menschlichen Sicherheit um natürliche Extremphänomene kann deshalb unumgänglich sein, wenn Lebensgrundlagen durch unberechenbare Klima- und Umweltveränderungen gefährdet werden.

Aufgrund der Korrelation der verschiedenen Konzepte bedeutet eine Betrachtung von Kli-mafolgen im Rahmen der menschlichen Sicherheit auch den Klimawandel in Verbindung zur menschlichen, nachhaltigen Entwicklung und zu den Menschenrechten zu betrachten. Die Un-sicherheit des Klimawandel folgt nicht lediglich aus Klimaphänomen, sondern im Zusammen-hang mit gesellschaftlichen Missständen und Defiziten. Die Klimaproblematik ist folglich auch eine Entwicklungsthematik. Klimapolitik muss sich daher auch als Entwicklungspolitik für den Menschen sehen.

3.5 Die Bedeutung von Ökosystemen in einer geforderten Zusammenarbeit zwischen Anpassung an den Klimawandel und Katastrophenvorbeugung

Im Abschnitt zur nachhaltigen Entwicklung haben wir bereits den integrativen Ansatz der nach-haltigen Entwicklungsziele (SDGs) thematisiert, mit dem verfolgt wird, dass unter anderem Be-reiche wie Anpassung an den Klimawandel und Katastrophenrisikomanagement gemeinsam im Entwicklungskatalog eingebunden werden sollen, um einen besseren Schutz durch nachhaltige Entwicklung zu erzielen. An dieser Stelle soll die Gelegenheit genutzt werden, sich beiden Dis-ziplinen im Hinblick auf den Klimawandel näher zu widmen.

Neben der soeben beschriebenen Sicherheitsdebatte wird der anthropogene Klimawandel auch im Zusammenhang mit Veränderungen des natürlichen Lebensraums von Ökosystemen gebracht. Dabei wird auf die Verluste an Tier- und Pflanzenarten im Zuge von Degradation und Temperaturerhöhungen verwiesen, bei sehr umsichtigen Ausführungen auch auf den Verlust der Lebensqualität, den indigene Völker im Zuge einer sich verändernden Umwelt erleiden. Ihr Leben und ihre Lebensgrundlage sind eng mit der Umwelt verflochten, sodass ihr Schicksal als besonders schwerwiegend beschrieben wird.129 Die Umweltveränderungen wirken sich auf ihr tägliches Handeln aus und können aufgrund ihrer engen Bindung zur Umwelt starke emotiona-le Reaktionen hervorrufen. Dabei beschränken sich die emotionalen Reaktionen nicht nur im Erleben des Verlustes, sondern auch im Ausblick, dass der Wandel ihrer Umwelt nicht nur an-halten wird, sondern sich in Hinsicht der Schwere aller Voraussicht noch weiter verschlimmern wird.130

Eigentlich müsste dieser Verweis auf das Leben indigener Völker erschreckend für uns sein. Es hat beinahe den Anschein, dass ihre Verbindung zur natürlichen Umwelt von einer Exklusivi-tät gekennzeichnet ist, dass man den indigenen Lebensstil als Argument verwendet, um zeigen zu können, wie wichtig Klimaschutz ist, damit natürliche Lebensräume und der Lebensstil in-digener Gruppen geschützt werden können. Doch verbindet den Menschen im Industriestaat sowie den Menschen im wirtschaftlich wachsenden Entwicklungsland, der sich allmählich den westlichen Lebensstil aneignet, eine ähnlich besondere Beziehung zu seiner Umwelt. Nicht nur, weil sie mit ihrem ökonomischen Nutzen eine Lebensgrundlage darstellt, sondern da sie ent-scheidenden Einfluss auf Gesundheit und Wohlergehen nimmt.

Laut den Sachstandsberichten des IPCC agiert der Klimawandel als Treiber für häufigere und intensivere Wetterextreme. Plötzlich auftretende Ereignisse können in kürzester Zeit verheeren-de Schäden verursachen. Das Risiko gegenüber ihnen ist dabei nicht völlig zu beseitigen. Die Auswirkungen von Stürmen, Überschwemmungen, Massenbewegungen wie Lawinen oder Erd-rutschen sowie Waldbränden können gesellschaftliche Bereiche stark erschüttern. In weniger entwickelten Ländern verursachen Extremereignisse meist eine hohe Anzahl an Mortalität und Morbidität, in entwickelten Ländern fallen hingegen die finanziellen Schäden beträchtlich aus, was hauptsächlich dem hohen Lebensstandard und Wirtschaftswachstum geschuldet ist. Seit 1970 hat sowohl der ökonomische Verlust als auch die Anzahl der von Katastrophen betroffenen Menschen deutlich zugenommen.131 Bis sich ein System von solch einem Ereignis erholt hat, können Jahre vergehen, besonders in weniger entwickelten Ländern, wenn Gelder, die für na-tionale Entwicklungsprojekte eingeplant waren, für den Wiederaufbau genutzt werden müssen. So fällt zwar der absolute ökonomische Verlust in Industriestaaten höher aus, aber in Relation zum BIP ist der Gesamtverluste in Entwicklungsländern deutlich gravierender. Einschneidende Katastrophen können einen Rückgang des BIPs von deutlich über 10 % zur Folge haben. Als im Jahre 2010 Haiti von einem Erdbeben der Stärke 7,0 getroffen wurde, erlitt das Land einen Scha-den in Höhe von 8 Milliarden US-Dollar, was 73 % des jährlichen BIPs entsprach.132

Die Statistiken der Munich Re belegen ein immer häufigeres und intensiveres Auftreten von natürlichen Extremereignissen. Folglich wachsen die finanziellen Gesamtschäden an. Dabei gibt es keine Anzeichen, dass dieser Trend wieder abnimmt. Sowohl meteorologische (Stürme), klimatologische (Temperaturextreme, Dürren, Waldbrände) und vor allem hydro-logische Ereignisse (Überschwemmungen, Massenbewegungen) haben in den letzten drei Jahrzehnten zugenommen. Rund 600 bis 700 Schadensereignisse dieser drei Kategorien gab es in den letzten Jahren jährlich. Ereignisse mit geringem Schadensausmaß sind hierbei nicht mitberücksichtigt.133 80 % der weltweiten ‚Naturkatastrophen‘ weisen einen Bezug zum Kli-mawandel auf. Zwischen 1980 und 2014 waren dies insgesamt 19 200 Ereignisse. Die rest-lichen Prozent sind geophysikalische Katastrophen (Erdbeben). Diese 19 200 Ereignisse ver-ursachten über den genannten Zeitraum weltweit einen Schaden in Höhe von 3300 Milliarden US-Dollar – rund zwei Drittel der Schäden waren nicht versichert. Über 850 000 Menschen ließen ihr Leben dabei.134

Wenn 80 % der weltweiten ‚Naturkatastrophen‘ einen Bezug zum Klimawandel aufweisen, warum wird zwischen Anpassung an den Klimawandel und dem Katastrophenrisikomanage-ment unterschieden? Vor allem da viele Strategien in das Resort beider Disziplinen fallen. Die Aufforstung von Mangrovenwäldern an Küsten bietet zum Beispiel sowohl Schutz vor einem steigenden Meeresspiegel als auch Schutz vor extremen Wetterereignissen. In der wissenschaft-lichen Literatur wird die Separierung beider Bereiche seit längerem kritisiert. Der Schnitt beider Disziplinen stehe so einem wertvollen Gewinn an Synergieeffekten im Wege.

Um die Separierung nachvollziehen zu können, müssen wir uns die Tradition beider Berei-che ansehen. Nach Frank Thomalla et al.verstand man Adaptation anfangs als den Bereich, der sich mit kommenden Extrembedingungen, also Langzeitveränderungen des Klimas (bis zum Jahre 2100) sowie potentiellen Konsequenzen des Klimawandels unter verschiedenen Emis-sionsszenarien, beschäftigen sollte. Ein starker Zusammenhang mit dem Umweltschutz wurde dabei impliziert. Ausgangslage der Arbeit war die Vulnerabilität von Systemen. Das disaster risk management befasst sich hingegen nicht nur mit klimainduzierten Katastrophen.135 Wie bereits erwähnt stellen diese zwar über 80 % dar, doch gehören geophysikalische Ereignisse oder humane Katastrophen (z. B. Chemie-, Atom- und Technikkatastrophen) ebenso zum Auf-gabengebiet. Das Katastrophenmanagement ist somit auf ein größeres Sortiment an Katastro-phen ausgerichtet.

Schipper und Pelling führen die Isolation beider Arbeitsbereiche auf drei, sich zum Teil mit Thomallas Thesen überschneidende, Hauptdiskrepanzen zurück: Zunächst beschäftigt sich die Klimapolitik ausschließlich mit klimabedingten Risiken und ihren Auswirkungen; zweitens ist der jeweilige Zeitraum, mit denen sich beide Bereiche beschäftigen, verschieden (Auswirkungen von Katastrophen sind relativ direkt und konzentriert, wohingegen Konsequenzen des Klima-wandels bezogen auf soziale Veränderungen über einen langen Zeitraum entstehen); und zuletzt bleibt die Fokussierung der Reduzierung des Katastrophenrisikos auf lokaler und nationaler Ebene, während die Klimapolitik einen globalen Geltungsbereich einnimmt.136

Die Separierung beider Bereiche wurde durch unterschiedliche, internationale Überein-kommen von Anfang an geprägt. Mit zunehmender Bedeutung des Klimawandels wurde ein internationales Rahmenübereinkommen (UNFCCC) geschaffen, das für sämtliche Belange des Klimawandels Richtlinien vorgibt. Das Abkommen über Klimaänderungen stellt nicht nur den Rahmen für die Klimapolitik dar, sondern bereitet ebenso die Basis für Forschung, Wissenschaft und Entwicklungszusammenarbeit unter Berücksichtigung des Klimawandels. Da mit den Jah-ren der Klimawandel immer größere Präsenz in Politik und Gesellschaft einnahm, wuchs eben-so die Bedeutung des UNFCCC.

Das Katastrophenrisikomanagement blickt auf eine deutlich längere Tradition zurück. Auch hieretablierten sich über die Jahre internationale Richtlinien (Hyogo und Sendai Abkommen) sowie internationale Organisation. Dennoch wurde Katastrophenprävention als ein Ziel ver-standen, das hauptsächlich von lokalen Akteuren verfolgt und in der Vergangenheit weniger international thematisiert wurde. Sinnbildlich ist hierfür die Entstehung des UNISDR. Es wur-de als internationaler Hauptakteur der Katastrophenrisikoreduzierung von der Generalver-sammlung der Vereinten Nationen erst 1999 ins Leben gerufen wurde, sieben Jahre nach dem UNFCCC, obwohl das Gebiet bereits seit Jahrzehnten von nationaler Relevanz war.

Mit der zunehmenden Bedeutung des Klimawandels in der internationalen Politik nahm die Förderung und die Finanzierung nationaler sowie internationaler Projekte gegen den Klima-wandel innerhalb weniger Jahre stark zu. Mit dem Special Climate Fund , Least Developed Count- ries (LDC) Fund , Adaptation Fund und dem Green Climate Fund (GCF) gibt es beispielsweise gleich vier internationale Fonds, die die Anpassung an den Klimawandel unterstützen.137 Zwar reicht das Volumen der Klimafonds längst nicht aus, um Anpassungsmaßnahmen großflächig zu unterstützen, doch wurden in relativ kurzer Zeit weitaus mehr Gelder generiert und Projekte gestartet, als im Bereich des Katastrophenmanagements vorliegen.

Die offensichtlichste Differenz zwischen beiden ist das breitere Aufgabenfeld des Katastro-phenrisikomanagements gegenüber der Klimafolgenanpassung. In der Summe gründet die Separierung aber eher auf künstliche Belange, hauptsächlich gefördert durch die Existenz ver-schiedener Akteure und internationaler Übereinkommen. Zum größten Teil reduzieren adapti-ve Maßnahmen auch das Katastrophenrisiko sowie katastrophenpräventive Strategien positive Effekte auf die Anpassung an den Klimawandel haben. Beide Disziplinen arbeiten mit densel-ben bzw. ähnlichen Maßnahmen. Die Aufforstung von Mangroven wurde diesbezüglich bereits genannt. Ein weiteres Beispiel zeigt sich bei der Bewirtschaftung von Wassereinzugsgebieten ( watershed management ): Indem mit einer Verbesserung eines Fließsystems die Wasserverfüg-barkeit und -regulierung in Zeiten mit zu wenig als auch mit zu viel Wasser beeinflusst werden, kann die Wahrscheinlichkeit eines Eintritts von Fluten ebenso wie von zukünftigen Dürren re-duziert werden.

Mittlerweile haben sich beide Bereiche angenähert. Dies wurde sicherlich ermöglicht, da der Anpassung an den Klimawandel über die letzten Jahre größere Bedeutung und Aufmerksam-keit zugesprochen wurde und klimabedingte Extremereignisse zugenommen haben, sodass es angebracht war, die separate Stellung beider Disziplinen zu überdenken. Aus der COP 13 im Dezember 2007 ging unter anderem der Bali Action Plan als zentrales Ergebnis aus der Konfe-renz hervor. Der Plan hebt hervor, dass adaptive Strategien ebenso wichtig seien wie mitigative. Gleichzeitig wurde zum ersten Mal ein Bogen zwischen Mitigation, Adaptation und der Katas-trophenvorbeugung im Rahmen des UNFCCC gespannt. Man verwies darauf, dass gerade in weniger entwickelten Ländern Strategien und Mittel zur Katastrophenreduzierung notwendig seien, um klimabedingte Verluste und Schäden zu verringern. Es sei wichtig, dass die durch die Kooperation gewonnen Synergieeffekte ein entscheidendes Mittel darstellen, um die jeweiligen Maßnahmen in einer schlüssigen und ganzheitlichen Art und Weise zu fördern.138 Sechs Jahre später wurde auf der COP 19 mit dem Warschauer Mechanismus ein Mittel geschaffen, das die Kooperation zwischen Anpassung an den Klimawandel und dem Katastrophenrisikomanage-ment weiter voranzubringen sollte. Unter dem Warsaw International Mechanism for Loss and Damage associated with Climate Change Impacts, so der offizielle Name, sollen Klimarisiken be-wertet und beurteilt werden, wie mit diesen umzugehen ist. Er gilt als das Bindeglied zwischen den Bereichen adaptation und disaster risk reduction . Dass der Mechanismus zu Loss & Dama-ge darüber hinaus im Pariser Klimaabkommen unter dem Artikeln 8 Einzug fand, ist zudem ein deutliches Zeichen, dass die Zusammenarbeit beider Disziplinen als ein wertvolles Mittel zur Vulnerabilitäts- und Risikoreduzierung gegenüber Extremereignissen verstanden wird. Das Sendai-Abkommen zur Katastrophenrisikoreduzierung oder die National Adaptation Plans be-kräftigen weiter, dass der jeweils andere Bereich nicht außer Acht gelassen werden darf. Mit den nachhaltigen Entwicklungszielen existiert zusätzlich ein übergeordneter Rahmen, unter dem die einzelnen Disziplinen zusammengebracht werden.

Das Katastrophenrisikomanagement richtet sich heute ebenfalls nach dem Prinzip der Nach-haltigkeit. Zwangsläufig spielt darum auch der Umweltschutz eine Rolle, der ursprünglich pri-mär mit der Anpassung an den Klimawandel in Verbindung gebracht wurde. Nach dem Mill- ennium Ecosystem Assessment hat der Mensch über die letzten 50 Jahre die Ökosysteme in solch einer Geschwindigkeit und Reichweite verändert, wie in keinem vergleichbaren Zeitraum der Menschheitsgeschichte, hauptsächlich um die schnell anwachsenden Nachfragen nach Essen, Frischwasser, Holz, Textilfaser und Treibstoff zu decken.139 Umweltdegradation hat dabei nicht nur langfristige Auswirkungen, Umweltveränderungen beeinflussen auch Katastrophen in ei-nem zeitnahen Rahmen. Die Zusammenarbeit beider Bereiche gründet demnach auch auf ein spezielles, gemeinsames Umdenken innerhalb der Bereiche, wodurch ein nachhaltiges Wirt-schaften immer mehr in den Vordergrund rückt.

Das Wissen indigener Gruppen wird in diesem Zusammenhang als besonders wertvoll er-achtet. Über viele Jahre haben moderne Technologien traditionelle Praktiken verdrängt. Dabei hat sich herausgestellt, dass moderne Herangehensweisen zwar die einfacheren sein können, allerdings nicht immer die geeignetsten. Das Ergebnis ist, dass viele Regionen heute erheblich unter Umweltdegradation leiden. Indigene, traditionelle Methoden sind nicht nur nachhaltiger, sondern könnten in vielen Regionen auch das Mittel sein, mit dem der heutige Bedarf unter er-schwerten klimatischen Bedingungen gedeckt werden könnte. Sie stehen im Einklang mit der natürlichen Umwelt, schützen natürliche Ressourcen und sind gegenüber klimatischen Verän-derungen belastbarer.140 So lässt sich sagen, dass indigene Gruppen bereits die nötige Antwort auf heutige Fragen haben, dementsprechend stellen ihre Methoden und ihr Wissen ein wertvol-les Gut dar und scheint wertvoller als je zuvor zu sein. Unter Artikel 7 des Pariser Abkommens, der Adaptation gewidmet ist, wird beispielsweise hingedeutet, dass traditionelles, indigenes Wissen bei Maßnahmen mitberücksichtigt werden soll. Mit dem Fortschritt in den letzten Jahr-zehnten hat dieses allerding teilweise an Bedeutung verloren und wurde gar vergessen, sodass traditionelles Wissen erst wieder bekräftigt und wiedererlernt werden muss.141

Sollen Nachhaltigkeit und Umweltschutz tatsächlich bedeutende Punkt darstellen, müssen in Strategien verstärkt natürliche Maßnahmen eigebunden werden. Die beiden Schlagwörter sind hierbei Ecosystem-based Adaptation (EbA) bzw. Ecosystem-based Disaster Risk Reduction (Eco-DRR) – oftmals auch unter den Begriff Nature-based Solutions zusammengefasst. Der Ansatz beider ist ähnlich: beide zielen auf den Wert der in den Ökosystemen vorzufindenden Güter, um Risiko zu senken. Eco-DRR verbindet ein nachhaltiges Management von Ökosystemen mit Me-thoden der Katastrophenrisikoreduzierung. Ökosysteme wie Feuchtgebiete, Wälder oder Küs-tensysteme stellen eine natürliche Infrastruktur dar. Mit deren Konservierung, bedachter Be-wirtschaftung, Renaturierung bzw. mit einer Wiederherstellung von Ökosystemen, ergänzt mit klassischen Maßnahmen wie Frühwarnsysteme oder Ingenieursbauten, wird exposure reduziert und die Widerstandsfähigkeit heraufgesetzt. Bei EbA soll mit einem nachhaltigen Management, einer Konservierung oder Renaturierung, Biodiversität und die von den Ökosystemen bereit-gestellten Leistungen erreicht werden, Menschen und Gemeinschaften gegenüber den negativen Auswirkungen des Klimawandels anzupassen. Beide Ansätze sehen in Biodiversität ein Stabi-lisierungsfaktor von Ökosystemen, mit dem negative klimatische Veränderungen und natürli-che Extremphänomene abgemildert werden können. Die Vorteile dieser Ansätze sind vielfältig. Nicht nur wird risk, vulnerability und exposure herabgesetzt, die ‚grüne Lösung‘ ist auf langer Sicht auch weitaus kosteneffektiver als klassische Ingenieursbauten. Für die sogenannte graue Infrastruktur müssen in der Regel alle 15 bis 20 Jahre neue Investitionen getätigt werden, um Bauten zu erneuern und instand zu halten. Sowohl für den Bau als auch für die Instandhaltung sind große Ressourcen- und Arbeitskapazitäten nötig, die häufig innerhalb einer Gemeinde, Stadt, oder Region nicht verfügbar sind. Eco-DRR und EbA basieren hingegen von Anfang an auf jene Bedingungen, die lokal vorzufinden sind. Neben örtlichen Umweltbedingungen werden sozioökonomische sowie kulturelle Umstände miteingebunden.142

Der Wert von Ökosystemen bzw. ihrer Wiederherstellung, sofern sie im Zuge von mensch-lichen Aktivitäten zerstört wurden, muss allerdings den Menschen bewusst sein. Der Eingriff in Ökosystemen wird meist mit der gewonnenen Möglichkeit gerechtfertigt, neuen Wohnraum erschließen zu können, ohne jedoch die Bedeutung der Ökosysteme für den Menschen heraus-zustellen. Sowohl EbA als auch Eco-DRR liefern hierzu ein wertvolles, umweltethisches Argu-ment. Naturbelassene Gebiete und intakte Ökosysteme stellen nicht nur wichtige Rückzugsorte für den Menschen dar, dienen seiner Gesundheit oder bereiten einen ästhetischen Nutzen. Ihr Erhalt ist auch ausschlaggebend zum Schutz vor natürlichen Gefahrenereignissen. Wir können Ökosystemen demnach in direkte Verbindung mit dem menschlichen Wohl bringen. Für eine Studie über den entstandenen Schaden an Küsten durch den Tsunami im Indischen Ozean 2004 betrachtete eine Gruppe von Wissenschaftlern die Küstenlinie in Sri Lanka. Die Küsten waren zum größten Teil durch die bis zu sieben Meter hohe Welle stark verwüstet. Im Yala National-park entdeckten sie jedoch eine Stelle, in dem ein Ökoresort kaum Schaden nahm. Man er-hielt im Resort ein natürliches Ökosystem mit Wald und Dünen, die Häuser wurden zusätz-lich auf Pfeiler gebaut. Hierdurch befanden sich die Häuser wohl geschützt hinter Dünen und Bäumen.143 Sicherlich können Mangrovenwälder nicht allein Schutz vor Überflutungen bieten, ebenso können Aufforstungen an Hanglagen nicht jeden Landrutsch verhindern. Im Hinblick auf den langfristigen Effekt und ihrer Kosteneffizienz, stellen ökologische Maßnahmen jedoch einen wichtigen Beitrag neben herkömmlichen Strategien dar.

Schauen wir uns folgendes Beispiel an, das zeigt, wie ökologisch-basierte Maßnahmen her-kömmliche Methoden bereichern können. Die Küstenstadt Semarang liegt auf der indonesi-schen Insel Java, eine der dichtesten besiedelten Regionen weltweit. Die Gegend um Semarang ist von Küstenüberflutungen und Erdsenkungen bedroht. Das erhöhte Risiko gegenüber die-sen Gefahren lässt sich auf zwei Hauptursachen zurückführen: (1)  der klimatische Einfluss in Form des steigenden Meeresspiegels, intensiveren Regenfällen und zunehmenden Strom-abflüssen durch veränderte Witterungsbedingungen; sowie (2)  die rapide Urbanisierung im Zusammenhang mit einer schwachen Stadtplanung seitens der Regierung und Behörden. Um das Risiko zu reduzieren, wurde eine Reihe an Maßnahmen durchgeführt. Neben strukturel-len Maßnahmen wie Dämme, Hochwasserkanäle, Landgewinnung an Küsten, Pumpstationen und Poldersysteme auch nicht-strukturelle wie die Stärkung des organisatorischen Rahmens für Katastrophenmanagement, Küstenplanung und -management sowie die öffentliche Bildung und Aufklärung über die Gefahren und deren Ursachen. Neben dieser klassischen strukturellen sowie nicht-strukturellen Maßnahmen wurde zusätzlich eine ökologisch-basierte Maßnahme ergriffen, nämlich die Wiederherstellung und der Schutz der örtlichen Mangrovenwälder. Die Mangrovenwälder litten zuvor unter der Landwirtschaft, Industrie und dem Wohnungsbau. Mit ihrer Wiederherstellung stellen die Wälder nun nicht nur eine Maßnahme dar, mit der die Be-völkerung gegenüber den Änderungen angepasst und vor den Gefahren besser geschützt wird, sondern sie liefern zusätzlich einen ökonomischen Nutzen für den Fischfang, da Fischteiche geschützt werden und sich unter den neuen Bedingungen ausbreiten.144

In dichtbesiedelten urbanen Regionen mögen ökologisch-basierte Maßnahmen auf den ers-ten Blick schwieriger umzusetzen sein, da der Mangel an Flächen eine Planung schwieriger ge-staltet. Trotzdem lassen sich Wege für eine Renaturierung und Erweiterung von Grünflächen finden, die in Städten einen wichtigen Beitrag zum Klima- und Katastrophenschutz liefern. Grünflächen wie Parks, Gartenanlagen oder auch begrünte Hausfassaden und -dächer haben eine kühlende Wirkung, wodurch dem Wärmeinsel-Effekt in Metropolen entgegenwirkt wird. Zudem binden größere Grünflächen mehr CO2 und filtern die Luft. Mit einer Förderung der Landwirtschaft in urbanen Regionen lassen sich zudem nicht nur Grünflächen erweitern, son-dern regionale Nahrung kann produziert werden, wodurch Lieferungsketten reduziert werden. Begrünte Flächen tragen darüber hinaus zu einem besseren Abfluss von Niederschlägen bei. Be-sonders in tropischen Städten mit hohen Starkniederschlagsmengen kann hierdurch das Risiko gegenüber Überschwemmungen reduziert werden. Nebeneffekt der Begrünung ist die Reini-gung des abfließenden Wassers, bevor es in Böden versickert oder in die Kanalisation abfließt.

Anpassung an den Klimawandel und das Katastrophenrisikomanagement bieten allerdings keine vollkommene Sicherheit vor Gefahrenereignissen. Es besteht die Möglichkeit, dass die Umsetzung von Maßnahmen die Anfälligkeit in einem benachbarten Gebiet erhöht. Adaptation und Katastrophenrisikomanagement können demnach nicht nur Risiken beseitigen, sondern da sie mit ihren Maßnahmen in ein System eingreifen, können sie auch immer selbst Risiken produzieren. Komplexe Zusammenwirkungen zwischen Gesellschaft, Umwelt und Klimaverän-derungen machen es unmöglich, dass jemals alle relevanten Informationen offen liegen. Hinzu kommen beschränkte Kapazitäten. „Katastrophenschutz ist insofern unterkomplex, als dass er aufgrund einer einst getroffenen Entscheidung für den Katastrophenschutz, welche selbst als Entscheidung riskant ist und bleibt, ein Agieren mit begrenzten Ressourcen (etwa Wissen, Ma-terial und Sanktionsmöglichkeiten etc.) in einer unbegrenzten und damit überkomplexen Um-welt erfordert.“145 Um jedoch nicht vor der Komplexität zu erstarren, bleibt nach Martin Voss den Organisationen und Behörden nichts anderes übrig, als mit dieser Komplexitätsreduzierung zu leben. Im Hinblick auf die Notwendigkeit, Vulnerabilität zu verringern, bleibt nichts anderes übrig, als dieses Wagnis einzugehen.

3.6 Schlussfolgerung: Klimawandel aus der Perspektive der menschlichen Sicherheit und Entwicklungsförderung – der Weg aus der Krise?

Armut nimmt wesentlichen Einfluss auf den Verwundbarkeitsgrad einer Gruppe oder eines Systems. Auch deshalb gilt Armutsverringerung als Sinnbild für eine Förderung der mensch-lichen Entwicklung. Armut wird nicht allein durch Wirtschaftswachstum bekämpft, sondern Armut wird im Sinne Sens hauptsächlich durch eine Steigerung von Verwirklichungschancen, die dem Menschen konkret zur Auswahl stehen, behoben. Die alleinige Förderung von Entwick-lungschancen reicht allerdings nicht aus, um sich gegenüber den Gefahren des Klimawandels zu schützen. Die Integrierung der Bereiche Anpassung an den Klimawandel und Katastrophen-risikomanagement in das Konzept der nachhaltigen Entwicklung muss daher eine Maxime sein, um vor allem Verwundbarkeit nicht nur kurzfristig, sondern auf lange Sicht zu reduzieren. Das Vorhaben Risiken langfristig zu minimieren, hebt zudem die Bedeutung heraus, Umwelt- und Klimaphänomene durch mitigative Maßnahmen abzumildern. Risiken nachhaltig zu minimie-ren, bedeutet zudem, dass im Bereich der Adaptation und des Katastrophenrisikomanagements nicht nur weiterhin auf klassische Maßnahmen wie strukturelle (alle physischen Konstruk-tionen) und nicht-strukturelle (Wissen, Reglungen, öffentliche Wahrnehmung, Training und Ausbildung) zurückgegriffen werden soll, sondern ökologische Lösungen eine wichtige Option darstellen. Die Einbindung von Ökosystemen ist eine kostengünstigere Maßnahme, die gera-de auf lange Sicht effizient ist, da sie nicht erneuert werden muss und Naturgüter mit ihrem Wachstum über die Jahre größer und widerstandfähiger werden. Begriffe und Ziele wie Nach-haltigkeit, Entwicklung, Verwundbarkeitsreduzierung, Adaptation und Mitigation lassen sich alle unter das Konzept der nachhaltigen Entwicklungsziele fassen. Mit dem integrierten Ansatz der SDGs soll die individuelle Freiheit gestärkt und gesamtgesellschaftliche Verwundbarkeit re-duziert werden, folglich auch die negativen Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschen. Es muss allerdings bewusst sein, dass dies weder ohne Kostenaufwand noch ohne ein Zurück-bleiben von Restrisiko und -schäden möglich ist.146

Nachhaltigkeit ist nicht nur ein Mittel, um langfristig Verwundbarkeit und Treibhausgase zu reduzieren, Nachhaltigkeit hängt auch untrennbar mit der menschlichen Entwicklung zusam-men. Folglich hat Nachhaltigkeit den Anspruch, das menschliche Leben gerechter zu machen. Dies kann nur gelingen, wenn das Leben an sich als Wert gesehen wird. Denn Nachhaltigkeit macht keinen Sinn, wenn die Möglichkeiten auf Lebensweisen, die als ärmlich und kläglich angesehen werden, weiter Bestand haben: „das Ziel kann nicht sein, menschliche Entbehrung aufrechtzuerhalten.“147 Obwohl mit der Debatte zur menschlichen Entwicklung eine neue Sicht auf Entwicklung erreicht wurde, die über wirtschaftliches Wachstum hinausgeht, wird die Schaf-fung neuer Lebenschancen und der Schutz von Lebensgrundlagen nicht ohne die ökonomische Komponente machbar sein. Allein für die Umsetzung adaptiver Maßnahmen werden die jähr-lichen Kosten bis 2030 auf zwischen 280 und 500 Milliarden US-Dollar geschätzt.148 Darum wird ein integrierter Ansatz auch bei der Finanzierung unumgänglich sein. Neben internationalen Fonds und staatlicher Finanzierung, werden die SDGs nicht ohne eine Beteiligung der Industrie und des privaten Sektors umsetzbar sein. Nachhaltige Entwicklung muss daher auch einen öko-nomischen Nutzenaspekt haben, um Investitionen aus der Industrie und dem privaten Sektor wirtschaftlich ‚schmackhaft‘ zu machen, denn stellt die Wirtschaftlichkeit in diesen Sektoren nach wie vor mit den wichtigsten Entscheidungsfaktor dar. Belege wie, dass kompakte, walka- ble Städte ein weitaus größeres Niveau an wirtschaftlicher Entwicklung, Bildung und sozialer Gerechtigkeit vorweisen oder Nachhaltigkeit eine wirtschaftlich gewinnbringende Strategie ist, können Kooperationen unter den Akteuren fördern.149 Die Vereinten Nationen werden nicht müde die Verträglichkeit zwischen Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Wirtschaftlichkeit zu be-tonen. Die Meinung, man müsse sich zwischen der Bekämpfung des Klimawandels und einer wachsenden Weltökonomie entscheiden, sei ein unwahres Dilemma. Letztendlich komme es lediglich darauf an, auf welche Art und Weise Wachstum erzielt werde.150

Auch Sen argumentiert für ein besseres Wachstum im Zuge der menschlichen Entwicklung. Mit der erzielten Freiheit, die sich mit einer Vergrößerung der Verwirklichungschancen ergibt, ist der Mensch wirklich frei, darüber zu entscheiden, wie er seine Möglichkeiten einsetzt. Die-ser Umstand bewirke eine Steigerung der Effektivität und Vernunft. Darüber hinaus kann der Mensch mit seiner Freiheit für etwas bestimmtes eintreten. Dies muss nicht unbedingt direkt sein Leben tangieren, sondern er kann beispielsweise seine Freiheit dazu nutzen, sich für die Erhaltung einer Spezies einzusetzen, die durch Ausrottung gefährdet ist. Freiheit ist folglich ein wichtiger Faktor, Verantwortung gegenüber seiner Umwelt oder auch gegenüber einer nachhal-tigen Entwicklung wahrnehmen zu können.151

In diesem Zusammenhang können wir uns nochmals den bottom-up -Ansatz in Erinnerung rufen, der bei der Umsetzung der SDGs oder der NAPs verfolgt werden soll, und betrachten diesen unter Sens Gesichtspunkt. Indem die Bürger ihr Wissen und Fähigkeiten einbringen können, wird ihnen die Möglichkeit geboten, ihre Freiheit zu nutzen, sich mit etwas ausein-anderzusetzen und sich bei einer nachhaltigen Entwicklung zu beteiligen. Mit dem Mitwirken wird ein Bewusstsein erzeugt, mitverantwortlich für die eigene Zukunft zu sein. Persönliche Entfaltung und individuelle Entwicklungschancen werden somit nicht (vollkommen) vom Handeln anderer abhängig. Wird diese Partizipation hingegen verwehrt, kann der Zustand entmutigend sein. Die Bevölkerung fürchtet sich dann nicht nur vor etwaigen negativen Ent-wicklungen, auf die sie keinen Einfluss nehmen kann, sondern sie muss auch mit der Depriva-tion leben, nicht für die Sicherheit ihres Lebens sowie für ihre Lebensgrundlage eintreten zu können.

Den Rahmen einer solchen Entwicklung stellt die Politik mit ihren staatlichen Institutionen. Mit welchen Bemühungen eine Regierung für die Beseitigung eines Risikos eintritt, hängt nach Sen gar mit der Regierungsform eines Landes zusammen. Bisher gab es beispielsweise in keiner Demokratie eine Hungersnot, da Regierungen eines demokratisch-geführten Landes schlicht-weg zu große Anreize haben, eine solche Not zu verhindern. Sollten selbst 10 % der Bevölke-rung keinen Zugang zu Nahrung haben (was bereits ein hoher Prozentsatz darstellt) aufgrund von Dürren oder Überschwemmungen, sei der Aufwand, dagegen etwas zu unternehmen, eher gering. Generell sei genug Nahrung vorhanden, um solche Ausfälle zu kompensieren. Die rich-tige politische Führung in solch einer Krisensituation verhindere Nöte wie Hunger, Mangeler-nährung und Erschöpfung, ebenso ein Zusammenbruch der sanitären Einrichtungen im Zuge der Überbelastung durch umherziehende Menschen.152 Allerdings muss es darum gehen, solche Krisensituation durch antizipatorische Maßnahmen bestmöglich zu vermeiden. Im Hinblick auf eine Verschärfung der klimatischen Veränderungen und den oftmals fehlenden politischen Weitblick, den besonders demokratisch geführte Länder haben, kann nur an die Bemühungen der Regierungen appelliert werden, eine nachhaltige Entwicklung voranzutreiben. Zwar können Krisen und Katastrophen auch Lernmomente sein,153 aus ethischer Sicht kann es aber nicht in unserem Interesse liegen, dass ein Umdenken erst stattfindet, wenn Katastrophen und Defizite so verheerend ausfallen, dass die Sicherheit schwerwiegend bedroht ist. Eine Entwicklungspoli-tik im Sinne der menschlichen Sicherheit kann den Fokus auf die Sicherheitsthematik setzen, unter gleichzeitiger Förderung einer menschlichen, nachhaltigen Entwicklung, um solch einen Wandel entgegenzuwirken.

Sowohl die Agenda 2030 als auch das Pariser Klimaabkommen sind 2016 in Kraft getreten. Mit den NAPs und dem Sendai Framework for Disaster Risk Reduction wurde darüber hinaus internationales Leitwerk geschaffen, um Ländern einen Kurs zu geben, sich gegenüber den Kli-mawandel und Extremereignissen anzupassen. Ein konkreter politischer Kurswechsel ist aller-dings noch nicht zu erkennen, obwohl der Klimawandel zum dominierenden Thema in Politik und Gesellschaft geworden ist und die Appelle an Regierungen, ihre Klimaschutzbemühungen zu intensivieren, seit dem Kyoto-Protokoll zugenommen haben. Nach wie vor geschieht die Umsetzung der Ziele auf freiwilliger Basis und Klimapolitik wird in den nationalen Politiken unterschiedlich priorisiert. Wie sehr internationale Klimapolitik hinter den Erwartungen zu-rückbleibt, lässt sich anhand der Ausgaben für die Entwicklungspolitik innerhalb der EU zeigen. Wir haben aufgezeigt, dass Maßnahmen gegen den Klimawandel eine entwicklungspolitische Angelegenheit sind. Dies bedeutet, dass internationale Klimapolitik im Sinne politischer Zu-sammenarbeit, so wie es das UNFCCC fordert, unter das Resort der internationalen Entwick-lungszusammenarbeit eines Landes fällt. Bereits 1970 hatten die Vereinten Nationen das Ziel formuliert, dass 0,7 % des Bruttonationaleinkommens eines entwickelten Landes in Entwick-lungshilfe investiert werden solle (ODA-Quote). Hiervon sind die meisten EU-Staaten weit ent-fernt. Lediglich Dänemark, Großbritannien, Luxemburg und Schweden erreichten dieses Ziel die letzten Jahre. Mit 0,38 % lag Deutschland im Jahr 2013 sogar noch hinter dem EU-Schnitt von 0,41 %.154 Auch in den nächsten Jahren wird Deutschland die ODA-Quote nicht erreichen, da der deutsche Haushaltsplan unter anderem Einsparungen bei den Ausgaben für die Entwick-lungszusammenarbeit vorsieht.155 Ein ernüchterndes Ergebnis, sieht sich die EU doch selbst als Zugpferd der internationalen Klimapolitik. Hoffnung machen hingegen neu geschaffene Netz-werke wie ICLEI ( Local Governments for Sustainability ) oder C40. Diese Netzwerke fördern den Austausch und die Zusammenarbeit zwischen Regionen und Städten hinsichtlich der nachhal-tigen Entwicklungsziele und dem Klimaschutz. Zu C40 gehören 90 der weltweit größten Städte auf diesem Planeten. Damit repräsentiert das Netzwerk über 650 Millionen Menschen sowie ein Viertel der Weltwirtschaft.156 Unter diesem Zusammenschluss übernehmen die Städte Ver-antwortung gegenüber den globalen Klimaschutz und fördern eine nachhaltige Entwicklung in ihren Städten. Das Handeln der Städte unter Eigenverantwortung erleichtert es, schnellere Fortschritte zu erzielen, da sie nicht warten müssen, bis der Staatsapparat nationale Strategien verabschiedet. Die Initiative der Städte wird zudem durch eine enge Kollaboration zwischen Lo-kalregierung, Zivilbevölkerung, Privatwirtschaft und Wissenschaft begünstigt, die in urbanen Regionen in aller Regel besteht. Hierdurch lassen sich Programme und Ziele deutlich effizienter umsetzen.

Die Umsetzung der Inhalte von Rahmenabkommen hängt mit von nationalen Interessen, Prio-ritäten und Kapazitäten ab, die von Zeit zu Zeit durch aktuelle Geschehnisse beeinflusst werden. Beispielsweise haben Norwegen, Kanada und Japan157 das Konzept der menschlichen Sicherheit als das Leitmotiv ihrer Außenpolitik integriert. Unter dem Prinzip der menschlichen Sicherheit wird somit ihre internationale Politik betrieben sowie Strategien zur öffentlichen Diplomatie an-geleitet, auf einem Wege moralischer Variabilität. Unter ihrem Konzept der human security fallen demnach politische Initiativen wie humanitäre Unterstützung, Entwicklungszusammenarbeit oder Einsätze zur Friedenserhaltung, Friedensmediation sowie Friedensförderung werden durch das Konzept der human security motiviert.158 Japan gehört zu den größten CO2

-Produzenten weltweit. Nach dem nuklearen Super-GAU von Fukushima im Jahre 2011 plante die Regierung verstärkt auf erneuerbare Energien zu setzen. Von diesem Vorhaben ist die Regierung mittlerwei-le wieder abgerückt, ebenso revidierte sie ihre ursprünglichen Reduktionsziele. Kanada ist 2011 unter dem Premierminister Stephen Harper (2006–2015) gleich ganz aus dem Kyoto-Abkom-men ausgetreten, nachdem offensichtlich wurde, dass das Land die Reduktionsziele bei weitem verfehlen wird. Norwegen wird zwar heute als Vorreiter von Elektromobilität und Nachhaltigkeit gesehen, die Transformation wird allerdings zum großen Teil durch seinen Export von Öl- und Gas finanziert. Wir sehen also, dass die politische Aufnahme des Konzepts der menschlichen Sicherheit durchaus als Zug angesehen werden kann, der die politischen Außendarstellung eines Landes in einem humanitären Bild darstellen lässt, trotzdem bleibt es ein Leitmotiv, das zu keiner Erfüllung verpflichtet. Nach Fabra Mata ist human security ein Teil eines spezifischen Models der öffentlichen Diplomatie, um ein Bild eines bemühenden Staates nach außen zu projizieren, der menschliches Leiden beenden will. Ein Konzept, das hilft, ein positives Image zu verbessern, sofern ein Zusammenhang zwischen Rhetorik und Praxis vorhanden ist. Allerdings auch ein Konzept mit großem Potential, das jedoch nicht immun gegen Gefahren ist, besonders wenn es mehr zum Zwecke der Selbstdarstellung und den damit verbundenen Vorteilen dient. Um Kon-zepte international zu bekräftigen, muss deren Nutzen bewusst sein. Diese Aufklärung sei nicht ohne akademisches Wissen denkbar, so Fabra Mata.159 Hierzu lässt sich anmerken, dass wissen-schaftliche Disziplinen nicht nur zur Entstehung von Konzepten beitragen, an ihnen liegt es auch, die Mechanismen auszuarbeiten, um die Bedeutung des konzeptionellen Inhalts zu bekräftigen, wenn sie einmal in Kraft getreten sind. Konzepte wie das der menschlichen Sicherheit oder der Agenda 2030 sind zu umfangreich, dass politische Entscheidungsträger allein mit deren Bearbei-tung beauftragt werden könnten. Letztendlich „[sind Konzepte] immer noch das, was die Staaten daraus machen“160. Nach Mark Duffield ist eine ideale Umsetzung der Konzepte immer gefährdet, da globale Eliten im Hinblick auf ihre Interessen Einfluss nehmen und eigentliche Themen wie „Sicherheit“ hinter Fragen zur wirtschaftlichen und politischen Stabilität gedrängt werden, statt individuelle Rechte und kollektive Bedürfnisse der Armen zur Aussprache zu bringen.161

Erschwerend kommt hinzu, dass der Klimawandel nicht das einzige Problem auf der Welt ist. Akut eintretende Krisen (Wirtschaftskrisen, Epidemien, Kriege) haben immer das Potential, die Klimaproblematik vorübergehend in den Hintergrund zu drängen. Wir befinden uns in einer Zeit, in der die Gesellschaft dazu neigt, die Anzahl globaler Krisen als besonders dramatisch wahrzunehmen, woraus ihr Zweifel erwachsen, ob es der Weltgemeinschaft wirklich möglich ist, die Zustände mildern zu können. Allein in der zweiten Hälfte des Jahres 2014 berichteten die Nachrichten täglich von Bürgerkriegen in Syrien und der Ukraine sowie von der Ebola-Epi-demie in Westafrika. Zu dieser Zeit vermeldete das World Food Programme der Vereinten Natio-nen, dass aufgrund all der Krisen das Geld ausginge und nur noch bis Oktober 2014 gesicherte finanzielle Mittel vorlägen, um die Krisenregionen mit Nahrungsmitteln beliefern zu können. Solch eine Nachricht ist höchst alarmierend im Hinblick auf den Klimawandel und seine Funk-tion als Treiber von sozialen, ökonomischen und ökologischen Krisen. Sollte der klimatische Wandel nicht abgemildert werden, könnten sich ab Mitte dieses Jahrhunderts Katastrophen ent-wickeln, wovon die Politik nicht unberührt bleiben würde.162

Neben dem durch herrschende Krisen schwankenden Aufmerksamkeitsfokus in den Na-tionalstaaten, birgt das Verhältnis zwischen nationalstaatlicher Ordnung und internationalen Vereinbarungen zudem Spannungspotential. Die Umsetzung internationaler Übereinkommen führen immer zu Anpassungen auf nationaler Ebene, wodurch meist besondere Anstrengungen oder Kosten einer gewissen Gruppe aufgebürdet werden (EEG-Umlage, höhere einzuhaltende Standards, CO2

-Einsparung im Flugverkehr trotz steigender Passagierzahlen, etc.). So mag das verfolgte Ziel zwar im Staat Zustimmung bekommen, dessen Umsetzung steht allerdings allzu oft im Konflikt im sektoralen Zielen. Der Schlüssel ist die Überzeugung, dass globale Ziele ge-nutzt werden können, reale Probleme in den verschiedensten Regionen dieser Welt unter Mit-einbeziehung nationaler Gegebenheiten und Akteure zu lösen.

Vereinzelte Fortschritte machen Hoffnung. Im September 2014 hat beispielsweise Bangla-desch mit der finanziellen Unterstützung der norwegischen Regierung und der technischen Un-terstützung des NAP Global Support Programme (umgesetzt von UNDP und UNEP), seinen na-tionalen Adaptationsplan finalisiert. In der Zusammenarbeit mit mehreren Entwicklungs- und Fondspartnern und der Unterstützung von UNDP und UNEP, des Weltbank-Programmes für Klimabelastbarkeit und der asiatischen Entwicklungsbank (ADB) konnte bereits ein Umfang an adaptiven Eingriffen umgesetzt werden. Indem die Regierung Bangladeschs den Klimawandel in ihrer nationalen Planung integriert hat und mit internationalen Partnern zusammenarbeitet, ist Bangladesch eines der positiven Beispiele, dass eines der verwundbarsten und ärmsten Län-der Maßnahmen ergreifen kann, um potentielle Schäden in Milliardenhöhe zu verhindern.163Ebenso zeigt die Ozonproblematik, dass ein gemeinsames Umsetzen von Zielen von Erfolg ge-krönt sein kann. Mit dem Protokoll von Montreal wurden entschiedene und rigorose Maßnah-men veranschlagt, um die Ozonschicht zu schützen und zunehmend negative Auswirkungen auf Umwelt und menschliche Gesundheit zu verhindern. Mit dem weltweiten Verbot von FCKW-Gasen wird sich die Ozonschicht bis Mitte des 21. Jahrhunderts weitestgehend erholt haben, so-dass die Ozonproblematik weitestgehend als gelöst angesehen wird. Solche Erfolge reichen nicht aus, um einen nachhaltigen Wandel großflächig zu etablieren, doch sind sie ermutigend, dass formulierte Ziele mit entsprechenden Mitteln und Zusammenarbeit umgesetzt werden können.

Ein nachhaltiger Wandel verlangt mehr, als nur einzelne Ziele zu formulieren. Mit ihm ist ein Bewusstwerden verbunden, dass mit alten, eingespielten Gewohnheiten gebrochen werden muss. Es muss erkannt werden, dass gewisse Gewohnheiten und Wirtschaftsweisen nicht mit einer nachhaltigen Entwicklung vereinbar sind und dass mit ihrem Aufrechterhalten größere Ungerechtigkeiten auf diesem Planeten geschürt werden. Denn hierdurch muss ein großer Teil einen Preis zahlen, dem kein monetäres Äquivalent entgegengestellt werden kann. Die soziale Klimakatastrophe mag sich am offensichtlichsten an den steigenden Meeren und den häufi-ger und intensiver werdenden Temperaturextremen, Dürren, Desertifikationen, Waldbränden, Stürmen, Überschwemmungen und Erdrutschen sowie aus den daraus hervorgehenden ge-sellschaftlichen Krisen abzeichnen. Doch liegt sie ebenso in unserer Haltung, wohl wissend, was unser Handeln bewirkt, sodass wir es für nötig erhalten über Verantwortung, Klimapolitik und -ethik, Nachhaltigkeit und Umweltschutz zu reden, doch ohne dabei unsere eigenen Worte für bare Münze zu nehmen, stattdessen zögern wir und beobachten weiter, wie die Krisen dieser Welt durch den Klimawandel verschärft werden.

Hinter uns liegt die Analyse des Status quo der Klimapolitik und ihre Reflexion hinsicht-lich der klimapolitischen Anfänge, der gegenwärtigen Bemühungen und des Ausblicks. Hier-aus ergab sich, dass die Debatte des Klimawandels sich nicht auf Umweltfragen beschränken darf, sondern als Sicherheits- und Entwicklungsdebatte geführt werden muss. Der Klimawandel tangiert elementare menschliche Bedürfnisse, wodurch er tief in das soziale Gefüge der Gesell-schaft eingreift. Eine nachhaltige Entwicklung wird als jene Strategie erachtet, mit der sozialen Erschütterungen entgegnet werden kann, da sie das Ziel verfolgt, eine langfristige Veränderung zu bewirken und dabei die verschiedenen Verflechtungen in der Gesellschaft miteinbezieht.

Bevor wir den ersten Teil dieser Arbeit schließen, wollen wir noch deutlicher auf die humane Dimension der Entscheidungsfindung eingehen. Es sind nicht nur Menschen, die von den Fol-gen des Klimawandels und den Entscheidungen auf politischer Ebene betroffen sind, es ist auch die Entscheidungsfindung selbst, die durch menschliches Handeln und Verhalten geprägt wird. Damit ist der Prozess einer Entscheidungsfindung von besonderer politischer und ethischer Re-levanz.

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4 Die Gemeinschaft im entwicklungspolitischen Handeln: Hannah Arendts Gedanken zur Pluralität der Menschen

Wir sind der Auffassung, dass uns ein natürlicher Gerechtigkeitssinn innewohnt, der uns zu der Überzeugung bringt, dass das menschliche Leben geschützt sein soll, und falls dem nicht so ist, der Schutz entsprechend erwirkt werden soll. Dieser Schutz soll nicht nur in bestimmten Situa-tionen Bestand haben, sondern möglichst dauerhaft sein, folglich auch unter gesellschaftlichen bzw. ökologischen Veränderungen. Diese Auffassung richtet unseren Blick auf die Auswirkun-gen des Klimawandels, mitsamt seinen sozialen, ökonomischen und ökologischen Folgen. Wäh-rend die Forderung, den Klimawandel abzuschwächen, eher abstrakt ist, richtet ein Bezug zur menschlichen Sicherheit die Debatte auf konkrete Ziele aus, nämlich auf jene, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Anstatt lediglich den Fokus auf veränderte Wettermuster zu legen, wird die Debatte aus Sicht des menschlichen Wohls geführt. Zwangsläufig wird die Frage ge-stellt, wie Klimawandel, Vulnerabilität, Sicherheit und Entwicklung im Zusammenhang stehen. Der aus dieser Frage entstehende Diskurs, welche Möglichkeiten bestehen, um menschliche Si-cherheit zu erhöhen, verlangt Weitblick und eine gewisse Art von Macht, um etwas bewirken zu können. Da die Problematik des Klimawandels, sowohl in Form der physischen Auswirkungen als auch in der politischen Diskussion über Maßnahmen, eine Kollektiv-Angelegenheit ist, ist eine Umsetzung von Maßnahmen besonders dann erfolgreich, wenn besonders viele dasselbe Ziel verfolgen. Der Klimawandel ist eine globale Angelegenheit, folglich stehen immer Men-sch en im Mittelpunkt, da „Menschen und nicht der Mensch die Erde bewohnen“1.

4.1 Die Gemeinschaft der Menschen als Grundsatz

Dass nicht der Mensch die Erde bewohnt, sondern Menschen, ist für Hannah Arendt jenes Kri-terium, auf das ihr Politikverständnis beruht. Wir wollen nicht detailliert auf Arendts Gedanken zur Politik und das Politische eingehen, doch sind ihre Grundthesen hierzu wichtig, um ihre Ge-danken zum Zwischenmenschlichen zu verstehen. Philosophie und Theologie zeichnen sich für sie besonders durch Fragen nach dem einzelnen Menschen aus. Sinnbildlich ist hierbei Immanuel Kant mit der Thematisierung von „was kann ich wissen“, „was soll ich tun“, „was darf ich hoffen“, oder die Auseinandersetzung mit bestimmten Pflichten gegenüber mir selbst, die ich qua meinen Status als vernunftbegabtes Lebewesen habe. Hierin unterscheidet sich die Politik von der Philo-sophie und Theologie, als auch vom restlichen wissenschaftlichen Denken, das nach Arendt nur nach dem einzelnen Menschen schaut. Solche Fragen nach dem Einzelnen sind für Arendt nicht zweckmäßig, um Politik zu erklären. Fragen zu „Wer bin ich?“oder „Was bin ich?“ werden ausge-klammert. Das Handeln des Einzelnen steht bei Arendt nicht im Mittelpunkt. Die Grundlage ist der Plural: Menschen. Folglich muss die gemeinsame Existenz der Menschen betrachtet werden: „Politik handelt von dem Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen. “2

Arendts Politikverständnis des Zusammenseins und Zusammenlebens eröffnet einen weit-reichenden Blick. Finden sich Menschen zusammen, sind diese nie vollkommen identisch. Die Verschiedenheit aller Menschen ist absolut betrachtet gar größer „als die relative Verschieden-heit zwischen Völkern, Nationen oder Rassen“3. Dieses Zusammenkommen von den verschie-densten Menschen bringt Pluralität mit sich. Politik beruht demnach auf der Pluralität der Men-schen. Und im Zusammensein und Zusammenleben innerhalb eines pluralistischen Gefüges entsteht nach Arendt ein Ort mit ganz besonderem Charakter: „Zwischen den Menschen, in ihrem Zusammenleben, -handeln, -reden entsteht die Welt als Ort der Macht und nicht der Gewalt.“4 Macht resultiert somit im Zusammenkommen von verschiedensten Menschen. Das Machtverständnis Arendts ist somit weitreichender als dies beispielsweise bei Max Weber5der Fall ist und verweist auf die Potentialität etwas gemeinsam zu bewirken. Für Arendt exis-tiert Macht nur in der Gruppe und sie existiert auch nur, solange die Gruppe zusammenhält. Das Prinzip, das der Macht unterliegt, ist die Fähigkeit der Menschen gemeinsam zu handeln. „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.“6 Macht ist gleichbedeutend mit der Freiheit, zusammen etwas zu bewirken. Es geht nicht darum, den Willen anderer zu brechen, also Zwang durchzuführen, sondern unter gegenseitiger Rücksicht zusammen zu handeln.

In diesem Gemeinsam-Sein herrschen Alterität, Differenz und Pluralität. Individuen unter-schiedlicher Herkunft und Meinungen teilen sich den öffentlichen Raum und interagieren mit-einander. Durch die existierende Vielfalt ist es nur schwer möglich, dass der Einzelne seine eige-nen Interessen durchsetzt. Es geht nach Arendt in der Politik nicht um den einzelnen Menschen, sondern im Mittelpunkt der Politik steht das Wohl der Mensch en , die Sorge um die Welt. Im Zusammentreten lassen sich im Momentum der Macht durch Denken und Handeln Zustände zum besseren ändern und unmenschliche Situationen beheben.

Das klingt zunächst nach „heiler Welt“7. Vertreter der verschiedenen Länder kommen zu-sammen, wohlwissend, dass eine Zunahme der Treibhausgaskonzentration verhindert werden muss und dass ihr eigenes Handeln in der Wirkung begrenzt ist, und beraten über Möglich-keiten, damit kausale Gefährdungen abgewendet werden können, sowohl für die eigene Nation als auch für jede andere, denn letztendlich einigt die Gemeinschaft die Teilung des Gefahren-raums und das globale Risiko, das zugleich ein nationales darstellt. In dieser Gemeinschaft liegt durchaus ein kosmopolitisches Moment, indem jede Partei ihre Andersheit in die Gemeinschaft miteinbringt und falls die Lage der Staaten gleichberechtigt in der Diskussion wahrgenommen wird. Die Historie der Klimakonferenzen zeigt, dass bisher nur allzu oft die Diskrepanz zwi-schen den Beteiligten im Wege stand. Arendt bemerkte bereits an, obwohl sich aus dem plura-listischen Gefüge des Zusammenkommens verschiedener ein ganz besonderer Charakter bildet, muss dies nicht unbedingt von Erfolg gekrönt sein, da denken kein permanenter Ist-Zustand sei. Es fiel Menschen oftmals deutlich leichter nicht-zu-denken, ebenso könnte Denken negativ geprägt sein.8

4.2 Übergang von Politik zur Ethik

menkommen, ein Miteinander von Meinungen erst gar nicht näher betrachtet, geschweige das Handeln in seiner Wirkung zu anderen. Das Selbst des einzelnen Menschen war die Triebkraft von Handlungen. Man könnte gar von rein individualisierten Handlungen sprechen, da man der Ansicht war, Entscheidungen entstehen aus einem reinen Akt mit seinem Selbst.

Arendt sieht allerdings in der Sokratischen Position einen Ansatz von Vielfalt. Sokrates philo-sophierte in der Öffentlichkeit und ist damit einmalig, besonders entgegen der Philosophie der Akademie seines Schülers Platon. Sokrates entzweite das Denken. Wenn ich mit mir selbst bin, im Akt des Denkens, bin ich zwei und nicht einer. Im Alleinsein dringt eine Pluralität ein.9

Nach dieser Tradition ging moralisches Verhalten auf das Gespräch des Menschen mit sich selbst zurück. Im Denken war jeder für sich, jeder mit seinem Selbst konfrontiert und im Aus-tausch damit. Die Entscheidung zu einer Handlung und die anschließende Ausführung sollten nicht von der Art sein, dass sie den Akteur in die Lage versetzt, sich selbst zu verachten. Man solle mit sich im Reinen sein und sich selbst nicht widersprechen. Sokrates äußerte den berühm-ten Satz, dass es besser sei Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun. Ausgehend von der These, dass der Mensch Zwei-in-Einem ist, da jeder Mensch das Bedürfnis hat, mit sich selbst die Situation durchzusprechen, „nicht nur im Sinne der Bewusstheit und Selbstbewusstheit (bei allem, was immer ich tue, bin ich dessen, dass ich es tue irgendwie gewahr), sondern in dem sehr spezifi-schen und aktiven Sinne dieses stummen Dialogs, dieses ständigen Umgangs mit sich selbst, des Mit-sich-selbst-Sprechens“10. Mein Verhalten gegenüber anderen gründet damit auf meinem Verhalten mir selbst gegenüber. Würde man jemanden Unrecht antun, würde man sich selbst zuwider sein.

In diesem stummen Dialog sah man in der Antike den Unterschied zwischen Mensch und Tier. In diesem mit sich selbst führenden Dialog werden die spezifischen menschlichen Eigen-schaften bestätigt. Dieser stumme Dialog führe dazu, zu entscheiden, was gut und was böse, was Recht oder Unrecht sei. Und niemand könne ständig mit einem Verbrecher leben, habe man sich letztendlich für eine böse Tat entschieden. Man schüfe den Verbrecher in seinem Selbst. „Niemand will böse sein, und jene, die trotzdem böse handeln, fallen in ein ‚absurdum morale‘, in moralische Absurdität. Der, der das tut, befindet sich eigentlich im Widerspruch mit sich selbst, mit seinem eigenen Verstand und muss sich deshalb […] selbst verachten.“11

Die Geschichte zeigt jedoch, dass die Weisung, was Unrecht und was Recht ist, aus dem stum-men Gespräch mit mir selbst stammend, nicht weiterverfolgt wurde oder gar versagt hat. Arend verweist auf Nazi-Deutschland, die Zeit, in der scheinbar ohne Probleme Moral und Ethik aus-getauscht worden konnten, oder vielmehr die Negation der Moral als solche stattfand. Dass im Konfliktfalle das moralische Gesetzt in uns selbst die Richtung weisen wird („Das Moralische versteht sich von selbst“12), wurde durch das Nicht-Handeln zu vieler widerlegt.

Auch inwiefern unser Zwiegespräch mit uns selbst in zugespitzten Krisen- und Konfliktzei-ten, in wirklichen Ausnahmesituationen zum Tragen kommen könnte, ist schwer zu ergründen. Denn wie könnte ein allgemeines Bild zustande kommen, dass beispielsweise in Katastrophen-zeiten der Hang zum Plündern und deviantem Verhalten als besonders hoch angesehen werden (mehr hierzu im zweiten Teil dieser Arbeit), dass davon ausgegangen wird, dass jeder sich selbst der Nächste sei, aber zugleich eine innere Stimme vorhanden sein soll, die uns im Dialog das richtige moralische Handeln weist. Man könnte es nach begangener böser Tat nicht mehr aus-halten, mit sich selbst zu leben. Man müsste schließen, dass manche Menschen im schlimmsten Fall, die vom Unglück heimgesucht und jeglichem Zugang zu überlebensnotwendigen Mittel beraubt sind, die ohne Ausblick auf Hilfe und Unterstützung sind, lieber mit dem Verbrecher in einem selbst leben wollen, wenn sie sich dazu entschlossen haben, durch das Fenster des Supermarktes zu steigen und Nahrung für sich und ihre Familie zu besorgen, um so das Wohl und das Weiterleben zu garantieren. Selbst wenn eine kriminelle Tat als Mittel genutzt werden würde, um einen besseren Zustand hervorzurufen, weil man nicht die Möglichkeit sieht, ihn auf eine andere Art und Weise zu erzielen, wäre in diesem Sinne die aktuelle Situationsverbesserung hart erworben. Der Akt könnte zwar als Wohltat für andere davon profitierende Menschen an-gesehen werden, der Akteur selbst müsste allerdings mit der Schande für sich selbst weiterleben. Oder rechtfertigt der Zweck etwa die Mittel?

Es lassen sich durchaus Theorien finden, die es im Ausnahmezustand als zweckhaft oder sogar erlaubt ansehen, Dinge zu unternehmen, die unter normalen Zuständen nicht praktiziert wer-den würden. Die Lösung von Krisen erfordere demnach ungewöhnliche Praktiken, um wieder auf die rechte Spur zu gelangen.13 Das mag für die Sanierung von Firmen oder Wirtschafts-systemen zutreffen, oder solange nicht Leben, Freiheit, Sicherheit oder andere fundamentale Menschenrechte beschnitten werden.14 Kants Imperativ gibt hier eine weitaus deutlichere Ant-wort: „Handel so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchtest.“15

Hannah Arendt sieht in der sokratischen Moral höchstens ein Kriterium in politischen Kri-senzeiten, dass „eine Art von Ausnahme-Maß darstellt“16, dass mein Zwiegespräch mit mir selbst eine Weisung für mein Verhalten sein könnte. Man kann dies auch als moralische Intui-tion deuten. Trotz des Nazi-Regimes mit ihrer Maschinerie der totalitären Herrschaft und die scheinbare gängige Negation von zuvor gültiger Moral, gab es dennoch Menschen, deren innere Stimme sie zur Verweigerung bestimmter Taten und der Anhängerschaft leitete, indem ihnen ihr Gefühl sagte, „Ich kann das nicht machen“.

Unterm Strich eignet sich die sokratische Moral, das Selbst als Maß für mein Verhalten gegen-über anderen, nicht, „in bestimmte Vorschriften und Regeln des Verhaltens hineingeschrieben zu werden“17. Doch gerade darum kann es ein Kriterium in Ausnahmesituationen sein, in de-nen Gewohnheiten, Vorschriften oder Sitten plötzlich „über den Haufen geworfen werden“, die man zuvor mit den Mitmenschen noch teilte. Konventionen, Regeln und Normen, nach denen man gewöhnlich lebte, zeigen sich nach Überprüfung nicht allzu vorteilhaft für dauernd gül-tige Leitprinzipen, so Arendt, sind sie doch unter einem starken Einfluss wandelbar. Es wäre gar verwegen, ihnen in Zeiten des Ausnahmezustandes irgendeine Verlässlichkeit zuzuschrei-ben. Arendt geht sogar so weit, dass die Anrufung des alltäglichen Verhaltens gewöhnlich ein Schwindel sei.18 4.2.2 Die Einbeziehung der anderen in das moralische Urteil

Nach Arendt bieten Konventionen und Normen keinen Halt in Krisenzeiten. Das Zwiegespräch mit mir selbst könnte zwar ein Kriterium in Ausnahmezuständen sein, doch wird der Denkpro-zess mit mir selbst nie das sagen, was zu tun ist, sondern er wird mich nur daran hindern kön-nen, bestimmte Dingen zu tun, auch wenn sie von allen anderen getätigt werden. Wie lässt sich nun der Schritt vom ‚denkenden Individuum‘ zum ‚unter Menschen handelnden‘ vollziehen? Arendt sieht die Existenz des Einzelnen nicht unabhängig vom Rest, denn das Handeln tangiert das Verhalten der Menschen um einen herum.

Nach Arendt ist hierbei der Wille entscheidend. Er ist es, der uns ins Handeln treibt. Wie könne man je ohne Wollen Handeln? Der Wille ist ein Phänomen, das in der Antike noch nicht bekannt war. Damals sah man den Konflikt zwischen Vernunft und Leidenschaft bzw. Begehren. Man sah die Vernunft in der Position zu entscheiden, was gemacht werden soll. „Die Vernunft ist ein höheres Vermögen, und von ihr gesetzte Ziele gehören einer höheren Ordnung an. Die Annahme ist, dass ich auf die Vernunft höre, dass die Vernunft die Wünsche beherrscht oder leitet. Die Vernunft sagt nicht: Du sollst nicht, sondern: Besser nicht!“19

Ein Vermögen des Willens wurde darin nicht gesehen. Doch im Menschen gibt es etwas, das letztendlich akzeptiert, was die Vernunft sagt, oder dies eben nicht akzeptiert. Man kann sich nämlich sehr wohl gegen den Rat der Vernunft entscheiden, genauso wie gegen das Begehren. Der Wille, ein drittes Vermögen zwischen Vernunft und Begehren, entscheidet, was getan wer-den soll. Diese Entscheidungskraft des Willens kann als Freiheit angesehen werden (ein Ver-mögen der Freiheit). Und ihm obliegt es als Schiedsrichter zu fungieren zwischen Vernunft und Begehren.

Schiedsrichter zwischen Vernunft und begehren zu sein, also die Spaltung im Zwei-in-Einem zu sein, heißt aber auch, dass es keinen Dialog im Selbst gibt. Die Spaltung des Willens, hin-gerissen zwischen Vernunft und Begehren zu sein, gleicht vielmehr einem Kampf. Der Konflikt zwischen Vernunft und Begehren findet nicht zwischen Gleichen statt. Letztendlich muss der Wille Befehle erteilen, damit er uns zum Handeln treibt. Dafür braucht der Wille einerseits Ge-horsam, andererseits Zustimmung. Ein Zweigespaltener Wille würde die Aufgabe des Handelns nur schwer ermöglichen. Damit der Wille als Vermögen des Handelns uns zur Tätigkeit bewegt, „müssen wir entschieden Einer sein“21.

Der Wille ist Keim unseres Handelns. Er ist weder Vernunft noch Begehren. Er entschei-det, welche Handlung wir begehen. Dennoch gesteht Arendt, dass es nicht beweisbar ist, ob wir in unserer Entscheidung wirklich frei sind; auch wenn sie den Willen als Akt der Freiheit bezeichnet und er in der Philosophiegeschichte sowie in der christlichen Tradition als immer frei dargestellt wurde. Besonders in seiner Schiedsrichterfunktion zwischen Vernunft und Be-gehren, darf er nicht von diesen beiden Vermögen bestimmt werden. Jedoch scheinen äußere Entwicklungen sowie körperliche und physische Zustände erheblichen Einfluss auf unsere Ent-scheidungen zu nehmen. Arendt bezieht sich auf Nietzsche, der den Konflikt zwischen freien Willen und keinen freien Willen (das würde möglicherweise die Nicht-Existenz des Willens bedeuten) thematisierte. Zwei Hypothesen liegen uns vor: die Hypothese der Wissenschaft, die besagt, dass es keinen Willen gibt; und die des allgemeinen Menschenverstandes, nach dem der Wille existiert und zudem frei ist. Und der Menschenverstand ist letztendlich „das herrschende Gefühl, von dem wir uns nicht losmachen können, auch wenn die Hypothese [der Wissenschaft, Anm. Hannah Arendts] bewiesen wäre“.22 Wenn wir beginnen zu handeln, erscheint es uns, dass wir tatsächlich frei sind. Anders erscheint es uns aber, wenn wir aufhören und betrachten, was wir gegenüber anderen getan haben oder sogar darüber nachdenken, wie diese Tat in das Gesamtkonstrukt unseres Lebens passt. Wir können in der Betrachtung und im Nachdenken durchaus Kausallinien erkennen, die uns zum Handeln verleitet haben. „In der Retrospektive scheint alles durch Gründe, Präzedenzfälle und Umstände erklärbar, sodass wir die Gültigkeit beider Hypothesen zugestehen müssen, von denen jede für ihr eigenes Erfahrungsfeld gilt.“23

Hannah Arendt bleibt dennoch dabei, dem Willen eine bedeutende Rolle zuzuschreiben. Für sie ist er maßgeblich relevant, und zwar in zweierlei Hinsicht. Einerseits als kommandierender Wille und andererseits in der Funktion des Schiedsrichters, der zwischen Recht und Unrecht entscheidet. Dabei war die kommandierende Funktion des Willens in der Philosophie Paulus’ und Augustinus’ die vorherrschende Idee, machte philosophisch jedoch Schwierigkeiten. Man dachte, dass es etwas gäbe, das nicht von irgendetwas bestimmt sei, aber auch nicht völlig will-kürlich sei, nämlich das Streben nach Glückseligkeit. Dass die Menschen ihre Handlungen mit Bedacht auswählen, damit sie am Ende ihrer Tage sagen können, sie seien glücklich gewesen. Doch was ist mit all denen, die böses tun. Nach Augustinus verliere der Mensch, der das Rechte kennt und nicht tut, die Kraft, das, was Recht ist, zu kennen; und der Mensch, der die Kraft hat, Recht zu tun, aber unwillig ist, verliere die Kraft zu tun, was er will.24 Die angesprochene Schwierigkeit ist, was passiert mit dem Bösen in der Welt? Diejenigen, die Böses getan haben, müssten das Verständnis der Glückseligkeit verloren haben. Allerdings hielten es in der Ver-gangenheit Eliten häufig für nötig, den Menschen, die böses tun, mit großer Unglückseligkeit in einem künftigen Leben zu drohen.25

Die kommandierende Funktion des Willens verschwand im Laufe der Geschichte und die urteilende Funktion des Willens tauchte auf. Besonders im Zuge der christlichen Philosophie glich die innere Stimme, die über Recht und Unrecht urteilte, immer mehr dem kirchlichen Kanon. Die Stimme der Kirche nahm Einzug in das Gehör der Gläubigen, sodass die urteilende Kraft vielmehr eine von außen eingegebene Stimme wurde, die darüber entschied, was man soll und was man nicht soll. Die urteilende Funktion kann daher unter dem Einfluss äußerer Faktoren stehen.

Wie kann das Bild des Willens als Richterfunktion zwischen Recht und Unrecht nun auf-rechterhalten werden? Arendt sieht einen bedeutenden Ansatz bei Kants Kritik der Urteilskraft . Das ist überraschend, ist Kants Moralphilosophie doch in erster Linie durch seine Formel des Kategorischen Imperativs26 bekannt und den Pflichten gegenüber sich selbst als moralisches Wesen27. Kant stellt dabei die Pflichten, die jeder Mensch gegenüber sich selbst hat, vor die Pflichten, die er gegenüber anderen hat. Damit steht das Individuum im Vordergrund, nicht das Verhalten gegenüber anderen, das, was Arendt kritisierte. Des Weiteren ist das Bild des Willens bei Kant sehr vernunftgeprägt: „Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt Impera-tiv.“28

Grundlegend für Arendt ist der Teil in Kants Kritik der Urteilskraft, der von Ästhetik bzw. Ge-schmack handelt. Normalerweise hat der Mensch ein Vermögen, das immer dann zum Tragen kommt, wenn man sich mit etwas Besonderem befasst. Er nimmt dies schlicht Urteilsvermögen. „[D]as Urteil entscheidet über die Beziehung zwischen einem besonderen Beispiel und dem All-gemeinen, wobei das Allgemeine eine Regel, ein Norm [sic!] oder ein Ideal oder irgendeine Art von Maß sein mag.“29 Dies geschieht bei allen Fällen betreffend Vernunft und Wissen, wenn das Urteil das Besondere zur entsprechenden Regel zuordnet.

Bei Fragen hinsichtlich des Geschmacks kann dies nicht der Fall sein, da es um Dinge geht, auf die keine festen Regeln oder Normen angewendet werden können. Dennoch soll es nach Kant möglich sein, dass über Fragen der Ästhetik nicht willkürlich entschieden werden soll. Man kann sagen, dass diese Dahlie schön ist, ohne damit zu sagen, dass alle Dahlien schön sind. Man weiß jedoch im allgemeinen Sinne was Schönheit ist. So kann etwas als schön bezeichnet werden, wenn etwas Besonderes gesehen wird, allein deshalb, weil es als schön bezeichnet wer-den kann.

Nach Kant gründet dies auf dem Gemeinsinn, der Boden, auf dem sich die Urteilskraft he-rausbildet. Kant zog den Gemeinsinn zur Beurteilung von Ästhetik hinzu, weil „wir nur auf diesem Gebiet ohne allgemeine Regeln, die entweder beweisbar wahr oder selbstverständlich befolgbar sind, urteilen“30. Arendt wendet diesen Gemeinsinn im Gebiet der Moral an: auf dem Gebiet des menschlichen Zusammenseins und Verhaltens. Worin wir wieder bei dem Gedan-ken der Politik angekommen sind. In der Politik stehen das Miteinander und Zusammensein im Vordergrund, wodurch Menschen gemeinsam im geteilten öffentlichen Raum interagieren, um Situationen zum Guten zu wenden. Auch ihrer Ethik obliegt der Gedanke des Miteinander-Seins; dass das eigene Verhalten immer auch auf andere ausgerichtet ist.

Dafür schauen wir uns den Gemeinsinn Kants und dessen Interpretation durch Hannah Arendt ein wenig genauer an. Der Gemeinsinn ist uns nicht nur allen gemein, sondern er ist der Sinn, durch den wir uns der Gemeinschaft zugehörig fühlen, „der uns in eine Gemeinschaft mit Anderen einpasst, uns zu ihren Mitgliedern macht und uns in die Lage versetzt, Dinge, welche unseren fünf privaten Sinnen gegeben sind, zu kommunizieren“31. Dies geschieht mithilfe unse-rer Einbildungskraft bzw. Repräsentation. Wir können uns einen bestimmten Gegenstand vor unserem geistigen Auge vorstellen, ohne, dass dieser gerade in diesem Moment anwesend ist. Das, was abwesend ist, kann durch meine Einbildungskraft gegenwärtig gemacht werden, weil ich es zuvor wahrgenommen habe. Doch wenn ich mir diesen einen bestimmten Gegenstand vor meinem geistigen Auge vergegenwärtige, habe ich nicht nur die Einbildung oder Repräsen-tation von diesem einen bestimmten Gegenstand, sondern auch das schematische Bild dieses Gegenstands, das es als solches nie in der realen, physischen Welt geben wird. Arendt nimmt das Beispiel der George Washington Bridge, diejenige Brücke, die Manhattan mit dem Festland der USA verbindet. Wenn sie sich das Bild der George Washington Bridge vergegenwärtigte, hatte sie einerseits das Bild dieser Brücke vor ihrem Auge, als auch ein schematisches Bild von einer Brücke als solcher, mit dem sie jede besondere Brücke, einschließlich der George Washing-ton Bridge, als Brücke erkennen und identifizieren konnte. Sobald man jedoch anfängt, diese schematische Brücke greifbar zu machen, beispielsweise die Vorstellung auf ein Blatt Papier zu bringen, wird sie eine besondere Brücke und ist kein bloßes Schema mehr.32

Diese Einbildungskraft beschränkt sich nicht nur auf Gegenstände, sondern kann auch auf andere Menschen angewendet werden, auf alle anderen, die in Wirklichkeit nicht anwesend sind. Damit stellt man sich nicht den Menschen als Schema vor, sondern die Individuen wer-den zu Beispielen. „Ich kann […] an der Stelle jedes Anderen denken, so dass wenn jemand urteilt, dass dies schön ist, er nicht lediglich sagen möchte: Das gefällt mir […], sondern dass er von Anderen ‚Beistimmung‘ verlangt; denn beim Urteilen hat er sie schon in Betracht ge-zogen und hofft deshalb, dass seine Urteile eine gewisse allgemeine, wenn auch vielleicht nicht universale Gültigkeit besitzen mögen.“33 Dies ist die Kraft des Gemeinsinns. Mein Urteil kann Gültigkeit in der Gemeinschaft erlangen, da ich und alle anderen den Gemeinsinn gemein haben, der uns eint und uns zu Mitgliedern der Gemeinschaft macht. Somit hängt unser Urteil nicht nur von der Wahrnehmung selbst ab, sondern auch, „dass ich mir etwas repräsentiere [vergegenwärtige], was ich nicht wahrnehme“34, nämlich andere, die ebenfalls urteilen und wahrnehmen.

Die Gemeinschaft der Menschen ruft den Gemeinsinn hervor, dessen Gültigkeit aus dem Umgang mit Menschen erwächst. Arendt liegt es jedoch fern zu behaupten, dass ihr Urteil unter der Berücksichtigung universelle Gültigkeit erlangt. Trifft jemand ein Urteil, haftet an dem Urteil immer noch etwas Individuelles. Allerdings, je mehr Standpunkte anderer Leu-te ich berücksichtige, also mir vergegenwärtige, desto repräsentativer wird mein Urteil. „Die Gültigkeit solcher Urteile wäre weder objektiv und universal, noch subjektiv, von persönlichen Einfällen abhängig, sondern intersubjektiv oder repräsentativ.“35 Das bedeutet, dass im Sinne der Gemeinschaft, der persönliche Standpunkt in unserem Urteilen gegenüber der Berück-sichtigung der anderen in der Gemeinschaft an Bedeutung verliert. Kant beschreibt dies mit folgenden Worten:

Weiter präzisiert Kant, dass der Gedanke an das Allgemeine sich in Verbindung mit der mensch-lichen Fähigkeit über das Privatinteresse hinwegsetzt:

In all unseren Urteilen ziehen wir – qua unsere Mitgliedschaft in der Gemeinschaft – den Ge-meinsinn als Mutter der Urteilskraft hinzu und können nicht ungeachtet lassen, in unserem Urteil das Urteil anderer Menschen miteinzubeziehen. Hier finden wir das Motiv des Willens als unparteiischen Schiedsrichter wieder, der sein Urteil unter Rücksicht der Standpunkte anderer bildet. Er ist unparteiisch hinsichtlich der Subjektivität des individuellem Selbsts, des Zwei-in-Einem im Menschen, er bezieht sich aber auf die Existenz der Gemeinschaft. Keine göttliche Eingabe bedient seine Entscheidung, was Recht oder Unrecht ist, sondern dass es Menschen im Plural gibt. Das Urteil zielt damit auf die Existenz der Gemeinschaft. Eine reine subjektive Entscheidung würde folglich die Menschen um einen herum degradieren. Da im Mittelpunkt der Betrachtung die Menschen stehen, wird dem Egoismus der Pluralismus entgegengesetzt. Man begreift nicht die ganze Welt in seinem Selbst, sondern betrachtet und verhält sich als ein Mensch unter vielen.38

Sowohl bei Arendts Politik als auch bei ihren Gedanken zur Moral steht das Dasein des Men-schen im Vordergrund. Im politischen Zusammenkommen ist die Pluralität offensichtlicher. Kommen Menschen zusammen, kommen Menschen mit verschiedenen Interessen und Einstel-lungen zusammen. Die Pluralität ist faktisch gegeben. Im Urteilen ist die Pluralität nicht sofort offensichtlich, hat der einzelne Mensch doch eine präsente subjektive Einstellung in sich selbst, die sein Urteil beeinflusst. Gewisser Weise lässt sich der Kampf des Willens in einem selbst zwi-schen kommandierendem und urteilendem Vermögen gar im Moment sehen, indem das Indi-viduum versucht in seinem Urteil so repräsentativ wie möglich zu sein und die ‚subjektiven Pri-vatbedingungen des Urteils‘ völlig in den Hintergrund versucht zu drängen. Im Denken ist das Zusammensein nicht faktisch gegeben, sondern der Mensch muss sich die Gemeinschaft geistig vor Augen führen. Kritisch gesehen ist die Pluralität ein Schema, wie das Schema der Brücke, die ich mir vor meinem geistigen Auge führe. Doch welcher Mensch ist denn wirklich der völligen Überzeugung, dass sein subjektives Urteil das Urteil aller restlichen Menschen repräsentiert? Doch verweist wenigstens der Versuch, andere Standpunkte in seiner Urteilsbildung miteinzu-beziehen oder sogar beim Widerstreben, dass man nicht völlig von seinem Urteil überzeugt ist, dass Pluralität und nicht nur Subjektivität von Bedeutung sind.

Neben der Vergegenwärtigung abwesender Personen können auch exemplarische Beispiele als Referenz für unser Handeln genommen werden. Beispiele, die anfangs nur bestimmte, ein-malige Fälle waren, die aber mit der Zeit immer mehr Gültigkeit erlangten (Arendt nennt z. B. das Wesen und Leben eines bestimmten Staatsmannes, die zur Bezeichnung einer Gesellschafts- und Regierungsform dienen, wie dies beim Cäsarismus oder Bonapartismus der Fall ist oder fiktive Geschichten, die zur Vermittlung von Pflichten (manchmal) besser geeignet sind als Bü-cher über Ethik und Gott39). Beispiele spielen somit eine große Bedeutung für uns. Sie geben uns eine Referenz für unser Handeln, die wir uns durch unseren Gemeinsinn vergegenwärtigen. „Wir urteilen und unterscheiden Recht von Unrecht, indem wir in unserem Kopf eine zeitlich und räumlich abwesende Person oder einen Fall gegenwärtig haben, die zu Beispielen geworden sind.“40 Unsere Entscheidungen, was Recht und Unrecht ist, treffen wir durch unsere Besinnung gegenüber der Gesellschaft, in der wir leben. Oder noch viel weitreichender: gegenüber der Ge-sellschaft, in der wir leben wollen .

Ist uns gleichgültig, in welcher Gesellschaft wir leben wollen oder denken wir erst gar nicht darüber nach, das heißt, wir verweigern unser Urteil darüber, treten Konflikte auf. Denn in unserem Urteilen treten wir in die Beziehung zu anderen, in die Beziehung zu unseren Mit-menschen. Durch die Berücksichtigung bestimmter Beispiele oder die Menschen, die wir vor unserem geistigen Auge haben, richten wir unser Verhalten auch immer auf unsere Mitmen-schen aus. Es dreht sich niemals nur um uns selbst. Damit fließen in unseren Entscheidungen momentane Entwicklungen mit ein. Es wird sich nicht nur an Konventionen gerichtet oder diese negiert. Unter Wahrnehmung der Menschen und der Pluralität, hören wir nie auf, am Zustand unserer Gesellschaft mitzuwirken. 4.2.3 Schlechte Handlungen durch Gedankenlosigkeit

Wie kommt es nun zu bösem oder schlechtem Verhalten bzw. ungenügendem Willen sich zu einem entschiedenen Handeln hinsichtlich eines internationalen Klimaschutzes zu bekennen? In solch einem Verhalten ist nur schwer die Berücksichtigung anderer zu erkennen. Arendt zu-folge müsste bei der Entscheidungsfindung die Gemeinschaft nicht ausreichend in das Denken miteinbezogen worden sein.

Zunächst einmal geht Arendt von keinem absolut Bösen aus, was bedeutet, dass sich bei-spielsweise das Querstellen einer Partei auf den internationalen Konferenzen von keinem Hintergrund motoviert sein könnte, der schlichtweg die Sabotage von Entschlüssen zum Zwecke der Ausweitung des Bösen in der Welt verfolgt. Nach Arendt gibt es das absolut Böse, die dämonische Versuchung, durch teuflische Triebe Abtrünniges zu tun, nicht. Böses oder Unheil entsteht vielmehr aus dem selbstischen Willen, dass wir eben nicht an die Men-schen denken, nicht zu ihnen in Beziehung treten, sondern indem wir in unserem Urteilen verflachen.41

Hannah Arendt verfolgte den Prozess gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in Jerusalem 1961 vor Ort, um für das Magazin The New Yorker als Reporterin zu berichten. Im Angeklagten sah sie lediglich einen „Hanswurst“42, einen banalen Beamten, der lediglich Befehle verfolgte, ohne jemals darüber nachzudenken, was seine Ausführungen für Folgen haben könnten – gar noch viel mehr: der unfähig war, zu denken, jemand, der sich nicht durch seine Grausamkeit auszeichnete, sondern durch seine „Gedankenlosigkeit“. Arendt sah in Eichmann die Verkörperung der „Banalität des Bösen“. Sie kam zu der Überzeugung, dass es das radikal Böse nicht gäbe, dass das Böse lediglich oberflächlich sei. Das Böse ist nicht in der Person des Einzelnen zu finden, sondern in seiner Handlung oder vielmehr in der Summe der Handlungen. Ob etwas letztendlich als böse bezeichnet wird, hängt von den Taten an, nicht von den inneren Intentionen.43

Im Nachhinein zeigten allerdings Dokumente, dass die Banalität, die Hannah Arendt Eich-mann zuschrieb, nicht unbedingt zutreffend war. Es stellte sich heraus, dass das Böse nicht im-mer nur banal sein kann. Jahre nach dem Eichmann-Prozess auftauchende Tonbänder und die sogenannten Argentinien-Papiere zeigten, dass Eichmann kein gedankenloser Mörder war. Er war ein Mörder aus Überzeugung, der eine Lebensaufgabe verfolgte, und zwar bewusst.44

Auch wenn sich Arendt in der Person Eichmanns täuschte, kann die Grundlage von bösen Taten durchaus Gedankenlosigkeit sein, je nachdem, um was es sich für Taten handelt. Nehmen wir an, dass es während einer Katastrophe tatsächlich zu Plünderungen und zu gewalttätigen Handlungen kommt, liegen den Entscheidungen mit Wahrscheinlichkeit kaum der Gedanke des Gemeinsinns zugrunde. Denn Schaden diese Handlungen nicht nur der Gemeinschaft, sondern könnten sie auch aggressive Gegenreaktionen hervorrufen. Folglich regieren in solchen Szenari-en Regierungen mit Polizei- oder Militärpräsenz. Es läge jedoch in der Kommunikation wahres Potential, die Notlage zu überwinden. Des Weiteren entstünde in der gemeinsamen Interaktion und im Informationsaustausch das Mittel der Machtbildung, um zusammen die Lage zum Bes-seren zu wenden.

Dass der Prozess von Mitigation und Adaptation weit über zwanzig Jahre schleppend verlief, wird unter anderem an der oft vernachlässigten Weitsicht festgemacht. Statt geschlossen aufzu-treten und dem globalen Problem im Kollektiv entgegenzutreten, sorgten nationale Interessen in der Staatengemeinschaft nur allzu oft für Zwietracht unter den verhandelten Parteien. Einzel-ne Staatenvertreter bremsten Verhandlungen aus oder stellten sich quer, da sie in den Entwürfen zu erhebliche Einschnitte für ihr Land sahen.

Sieht man Arendts ethisches Konzept konsequent, würde man hierin mangelnde Rücksicht-nahme der Weltbürger sehen. Es scheint, dass hierin im Treffen des Urteils das Schicksal von zu wenig Menschen berücksichtigt wird (gleichwohl dieses nicht als böses Verhalten betitelt wer-den würde). Kritiker bemängelten bereits vielfach, dass die Position manch eines Vertreters zu eindimensional sei und lediglich ein kurzfristiger Blick in die Zukunft geworfen würde. Sicher-lich steht es für einen Staatenvertreter zunächst an, in seinem Urteil jene Staatsbürger primär zu berücksichtigen, die man vertritt. Milliarden von Menschen in seiner Entscheidung zu berück-sichtigen ist ungleich schwerer. Es kann ein Interessenkonflikt auftreten. Des Weiteren muss das, was dem deutschen Bürger als recht erscheint, nicht auf den Bewohner Papua-Neuguineas zu-treffen. Rückblickend auf den Kolonialismus, zeigen dessen ‚Errungenschaften‘ heute besonders, dass das europäische Anliegen zur Entwicklung der Welt nicht unbedingt dem Interesse der Länder südlich von Europa entsprach. Das europäische Verständnis von Entwicklung muss sich nicht mit dem in anderen Erdteilen decken. Die ehemalige Kultusministerin von Mali Aminata D. Traoré äußerte beispielsweise, dass die Politik der westlichen Welt das afrikanische Konzept von Nachhaltigkeit untergraben habe. In Afrika verstand man als nachhaltig, wenn eine neue Generation an die Stelle der vorhergehenden tritt, so gibt es die „Möglichkeit des Weiterlebens über die eigene Person hinaus“45. Dieser afrikanische Lebensweg in Verbindung mit einer engen Naturverbundenheit sei durch die eurozentrische Entwicklung verdrängt worden, so Traoré.46

Bei der Grundlage der Klimapolitik geht es jedoch nicht um Konzepte. Zunächst geht es um die Grundsatzentscheidung, dass etwas gegen den Klimawandel unternommen werden muss. Es mag Teile der Weltbevölkerung geben, die von den klimatischen Veränderungen profitieren. Konsequenterweise würde man diesen Nutzen ebenso in seinem Urteil berücksichtigen wie alle Nachteile des Klimawandels. Im Hinblick auf gegenwärtige sowie zukünftige Änderungen, die wahrscheinlich eintreten werden, überwiegen die Nachteile und eine Bedrohung der mensch-lichen Sicherheit ist ernst zu nehmen. Da der Klimawandel von globalem Ausmaß ist, könnte man gar sagen, dass bei der Entscheidungsfindung nicht die Weltbevölkerung vor Augen ge-führt werde muss, sondern die Menschheit schlechthin. Die Summe, der durch Klimaverände-rungen negativ betroffenen Menschen, ist von solch einer Dimension, dass nicht weniger als von der Menschheit gesprochen werden kann. Wenn es um den Schiedsrichterspruch des Willens im Hinblick auf eine nachhaltige Veränderung geht, geht es um das Wohl der Menschheit. Nutzen die Regierungen, Eliten, Wirtschaftsverbände, NGOs und Fachkräfte in ihrem Zusammenkom-men das Mittel der Macht, etwas zum Besseren zu wenden, indem sie in ihrer Urteilskraft die gesamte Weltbevölkerung und die zukünftigen Generationen berücksichtigen, kann ihr Urteil eigentlich nur von einer Art sein.

Wir sind nun zum Ende des ersten Teils dieser Arbeit gelangt. Hinter uns liegt die Analyse der Klimapolitik mit Bezug auf den voranschreitenden Klimawandel sowie die gesellschaftliche Auseinandersetzung damit. Ein großer Teil machte zudem die Diskussion aus, inwiefern ge-sellschaftliche Bedingungen die Auswirkungen des Klimawandels begünstigen. Aufgrund des Risikos für Mensch und Umwelt, welches der Klimawandel mit sich bringt, und des langsamen Fortschritts der internationalen Klimapolitik, wurde vor allem für den Ansatz der Schadens-vermeidung argumentiert. Dies mag zunächst pessimistisch klingen. Doch im Hinblick auf die Zwischenwirkungen von Klimafolgen und gesellschaftlichen Entwicklungsmissständen schließt eine Schadensvermeidung zwangsläufig die Stärkung von Entwicklungschancen mit ein. Da ein Staat nur seine eigenen Emissionen kontrollieren kann und seine Macht hinsichtlich Mitigation beschränkt ist, was bedeutet, dass Schadensvermeidung ausschließlich mit nationalen Bemü-hungen schnell an seine Grenzen kommt, haben wir zudem die Notwendigkeit eines funktio-nierenden Klimaregimes thematisiert: Auch ein minimalistischer Ansatz der Klimapolitik wird ohne Kooperation scheitern. Der zweite Teil wird nun näher auf die Folgen des Klimawandels eingehen und katastrophische Szenarien diskutieren, die oftmals mit dem Klimawandel assozi-iert werden. Das heißt, wir werden resultierende soziale Folgen wie Krisen, Katastrophen und Konflikte näher betrachten.

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Zweiter Teil

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5 Die Terminologie der Katastrophe

5.1 Katastrophen – Krisen – Konflikte

Der zweite Teil dieser Arbeit ist den sozialen Phänomenen gewidmet, die am ehesten mit dem Begriff der sozialen Klimakatastrophe verbunden werden: Krisen, Konflikte, Katastrophen. Hin-ter uns liegt die Diskussion über die klimapolitische Auseinandersetzung in der Gesellschaft sowie den politischen Rahmen für Maßnahmen gegen den Klimawandel. Besonders hinsicht-lich der Auswirkungen des Klimawandels erkannten wir einen erheblichen Risiko- und Sicher-heitsaspekt, wobei sowohl Risiko als auch Unsicherheit besonders aus vorliegenden gesellschaft-lichen Bedingungen erwachsen. Folglich ist der politische Rahmen für Klimapolitik kaum von dem der Entwicklungspolitik zu trennen; dies trifft insbesondere auf die Lage im globalen Süden zu. Aufbauend auf diesen Ergebnissen wird im Folgenden die Situation im Zusammenhang mit dem Klimawandel konkretisiert. Das Risiko, dem eine Gemeinschaft oder Gesellschaft ausge-setzt ist, was zugleich die Wahrscheinlichkeit eines Eintritts eines Unglücks beeinflusst, wurde auf die herrschenden Missstände in einem System inklusiver seiner Fähigkeit, sich Umständen anzupassen, zurückgeführt. Die anschließende Betrachtung von Krisen, Konflikten und Katas-trophen setzt folglich die Prämisse voraus, dass das Risiko wahrgeworden ist und ein Unglück aufgrund der bestehenden gesellschaftlichen Missstände und äußeren Einflüssen eingezogen ist. Es wird zu klären sein, wie sehr der Klimawandel bzw. die damit zusammenhängenden ökolo-gischen Veränderungen tatsächlich auf die Entstehung von solch katastrophischen Ereignissen Einfluss nehmen könnten. Wir werden sehen, dass solche sozialen Ereignisse höchst komplex sind. Weiter werden wir näher auf soziale Prozesse eingehen, die sich während solcher Ereig-nisse abspielen, um Zusammenhänge zwischen ihnen und den gesellschaftlichen Missständen, die im ersten Teil in Verbindung zu Risiko, Vulnerabilität und Entwicklungsfragen thematisiert wurden, zu verstehen.

Zu Beginn ist es als allererstes notwendig, die Begriffe Katastrophe, Krise und Konflikt näher zu definieren. Dies ermöglicht uns eine erste Grundlage, um dann weiter in der Analyse fort-zuschreiten.

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„Gefahren werden erst dann zu Katastrophen, wenn das Leben und die Lebensgrundlage der Menschen weggerissen werden“,1 so der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, in seiner Botschaft zum internationalen Tag der Katastrophenreduzierung, der am 13. Oktober eines jeden Jahres gehalten wird. Katastrophen sind Ereignisse, die einschneiden-den Charakter auf das tägliche Leben haben. Sie sind geprägt von hohen Schäden und Verlusten, sowohl sachlich als auch human. Befindet sich eine Gesellschaft in einer Katastrophensituation, können Individuum nicht mehr ihren gewöhnlichen, alltäglichen Handlungen nachgehen. Der Satz, Nichts ist mehr, wie es war , beschreibt diese Situation auf den ersten Blick sehr treffend. In diesem Sinne definiert das UNISDR Katastrophen als „die Unterbrechung der Funktionsfähig-keit einer Gesellschaft, die Verluste an Menschenleben, Sachwerten und Umweltgütern verur-sacht und die Fähigkeit der betroffenen Gesellschaft aus eigener Kraft damit fertig zu werden, übersteigt“2. Katastrophen haben einen grundsätzlichen Verlust von lebensnotwendigen Res-sourcen zur Folge. Diese Ressourcen sind in den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft zu finden. Man spricht unter anderem von Human-, Sozial-, Wirtschafts- und Naturkapital, jene Kapitalbündel, die notwendig sind, um Existenzen zu sichern.3 Der Verlust solcher Bündel ver-ursacht gravierende Einschnitte in das Alltagsleben, sodass von keinem Alltag mehr die Rede sein kann. Ein „soziales Zerreißen“ stellt sich ein, ein scheinbares Zerbrechen der Gesellschaft, soziale Strukturen fallen auseinander, die zuvor durch die Routinen des Alltags immer wieder-erstellt wurden.4

Die Auswirkungen einer Katastrophe sind besonders in weniger entwickelten Ländern hoch. Zwar fällt der absolute Verlust in entwickelten Ländern höher aus als in weniger entwickelten, doch sind bei letzteren die Folgen deutlich drastischer, vor allem hinsichtlich der humanitären Seite. Zwi-schen 1994–2013 verursachten Katastrophen einen Schaden von 1600 Milliarden US-Dollar in ein-kommensstarken Ländern. In einkommensschwachen Ländern waren die Schäden in Höhe von 71 Milliarden US-Dollar vergleichsweise gering. Allerdings stellten die Verluste in den entwickelten Ländern gerade einmal 0,3 % des BIPs dar, wohingegen die Schäden in einkommensschwachen Ländern 5,1 % des BIPs ausmachten.5 Allen Länder ist jedoch gemein, dass die verwundbarsten und sozial ausgegrenzten am meisten unter einem Katastropheneintritt zu leiden haben.

Katastrophen werden als ein Phänomen betrachtet, das als Folge gewisser Ursachen hervor-geht und wiederum Ursache neuer Folgen sein kann. Jedes destabilisierende Ereignis kann in eine Katastrophe münden, wenn dadurch die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft aufgebrochen wird.6 Bei einer Katastrophe wird meist von einem zeitlich begrenzten Abschnitt ausgegangen. Sie tritt ein, unterbricht den Alltag und nach einer gewissen Zeit hat sich das System wieder er-holt, auf seinem Weg, zum Alltag zurückzukehren. Dieses Verständnis unterscheidet sich vom deskriptiven Überbegriff der Klimakatastrophe. Dieser referiert auf die globale Situation unter Einfluss der Gesamtheit der aufkommenden klimatischen Extremereignisse, sowohl die in letz-ter Zeit bereits geschehenen als die noch auftreten werden. Damit macht der Begriff besonders auf die bedrohliche Lage aufmerksam, um für entsprechende Maßnahmen zu motivieren. Der Begriff Klimakatastrophe hat somit eine besonders narrative Dimension.7 Der eigentliche Ka-tastrophenbegriff steht für ein konkretes, eingetretenes Ereignis, das durch die Bezeichnung der Katastrophe eine Wertung erfährt, dass nämlich ein Schreckensereignis eingetreten ist.

Das Verständnis der Katastrophe als zeitlich begrenztes Ereignis manifestiert sich besonders durch die Außenbetrachtung einer Katastrophe im Hinblick auf ihre Auswirkungen. Anhand der Auswirkungen erscheint der eingetretene Zeitabschnitt sich meist deutlich vom Alltag zu unterscheiden. Hier lassen sich vor allem die durch das aufgetretene Extremereignis entstan-denen hohen Schäden und Verluste herausstellen. Aber auch Handlungen wie der Ausruf des Notstandes bzw. Katastrophenfalls durch die Regierung, ein hohes Aufkommen von Spezial-maßnahmen (Einsatz von Feuerwehr, Notärzten, Spezialeinsatzgruppen, in manchen Ländern gar der Einsatz des Militärs) und der öffentliche Appell, wie sich die Betroffenen in der Situa-tion verhalten sollen. Eine weit verbreitete Meinung ist auch das Aufhören von gesellschaftlich funktionierenden Strukturen sowie ein verstärktes Einsetzen von kriminellen Aktivitäten (z. B. Plünderungen) im Katastrophengebiet.

Allerdings zeigt die Diskussion des vorherigen Teils, dass Risiko durch Faktoren wie Vulne-rabilität gebildet wird. Der Auslöser der Katastrophe lässt sich demnach nicht im ausschließ-lichen Auftreten des Extremereignisses finden, sondern in den gesellschaftlichen Umständen, die bereits vor dem Eintritt existent waren. Somit ist es zweifelhaft, ob eine Katastrophe wirklich gelöst von den gesellschaftlichen Gesamtumständen gesehen werden kann, um das Phänomen Desaster8 tatsächlich analysieren zu können. Vielmehr hängt die Entstehung einer Katastro-phe mit sozialen, ökonomischen und ökologischen Missständen zusammen, jene, die ebenfalls zur Klärung der gesellschaftlichen Vulnerabilität betrachtet werden. Hinzu kommen politische Verhältnisse, die insbesondere die gesellschaftliche Stabilität eines Landes oder einer Region prägen. Wir werden auf dieses gesellschaftliche Konstrukt im weiteren Verlauf noch zurück-kommen. Wir können allerdings jetzt schon sagen, dass dem klassischen Verständnis einer Ka-tastrophe, als ein vom Alltag zeitlich abgegrenztes Phänomen, einige Zweifel anhaften.

Ob eine Katastrophe als Katastrophe wahrgenommen wird, hängt auch vom Wertesystem einer Kultur ab, an das die Betroffenen gebunden sind. Als Europäer neigt man dazu Ereignisse in anderen Kulturkreisen ausschließlich anhand abendländischer Maßstäbe zu bewerten.9 Der allgemeine Konsens tendiert ein extremes Ereignis als sogenannte Naturkatastrophe zu kate-gorisieren, wenn der Mensch durch die entstehenden Folgen in solch einem Maße betroffen ist, dass er sie aus eigener Kraft nicht bewältigen kann. Dies ist in weniger entwickelten Ländern meist öfter der Fall als in Industriestaaten, was sich anhand der höheren Vulnerabilität in südli-chen Ländern erklären lässt. Hinzu kommt häufig mangelnde Siedlungsplanung, die den Faktor exposure dramatisch erhöht. Allerdings, gerade durch das häufigere Auftreten von natürlichen Extremphänomenen in weniger entwickelten Ländern, kann sich bei der Bevölkerung eine ge-wisse Routine einspielen, mit solchen Ereignissen umzugehen, trotz höherer exposure und vul- nerability. So können die Auswirkungen für Außenstehende eher von katastrophischer Natur sein als dies für die Betroffenen selbst der Fall ist. Für die Betroffenen könnte es lediglich ein extremer Zeitabschnitt sein, geprägt von einer hohen Quote an Schäden, Verlusten und Todes-fällen, solange sich nur der Alltag wieder nach einer Weile einspielt. 5.1.2 Krisen

Krisen sind kein Synonym für Katastrophen. Krisen müssen ihren Ursprung nicht in Ereignis-sen haben, die physische Zerstörung oder Todesfälle hervorrufen. Allgemein drücken Krisen gesamtgesellschaftliche Missstände oder sektorale Störungen aus. Sie schränken die Steuerungs- und Funktionsfähigkeit innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Sektoren ein. Hierdurch konstatieren sie einen Wendepunkt zwischen Stabilität und Zusammenbruch in einem oder mehreren betroffenen Sektoren. Betrachtet man die griechische Herkunft des Begriffs (κρίσις, krisis), haftet der Krise keine völlig negative Bedeutung an. Mit ihr wird der Höhepunkt oder Wendepunkt einer gefährlichen Situation beschrieben. Dies bedeutet, dass die Lage sich der Besserung nähert. Normalerweise nimmt die Gesellschaft eine Krise aber meist als Bedrohung wahr, was zunehmende Unsicherheit und Angst bei den Betroffenen auslöst. Im fortlaufenden Prozess können sich die Störungen entweder zu einem sektoralen oder gesamtgesellschaftlichen Wandel entwickeln oder sie verschärfen sich durch Eigendynamik. Darum können Krisen als Kontinuum betrachtet werden. Falls sie sich durch Eigendynamik verschärfen, kann die Krise zu einem (System-)Zusammenbruch oder Funktionsverlust führen: nach klassischer Auffassung entsteht dann eine Katastrophe.10

Sektorale Störungen müssen daher durch Bewältigungsstrategien beigelegt werden. Ist dies einer Regierung nicht möglich, hält die Krise weiter an oder verschärft sich. Wir können hierbei auf die Thematik der mangelnden Entwicklungschancen und fehlenden Kapazitäten verweisen (vgl. Kap. 3). Andererseits ist der Grund für anhaltende Krisen in erster Linie nicht das Miss-lingen von Bewältigungsstrategien, sondern eine latente oder akute Anfälligkeit auf politischer-institutioneller, ökonomischer, ökologischer oder auch soziokultureller Ebene in den jeweiligen Ländern. Mit anderen Worten: Die Vulnerabilität ist ein Grund für anhaltende Krisen. Ohne gesellschaftliche Vulnerabilität entstehen keine Krisen. Dies bedeutet, dass sowohl Vulnerabili-tät als auch Krisen bereits vor dem Eintritt einer Katastrophe in der betroffenen Gesellschaft existent waren. Wir können sogar noch weiter gehen und sagen, dass eine Krise die gesellschaft-liche Wahrnehmung der Vulnerabilität ist. Setzt sich die gesamtgesellschaftliche Vulnerabilität aus verschiedenen sektoralen Missständen zusammen, können wir von Krisen sprechen. Vul-nerabilität und Krise haben somit in gewisser Weise die gleiche definitorische Grundlage und können vereinfacht gleichgesetzt werden.11 Dies räumt mit der Vorstellung auf, Krisen seien als soziopolitische Schieflagen zu verstehen. Die mögliche definitorische Gleichsetzung von Krise und Verwundbarkeit verdeutlicht, dass Krisen aus verschiedensten gesellschaftlichen Schiefla-gen resultieren können.

Entwicklungspolitisch wird der Versuch unternommen, strukturelle Stabilität als Oberziel an-zuvisieren, um einen dynamischen Zustand einer Krise zu verhindern. Strukturelle Maßnahmen sind daher notwendig, da sie krisenpräventiv auf den Aufbau einer strukturellen Stabilität und ziviler Konfliktbearbeitungskapazitäten abzielen und somit einen längerfristigen Abbau von Konfliktursachen erreichen.12 Nach Volker Matthies ist „strukturelle Stabilität“ ein Zustand, „der in sich nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, Wahrung der Menschenrechte, funktions-fähige politische Strukturen, geordnete soziale Verhältnisse und gesunde Umwelt vereint und der gefestigt genug ist, dass ein Wandel unter Vermeidung gewaltsamer Konflikte herbeigeführt werden kann“13. Die Förderung struktureller Stabilität zielt neben der Vermeidung dynamischer Krisen auch auf das Herabsetzen der Verwundbarkeit gegenüber extremen Ereignissen ab. Sens Idee der instrumentellen Freiheiten ist hierbei als der strukturellen Stabilität fördernd zu er-wähnen. Strukturfördernde Maßnahmen sind folglich ein wesentlicher Punkt, um Krisen bzw. Verwundbarkeit zu reduzieren und damit Konflikt- und Katastrophenursachen vorzubeugen.

Krisen stehen für eine strukturelle Destabilität. Dabei wird strukturelle Destabilität als der Gegensatz zur strukturellen Stabilität definiert, das heißt, sie steht für eine geschwächte gesell-schaftliche Steuerungsmöglichkeit, die die von Matthies beschriebene „nachhaltige Wirtschafts-entwicklung, Wahrung der Menschenrechte, funktionsfähige politische Strukturen, geordnete soziale Verhältnisse und [eine] gesunde Umwelt“ verhindert. Dies bedeutet, dass eine Krise in einem Bereich Auswirkungen auf die gesamtgesellschaftliche Stabilität hat. Eine politische Krise kann sich folglich auf die gesamtgesellschaftliche Stabilität negativ auswirken. Unter der an-gespannten politischen Lange, kann davon ausgegangen werden, dass die Steuerungsmöglich-keiten beschränkt vorliegen. Folglich kann es einer Regierung nicht vollends möglich sein auf Missstände oder Konflikte angemessen zu reagieren. Hieraus sind verschiedene Szenarien denk-bar, dass beispielsweise die Missstände im Zuge ungenügender Handlungsfähigkeit zunehmen, andere Akteure die Funktion der Regierung versuchen zu ersetzen oder dass die Politik im An-gesicht der herrschenden gesellschaftlichen Notsituation ihre Krise (temporär) behebt, um sich ihren Regierungsauftrag zu widmen.

An dieser Stelle wollen wir kurz Bezug auf Kapitel 3.2.3 im ersten Teil nehmen. Aufgrund der annähernden Synonymität zwischen Krise und Vulnerabilität lässt sich schließen, dass es ebenfalls Zusammenhänge zwischen Vulnerabilität und Stabilität gibt. Im genannten Kapitel haben wir das PAR- und das BBC-Risikomodell analysiert, wobei ein Unterschied in der unter-schiedlichen Berücksichtigung des politischen Einflusses lag. Hat das PAR-Modell die politische Dimension berücksichtigt, fokussierte sich das BBC conceptual framework model lediglich auf Ökonomie, Ökologie und Soziales. Im Hinblick auf die Bedeutung der politischen Ebene hin-sichtlich der Steuerungsfunktion in politisch-gesellschaftlichen Strukturen, ist die Bedeutung der Politik zur Abwehr von Katastrophen und Konflikten sowie Behebung von Missständen nicht unerheblich. Besonders die Förderung von Entwicklung, sei es die Erweiterung von indi-viduellen Freiheiten, die Umsetzung von nachhaltigen Entwicklungszielen oder die Wahrung der menschlichen Sicherheit oder der Menschenrechte, was in der Regel eine Herabsetzung der Vulnerabilität bewirkt, verlangt einen gewissen Grad an funktionierender Governance . Man mag der Auffassung sein, dass es keine spezifische politische Vulnerabilität gibt, doch kann die Stabilität eines Staates, und insbesondere die politische Stabilität, erheblichen Einfluss auf den Grad der Verwundbarkeit und das Auftreten bzw. Verharren von Krisen in einem Staat oder einer Region nehmen. 5.1.3 Konflikte

Konflikte können Folgen von Krisen oder Katastrophen sein. Es wird befürchtet, dass durch knapper werdende Ressourcen oder umweltbedingte Migration in Zukunft mehr Konflikte auftreten werden. Damit entstünde das soziale Ereignis indirekt durch den Klimawandel. So könnten Wetterveränderungen Menschen dazu zwingen, ihre Heimat aufzugeben und sich ein neues Zuhause zu suchen, wo sie eine bessere Perspektive auf eine sicherere Lebensgrundlage vorfinden. Auf den Migrationsrouten könnten ethnische Spannungen entstehen, was in Konflik-ten münden könnte. Grundsätzlich sind Konflikte Beziehungen zwischen zwei oder mehreren interagierenden Akteuren. Dabei nimmt mindestens eine der Parteien diese Beziehung als ne-gativ wahr: Sie stellt gegensätzliche Interessen und Bedürfnisse fest und verfolgt diese aktiv. Je nach Fokus und Wahrnehmung der Interessengegensätze lassen sich unterschiedliche Konflikte klassifizieren. Verteilungskonflikte, Konflikte um Rechte, ideologische, religiöse oder ethnische Konflikte sind nur ein paar Beispiele. Beide Konfliktparteien haben nicht nur gegensätzliche Interessen und Bedürfnisse, sondern müssen zudem davon überzeugt sein, ihre speziellen An-sprüche geltend zu machen und durchzusetzen.14 Konflikte sind daher notwendiger Bestand-teil eines förderlichen Zusammenlebens einer Gesellschaft. Durch den Prozess eines Konflikts in Form von konstruktiven und produktiven Verhandlungen und dem letztendlichen Konsens entstehen sozialer Wandel und gesellschaftliche Veränderung. Menschliche Entwicklung als ge-sellschaftliche Entfaltung ist demnach ohne Interessengegensätze undenkbar. Konflikte können folglich friedlich und konstruktiv ablaufen und müssen keine gewalttätige Dynamik entwickeln.

Konflikte bekommen eine zerstörerische, katastrophische Dimension, wenn die Kommu-nikation unter den betroffenen Gruppen zusammenbricht, soziale Verbindungen geschädigt sind und sich Spannungen verschärfen, woraus Gewalt resultieren kann.15 Es wird befürchtet, dass der Klimawandel eine solche drastische Entwicklung begünstigt. Die Ausmaße gewaltsa-mer Konflikte können erheblich sein. Sie können gesellschaftliche Strukturen destabilisieren und stellen eine Bedrohung der gesamtgesellschaftlichen Ordnung dar. Meist haben sie ihren Auslöser in Phasen tiefgreifender sozioökonomischer Veränderungen oder politischer Trans-formationen. Die Ursachen von gewaltsamen Konflikten können vielschichtig und verschiede-ner Herkunft sein, politisch, ökonomisch, sozial oder kulturell motiviert sein, wobei Ursachen oftmals nicht völlig klar benannt und voneinander abgegrenzt werden können. In der Regel sind Konflikte lokal oder regional begrenzt und betreffen eher selten das gesamte Land. Allerdings, je nach Region, sozialer und ethnischer Zusammensetzung der Gesellschaft und Nähe zu staat-lichen Grenzen, können Konflikte zu grenzüberschreitenden und zwischenstaatlichen Ausei-nandersetzungen führen. Die folgenden Kapitel unter Miteinbeziehung konkreter Situationen werden dies verdeutlichen.

5.2 Katastrophenverständnis anhand des livelihood -Ansatzes

Verursacht ein gewaltsamer Konflikt oder ein Extremereignis eine Situation, indem die Funk-tionsfähigkeit der Gesellschaft unterbrochen wird, meist begleitet von hohen Verlusten und Schäden, ist von einer Katastrophe die Rede, so zumindest das allgemeine Verständnis. Dabei stellt sich die Frage nach dem Warum: Warum verliert eine Gesellschaft oder ein soziales System aufgrund der Folgen eines Extremereignisses seine Funktions- und Steuerungsfähigkeit?

In der Entwicklungsforschung wird seit geraumer Zeit mit dem Sustainable - Livelihood- Ansatz gearbeitet, der im Wesentlichen durch die Arbeit von Organisationen wie dem Department for International Development (DFID), CARE, Oxfam und UNDP populär wurde. Zwar lassen sich einzelne Unterschiede zwischen den livelihood- Ansätzenerkennen, doch verfolgen sie alle die gemeinsame Idee, die Lebensgrundlage in den Mittelpunkt zu stellen, die auf die Arbeit von Robert Chambers und Gordon R. Conway in den frühen 1990er Jahren zurückzuführen ist. Chambers und Conway verstehen unter livelihood Folgendes:16

Der livelihood- Ansatz versucht die Vulnerabilität der Haushalte bzw. einer sozialen Gruppe zu erfassen. Dabei steht die sogenannte Lebenshaltung bzw. Lebensgrundlage im Mittelpunkt. Sie umfasst alle Fähigkeiten, Ausstattungen und Handlungen, die zur alltäglichen Existenz-sicherung erforderlich sind. Fünf Kapital- bzw. Ressourcenbündel ( assets ) werden hierbei be-trachtet: Humankapital (Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Gesundheit), Naturkapital (Land, Wasser, Böden, Biodiversität), Sozialkapital (Einbindung in soziale Netzwerke, gesellschaft-licher Status, Vertrauensverhältnisse), Sachkapital (Infrastruktur, Produktionsmittel, Wohn-raum) und Finanzkapital (Einkommen, Ersparnisse, Kreditzugang).18 Bei einer Untersuchung muss Kenntnis darüber bestehen, wie wichtig die einzelnen Ressourcen für eine soziale Grup-pe, in welchem Ausmaße sie vorhanden oder zugänglich und in welchem (politisch-ökonomi-schen) Rahmen sie verfügbar sind. Mit Amartya Sens Perspektive lässt sich ergänzend sagen, dass das Faktum der Möglichkeiten relevant ist, dass es den Haushalten oder sozialen Grup-pen tatsächlich zusteht, Zugang zu Ressourcen zu haben und ihre Ressourcenausstattung zu verbessern.

Grundverständnis des Ansatzes ist, „dass die materiellen und immateriellen Vermögenswer-te, Fähigkeiten und Kapazitäten eine zentrale Rolle bei der Abpufferung und Bewältigung von Stress-Situationen, Krisen und Katastrophen spielen“19. Sind die notwendigen Ressourcen zu-gänglich und können sie weiterhin mobilisiert werden, wird die Lebenshaltung der Haushalte als gesichert angesehen. Ist dies allerdings nicht mehr gewährleitstet, da autonome Sicherungs-mechanismen nicht mehr wirken, kommt es zu einem Wendepunkt zwischen Stabilität und Zu-sammenbruch, das heißt eine Krise bricht aus. Der Auslöser kann in jedem Störungselement liegen, das dem Zugang und die Mobilisierung eines Kapitalbündels konfligiert. Beispielsweise kann eine Dürre Naturkapital degradieren, Fluten Sachkapital zerstören oder Humankapital wird mit einem Verlust von Menschenleben beschnitten. Ebenso können andere gesellschaft-liche und institutionelle Gegebenheiten wie Landnutzungsrechte, Verteilungsungleichheiten, soziale und ethnische Zugehörigkeit, schwache Einkommen etc. den Zugang und die Mobilität von Ressourcen negativ beeinflussen.

Nach dem Verständnis des livelihood- Ansatzes kann ein Bruch der Funktionsfähigkeit eines Systems verhindert werden, solange der Zugang und die Mobilisierung der Ressourcenbündel garantiert werden können. Ist die Gesellschaft selbst nicht in der Lage, diese Bedingung auf-rechtzuerhalten, kann durch externe Interventionen, zum Beispiel in Form von internationalen Hilfsgütern und -leistungen, der Zugang zu Kapitalbündeln aufrechterhalten werden. Gelingt dies nicht oder bleibt von vornherein eine Hilfsreaktion auf die Krisensituation aus, kollabiert die Ressourcenmobilisierung und das Stadium der Katastrophe tritt ein. „Sie steht damit am Ende eines sich zunehmend destabilisierenden Handlungs- und Kommunikationsprozesses.“20

Der ehemalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon mahnte vor dem UN-Sicherheitsrat, dass innerhalb einer Krise, die sich durch einen (drohenden) Zusammenbruch des Systems zur Ka-tastrophe ausweiten könnte, die Entstehung gesellschaftlicher Konflikte möglich sei. Dass die Störung des Ressourcenzugangs zu einer Katastrophe führt, kann ebenso der Grund eines Aus-bruchs gewaltsamer Konflikte sein. So kann es denkbar sein, dass Konkurrenzkämpfe um knap-pe Ressourcen ausbrechen oder einzelne Bevölkerungsgruppen durch institutionelle Regelun-gen stark benachteiligt werden und sich hieraus befreien wollen. Die Störung kann in diesem Fall in einer fehlenden oder misslungenen Regelung liegen, die sich zum Beispiel als institutio-nelle Lücke in Phasen ausgeprägter gesellschaftlicher Transformation manifestiert.21 Es lassen sich letztendlich drei Hauptursachen beschreiben, aus denen aus Sicht des livelihood -Ansatz Ka-tastrophen sowie tiefgreifende Krisen und Konflikte resultieren können:22

1. fehlende lebensnotwendige Ressourcen (der jeweiligen Kapitalbündel);

2. fehlende Mobilisierung der Ressourcen;

3. fehlende Bewältigungsstrategien/fehlendes Funktionieren von Sicherungsstrategien.Dem livelihood- Ansatz haftet ein erheblich politisch-institutioneller Aspekt an. Wir haben die-sen Aspekt bereits bei der Erläuterung von Krisen als ausschlaggebender Faktor für struktu-relle Destabilität beschrieben, neben ökonomischen, sozialen und ökologischen Faktoren. Im livelihood- Ansatz liegt das politisch destabilisierende Moment darin, dass die gesellschaftlichen Institutionen nicht die drei Hauptursachen (fehlende lebensnotwendige Ressourcen, fehlende Ressourcenmobilisierung und fehlende Bewältigungsstrategien) einer Katastrophe bzw. Krise bewältigen bzw. bewältigen können. Allerdings sollten die Handlungspotentiale einer Bevölke-rungsgruppe innerhalb einer destabilisierenden Phase nicht außer Acht gelassen werden. Kultu-relle bzw. soziokulturelle Eigenschaften, die das Zusammenleben von Menschen innerhalb einer Gemeinschaft prägen, können großen Einfluss auf eine Krisenbewältigung nehmen, obwohl diesen in wissenschaftlichen Ausführungen kaum konkreten Wert beigemessen wird. Dies mag damit zusammenhängen, dass sie deutlich spezifischer sind und ihnen daher nur schwer eine universelle Tragweite im Vergleich zu ökonomischen, ökologischen, sozialen und politischen Faktoren zugeschrieben werden kann. Soziokulturelle Faktoren wie soziale Strukturen, soziales Verhalten und Wertvorstellungen unterscheiden sich stark unten Bevölkerungsgruppen. Stu-dien ergaben dennoch, dass „[…] in katastrophenbedingten Notsituationen nicht nur physisch-materielle Bedürfnisse von Bedeutung waren, sondern die ausgeprägten sozialweltlichen Be-ziehungen mit ihren Spezifika Hierarchie, Abhängigkeit und Tauschverhältnis bestehen bleiben (wenn auch unter anderen Bedingungen)“23.

Der livelihood- Ansatz ist ein praxisorientierter Ansatz. Er spart sich die Analyse der jeweili-gen Hintergründe, warum Kapitalbündel nicht vorhanden sind. Es wird ‚lediglich‘ analysiert, dass Kapitalbündel nicht im ausreichenden Maße vorliegen bzw. mobilisiert werden können. Als praktischer Ansatz in einem praktischen Arbeitsumfeld, liegt ihm das Motto ‚keep it simple‘ zugrunde. In erster Linie soll ein Aufschluss über Handlungsmöglichkeiten erfolgen, um poten-tiellen Katastrophen mit entsprechenden Schritten entgegenzuwirken. Allerdings entwickelt sich nicht jede Situation, in der ein Fehlen von Ressourcenbündel festgestellt wird, zu einer Katastrophe – sofern eine Katastrophe nicht per Definition als das Fehlen von Ressourcenbün-del verstanden wird. Darum müsste man näher untersuchen, warum in manchen Situationen fehlende Kapitalbündel zum Scheitern bestimmter Handlungsrationalitäten führen und in an-deren Situationen wiederum nicht, und zwar innerhalb jener Bedingungen gesellschaftlicher Strukturen, unter denen Alltagshandeln und Existenzsicherung stattfinden.

5.3 Langfristige Auswirkungen von Katastrophen

Im praktischen Sinne wird ein Extremereignis dann als Katastrophe ausgerufen, wenn die Schäden und Verluste sich auf das Vorliegen und die Mobilisation von Kapitalbündeln äußerst negativ auswirken und die Gesellschaft unfähig ist, diese Notsituation aus eigener Kraft zu be-wältigen. Allerdings erwähnten wir bereits, dass das Phänomen Katastrophe vielmehr einem gesellschaftlichen Prozess entspricht, als einem zeitlich abgetrennten Ereignis. Wir bezogen dies auf den Faktor Vulnerabilität, der bereits vor dem Eintritt einer Katastrophe in der Ge-sellschaft existent ist. Denn Vulnerabilität entsteht nicht erst mit dem Einsetzen eines hazard, sondern charakterisiert bereits die Umstände des Alltags. Eine Katastrophe ist mit dem Ende des phänomenologischen Extremereignisses keinesfalls beendet. Ebenso wie das Einsetzen des Katastrophenereignisses aus den Bedingungen des Alltags resultiert, können die Auswirkungen des Ereignisses noch über lange Zeit die Bedingungen des Alltags beeinflussen, längst nachdem Trümmer abgetragen und Infrastruktur und Häuser wiederaufgebaut wurden.

Das 1952 in den Vereinigten Staaten gegründete Commitee on Disaster Studies legte sein In-teresse bei seiner Katastrophenforschung auf die Reaktionen der Bevölkerung während Katas-trophenzeiten und das Problem der Verfügbarkeit von Ressourcen zur Situationsbewältigung. Weder die Entstehung, Verhütung noch die Vorbeugung von Katastrophen standen damals im Mittelpunkt der Untersuchungen. Vielmehr galt es zu analysieren, wie sich die Bevölkerung gegen die immer wiederkehrenden Naturereignisse wie Tornados, Hurrikanes, Überschwem-mungen oder Schneestürme erwehren kann. Man sah keine andere Möglichkeit, als die Katas-trophe so gut wie möglich zu überstehen, die Trümmer zu beseitigen und anschließend dort weiterzumachen, wo man vor der Katastrophe aufgehört hatte. Die folgenden Jahrzehnte der Katastrophenforschung waren von dieser Vorstellung geprägt. Ziemlich einfache Zeit-Modelle entsprangen aus der Katastrophenforschung wie das von Drayer, das die Katastrophe in die drei Phasen „pre-impact“, „impact“ und „post-impact“ aufteilte;24 oder das von Form und Nosow, das mit „predisaster stage“, „emergency stage“ und „postdisaster stage“ ähnlich konstituiert ist.25Dahinter steckt die Denkfigur eines „Vor–Während–Nach“ der Katastrophe. Es wird impliziert, dass die Normalität durch ein Ereignis unterbrochen wird, um sie anschließend wiederherzu-stellen. Eine solche Denkweise zog eine grundlegende Schwierigkeit mit sich, wie die Phasen exakt untereinander abgegrenzt werden können. Was gehört zu der „Vor-Phase“ und was zu der „Nach-Phase“ einer Katastrophe?26

Auch heute werden Katastrophen von Außenstehenden meist als überstanden betrachtet, wenn die Betroffenen mit Hilfsgütern versorgt sind, die Ordnung wieder halbwegs hergestellt wurde und die größten Trümmer abtransportiert wurden. Spätestens jedoch mit dem Ver-schwinden der Medien aus den Katastrophengebieten und dem damit verbundenen Ende der Berichterstattung. Dabei fällt die Katastrophe allerdings nicht nur zeitnah mit dem Eintritt eines Extremphänomens zusammen. Betroffene können noch lange Zeit nach dem Eintritt des Ext-remphänomens und der Versorgung durch internationale Hilfsorganisationen die Situation als Katastrophe empfinden.

Eine Studie in Mosambik über die lokale Interpretation einer Überschwemmung hat bei-spielsweise ergeben, dass das natürliche Phänomen selbst, das als Katastrophe kategorisiert wur-de, bei den Betroffenen nicht als Katastrophe wahrgenommen wurde, sondern vielmehr die Zeit danach. So war die Überschwemmung für die Bevölkerung ein normales Ereignis, das kommt, einige Tage bleibt und wieder geht; auch wenn dabei Menschen ums Leben kommen und viele ihr Hab und Gut verlieren. Solange die Bevölkerung die Lage bewältigen kann und ohne fremde Hilfe mit dem Ereignis zurechtkommt, scheint für sie die Bezeichnung Katastrophe unzutref-fend. Erst als nach dem Ereignis eine Dürre eintrat und die Bevölkerung diese nicht mehr mit ihren eigenen Mitteln bewältigen konnte, sprachen die Betroffenen von einer Katastrophe.27

Die Charakteristika eines natürlichen Extremereignisses28, ob es plötzlich oder langsam eintritt, zeigen sich auch im katastrophischen Verlauf. Plötzlich eintretende Katastrophen, wie tropische Stürme, Waldbrände, Fluten oder Massenbewegungen wie Lawinen und Erd-rutsche, beschädigen hauptsächlich Sachkapital, einschließlich Infrastruktur und Produk-tionsmittel sowie vorhandene Bestandsgüter. Diese Phänomene treten meist hoch intensiv auf, sind aber nur von kurzer Dauer. Anders sieht es hingegen bei langsam einsetzenden Desastern wie Dürren aber auch bei Umweltdegradation aus, die von längerer Dauer sind. Mit einem solchen anhaltenden Ereignis werden Rücklagen und Anlagen aufgezehrt, inlän-dische Nachfragen können nicht mehr bedient und Produktionsleistungen nicht mehr auf-rechterhalten werden.

Allerdings ist es wahrscheinlich, dass bei sowohl plötzlich als auch bei langsam eintretenden Phänomenen die langfristigen Folgen deutlich einflussreicher als die direkt entstandenen Schä-den und Verluste sind. „In diesem Licht gesehen, könnte dafür argumentiert werden, dass alle Katastrophen langsam eintretende sind.“29 Beispielsweise werden jedes Jahr knapp 14 Millio-nen Menschen durch plötzlich eintretende Extremereignisse obdachlos, wodurch sie meist ge-zwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Der Großteil dieser gezwungenen Vertreibung resul-tiert durch Fluten in Süd- und Südostasien.30 Die Folgen des plötzlich eintretenden Ereignisses sind somit von andauernder Wirkung. Es wird angenommen, dass Hurrikan Mitch, der gegen Ende des Jahres 1998 unter anderem in Nicaragua wütete, das Land in einen Zustand versetzt hat, wofür zwanzig Jahre Wiederaufbau von Nöten seien, um das Level an Entwicklung wieder-zuerlangen, das vor der Katastrophe bestand.31 Die Folgen von Katastrophen können äußerst vielseitig und langfristig sein. Die Anzahl der Menschen, die dabei ums Leben kamen, sowie die durch Zerstörung von Gebäuden, Besitz und Infrastruktur entstandenen Kosten, sind nur ein Teil des tatsächlichen Ausmaßes. Schwerwiegender sind oftmals die weitreichenderen Aus-wirkungen des Ereignisses. Dies lässt sich besonders ökonomisch veranschaulichen. Nach der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und der Karibik (ECLAC) und nach Zapata-Marti, kann der wirtschaftliche entstandene Schaden in drei Typen aufgeteilt werden:32

1. Direkte Verluste: Darunter sind alle Besitztümer und Bestände zu verstehen, sowohl fertig als auch halbfertige Güter, die sofort von der Katastrophe betroffen oder zerstört wurden, inklusive Ernte, Rohmaterial, Ersatzteile, ebenso der erbrachte Aufwand für Hilfeleistungen und um auf den Notstand zu reagieren.

2. Indirekte Verluste: Dies betrifft den Fluss von Gütern und Dienstleistungen, die nach der Katastrophe nicht bereitgestellt werden können. Zusätzliche Kosten entste-hen zudem durch eine alternative Bereitstellung von Leistungen oder anderweitigen Produktion; Verluste an Einkommen aufgrund der Nichtbereitstellung von Gütern und Leistungen; Verluste an persönlichen Einkommen im Falle von kompletten oder teilweisen Verlusten an Produktionsmitteln, Arbeit oder der Lebensgrundlage; aus-bleibende Steuereinnahmen aufgrund geringerer wirtschaftlicher Tätigkeiten; bei-spielsweise auch zunehmende Transportationskosten für Unternehmen aufgrund der Destruktion des Transportnetzwerks.

3. Sekundäre Effekte: Sie stehen für die Auswirkungen der Katastrophe auf die Gesamt-leistung der Ökonomie und das Verhalten makroökonomischer Variablen mittel- und langfristig (zwischen zwei und fünf Jahren), wie das Bruttoinlandsprodukt – total und sektoral – laufende Rechnungen, Kapitalbilanz, Finanzwirtschaft, Schuldenlast oder monetäre Reserven, Steuereinnahmen, Investitionen und Zinsraten, Preise und Ar-beitslosenzahlen. Gewöhnlich schlagen sich die sekundären Effekte in jenem Jahr aus, in dem die Katastrophe eintrat, allerdings können sie ebenso Folgejahre beeinflussen.Eine Verflechtung der drei Typen ist durchaus nicht abwegig. Direkte, durch die Katastrophe entstandene Verluste, können in indirekte Verluste und letztendlich in sekundäre Effekte grün-den, sodass sich die Katastrophe noch nach der Erholungs- und Wiederaufbauphase wirtschaft-lich auswirkt.

Katastrophenvorbeugende Maßnahmen zielen hauptsächlich darauf ab, direkte Schäden zu minimieren, wodurch folglich indirekte und sekundäre Ereignisse unterbunden oder reduziert werden. Folgeereignisse nach direkten Verlusten sind abhängig vom Grad, wie sich die durch die Katastrophe entstandene Belastung in den ökonomischen Verflechtungen ausbreitet. Je größer die Abhängigkeit unter den Wirtschaftssektoren ist, desto schwerer wirkt sich die Be-lastung eines Sektors auf andere aus. In vielen weniger entwickelten Ländern trägt nicht nur die Agrarwirtschaft nach wie vor einen erheblichen Anteil zur nationalen Wirtschaftskraft bei, sondern sie wird zudem als Subsistenzwirtschaft betrieben. Besonders in Afrika ist dies der Fall, beispielsweise in Burkina Faso, Swasiland, Äthiopien, Mosambik oder Malawi. In Malawi erwirtschaftete Subsistenzwirtschaft im Jahre 2011 30 % des BIPs. 80 % der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig und generieren 83 % der Außenhandelseinnahmen des Landes.33 Dies bedeutet, dass in Ländern mit solch einer ökonomischen Struktur, direkte Verluste umso mehr mit sekundären Effekten korrelieren. Beeinträchtigen steigende Temperaturen oder veränderte Wettermuster (Dürren, Starkniederschläge mit anschließendem Hochwasser, unregelmäßige Niederschläge) die Produktion von Agrarerzeugnissen, sind Bauern in der Regel zunächst ge-zwungen, die übriggebliebene Ernte zum Eigenbedarf zu nutzen. Somit bleibt kein Überschuss, der auf dem Markt verkauft werden kann. Extremphänomene bedrohen damit sowohl die Nah-rungssicherheit eines Landes als auch einen großen Teil der Wirtschaftsleistungen. Die Prospe-rität dieser Länder basiert auf einer fragilen ökonomischen Grundlage. Mit Versicherungsaus-zahlungen und internationaler Unterstützung oder anderweitigen Geldbeschaffungen lässt sich schnell auf Notlagen und die direkte Zeit nach ihnen reagieren. Doch sind solche Zuschüsse zeitlich begrenzt und vor allem nicht ausreichend, um alle Verluste zu kompensieren, speziell um sekundäre Ereignisse zu reduzieren.34 Darum stellen für viele Betroffenen die Nachwir-kungen einer Katastrophe erst die tatsächliche Katastrophe dar, die Zeit, in der längst Not- und Katastrophenhilfen eingestellt wurden. Die Länder müssen sich in hohem Maße durch Fremd-kapitalbeschaffung verschulden, um die langfristigen Effekte der Katastrophe zu überwinden oder greifen auf finanzielle Mittel zurück, die für die Entwicklung des Landes vorhergesehen waren. Hieraus können sich volkswirtschaftliche Defizite und Entwicklungsmissstände bilden, die über Jahre Bestand haben, wodurch sich die gesellschaftliche Krisenanfälligkeit erhöht. Aus dieser kritischen Situation heraus ist es für die Zukunft eines Landes entscheidend, wie die Pha-se nach einer Katastrophe bewältigt wird: Wird lediglich versucht, den vorherigen Zustand wie-derherzustellen oder wird im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung versucht, durch den Wiederaufbau eine langanhaltende Verbesserung der Lage hervorzurufen, auch um gegenüber zukünftigen Extremereignissen widerstandsfähiger zu sein?

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6 Perspektivische Betrachtung des Klimawandels als Konflikttreiber

In diesem Kapitel wollen wir uns mit dem Zusammenhang zwischen Klimawandel und ge-walttätigen Konflikten befassen. Sollten Konflikte einen Verlauf einnehmen, in dem sich Span-nungen dramatisch zuspitzen und die Gesellschaft keine Mittel zur Bewältigung besitzt, dass Parteien gar zur Gewalt greifen, um ihre Position zu verteidigen oder durchzusetzen, können sich Konflikte zu Katastrophen ausweiten. Ebenso können gewaltsame Konflikte aus Katastro-phenszenarien hervorgehen. Es wird befürchtet, dass beide Fälle im Zuge des Klimawandels vermehrt auftreten werden. Die Auswirkungen von gewaltsamen Konflikten sind enorm: Be-waffnete Konflikte mindern im Schnitt das BIP pro Kopf um 17,5 %.1 Nachdem die Anzahl bewaffneter Konflikte im Jahre 2005 auf ein historisches Tief sank, stieg sie im letzten Jahrzehnt dramatisch an. Nichtstaatliche Konflikte, das heißt, Konflikte die zwischen zwei bewaffneten, organisierten Gruppen stattfinden, ohne dass eine der Gruppe eine Regierung oder ein Staat darstellt, stieg seit 2010 um 125 %.2

Es stellt sich hierbei die Frage, ob, und falls ja, inwiefern der Klimawandel zu diesem Anstieg von Konflikten beigetragen hat. Oder ist der Klimawandel sogar eine direkte Konfliktursache? In der politischen Forschung lassen sich eine große Anzahl von gewaltsamen Konfliktursachen, sogenannte root causes, finden, wie beispielsweise sozioökonomische Ungleichheiten, schwa-che Regierungsstrukturen, Klassenbildung, fehlende Bürgerrechte, mangelnder Zugang zu Res-sourcen oder öffentlichen Diensten, demographischer Druck durch Bevölkerungswachstum, ökonomische Perspektivlosigkeit etc.3 Zusätzlich gibt es mindestens graduelle Unterschiede zwischen Ausbrüchen von gewalttätigen Konflikten in entwickelten Staaten und Entwicklungs-länder. Aufgrund der Masse wird es an dieser Stelle nicht möglich sein, eine genauere Analyse durchzuführen, allerdings lässt sich sagen, dass der Klimawandel bzw. Umweltveränderungen in der Vergangenheit nicht als direkte root causes angesehen wurden. Vielmehr erscheint eine treibende Wirkung seiner Auswirkungen auf Konflikte naheliegend zu sein, zum Beispiel indem knapper werdende Ressourcen Ungleichheiten verschärfen oder Klimamigration gesellschaft-liche Strukturen destabilisieren. Allerdings hatte die Konfliktforschung in der Vergangenheit keinen besonderen Fokus auf Umweltdegradation und wie diese in Zusammenhang mit gesell-schaftlichen Veränderungen stehen. Und der anthropogene Klimawandel ist ohnehin ein neu-eres Phänomen, sodass sich die empirische Konfliktforschung noch gar nicht damit genügend auseinandersetzen konnte.

6.1 Die Bedeutung von Umweltveränderungen in Konflikten: Studien zur Umweltkonfliktforschung

In den 1990ern entstand ein Feld in der Politikwissenschaft, das sich einem möglichen Zusam-menhang von Umweltveränderungen und Konflikten widmete. Die verschiedenen Projekte in diesem Feld hatten ihr Hauptaugenmerk auf Umweltdegradation, die hauptsächlich auf mensch-lichen Einfluss zurückzuführen ist, wie in Form von falschen Bewirtschaftungstechniken oder umweltschädlichem Verhalten, beispielsweise durch übermäßiges Abernten von Ressourcen, Abfall, Verschmutzung, Brandrodung oder Verwendung von falschem Dünger. Während der Gründungszeit der verschiedenen Projekte bekam der anthropogene Klimawandels erst all-mählich politische Aufmerksamkeit, folglich spielte der Klimawandel als möglicher Konflikt-treiber in den Forschungen eine untergeordnete Rolle. Man versuchte zu analysieren, inwiefern die Zerstörung erneuerbarer Ressourcen Konflikte verschärft oder beschleunigt. Konflikte um nicht-erneuerbare Ressourcen wie Mineralien oder fossile Brennstoffe wurden dabei nicht be-rücksichtigt, da diese Güter durch Ressourcenabbau- und handel nicht zerstört, sondern le-diglich erschöpft werden.4,5 Der Fokus lag somit auf Ereignisse wie Wasserknappheit oder Desertifikationen, aber auch Bevölkerungswachstum, das sich auf den Abbau und die Konsum-menge von natürlichen Gütern auswirkt. Darüber hinaus sollte geklärt werden, ob Umweltver-änderungen gar in Verbindung mit Kriegen zwischen krisenanfälligen Gesellschaften gebracht werden können.

Territoriale Hoheit birgt ein großes Gewaltpotential in sich. Selbst wenn lediglich ein Teil eines Landes von Krisen, Konflikten oder nachteiligen Umweltveränderungen betroffen ist, kann eine Regierung dies als Gefahr für das gesamte Land sehen. Folglich könnte das gesam-te Potential eines Staates genutzt werden, um das Problem zu beheben, das bis zum höchsten Maß der militärischen Bereitschaft führen könnte. Daraus lässt sich schließen, dass die Nutzung eines Ökosystems, das von mehr als einem Staat genutzt wird, großes Konfliktpotential in sich birgt. Ökosysteme sind nicht unbedingt deckungsgleich mit territorialen Gebieten. Wasserge-biete sind beispielsweise Systeme, die oftmals von mehreren Staaten genutzt werden. Leidet ein multiterritoriales Ökosystem unter Umweltdegradation, sind dessen Auswirkungen mit großer Wahrscheinlichkeit in mehr als einem Staat zu spüren. Ein betroffener Staat kann allerdings nur in seinem Hoheitsgebiet Maßnahmen zu Besserung der Lage unternehmen. Dies wird zur Lösung der Degradation nicht ausreichen. Folglich sieht er sich als Opfer durch das Verhalten des anderen Staates und greift möglicherweise zum äußersten Mittel.6

James R. Lee sieht im Klimawandel durchaus ein Potential für Konfliktausbrüche zwischen Staaten. Dabei seien drei Faktoren entscheidend: Knappheit, Reichtum und Souveränitätsstrei-tigkeiten. Alle umweltbezogenen Konfliktursachen hätten mindestens einer dieser Gründe zur Ursache, abhängig von Region sowie strukturellen und demographischen Bedingungen. Betref-fend Reichtum und Souveränitätsstreitigkeiten sei laut Lee der durch die globale Erwärmung resultierende bessere Zugang zu den Gebieten der nördlichen Polarregion zu nennen. Hier-durch könnten einerseits neue Ressourcenlager erschlossen werden, andererseits entstehen neue Schifffahrtswege. Gewisse Staaten wollen hieraus Profit erwirtschaften. Problematisch sei nur die eindeutige Zuweisung der im Fokus liegenden Gebiete zu einem territorialen Hoheits-gebiet. Zudem lägen die neu entstehenden Schifffahrtswege im Staatsgebiet eines Souveräns, wodurch es zu Nutzungskonflikten kommen könnte. Das Schwinden tropischer Regenwälder, die Ausbreitung von Wüsten, der Rückgang von Frischwasser oder der Verlust von Farmland aufgrund veränderter Wettermuster haben nach Lee zudem das Potential, nicht innerhalb staat-licher Grenzen zu bleiben. Dies sei besonders in Ländern um den Äquator der Fall. Besonders die Kontrolle eines Staates über Wasserressourcen, zum Beispiel durch Staudämme, könnte die Beziehung zwischen Staaten stark strapazieren. Dabei muss es nicht nur um knapper werdende Wassermengen gehen. Größer werdende Wassermengen durch Schmelzwasser könnten ebenso einen Konfliktgrund liefern.7

Im Folgenden sollen fünf Ansätze und ihre Ergebnisse zur Umweltkonfliktforschung in einem überschaubaren Rahmen dargestellt werden. Es handelt sich hierbei um den Ansatz des Trudeau Centre in Toronto für Peace and Conflict Studies (PCS), des Environment and Conflicts Project (ENCOP) aus Zürich, des International Peace Research Institute Oslo (PRIO), das Konzept des Projekts zu Global Environmental Change and Human Security (GECHS) und vom Wissenschaft- lichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). 6.1.1 Trudeau Centre for Peace and Conflict Studies

Das PCS hat sich unter der Leitung von Thomas Homer-Dixon in seinen Fallstudien auf Um-weltveränderungen fokussiert, die mit akuten Konflikten in Zusammenhang stehen, sowohl innerhalb von Staaten als auch zwischen Staaten. Ärmere Länder seien generell anfälliger ge-genüber Umweltveränderungen, folglich wäre die Wahrscheinlichkeit in weniger entwickelten Staaten von einem Ausbruch umweltinduzierter Konflikte höher als in Industrienationen. Eine Bandbreite von atmosphärischer, terrestrischer und aquatischer Belastung auf die Umwelt riefen soziale Auswirkungen hervor, die entweder einzeln oder auch gemeinsam auftreten könnten: verringerte Agrarproduktion, Rückgang der ökonomischen Leistung, Migration und eine Stö-rung der geregelten und legitimen sozialen Bindungen.8 Diese sozialen Auswirkungen könnten zu akuten Konflikten führen, einschließlich Auseinandersetzungen aufgrund knapper werden-der Ressourcen (auch zwischen Ländern), Konflikte zwischen ethnischen Gruppen und innere Unruhen sowie Aufstände, die die Sicherheit eines Landes unterminieren.

Nach dem PCS lassen sich die Gesamtauswirkungen durch die Beziehung Mensch und Um-welt in zwei Variablen darstellen: zunächst die Bevölkerung in der betrachteten Region plus die hiesigen verfügbaren Ressourcen, sowohl nicht-erneuerbare als auch erneuerbare, zudem Fak-toren wie vorhandene Institutionen, soziale Bindungen, Präferenzen und bestimmte persönliche Überzeugungen; zweitens die Verwundbarkeit des Ökosystems. Aufgrund dieser zwei Variablen könnte ein ökologisches Ereignis soziale Auswirkungen zur Folge haben, die wiederum zu Kon-flikten führen könnten. So könnte eine Degradation der landwirtschaftlichen Nutzflächen eine großflächige Migration von verschiedenen Gruppenidentitäten zur Folge haben, was wiederum ethnische Konflikte auslösen könnte, da migrierende Gruppen von einheimischen Bewohnern ausgegrenzt werden. Die Toronto-Gruppe betrachtet insgesamt sieben verschiedene Typen von Umweltveränderungen, die Konflikte nach sich ziehen könnten: globale Erwärmung (Klima-wandel), Abbau der stratosphärischen Ozonschicht, Säureniederschlag, Entwaldung, Degrada-tion von Agrarland sowie Erschöpfung von Wasservorräten und Fischbeständen. Viele dieser Probleme können aufgrund möglicher Zwischenwirkungen gemeinsam auftreten.

Den ausgewerteten Studien zufolge sind Ressourcenknappheit, Wohlstandsrückgang aufgrund von Umweltproblemen und Gruppenidentitätsauseinandersetzungen durch Migration die zen-tralen Konflikte im Zusammenhang mit Umweltstress. Neben Umweltveränderungen sind be-sonders das Bevölkerungswachstum und eine ungleiche soziale Verteilung als gesellschaftliche Faktoren hervorzuheben, die auf die Verfügbarkeit der Ressourcen Einfluss nehmen. Beobachtet wurden zwei wesentlich auftretende Konfliktmuster: (1) wenn in einem Staat bei wachsender Bevölkerung und zugleich abnehmender Ressourcen mächtige Bevölkerungsgruppen auf die Ressourcenverteilung zu ihrem Gunsten einwirken, kann es zur gewaltsamen Aneignung von Ressourcen kommen; und (2) wenn Bevölkerungswachstum und eine ungleiche Ressourcen-verteilung Gruppen dazu zwingt, in ökologisch fragile Regionen zu migrieren. Homer-Dixon spricht hierbei von „ökologischer Marginalisierung“, wenn Menschen sich gezwungen fühlen, in landwirtschaftlich marginalisierte Regionen zu ziehen, zum Beispiel wenn diese anfällig gegen-über starken Bodenerosionen sind oder Dämme die lokale Wassernachfrage konfligiert. Die Folgen einer solchen strukturellen Knappheit sind häufig weitere Umweltdegradation und die Verarmung der Migrierenden. Nach dem PCS ist eine Ausweitung entstandener Konflikte zu Aufständen und Bürgerkriegen möglich, falls mit der Ressourcenknappheit ein wirtschaftlicher Niedergang verbunden ist und soziale sowie staatliche Institutionen nicht mehr im nötigen Aus-maß eingreifen können . 9

Anhand der Fallstudien konnte allerdings kein direkter Zusammenhang zwischen Ressour-cenknappheit und gewalttätigen Eskalationen von Konflikten gefunden werden. Im Zusam-menwirken mit politischen, ökonomischen und sozialen Faktoren kann umweltbedingte Res-sourcenknappheit jedoch durchaus zu einer Destabilisierung der Strukturen und Verhältnisse führen, wodurch Konflikte, auch gewaltsame, entstehen könnten. Innerhalb staatlicher Kon-flikte haben sich Umweltveränderungen in den Bereichen Fischbestände, Wälder, Wasser und Agrarland als besondere Triebfedern herausgestellt. Konflikte zwischen Staaten gab es nur als die Ressource Wasser Gegenstand von Auseinandersetzungen war.10 6.1.2 Das Environment and Conflicts Project des Zentrums für Security Studies

Das Schweizer ENCOP Projekt um Günther Bächler und Kurt Spillmann beschäftigten sich mit mehreren Fallstudien, um den Zusammenhang zwischen Umweltdegradation und der aus ihr resultierenden Verknappung von erneuerbaren Ressourcen und Konflikten zu untersuchen. Die Degradation dieser Ressourcen scheint heutzutage eine Krise globalen Ausmaßes auszu-lösen, da der Mensch seit der Industrialisierung die Umwelt nicht mehr nur verändert, sondern sie nachhaltig physikalisch und stofflich transformiert. Globale Umweltveränderungen, auch bedingt durch den anthropogenen Klimawandel, vermischen sich mit ‚hausgemachten‘ Um-weltproblemen, die besonders auf lokale und regionale Übernutzung und Verschmutzung von Wasser, Böden und Wälder zurückzuführen seien. Das Krisenpotential sei dabei mit der schwa-chen Entwicklung eines Landes gekoppelt, sodass aufgrund einer „ökologischen Marginalisie-rung der Armut“ Umweltdegradation mit soziopolitischem Stress die Gesellschaft vor schwer zu lösenden Aufgaben stelle. Nach ENCOP sind Umwelt- und Entwicklungsfragen untrennbar miteinander verbunden. Dennoch werde meist nicht die ökologische Sphäre von Konflikten be-rücksichtigt, sondern Konflikte werden eher als ethnische oder religiöse Auseinandersetzungen ausgetragen bzw. alte Probleme werden aufs Neue entfacht.11

Anhand der untersuchten Fallstudien erkannte das Projekt aus Zürich sieben Typen von Kon-flikten, die unter drei Konfliktkategorien zu zählen sind: (I) innerstaatlich, (II) internationali-siert-innerstaatlich und (III) international. Die Konflikte, die am häufigsten beobachtet wurden, spielten sich dabei auf nationaler Ebene ab, also zur Konfliktkategorie I, innerstaatliche Konflik-te, zu zählen sind:

• Ethnoökologische Konflikte , bei denen starke Umweltdegradation die Quelle ethnischer Span-nungen ist, wenn sich ethnische Gruppen mit unterschiedlichen sozioökonomischen Tradi-tionen eine empfindliche Ökoregion teilen.

• Sozioökologische Konflikte bzw. Konflikte zwischen Peripherie und Zentrum : Dabei übt das moderne Zentrum eines Landes auf einen bestimmten regionalbegrenzten Lebensraum der ländlichen Bevölkerung Druck aus, beispielsweise durch Großprojekte in der Landwirtschaft, Industrie oder im Bergbau, und drückt die Einwohner auf diesem Wege in zunehmend pre-käre Umstände.

• Umsiedlungskonflikte , die durch die massive Umsiedlung von Menschen in andere ökogeo-graphische Gebiete innerhalb eines Landes entstehen.

Konfliktkategorie II, internationalisierte-interstaatliche Konflikte, einstünden vor allem, wenn Flüchtlinge nationale Grenzen überqueren. In nahegelegenen ländlichen Gebieten oder urbanen Agglomerationen könnten daraufhin soziale, politische oder ethnische Spannungen entstehen. Dies sei ebenso in Industrienationen möglich:

• Migrationskonflikte , wenn Umweltflüchtlinge bestehende Konfliktsituationen intensivieren, da wirtschaftlicher Verfall, politische Instabilität oder traditionelle Unruhen bereits vorhan-den sind oder durch den Druck der Bevölkerungszuwanderung hervorgerufen werden.

• Demographisch verursachte Umweltkonflikte : In vielen Ländern ist der Bevölkerungsdruck auf erneuerbare Ressourcen ein Konfliktkatalysator, besonders wo Land und/oder Wasser bereits übermäßig gebraucht werden und die Verknappung an Ressourcen zudem aufgrund zunehmender demographischer oder ökologischer Missstände verschärft wird.

Konfliktkategorie III, internationale Konflikte, seien meistens nicht von Gewalt begleitet, müs-sen daher von einer differenzierten Art des Konflikts beurteilt werden:

• Bilaterale oder multilaterale Konflikte in einer degenerierten grenzüberschreitenden Ökoregion: Darunter fallen besonders Konflikte zwischen Staaten um Wasserressourcen, die sich ein Flussbecken teilen. ENCOP unterteilt diese Konfliktart noch zusätzlich in vier Unterarten.

• Internationale Konflikte, die durch entfernte Quellen entstehen: Diese Konflikte spielen sich eher auf einer abstrakten Ebene ab. Hauptverursacher und Opfer des globalen anthropo-genen Klimawandels sind meistens weit voneinander entfernt und haben mehr politische als direkten Kontakt.

Ebenso wie beim Trudeau Centre for Peace and Conflict Studies , lässt auch ENCOP den inter-nationalen Umweltkonflikten eine geringere Bedeutung zukommen.

ENCOP schloss aus seinen Studien, dass nicht alle Umweltkonflikte unbedingt in Gewalt münden. So könnten Reaktionen auf Umwelttransformation Ignorieren der Situation, Lethargie, Fatalismus, Passivität, Hungersnot und Migration sein. Umweltdegradation sei dabei nicht der alleinige Grund für einen Konflikt. Sie sei ein indirekter Einfluss, da sie vorhandenes Konflikt-potential bis hin zur Möglichkeit einer gewaltsamen Eskalation verschärfe. Der Sektor Umwelt stünde somit eher im Hintergrund von Konflikten. Klare Motive gewaltsamer Konflikte ließen sich deutlicher bei den involvierten Protagonisten und ihren Interessen finden. Dennoch sollten primäre Konfliktfaktoren nicht von Umweltbedingungen losgelöst betrachtet werden, denn die ökologische Situation nehme erheblichen Einfluss auf die sozioökonomische Entwicklung eines Landes.

Nach der Auswertung der Studien machte ENCOP drei Muster kenntlich, wann Ökologie als ein Grund in gewaltsame Konflikte einfließen könnte. Doch spielt Umwelt dabei nicht die ein-zige Rolle, sondern vielmehr in welchem Umfeld sie eingebettet, wie betreffend Entwicklungs-fragen und Armut. (1) Existieren am Rande des modernen Sektors eines Landes marginalisierte Regionen, die eine fragile oder schlimme degenerierte Ökologie aufweisen (Bodenerosionen, Desertifikationen, Dürren), drohe den Bewohnern dieser Regionen eine Existenzkrise, wodurch sie sich gezwungen sehen zu handeln. Eine damit zusammenhängende ökologische Marginali-sierung der Armut zeichne sich dabei vielseitig ab: Feminisierung der Armut in von Frauen ge-führten Haushalten, Landverlust, marginalisierte Bauer, die keinen Zugang zu produktiven Res-sourcen haben, die sie zur Versorgung benötigen und das Fehlen von Arbeitsstellen im Bereich der modernen Landwirtschaft. Vor allem in Gebieten, in denen Fragilität ein Charakteristikum der regionalen Umwelt ist, greifen Umweltdegradation und hartnäckige Armut ineinander. (2) Wenn das Zentrum eines Landes in ländliche Grenzgebiete durch hohe Kapitalinvestitio-nen für Großprojekte Profit erzielt, währenddessen aber die dortige ländliche Bevölkerung die

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ökonomischen und ökologischen Lasten auf sich nehmen muss, ohne dass sie am erzielten Profit beteiligt werden. Schlecht bezahlte Arbeit, Zwangsumsiedlungen oder die Fortsetzung ihrer landwirtschaftlichen Tätigkeit in stark gefährdeten Gebieten könnten die Auswirkungen davon sein. Ein Ausbruch eines Konflikts scheint die Lösung zu sein, dieser wird jedoch durch Regierungsinterventionen (z. B. durch Militäreingriffe) vom Zentrum ferngehalten. Schließlich könnte (3) der Ausbruch gewaltsamer Konflikte auf innerstaatlicher Ebene im Zuge einer fort-schreitenden Umweltdegradation zu Kriegen zwischen benachbarten Staaten führen, wenn die Veränderungen Ökoregionen betreffen, die transnational genutzt werden.

Auch wenn die Zürich-Gruppe einen engeren Zusammenhang zwischen Umwelt und Kon-flikten als PCS sieht, stellt sie heraus, dass es letztendlich nicht Desertifikationen oder Wasser-knappheit an sich sind, die zu Gewalt führen. Es sind mögliche Maßnahmen, die ungeachtet bleiben sowie der Mangel an Regulationsmechanismen, um auf Konflikte einzuwirken. Zudem kann Umweltdegradation für gruppenspezifische Interessen instrumentalisiert werden oder sich mit historischen Konflikten überlagern.12 6.1.3 Peace Research Institute Oslo

Das PRIO um Nils Petter Gleditsch steht den Studien zu Umweltkonflikten grundsätzlich kritisch gegenüber. Zwar könne Umweltdegradation die Qualität und Quantität von Ressourcen redu-zieren und auf diesem Wege Einfluss auf Konflikte nehmen, allerdings müssen weitere Variablen wie Politik, Ökonomie und Kultur berücksichtigt werden. Die vorangegangenen Arbeitsprojekte ziehen solche Variablen in ihre Analysen mit ein, nach Auffassung der Osloer Arbeitsgruppe aber nicht ausreichend. Zudem wurde untersucht, wie umweltbedingte Knappheit Ökonomie und Politik beeinflusst; doch müsse nach PRIO außerdem untersucht werden, welchen Einfluss Ökonomie und Politik auf die Umwelt nehmen. In einigen Studien werden auf die 214 Fluss-systeme dieser Welt verwiesen, die jeweils von mehr als nur einem Staat genutzt werden. Diese werden als potentielle Konfliktquellen dargestellt. Allerdings bleibe weitestgehend unberück-sichtigt, ob die Flüsse durch arme, undemokratische, politisch instabile oder durch ethnische Spannungen beherrschte Länder fließen. PRIO kritisiert, dass in vorangegangenen Studien das politische System und die ökonomische Orientierung eines Staates hinsichtlich des Konflikt-potentials ungenügend berücksichtigt wurden. In Demokratien herrsche generell ein höheres Umweltbewusstsein als dies in nicht-demokratisch geführten Staaten der Fall sei. Folglich fin-de in Demokratien ein geringeres Ausmaß an extremer Umweltdegradation statt. Und selbst in hoch ökonomisch entwickelten Ländern, die zwar Umweltprobleme aufgrund eines hohen Wirtschaftsgrades verschärfen, tendiere man trotzdem zu einer höheren Ressourcenfreundlich-keit. Ressourcenprobleme werden eher mithilfe von Technologien als mit dem Griff zur Waffe gelöst. In ärmeren Ländern hingegen hängen lokale Umweltprobleme und Armut enger zusam-men, was durchaus das Konfliktpotential fördere.13

Ausgewertete Daten empirischer Analysen aus 152 Ländern innerhalb des Zeitraums von 1816–1992 zeigten, dass scharf autokratisch geführte Staaten und Demokratien deutlich gerin-ger anfällig gegenüber gewaltsamen Konflikten bzw. Bürgerkriegen sind als Staaten, die inhären-te Gegensätze besitzen, das als ein Resultat keiner klaren demokratischen oder autokratischen Staatsführung angesehen wird. Ebenso sind Staaten gegenüber gewaltsamen Konflikten höher anfällig, wenn sie sich im politischen Umbruch befinden. Nach PRIO seien drei Variablen be-sonders entscheidend für einen Konfliktausbruch: die Entwicklung eines Landes, die ethnische Heterogenität und der zeitliche Abstand der gewonnenen Unabhängigkeit von einem Regie-wechsel.14

Die Oslo-Gruppe bemängelt weiter, dass die anderen Projekte zur Umweltkonfliktforschung unzureichende Fälle ausgewählt haben. Die in den Forschungen verwendeten Fallstudien seien mehr anekdotenhaft als vom wissenschaftlichen Wert. Jene Fallstudien seien allesamt einzelne Studien zu Ressourcenknappheit und gewalttätigen Konflikten. Dies bedeutet, dass es sich um Fälle handelt, in denen sowohl Umweltstress als auch bewaffnete Konflikte bereits vorhanden sind. Doch seien verschiedene Fälle mit einer Variation der Variablen notwendig, um ein aus-sagekräftiges Ergebnis erzielen zu können. Ob schwache Besitzrechte ein Faktor andauernder Knappheit ist, der letztendlich zu gewaltsamen Konflikten führt, könne nur verifiziert werden, wenn dies mit Fällen verglichen werde, in denen eine gewaltsame Eskalation ausgeblieben ist.15

PRIO gewichtet von Anfang an politische und ökonomische Faktoren deutlich höher als dies in den vorangegangenen beiden Projektstudien der Fall war. Zwangsläufig kommt das Osloer Institut zu dem Ergebnis, dass ökonomische sowie politische Umstände einem erheblicheren Einfluss auf einen Konflikteintritt haben. Dennoch wird auch in der Umwelt eine beitragende Rolle zu Konflikten gesehen, besonders im Hinblick auf Knappheit. Das heißt, die Wahrschein-lichkeit für einen gewaltsamen Konflikt in einem Land mit hoher Umweltdegradation ist höher als in einem Land mit geringerer oder gar keiner Umwelttransformation. Dabei muss allerdings auch die Bevölkerungsdichte beachtet werden, die sich ebenfalls auf Knappheit auswirkt. Je hö-her sie ist, desto mehr trägt sie zu einem Konfliktausbruch bei.

Wie bereits bei den vorherigen Untersuchungen stellt auch PRIO fest, dass ökologische Fakto-ren eher für innerstaatliche, kleinere Konflikte relevant sind. Leidet ein Land beispielsweise an versorgungsinduzierter Knappheit, verursacht durch Entwaldung, Bodendegradation, Wasser-knappheit oder einer hohen Bevölkerungsdichte (nachfrageinduzierte Knappheit) sowie einem Einkommensgefälle (strukturelle Knappheit), liege die Wahrscheinlichkeit für einen Ausbruch eines Bürgerkrieges bei 20 %, für einen innerstaatlichen Konflikt bei 45 %. Wenn in einem Land eine semi-demokratische politische Führung herrsche, die Lage instabil sei und das Land in seiner jüngeren Geschichte bereits unter Konflikte litt, könne die Wahrscheinlichkeiten auch höher ausfallen.16 6.1.4 Projekt für Global Environmental Change and Human Security

GECHS ist ein Kernprojekt des International Human Dimensions Programme on Global Environ- mental Change (IHDP) an der University of California und ist das jüngste der bisher genannten Projekte. Ziel des Projektes ist es, Umweltwandel innerhalb des übergeordneten sozioökonomi-schen und politischen Kontexts zu untersuchen, um so den Einfluss von Umweltveränderungen auf die menschliche Sicherheit zu verstehen. Dementsprechend werden Situationen, Bedingun-gen oder auch Maßnahmen, die sich auf die menschliche Sicherheit auswirken, hervorgehoben. Hierbei sollen nicht nur Bedingungen berücksichtigt werde, die sich negativ auswirken, sondern auch diese, die die Widerstandsfähigkeit erhöhen.

Des Weiteren bemängelt auch GECHS die unzureichende Auswahl an Studien bei den anderen Projekten. Die räumlichen sowie zeitlichen Dimensionen der Analysen müssen breiter sein. Die Fallstudien müssen von sowohl quantitativer als auch qualitativer Natur sein. Denn einerseits gehe es darum, aufzudecken, in welchem Maße Bevölkerung und Armut im Zusammenhang mit Umwelt und Konflikten stehen und andererseits um die Differenzierung von geopolitischen und historischen Dimensionen bei spezifischen Fällen. Hierfür seien qualitative Analysen nötig.

Die Perspektive des „Neo-Malthusianismus“, wonach Bevölkerungswachstum zu knapper werdenden Ressourcen führe und die Verwundbarkeit gegenüber Konflikten steige, kritisiert GECHS. Neuere demographische Diskussionen zeigen vielmehr, dass Ungerechtigkeit und die Auswirkungen der Globalisierung in ihren Wechselbeziehungen zur lokalen Umwelt fokussiert werden sollen. Diese Faktoren haben größere Auswirkungen auf Soziales und die Umwelt als dies ein hohes Bevölkerungswachstum habe. Zudem müsse sich mehr mit der sozialen Variab-len beschäftigt werden. In den verschiedenen Vorgängermodellen umfasst diese einen großen Komplex an diversen Punkten, doch müsse dieser Komplex der „meta-Variable“ entpackt wer-den. Die einzelnen Variablen innerhalb dieses Komplexes seien entscheidend, um die Anpas-sungsfähigkeit und die Kooperationsmöglichkeiten der Menschen separat in Studien miteinflie-ßen zu lassen. Nur so könne ein aussagekräftiges Ergebnis erzielt werden. Letztendlich müssen Zusammenhänge und Wirkungen besser verstanden werden. Hierfür fordert die Gruppe der University of California eine engere interdisziplinäre Zusammenarbeit in Bezug auf Konflikt- und Kooperationsforschung.17

Neben der Beziehung von Umweltdegradation und Konflikten betont GECHS, dass in Zu-kunft „Netzwerkbedrohungen“ ein Fall seien, der nicht übergangen werden darf. Demokra-tien haben sich geöffnet, Staaten sind durch technologische Erneuerungen und Verbreitungen schnell gewachsen, internationale und transnationale Netzwerke sind durch den weltweiten Handel entstanden. Diese Entwicklung hat neue Bedrohungen und Verwundbarkeiten her-vorgerufen, die von radikalen, religiösen Fundamentalisten bis zu modernen Computerviren reichen, deren Aktoren nicht im Namen eines Staates agieren.18 Inwiefern bedroht dies die Umweltsicherheitsforschung? Laut GECHS beeinflussen solche transnationalen Sicherheitsbe-drohungen, die durch ein informelles, transnationales Netz individuellen Verhaltens entstehen, die Entscheidung über die eigene Energienutzung. Man denke beispielsweise an die potentielle Gefahr eines terroristischen Angriffs auf ein Atomkraftwerk. Diese Potentialität beeinflusse die staatliche Wahl der Energieerzeugung.

GECHS unterscheidet sich von den vorangegangenen Projekten. Es verfolgt nicht nur eine Analyse des Zusammenhangs von Umwelt und Konflikt. Basierend auf der Verfolgung eines besseren Verständnisses von Umwelt, Konflikt, Verwundbarkeit und Kooperation, wobei die Thematik auf die menschliche Sicherheit ausgerichtet ist, soll das Projekt zu einer besseren Po-litikberatung beizutragen, „indem sie Umweltschutzstrategien identifiziert, die kooperations-fördernd wirken, umwelt- und entwicklungspolitische Ansätze integriert, Umweltsicherheit bei der Städteplanung und -entwicklung berücksichtigt, das Verständnis von Umweltpolitik in Post-Konflikt-Situationen vertieft sowie die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit politischer Inter-ventionen bewertet“19. 6.1.5 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen

Der WBGU ist mitverantwortlich für den syndromanalytisch-konflikttheoretischen Ansatz, der auf der Kombination zwischen dem syndromanalytischen Ansatz des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung und dem Konflikt-Simulations-Modell (KOSIMO) des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung basiert. Unter Einbeziehung quantitativer sowie qualitativer Methoden wurden insgesamt 16 Syndrome globaler Umweltveränderungen identi-fiziert, die durch die Interaktion zwischen Zivilisation und Umwelt hervorgerufen werden. Die-se 16 „unerwünschte charakteristische Fehlentwicklungen (oder Umweltdegradationsmuster)“ lassen sich in drei Gruppen von Syndromen unterscheiden:

1. Syndromgruppe „Nutzung“ : Syndrome als Folge einer unangepassten Nutzung von Na-turressourcen als Produktionsfaktoren.

2. Syndromgruppe „Entwicklung“ : Mensch-Umwelt-Probleme, die sich aus nicht nachhal-tigen Entwicklungsprozessen ergeben.

3. Syndromgruppe „Senken“ : Umweltdegradation durch unangepasste zivilisatorische Entsorgung.

Jedes dieser Syndrome kann eigenständig auftreten und stellt ein eigenständiges Grundmus-ter bedingt durch zivilisatorische Umweltdegradation dar. Eine gegenseitige Verstärkung unter den Syndromen ist darüber hinaus möglich, wie zum Beispiel das Landflucht - und das Favela - Syndrom (siehe Abbildung 8).20 Diese Kombination aus Landflucht- und Favela-Syndrom ist mit einer voranschreitenden Umweltdegradation, auch unter Einfluss klimabedingter Wetter-extreme, in weniger entwickelten Ländern ein oft anzutreffendes Phänomen geworden. Groß-städte waren die letzten Jahrzehnte nicht in der Lage, den anhaltenden Zuzug der Menschen aus ländlichen Gebieten in die Städte zu bewältigen. Der Häuserbau wurde ungeregelt geführt woraufhin Slums immer größer wurden. Beispielsweise wächst die ägyptische Hauptstadt Kairo seit Jahrzehnten. Es gibt einen großen Mangel an Wohnraum. Ein Großteil der Bevölkerung wohnt in informellen Siedlungen. Allerdings steht etwa jedes fünfte Haus in der Stadt leer. Das Angebot des Wohnmarktes, der sich auf das obere Einkommensniveau konzentriert hat, deckt sich schlichtweg nicht mit der eigentlichen Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum. Solch ein ungeregeltes Wachsen an informellen Siedlungen ruft Stress in den verschiedensten gesellschaft-lichen Sektoren hervor.

Die Auswertung der KOSIMO-Datenbank gab ausreichend Aufschluss über empirische Be-funde. Besonders hinsichtlich des Sahel-Syndroms konnte eine deutliche Korrelation zwischen gewaltsam ausgetragen sozialen Konflikten und einer zunehmend ländlichen Verarmung, In-tensivierung der Landwirtschaft auf niedrigem Niveau sowie schwindenden natürlichen Res-sourcen erkannt werden. Dabei sei die Dynamik des Sahel-Syndroms überdurchschnittlich häu-fig der Grund für Konflikte, sowohl innerhalb eines Staates als auch zwischen Staaten. Eine hohe Wahrscheinlichkeit zwischenstaatlicher Wasserkriege, der Fall, der am meisten in Bezug auf internationale Umweltkonflikte befürchtet wird, konnte auch durch den syndromanalytisch-konflikttheoretischen Ansatz nicht nachgewiesen werden.

Abbildung 8: Die 16 Syndrome des Globalen Wandels.

Aus: WBGU 2001, S. 22

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Die Ergebnisse wurden anhand der Umweltsituationen an sich ermittelt und nicht anhand der beobachteten Konflikte. Damit werden keine Konflikte von vornherein in einen Zustand der Umweltdegradation induziert, was bereits die Oslo-Gruppe kritisiert hat. Dies heißt, dass beob-achtete kritische Umweltsituationen an gewissen Orten zu Konflikten geführt haben, an anderen Orten sind sie wiederum ausgeblieben.21 6.1.6 Resümee zur Umweltkonfliktforschung

Die Befürchtung von Autoren wie Lee, dass Umweltveränderungen besonders Konflikte zwi-schen Staaten hervorrufen, belegen die Studien zur Umweltkonfliktforschung nicht. Zwar sind diese nicht ausgeschlossen, doch treten umweltindizierte Konflikte hauptsächlich regional auf. Dass Umweltveränderungen gar zu Umweltkriegen führen können, konnte zudem nicht be-legt werden, auch in internationalen Wassereinzugsgebieten.22 Für 117 der 263 internationalen Wassereinzugsgebieten gibt es beispielsweise rund 400 Abkommen, die das Wassermanagement an den jeweiligen Wasserscheiden regeln.23 Ein Schwinden der Wasserressourcen birgt zwar ein großes Potential für Auseinandersetzungen, aber auf multinationaler Ebene führt der Weg meist zu multilateralen Abkommen statt zu kriegerischen Auseinandersetzungen.

Anhand des kurzen Einblicks in die Studien zur Umweltkonfliktforschung lässt sich resümie-ren, dass Umweltveränderungen keinesfalls einen Eintritt von gewaltsamen Konflikten implizie-ren – auch nicht in weniger entwickelten Ländern. Die Gründe für Konflikte sind multikausal und keinesfalls ausschließlich in Umweltveränderungen zu finden. Trotz verschiedener Rahmen und unterschiedlich gewichteter Variablen, geht der Konsens in die Richtung, dass Umweltein-flüsse nicht der maßgebliche Faktor für einen Konflikt darstellen. Des Weiteren spielen sich Konflikte eher innerhalb der Staatsgrenzen eines Landes ab. Wesentlich ist die Fähigkeit eines Staates, auf Spannungen zu reagieren. Hat ein Land und eine Gesellschaft nur geringe Problem-lösungsfähigkeiten, ist folglich eher mit einem Konflikt zu rechnen. Allerdings müssen Konflikte nicht unbedingt von Gewalt begleitet sein. Auch Konflikte, in denen knappe Ressourcen ein Faktor spielen, können zwischen Institutionen friedlich bearbeitet werden.

Die Konfliktwahrscheinlichkeit scheint dann hoch sein, wenn neben negativen Umweltein-flüssen bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen bereits Konfliktpotential anhaftet (verschie-dene Krisen, Verteilungsungleichheiten, ethnische Konflikte, instabil politische Lage). Folglich scheinen Umweltzerstörung und Knappheit an natürlichen Ressourcen indirekte Ursachen für einen gewaltsamen Konfliktaustrag zu sein. So kann eine Umweltproblematik bestehende un-gerechte Besitzverhältnisse intensivieren oder umweltbedingte Ressourcenknappheit kann als Katalysator anderer herrschender Konflikte (z. B. ethnische Konflikte) dienen. Fehlende Kon-fliktbearbeitungsmechanismen tragen zudem dazu bei, dass der Zustand sich verschlimmert.24Umwelt- sowie Klimaveränderungen sind daher als Treiber von bereits existierenden Missstän-den und struktureller Destabilität zu sehen. Somit ist die Situation in Staaten, in denen ein be-reits großer ‚Brandherd‘ an Krisen vorherrscht, zum Beispiel in sogenannten Failed States (z. B. Irak, (Südsudan, Sudan, Somalia), besonders kritisch.25

Die politische Lage eines Landes ist grundsätzlicher Faktor für die Stabilität eines Landes. Folglich hat sie erheblichen Einfluss auf den Grad der Konfliktanfälligkeit eines Landes. De-mokratien und Autokratien weisen eine stabilere politische Lage auf, als sie Staaten mit einer Mischform beider haben (Anokratien, Semi-Demokratien). Jedoch haben weitere Variablen Einfluss auf die Governance 26 -Struktur. Begrenzte Staatsstrukturen, Armut27 oder keine kon-solidierte Regierung schwächen diese, was die Konfliktanfälligkeit erhöhen kann.28 Eine demo-kratische Staatsverfassung oder ein autokratisches Oberhaupt sind keine alleinigen Merkmale, für stabile Strukturen. Ebenso spielen historische Ereignisse eine Rolle: Gab es in der jüngeren Vergangenheit häufige Regimewechsel oder wurden bereits gewaltsame Konflikte ausgetragen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für einen erneuten Konfliktausbruch.29

Die Umweltkonfliktforschung ging von Umweltdegradation als intervenierende Variable aus. Sie kann der Katalysator der Kausalkette zwischen unabhängigen Variablen (sozioökonomische, kulturelle, ethnische, politische Faktoren) und des letztendlichen Konfliktaustrags sein. Unbe-achtet blieb bei den Projekten allerdings folgende Denkweise, die hier nicht unerwähnt bleiben soll: Als wesentlicher Auslöser von Umweltdegradation ist menschliches Verhalten zu sehen. So zum Beispiel in Form von Umweltverschmutzung, Nutzung synthetischer Dünger, Brand-rodung oder durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe, was den anthropogenen Klimawandel bewirkt, der sich dann auf die Umwelt auswirkt. Und die Tatsache, dass es diese vom Menschen verursachte Umweltveränderungen gibt, bringt eine andere Sphäre mit sich. Der Mensch wird damit konfrontiert und ist gezwungen, sein Handeln zu überdenken, Vorsorgemaßnahmen ein-zuleiten und eine nachhaltige Entwicklung voranzubringen. Nur auf diese Weise lassen sich die Veränderungen und ihre Auswirkungen mildern. Die Wahrnehmung der Umweltzerstörung sich folglich der Auslöser zum Handeln. Nach Helmut Breitmeier impliziert dieser Umstand, dass Umweltzerstörung auch als unabhängige Variable gesehen werden kann. Sozioökonomi-sche, politische, kulturelle oder ethnische Faktoren wären damit konditionale Variablen zwi-schen der unabhängigen Variable Umweltzerstörung und eines Konfliktaustrags, der als abhän-gige Variable gesehen werden würde. Dies bedeutet, dass die konditionalen Variablen, also die gesellschaftlichen Umstände, geändert werden müssten, damit einem Konfliktaustrag entgegen-gewirkt wird.30 Dieses Verständnis haben wir bereits bei Brauchs Pfeiler freedom from hazard impacts im Rahmen des Konzepts der menschlichen Sicherheit gesehen.

6.2 Fragile Staatlichkeit als Konfliktfaktor

Wir wollen noch etwas näher auf die nationale Politik eines Landes als konfliktbewirkender Faktor eingehen. Die Nationale Politik beinhaltet hier auch die staatliche Verfassung eines Lan-des. PRIO machte unter anderem darauf aufmerksam, dass die Verfassung kein Indikator da-für sei, dass ein Staat stabil sei. Somit kann auch ein demokratischer Staat destabile Strukturen aufweisen. Dies bedeutet, er hat bereits Probleme bei der Behebung grundlegender Entwick-lungsbedürfnisse. Destabile Strukturen verringern die Effektivität bzw. Erfüllung grundlegender Handlungen, die der Regierung obliegen. Hat der Staat keine Mittel, der Krise Herr werden, wird er voraussichtlich auch wenig Mittel haben, auf einen Konflikt entsprechend zu reagieren. Schwappt die Krise in Gewalt über und hält über einen längeren Zeitraum an, was impliziert, dass Regierungen und Institutionen keinerlei Zugriff mehr haben, um die Ordnung wieder-herzustellen und wird zudem die Wahrung von Rechten und Pflichten nur noch unzuverlässig wahrgenommen, sieht manch einer in solch einer Situation den Staatszerfall. Allerdings ist der Begriff des Staatszerfalls in der Literatur umstritten, da eine klare sozialwissenschaftliche Kon-zeptionalisierung schwierig ist. Oft werden stattdessen andere Begriffe wie Shadow States , Qua-si-Staaten, zerfallende Staaten oder erodierende, fragile Staatlichkeit verwendet.31 Des Weiteren wird sich im Folgendem zeigen, dass geringe Handlungskapazitäten einer Regierung nicht zu einem bewaffneten Konfliktaustrag führen müssen. Eine vielversprechendere Perspektive auf politische Faktoren ermöglicht der Blick auf die Kernfunktionen eines Staates. Nach Schnecke-ner handelt es sich dabei um folgende drei zentrale Staatsfunktionen:32

1. Sicherheitsfunktion : die Gewährleistung von Sicherheit nach Innen und Außen (ge-meint ist die Wahrung des Gewaltmonopols im klassischen Sinne, nicht Sicherheit im Sinne des UNDP-Reports zur human security );

2. Wohlfahrtsfunktion : staatliche Dienst- und Transferleistungen sowie Mechanismen der Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen, die öffentliche Güter wie Bildung, Ge-sundheit oder Infrastruktur sichern;

3. Legitimitäts- und Rechtsstaatsfunktion : die Aufrechterhaltung politischer Partizipa-tion, Entscheidungsprozeduren und politischer Institutionen, um unter anderem ge-sellschaftliche Normen und öffentliches Recht zu setzen und durchzusetzen.

Sind alle drei zentralen Funktionen der modernen Staatlichkeit in einem Land entwickelt, ist von einem konsolidierten Staat die Rede. Dieser Ansatz geht über die bloße Berücksichtigung der Kontrolle über das Gewaltmonopols einer Regierung hinaus, sodass autoritäre oder semi-autoritäre Staaten als fragile Staaten bezeichnet werden. Solche Regime gelten zwar als stabil, da sie die Kontrolle über das Gewaltmonopol besitzen, doch weisen sie große Defizite im Bereich der politischen Ordnung oder der staatlichen Dienstleistung auf. Beispielsweise kann nach dem Tod oder Sturz eines Diktators keine plötzliche Besserung der politischen Lage erwartet werden, sodass durch den Umbruch durchaus ein schleichender oder abrupter Staatszerfall eintreten kann. „Deshalb ist Regimestabilität nicht gleichzusetzen mit Staatsstabilität.“33

Anhand der drei Faktoren der modernen Staatlichkeit ergibt sich ein Maßstab, der die Er-mittlung der verschiedenen Dimensionen von Staatlichkeit nach Schneckener in konsolidierte, schwache, fragile und gescheiterte Staaten zulässt (Kasten 1). Dabei geschieht die Einteilung von Staaten oftmals nur über Momentaufnahmen und Tendenzen, sodass nicht immer scharf getrennt werden kann und der Übergang zwischen den Kategorien fließend verläuft. Die Ein-teilung der Staatlichkeit in vier Typen impliziert, dass die Stabilität von Typ eins zu Typ vier abnimmt und dies folglich mit einem Verlust der Sicherheit einhergeht. Dies muss jedoch nicht bedeuten, dass damit das Gewalt- und Konfliktpotential innerhalb der Gesellschaft zunimmt. Nach Schneckener ist es durchaus vorstellbar, dass in einem „schwachen“ Staat ein höheres Konfliktpotential besteht als in einem „versagenden“ oder „gescheiterten“ Staat. Weiter ist der Durchlauf der Typen für einen Staat nicht normativ. Ein Staat kann von Typ zwei direkt zu Typ vier übergehen oder umgekehrt. Ebenso ist die Typisierung nicht mit einer Wertung des Regierungssystems gleichzusetzen. Ein autoritär oder halb-autoritär geführter Staat kann (zu-mindest temporär) stabiler als ein demokratisches System sein. Ein Staat, der aufgrund seiner Sicherheitsfunktion als „schwacher Staat“ angesehen wird, muss daher im Hinblick auf legitime Herrschaft nicht wünschenswerter als ein „versagender Staat“ sein.34

1. Konsolidierte bzw. sich konsolidierende Staaten (consolidated bzw. consolidating states) :

Der idealtypische moderne Nationalstaat, in dem alle drei Kernfunktionen langfristig gewähr-leistet sind, wird von allem durch die OECD-Staaten repräsentiert. Dazu können außerdem sich konsolidierende Staaten gezählt werden, die sich erkennbar in einem nachhaltigen Trans-formationsprozess hin zu einem demokratischen verfassten Staat mit marktwirtschaftlichen Strukturen befinden (z. B. Costa Rica, Chile).

2. Schwache Staaten (weak states) :

Staaten, deren Gewaltmonopol weitgehend gewährleistet ist, die aber mitunter erhebliche De-fizite bei der Wohlfahrts- und Rechtsstaatsfunktion aufweisen. Beispiele sind etwa Eritrea, Uganda, Mazedonien oder Albanien. Auch die meisten der (semi)autoritären islamisch-ara-bischen Staaten können hier eingeordnet werden, in denen häufig Stabilität und elementare Dienstleistungen gewährleistet sind, bei gleichzeitig geringer Rechtsstaatsfunktion und ein-geschränkter Wohlfahrtsfunktion (z. B. Saudi-Arabien, Iran).

3. Fragile, versagende oder verfallene Staaten (failing states) :

Staaten, die zumindest noch ansatzweise Wohlfahrts- und/oder Rechtsstaatsfunktionen er-füllen können, andererseits aber nicht mehr über das Gewaltmonopol verfügen und deren Kontrolle über Teile ihres Territoriums oder ihrer Außergrenzen mangelhaft ist. Häufig han-delt es sich um formaldemokratische Staatsgebilde, die von Separatisten oder organisierter Kriminalität herausgefordert werden (z. B. Philippinen, Kolumbien vor dem Friedensvertrag mit der FARC,), teilweise auch um autoritäre Staaten (z. B. Sudan).

4. Gescheiterte bzw. zerfallene Staaten ( failed bzw. collapsed states ):

Ein Staat kann als gescheitert gelten, wenn er nicht im Stande ist, eine der drei Kernfunktio-nen aufrecht zu erhalten. Wie das Beispiel Somalia/Republik Somaliland zeigt, bedeutet das Scheitern eines Staates nicht zwangsläufig Anarchie, weil in der Regel nichtstaatliche Akteu-re an die Stelle des kollabierten Staats treten und wesentliche Ordnungsfunktionen ersetzen bzw. wahrnehmen. Neben Somalia können als aktuelle Beispiele gescheiterter Staaten auch der Südsudan oder die Zentralafrikanische Republik und die Demokratische Republik Kongo gelten. Prozesse, in denen sich mehrere neue Staaten vergleichsweise friedlich (z. B. Sowjet-union 1991, Äthiopien/Eritrea 1991, Tschechoslowakei 1993) oder gewaltsam (z. B. Pakistan/Bangladesch 1971, Jugoslawien 1995) aus einem Vorgängerstaat bilden, sind hingegen geson-dert zu betrachten.

Kasten 1: Typologie fragiler Staatlichkeit.

Nach: Schneckener 2004 und WBGU 2008

Durch Schneckener bekommen wir einen elaborierteren Blick auf politische Faktoren. Die Typologie der Staatlichkeit bietet eine Einteilung der staatlichen Stabilität. Anhand der staat-lichen Stabilität lassen sich erste Rückschlüsse auf den staatlich-politischen Faktor als Konflikt-ursache schließen. Je destabiler ein Staat ist, desto größer ist die Basis, dass existierende Krisen in sozialen, politischen ökonomischen und ökologischen sowie kulturellen Bereichen zu einem gewaltsamen Konfliktaustrag führen. Dabei ist die Nicht-Erfüllung der staatlichen Kernfunk-tionen unmittelbar mit Sicherheits- und Entwicklungsdefiziten verbunden. „Unter modernen Vorzeichen ist eine stabile soziale, ökonomische, politische und kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft ohne einen staatlichen Rahmen nur schwer vorstellbar […].“35 Ein Zerfallen staat-licher Strukturen bedeutet eben nicht nur ein Verlust staatlicher Kontroll- und Steuerungska-pazitäten, sondern eben auch ein Anwachsen gesellschaftlicher Missstände bzw. Krisen. Demo-kratische Verfassungen haben dabei ein höheres Potential stabil zu sein. Individuelle Freiheiten wie politische Partizipationsrechte sind hierbei gewährleistet und Regierungen haben einen größeren Ansporn Missstände zu vermeiden. Dennoch ist sie keine Garantie für eine staatliche Sicherheit. Wie Schneckener äußert, können in gewissen Zeiten auch halb-autoritär geführte Staaten stabiler als Staaten mit einer demokratischen Verfassung sein, da nichtstaatliche Ak-teure an die Stelle des kollabierten Staates treten und wesentliche Ordnungsfunktionen wahr-nehmen.

Unzureichende staatliche Kontroll- und Steuerungskapazitäten heißt, dass Güter nicht mehr bereitgestellt werden können und staatliche Institutionen ihre Leistungsfähigkeit ein-büßen. Erodiert zudem das staatliche Gewaltmonopol, kann sich eine innerstaatliche Ge-waltspirale in Bewegung setzen. Obwohl wir nach Schneckener drei Funktionen als Kern-funktionen eines Staates betrachten, wird die Wahrung des staatlichen Gewaltmonopols meist als die Funktion angesehen, die in äußersten Krisenzeiten ein Ausbrechen und eine Ausbreitung bewaffneter Konflikte verhindern mag. Dieses Verständnis mag einerseits damit zusammenhängen, dass vor Schneckeners mehrdimensionalem Ansatz zur Bestimmung der Qualität von Staatlichkeit über lange Zeit die Sicherheitsfunktion als eigentlicher Kern mo-derner Staatlichkeit verstanden wurde. Sie wird nach wie vor als wichtigste Funktion im Hin-blick auf die Qualität eines Staates erachtet, auch aufgrund ihrer Wirkung auf die anderen Funktionen. „Empirisch lässt sich sagen, dass ein Versagen in der Erfüllung der Sicherheits-funktion immer mit einem Versagen in der Erfüllung der beiden anderen korreliert. Umge-kehrt jedoch führt ein Versagen in einer der anderen Funktionen nicht notwendigerweise zu einem Versagen in den anderen Funktionsbereichen, selbst wenn es die Leistungsfähigkeit auch dort sicherlich beschränkt.“36 Andererseits wird die Kontrolle über das Gewaltmonopol als das Mittel in äußersten Notsituationen gesehen, das der Regierung ermöglicht, Aufruhr einzudämmen, Aufstände entgegenzutreten oder in einem politischen Konflikt ihren ange-strebten Sturz zu verhindern.

Die Entwicklung, die zur staatlichen Fragilität führt, ist auf diverse Faktoren zurückzu-führen, die ihren Ursprung in den verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren haben. So führt fragile Staatlichkeit nicht nur zu anwachsenden Missständen, sondern auf der anderen Seite werden wiederum diverse ökonomische, politische, soziale, ökologische oder kulturel-le Defizite als Ursache erodierender Staatlichkeit ausgemacht. Schneckener unterscheidet hierbei drei verschiedene Destabilisierungsfaktoren: Struktur-, Prozess- und Auslösefakto-ren (Kasten 2).

Strukturfaktoren : Bedingungen, die auf natürliche Gegebenheiten eines Landes, z. B. Boden-schätze, Klima und auf langfristig wirksame politische, kulturelle und sozioökonomische Strukturmerkmale abzielen, z. B. ethnische Diversität, Bevölkerungsentwicklung, „koloniales Erbe“, regionale Machtkonstellation.

Prozessfaktoren : Bedingungen, die mittelfristig die Erosion von Staatlichkeit auslösen oder vo-rantreiben, wobei vor allem das Verhalten der Akteure (insbesondere der Eliten) in Reaktion auf interne oder externe Krisen entscheidend ist. Dazu zählen politische Instrumentalisierung sozialer Unzufriedenheit oder ethnisch-kultureller Differenzen, politischer oder religiöser Ex-tremismus, separatistische Tendenzen, staatliche Repression, Korruption und Misswirtschaft, Privatisierung von Gewalt, Wirtschaftskrisen usw.

Auslösefaktoren : Bedingungen, die abrupten Wandel auslösen einschließlich solcher, die das Ergebnis längerfristiger Entwicklungen mit katalytischer Wirkung sind. Beispiele sind Mili-tärinterventionen, Flüchtlingsströme, Militärputsch und Revolution, massive gewaltsame Un-terdrückung der Opposition (z. B. Massaker), soziale Unruhen, Hungersnot, Bürgerkrieg usw. Kasten 2: Destabilisierungsfaktoren von Staatszerfall.

Nach: Schneckener 2004 und WBGU 2008.

Das Fazit der Studien zur Umweltkonflikten war, dass ökologische Faktoren als Katalysator existierender Krisen dienen. Betrachten wir Schneckeners Faktoren, finden wir ökologische Phänomene als potentielle Destabilisierungsereignisse. So nennt Schneckener Bodenschätze oder das Klima als Bedingungen, die die gesellschaftliche Struktur beeinflussen. Dies kann Ressourcenknappheit umfassen oder im Hinblick auf sozioökonomische Gegebenheiten eine strukturelle Ungleichverteilung von Ressourcen. Auch betreffend prozessuale Faktoren er-wähnt der Autor in seiner Ausarbeitung ökologische Probleme wie zum Beispiel Wassermangel oder die ökologische Degradierung einer Region, die in Verbindung mit dem Verhalten der Akteure die Erosion von Staatlichkeit innerhalb eines mittelfristigen Zeitraums (5–10 Jahre) in Gang setzen können. Die Auswirkungen von Natur- und Dürrekatastrophen oder Hungers-nöte können hingegen innerhalb kürzester Zeit einen abrupten Wandel hervorrufen (ähnlich wie Militärinterventionen von außen, Revolutionen oder Militärputsche). Selbst wenn diese Auslösefaktorendas Ergebnis innerhalb einer längeren Entwicklung sind, können sie zu ei-nem bestimmen Zeitpunkt eine eigene katalytische Wirkung entfalten.37 Wir sehen also, dass Schneckener ökologische Ereignisse als destabilisierende Faktoren ansieht. Damit scheint er der Umwelt mehr Einfluss beizumessen als dies die Studien zu Umweltkonflikten taten. Die-se sahen in der Umweltdegradation vielmehr ein katalytisches Potential, wenn sie zusätzlich zu politischen, sozialen, ökonomischen, kulturellen oder ethnischen Missständen bzw. Krisen auftritt. Wird der Umwelt allerdings ein destabilisierendes Potential zugeschrieben, stellt sie einen bedeutenden Einfluss bei der Entstehung von Konflikten dar. Die logische Konsequenz wäre, basierend auf Schneckeners These, dass mit einer Zunahme von Umweltveränderungen, beispielsweise im Zuge des Klimawandels, auch vermehrt Staaten sich zu schwachen und fra-gilen bis zu zerfallenden Staaten rückentwickeln. Nach Roehder könnte dies besonders in der Region südlich der Sahara der Fall sein. Viele der dortigen Staaten sind als schwach betreffend institutionelle Kapazitäten und Stabilität einzustufen. Bis zu einem Drittel dieser Staaten könn-ten sogar vom akuten Staatszerfall bedroht sein.38 Jedoch dürfen Schneckeners ökologische Destabilisierungsfaktoren nicht als unabhängig gesehen werden. Das Klima und eine damit zusammenhängende Ressourcenknappheit werden nur zur Strukturfaktoren, weil die staat-lich-gesellschaftlichen Strukturen dies zulassen (wobei auch nachhaltige Strukturen nur bis zu einem gewissen Grade Klimafolgen abmildern können). Ebenso wird Wassermangel eher zu einem Prozessfaktor, weil der Wasserkonsum zu hoch ist, Wasserreservoirs verschmutzt sind, Konflikte den Zugang erschweren, die Wasserinfrastruktur ungenügend oder am Zerfallen ist oder Regierungen den Zugang zu Wasser gering halten, statt dass dieser ausschließlich auf ökologische Veränderungen wie Dürren oder eine höhere Verdunstung aufgrund steigender Temperaturen zurückzuführen ist. Bei ökologischen Auslösefaktoren verhält es sich nicht an-ders. Auch diese sind überwiegend auf gesellschaftliche Missstände und eine hohe Vulnerabili-tät zurückzuführen, was im ersten Teil dieser Arbeit im Zusammenhang mit Entwicklung und Anpassung an den Klimawandel bereits thematisiert wurde.

Wir können also sagen, dass Krisenzustände nur schwer eindeutig auf einen Bereich zurück-zuführen sind. Gesellschaftliche Probleme verharren meist nicht nur im ökologischen, ökono-mischen, sozialen (inklusive kulturellen und ethnischen) oder politischen Bereich. Selbst wenn sich eine konkrete Konfliktursache ausfindig machen lässt, wird hinter dem Ausbruch eines ge-waltsamen Konflikts ein Komplex stehen. So können Klimaveränderungen einen Rückgang von Ressourcen bewirken, die destabilisierende Wirkung darin ist aber im Zusammenhang mit be-reits existierenden Missständen wie zum Beispiel Verteilungsungerechtigkeiten zu sehen. Auch stellt sich eine Hungersnot nur ein, wenn Politik und Ökonomie nicht in der Lage sind, die sich verschärfende Situation zu regulieren. Die These lautet daher, ebenso wie sich Risiko aus dem Komplex von hazard, exposure und vulnerability bildet, bilden sich Konflikte aus einem Kom-plex von Krisen und Missständen heraus.

6.3 Bruch mit der Vergangenheit: Aktuelle Konfliktausblicke

Die Fallbeispiele, auf denen die empirischen Studien zur Umweltkonfliktforschung basieren, stammen aus dem letzten Jahrhundert. Umweltstress wird durch den Klimawandel allerdings zunehmen und womöglich einen Grad erreichen, der in der Menschheitsgeschichte so noch nie dagewesen ist. Im Hinblick auf intensivere und häufiger auftretende Extremereignis in der Zu-kunft sind durchaus Zweifel vorhanden, ob die Studien zur Umweltkonfliktforschung einen ge-nauen Ausblick zur Tragweite klimatologischer und ökologischer Veränderungen geben können oder ob diesen gar ein zunehmendes destabilisierendes Potential zukommen wird. Besonders das Anhalten von gewissen Phänomenen wie Desertifikation, unzuverlässigen Niederschlägen, Wasserknappheit oder Bodendegradation könnten einem System über lange Zeit oder gar dau-erhaft Stress zufügen, von dem es sich möglicherweise auf absehbarer Zeit nicht erholen ver-mag. In diesen Veränderungen könnte ein höheres Destabilisierungspotential liegen als bisher angenommen.

Die FAO brachte in ihrem Bericht zur Nahrungssicherheit und Ernährung von 2017 Unter-ernährung in direkter Verbindung mit Konflikten und dem Klimawandel. Von 19 beobachteten Ländern, in denen langwierige Krisen herrschen, sind alle 19 von Konflikten und Gewalt be-troffen. In den beobachteten Fällen vermischen sich diese mit negativen Klimaereignissen wie Dürren oder Fluten, wodurch die Nahrungsproduktion und die Lebensgrundlage der Bevölke-rung stark beeinträchtigt wird. Die FAO stellt heraus, dass „[d]as Zusammenfallen von Konflikt und klimabedingten natürlichen Katastrophen sich wahrscheinlich mit dem Klimawandel er-höhen wird, da der Klimawandel nicht nur Probleme der Nahrungssicherheit und Ernährung vergrößert, sondern ebenso zu einer weiteren Abwärtsspirale beitragen kann, die in Konflikten, langwierige Krisen und anhaltender Fragilität mündet“39. Hervorzuheben ist, dass in Ländern, in denen Konflikte herrschen oder geherrscht haben, 60 bis 80 % der Existenzen abhängig ge-genüber natürlichen Ressourcen bzw. der Landwirtschaft sind.40 Dennoch sei die These, dass ein Konflikt die Ursache von Nahrungssicherheit und Unterernährung ist, weitaus eindeutiger als die umgekehrte kausale Verbindung, dass Hunger primärer Auslöser für Konfliktszenarien ist. Trotzdem sei Letzteres für die Zukunft zu befürchten. Armut, Hunger und unsichere Nahrungs-zustände, zusammen mit einem hohen Maß an ungleicher Verteilung von Einkommen, Land und anderen materiellen Gütern, können Angst, Hoffnungslosigkeit und Gefühle der Unge-rechtigkeit und des Mangels an sozialer Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft erzeugen. Dass solche Mangelzustände den Drang bei der Bevölkerung Gewalt zu schüren heraufbeschwören, sei durchaus möglich.41 Unerfüllte Erwartungen sind oftmals der Hauptreiber für Beschwerden und Klagen, auf denen Konflikte basieren. Die FAO warnt somit vor einem größeren werden gefährdenden Einfluss klimabedingter Ereignisse auf die Nahrungssicherheit, wodurch sich das Risiko gegenüber Konflikten erhöht, besonders dort, wo bereits Krisen herrschen und Bewälti-gungsmechanismen fehlen. Dies Widerspricht zwar nicht der Grundthese der Umweltkonflikt-forschung, dass Umweltdegradation als Katalysator für herrschende Krisen dient, jedoch wird dem Klima und Umweltveränderungen deutlich mehr Potential beigemessen.

Die Skepsis der 1990er über den Zusammenhang von Konflikten und Umweltveränderun-gen bzw. dem Klimawandel ist heute weitestgehend verflogen. Beispielsweise adressieren 54 von den 94 Friedensabkommen, die im Zeitraum zwischen 1989 und 2004 geschlossen wurden, natürliche Ressourcen, wohingegen seit 2006 jedes größere Abkommen Vorschriften zu natür-lichen Ressourcen beinhaltet.42 Ein weiterer Punkt, der die Bedeutung der Umwelt in Konflik-ten verdeutlicht, ist die Tatsache, dass seit 1990 ein Drittel aller UN-Friedensoperationen in Ländern stattfand, in denen Konflikte durch natürliche Ressourcen ökonomisch befeuert oder auf eine andere Weise beeinflusst wurden.43 Dies umfasst nicht-erneuerbare sowie erneuerbare Ressourcen. Zwar ist weiterhin zweifelhaft, ob ein gewaltsamer Konflikt allein aufgrund von Klimastress ausbricht, doch zeigen jüngere Konflikte einen deutlich höheren Einfluss von Kli-maveränderung. Der aktuelle Konsens geht eindeutig in die Richtung, dass das Klima zu einem Konfliktausbruch beitragen kann, auch wenn Klimastress nach wie vor nicht als direkte Ursache eines Konfliktaustrags gilt. Mit einem voranschreitenden Klimawandel nimmt folglich auch sei-ne katalytische Wirkung zu. Der Leiter des UNEP Peacebuilding Programme David Jensen und der Direktor des Environmental Law Institute Carl Bruch sprechen gar von einer Verdopplung des Risikos für gewaltsame Konflikte unter starkem Klimastress.44 Marc Levy vom Center for International Earth Science Information Network (CIESIN) der Columbia University charakteri-siert vier Punkte, warum der Klimawandel einen Anstieg von gewaltsamen Konflikten bedeuten könnte:45

1. Klimastress und seine Auswirkungen auf die Fähigkeit Gewalt zu regulieren;

2. Klimastress und die Änderung der Bedeutung an strategischen natürlichen Gütern;

3. Klimastress und systematische Instabilität;

4. Klimapolitische Maßnahmen und unerwartete Gegenreaktionen.

Schauen wir uns die einzelnen Punkte Levys etwas genauer an. (1) Klimastress und seine Aus-wirkungen auf die Fähigkeit Gewalt zu regulieren könnten unter anderem in Verbindung mit gesellschaftlichen Umständen wie Armut, Umsiedlungen oder Unmut gegen die Regierung auftreten. Besonders Sturm- und Flutkatastrophen können in kürzester Zeit einem System er-heblichen Stress zufügen. Dabei hängt das Ausmaß des Phänomens nicht ausschließlich mit klimatischen Veränderungen zusammen, sondern menschliche Aktivitäten erhöhen zusätzlich die Anfälligkeit gegenüber Extremereignissen. Wälder gelten als natürliche Schutzwälle gegen Überflutungen, doch zunehmende Entwaldung wie entlang des Yangtses in China trägt maß-geblich dazu bei, dass das Reich der Mitte seit einiger Zeit mit den schlimmsten Überschwem-mungen konfrontiert wird.46 Ein anderer Faktor ist die Landabsenkung in urbanen Küsten- und Metropolregionen im Zuge der Ausbreitung von Städten. Durch Lasten von Neubauten erhöht sich einerseits das Gewicht, das auf meist wenig verfestigten Sedimenten aufliegt, und anderer-seits erhöht sich der Grundwasserentzug durch einen höheren Wasserbedarf der Bevölkerung und Industrie. Die Folge ist ein Absenken der Landoberfläche.47 Nehmen die Schäden durch Kli-maanomalien zu und offenbaren diese zudem ungenügende Handlungsfähigkeit der Regierung sowie Misswirtschaft und -planung oder große Ungleichheit innerhalb der Bevölkerung, könnte sich die Lage destabilisieren. Eine Reaktion auf Seiten der Regierung, die nicht den Erwartungen der betroffenen Bevölkerung entspricht, könnte Unzufriedenheit befeuern und gar zu Unruhen führen.48 Je größer Destabilität und Konfliktpotential sind, desto schwieriger ist es für den Staat die Lage zu bewältigen.49 Klimastress wirkt sich somit mittelbar auf die Fähigkeit eines Staates aus, Gewalt zu regulieren. Inwieweit dieser Zusammenhang konkret besteht, ist heute jedoch noch nicht völlig klar. Anhand der Ergebnisse der vorangegangenen Analyse lässt sich allerdings sagen, dass vorherrschende Bedingungen und vergangene Ereignisse einen wesentlichen Ein-fluss nehmen, in welche Richtung sich die Lage entwickeln könnte.

(2) Klimastress und die Änderung der Bedeutung an strategischen natürlichen Gütern stellt heute bereits ein großes Problem dar. Änderungen von Niederschlagsmustern sowie intensive-re und häufiger auftretende Extremereignisse können sich negativ auf die agrarwirtschaftliche Produktion auswirken. Bodendegradation, zum Beispiel im Zuge von Abholzung in trockenen Gebieten, wodurch Böden trockener werden, verschärft die Situation zusätzlich. In Burkina Faso, Äthiopien, Lesotho und Mali leben bereits heute 60 % der Bevölkerung auf degradiertem Land.50 Hinzu kommt eine wachsende Nachfrage nach Nahrung aufgrund des Bevölkerungs-wachstums. Zwar konnte die Anzahl der an Unterernährung leidenden Menschen während der letzten zwei Jahrzehnten reduziert werden (1990–1992 litten 18,6 % an Unterernährung, 2014–2016 noch 10,9 %), doch steigt die Anzahl der regionalen Hungerkrisen, insbesondere in Afrika. 1990 gab es dort in 12 Ländern eine Hungerkrise, wovon 4 langfristige Krisen waren. 20 Jahre später zählte man 24 Länder, wobei in 19 davon Hungerkrisen bereits 8 Jahre oder länger anhiel-ten.51 Vorliegende Umweltdegradation und klimatische Veränderungen könnten die Bedeutung an fruchtbarem Ackerland stark anwachsen lassen. Dies bedeutet ebenfalls, dass der Niedergang von fruchtbarem Land für viele Bauern ein Verlust ihrer Lebensgrundlage bedeutet, besonders im Zusammenhang mit dem Umstand, dass in vielen Ländern Afrikas die Subsistenzwirtschaft weit verbreitet ist. Mehr Menschen könnten eine Flucht in die Städte als unausweichlich an-sehen, um in urbanen Regionen eine neue Perspektive zu finden.52 Hierdurch entsteht ein grö-ßerer struktureller Stress in Städten, da diese nur bedingt eine wachsende Stadtbevölkerung auf-nehmen können. Ähnliches trifft auf die Verfügbarkeit von Wasser zu. Steigender Wasserbedarf, aber abnehmende Niederschlagsmengen, höhere Verdunstung aufgrund steigender Temperatu-ren oder nur temporal größere Wasserverfügbarkeit (während Regenzeiten oder bis Gletscher vollständig abgeschmolzen sind) erhöhen den Wasserstress in manchen Regionen. Bereits heute ist jeder Dritte von irgendeiner Form von Wasserknappheit betroffen.53 Wasser wird somit zu einem Gut von wachsender Bedeutung.

(3)  Instabilität im Zusammenhang mit Klimastress tritt beispielsweise bei Dürren oder plötzlich eintretenden Extremphänomen auf. Widerfährt einer Region, die wesentlich zur Nahrungsmittelproduktion beiträgt, herbe Ernteverluste, kann dies in der Regel durch eine globale Mehrproduktion ausgeglichen werden, allerdings ist dies mit Preisanstiegen auf den Weltmärkten gekoppelt. Zwischen 2003 und 2013 haben Extremphänomene in Entwicklungs-regionen für einen Ernteverlust in Wert von mehr als 13 Milliarden US-Dollar gesorgt.54 In den letzten Jahren hat die Abhängigkeit von afrikanischen Ländern von Nahrungsimporten bereits zugenommen.55 Gerade in einkommensschwächeren Ländern des Kontinents stellt die Landwirtschaft einen bedeutenden Wirtschaftszweig dar. Ernteeinbrüche oder die Abhängig-keit von Importen könnten somit das Einkommensgefüge torpedieren. Solche Wirkungen sind schwer zu antizipieren, zudem können die Auswirkungen von einer Dimension sein, die es schwierig machen, Präventionsmaßnahmen einzuleiten, mit der Folge einer wachsenden Instabilität von Märkten. Ein weiteres Beispiel stellen Epidemien dar, da der Klimawandel die flächenmäßige Ausbreitung von Krankheiten begünstigen kann. Sind weite Flächen von Epidemien befallen, erschwert dies den Zugang zu den betroffenen Regionen. Damit wird die Bewältigung von Sicherheitsproblemen komplizierter, da Institutionen nicht ungehindert agieren können.

Und letztendlich (4) unerwartete Reaktionen hinsichtlich politischer Beschlüsse. Die bezieht sich auf verabschiedete Beschlüsse, deren Inhalt die Reaktion auf Klimaprobleme darstellt. Die Umsetzung eines Beschlusses kann mit einem Sicherheitsdilemma einhergehen: Während das Ziel ist, bestimmte Risiken in einer Region zu beheben, könnte dies zur gleichen Zeit bedeuten, dass eine Verschärfung von Risiken in einer anderen Region entsteht. Während der Nahrungs-mittelkrise im Jahre 2010 reagierten beispielsweise manche Länder unter anderem mit einem Exportstopp an Nahrungsmitteln, um ihren eigenen Nahrungsbedarf abzusichern. Hierdurch nahm allerdings die Nahrungsunsicherheit in anderen Ländern weiter zu. Einige Länder reagie-ren auf eine möglich zukünftige klimabedingte Knappheit von Agrarprodukten, indem sie sich einen langfristigen Zugang zu Agrarland in anderen Staaten erkaufen, hauptsächlich auf afri-kanischem Boden. China hat in der Vergangenheit kaum Getreide importiert, seine wachsende Bevölkerung und die geringe Pro-Kopf-Getreidefläche (die Chinas ist beispielsweise mit 600 m² deutlich geringer als die der USA mit 1900  m²), gepaart mit teils hoher Bodendegradation, zwangen allerdings die Regierung, neue Möglichkeiten zu finden. China erwarb in den letzten Jahren in Mozambik, Tansania, Sambia und der Demokratischen Republik Kongo Agrarland, um seine Nachfrage nach Nahrung sowie Biokraftstoff zu sichern.56 Neben China ließen sich noch weitere Länder auflisten (Deutschland z. B. in Äthiopien, um Biokraftstoff zu produzie-ren).57 Die Investitionen können durchaus kritisch hinterfragt werden. Einerseits werden durch die Zusammenarbeit Arbeitsplätze geschaffen und die Infrastruktur verbessert, allerdings stellt in einigen dieser Länder Nahrungssicherheit nach wie vor ein Problem dar. Neben politischen Beschlüssen betreffend Nahrungsmittelbeschaffung ist an dieser Stelle ebenfalls die Ressource Wasser zu nennen. Um auf einen sich veränderten Wasserbedarf im Land zu reagieren, könn-ten Staaten mit infrastrukturellen Maßnahmen (Dammbau, Flussteilungen und -abzweigungen) den Wasserfluss nachhaltig verändern. Zwar könnten sie durch die Umstrukturierungen einen positiven Effekt für sich selbst erzielen, allerdings mit möglichen negativen Auswirkungen auf die Länder flussabwärts, die mit einer erhöhten Wasserunsicherheit konfrontiert werden.58 Be-reits heute werden die Länder Thailand, Laos, Kambodscha und Vietnam mit einem sinkenden Wasserpegel des Mekongs konfrontiert. Dabei stellt der Fluss eine zentrale wirtschaftliche Rolle dar, gar eine Lebensgrundlage für Millionen von Menschen. Die aufkommende Wasserknapp-heit entsteht im Zusammenspiel von abnehmenden Niederschlagsmengen sowie zahlreicher Dammprojekte auf Seiten Chinas flussaufwärts, wodurch die Länder flussabwärts der chinesi-schen Wasserregulierung ausgesetzt sind.59

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7 Bangladesch, Darfur und New Orleans: Beispiele gesellschaftlicher Auswirkungen nach natürlichen Extremphänomenen

Nach Vorangegangenem können wir resümieren, dass Umweltveränderungen Einfluss auf Kri-sen und Konfliktentwicklungen nehmen können, allerdings können sie nicht losgelöst von ge-sellschaftlichen Entwicklungen gesehen werden. Da klimatische Veränderungen weiter anhal-ten werden, ist es absehbar, dass in Zukunft Gesellschaften mit einem verstärkten Umweltstress konfrontiert werden. Im Zusammenhang mit sektoralen Krisen bzw. Vulnerabilität kann dies eine zunehmende Destabilisierung bedeuten. Wir haben während der Analyse von Konzepten, Studien und Thesen konkrete Beispiele genutzt, um die Zusammenhänge etwas besser zu ver-anschaulichen. Dieses Kapitel soll nun drei konkrete Beispiele zeigen, um noch deutlicher zu veranschaulichen, dass hinter Konflikten bzw. Katastrophen meist ein Konstrukt von verschie-denen Krisen zu finden ist. In groben Zügen wollen wir uns die verwundbare Lage Bangladeschs gegenüber extremen Wetterphänomenen, den Darfur-Konflikt und seine ökologische Dimen-sion und die plötzliche Destabiliserung der gesellschaftlichen Situation New Orleans‘ nach dem Hurrikan Katrina anschauen. Diese drei Fälle sind keinesfalls Musterbeispiele für Katastrophen und Konflikte, wie Klima- und Umweltbedingungen Einfluss auf den Verlauf solcher Ereignisse nehmen. Vielmehr sollen sie exemplarisch verdeutlichen, dass mehrere Faktoren zu einer Ent-stehung beitragen können, wobei oftmals nicht völlig klar ist, in welchem Maße oder ob es viel-mehr die Verflechtung von verschiedenen Missständen und sektoralen Störungen ist, die zum Ausbruch einer Notsituation führen.

7.1 Bangladesch: Ein mit Extremen konfrontiertes Land

Bangladesch gehört zu jenen Ländern, die am häufigsten im Zusammenhang mit den negativen Auswirkungen des Klimawandels genannt werden. Artikelüberschriften verweisen oftmals auf die scheinbar verheerende Lage, in der sich das Land aufgrund der klimatischen Veränderungen befindet: „Bangladesch: In der Todeszone des Klimawandels“; „Bangladesch: Vor der großen

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Flut“; „How Global Warming Threatens Millions in Bangladesh“; „Bangladesh rated world’s most vulnerable country to climate change“.1 Was sind die Gründe?

Laut dem Climate Change Vulnerability Index ist Bangladesch in der Tat das verwundbarste Land gegenüber dem Klimawandel, vor Ländern wie Sierra Leone und dem Südsudan.2 Der steigende Meeresspiegel in Bangladesch könnte Schäden verursachen, die 80 % des nationa-len BIP entsprechen.3 Mit über 160 Millionen Einwohnern ist es das achtbevölkerungsreichste Land der Welt und zudem eines, dessen Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten rasant ange-wachsen ist. 1980 hatte das Land noch knapp 82,5 Millionen Einwohner. Mit seinem Bevöl-kerungsanstieg wurde Bangladesch zu eines der am dichtest besiedelten Länder weltweit. Mit ungefähr 145 000 km2 ist es nicht einmal halb so groß wie Italien, zählt allerdings doppelt so viel Einwohner wie Deutschland.

Aufgrund seiner geographischen sowie topographischen Lage wird das Land von zahlreichen Extremphänomenen heimgesucht. Überflutungen, niedrige Strömungsbedingungen, Salzwas-serintrusion, Sturmfluten, Dürren, Zyklone oder Küsten- und Flussufererosionen sind keine Seltenheit. Diese Phänomene können zusammen auftreten, ebenso gibt es kausale Zusammen-hänge zwischen ihnen.4 Intensive seismische Aktivitäten im Gebiet am Fuße des Himalayas und dem Arakan-Yoma-Gebirge, einem südöstlichen Ausläufer des Himalayas, über dem sich das Land erstreckt, stellen zudem eine Bedrohung dar. In den letzten 250 Jahren gab es sechs Erdbeben in und um Bangladesch, die eine Stärke zwischen 7,0 und 8,8 auf der Richterskala hatten.5

Mit dem Himalaya im Norden und dem Golf von Bengalen im Süden liegt das Land inner-halb zwei unterschiedlicher ökologischer Systeme. Die ökologische Vielfalt ist einerseits eine Bereicherung für das Land, andererseits muss sich das Land mit den spezifischen Gefahren der Ökosysteme auseinandersetzen. In der westlichen Küstenregion befinden sich die Sundarbans, die größten Mangrovenwälder der Welt. Die Mangrovenwälder sind ein bedeutendes Biosphä-renreservat und sind Heimat für zahlreiche seltene Pflanzen- und Tierarten wie unter anderem der vom Aussterben bedrohte Bengaltiger. Die Sundarbans dienen als eine Art Schutzwall für tropische Zyklone und Sturmfluten. Nördlich der Mangrovenwälder erstreckt sich die Gangese-bene, die von zahlreichen Kanälen und Flussarmen durchzogen ist. Der Ganges läuft von Indien kommend durch Bangladesch und vereinigt sich mit dem vom Norden kommenden Fluss Brah-maputra, der auf der bengalischen Seite Jamuna heißt. Als Fluss Padma vereinigt nehmen sie etwas später den Meghna auf und fließen als unterer Meghna nach Süden und münden östlich von den Sundarbans in den Golf von Bengalen. Die drei Flüsse – Ganges, Brahmaputra (Jamu-na) und Meghna – sind eines der größten Flusssysteme der Welt und bilden das weltweit größte Mündungsdelta. Die zentrale Küstenregion um das Mündungsdelta gilt im Hinblick auf die Ge-zeiten und die dort bewegten Wassermassen als äußerst aktiv. Dies erhöht das Risiko gegenüber tropischen Zyklonen und Sturmfluten.

Neben der topographisch-geographischen Situation, die das erhöhte Risiko erklärt, stellt zu-dem die hohe Verwundbarkeit aufgrund der sozioökonomischen Situation einen wesentlichen Faktor dar. Obwohl die Armut in den letzten Jahren erheblich reduziert werden konnte, gilt Bangladesch nach wie vor als eines der ärmsten (knapp jeder vierte lebt in Armut) und am wenigsten entwickelten Ländern.6 Eine schwache Gesundheitsvorsorge, hohe Arbeitslosigkeit und gravierende Armut sind verbreitete sozioökonomische Probleme, mit denen sich das Land auseinandersetzen muss. Das Land ist auf finanzielle Fremdunterstützung angewiesen. Durch das rasche Bevölkerungswachstum in den letzten Jahrzehnten wurden große Teile der Bevölke-rung, besonders die arme Schicht, in marginalisierte Gebiete gedrückt. In diesen hoch verwund-baren Gebieten finden auch immer mehr landwirtschaftliche Aktivitäten und wirtschaftliche Produktionen statt.7

Da das Flusssystem sowohl die Niederschläge aus den Südhängen des Himalayas als auch die Wassermassen aus der Monsun-Saison durch das Land tragen, sind Überschwemmungen die Regel. Das Überschwemmungsgebiet des Ganges, Brahmaputras, Meghnas und der kleineren Flüsse umfassen 80 % des Landes. Jährlich sind 20,5 % des Landes durch diese Wassermassenbe-wegung überschwemmt. Dabei kommt das Wasser hauptsächlich von außerhalb Bangladeschs, das durch die drei Hauptflüsse in das Land getragen wird.8 Ausgenommen des Nordostens und Südostens ist das Land von einer äußerst niedrigen und flachen Topographie geprägt, was einen entscheidenden Faktor darstellt. Mehr als 60 % des Landes liegen nicht höher als 6 m über dem Meeresspiegel, über 10 % des Landes liegen gar kaum höher als einen Meter und ein Drittel Bangladeschs liegt unter dem Gezeitenauslauf.9

Beinahe die gesamte Bevölkerung ist mehr als einer Kategorie von natürlichen Gefahrenereig-nissen ausgesetzt, ungeachtet des Einflusses von Klimaänderungen. Das Risiko Bangladeschs gegenüber extremen Wetterereignissen hängt nicht ausschließlich mit intensiveren und häufiger werdenden klimatischen Phänomenen zusammen. Bangladesch ist, so lässt sich fast sagen, von Natur aus jährlich, periodisch-wiederkehrenden extremen Wetterereignissen ausgesetzt. Der Klimawandel verschärft die Lage zusätzlich. Kritisch ist hierbei, dass die Anpassungskapazi-täten, um Vulnerabilität zu reduzieren, in weiten Teilen seit Jahren nicht ausreichen, um Miss-stände weitflächig zu beheben.

Aufgrund der flachen Topographie, gepaart mit dem Ganges-Brahmaputra-Meghna-Fluss-system (GBM) und den unzähligen Kanälen und Flussarmen, die sich durch das Land ziehen, und die hohe Bevölkerungsdichte, stellt besonders Salzwasserintrusion durch auftretende Flu-ten und Überschwemmungen ein Problem dar, da Meerwasser bis in das Land getragen wird. In den letzten drei Jahrzehnten stieg die Salinität im Land um die 26 %. Dabei breitet sich die Versalzung heute bis in küstenfernen Gegenden aus. Die Folge sind reduzierte Ernteerträge in der Landwirtschaft, beeinträchtigter Zugang zu Trinkwasserangebot und eine Veränderung der Böden.10 Im Zuge des Klimawandels wird eine Zunahme der Versalzung der Flüsse und Böden erwartet, wodurch eine zunehmende Verknappung von Frischwasser, Wasser zur Bewässerung und folglich Ernteerträge erwartet wird. Ein Rückgang von knapp 16 % der Reisproduktion in Küstenregionen wird erwartet, wodurch sich das Einkommen der dortigen Bauern erheblich verringern würde.11

Bodenversalzungen, Sturmfluten sowie Wellen, Gezeiten und die Winde des Südwest-Mon-suns rufen eine starke Erosion entlang des GBM-Flusssystems hervor. Ein Anstieg des Indischen Ozeans würde diesen Prozess dauerhaft verschlimmern. Nach Modellrechnungen hätte ein An-stieg des Meeresspiegels von einem Zentimeter einen Rückgang von durchschnittlich 0,87 m der Flussufer zur Folge. Dies bedeutet, dass sich ein Meeresspiegelanstieg in 87facher Weise auf den Rückgang der Ufer auswirken würde.12 Die Erosion der Flussufer ist im gesamten Land zu er-kennen. Der Jamuna, der Hauptstrang des Brahmaputra-Flusslaufs in Bangladesch, ist beispiels-weise höchst instabil. Seine Flussufer erodieren jährlich um durchschnittlich 70 m.13 Bewohner, die sich direkt an Flüssen niedergelassen haben, leben folglich in dauerhaften Gefahrenzonen. Auch hier soll unterstrichen werde, dass Erosionen kein ausschließliches Problem des Klima-wandels sind. Klimatischbedingte Veränderungen wie ein höheres Aufkommen von Fluten und eine hierdurch stärkere Versalzung verschärfen aber die Situation. Ein klimabedingter Meeres-spiegelanstieg würde dies zusätzlich dramatisieren.

Die mit dem Meeresspiegelanstieg zusammenhängende Erhöhung der Ozeantemperatur be-herbergt zudem das Risiko für ein häufigeres Auftreten von tropischen Stürmen im Golf von Bengalen. Bereits in der Karibik, an der Ostküste der USA und im Westen des Nordpazifiks sieht man einen Temperaturanstieg der Ozeane mit Sorge entgegen – jene Gebiete, die besonders von Hurrikans und tropischen Zyklonen betroffen sind. Im Golf von Bengalen geht man von einem Grenzwert der Meerestemperatur zwischen 26 und 27°C aus. Eine Erwärmung des Wassers über diese Temperatur hätte wahrscheinlich einen deutlichen Anstieg der Häufigkeit von tropischen Zyklonen zur Folge. Nun ist Bangladesch von tropischen Zyklonen im Vergleich zu anderen Gebieten, in denen tropische Wirbelstürme auftreten, eher gering betroffen. Lediglich 5,5 % der gesamten tropischen Zyklone treten im Golf von Bengalen auf. Global gesehen sind das we-niger als 1 % der weltweiten tropischen Wirbelstürme. Anhand dieser Zahlen ist Bangladesch nicht gerade als ein anfälliges Land gegenüber dieser Gefahr anzusehen. Allerdings, obwohl die Anzahl der auftretenden Wirbelstürme in Bangladesch gering ist, sind die Auswirkungen enorm. 53 % der weltweiten im Zusammenhang mit tropischen Wirbelstürmen stehenden To-desfälle geschehen in Bangladesch.14,15 Dementsprechend sind die Befürchtungen über eine Erwärmung des Golfs von Bengalen groß. Im Moment gibt es keinen Anstieg von tropischen Zyklonen.16 Allerdings steigt sowohl der Meeresspiegel des Indischen Ozeans als auch seine Temperatur, wodurch intensivere tropische Zyklone auftreten.17

Die größte Bedrohung stellen die Überschwemmungen innerhalb Bangladeschs dar. Ein Viertel des Landes ist jährlich überschwemmt, Schäden und Verluste beim Siedlungsbau, in der Landwirtschaft, Industrie und Infrastruktur sind die Konsequenz. Man unterscheidet generell zwischen vier Arten von Fluten: (1) Sturzfluten ( flash floods ), die in den östlichen und nörd-lichen Flüssen auftauchen. Sie steigen schnell stark an mit einer hohen Fließgeschwindigkeit. Sie entstehen durch heftige Regenfälle in den benachbarten Bergen, meist in der Vor-Monsun-saison. (2) Flussfluten ( riverine floods ), die durch das Überlaufen von Flüssen und ihren Neben-flüssen entstehen. Verursacht werden sie durch die Schneeschmelze im höheren Himalaya und durch starken Monsunregen im nördlichen Teil Zentralindiens. Die Flussfluten erreichen ein besonders verheerendes Level, wenn die Flüsse simultan ihre Höchststände erreichen. (3) Re-genfluten ( rain floods ) sind die Fluten, die ihren Ursprung in Bangladesch haben. Sie treten durch intensiven Regenfall während der Monsunzeit innerhalb des Landes auf. Und letztendlich (4) Sturmfluten ( storm surge floods ), die in den Küstenregionen durch tropische Zyklone hervor-gerufen werden.18

(1) bis (3) weisen eine Verbindung zum Monsun auf, der meist von Juni bis September/Ok-tober dauert. Die erste Sequenz der jährlichen Überschwemmungen beginnt in den östlichen und nördlichen Regionen Bangladeschs mit Einsetzen der Vor-Monsun-Stürme im April und Mai. Der Meghna und der Jamuna steigen aufgrund der Schneeschmelze im Himalaya und der Vor-Monsun-Stürme im Frühjahr und erreichen normalerweise ihre Höchststände während des Julis und Augusts. Der Flusslauf des Ganges steigt im Mai/Anfang Juni mit dem Einsetzen des Monsuns und erreicht seinen Peak im August/September. Im Schnitt fallen alle sechs Jahre die Höchststände der Flüsse zusammen, worauf das Land großflächig überschwemmt wird. Enor-me Ernteverluste sind hierbei die Folge, auch weil beide Erntephasen im Land von den Über-schwemmungen betroffen sind.19

Anhand der einzelnen Faktoren lässt sich Bangladesch als ein katastrophenanfälliges Land cha-rakterisieren. Doch durch die immer wiederkehrenden Ereignisse haben die Einwohner gelernt, mit den Extremereignissen zu leben und entwickelten über Generationen hinweg innerhalb ihrer Familien Anpassungsmaßnahmen. Anpassung gegenüber gefährlichen Naturereignissen ist so gesehen eine Familientradition. Normale Fluten stellen für sie lediglich eine geringe Gefahr dar, auch wenn sie für uns als Katastrophen erscheinen. Bedrohlich sind jedoch die Fluten, bei denen das Wasser früher und schneller als gewöhnlich steigt oder die Höchststände der Flüsse zusam-menfallen. Sowohl bei einem schlimmen als auch bereits bei einem moderaten Klimawandel wird eine Zunahme der Fluten erwartet. Unter jedem SRES-Szenario wird der Monsunregenfall in-tensiver werden. Damit verändert sich das Einsetzen der Fluten, wobei die Wahrscheinlichkeit für eine Synchronisation der Höchststände aller drei großen Flussläufe steigt.20 Hinzu kommt der steigende Meeresspiegel und eine stärkere Schneeschmelze im Himalaya im Zuge steigender Temperaturen. 2017 war für Bangladesch das schlimmste Monsunjahr seit 40 Jahren. Ein Drittel des Landes war überschwemmt, mindestens 145 Bangladeschi kamen ums Leben, schätzungs-weise 307 000 wurden in Notunterkünften untergebracht und 700 000 Häuser wurden beschädigt oder zerstört.21 Nach Greenpeace könnten im schlimmsten Fall 75 Millionen Menschen in Bang-ladesch gezwungen sein, bis zum Ende des 21. Jahrhunderts ihre Heimat aufzugeben.22

Zusätzlich zu den Überschwemmungen haben immer mehr Bangladeschi mit Dürren zu kämpfen, besonders jene in den ariden und semiariden Gebieten im Nordwesten des Landes. Der Regen, der durch den Südwest-Monsun von Mai bis Oktober in das Land kommt, ist stark variabel. Bleiben die Regenfälle aus, haben die betroffenen Regionen unter Wasserstress zu lei-den, Dürren treten ein und Ernteeinbrüche in der Landwirtschaft sind die Folge. Dabei entsteht eine gefährliche Kausalkette. Fehlt Wasser zur Bewirtschaftung der Felder, werden die restlichen Wasserreserven von den Bauern ausgeschöpft, daraufhin schwindet das Trinkwasser in den Dörfern und die Menschen greifen auf kontaminiertes Wasser zurück, was letztendlich gesund-heitliche Konsequenzen hat. Ebenso wie eine Zunahme der Niederschläge erwartet wird, wird mit einer Zunahme von Dürrephasen gerechnet.23

In den Jahren 1988 und 1998 wurde Bangladesch von Überschwemmungen heimgesucht, die zu den schlimmsten der jüngeren Geschichte zu zählen sind. Die Flut 1988 war hauptsäch-lich eine Flussflut ( riverine flood ) und setzte sich aus drei einzelnen Fluten zusammen. Starke Regenfälle im Nordosten Bangladeschs und in der nördlich von Bangladesch gelegenen indi-schen Region Meghalaya ließen die Pegel des Meghnas und Brahmaputras vor dem Beginn der Monsunsaison stark ansteigen. Etwa zwischen dem 10. und 15. Juli erreichten die beiden Flüsse einen gefährlichen Höchststand. Ende August setzte zusätzlich nördlich von Bangladesch (Nordostindien, Nepal und Bhutan) für zehn Tage außergewöhnlich starker Regen ein. Enorme Wassermaßen kamen daraufhin von außerhalb in das Land. Zu dieser Zeit verzeichneten die Regionen im Nordosten und Nordwesten Bangladeschs selbst täglich über 100 mm, teilweise sogar 226 mm Regen. Nach zehn Tagen verzeichnete man in jenen Gebieten zwischen 500 mm und 1212 mm Regen. Die Folge waren schlimme Fluten Anfang September. Der Brahmaputra (Jamuna) erreichte seinen Höchststand am 30. August, der Ganges und der Meghna am 2. bzw. 7. September. Aufgrund des starken Anstiegs der drei Flüsse zur annähernd selben Zeit bra-chen zahlreiche Dämme im Land. Der Jamuna erreichte eine Breite von über 50 km. Sein Rück-stauwasser brachte benachbarte Flussbecken zum Überlaufen. Offizielle Angaben sprechen von einer überfluteten Fläche von über 80 000 km2 bei den 1988er Fluten, was mehr als die Hälfte des gesamten Landes ist. 53 der 64 Staatsbezirke waren davon betroffen sowie zwei Drittel der Hauptstadt Dhaka.24 Besonders die Überflutung ländlicher Gebiete verursachte schwere Ver-luste bei der kharif -Ernte25. Die Agrarwirtschaft stellt einer der wirtschaftlichen Hauptsektoren des Landes dar. Besonders in den ländlichen Gebieten ist sie die Haupteinnahmequelle. 70 % der Beschäftigten im Agrarsektor sind in ländlichen Gebieten situiert. Bei den Fluten wurden mehr als 2 Millionen Tonnen der nationalen Reisproduktionen zerstört. Mehrere Faktoren bewirkten, dass die Flut so verheerend ausfiel: hoher Wasserzufluss von flussaufwärtsgelegenen Gebieten, starker Regenfall im Flusseinzugsgebiet innerhalb des Landes, Gezeitenaktivitäten, simultanes Erreichen der Höchststände der drei Hauptflüsse sowie ihr Weiterströmen in Nebenflüsse. Wie gravierend die Situation war, zeigt sich in der Dauer der kritischen Flussstände: Der Brahma-putra stand 27 Tage über einem gefährlichen Level, der Meghna gar 68 Tage, die Gewässer des Ganges 23 Tage. Insgesamt waren 45 Millionen Menschen direkt von den Fluten betroffen, über 2000 Menschen ließen ihr Leben.26 Der physische Schaden war enorm. 7,2  Millionen Häu-ser waren zerstört oder beschädigt. Um Infrastruktur, Kraftwerke, Dämme, Häuser, öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser oder Schulen wiederherzurichten und um den Verlust der Landwirtschaft durch Exporte auszugleichen, mussten 45 % des bangladescher Entwicklungs-budgets verwendet werden. Ebenso brachten die Fluten einschneidende sekundäre Effekte mit sich: Viele Bauern gerieten in Armut, die Arbeitslosigkeit stieg und eine erhöhte urbane Mig-ration trat ein.27 Mit dem Eintritt der Überschwemmungen verschärfte sich auch die politische Lage im Land. Der Widerstand gegenüber der Regierung wuchs, Unruhen entstanden und ein zweijähriges politisches Chaos führte letztendlich zum Sturz des Präsidenten.28 Die Katastro-phe mit anschließendem Konflikt erwuchs somit aus einer vielschichtigen Situation. Zunächst traten die Überschwemmungen in einer Zeit ein, in der die Lage des Landes als destabil galt, dann fielen die Überschwemmungen deutlich verheerender als üblich aus und die Regierung war nicht in der Lage, entsprechend auf die Katastrophe zu reagieren, wodurch die Unruhen befeuert wurden.

Zehn Jahre später wurde das Land von einer Flut heimgesucht, die als Jahrhundertflut be-zeichnet wird. Auch im Frühjahr 1998 stiegen die Flüsse aufgrund der Schneeschmelze im Hi-malaya an, doch zusätzlich traten tropische Stürme mit ungewöhnlich starken Niederschlägen ein. Als erstes waren das Einzugsgebiet des Meghnas in Nordosten und die Hügelregionen im Südosten von den Regenschauern betroffen. Von außerhalb des Landes flossen zudem Was-sermassen in das Land, wodurch in der dritten Juliwoche die Wasserstände des Brahmaputras sowie des Ganges im Westen Bangladeschs rapide anstiegen. Bereits am 28. Juli waren 30 % des Landes überschwemmt. Die Wochen danach verliefen ohne große Änderungen im Flutverlauf, bis Ende August der Ganges und mit ihm verbundene Flusszweige scharf anstiegen und Anfang September der Höchststand erreicht wurde. Über 100 000 km2 des Landes waren von der Flut betroffen. Zwar waren die Höchststände der einzelnen Flüsse im Jahre 1998 annähernd gleich zu der Flut zehn Jahre zuvor (im Schnitt überstiegen sie in beiden Jahren die gefährlichen Peak-Stände von 11,45 m), allerdings flossen 1998 die Wassermassen teils weitaus länger über einem gefährlichen Level (der Wasserstand des Brahmaputras war 66 Tage lang über seinem gefähr-lichen Stand, der Meghna 68 Tage, der Ganges 27 Tage).29

Obwohl die 1998er Flut schlimmer als zehn Jahre zuvor ausfiel, konnten die Auswirkungen geringer gehalten werden. Dies verdankte man den Jahren zuvor getätigten Investitionen in Ent-wicklung und den Schutz vor Fluten. Somit waren im Vergleich zur Flut 1988 14 Millionen Menschen weniger direkt betroffen, 1000 Menschen kamen weniger ums Leben und weniger als eine Million Häuser wurden verwüstet. Die Gegenüberstellung der 7,2 Millionen betroffenen Häusern 1988 und der einen Million Häusern 1998 zeigt, dass die Erhöhung der Widerstands-fähigkeit eine noch größere Katastrophe verhindert hat. Dennoch wurden durch die Fluten 1998 über 2 Millionen Tonnen Reis zerstört.30 Dieser Ernteschaden verursachte einen Rückgang von 1,5 % des gesamten BIP Bangladeschs. Trotz dieses Schadens hielt sich der gesamte wirtschaft-liche Verlust verhältnismäßig in Grenzen.31 Indem bereits Anfang der 1990er der private Sektor für Reisimporte liberalisiert wurde, konnte die Wirtschaft auf die Nahrungsmittelverluste den Umständen entsprechend gut reagieren. Hilfsprogramme der Regierung taten ihr Übriges, so-dass eine Nahrungsmittelkrise verhindert werden konnte.32

Jedoch hat auch die Jahrhundertflut langfristige Folgen verursacht. Nicht bei jedem Haushalt kamen die Hilfsprogramme an. Insbesondere sehr arme Familien litten darunter, da ihnen die finanziellen Mittel fehlten, um den Versorgungsverlust zu kompensieren. In solchen Zeiten von knappen Nahrungsressourcen sind Säuglinge und Kleinkinder die am schwersten betroffenen Bevölkerungsgruppen. Die Langzeitwirkungen von Unterernährung zeigen sich in einer lang-sameren kognitiven und psychomotorischen Entwicklung, zahlreichere Verhaltensprobleme, geringere Bildungsleistungen und in einer kleineren Körpergröße im späteren Alter. Darüber hinaus steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Arbeitsproduktivität der Betroffenen geringer aus-fällt. Diese Entwicklungshemmnisse können sich nachhaltig negativ auf das Lohnniveau der Betroffenen auswirken. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Mangelentwicklung über Gene-rationen weitervererbt werden kann.33

Weitere langfristige Folgen von Fluten sind die auftretenden Epidemien. Im verschmutzten und kontaminierten Wasser befinden sich verschiedene Erreger von Diarrhö oder Atemwegs-infektionen. Auch hier bilden Kleinkinder die verwundbarste Gruppe. Die durch die Fluten her-vorgebrachten Infektionen und Durchfallerkrankungen stellen beinahe die gesamten auftreten-den Erkrankungen bei Kindern während einer Katastrophe dar. Solche Erkrankungen können während Katastrophenzeiten zum Tode führen.34

Trotz der immer wiederkehrenden Fluten, entstehen nach wie vor während der Monsunzeit hohe Schäden und Verluste. Das Bevölkerungswachstum in Bangladesch ist nach wie vor über-durchschnittlich. Land zum Bauen ist knapp, wodurch neue Siedlungen in überschwemmungs-gefährdeten Ebenen errichtet werden. Folglich nimmt der Faktor exposure gravierenden Ein-fluss auf die Risikobildung. In den höchst verwundbaren Gebieten hausen häufig marginalisierte Gruppen wie Geringverdiener, Arbeitslose, Witwen oder geschiedene Frauen, Menschen mit Behinderungen, kulturelle oder religiöse Minderheiten. Neben den klimatischen und hydrolo-gischen Auswirkungen stellt eine degradierte und kontaminierte Umwelt ein weiteres Problem dar. Wirtschaftszweige wie das Gerben oder das Schiffabwracken werden ohne Schutz- und Vor-sorgemaßnahmen ausgeübt, sodass giftige Chemikalien und Schwermetalle über Boden oder Flüsse abgeführt werden. Durch Fluten breiten sich diese Stoffe weiter aus. Viele Behausun-gen sind lediglich Holz- und Blechhütten, die gegenüber Extremereignissen keine ausreichende Widerstandsfähigkeit aufweisen. Jedes Jahr treffen täglich während der Monsunzeit unzählige Menschen in den Großstädten, hauptsächlich in der Hauptstadt Dhaka, ein, die ihre Behausun-gen, ihr Land oder ihre Familienangehörigen beim Hochwasser verloren haben. Dies hat eine schnelle Urbanisierung zur Folge, die kaum durch Stadtplanung gelenkt wird. Durch die hohe Bevölkerungsdichte und die nach wie vor hohe Armut haben die Migranten meist keine andere Möglichkeit als in dürftigen Behausungen in anfälligen Gebieten zu wohnen. Unter den Men-schen, die es in die Städte treibt, befinden sich viele kleine Kinder, die den beschwerlichen und lebensgefährlichen Weg vom Land in die Stadt auf überfüllten Zugdächern auf sich genommen haben, mit der Hoffnung, in der Stadt Arbeit zu finden. Zu den landeseigenen Krisen tritt die Flüchtlingskrise der Rohingya hinzu.

Seit Ende August 2017 sind 700 000 Rohingya nach Bangladesch geflohen, um der ethnischen und religiösen Verfolgung in ihrem Heimatland Myanmar zu entkommen. Sie sind in einem Flüchtlingscamp nahe der Stadt Cox’s Bazar untergebracht, das mittlerweile das größte Flücht-lingslager der Welt ist. Das Land ist nicht in der Lage, die Krise zu bewältigen. 1,3 Millionen Menschen, sowohl Flüchtlinge als auch Einheimische, sind im Zuge der Flüchtlingswelle auf Hilfe angewiesen. Eine Widerstandsfähigkeit gegenüber Monsunregen und möglichen Zyklo-nen existiert im Grunde nicht.35

Bangladesch ist bereits ohne den Einfluss des Klimawandels ein verwundbares Land. In den letzten Jahren hat das Land wichtige Fortschritte gemacht, auch um die Gefährdung durch den Klimawandel abzuschwächen. Maßnahmen gegen den Klimawandel wurden in die na-tionale Planung implementiert, die eine solide Basis darstellt, um unter der Mitwirkung der internationalen Staatengemeinschaft die Vulnerabilität herabzusetzen. Des Weiteren konnte die Armut im Zuge des nationalen Entwicklungsprogramms verringert werden. Der landwirt-schaftliche Sektor wurde mithilfe von Strukturänderungen im Agrarbereich widerstandsfähi-ger gegenüber Extremereignissen gemacht. Mit der Installierung von Bewässerungsanlagen wurde die Reisproduktion in der Trockenzeit vergrößert und die Agrarwirtschaft wurde auf dem internationalen Markt integriert.36 Dennoch stellt der Klimawandel das Land vor einer Mammutaufgabe. Nachdem der Klimawandel mittlerweile als Punkt im nationalen Entwick-lungsprogramm aufgenommen wurde, muss dieser auch auf lokaler Ebene umgesetzt wer-den. Teilweise liegt hier noch der Fokus größtenteils auf klassische Entwicklungsfragen wie Probleme betreffend Armut und Geschlecht, ohne die Resilienz gegenüber Klimafolgen in Entwicklungsziele miteinzubinden.37 „Wir können nicht vor den zerstörerischen Auswirkun-gen eines sich verändernden Klimas fliehen“, so das Ministerium für Umwelt und Wälder in Bangladesch. Es gäbe keine andere Wahl als sich anzupassen. Nicht nur um Schäden und Ver-luste gering zu halten, sondern um überhaupt das Überleben der Menschen Bangladeschs zu garantieren.38 Neben der Entwicklungsherausforderung in einem der ärmsten und verwund-barsten Länder dieser Welt, stellt die Rohingya-Flüchtlingskrise Bangladesch vor einer zu-sätzlichen Herausforderung. Hierdurch werden die nationalen Entwicklungsstrategien noch schwerer umzusetzen sein.

7.2 Darfur – der erste Klimakrieg?39

In den Medien wurde über den Darfur-Konflikt im Sudan Mitte des letzten Jahrzehntes das Bild eines Genozids vermittelt. Im Grunde bekämpfen sich in der Region Afrikaner und Araber ge-genseitig. Versucht man näher die Umstände zu überblicken, sieht man sich recht schnell einem komplexen Wirrwarr von Problemen gegenüberstehend. Als sich der letzte Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon 2007 über die Lage in Darfur und die Gründe des Konflikts äußerte, wies er darauf hin, dass der Darfur-Konflikt inmitten diverser politischer und sozialer Umstände als eine ökologische Krise begann, die teils auf den Klimawandel zurückzuführen sei.40 Der Soziologe Harald Welzer sieht im Darfur-Konflikt gar den ersten Klimakrieg.41 Auch der Afrikaexperte Stephan Faris führt den Auslöser des Konflikts auf Umweltdegradation zu-rück.42 Dies gibt Anlass, den Konflikt an dieser Stelle als konkretes Beispiel zu beschreiben, um zu sehen, wie Umweltveränderungen im Zusammenhang mit einem gewaltsamen Konfliktaus-trag und einer daraus resultierenden humanitären Katastrophe stehen. Allerdings stellte es sich bei der Erarbeitung dieses Unterkapitels als äußerst schwer heraus, wie weit die Ausführungen reichen sollten. Eine ausschließliche Erläuterung der jüngeren Geschehnisse eröffnet einen zu unpräzisen Blick auf die Geschehnisse. Vielmehr müssten sie im historischen Kontext betrachtet werden. Eine umfangreichere Schilderung, die den Auswirkungen des Konflikts eher gerecht werden würde, würde hingegen den Umfang dieser Arbeit sprengen. So hoffe ich, dass ich im Folgenden das richtige Maß gefunden habe, um den Konflikt annähernd in seinen groben Zü-gen und mit seinen relevanten Hintergründen darzustellen, um zu zeigen, inwiefern die Umwelt bzw. das Klima Einfluss auf den Konflikt nahmen.43

Darfur liegt im Westen des Sudans und ist aufgrund seiner Verkehrswege auch heute noch ein isoliertes Gebiet. Die Gesamtregion lässt sich in drei Gebiete einteilen: der trockene Nor-den am Rande der Wüste, mit einem jährlichen Niederschlag von 300 mm, in dem hauptsäch-lich Nomaden zu finden sind; der Westen Darfurs, der das zentrale Gebiet darstellt, mit einem jährlichen Niederschlag von 500 mm, der von sesshaften Bauern bewohnt wird, die haupt-sächlich Hirse, Mais, Sesam, Okra, Tomaten und Zwiebeln anbauen; und der Süden, der mit einem Niederschlag zwischen 800 und 900 mm im Jahr das ertragreichste Gebiet in Darfur ist, folglich eine höher entwickelte Landwirtschaft aufweist und in dem Zitrusfrüchte, Man-gos oder Erdnüsse angebaut werden können. Geographie und Klima bestimmen bis heute die Ökonomie und Ansiedlungsgebiete in der Region. Generell ist die Ökonomie von Landwirt-schaft und Viehzucht geprägt, sodass die Grundstruktur der regionalen Ökonomie autark ist. Die Bevölkerung besteht in Darfur aus einem komplexen ethnischen Mosaik, einem kom-plexen Gefüge von arabischen und afrikanischen Stämmen, so der Historiker und Ostafrika-spezialist Gérard Prunier. Schwierig ist es, die ursprüngliche Bevölkerung vor der Ankunft des Islams im 14. Jahrhundert nachzuzeichnen, da die Bewohner schriftlos waren.44 Während der letzten Jahrhunderte siedelten sich zahlreiche Stämme von Westen und Osten kommend in der Region an. Man geht davon aus, dass es sich um mindestens 36, höchstens aber 150 Stämme handelt, die in Darfur leben, je nachdem welche Kriterien zur Unterscheidung der einzelnen Gruppen verwendet werden. Während der Machtphase des unabhängigen Sultanats Darfur vermischten sich bzw. verschwanden über die Jahrhunderte die individuellen Merk-male der einzelnen Gruppen: teilweise gaben „Afrikaner“ ihre Sprache für das Arabische auf oder durch intertribale Heiraten oder Sklavenkonkubinen verwischten sichtbare ethnische Merkmale. Heute weist jeder der Bewohner eine schwarze Hautfarbe auf. Die heutige Unter-scheidung der beiden Gruppen geht somit nicht auf äußere Merkmale zurück, sondern auf die ursprüngliche Lebensweise: „Araber“ werden als Nomaden angesehen, die im Gegensatz zu den sesshaften „Afrikanern“ als arm angesehen werden, wobei letztere wiederum als wild be-zeichnet werden. Zwar lebten auch im Sultanat beide Ethnien nicht in Frieden, jedoch wurden keine Kämpfe zwischen Afrikanern und Arabern ausgefochten. Falls es Konflikte gab, fanden diese unter bestimmten, einzelnen Gruppen statt. Mit dem Verlust der Unabhängigkeit 1916 und der erzwungenen Zuteilung zum Sudan, zogen in Darfur Probleme ein, die nicht die seinen waren, die die Region aber allmählich ins Chaos stürzten. Die Region Darfur sah sich immer als ein Glied an, das sich als zur Sahelzone dazugehörend fühlte. Der Staat Sudan richtete sich hingegen nach Osten in Richtung Nilgebiet. Damit gab es seit Anbeginn Identi-fikationsschwierigkeiten zwischen der Darfur-Region und dem restlichen Staat Sudan: Darfur wurde zu einer peripheren Provinz.45

Mit der Kolonialzeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter der Herrschaft des ang-lo-ägyptischen Kondominiums verarmte Darfur sowohl wirtschaftlich als auch sozial. Unter-entwicklung prägte von nun an die Region. Das Kondominium kümmerte sich kaum, höchs-tens nebensächlich um Darfur und die Bewohner litten in den kommenden Jahrzehnten immer mehr unter der Entfremdung der sudanesischen Hauptstadt Khartum. Mit dem Verlassen der Briten und der folgenden Erlangung der Unabhängigkeit Sudans im Jahre 1956, begannen die Auseinandersetzungen zwischen dem muslimisch, arabisch geprägten Norden und dem christ-lich geprägten Süden im Land. 51 Jahre sollten von nun an die Kämpfe zwischen den „traditio-nellen Feinden“46 gehen, mit zwei Bürgerkriegen von 1955 bis 1972 und 1983 bis 2005, die beide über drei Millionen Menschenleben forderten. Einschneidendes Ereignis in dieser Konfliktkon-stellation war die Erlangung der Unabhängigkeit für den Südsudan 2011, woraufhin sich die Lage beruhigte.47

Politisch geriet der Sudan zunächst nach seiner Unabhängigkeit vom anglo-ägyptischen Kon-dominium in eine Diktatur, bevor 1965 durch Wahlen und einer neuen Verfassung die De-mokratie ausgerufen wurde. Die Lage im Darfur änderte sich daraufhin allerdings nicht, viel-mehr leitete dies die Krise ein. Es standen damals drei Verfassungen zur Auswahl, wovon eine einen rein islamischen Hintergrund hatte. Doch selbst der muslimische Teil Darfurs war gegen solch eine muslimische Verfassung, da die Bewohner, „obwohl Muslime, eine islamische Ver-fassung als einen Trick [der zukünftigen Regierung, Anm. d. Verf.] ansahen, die Vorherrschaft des Nord- und Zentralsudans unter dem Schutz einer islamischen und arabischen Kultur zu festigen, was die Marginalisierung der Bevölkerung im Süden, Westen und Osten fortschreiben würde“48. Der Islam als Instrument der Politik fing an zu bröckeln. Die Verfechter einer isla-mischen Staatsverwaltung wurden von nun an abwertend als „Araber“ bezeichnet, oftmals von Leuten, die selbst arabischen Ursprungs waren. Hinzu kamen Spezifikationen wie „Söhne des Landes“, um sich von den „eingeborenen Arabern“ abzugrenzen. „Dies war der Beginn einer akrobatischen Übung in ethnischer Semantik, die zur Schaffung einer tödlichen ideologischen Maschinerie beitragen sollte.“49 Bereits bei den zweiten Wahlen 1968 wurde auf politischer Ebe-ne angefangen, durch überbetonte rassisch-kulturelle Rhetorik Wählerstimmen zu fangen. Die Umma-Partei, die im Darfur seine Hochburg hatte, befand sich in einer Krise und fing an sich in zwei verschiedene Organisationen zu spalten. Dabei versuchten die nun zwei neu entstan-denen politischen Lager mit demagogischen Mitteln Wählerstimmen bei den „afrikanischen“ bzw. „arabischen“ Stämmen zu ergattern, indem sie die jeweilige andere Gruppe für die Misere verantwortlich machten. In Wahrheit gab es jedoch keine rassische oder kulturelle Marginalisie-rung, sondern Darfur wurde von der Politik in der sudanesischen Hauptstadt Khartum regio-nal marginalisiert. Mit einem Militärputsch 1969 waren die politischen Streitereien verflogen, allerding drang die Ethnisierung in der Bevölkerung so tief ein, dass sie sich festsetzte. Mit dem Ausbruch des Bürgerkrieges im westlich benachbarten Tschad, in dem Muslime im Norden gegen die christlich geführte Regierung im Süden kämpften, verschärfte sich auch die Lage in Darfur zunehmend, da unter anderem in Darfur die Gefechte des tschadischen Bürgerkrieges ausgetragen wurden. Als Oberst Muammar Gaddafi in Libyen die Macht an sich nahm und sich in den Konflikt im Tschad einmischte, verkomplizierte sich die Lage zusehends. Gaddafi erhob Anspruch auf den lybisch-tschadischen Grenzstreifen Aouzou und als damaliger Verfechter des Panarabismus strebte er eine arabische Überlegenheit in Norden Afrikas an. Er unterstützte die nördlichen Kämpfer des Tschads, aufgrund der Tatsache, da sie gegen den christlich, schwarz-afrikanischen Präsidenten kämpften.50 Dafür gründete, trainierte und unterstützte er unter an-derem die Islamische Legion und die Arab Gathering, Gruppen, die im Darfur und im Tschad die Afrikaner zurückzuschlagen und neuen Platz für die Araber schaffen sollten.51 Gaddafi se-parierte auch in seinem Land Bevölkerungsgruppen. Für ihn waren nicht alle Araber Araber, die in Libyen bleiben sollten bzw. durften. Sogenannte zurqa , eine abfällige Bezeichnung für arabische Beduinen, waren zu diesem Zeitpunkt in den Grenzregionen Libyens und des Tschad angesiedelt. Als Gaddafi seine Separierungspolitik einleitete, flohen sie in den Darfur. Zu dieser Zeit, in den frühen 1970er Jahren, herrschte in der Sahelzone eine Dürre und Hungersnot. So verschärfte sich die Lage durch die migrierenden zurqa i n Darfur weiter, da die „Afrikaner“ die Flüchtlinge als gefährliche, hungrige „Araber“ ansahen. In diesem Zusammenhang goss die Migration im Rassenkonflikt weiter Öl ins Feuer. Da sich der Bürgerkrieg im Tschad durch die Einmischung Libyens und auch des Sudans zuspitzte, woraufhin die Region Darfur unfreiwillig tief in den Bürgerkrieg geriet, nahm die Ethnisierung weiter zu und verwirrende Bezeichnungen entstanden. Die Bewohner Darfurs sahen sich berufen entweder zurqa 52 oder „Araber“ zu sein, wobei mit zurqa nicht mehr die Beduinen aus Libyen bezeichnet wurden, sondern nun die in Darfur lebenden „Afrikaner“, die zuvor in den zurqa gefährliche und hungrige „Araber“ sahen. Durch immer wiederkehrende Dürren in den 1970er Jahren verschlechterte sich die ökologische Situation und die Landschaft litt unter Versteppung. Besonders im Norden Darfurs bedrohte die einsetzende Umweltveränderung die Lebensgrundlage der dort heimischen arabischen Halbno-maden. Da die Regenfälle ausblieben und die nördlichen Gebiete nicht mehr landwirtschaftlich nutzbar waren, wurden die Halbnomaden mit ihren schwindenden Tierherden zu Vollnomaden und zogen mit der Ausbreitung der Wüste in Richtung Süden. Dort stießen sie auf das verblei-bende Weideland der sesshaften Bauern. Zwischen 50 und 200 km hat sich bis heute im Zuge des zurückgegangenen Niederschlags die Grenze von Halbwüste und Wüste gen Süden verlagert. Durch die schwindenden Niederschläge wird sich die Wüste weiter in das Zentrum Darfurs verschieben, wodurch die Agrarwirtschaft als größter Wirtschaftssektor des Landes mit einem chronisch, nachhaltigen Umweltproblem konfrontiert wird.53 Auf ihren Weg in den Süden fan-den die Nomaden heruntergekommene Wasserversorgungen vor, da die Region keinerlei Unter-stützung von der Zentralregierung mehr erhielt und sich die Regierung seit langer Zeit nicht mehr um die Aufrechterhaltung der Infrastruktur kümmerte. 1984 kam es dann letztendlich zur Hungersnot, nachdem die Regierung auf internationale Warnungen nicht reagierte. Diese betraf den ganzen Sudan, wobei Darfur am schlimmsten davon betroffen war. In dieser Hungersnot zwischen August 1984 und November 1985 kamen schätzungsweise 95 000 der 3,1 Millionen Einwohner Darfurs ums Leben. Anfang April 1985 kam es zu Aufständen und nach fünftägigen Straßenkämpfen war das Regime in Khartum gestürzt, das 1969 durch den Putsch die Macht an sich nahm. In Darfur lagen nach der Hungersnot die ethnischen Wunden bloß.54

Um seine Macht auszuweiten, unterstützte der libysche Präsident Gaddafi die arabischen Stämme in Darfur. Die Regierung Sudans konnte dies Gaddafi nur schwer verweigern, da die sudanesische Regierung mittlerweile selbst mit der Unterstützung Gaddafis im Süden des Lan-des gegen die 1983 gegründete Sudanesische Volksbefreiungsarmee ( Sudan People’s Liberation Army, SPLA) um ihren Anführer John Garang kämpfte. Im Zuge der Dürren und Hungersnot eigneten sich die Bauern jedes möglich kultivierbare Land an. Die Folge war eine Art land-wirtschaftliche Blockade im zentralen Korridor Darfurs, wodurch die Nomaden keinerlei Wege mehr in den Süden fanden, um an Weideflächen zu gelangen. Fehlende Landnutzungsrechte spielten dabei eine entscheidende Rolle, dass die Situation eskalierte. Die Nomaden sahen ihre einzige Möglichkeit in den Süden zu kommen darin, sich durch das Land zu kämpfen. Der Umstand, dass die Bauern üblicherweise das Wildgras abbrannten, weil es für sie als Unkraut galt, dieses allerdings für die Nomaden und ihre hungernden Herden das letzte Futter war, hat durchaus symbolische Tragweite für die komplexe und prekäre Situation im Darfur. „Die ‚moralische Geographie‘ Darfurs […] war durch die Dürre, das Herumirren der Menschen auf der Suche nach Nahrung und die gewaltige Bevölkerungsverschiebung mental und kulturell dauerhaft beschädigt worden.“55 Die Stämme fanden die Schuldigen für die Hungersnot und die eskalierende Lage untereinander. Sie sahen andere Stämme als Diebe und Mörder an. Der Rassenhass zwischen „Arabern“ und „Afrikanern“ nahm weiter zu. Der Tschadkrieg erreichte unterdessen seinen Höhepunkt und die „arabischen“ Stämme in Darfur wurden in den Grenz-krieg verwickelt. Der Krieg im Tschad und der nun herrschende Bürgerkrieg im Darfur waren untrennbar miteinander verflochten. Die einheimische Ökonomie war zusammengebrochen, die Regierung in Khartum stand der politischen Rebellion gegenüber und leistete keine Hilfe. Die Lage in Darfur war nicht mehr kontrollierbar und man überlies die Region sich selbst. Li-bysche Söldner verkehrten im Darfur, die den arabischen Nomaden ausgehändigten libysche Waffen überschwemmten die Region (z. B. kostete zu der Zeit eine Kalaschnikow 40 US-Dollar), libysche Währung kursierte. Die Lage wurde von da an undurchsichtig; jeder kämpfte scheinbar gegen jeden. Eine neue Dürre im Land ließ zudem erneut die Lebensmittel knapp werden. Im Mai 1989 handelten die Stämme untereinander ein Friedensabkommen aus. Man erkannte, dass sie hauptsächlich von Libyen instrumentalisiert wurden und die Zusammenstöße weitestgehend von Libyen zugunsten deren Interessen im Tschad gefordert wurden. In der zweiten Hälfte des Jahres kehrte nach langer Zeit Frieden im Darfur ein. Mittlerweile war eine neue Regierung im Sudan an der Macht, die jedoch die gleiche Haltung zum aufständischen Süden einnahm wie die Regierung zuvor: Die neue radikalislamische Regierung in Khartum sah sich mit den Befreiungskonflikt des Südsudans konfrontiert, wodurch die Darfur-Region in Vergessenheit geriet. Gaddafi bot erneut der Regierung Waffen an, um die Freiheitsarmee im Süden Sudans zu bekämpfen. Im Gegenzug sollte er Darfur bekommen. Gadaffi unterstützte letztendlich das radi-kalislamische Regime in Khartum mit Waffen, Öl und Geld. Weiterhin unterstützte er die „ara-bischen“ Milizen, die nach dem Friedensvertrag wieder anfingen, die „afrikanischen“ Dörfer zu überfallen, sie niederbrannten und Brunnen vergifteten. Der Konflikt zwischen dem Tschad und Libyen mündete erneut in einen Bürgerkrieg im Darfur. Mit dem Einfallen Libyens im Tschad war der Dreißigjährige Krieg zu Ende und Darfur befand sich im Chaos. Nachdem tschadische und libysche Truppen den Darfur nach Beendigung des Krieges verlassen haben, übernahm die SPLA die Führung in Darfur, um die Region wieder zum Sudan zu führen. Sie verfolgte das Konzept eines vereinigten, neuen Sudans und die Randgebiete gegen die arabisch-islamistische Regierung zu vereinen. Die Führung wurde jedoch von der neuen, der Theorie nach föderalen Regierung Sudans, militärisch beendete. In Darfur herrschte nun eine Zeit der Unsicherheit mit gelegentlichen Übergriffen.56

Ende 1999 begann in Khartum ein verwirrendes Spiel auf politischer Ebene. Im ausgerufenen Notstand wurde unter anderem der islamradikale Generalsekretär der Kongresspartei Hassan al-Turabi entlassen, der daraufhin seine eigene Partei gründete und ein Bündnis mit der SPLA einging. Damit stellte er sich auf einmal auf die Seite der Südsudanesen. Gemeinsam verfolgten sie ihr Ziel die Regierung zu stürzen. Mithilfe der eritreischen Regierung kamen sie an Waffen, die sie 2001 mit Gewalt nach Darfur bringen wollten. Doch bevor die Offensive in Darfur be-gann, wurde sie niedergeschlagen. 30 000 Menschen flüchteten zu Fuß in Richtung der darfuri-schen Stadt Nyala und die Regierung gewann den Boden zurück. Mittlerweile schalteten sich in-ternationale Regierungen wie die der USA, Norwegens, Großbritanniens, Frankreichs oder der kenianische Präsident ein. Allerdings nicht um die Krise in Darfur zu beseitigen, sondern um an den Frieden zwischen dem Nord- und Südsudan zu appellieren. Mehr auf internationalem Druck als aus eigener Überzeugung unterzeichneten die sudanesische Regierung und die SPLA ein Übereinkommen. Währenddessen wurden al-Turabis Waffen in den Darfur gebracht und im Frühjahr 2004 nahmen die Augen der Weltgemeinschaft die Katastrophe wahr. Darfur stand in Flammen, 80 000 Menschen wurden getötet und mehr als eine Million Menschen waren auf der Flucht. Langsam wachte die internationale Staatengemeinschaft auf und sprach zum ersten Mal vom Genozid. Ein Jahr zuvor begannen bereits wieder Kämpfe an der Grenze zum Tschad. Der tatsächliche Grund für ein erneutes Ausbrechen der Kämpfe blieb im Unklaren. Die neue For-mation Sudan Liberation Army (SLA) griff mit 300 Mann und 30 Toyota „Technicals“57 die klei-ne Stadt Golu im Darfur an. Es folgten unter anderem die Großstädte Al-Faschir und Nyala, wo sie in einer koordinierten Aktion gegen Regierungssoldaten kämpften. Die Regierung bezeich-nete sie als Banditen, allerdings war der hohe Organisationsgrad ihrer Aufstände kein Vergleich zu vorherigen Kämpfen in der Geschichte des Darfur-Konflikts. Die sudanesische Regierung wollte die Krise ausschließlich militärisch lösen. Sie nahm Kontakt zu den Dschandschawid-Milizen auf, die bereits Ende der 1980er Jahre in verschiedenen Konflikten kämpften. Diese aus verschiedenstämmigen „Arabern“ bestehenden organisierten, politisierten und militarisierten Gruppen bekamen von den sogenannten „Flussarabern“58 in der sudanesischen Verwaltung Unterstützung. So kam es, dass die Regierung die Dschandschawid ausstattete und gut bezahlte, damit diese für sie kämpften.59 Ende Juli 2003 fingen die Kämpfe aufs grausamste in Darfur an. Zunächst zerstörten Luftfahrzeuge und Artilleriegeschosse der Regierung die „afrikanischen“ Dörfer, bevor anschließend die Dschandschawid-Milizen zusammen mit Regierungstruppen dort wüteten. Die arabische Regierung begann mit der Guerillabekämpfung der „afrikanischen“ Milizen. Durch Lügen, widersprüchliche, teils absurde Aussagen auf Seiten der Regierung, die innerhalb ihrer Partei selbst mit internen Kämpfen zu tun hatte und fehlgeschlagene Verhand-lungen zwischen der Regierung und der SLA, nahm die Gewalt Ausmaße eines Genozids an, ein Genozid, der sich allerdings scheinbar vollkommen planlos entwickelte. Täglich wurden Bom-benangriffe geflogen, teilweise selbst auf Flüchtlingslager. Die dringend benötigte Lebensmittel-hilfe für die Bevölkerung kam aufgrund anhaltender Kämpfe nur stellenweise an, die ohnehin ungenügend ausfiel und zu spät einsetzte: Erst neun Monate nachdem die ersten Flüchtlinge über die Grenze zum Tschad übersetzten, traf die erste Hilfsration ein. Die Überbringungen waren von der Gefahr begleitet, dass Dschandschawid-Krieger die Lebensmittelauslieferungen überfallen und sich aneignen. Die Bedrohung stieg, als die Dschandschawid vermehrt in Armee und Polizei integriert wurden, die sich laut offiziellen Regierungsangaben um die Flüchtlings-lager kümmern sollten. 1,2 Millionen Vertriebene gab es mittlerweile, mindestens 2,3 Millionen, die auf Lebensmittelhilfe angewiesen waren. Die dreieinhalbmonatige Regenzeit stand kurz be-vor, die einen Transport auf den Straßen unmöglich macht. Die Situation war inzwischen so weit eskaliert, dass gar arabische Stämme häufig untereinander zusammengerieten, um ums Über-leben zu kämpfen. Im Oktober 2004 berichtete das Rote Kreuz, dass die momentane Lage die Hungersnot von 1984 in den Schatten stelle. Die UN musste ihre Flüchtlingshelfer auf Geheiß der Regierung abziehen, weil die Regierung ihnen das Arbeiten verbot. „Das gewaltige Ausmaß an Gewalt hatte dazu geführt, dass die Gesellschaft beinahe nicht mehr funktionierte. Nicht nur fielen Gemeinschaften gegenseitig übereinander her, sie waren bald auch nicht mehr in der Lage, das eigene Alltagsleben zu regeln. Ganz Darfur wurde zu einem gesetzlosen Flüchtlingslager, in dem soziale Verhaltensweisen härtester Belastung ausgesetzt wurden.“60 Im Januar 2005 wur-de auf Forderung der Weltgemeinschaft eine Art Frieden für den Südsudan verkündet. Dieser Frieden zählte jedoch nicht für den Westen Sudans. Die Kämpfe blieben gewaltsam und die Regierung führte weiter Offensiven gegen die Aufständischen.61

Aufgrund der undurchsichtigen Lage im Darfur-Konflikt, gibt es keine klaren Angaben hin-sichtlich der Sterberate. Teilweise gehen die Angaben verschiedener Quellen weit auseinander. NGOs und Hilfsorganisationen konnten zur Hochzeit des Konflikts nur einen Teil der Region abdecken, sodass kein exakter Überblick über die Lage dokumentiert werden konnte. Eine 2010 veröffentlicht Studie schreibt die Zahlen nach Auswertung verschiedener Angaben auf 298 271 Menschenleben. Die Sterbezahlen nahmen dabei ab 2004 aufgrund zurückgehender Kämpfe im-mer mehr ab, die krankheitsbedingte Mortalität blieb hingegen nach 2004 nach wie vor hoch.62

Nach Jahrzehnten von Kämpfen zwischen Nord und Süd wurde der Südsudan 2011 letztend-lich unabhängig. Allein im zweiten Bürgerkrieg zwischen 1983 und 2005 kamen dort 2,5 Millio-nen Menschen ums Leben und 4 Millionen wurden vertrieben.63 Ein Ende des Konflikts, der im Wesentlichen zwischen der Regierung in Khartum und der SPLA ausgetragen wurde, bedeutete allerdings keinen Frieden im Darfur. Zwar waren die Kämpfe im Darfur mit dem Nord-Süd-Konflikt in gewisser Weise verflochten, sodass auf einen Folgefrieden in der westlichen Region des Sudans gehofft wurde, doch ist die Lage nach jahrzehntelangen Unruhen zu undurchsichtig. Ab 2005 gab es drei Friedensverhandlungen für Darfur, worunter unter anderem internatio-nale Regierungen und die UN beteiligt waren. Alle drei Bemühungen scheiterten. Mittlerweile werden die Kämpfe nicht mehr nur zwischen zwei Hauptparteien ausgetragen. Die rebellischen Stämme sind zahlreich und haben sich über Jahre selbst verfeindet. Die Stämme lassen sich nicht mehr in „arabische“ oder „afrikanische“ einteilen. Einige haben die Seiten gewechselt und kämpfen nun gegen die, mit denen sie zuvor noch verbündet waren. Die Flüchtlingscamps bie-ten mittlerweile für viele Menschen seit Jahren ein Zuhause. Innerhalb dieser Camps finden je-doch immer wieder Radikalisierungen statt, wodurch erneut Konflikte zwischen verschiedenen Fronten entstehen. Ein sicherer Frieden in Darfur ist daher nicht in Sicht.64

Im März 2009 und Juli 2010 hat der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag Anklagen ge-gen Omar Hassan Ahmad Al Bashir erhoben, der 1989 durch einen Militärputsch an die Macht kam und der seit 1993 den Sudan als Präsident regiert, bis er im April 2019 selbst durch die sudanesische Armee gestürzt wurde. Ihm werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegs-verbrechen und Genozid im Zusammenhang mit dem Darfur-Konflikt vorgeworfen.65

Wie lässt sich nun der Darfur-Konflikt einordnen? Neben dem sudanesischen Nord-Süd-Kon-flikt wurde der Darfur im Westen unmittelbar in den Krieg zwischen Libyen und dem Tschad hineingezogen. So befand sich der Darfur inmitten von zwei Brennpunkten. Scheinbar zwangs-läufig mussten die Konflikte auf die Region überschwappen, wodurch ein neuer, ganz eigener Konflikt hervorgerufen wurde.

Nach Prunier werden vier Erklärungen für die Gewalt im Darfur vorgebracht. (1)  Die Stammeskonflikte, die zwischen den „arabischen“ und „afrikanischen“ Stämmen ausgetragen wurden. Wie anfangs erwähnt, hat sich die Bevölkerung Darfurs über die Jahrhunderte stark vermischt. Daher sind die Konflikte nicht im ideologischen, sondern im formalen Sinne zu ver-stehen. Zwar gab es in der Historie der Region Spannungen zwischen den Bevölkerungsgrup-pen, doch wurden diese nie als Konflikte ausgetragen. Erst durch die Dürren und die Trocken-heit verschärften sich die Spannungen und das Element der Gewalt trat hinzu. Hinzu kommt die politische Instrumentalisierung beider Bevölkerungsgruppen durch die Interessen der be-nachbarten Konfliktparteien. Die ethnischen Spannungen sind daher als Rohmaterial, nicht als Ursache zu sehen. (2) Die misslungene Guerillabekämpfung der sudanesischen Regierung, die versuchte die Aufständischen niederzuschlagen. Auch hier nahmen durch die Fixierung Liby-ens auf das „Arabertum“ in Darfur die ethnischen Spannungen zu. Durch die Bekämpfung der „afrikanischen“ Aufständischen durch die arabischen, regierungsnahen Truppen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Regierung eine Wiederherstellung der Ordnung beabsich-tige. Vielmehr bekämpfte eine dominierende Gruppe einen ethnisch, kulturell unterdrückten Bevölkerungsteil. (3) Die versuchte ethnische Säuberung der „afrikanischen“ Stämme durch die „arabischen“. Durch ein Vertreiben oder gar einer Beseitigung der „Afrikaner“ konnten sich die für die Regierung dienlichen „arabischen“ Stämme weiter ausdehnen. Eng damit verbunden ist (4), dass es einen Genozid in Darfur gab. Jedoch ist fraglich, wie vorsätzlich die Absicht der Regierung in Khartum war, die „Afrikaner“ wirklich vollkommen zu vernichten oder ob sie lediglich primär vertrieben werden sollten.66

Berücksichtigt man all die Verflechtungen, die sich in den letzten Jahrzehnten bis Mitte des 20. Jahrhunderts in den Darfur-Konflikt entwickelten, lassen sich zahlreiche destabilisierende Faktoren erkennen. Ökologische Degradation durch ausbleibende Regenfälle, schon immer vorherrschende kulturell-ethnische Spannungen zwischen zwei Bevölkerungsgruppen, politi-sche Instabilität durch Putsche und sich bekämpfende Parteien, was wiederum auf schwache Governance- Strukturen verweist, zusätzlich politischer Einfluss von außerhalb, schwache in-stitutionelle Kapazitäten und Bemühungen hinsichtlich fehlender Landnutzungsrechte und sozioökonomische sowie infrastrukturelle Missstände zu beheben, ausbleibende Ernteausfälle zu kompensieren und eine generelle fehlende Entwicklung aufgrund der Vernachlässigung der Region durch die Regierungen Khartums. Besonders die Vernachlässigung durch die Regie-rung ließ die Region in seinen Missständen zurück und trieb die Entfremdung voran. Da die Regierung in Khartum ihren Blick gen Osten Richtung Nil wendete, wurde Darfur kulturell durch seine natürliche Gesinnung zur Sahelzone zerrissen. Politische Auseinandersetzungen, die ursprünglich nichts mit dem Darfur zu tun hatten, sind externe Einflussgrößen, die interne Spannungen im Laufe der Zeit anheizten.

Im Anbetracht all dieser Faktoren, kann der Darfur-Konflikt kaum als Klimakrieg beschrie-ben werden. Allerdings trugen ökologischen Faktoren in Form von Dürren und ausbleibenden Regenfällen sowie die umweltbedingte Migration von Norden nach Süden zweifellos als Kata-lysator existierender Spannungen bei. Ohne bereits existierende kulturell-ethnische Spannun-gen hätten die „arabischen“ Halbnomaden kaum zu den Waffen gegriffen, um sich durch die „afrikanisch“ bevölkerten Landstriche zu kämpfen. Kaum thematisiert wird in der Literatur zum Darfur-Konflikt die enorme Bevölkerungsexplosion, die der Sudan erlebte. Zwischen 1961 und 2004 wuchs die Bevölkerung von 28,6 auf 134,6 Millionen.67 Der Darfur-Konflikt wurde von ökologischem Einfluss geprägt, dennoch stellt sich die Frage, wie weit man den Einfluss der Dürren gewichten möchte, um von einem Umweltkonflikt zu sprechen – denn impliziert der Term Umweltveränderungen als einer der Hauptkonfliktursache. Gerade der Darfur-Konflikt zeigt, dass limitierte natürliche Ressourcen nicht nur unabhängig als ein Faktor neben anderen wie politischen und ethnischen Faktoren gesehen werden sollten, sondern innerhalb des Kom-plexes bewertet werden sollen, der aus gesellschaftlichen Interdependenzen besteht.68

UNEP hat in seinem Bericht über den Sudan Faktoren wie Soziales, Kulturelles und Politik ausgegliedert und kam dementsprechend auf vier ökologische Faktoren, die den Konflikt beein-flussten und gab des Weiteren einen Ausblick auf zukünftige Entwicklungen: (1) Desertifikatio-nen und Entwaldung verringerten das Angebot natürlicher Ressourcen. Ebenso schmälerte der klimabedingte Rückgang an Niederschlag den Ertrag und die Produktivität in vielen Gebieten. Im Hinblick auf den voranschreitenden Klimawandel wird die Produktivität voraussichtlich in Zukunft in den verwundbaren Gegenden weiter fallen. (2) Aufgrund des enormen Bevölke-rungswachstums der letzten Jahrzehnte nahm die Nachfrage nach natürlichen Ressourcen stark zu. Zudem stieg der Tierbestand im Land an. Allein im Nord- und Zentralsudan stieg er zwi-schen 1961 und 2004 um über 400 %. (3) Die Landwirtschaft hat sich immer mehr in diejenigen Gebiete ausgebreitet, die zuvor Weideland und Wald waren. Selbst in marginalen Gebieten im Norden wurde angefangen Landwirtschaft zu betreiben. Und (4) misslungene bzw. ausbleibende Reformen im institutionellen Sektor und in der Entwicklung in den ländlichen Gebieten außer-halb der urbanen Einzugsgebiete. Damit hatten die Regionen erst gar keine Optionen, auf den klima- und bevölkerungsbedingten Wandel zu reagieren und einem negativen Trend entgegen-zuwirken. Neben klimatischbedingten Umweltveränderungen degradierte das Weideland zu-sätzlich durch die zunehmende Dichte des Tierbestands. Veränderungen in der Landwirtschaft verursachten somit zusätzlich Überweidung und Landdegradation.69

Diese auf Umweltdegradation fokussierte Analyse des UNEP eröffnet eine weitaus fundiertere Sicht auf die ökologischen Probleme im Darfur als dies im Großteil der Literatur zum Darfur-Konflikt der Fall ist. Nur diese UNEP-Analyse für sich genommen, ohne näher auf die politi-schen und kulturellen Aspekte einzugehen, könnte gar den Anschein erwecken, dass Umwelt-stress der Hauptkonfliktreiber war. Darum ist eine weite Analyse notwendig. Die ökologischen Faktoren müssen daher in der gesellschaftlichen Situation betrachtet werden. Ausbleibende Ent-wicklung, enormes Bevölkerungswachstum, Kriege in Nachbargebieten, innerpolitische Kon-flikte, Instrumentalisierung der Bevölkerungsgruppen, sowohl auf nationaler politischer Ebene als auch unter Einflussnahme fremder Regierungen, fehlende Landnutzungsrechte, ethnische Spannungen oder mangelnde Konfliktbewältigung dürfen keinesfalls hinter den Umweltfakto-ren gestellt werden.

Obwohl es keinen Friedensvertrag für den Darfur gibt, hat sich die Lage weitestgehend ent-spannt. In den letzten Jahren wurden Entwicklungsprojekte etabliert, bei denen die Frage nach natürlichen Ressourcen wie Wasser als Einstieg für einen Dialog und Kooperation zwischen gespalteten Gruppen und Dörfern genutzt wurden. Ökologische Faktoren können einen be-deutenden Beitrag zur Konfliktentspannung leisten. Ein Beispiel ist das Wadi-El-Ku-Projekt im Norden Darfurs, ein saisonaler Fluss, von dem die Lebensgrundlage 700 000 Menschen direkt betroffen ist, indirekt ist gar die ganze Region von ihm betroffen. UNEP und andere Organisationen haben in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung die Landkultivierung entlang des Flusses durch gemeinsame Erarbeitung von Konstruktionsplänen und Dämmen verbes-sert. Dabei kamen Bauer und Viehzüchter zum aller ersten Mal überhaupt zusammen, um zu diskutierten und zu kooperieren, mit dem gemeinsamen Ziel, eine Verbesserung ihrer Lage zu fördern.70 Anfang 2021 traten in der Region allerdings erneut Auseinandersetzungen mit Todesfällen auf – ein paar Wochen, nachdem das UN-Darfur-Mandat zur Friedenssicherung in der Region beendet war.71

7.3 Hurrikan Katrina: Einschlag in die Sicherheit

Als der Hurrikan Katrina am Morgen des 29. Augusts im Jahre 2005 östlich von New Orleans eintraf, waren bereits sieben Tage seit seiner Entstehung aus einem Tiefdruckwirbel über den Bahamas vergangen. Er war bereits der elfte tropische Wirbelsturm der Saison. Nach seinem Entstehen traf er bei Miami am 25. August das erste Mal auf Land, bevor er weiter nach Osten über den Golf von Mexiko zog, wo er durch die hohen Wassertemperaturen an Geschwindigkeit zunahm. Er entwickelte sich zu einem Hurrikan der Stufe fünf und hatte in den Böen Spitzenge-schwindigkeiten bis zu 340 km/h (zum Vergleich: Ein tropischer Sturm wird dann als Hurrikan eingestuft, wenn er eine Geschwindigkeit von mind. 118 km/h besitzt). Als er über Louisiana und Mississippi fegte und auf New Orleans traf, wurde er bereits auf Stufe drei herunterge-setzt.72 Obwohl Katrina in der Stadt am Mississippi-Delta nicht mit voller Energie eintraf, wa-ren die Auswirkungen verheerend.

Hurrikan Katrina gilt als eine der schwersten Katastrophen in der Geschichte der Vereinig-ten Staaten. Mit seinem Ausmaß und seinen Auswirkungen ist Katrina nur schwer mit ande-ren Hurrikans zu vergleichen, zumal nahezu das ganze Land bei diesem Desaster durch die 24-stündige TV-Berichterstattung teilnahm.73 Der Gesamtschaden belief sich auf 125 Milliar-den US-Dollar. Über 1300 Menschen kamen bei der Katastrophe ums Leben. Für die Versi-cherungswirtschaft verursachte der Hurrikan bis dato den teuersten Einzelschaden in Origi-nalwerten. Deiche brachen, Deichanlagen auf 270 km Länge wurden beschädigt, zahlreiche Städte waren überschwemmt, 80 % von New Orleans waren überflutet, hunderttausende Häu-ser und Gebäude waren beschädigt oder wurden zerstört, ebenso das Abwassersystem, die Telekommunikation und Gleisanlagen.74 Neben den Schäden und Verlusten an Infrastruktur und Besitztümern hinterließ Katrina tiefe Narben im sozialen Gefüge New Orleans‘ bzw. diese wurden nach der Katastrophe dramatisch offenbart. Man konnte kaum wahrhaben, dass ein Wetterextrem eines der meist entwickelten Länder dieser Erde in solch ein Chaos stürzen konnte.75

Ein im Scientific American 2001 erschienener Artikel beschrieb bereits die Möglichkeit, dass aufgrund der menschlichen Aktivitäten entlang des Mississippis ein großer Hurrikan die Stadt New Orleans unter Wasser setzen könnte und tausende Menschen dabei ihr Leben lassen könn-ten. Nur eine Umstrukturierung der Region könne die Stadt sicher machen.76 Im frühen August 2005 verkündetet die NOAA ( National Oceanic and Atmospheric Administration ), dass 2005 eine der aktivsten atlantischen Hurrikansaisons werden könnte. Am 27. August, also nachdem Katri-na bereits in Südflorida das erste Mal auf das Festland zog, warnte das National Hurricane Cen- ter vor dem tropischen Sturm und Louisianas Homeland Security und Emergency Preparedness Department forderten die Leute auf, ihre Anwesen mit Brettern zu vernageln und sich für eine Evakuierung vorzubereiten: Der Einschlag des Hurrikans war also vollkommen vorhersehbar. Die Gouverneurin des Bundesstaates Louisiana Kathleen Blanco wandte sich an die nationale Koordinationsstelle der Vereinigten Staaten für Katastrophenhilfe FEMA ( Federal Emergency Management Agency ) und bat um Unterstützung. Nach Aussage der FEMA hat sich die Ko-ordinationsstelle bereits auf ein bevorstehendes Desaster vorbereitet. Sie sei sich der Lage New Orleans’ seit vielen Jahren bewusst. Der damalige Präsident George W. Bush erklärte sogar in Louisiana den Ausnahmezustand, bevor Katrina überhaupt eintraf und versprach der Bevölke-rung, dass die Regierung vorbereitet sei ihr zu helfen. Am 27. August begannen die verbind-lichen Evakuierungsmaßnahmen in einigen tiefliegenden Gebieten in Louisiana. Doch wurden bis zum Eintreffen des Hurrikans nicht alle evakuiert. In New Orleans hatten die Bewohner einiger Stadtviertel nicht die Gelegenheit zu flüchten, da sie keine Autos hatten und ihnen auch weitestgehend keine Busse oder andere freie öffentliche Verkehrsmittel zur Verfügung gestellt wurden.77 Die Evakuierung war ihnen selbst überlassen, doch fehlten ihnen die finanziellen Mit-tel, die Stadt verlassen zu können oder eine Unterkunft außerhalb der Stadt zu bezahlen. Be-stimmt vom Leben in sozialer Isolation und Armut, hat die untere Gesellschaftsschicht zudem wenig bis keine sozialen Netzwerke außerhalb der Stadt, die ihnen bei der Evakuierung hätte helfen können. Die Tatsache, dass der Hurrikan am Ende des Monats eintraf, erschwerte es der armen Bevölkerung, finanzielle Mittel für die Evakuierung aufzubringen.78 Folglich blieb ein Großteil der armen Bevölkerung, zu der viele Afroamerikaner gehörten, keine andere Möglich-keit als zu versuchen, den Sturm in New Orleans heil zu überstehen.

Der Hurrikan zog durch Gegenden, die von Menschen diverser Herkunft und aus unter-schiedlichen Gesellschaftsschichten stammend bewohnt waren. Allerdings wurden in New Orleans besonders die Wohnviertel zerstört, die von der afroamerikanischen und der armen Bevölkerung bewohnt wurden, also diejenigen, die keine Chance hatten, die Stadt zu verlassen. 45,8 % der zerstörten Gebiete der Metropolregion von New Orleans wurden von Afroamerika-nern bewohnt. In den unzerstörten Gebieten betrug der Anteil lediglich 26,4 %. Betrachtet man nur die Innenstadt, steigt der Anteil der afroamerikanischen Bevölkerung in den zerstörten Ge-bieten sogar auf 75 % an. In den unzerstörten Gebieten der Innenstadt betrug der Anteil dieser Bevölkerungsgruppe 46,2 %. Generell ist der Anteil der armen Bevölkerung in den zerstörten Vierteln gegenüber denjenigen, die unzerstört blieben, sichtbar höher.79

Dass gerade die arme und afroamerikanische Bevölkerung besonders von der Verwüstung Katrinas betroffen wurde, hat mit der sozialen Entwicklung der Stadt zu tun. In den 1950er und 1960er Jahren begann die weiße Bevölkerung raus aus der Stadt in die vorstädtischen Bezirke zu ziehen, nachdem Migranten aus den armen ländlichen Gebieten in die Stadt kamen. Mit dem Auszug dieser Bevölkerungsgruppe verlagerte sich auch die Arbeit in die Vorstädte New Orleans’. Im Zuge dieses Bevölkerungsumzugs, zog überwiegend die schwarze Bevölkerung in die unwünschenswerteren Gebiete der Innenstadt, entlang der Hauptverkehrsadern oder neben Industrieanlagen. Die Berufsaussichten waren begrenzt, die Bildungschancen gering. Folglich verarmten die innerstädtischen Gebiete. Die Mittelschicht, sowohl Weiße als auch Nicht-Weiße, gaben die Innenstadt auf und die Disparitäten zwischen extrem reich und extrem arm wurden größer.80,81 Als der Hurrikan 2005 in New Orleans eintraf, war die soziale Verwundbarkeit in-nerhalb der armen Viertel der Stadt über die Jahrzehnte so weit angewachsen, dass ihre Wider-standsfähigkeit gegenüber Sturm und Überschwemmung so gering war, dass die Verwüstung und die Folgen Katrinas gravierend ausfielen.

Als Katrina am Morgen des 29. August auf New Orleans traf, regnete es bereits seit Stunden stark. Der Niederschlag ließ die Wasserstände ansteigen. Mit den steigenden Wassermassen und der Kraft des Hurrikans brachen Schutzdämme, Deiche und Wände von Kanälen. Die entstan-dene Sturmflut überschwemmte New Orleans. 80 % der Stadt stand unter Wasser. An manchen Stellen stand das Wasser fast neun Meter hoch. Diejenigen, die die Stadt nicht verlassen konn-ten, stiegen auf Dachböden oder auf Hausdächer, um Schutz zu suchen, sofern diese nicht durch den Sturm zerstört wurden oder flohen zum Superdome oder später in das Morial Convention Center von New Orleans. Am Louis-Armstrong-Flughafen eröffnete medizinisches Personal ein provisorisches Krankenhaus.82 Auf der Homepage des Superdomes wird von 30 000 Menschen gesprochen, die insgesamt in der Multifunktionshalle während und nach dem Hurrikan Zu-flucht fanden.

Fünf Tage nach dem Hurrikan waren 25 000 Menschen in der Stadt, die darauf warteten, ge-borgen zu werden. Die Menschen waren ohne Nahrung, Wasser und Obdach. Sie waren von lo-kalen und bundesstaatlichen Behörden abhängig, die ihnen die Mittel für ihre Grundbedürfnis-se bereitstellen mussten. 1500 Krankenhauspatienten und die Belegschaft mussten ohne Strom, Essen, Wasser und funktionierende Sanitäranlagen auskommen. Im Superdome und im Con- vention Center brach das Chaos aus:83 Überfüllte, überlaufende Toiletten, die drückende Hitze des Sommers, fehlende Klimaanlagen, sich ausbreitender Fäkalgestank, übermüllte Korridore und Flure, begrenzte medizinische Versorgung, Nahrung, Wasser, Bettdecken und auftauchen-de Kriminalität, eingeengt zwischen physisch und psychisch Verunglückten, bewacht von der bewaffneten Nationalgarde.84 Die Medien berichteten von Raubüberfällen und Plünderungen in der Stadt. Menschen versuchten aus der Metropole zu fliehen, über die große New Orleans Bridge , um auf die südliche Seite des Mississippis zu gelangen, zur West Bank , zu Fuß, zusam-men mit anderen, in ihren Händen Plastiktüten, in denen sie ihr letztes Hab und Gut transpor-tierten. Doch bewaffnete Polizisten verweigerten ihnen die Überquerung, mit der Begründung, es gäbe weder Busse, um sie von hier wegzubringen noch Mittel, sie hier unterzubringen. Als diese Geschichte veröffentlicht wurde, sah manch ein Wissenschaftler hierhin erneut einen Akt des modernen Rassismus, indem der armen und nicht-weißen Bevölkerung die Flucht aus New Orleans verwehrt blieb.85 Diese ethnische Ungleichstellung sahen manche Autoren selbst in der medialen Berichterstattung, in dem prinzipiell gleiche Bilder mit unterschiedlichen Informatio-nen beschrieben wurden: Einerseits der Afroamerikaner, der auf der Suche nach Nahrung einen Lebensmittelladen plündert, und andererseits der Weiße, der Nahrung in einem Lebensmittel-laden findet .86

Die Anfälligkeit gegenüber tropischen Wirbelstürmen und Überschwemmungen der Regi-on am Golf von Mexiko um New Orleans ist besonders auf das menschliche Eingreifen in die Umwelt zurückzuführen. Der Mensch hat sich immer weiter ausgedehnt wodurch Mangroven-wälder gefällt, Feuchtgebiete erschlossen oder Küstenstreifen bebaut wurden. Die Gegend war durch den Verlust des natürlichen Schutzes, den gesunde Ökosysteme bieten, gegen den Wirbel-sturm und seine mit sich bringende Wassermassen nicht mehr gewappnet. Bedenkt man, dass Katrina beim Eintreffen in Louisiana bereits deutlich an Kraft verloren hatte, vermag man sich nicht vorzustellen, was der Hurrikan hinterlassen hätte, wenn er mit seiner ursprünglichen Kraft über die Stadt gezogen wäre. Trotz seiner verlorenen Kraft ließ Katrina große Teile der Stadt in Trümmern zurück. Das Extremereignis in Form des Hurrikans war schnell wieder vorbei, doch fing mit seinem Abzug die eigentliche Katastrophe erst an. Die Bewohner befanden sich plötz-lich in einem Desaster, aus dem sie sich selbst mit eigenen Kräften nicht befreien konnten. Sie waren auf Hilfe angewiesen, die nicht im ausreichenden Maße breitgestellt wurde oder vielleicht auch nicht bereitgestellt werden konnte. Die Regierung der Vereinigten Staaten schien mit der Situation überfordert zu sein.

Man maß der Katastrophe um Katrina eine symbolhafte Bedeutung bei, die zeigte, wie ver-wundbar auch die westliche Welt gegenüber Naturgewalten sein kann. Von jetzt auf nachher wurde eine Gesellschaft in ein Chaos gestürzt, die sich in Sicherheit wähnte. Kein Terroran-schlag oder Krieg hat sie verwundert, sondern ein tropischer Hurrikan. Die Gesellschaft, die zu einer der meist entwickelten Länder dieser Welt gehört, die hinter sich die größte wirtschaftliche und politische Macht sieht. Der Hurrikan deckte gnadenlos die Schwächen auf. Zunächst waren die Planung und die Umsetzung des Katastrophenrisikomanagements ungenügend. Zehntau-sende Menschen, die nicht aus der Stadt fliehen konnten, machen dies offenbar. Obwohl der Sturm als äußerst verheerend angekündigt wurde und die Regionen am Golf von Mexiko als besonders verwundbar gegenüber tropischen Wirbelstürme gilt, blieben ausreichende Maßnah-men aus: Die Behörden waren nach dem Unglück nicht in der Lage schnellstmöglich auf das Chaos mit Hilfs- und Evakuierungsmaßnahmen zu reagieren; weiter war die Verwundbarkeit der Region um New Orleans gegenüber Hochwasser bekannt, dennoch waren nicht genügend resistente Bauten oder Schutzmaßnahmen zur Reduzierung des Katastrophenrisikos installiert.

Die Sozialwissenschaften haben nach der Katastrophe vor allem die soziale Verwundbar-keit New Orleans’ thematisiert. Katrina hat eine soziale Katastrophe hervorgerufen bzw. einen Missstand entblößt, der sich seit Jahrzehnten durch den Bevölkerungswandel und durch die Stellung bestimmter Bevölkerungsgruppen innerhalb der Gesellschaft entwickelt hat. Die über die Jahrzehnte stattfindende geographische Separierung der Reichen und der Mittelschicht von der ärmeren Bevölkerung sowie der weißen Bevölkerung von der nicht-weißen findet sich zum großen Teil in den Opferzahlen wieder. Nach dem amerikanischen Soziologen Lee Clarke setzte sich in der Herangehensweise der Offiziellen und derer Organisationen mit der Katastrophe nur das fort, das seit Jahren bereits die Regel ist: „[Sie] haben sich um diese Menschen [Arme und Afroamerikaner; Anm. d. Verf.] nicht vor dem Hurrikan gekümmert, also warum sollten wir erwarten, dass sie es danach machen?“87

Katrina hat nicht nur die soziale Separierung kenntlich gemacht, die Katastrophe wirkte sich auch dauerhaft auf eine neue Bevölkerungsstruktur der Stadt aus. Das Louisiana Department of Health and Hospitals schätzte die Bevölkerung von New Orleans 2006 – ein Jahr nach Ka-trina – auf 201 000 Menschen. Das sind deutlich weniger als die Hälfte, die vor Katrina in der Stadt wohnten. Dies ist nicht ausschließlich der langsamen Wiederherstellung der Stadt nach dem tropischen Sturm geschuldet. Das U.S Ministerium für Handel führte eine Umfrage von November 2005 bis Dezember 2005 durch, die 1,1 Millionen Menschen über 16 Jahre repräsen-tiert. Aus dieser Studie ging hervor, dass mehr als die Hälfte nach New Orleans zurückgekehrt sind. Laut dieser Quelle wurden mehr als 400 000 Weiße und mehr als 200 000 der schwar-zen Bevölkerung vor dem Hurrikan evakuiert, also der größte Teil der Bevölkerung. Von den Weißen kehrten mehr als 67 % nach New Orleans und Umgebung zurück. Von der schwarzen Bevölkerung schlugen jedoch weniger als 40 % ihren Weg zurück nach New Orleans ein.88 Im Anbetracht der Zusammensetzung der ärmeren Bevölkerungsschicht vor der Katastrophe, die sich zum großen Teil aus Afroamerikanern zusammensetzte, lässt sich dieser Rückzug in die Stadt wie folgt begründen: Im Schnitt hat die schwarze Bevölkerung ein deutlich geringeres Ein-kommen als die weiße Bevölkerung. Demnach waren die Hürden für sie größer, um in die Stadt zurückzukehren. Wie bereits erwähnt, war es für die armen und überwiegend schwarzen Ein-wohner schwierig, die Stadt überhaupt verlassen zu können, da ihre finanziellen Möglichkeiten und sozialen Netzwerke begrenzt waren. Dennoch ist einigen von ihnen die Flucht gelungen. Eine Rückkehr in den alten Wohnort war dann allerdings mit reduzierten Mitteln entschieden schwerer. Folglich veränderte sich nach Katrina die Zusammensetzung der Bevölkerungsstruk-tur, die bis heute sichtbar ist.

Der Hurrikan als plötzlich einsetzendes Ereignis hat die Mississippi-Metropole zum Über-schwemmen gebracht und die Infrastruktur in großen Teilen zerstört sowie stark beschädigt. Der Hurrikan als Naturereignis an sich führte allerdings nur zur Katastrophe, da die Menschen durch ihre Siedlungsgewohnheiten und ihr Eingreifen in die Ökosysteme die Möglichkeit dazu gaben. Auch in einem hoch entwickelten Land wie den Vereinigten Staaten gab es beim Einzug des Sturms aufgrund sozialer Missstände eine hohe Vulnerabilität in der Stadt. Doch waren nicht nur die sozialen Missstände maßgeblich mitverantwortlich, dass die Katastrophe zu solch einem unkalkulierbaren Desaster führte. Das Naturereignis hat die kränkelnden sozialen Struk-turen offengelegt, die bereits innerhalb des gesellschaftlichen Lebens existierten. Die gnadenlose Offenlegung existierender Missstände und die Rund-um-die-Uhr-Berichterstattung machten das Desaster erst zu der unvorstellbaren Katastrophe. Neben dem physischen Unglück durch den Sturm und der Überschwemmung brach in der Region plötzlich die scheinbar sichere Sta-bilität der Gesellschaft zusammen und Kriminalität machte sich breit. Der physische Schaden hinterließ einen riesigen finanziellen Schuldenberg. Das Desaster insgesamt verschärfte die be-reits bestehenden Probleme in den sozialen Strukturen und schuf durch die Evakuierung und den ungleichen Zurückzug der Einwohner nach dem Hurrikan eine neue politische Geographie, die das Bild über Jahre hinweg noch prägen wird.

Als sich das Ereignis im Sommer 2015 zum zehnten Mal jährte, wurde in den Printmedien über die Entwicklung seitdem berichtet. Viele verwüstete Gebiete sind mittlerweile wieder-aufgebaut, umgebaut worden, nach nachhaltigeren Konzepten, neue Unternehmen haben sich angesiedelt und die Touristen sind zurückgekehrt. Neue, bessere Schutzmaßnahmen wurden installiert. Die Stadt scheint wieder zu blühen, allerdings nur teilweise. Große Teile der Stadt liegen immer noch in Trümmern und sind nicht bewohnbar. Frühere soziale Probleme konnten mit dem Wiederaufbau nicht gelöst werden. Die Kinderarmut und die lokale Armutsquote sind heute beinahe identisch mit dem Level aus dem Jahre 2000. Kriminalität ist immer noch eine chronische Angelegenheit. Die Ungleichheiten sind in gewisser Weise sogar größer geworden: Das Einkommen der schwarzen Haushalte ist 54 % geringer als das der weißen. In Zeiten von steigenden Mieten durch den Wiederaufbau bedeutet dies kein Ausweg aus der Armut. Zwar ist die Einwohneranzahl mittlerweile bei 79 % gegenüber dem Niveau vor Katrina, doch die Zusammensetzung hat sich geändert. Viele der afroamerikanischen Bevölkerung, denen die Flucht vor dem Hurrikan gelang, dessen Häuser aber zerstört wurden, sind nicht mehr zurück-gekommen. Die schwarze Community ist heute fast 97 000 Personen kleiner als vor Katrina. Ebenso sind einige der weißen Bewohner nicht zurückgekommen. Allerdings war der Zuzug neuer Bewohner in die Stadt die letzten Jahre recht hoch, sodass heute über 31 % der Bewoh-ner weiß sind. Vor Katrina stellten sie einen Anteil von 25 % dar. Die weiße Bevölkerung ist heute wohlhabender als dies vor Katrina der Fall war. Da Menschen aus den wohlhabenden Schichten stammend zugezogen sind, haben sich einige Stadtviertel gewandelt. Beispielsweise ist in einigen Gegenden nun vorzugsweise eine junge, wohlhabende weiße Schicht beheimatet, was vor der Katastrophe nicht der Fall war.89 Durch den Wandel des Stadtbildes und der Be-völkerung vermisst manch einer die spezielle Atmosphäre New Orleans’ und den Glanz alter Tage, die gerade von der Pre-Katrina-Bevölkerung verinnerlicht wurde. Der Wiederaufbau und eine Neugestaltung nach einem nachhaltigen Vorbild soll der Stadt eine neue Widerstandsfähig-keit gegenüber extremen Wetterereignissen verleihen. Die Aufarbeitung alter sozialer Probleme blieb aber dabei teilweise unberücksichtigt.

7.4 Schlussfolgerung aus Theorie und Praxis

Drei Beispiele aus drei unterschiedlichen Kontinenten mit unterschiedlichen Hintergründen wurden beschrieben. Jede Krise, jeder Konflikt und jede Katastrophe müssen im lokalen, re-gionalen und nationalen Kontext gesehen werden. Doch auch wenn kein Beispiel generalisiert werden kann, ist durchaus zu erkennen, dass ein Wetterextrem als Katalysator für bereits herr-schende Missstände und gesellschaftliche Spannungen fungieren kann . Ökonomische, soziale (inklusive kulturelle und ethnische), politische und ökologische Faktoren sind relevant. Hinzu erhöht sich das Konfliktpotential, wenn es in der näheren Vergangenheit bereits ähnliche Vor-kommnisse gab. Diese Faktoren können in einer Interdependenz stehen, in der sie sich über die Jahre weiter ineinander verflechten. Konflikte und Katastrophen spielen sich meist auf re-gionaler Ebene ab und sind zunächst nationale Angelegenheiten. Folglich sind die Einflüsse hochgradig spezifisch. Beispielsweise treten in Bangladesch nicht bei jedem Extremereignis Ausschreitungen auf, obwohl die physische wie soziale Verwundbarkeit äußerst hoch sind.90Konflikte müssen allerdings nicht immer das Resultat von Interdependenzen verschiedener ge-sellschaftlicher Faktoren sein. Beispielsweise beschränken sich häufig politische Konflikte auf die politische Sphäre, ohne dass ökologische, ökonomische oder soziale Faktoren entscheidende Rollen spielen. So sind sie meist auf Themen wie Macht oder keine Macht, Regieren oder Nicht-Regieren ausgerichtet.

Es stellt sich die Frage, inwiefern es relevant ist, von einem Umweltkonflikt zu sprechen. Eine solche Bezeichnung verkenne zwar nicht andere Einflussgrößen, doch impliziert sie klar eine Gewichtung auf ökologische Veränderungen. Würde man den Darfur-Konflikt als Umweltkon-flikt betrachten, vernachlässige man die Bedeutung politischer oder ethnischer Einflussgrößen. Hätte es keine Dürreperiode im Westsudan gegeben, wäre die wirtschaftliche Lage der Region nicht derartig eingebrochen und der politisch-ethnische Einfluss wäre nur auf wenig Nährbo-den gestoßen. Hätte es zudem keine vorherrschenden Spannungen gegeben, wäre die Wahr-scheinlichkeit eines Gewaltausbruchs zwischen den Bevölkerungsgruppen deutlich geringer gewesen. Letztendlich haben verschiedene Entwicklungen und existierende Krisen die Lage forciert. Gewalt brach aus der Akkumulation der Spannungen aus. Man könnte vom sinnbildli-chen ‚Fass, das überläuft‘ sprechen. Mit anhaltenden klimatischen Veränderungen könnte dieses ‚Fass‘ durch einen vermehrt auftretenden Klimastress häufiger ‚überlaufen‘ und es ist denkbar, dass die katalytische Wirkung des Klimawandels hinsichtlich der Vernetzung und Verschärfung von in einer Gesellschaft herrschenden Missständen und Spannungen drastischer wird.

Als nächstes steht das letzte Kapitel im Rahmen unserer Diskussion zur sozialen Klimaka-tastrophe an, in dem wir uns aus soziologischer Sicht den Verlauf einer Katastrophe anschauen wollen. Wir haben die Diskussion mit einem breiten Blick begonnen, in dem wir den politischen und gesellschaftlichen Rahmen zum Klimaschutz betrachtet haben. Anschließend begann die Analyse sich stärker auf Klimafolgen auszurichten, indem humanitäre Bedingungen wie Ent-wicklungs- und Sicherheitsbedingungen mit den Auswirkungen in Verbindung gebracht wur-den. Nachdem der erste Teil mit der Herausarbeitung einer nötigen Kooperation zwischen den Parteien, um möglichst gestaltungsfähig im Klimaschutz zu sein, geendet hat, haben wir uns im zweiten Teil eindringlicher den Folgen des Klimawandels gewidmet, indem gesellschaftli-che Krisen mit klimatischen und ökologischen Veränderungen in Verbindung gebracht wurden. Mithilfe der Soziologie soll zum Schluss nun versucht werden, die Dynamik, die sich aus dem Komplex verschiedener Störungen entwickelt und zur Konflikt- und Katastrophenentfaltung beiträgt, näher zu verstehen. Damit verbunden ist die Frage nach den Beweggründen von be-stimmten Handlungsweisen während Extremsituationen. Für die Klärung soll die Katastro-phensoziologie und die Systemtheorie Niklas Luhmanns hinzugezogen werden.

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8 Soziologie der Katastrophe

Die meisten Menschen sehen in Katastrophen Schreckensereignisse, die Notlagen hervor-rufen. Nach dem UNISDR ist eine Katastrophe „[e]ine erhebliche Störung der Funktions-fähigkeit einer Gemeinschaft oder Gesellschaft, mit weitreichenden humanen, materiellen, ökonomischen oder ökologischen Verlusten und Auswirkungen, die die Fähigkeit der betrof-fenen Gemeinschaft oder Gesellschaft übersteigt, diese mithilfe ihrer eigenen Ressourcen zu bewältigen“1. Warum es zu hohen Schäden und Verlusten kommt und die Gesellschaft nicht in der Lage ist, sich aus der Situation zu befreien, wurde anhand der gesellschaftlichen Vulne-rabilität festgemacht, die sich aus sozialer, ökonomischer und ökologischer Verwundbarkeit zusammensetzt. Des Weiteren spielt das Auftreten des Gefahrenereignisses eine Rolle sowie die Tatsache, dass man diesem ausgesetzt ist. Nach dem livelihood -Ansatz wird wiederum von einer Katastrophe gesprochen, wenn Schäden und Verluste so hoch sind, dass die Gesellschaft nicht mehr in der Lage ist, benötigte Ressourcen zu mobilisieren oder zu ihnen keinen Zu-gang mehr hat.

Dieses Verständnis ist sehr sachlich ausgerichtet. Verlusten und Schäden sowie Auswirkungen wird eine sehr hohe Bedeutung beigemessen. Im Zusammenhang mit ihnen stehen das Schei-tern der Ressourcenmobilisierung oder die Störung der Funktionsfähigkeit einer Gemeinschaft oder Gesellschaft. Dieses Verständnis impliziert, dass anhand der auftretenden Verwüstung der Zustand während und nach einem Extremereignis vom gesellschaftlichen Zustand, der vor dem Eintritt herrschte, getrennt werden kann. Katastrophen haben jedoch auch immer eine äußerst menschliche Dimension. Katastrophen charakterisiert auch das Scheitern von üblichen funktio-nierenden Handlungsrationalitäten. Erreicht dieser Umstand eine bestimmte Dimension, kann dies bis zur Störung der Funktionsfähigkeit führen, beispielsweise, wenn soziales Verhalten sich so drastisch ändert, dass gesellschaftliche Strukturen radikalem Wandel unterzogen sind. Wie im Kapitel zur Konfliktforschung dargestellt wurde, sieht die aktuelle Forschung im Auftreten klimabedingter Extremereignisse einen möglichen Destabilisierungseffekt. Eine destabilisieren-de Wirkung wird meist nicht allein durch hohe Schäden und Verluste hervorgerufen, sondern hat ihren Ursprung im gesellschaftlichen Zustand, der bereits vor dem Eintritt eines Sturms, einer Überschwemmung oder einer Dürre vorhanden war. Folglich sollte, um das Phänomen Katastrophe besser verstehen zu können, der Fokus nicht ausschließlich auf das Ausmaß physi-scher Schäden beschränkt sein.

Eine soziologische Betrachtung der Katastrophe soll hierbei helfen, mehr Licht in das Phäno-men zu bringen. Damit wird mehr auf das Wesen der Gesellschaft an sich eingegangen als auf die Auswirkungen eines Extremereignisses. Bisherige Schilderungen zum Katastrophenphäno-men gaben wenig Aufschluss, warum es zu Verhaltensänderungen kommen könnte: „Verborgen bleiben […] die eigentlichen Ursachen des Scheiterns bestimmter Handlungsrationalitäten“2. Was jedoch von vornherein ausgeschlossen werden soll, ist, dass sich aus Nachfolgendem ein eindeutiges zu prognostizierenden Verhalten in Katastrophensituationen bei bestimmten Kon-texten ergeben wird. Hierfür wäre es nötig, „Einzelphänomene des Verhaltens in Krisen vor dem Hintergrund eines sich selbst verändernden Spannungsbogens zu interpretieren, der die Sinngebungs- und Deutungsanstrengungen der von Katastrophen betroffenen Menschen wi-derspiegelt“3. Oder mit anderen Worten: Es müsste ein vollkommenes Wissen über sämtliche Umstände und der darin stattfindenden Prozesse vorliegen. Hierfür ist das Phänomen Katastro-phe allerdings zu komplex.

8.1 Die Katastrophe als sozialer Prozess

Selbst persönliche Erscheinungen wie Schmerz, Angst, Mut, Geduld und Leidensfähigkeit, die zwar in jeder Kultur vorkommen, aber dort auf unterschiedliche Art und Weise im Kon-text sozialisiert und aktualisiert werden, spielen eine Rolle. „Je nachdem, welcher Einfluss die Konsistenz des sozialen und normativen Umfeldes entscheidend prägt, werden auch die Sinngebungs- und Deutungsmuster für den Alltag wie auch für die katastrophenbezogenen Reaktions- und Verhaltensweisen daraus abgeleitet.“5 Beispielsweise deuten säkularisierte Ge-sellschaften Katastrophen eher nach entstandenen Schäden und Verlusten. Gesellschaften, die von einem starken Einfluss der Religion geprägt sind, tendieren hingegen Katastrophen als Strafe oder Prüfung zu bewerten.

Folglich ist die Betrachtung der Katastrophe im gesellschaftlichen Kontext notwendig. Wie bereits erwähnt ist eine Katastrophe nach der Definition der Vereinten Nationen durch erheb-liche Verluste und eine Unterbrechung der Funktionsfähigkeit der Gesellschaft charakterisiert. Aus einer gewissen Ausgangssituation sind außergewöhnliche Zustände unter dem Einfluss ei-nes Extremphänomens hervorgegangen. Aus soziologischer Sicht wird der Situation mehr Tiefe verliehen. Zunächst wird das wesentliche Objekt betrachtet, was die Gesellschaft ist. Die Gesell-schaft ist der Hauptgegenstand der Untersuchung sowohl vor als auch während der Katastrophe. Da diese zu jedem Zeitpunkt im Mittelpunkt steht, wird keine klare Grenze zwischen Vor- und Nach-Gefahrenereignis anhand von Schäden und Verlusten gezogen. Sowohl vor als auch wäh-rend eines katastrophischen Ereignisses finden innerhalb der Gesellschaft keine abgeschlos-senen Tathandlungen statt. Aus soziologischer Sicht ist daher keine klare Trennung möglich. Ursachen und Folgen verwickeln sich permanent und sorgen für andauernde Prozesse. Somit soll eine Katastrophe nicht als ein eingegrenztes Ereignis verstanden werden. Dennoch treten während einer Katastrophe bestimmte Handlungen und Ereignisse wie zum Beispiel Rettungs-einsätze ein, die nicht unter die Kategorie ‚normal‘ fallen. Daher unterscheidet sich der Zustand während einer Katastrophe durchaus vom Alltag. Man gelangt zu der Annahme, dass Katastro-phen etwas Außernormales seien. Die Katastrophe lässt sich aber nicht strikt von der Normalität abgrenzen, was den Gedanken prägen würde, dass, wenn man das Außergewöhnliche überwun-den hat, man zum Normalen wiederzurückkehrt. Nach Clausen gibt es aber keine zwei Arten von Soziologien, wovon sich die eine mit normalen gesellschaftlichen Prozessen beschäftigt und die andere mit außergewöhnlichen. „Die Katastrophe ist als ein Extremfall der möglichen so-zialen Verflechtungen analysierbar, insoweit: immer etwas Normales.“6 Welzer stellt sogar die These auf, dass Katastrophen erheblichen Aufschluss über das Funktionieren einer Gesellschaft geben. Ausgehend vom Alltag, der als Regelfall gilt, indem aber häufig nicht das ganze Wesen der Gesellschaft zum Vorschein kommt, zeigt ein Katastrophenfall die Dimensionen der gesell-schaftlichen Existenz auf, die ansonsten verborgen blieben.7

Da die Gesellschaft Hauptobjekt ist, ist es zweitrangig, ob es sich um eine Katastrophe handelt, deren Auslöser ein natürliches Extremphänomen ist oder ob sie einen rein menschlichen Hin-tergrund hat. Sogenannte Naturkatastrophen scheinen beispielsweise ihre Ursachen in der Na-tur zu haben und mögen für einige Betroffene etwas Nicht-Menschliches und dementsprechend Nicht-Soziales darstellen. So treten aus ökologischen, geologischen sowie klimatischen Kons-tellationen Ereignisse wie Vulkanausbrüche, Überflutungen oder Erdbeben hervor, die dann in die menschliche Alltagswelt einbrechen und den Menschen überwältigen. Doch entsteht eine Katastrophe im Zusammenhang mit natürlichen Extremphänomenen überhaupt erst durch den menschlichen Standpunkt, indem der Mensch in die Ökosysteme eingreift (z. B. aufgrund von vom Menschen bewirkter Umweltdegradation oder dem Ansiedeln in bestimmten Regionen), die Bedingungen für den Eintritt bereitet (z. B. Ausrüstung, Anpassung, Verwundbarkeit) oder durch die eigentliche Bezeichnung des Ereignisses als Katastrophe (aufgrund der Wahl der Ter-minologie, einen Notfall als Katastrophe zu beschreiben). Alle Prozesse, die in eine Katastrophe hineinführen, die sich während einer Katastrophe weiterbilden und die aus einer Katastrophe wieder herausführen, sind komplexe soziale Verflechtungszusammenhänge (im Sinne Norbert Elias’ auch Figuration genannt). Dies bedeutet, dass durch soziale Verflechtungszusammenhän-ge, die sich durch soziale Rahmen- und Kontextbedingungen abspielen, meteorologische, hy-drologische oder klimatologische Extremereignisse erst katastrophenwirksam werden.8 Daher bewirken nicht die scheinbar von außerhalb des Systems entstandenen Ursachen die Katastro-phe, sondern die kritischen Verflechtungen zwischen den Menschen und ihren Sinngebungs-anstrengungen charakterisieren ein Ereignis als Katastrophe.9

Das Normale der Katastrophe erklärt sich durch stattfindende soziale Prozesse. Soziale Prozes-se sind dynamisch. Sie umfassen das Nachdenken, Verhalten und Handeln der Menschen und setzen sich immer weiter fort. Sie stoßen neue Prozesse in Gang oder Prozesse, die sich selbst reflektieren. Sie beschreiben die Wirkung von Ursachen sowie Ursachen von Ursachen. Und in ihrem Fortschreiten verbinden sie sich in Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Kontext. Solche Prozesse finden sowohl in Zeiten statt, die als frei von Krisen oder Katastrophen gelten, als auch in Zeiten von Krisen und Katastrophen. Im Hinblick auf die Dynamik sozialer Prozesse, lässt sich sagen, auch wenn in Katastrophenzeiten Verflechtungszusammenhänge an den Tag treten, die es scheinbar in ruhigen, friedlichen Zeiten nicht gab, müssen die Ursprünge dieser in der Zeit vor dem Eintritt des Extremereignisses liegen. Dies bekräftigt die These, dass natürliche Extrem-ereignisse allein nicht der Auslöser von Konflikten sein können. Vielmehr beeinflussen sie die Wirkungskette sozialer Prozesse. Geenen stellt die These auf, dass im Hintergrund des Alltags ein Verflechtungszusammenhang gebildet wird, der in der Katastrophe schlagend sichtbar wird. Der Verflechtungszusammenhang existierte somit bereits im Alltag, jedoch war dieser nicht er-kennbar. In der heutigen globalisierten Zeit, in der verschiedene Kommunikationsmethoden unbegrenzte Optionen ermöglichen, in der verschiedene Bereiche über Kontinente hinweg vernetzt werden können (man denke z. B. an Wirtschaftsbeziehungen), werden die Wirkungs-ketten immer länger, sodass sie nur noch schwer erkennbar sind. Im Alltagsgeschäft werden diese Wirkungsketten fortgesetzt und von diversen sich im Hintergrund abspielenden Systemen aufrechtgehalten. Die dabei entstehenden Gefahren werden nur schwerlich erkannt, die mit-laufenden Risiken unterschätzt bzw. ausgeblendet (vgl. Becks Risikogesellschaft). Mit dem Ein-tritt einer Katastrophe bricht daher kein eigentliches Chaos aus, „sondern sie [die Katastrophe, Anm. d. Verf.] macht in systematischer Weise jene Zusammenhänge offensichtlich, die zeigen, dass das in den Handlungsketten, Sinnsetzungen und Routinen nicht Berücksichtigte dennoch vorhanden ist und wirksam werden kann“10. Das Jahrhunderthochwasser der Elbe 2002 offen-barte beispielsweise, dass man über Jahrzehnte hinweg die Flächen in Ufernähe nutzbar machte. Dem Fluss ließ man immer weniger Raum, er verlor natürliche Überflutungsflächen und Wäl-der, die ein Übersteigen des Flusses begrenzt hätten. Daneben gibt es den Einfluss der globalen Erwärmung, die die Wahrscheinlichkeit für vermehrte Starkniederschläge erhöht. Trotz dieser Entwicklung blieb eine Anpassung im Bereich des Katastrophenrisikomanagements aus. Das Hochwasser zeigte unmissverständlich, dass im Zuge des alltäglichen Voranschreitens entstan-dene Gefahren nicht erkannt wurden.

Die Katastrophe offenbart gnadenlos Ursache-Wirkungs-Verkettungen, die zuvor unbeach-tet blieben. Der Eintritt und der weitere Verlauf der Katastrophe gehen aus dem Nach- und Nebeneinander von Handlungen hervor, die zuvor im Alltag stattfanden. Dabei ist die Ver-flechtung der Handlungen nicht auf die ausschließlichen Vorstellungen des Subjekts als Han-delnder zurückzuführen: Verflechtende Handlungen sind niemals völlig allein vom Menschen (Subjekt) nach dessen Zielen geformt, da das Nacheinander- und Ineinandergreifen von Hand-lungen niemals völlig kontrollierbar ist. Ansonsten wäre ein bewusster Eingriff in den Prozess möglich und die stattgefundene Katastrophe hätte verhindert werden können. Ursache und Wirkung setzen sich ständig weiter fort, Figurationen setzen sich weiter fort, ohne dabei ein Ziel zu verfolgen.

Wenn die Katastrophe eingetreten ist, scheint das Leben der Betroffenen so stark gestört zu sein, dass nichts mehr funktioniert, wie es funktionieren sollte. Zwangsläufig definiert man die Situation als Unterbrechung der Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft. Die Ereignisse überstür-zen sich, jeder ist in irgendeiner Form betroffen und ein sozialer Wandel tritt ein. Darin sieht Clausen das Extreme der Katastrophe: Alle Katastrophen stellen einen Sonderfall des sozialen Wandels dar. Sozialer Wandel in einer Gesellschaft ist normal, aber die Art und Weise, wie er während einer Katastrophe verläuft, ist extrem. Nach Clausen lassen sich in Katastrophen drei Dimensionen des sozialen Wandels darstellen.11 Alle drei Dimensionen stellen dabei ein Extrem für sich dar.

1. Radikalität: die Katastrophe ist hoch intensiv, zerstört gründlich → extrem radikaler sozialer Wandel;

2. Rapidität: die Katastrophe ist überraschend, zerstört überschnell → extrem rapider so-zialer Wandel;

3. Ritualität: die Katastrophe zerrüttet Grundvorstellungen → extrem magisierter sozia-ler Wandel.

Für ein besseres Verständnis möchte ich explizit erwähnen, dass die Katastrophe aus dieser soziologischen Sicht keine Größe an sich darstellt. Vielmehr ist sie selbst eine Figuration, ein Abschnitt, der sowohl als Folge als auch als Anfang weiterer Abläufe anzusehen ist. Tritt die Ka-tastrophe ein, ist dieser Abschnitt von den drei Dimensionen gekennzeichnet. Die Katastrophe ist (1) gründlich, (2) überschnell und (3) fatal. Der stattfindende soziale Wandel verläuft folglich im Zuge einer extremen Figuration.

Gesellschaften sind in der Regel stark vernetzt. Soziale Entwicklungen finden in den verschie-denen gesellschaftlichen Sektoren statt und verzweigen sich. Dabei können soziale Probleme entstehen, von dem nicht nur ein Individuum betroffen ist, sondern die eine negative Ent-wicklung für mehrere darstellt. Wenn diese Probleme erkannt werden, wird versucht, zumin-dest ist dies ein häufiges Phänomen, diese Probleme zu lösen, indem sie isoliert voneinander betrachtet werden. Die Probleme werden somit losgelöst von ihren Verflechtungen betrachtet, obwohl sie nicht klar voneinander getrennt werden können. Bewältigungsstrategien werden für ein isoliertes Problem ausgewählt, die die eigentliche vernetzte Grundlage des Problems nicht erreichen. So werden die ausgemachten Auslöser der Probleme immer weiter vonein-ander getrennt und die Quervernetzungen zwischen den einzelnen Feldern immer weitrei-chender. Die Radikalität der Katastrophe zeigt sich nun in ihrer intensiven Fähigkeit, Folgen und Nebenfolgen gründlich miteinander zu vernetzen, die zuvor scheinbar weit auseinan-derlagen. Sie zerschlägt Zuständigkeitsbereiche; renommierte Funktionen und Institutionen werden verdächtigt; das System wird in Frage gestellt. Durch die nun gründlich dichtvernetzte Gesellschaft bleiben soziale Handlungen nicht ohne Einfluss auf andere soziale Austausch-beziehungen.

So radikal wie die Katastrophe selbst, müssen die Lösungen für die sozialen Probleme sein. Nach Wieland Jäger können drei verschiedene Lösungsprozesse auf die Probleme angewendet werden.12 Zunächst (a) die naheliegendste, aber wohl schwierigste Lösung: wenn ein Problem derart gründlich von und für die ganze Gesellschaft bereinigt wurde, dass neue Probleme angegangen werden können. Jäger spricht hier von einer adäquaten Lösung. (b) Wenn ein Problem als offiziell gelöst dargestellt wird, dabei allerdings einige bis viele – unabsichtlich oder absichtlich – ausgebeutet bzw. schlechter gestellt wurden, dass im Endeffekt mach ein Opfer von der Problemlösung stärker betroffen ist als es vor der Katastrophe war. Diese nach Jäger genannte äquivalente Lösung wäre im Gegensatz zu (a) nicht gründlich. Wird eine Ka-tastrophe missbraucht, um bei dieser Gelegenheit Betroffene in anderen Zusammenhängen zu enteignen, spricht Jäger (c) von antagonistischen Problemlösungsaktivitäten. Darunter sind Aktivitäten zu verstehen, die Rettungsmaßnahmen als Tarnung missbrauchen oder indem ein Unglück genutzt wird, bereits unter Beobachtung stehende Personen oder Bespitzelte noch stärker unter die Lupe zu nehmen. Der Vollständigkeit halber soll nicht unerwähnt bleiben, dass das Gründlichste was in einer Katastrophe nach Jäger geschehen kann, der Tod eines Betroffenen ist.

Die zweite Dimension Rapidität steht für den überraschenden und überschnellen Eintritt der Geschehnisse. Ereignisse überstürzen sich. Aufgrund des rapiden Wandels während der Katastrophe ist es den Institutionen nicht möglich schnell genug zu reagieren. Ihre Prob-lemlösungstechniken können die Situation zudem nicht bewältigen. Lediglich improvisierte Antworten sind möglich. Die Politik hat nicht die Mittel, um die Betroffenen zu schützen. Die Bevölkerung fühlt sich von den Eliten allein gelassen und versucht sich selbst zu schüt-zen. Durch die überschnelle Abfolge von Ereignissen sind die Handlungsoptionen der Be-troffenen extrem begrenzt. Ein Einwirken auf die sich überschlagenden Ereignisse bleibt so gut wie unmöglich. Folglich scheint sich die Katastrophe deterministisch abzuspielen. Das Verhältnis zwischen der empirischen Geschwindigkeit zum normalen Zeit(ablauf)empfin-den ist aus der Ordnung geraten. Hilflosigkeit macht sich unter der Bevölkerung breit. Die Politik sucht währenddessen mithilfe der ihr zur Verfügung stehenden Mitteln ihre Einrich-tungen zu schützen. 8.1.2.3 Ritualität

Die Grundvorstellungen sind zerrüttet. Nichts entspricht mehr der Routine. Fragen kommen auf, wie so etwas passieren konnte. Das Vertrauen auf die Wissenschaften schwindet; wurden zuvor Ursache-Wirkungs-Verhältnisse naturwissenschaftlich erklärt, gerät nun die Methode von Rationalität und Wissenschaft ins Wanken. Gefahren bzw. Risiken sind keine bloße Theorie mehr, sondern sind Tatsache und bestimmend. Das ist der Zeitpunkt, in dem die Dimension der Ritualität extreme Züge bekommt. Soziale Netze, in denen sich Bürger zuvor geborgen fühlten, haben durch das Unglück Risse bekommen. Dies begünstigt Gefühlsimprovisationen und da-mit zusammenhängende nichtrationale („magische“) Zuschreibungen. Wissenschaftliche Kau-salketten werden durch magische ersetzt, wodurch die religiöse Offenbarung als Größe in die Analyse Einzug nimmt. Mithilfe von Magisierung wird durch die Betroffenen die ‚unerklärliche‘ Katastrophe (ansonsten hätten wissenschaftliche Analysen sie ja verhindern können) erklärbar gemacht. Dieser Prozess kann so weit gehen, dass die Magisierung der Katastrophe die staat-liche Ordnung und die Rechtsstruktur entlegitimieren; die durch Verwüstung, Zerstörung und die Begrenzung des Handelsspielraums entstehenden anarchistischen Züge erleichtern einen Wandel ohnehin.

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Im Alltag herrschen klare Regeln, die das Handeln der Menschen mitbestimmen. Diese Re-geln sind notwendig, um mit anderen Menschen in der Gesellschaft gefahrlos in Kontakt tre-ten zu können. Da davon ausgegangen wird, dass einem jeden diese Regeln bewusst sind, können die Akteure bestimme Handlungsweisen anderer Akteure hervorsehen, was ihnen erlaubt, sich sicher innerhalb des Systems zu bewegen. In einem Land, in dem die Regel des Rechts-Fahrens im Straßenverkehr herrscht, können die Akteure recht sicher sein, dass, wenn sie auf der rechten Spur mit ihrem Fahrzeug unterwegs sind, ihnen im Normalfall keine Ge-fahr in Form eines entgegenkommenden Fahrers entgegnet. Dieser spezielle Regelverstoß des Falschfahrens wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder einer hohen Geldstra-fe verlangt. Zwar ist es möglich, dass, sofern man bei begangener Tat nicht gesehen oder er-tappt wird, unbescholten davonkommt, dennoch verzichtet man in der Regel bewusst darauf, diese Tat zu begehen.

Handlungen in einem System sind aufeinander abgestimmt. Eine Handlung eines Akteurs motiviert die eines anderen, die wiederum eine andere motiviert. Dabei können die Handlun-gen nachgefragt werden (Belohnungen), was nach Clausen als „positive Sanktionen“ angesehen wird, oder sie können vermieden werden (Strafen), was „negative Sanktionen“ wären. Dieser fortlaufende Prozess ist stabil, weil Sanktionen von den Akteuren antizipiert werden.13 Das ist der Grund, warum man das Falschfahren nicht riskieren will – abgesehen davon, dass der ge-sunde Menschenverstand es verbietet. Dieser Austausch von Handlung und Sanktion haben die Akteure im System gelernt. Dabei ist den Akteuren bewusst, dass Antizipation nützlich für den Alltag ist. Jedoch „werden viel mehr Sanktionen zu Antizipationszwecken offeriert als tatsäch-lich ausgeführt (erfüllt). Es wird viel mehr versprochen oder angedroht als gehalten. Also: Das Offerieren von Sanktionen ist seinerseits eine Sanktion . Offerten werden dann ernst genommen, wenn sie ‚notfalls‘ auch eingelöst werden […]“14. Dies erzeugt Sicherheit und Gewissheit beim Handeln der Akteure. Es wird an die Offerten geglaubt, um das Risiko zu vermeiden, das beim Nichteinhalten eintreten würde. Daraus stellt sich die Situation ein, dass soziale Prozesse stabil ablaufen.

Mit dem Eintritt einer Katastrophe können allerdings die sozialen Prozesse durchein-andergeraten. Bestimmte Handlungen sind auf einmal nicht mehr zu antizipieren und das Verhalten einiger entspricht nicht mehr der Regel. In solch einer Notsituation gibt es zu viele Offerten, die nicht mehr gedeckt werden können. Die staatlichen Institutionen sind nicht mehr in der Lage, Strafen für Verstöße auszusprechen oder die Bürger verkennen die Glaubwürdigkeit. Die Katastrophe offenbart, dass Versprechen, an die man geglaubt hat, ungedeckt waren bzw. dass diese nicht mehr einzuhalten sind. Das System scheint auseinan-derzubrechen. Die Handlungsmöglichkeiten sind im Extremverfall ohnehin äußerst knapp. Stellt sich heraus, dass die Wege, die im Notfall für eine Rettung vorgesehen waren, tat-sächlich gar nicht möglich sind, scheint es keine Handlungsalternativen zu geben. Geenen verdeutlicht dies am Beispiel eines sinkenden Schiffs. Die Passagiere haben das sinkende Schiff nicht rechtzeitig verlassen, weil sie an die Einsetzbarkeit der Rettungsboote geglaubt haben; doch dann stellt sich heraus, dass die Behausung, die einem Schutz geben sollte, zum eigenen Sarg wird; oder die Notausgänge, die die Flucht in Sicherheit ermöglichen sollten, sich nicht öffnen lassen.15

Der Umstand, dass Offerten nicht mehr gedeckt werden (können), erklärt, warum es zu dem Phänomen ansteigender Kriminalität oder Plünderungen während Katastrophen kom-men kann. Nach dem direkten Eintritt des Extremereignisses sind die Betroffenen zunächst unter Schock. Sie finden in dieser Zeit keine Zeit nachzudenken. Dennoch ist meist soziales Verhalten wie gegenseitige Unterstützung und Hilfe zu beobachten. Nach 48 Stunden ver-zweifeln die Betroffenen jedoch allmählich, was in bösartigem Verhalten (Plünderungen, Unruhen) münden kann.16 In diesen 48 Stunden, in denen sich die Verunglückten ihrer Lage nach und nach bewusstwerden, realisieren sie, dass Offerten nicht mehr gedeckt werden. Sie fragen sich, warum gerade sie von der Katastrophe so schwer betroffen sind und warum sie nicht sicher vor ihr waren, obwohl dies die Aufgabe ihrer Regierung sein sollte. Auch das Gefühl, nach dem Eintritt des Schreckensereignisses keinen Schutz zu erfahren, zeigt ihnen, dass sie auf sich allein gestellt sind. Ausbleibende Hilfeleistungen, die ungerechte Verteilung der Hilfsmittel oder das Erkennen bestehender Ungleichheiten, zeigen den Menschen, dass Versprechen, die man für wahr hielt, nicht stimmten. Es ist nicht nur die Offenbarung der ungedeckten Offerten, die zu unsozialen Verhalten führen, es sind auch fehlende Handlungs-alternativen, die zu drastischen Handlungen verleiten können. Befinden sich die Betroffenen seit Tagen in der Notsituation, warten sie vergebens auf Hilfeleistungen und neigen sich ihre Nahrungsmittel gen Ende, könnte es möglich sein, dass ihre Verzweiflung und ihr Selbst-erhaltungsdrang sie zum verwüsteten Supermarkt führt, der sein Geschäft während der Ka-tastrophenzeit ohnehin aufgegeben hat, um sich mit lebensnotwendigen Nahrungsmitteln zu versorgen.

Allerdings soll an dieser Stelle erneut erwähnt werden, auch wenn eine Katastrophe ein System zum Zusammenbrechen bringt und Handlungsalternativen knapp sind, kriminelle Handlungen und Plünderungen nicht die Regel sind. Es gibt keine empirischen Studien, die belegen, dass Plünderungen vermehrt mit dem Eintritt von Katastrophen auftreten. Vielmehr dominiert prosoziales Verhalten unter den Verunglückten. Bei Konfliktsituationen ist hin-gegen eher antisoziales Handeln anzutreffen, da in Konfliktsituationen die innere Lage der Bevölkerung weitaus stärker von Unzufriedenheit geprägt ist.17 Zumal in einer bereits ange-spannten Lage, Mangelzustände bei der Bevölkerung durchaus den Drang Gewalt zu schüren heraufbeschwören könnten. In Katastrophenzeiten wird die gesellschaftliche Lage allenfalls als dauerhaft gefährdet betrachtet, sofern die Katastrophe als Treiber gewaltsamer Konflikte genutzt wird und das System destabile Strukturen aufweist. Wie bereits im Abschnitt zum Hurrikan Katrina angesprochen, kann durch die mediale Berichterstattung aus der Krisenre-gion ein anderes Bild vermittelt werden als dies tatsächlich von den Opfern wahrgenommen wird. Wird von einem Militäraufgebot in der Krisenregion berichtet, scheint die Situation wahrhaftig bedrohlich zu sein. Sofern von keinen einzelnen kriminellen Fällen berichtet wur-de, geht der Zuschauer spätestens hier von einer staatlichen Intervention aus, um drohende Ausschreitungen und aufkommende Kriminalität zu unterbinden. Die Entsendung des Mili-tärs ist meist ein Akt von Regierungen von schwachen und fragilen Staaten. Jene Regierungen waren bereits vor Katastropheneintritt nur unzureichend in der Lage, zentrale Funktionen wahrzunehmen (vgl. Kap. 6). Die Katastrophe wird demnach als Ereignis mit destabilisieren-der Wirkung angesehen, da existierende Missstände erkennbar werden und aus dieser Wahr-nehmung möglicherweise ein strukturveränderndes Verhalten bei der Bevölkerung resultie-ren mag. Wie in den Kapiteln zuvor ausgeführt, ist das Verhalten der Verunglückten stark von den Gegebenheiten in den gesellschaftlichen Sektoren, herrschenden Missständen und Vertrauen in lokale und staatliche Behörden abhängig.

Als beispielsweise gegen Ende September 2018 auf der indonesischen Insel Sulawesi zunächst ein Erdbeben und wenig später ein Tsunami eintraten, sah sich die Bevölkerung einer enormen Verwüstung mit weit mehr als 1000 Todesopfern ausgesetzt. In den darauffolgenden Tagen fehl-te es an Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten und Treibstoff, um Generatoren zu betreiben. Hilfsgüter kamen nur langsam an, auch weil wichtige Straßen und der Flughafen beschädigt wurden. Bei der betroffenen Bevölkerung kam Verzweiflung und Wut gegenüber der Regierung auf, da sie sich in der verheerenden Situation allein gelassen fühlte. Trotz der technischen Mög-lichkeit eines existierenden Frühwarnsystems entstand das Unglück, möglicherweise aufgrund von Kommunikationskomplikationen.18 Nach zwei bis drei Tagen ohne Zugang zu Nahrung und Trinkwasser, wurde von Plünderungen berichtet.19

Aus soziologischer Sicht ist eine Katastrophe keinesfalls ein Ereignis, das ansatzlos eintritt und sich wieder auflöst. Zwar scheint eine Katastrophe nahezu plötzlich einzutreten, was die häufige Verzweiflung bei den Betroffenen andeutet, die sich fragen, wie so etwas geschehen konnte, aber der verheerende Prozess, der soziale Strukturen ins Wanken bringt oder gesellschaftliche Vorstellungen von Sicherheit zerrüttet, ist auf bereits im Alltag existierende Missstände sowie Fehlentwicklungen zurückzuführen. Vor dem Katastropheneintritt hat sich ein Verflechtungs-zusammenhang gebildet, der erst mit dem Einzug der Katastrophe erkennbar wird. Auf einmal treten Probleme ans Tageslicht, die sich bereits zuvor allmählich durch Vernetzung verschiede-ner Entwicklungen aus unterschiedlichen Sektoren gebildet haben.

Eine Gesellschaft kann immer von einer Katastrophe betroffen sein. Selbst wenn soziale Strukturen fest erscheinen und die Gesellschaft sich scheinbar mit keinen Problemen ausei-nandersetzen muss. Katastrophen sind immer sozial möglich.20 Die vorangegangenen Kapitel zeigten, dass die potentielle Gefahr des Klimawandels gerade darin besteht, dass schleichend (Desertifikationen, Dürren) oder plötzlich (tropische Wirbelstürme, Sturzfluten) eintreten-de Extremphänomene herrschende Missstände aufdecken, wodurch sich wiederum Faktoren vernetzen und einen Prozess mit destabilisierender Wirkung in Gang setzen kann. Dass aus einer gesellschaftlichen Lage, die als mehr oder weniger stabil angesehen wird, eine Katastrophe oder ein Konflikt hervorgeht, spricht für einen extremen sozialen Wandel. Bisher haben wir Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Missständen, Krisen und anderen Einflussgrößen diskutiert, um zu hinterfragen, inwiefern klimatischer bzw. ökologischer Wandel Einfluss auf destabilisierende Ereignisse nimmt. Die soziologische Komponente haben wir allerdings bis-her unberücksichtigt gelassen. Dabei hat die Soziologie als Lehre von der Gesellschaft und des sozialen Verhaltens Ansätze, die den Übergang in extremere Situationen und deren Verlauf, zum Beispiel im Hinblick auf eine zunehmende Dynamik oder den Wandel im Kontext von sich fortsetzenden sozialen Prozessen zu sehen, zu beschreiben versucht.

Um den sozialen Wandel in Katastrophen verstehen zu können, wird ein soziologisches Mo-dell benötigt, das den sozialen Wandel in den Mittelpunkt stellt; ihn nicht getrennt von voran-gegangenen Ereignissen betrachtet, sondern vielmehr die sich verändernde soziale Dynamik während Extremsituationen aus einen sich fortschreitenden Prozess ableitet. Lars Clausen hat ein solches makrosoziologisches Prozessmodell der Katastrophe entworfen, das den sozialen Wandel nicht nur ab dem Zeitpunkt des Katastropheneintritts analysiert, sondern ihn im Wan-del der gesamten Gesellschaft stellt. Dabei schreibt Clausen einen mit der Zeit auftretenden Konflikt zwischen Experten/Eliten und der restlichen Bevölkerung einen besonderen Stellen-wert zu. Sechs Stadien sind denkbar, die jedoch nicht zwangsläufig aufeinander folgen müssen, sondern die einen möglichen Modellweg beschreiben. Ebenso ist es denkbar, dass Stadien im Ablauf übersprungen werden.21

I. F riedensstiftung

II. A lltagsbildung

III. K lassenformation

IV. K atastropheneintritt

V. E nde aller Sicherheit (Ende kollektiver Abwehrstrategien)

VI. L iquidation der Werte

Clausen weist darauf hin, dass er keinen ewigen Kreislauf mit dem Modell suggerieren will. Die-ser Gedanke eines Katastrophenzyklus entsteht, da das Prozessmodel nicht mit einem Stadium anfängt, das einem allgemeinen Alltag entsprechen könnte. Clausen sieht den Anfang seiner Modellbeschreibung nach einem direkten Unglücksfall, woraufhin ein gesellschaftlicher Wandel über längere Zeit in Gang gesetzt wird, der letztendlich in eine neue Katastrophe münden kann. Allerdings geht es Clausen lediglich um die Veranschaulichung, dass sich Katastrophen grund-sätzlich innergesellschaftlich entwickeln können. Zwar kann der Katastropheneintritt durch ein exogenes Ereignis (z. B. natürliches Extremphänomen) ausgelöst werden, bis hin zum Eintritt typisieren jedoch gesamtgesellschaftlich endogene Ursachen die Entwicklung. 8.1.4.1 Stadium I – Friedensstiftung (extrem vernetzend und beschleunigend, aber säkularisierend)

In diesem Stadium befinden sich die Notleidenden in einer Situation, von der sie im ganzen Kollektiv betroffen sind. Schreckensereignisse wie Kriege oder Bürgerkriege, Pandemien, Hun-gersnöte oder Naturgewalten haben soziale Ungleichheiten aufgehoben. Keine Schichten oder Führer ragen heraus; Quellen werden später niemanden besonders hervorheben. Jeder ist den Gefahren ausgesetzt und in der Notlage haben die Betroffenen mit bitterstem Realismus gelernt, diese Gefahren einzuschätzen. Das Überleben des einen, kann das Nichtüberleben des anderen bedeuten. Das Kollektiv hegt den gemeinsamen Wunsch aus dieser zentral empfundenen und langwährenden Not zu entkommen. Um aus dieser Notlage zu entkommen, sind kollektive An-strengungen nötig. Innovative organisatorische Formen von Führen und Folgen inklusive inno-vative Mittel und die Unterstützung aller können die Stiftung eines Friedens ermöglichen. Im Zuge der Rettung aus der Gefahrensituation und einer folgenden Friedensstiftung keimt oftmals das Gefühl bei den Betroffenen, dass sie eigens zum Überleben erwählt worden seien.

Die Friedensstiftung ist zwar für die Beteiligten durch ihre gemeinsamen Anstrengungen sä-kularisierend, doch kann das Ereignis zu einem späteren Zeitpunkt rückblickend als magisie-rend erscheinen. Erfolgt die Rettung schlagend, kann dies eine besondere Symbolkraft hervor-rufen. Feiern oder gar Lieder erinnern an die Stiftung des Friedens und verdeutlichen, dass es sich um etwas ganz Besonderes gehandelt hat. Dies ist schon allein dadurch nachvollziehbar, da eine große Notsituation überwunden wurde. Kleinere, geringfügige Katastrophen bzw. Unglü-cke kommen hingegen häufiger vor, folglich wird die Friedensstiftung nach einem gefährlichen Engpass als ein außergewöhnliches Erlebnis wahrgenommen.

Nach Clausen werden bei der Friedensstiftung auch immer geheime Schwächen sozial mit-produziert, die in der Entstehung einer zukünftigen endogenen Katastrophe einen beitragenden Effekt haben. Die Zeit nach der Friedensstiftung kann auf verschiedene Weise bestimmt sein. Zunächst ist es möglich, dass (a) nach der Friedensstiftung einige Katastrophenarten nur noch chaostheoretisch möglich erscheinen, ungeachtet ihrer jeweiligen Voraussagbarkeit. Auf politi-scher Ebene wäre (b) die Friedensstiftung durch Charisma denkbar.22 Auch ist (c) eine ökono-mische Weise möglich, wenn beispielsweise eine bestimmte Marke einen erheblichen Einfluss auf die Friedensstiftung hatte und als Symbol dient, das als solches selbstzerstörerisch ausge-beutet wird. Die vielversprechendste Schlüsse-Figuration ist nach Clausen (d) unbezweifelbares fachliches Expertentum. Das wandelnde Verhältnis von Katastrophenkundigen zu den Katast-rophenunkundigen kristallisiert sich im Weiteren im sogenannten Experten-Laien-Konflikt . 8.1.4.2 Stadium II – Alltagsbildung (entnetzend, verlangsamend, magisierend)

Das Kollektiv hat mit der Friedensstiftung das Existenzproblem gelöst. Der Alltag kehrt zurück, dabei erscheint die soziale Umwelt als beherrschbar. Erscheint beherrschbar, da der Frieden auf einem Fundament eines katastrophalen Engpasses errichtet wurde. Der zentral gebildete Wert rückt dabei immer mehr in den Hintergrund, aufgrund des Wirksamenwerdens der Problem-lösung.

Mit der Zeit tritt ein Erfahrungsverlust ein. Brauchtümliche, laienhafte Praktiken werden vom Großteil als überflüssig angesehen und vergessen. Anfangs existieren noch die Experten, die Fachleute, die die letzte überstandene Katastrophe selbst noch miterlebt haben. Das Wissen wird in einer Form Meister-Schüler-Erbfolge weitergegeben. Der Erfahrungsverlust ist daher in diesem elitären Kreis nicht ganz so groß wie bei den Laien. Sie grenzen sich durch ihr Pflichtbe-wusstsein und ihren Dienst von ihrer Klientel, den zu Schützenden, ab. Offiziell beherrschen sie das alte Problem immer noch, doch die Experten und Fachleute entwickeln sich von primären zu sekundären Experten. Das schwer erarbeitete Fachwissen wird allmählich zum Berufsge-heimnis. Sie gewinnen immer leichter Macht über die sekundären Laien, die immer noch ehr-erbietig den Experten vertrauen. Das Laientum bleibt unwissend, da die Fachleute Sanktionen über Offerten verfügen, die sie nicht einzulösen brauchen. Die Fachelite versinkt in Tradition und ersetzt damit Erfahrung. Damit versperrt sie sich selbst die Sicht auf summierte Fehler durch die veraltete Technik. Clausen beschreibt dies mit den Worten Hans Seischabs: „Betriebs-blindheit, Verfahrenshörigkeit und Entwicklungsmüdigkeit“. Das Auftreten von Folgeschäden und Nebenfolgen im Zuge alter Problemlösungen zur Friedensstiftung werden als Einzelfälle abgestempelt (vgl. Kap. 2; Nebenfolgen der Problemlösung werden zum eigentlichen Risiko). Die sekundären Laien fragen zwar nach neuartiger Hilfe, doch sie werden mit altartigen Hilfs-angeboten der sekundären Experten abgewiesen. Die Hilfsersuchen der Laien werden laienhaft; die fachlichen Antworten der Experten werden nicht verstanden, sodass sie als Befehle durch-gesetzt werden müssen. Diese Alltagsbildung und der damit verbundene Verlust von Wissen und der direkten Erfahrung über Katastrophenbewältigung, kann nach Clausen Jahrhunderte umfassen.

Dass sich die Facheliten in Tradition verlieren, muss nicht der einzige Grund für das ver-mehrte Aufkommen von Folgeschäden und Nebenfolgen sein. Nach Elke Geenen können Ex-perten durchaus neuzeitliche technische Durchbrüche dazu nutzen nach neuen Methoden zu suchen, um Gefahren zu bearbeiten.23 Auch Beck verweist auf die Erforschung neuer Techno-logien, gerade weil Nebenfolgen bereinigt werden müssen. Dies könnte einen eliteninternen fachlichen Konkurrenzmechanismus in Gang setzen. Durch eine wissenschaftliche Expansion in neue Aufgabenfelder produziert die Fachelite neue, stärkere Nebenfolgen und neuartige Fol-geprobleme. Durch neue wissenschaftliche Gebiete und Gefahren würde wieder ein primäres, kritikfähigeres Laientum gebildet werden. Interne Uneinigkeit innerhalb der Facheliten stärke zudem die Position des Laien. Mit Ulrich Beck weitergedacht, hätte dies zur Folge, dass durch Forschung, Wissenschaft und Fortschritt Nebenerscheinungen zur Hauptproblematik werden. Nebenrisiken stürzen die Gesellschaft in eine neue Katastrophe. Nicht mehr die Nebenfolgen der ursprünglichen Problemlösung gilt es zu bewältigen, sondern neue, exklusive Gefahren, die durch Unwissenheit selbst erzeugt wurden. Dies könnte in das dritte Stadium des Katastrophen-eintritts führen.

Empirische Forschung kann (a) in vielerlei Figurationen entlang der Alltagsbildung auftre-ten. Ebenfalls ist es möglich, dass (b) eine co-evolutionäre Entwicklung der Wissenschaften zu neuen expandierenden Problemlösungen und -schaffungen führt. Die äußert mögliche lange Dauer des Stadiums der Alltagsbildung kann (c) eine Reihe an Unterstadien hervorrufen, die von „Institutionalisierung“ oder durch die Abfolge kommender Generationen von „Routinisie-rung“ geprägt sind. 8.1.4.3 Stadium III – Klassenformation (jetzt stark vernetzend, aber noch langsam und noch magisiert)

Im dritten Stadium geschieht nach Clausen eine Entwicklung, die die „Qualität des Unheim-lichen“24 später beim Katastropheneintritt erklärlich macht. Die Konstellation zwischen sekun-dären Experten und sekundären Laien spitzt sich zu, sodass die Interessensgegensätze beider of-fenkundig werden. Die Gesellschaft wird allmählich zerrüttet und ein Raum für intensive soziale Konflikte zwischen Facheliten und Laien entsteht.

Die gesellschaftliche Entwicklung hat Natur und Umwelt stark beeinflusst. Sie wurden soweit umgestaltet, dass sie dem Nutzen des Menschen entsprechen, dabei aber immer mehr zur Ge-fahrenquelle wurden, indem sie als Folgen der Transformierung als Katastrophe in die Gesell-schaft hereinbrechen. Im Beck’schen Sinne rufen sie die Risiken hervor, die die heutige Gesell-schaft prägen oder gar bestimmen. Die Industrialisierung hat Mängel behoben und Reichtümer geschaffen. Die Natur wurde dabei zum Untertanen des gesellschaftlichen Fortschritts, doch anstatt sie dadurch von der Gesellschaft auszugrenzen, wurde es augenscheinlich, dass sie un-trennbar mit der Gesellschaft zusammenhängt. „Entsprechend können auch die Naturzerstö-rungen nicht länger auf die ‚Umwelt‘ abgewälzt werden, sondern werden mit ihrer industriellen Universalisierung zu systemimmanenten sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Widersprüchen.“25 Oder mit Clausen gesprochen: Die Natur bricht aus den sozialen Prozessen unter einem Aspekt heraus, indem sie sich nämlich nicht durch ungedeckte Offerten abspei-sen lässt. Als Beispiel nennt Clausen die Entwicklung Chinas, in der die chinesische Regierung durch die Errichtung von Deichsystemen Flüsse nach ihrem Nutzen bändigt, doch damit auch die Gefahr für verheerende Folgen für das Umland erhöht, falls es zu Dammbrüchen kommt.

Neben dem direkten Einwirken auf die Natur und die damit verbundene Erzeugung von Ri-siken, lassen sich heute Beispiele aufzeigen, die das Versagen der Facheliten aufgrund Unter-lassung nötiger Handlungen darstellen. Umweltdegradation, fehlende Nahrung sowie Trink-wasserreserven, anhaltende Armut und Perspektivlosigkeit drängen viele Menschen in weniger entwickelten Ländern in die Großstädte. Ausbleibende Städteplanungen und das bloße Gesche-henlassen sozioökonomischer Kausalketten sorgen dafür, dass Slums entlang der Stadtgrenzen immer größer werden. Diese Gebiete zeigen meist eine hohe Anfälligkeit gegenüber Extremer-eignissen auf. Erschwerend kommen häufig fehlende Abwasser- und Sanitäranlagen, ein hohes Müllaufkommen und durch die Industrie kontaminierte Böden hinzu.

Mit solchen Entwicklungen verlieren die sekundären Laien ihren Glauben an die Experten und Ratschläge werden immer weniger ernst genommen.26 Die sekundären Experten verlieren selbst Rückhalt in der Etage der Machteliten. Die Fachelite verliert ihren Vorbildcharakter und verkommt zur Fach-Klasse. Sie kann ihre Offerten immer weniger einlösen und versucht den sozialen Wandel bewusst zu verlangsamen, um der Lage Herr zu werden (vgl. Kap. 1.10; der Akzelerationismus kritisiert dieses herkömmliche Vorgehen, auf Krisen mit Entschleunigung zu reagieren). Subkulturen werden entwickelt, die Profession wird magisiert – Fachwissen wird zum Berufsgeheimnis. Der Konflikt mit den Laien wird für die Fach-Klasse gefährlicher als ihre eigenen Fachprobleme. Die Laienschaft wird verachtet und Fachtechniken (Bauten, Werkzeuge, Arbeitskleidung) werden zu Formen demonstrativen Konsums ausgestaltet. Für die ‚Drecks-arbeit‘, für die sich die Fachelite früher nicht zu schade war, zieht sie sich eigene Spezialisten, sozusagen eine Dienstklasse heran.

Durch die Klassenbildung geht der Basiskonsens verloren, auf dem einst der Frieden gestiftet wurde. Die Formation in Klassen ist wertezerstörend. Was wahr oder falsch ist, ist eine Frage des Standorts. Katastrophenwarnungen werden nicht mehr wahrgenommen, egal, ob sie begründet oder unbegründet sind.

Nach Clausen gibt es drei Anschlussprozesse an die Klassenformation. Zunächst (a) ein Zu-rück aus der Gefahrenzone, sofern die anwachsenden Gefahren nicht die Kapazität und die Handlungschancen der Reformkräfte der Eliten übersteigen. Ein eliteinterner Machtwechsel findet statt und die Klassenformation wird durch eine „fachreformatorische Lösung“ umge-kehrt. (b) Wäre der Schritt in das vierte Stadium des Katastropheneintritts. Möglich ist aller-dings auch (c) ein Überspringen des nächsten Stadiums. Eine putschistische Gruppierung oder ein kommender Diktator macht sich die Konfliktkonstellation zunutze. Sie ergreifen die Macht und geben vor, den Konflikt zwischen Facheliten und Fachlaien zu lösen. Zuerst scheint der Eintritt in die Katastrophe umgangen zu sein, doch wird sich später herausstellen, dass durch die Machtusurpatoren Probleme entstanden sind, die sofort den Grad von Katastrophenfolgen darstellen.

Clausen beschreibt hier ein sehr drastisches Klassenverhältnis, das das Wesen der Gesellschaft prägt. Betrachtet man das aktuelle Geschehen, wird gerade versucht, diese Klassenformation zu unterbinden. Internationale Übereinkommen wie die Agenda 2030, das Abkommen von Paris oder das Abkommen zur Reduzierung von Katastrophenrisiken von Sendai sowie die NAPs, die den Rahmen zur Anpassung an den Klimawandel bilden, bekräftigen die Einbindung aller Ge-sellschaftsschichten, nicht nur um den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken, sondern in erster Linie um auf Erfahrung und Wissen aus verschiedensten Fachgebieten und sozialen Milieus zurückgreifen zu können und um Maßnahmen effizienter zu machen, wie zum Beispiel bei c ommunity-based early warning systems, die entscheidend durch die Einbeziehung der loka-len Bevölkerung getragen werden. Dies bedeutet zwar nicht, dass Laien durch ihre Involvierung zu Experten werden, doch ist die strikte Separierung der Experten vom Rest, so wie sie Clausen beschreibt, relativ. 8.1.4.4 Stadium IV – Katastropheneintritt (hoch vernetzt, jetzt hoch beschleunigt, noch hoch magisiert)

Die Vulnerabilität der Gesellschaft ist mittlerweile hoch und flächendeckend geworden. Be-gannen im dritten Stadium die Katastrophen langsam Gestalt anzunehmen, werden sie jetzt schlagend. Vernachlässigte, alte Probleme treten auf, Nebenfolgen alter Lösungen, Folgeproble-me haben sich akkumuliert. Die verschiedenen Probleme und die Vulnerabilität sind stark ver-netzt. Man hat den Eintritt einer Katastrophe teilweise befürchtet, doch ging man nicht auf die Warnungen ein. Befürchtungen wurden als Ängste bagatellisiert. Der Eintritt der Katastrophe desavouiert die Überzeugung der Fachleute. Die Experten schieben hingegen die Schuld den Kritikern oder der Machtelite zu, deren Handlungsfähigkeit nun immer mehr abnimmt. Das Wahrwerden der Risiken kann nun nicht mehr effektiv verhindert werden.

Diese Wahrnehmung der eintretenden Katastrophe ruft nach Klaus Japp Angst hervor, da die Erwartungen an Kontinuität innerhalb der Gesellschaft enttäuscht werden.27 Es herrscht zwar immer sozialer Wandel, doch mit dem Katastropheneintritt wird er extrem. Ebenso war die Katastrophe immer sozial möglich, doch das Bewusstsein für sie fehlte. Der Eintritt der Ka-tastrophe geht auf das Nichtwissen des tatsächlichen Verlaufs ihrer Bedingungen zurück. Ver-meidungsansprüche und Präventionsmaßnahmen gegen einen Katastropheneintritt konnten deshalb nicht im passenden Umfang thematisiert werden.

Dieses Nicht-Wissen über den Verlauf der Bedingungen für einen Katastropheneintritt ist auf die sich im Alltag bildenden Verflechtungszusammenhänge zurückzuführen, die durch die immer länger werdenden Wirkungsketten nur schwerlich sichtbar sind. Figurationen und ihre möglichen Wirkungen bildeten sich so weit fort, dass sie nicht mehr überblickbar waren. Daraus treten in diesem Stadium Risiken heraus, deren Quellen nicht mehr exakt zu ermitteln sind. Man kann nur zu ad-hoc-Erklärungen zurückgreifen. Der Zustand erreicht einen neuen Level an Magisierung und abergläubische Reaktionen treten auf. Die Laien, aus denen fast die ganze Gesellschaft besteht, suchen deshalb die Schuld bei einer dämonisierten Natur oder Technik, bei (bereits stigmatisierten) Minderheiten, möglicherweise bei sich selbst und letztendlich bei der Fachelite.

Gerade die unterschiedliche Vulnerabilität von sozialen Gruppen und die Suche nach einem Schuldigen, lassen die Frage nach den objektiven Gründen des Katastropheneintritts entschwin-den. Der Beginn gewaltsamer Ausschreitungen und Konflikte ist von da an nicht mehr fern, vor allem wenn soziale Gruppen bereits zuvor marginalisiert wurden und diese nun für ein Problem und einen Konflikt instrumentalisiert werden (vgl. den Darfur-Konflikt, Kap. 7.2).

Wurde das Versagen der Fachelite festgestellt, richten sich nun die Erwartungen an die Macht-elite, an die Politiker, Regierungsinstitutionen: sie sollen die Gesellschaft retten. Vor allem sollen sie sich für das Einbrechen der Risiken verantworten. Mit dem weiteren Verlauf kann die Stim-mung so weit kippen, dass erst gar nicht mehr nach dem Warum des Katastropheneintritts ge-fragt wird, sondern die Betroffenen sofort die Verantwortlichen für einen nicht-funktionieren-den Katastrophenschutz suchen. Dieser Fokuswechsel birgt die Gefahr, dass keine nachhaltige Lösung erzielt wird und so keine nachhaltige Lösung für eine Reduzierung der Verwundbarkeit erzielt werden kann, sofern die Gesellschaft aus dem Desaster entkommt. Das Hinterfragen der Verflechtungszusammenhänge, um den Grund des Katastropheneintritts zu analysieren, fällt hinter die Suche nach den Schuldigen. Ist erst einmal wieder „Normalität“ eingekehrt, wird nicht erkannt, dass dieses die ganze Zeit bereits gegenwärtig war.28

Der Grund nach einem ‚Sündenbock‘ für das Desaster zu suchen, der häufig bei den zivilen Offiziellen gefunden wird, ist ein häufig eintretendes Phänomen. Nach einigen Autoren herrsche bei den Opfern der verallgemeinerte Glaube, dass offizielle Behörden von lokalen Regierungen teilnahmslos gegenüber den Bedürfnissen ihrer Bürger agieren. Es tue sich bei den Betroffe-nen eine Kluft auf, zwischen dem was erwartet und dem was erbracht wurde. Durch eine Be-stimmung eines Schuldigen könnte die Illusion bei den Opfern aufrechterhalten werden, dass irgendeine korrekte, geeignete Maßnahme in bestimmter Situation den Betroffenen genommen wurde.29 Deshalb ist ein gelungenes Notfallmanagement wichtig. Schafft es dieses mit passen-den Maßnahmen die Auswirkungen der Katastrophe gering zu halten, tritt dies dem aufkeimen-den Gedanken entgegen, dass alles viel besser hätte sein müssen. Das soziale Ausmaß wird mit taktischen Mitteln reguliert und Auswirkungen werden begrenzt. Falls dies jedoch nicht gelingt, beschleunigt sich der Wandel: die Zustände verschlimmern sich.

Clausen geht davon aus, dass Infrastruktur und Vorräte im Zuge des Katastrophenprozesses scheinbar herrenlos werden. Die Betroffenen fangen an das Material auszuschlachten bzw. es an sich zu nehmen. Die Folge ist, dass die Situation sich weiter verschlimmert, indem Durst und Hunger auftreten und Kälte und Nässe den Verunglückten zusetzen. Den Menschen wird be-wusst, dass sich seit Längerem eine neue soziale Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft gebildet hat, die nur Wenige oder gar niemand erkannt hat. Auch innerhalb der Katastrophe ändern sich die Positionen der Menschen: nicht alle sind gleichermaßen von der Katastrophe betroffen. Ver-schonte werden zu relativen Katastrophengewinner; Menschen, die sogar ihren Nutzen aus dem Unglück ziehen, da sie die ihn plötzlich erschließenden Chancen nutzen (z. B. das Phänomen des Wuchers), werden zu absoluten Katastrophengewinner.

Vier Wege können aus diesem Stadium führen. Nachdem die Fachelite Reformen in ihre eige-nen Reihen vollzogen hat, ist es (a) denkbar, dass die Experten doch noch die Lage retten. Das Vertrauen gegenüber den Experten wird erneuert und eine innovative Alltagsbildung kehrt ein. Solch eine Lösung wäre als fachrevolutionierend anzusehen. Ein Schritt zurück in das Stadium der Klassenbildung wäre (b). Diese restaurative Lösung ist möglich, wenn die Gesellschaft kopf- und ressourcenreich ist und die Zivilgesellschaft elastisch ist. Es bilden sich aus der Gesellschaft Organisationen, Gruppen und Netzwerke heraus, die Rettungen und Lösungen anbieten. Falls es noch aus den Reihen der politischen Machtelite Fähige gibt und umorganisierte staatliche Gruppierungen (aus Polizei, Militär, Verwaltung oder Parteien) es verstehen, mit den gesell-schaftlichen ad-hoc Organisationen produktiv zusammenzuarbeiten, könnte der Staat gerettet werden. Der soziale Konflikt zwischen Experten und Laien wäre damit aber nicht behoben. Falls der Fortgang der Katastrophe jedoch nicht verhindert werden kann, gerät (c) die Gesellschaft in das nächste Stadium und die Sicherheit löst sich auf. Die Lösung, die am meisten ersehnt wird, ist (d) die charismatische Lösung. Nach Max Weber tritt ein Erlöser, Prophet oder Kriegsheld auf, der eine außeralltäglich geltende Qualität einer Persönlichkeit besitzt, die als nicht gewöhn-lich gilt. Die Betroffenen sehen ihn qua seiner außerordentlichen Qualität als Führer an und geben sich ihm durch die Not oder Hoffnung geboren hin.30 Sie vertrauen ihm, dass er die Ge-sellschaft zu einer neuen Friedensstiftung führt.

Kausalketten aus dem Umfeld (natürliche Phänomene, Technik, Fremdeinwirkungen) haben die Gesellschaft zerstört. Die Sozialstruktur zerbricht und die Gesellschaft entnetzt sich nachhaltig. Das Einbrechen des Unglücks hat die Menschen überwältigt, sodass sie unter Schock stehen und diesen erst verarbeiten müssen. Damit sind sie vorerst nicht in der Lage, sich gegenseitig zu hel-fen. Die Ereignisse reihen sich immer noch schnell aneinander. Die formierten Gruppierungen können die Folgen nicht mehr bekämpfen, die ad-hoc Erklärungen fallen immer geringer aus. Zudem fällt das politisch-wirtschaftliche System auseinander: Institutionen, die für die Güter-produktion und -verteilung zuständig waren, sowie der Rechtsschutz. Die sozialen Sanktionen, die Bedürfnisse erfüllten, funktionieren nicht mehr; das Offerten-System stellt sich als entwertet heraus. „Es fehlt an Trinken, Essen, dem Dach über dem Kopf, Kleidung und Schuhen. Städte werden zu Fallen, Flüsse zu Barrieren. Alle Sozialstrukturen leiden oder brechen, die Menschen sind für emergente Gemeinschaften der Not auf ihre biosoziologische Mitgift diesseits des Tier-Mensch-Übergangsfeldes zurück geworfen […]; spontan reicht dies – über Primärgruppen hin-aus – vermutlich nur zur (ethnologisch früher so genannten) ‚Horde‘.“31

Nicht nur nach innen ist die Gesellschaft geschwächt, auch nach außen hin ist sie anfällig. Der Staatsapparat ist nicht mehr in der Lage seine Bürger zu schützen. Naturgefahren, Hungersnöte oder massenhaftes Auftreten von Krankheiten schüren den Verelendungsprozess. Nach Clausen ist das die Phase, in der Plünderer und gewaltsame Truppen auftauchen können. Fremdkräfte wollen das politische Vakuum von außen auffüllen. Diverse Hilfsorganisationen (Clausen spricht von „kleinen Rotkreuzdiktaturen“) versuchen aus Gründen der Humanität zu helfen, was jedoch die innergesellschaftliche Krise noch verschärfen und bis zur kollektiven Handlungsunfähigkeit führen kann. Nach dem Tsunami im Indischen Ozean Dezember 2004 tauchten beispielsweise zahlreiche private Organisationen neben NGOs auf und kontrollierten enorme Ressourcen, die sie ohne Absprache mit den Regierungen beim Wiederaufbau einbringen wollten, woraufhin die Autorität der Staaten untergraben wurde.32 Dieses Eingreifen von außen zerstört letztendlich das Zutrauen der Betroffenen in die eigenen organisatorisch-politischen Strukturen. Allerdings rückt dies Hilfsorganisationen in ein schlechtes Licht und verkennt ihren potentiellen Wert. In Katastrophenzeiten haben Regierungen in den weniger entwickelten Ländern oftmals nicht die Kapazitäten, um lebensnotwendige Prozesse aufrecht zu erhalten. Ohne internationale Unter-stützung wäre in manch einer Situation die Wahrscheinlichkeit für eine Entstehung einer dras-tischen humanen Notlage deutlich höher.

Sofern der Verunglückte in einer ‚Horde‘, einer lebensnahen Gruppe unterkommt, kann er weiterhin seine Fähigkeit der ‚natürlichen‘ Gemeinnützigkeit seiner Person zur Geltung bringen. Falls nicht, ist er auf sich gestellt. Das kann dadurch verstärkt werden, dass der Unglücksfall stark in sein persönliches Netzwerk eingegriffen und er sein direktes Umfeld verloren hat. Oder dass er von vornherein kein großes Netzwerk hatte, wie das bei vielen ärmeren Opfern der Flut-katastrophe von New Orleans der Fall war (vgl. Kap. 7.3). Man kann niemandem mehr nützen und die Selbstachtung sinkt, da niemand mehr da ist, der psychische Anstrengungen oder die eigene Identität honoriert. Neben der notgedrungenen Isolation anderer entsteht damit zusätz-lich noch eine Identitätskrise. Allgemeine Lethargie kehrt ein, alte Routinen werden nur stumpf verfolgt – so ist es schwer, gegen die Katastrophe anzukämpfen. Eine andere Möglichkeit ist das Auftreten von Aggressivität und Ausschweifungen. Tote werden beispielsweise nicht mehr be-stattet, Menschen greifen zu den Waffen.

Vier anschließende Wege sind aus diesem Stadium vorstellbar. Zunächst (a) die kollektive Auswanderung, die Flucht aus der Not. Möglichkeit (b) ist die exogene Größe des Krieges. Wird dieser verloren oder eine aus dem Stadium errichtete Diktatur zerfällt, sind weitere vier Unter-fälle möglich: (b1

) Annexion, was zu einer Satellitengesellschaft einer anderen Gesellschaft füh-ren würde; (b2

) die Gesellschaft wird zu einer Art „äußeren Proletariat“, da die Sieger nur das

äußere Umfeld sichern und ansonsten die Kontrolle über das Gebiet sich selbst überlässt; (b3

) die auswärtigen Sieger überlassen lediglich die Reste der Gesellschaft, die damit zu deren „äuße-ren Lumpenproletariat“ verkommt – Gewaltmärkte entstehen und der Völkertod ist nicht mehr fern; oder (b4

) die gewollte Ausrottung durch den Sieger. Der dritte Weg (c) ist das Aufkommen des Terrors. Das Kollektiv wird durch den Terror diktatorisch geführt und wird durch Schrecken gelähmt. Die Opfer sind unfähig gemeinsam zu Handeln. Oder letztendlich der vierte Weg (d), der in das sechste Stadium führt. 8.1.4.6 Stadium VI – Liquidation der Werte (noch entnetzt und beschleunigt, nun hoch säkularisierend)

Das gesamtgesellschaftliche Netzwerk ist zerrissen. Das persönliche Umfeld ist nicht wiederzu-erkennen. Die Katastrophe konfrontiert die Betroffenen mit gnadenlosem Realismus. Das Elend wird vor Augen geführt. Der Gewissenhaftigkeit der Ämter, der Nutzbarkeit von Verkehrsver-bindungen, der Verlässlichkeit der Nachbarn ist nicht mehr zu trauen. Hinzu kommt durch den zerrütteten Kontakt zu seinem Umfeld der Verlust der Selbstachtung. Die grundsätzlichen Werte, die sich über Zeiten aus der Gesellschaft herausgebildet haben, fallen unter einer allge-meinen Abwertung. Durch die Zerstörung der alten Werte, ist der Weg zu neuen frei, besonders wenn man durch die Annahme neuer Werte einen Überlebensvorteil sieht. Insbesondere durch

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das Eindringen fremder Gesellschaften in das Katastrophenland, durch gewaltsame Invasoren oder durch Hilfstruppen, stehen neue Werte leicht zur Disposition. Die Vernachlässigung der eigenen Werte und das schnelle Annehmen anderer verändert das Wesen der Gesellschaft. Man könnte gar von einem Wesensverlust sprechen. „Das überlebende Personal der alten Gesell-schaft wird […] zum Personal der neuen.“33

Aus dieser Situation lassen sich nach Clausen vier Anschlussszenarien denken. Wie bereits soeben vorweggenommen durch die Annahme neuer Werte der Invasoren, ist (a) der Anschluss bzw. die Angliederung an eine andere Gesellschaft möglich. Das alte Kollektiv endet, nur das Personal bleibt bestehen. Kulturelle Assimilation oder eine Transformation zu einem äußeren Proletariat oder Lumpenproletariat (vgl. die Auswege b2 und b3 beim Stadium V im vorangegan-genen) wären mögliche Effekte. Auch (b) ein ‚apathisches‘ Aussterben ist realistisch. Die Aus-rottung durch Fremde findet zwar nicht statt, aber das Volk gerät in eine kulturelle Perspektivlo-sigkeit. Indikator hierfür ist oftmals das Aussterben der Landessprache(n). Die Geschichte zeigt, dass dies als Folge unerwarteter (z. B. kolonialistischer) Invasionen bereits geschehen ist. (c) Ein Neuanfang ist denkbar. Durch die Katastrophe haben sich die Betroffenen in zahlreiche Klein-kollektive zusammengefunden und bestreiten so ihr Überleben gemeinsam. Die Zersplitterung der Gesamtgesellschaft hat einen Geschichtsverlust der Ur- oder Frühgeschichte zur Folge; sie verdunkelt sich mit dem Fortlauf der Zeit und kann mythische Züge annehmen. Das Überleben der einzelnen Gruppen kann auf einem magischen Niveau wahrgenommen werden, indem die Gruppen ihren Neuanfang als verdient erklären ( Noah-Effekt ). Oder der Gesellschaft gelingt es (d) sich wieder zu vernetzen, und zwar auf einem radikalen Weg. Damit gelänge es den Be-troffenen wieder einen neuen Frieden zu stiften (vgl. die adäquate Lösung einer Gesellschaft in Kap. 8.1.2.1 zur Radikalität einer Katastrophe).34

Lars Clausens FAKKEL-Modell basiert auf dem Verständnis, dass sich soziale Prozesse immer weiter fortsetzen, also anschlussfähig sind. Die Katastrophe entsteht nicht erst mit dem Eintritt eines natürlichen oder technischen Phänomens, sondern durch Verflechtungszusammenhänge (Figurationen), die sich durch im Alltag stattfindendes soziales Handeln bilden. Mit dem Beginn des Stadiums „Katastropheneintritt“ brechen sie nach und nach aus der Nicht-Berücksichtigung bzw. Nicht-Wahrnehmung hervor. Die Katastrophe ist demnach ein Ereignis, dass nicht von der sogenannten Normalität abgegrenzt wird. Es gibt aus soziologischer Sicht keinen Vor- und Nach-der-Katastrophe-Abschnitt. Für Clausen stellt das Experten-Laien-Verhältnis, das mit der Zeit immer brüchiger wird, eine wesentliche Rolle dar. Über die „Klassenformation“ hin zum „Katastropheneintritt“ ist das Vertrauen gegenüber den Experten so gering geworden, dass ein unbefangener Blick auf Risiken nur noch schwerlich möglich ist. Der Gesellschaft ist nicht be-wusst, dass sie auf eine Katastrophe zusteuert. Clausens makrosoziologisches Prozessmodell, das sich besonders auf einen Experten-Laien-Konflikt stützt, mag in seiner Theorie dem Ausbruch einer Katastrophe in einem hochentwickelten Land wie Deutschland am nächsten kommen, da beispielsweise Entwicklungschancen, sozioökonomischen Gegebenheiten und politischen Ein-flüssen demgegenüber einen geringeren Stellenwert beigemessen wird. Allerdings spielen solche Faktoren gerade in angespannten Lagen in weniger entwickelten Ländern oftmals eine tragende Rolle hinsichtlich eines weiteren Verlaufs einer Krise.35 Andererseits sind die unterschiedlichen Folgeszenarien in den Stadien V und VI, in denen Krieg ausbricht oder Terrorismus einfällt und die Gesellschaft dauerhaft verkommt, für einen entwickelten Staat, in dem trotz kleinerer Krisen meist Stabilität herrscht, nicht ganz leicht vorzustellen. Allerdings sind Katastrophen immer gesellschaftlich möglich.

Clausen impliziert zudem einen Stillstand im Katastrophenmanagement, das aus heutiger Sicht eine unzureichende Annahme ist. Clausen kann zugutegehalten werden, dass die Ent-wicklung seines Modells bereits einige Zeit zurückliegt. Doch bereits um die letzte Jahrhun-dertwende war im Zusammenhang mit dem Klimawandel und der Erkenntnis zunehmender Wetterextremen von einer Zunahme von Katastrophen auszugehen. Zwar mag die Schnitt-stellenarbeit der Bereiche Klimawandelanpassung und Katastrophenrisikoreduzierung erst in den nachfolgenden Jahren präsenter geworden sein – zumal die Bereiche nach wie vor getrennt voneinander betrachtet werden –, die erste Weltkonferenz über sogenannte Naturkatastrophen ( World Conference on Natural Disaster Reduction ) fand jedoch bereits 1994 in Yokohama, Japan statt. Katastrophenforschung ist somit keinesfalls eine abgeschlossene Wissenschaft, trotz des Ausbleibens nationaler Katastrophen. Vielmehr führt der internationale Austausch von Wis-sen, Erfahrung und Technologien zu einer Weiterentwicklung auf diesem Gebiet. Besonders in den letzten Jahren nahm der Stellenwert für die Reduzierung von Katastrophenrisiken zu. Sogenannte Experten können heute ein durchaus besseres Wissen betreffend Katastrophen vor-weisen als Jahrzehnte zuvor. Dabei hat besonders die integrierende Arbeit zugenommen, bei-spielsweise in Form von Ausbildungen und Trainings der lokalen Bevölkerung in katastrophen-anfälligen Regionen. Durch solche Aufklärungsarbeiten werden aktiv Präventionsmaßnahmen gestaltet und die Effizienz des Katastrophenschutzes erhöht.

In Deutschland treten selten Extremphänomene ein, die ein Potential katastrophischer Aus-wirkungen haben. Hohe Bau- und Schutzauflagen minimieren von vornherein Schadensaus-maße. Darüber hinaus nahmen in entwickelten Ländern politische, soziale, ökonomische oder ökologische Krisen bisher selten ein Ausmaß an, woraus sich Szenarien mit destabilisierender Wirkung entwickeln. In diesen Ländern sind Fachkreise und Institutionen mit nötigen Kapazi-täten auf dem Gebiet des Katastrophenmanagements etabliert, wodurch auf einbrechende Ex-tremereignisse meist entsprechend reagiert werden kann. Sollte ein Extremereignis auftreten, das tatsächlich eine Katastrophe nach sich zieht, trotz des Vorhandenseins von Experten, wäre ein möglicher Vertrauensverlust bzw. aufkommende Kritik gegenüber jenen dennoch vorstell-bar. Besonders der Fall des Hurrikans Katrina zeigt, dass die lokale Katastrophenvorsorge in dieser Region stark vernachlässigt wurde. Es gab keine ausreichenden Schutzmechanismen und jene physischen Strukturen, die Schutz bieten sollten, hielten nicht annähernd den Fluten stand. Folglich war die Kritik groß, vor allem da Warnungen über die Jahre nicht ernst genommen wur-den.36 Eine gewisse Regelmäßigkeit des Auftretens von Extremphänomenen zwingt hingegen die in Verantwortung stehenden Institutionen Schutzmaßnahmen auf aktuellem Stand zu halten. In Japan beispielsweise, wo sich die Bevölkerung mit häufig auftretenden Extremphänomenen arrangieren muss, ist der Katastrophenschutz im Alltag allgegenwärtig. Ausbleibende Instand-haltungen und Erneuerungen der Schutzmaßnahmen könnten sich andernfalls zeitnah rächen.

Stellt sich noch die Frage, ob der von Clausen genannte Experten-Laien-Konflikt in weniger entwickelten Ländern eine entscheidende Rolle beim Ausbruch von Katastrophe spielt. Meist ist in diesen Ländern eine schwierigere ökonomische Situation vorzufinden, wodurch aufgrund fehlender finanzieller Mittel nicht die nötigen Kapazitäten bereitstehen. Dies wirkt sich folglich auch auf den wissenschaftlich-technologischen Fortschritt in den relevanten Bereichen aus. So sind beispielsweise fehlende Daten aus den gefährdeten Regionen oftmals ein Problem für die Findung nötiger Maßnahmen. Projekte im Rahmen der Internationalen Zusammenarbeit be-zwecken die nötigen Kapazitäten zu stärken und Entwicklungen im Hinblick auf die Umsetzung des UNFCCC, des Sendai Abkommens zur Katastrophenrisikoreduzierung sowie die Erfüllung der SDGs voranzubringen. In zahlreichen weniger entwickelten Ländern wird mithilfe solch internationaler Programme zunächst das Bewusstsein geweckt, dass verschiedene Maßnahmen zur Risikoreduzierung entwickelt und umgesetzt werden müssen. Bestimmte Ziele wie die Re-duzierung von Extremereignissen oder die Anpassung an den Klimawandel werden in nationale Programme aufgenommen und bekommen somit nationale Bedeutung.37 Anstatt des Exper-ten-Laien-Konflikts ist in den Ländern des globalen Südens eher ein anderer Konflikt wahr-scheinlicher. Der Unmut über katastrophische Zustände ist oftmals mit dem Gewahrwerden von existierenden Missständen, Krisen, fehlenden Entwicklungschancen verbunden. Anstatt Katastrophenexperten zu beschuldigen, wird die Entwicklung des Landes als Grund angesehen, dass ein auftretendes Ereignis eine solche Dimension erreicht hat – und für die Entwicklung wird in der Regel die Politik verantwortlich gemacht. Dabei kommt der Politik in weniger ent-wickelten Ländern eine etwas andere Rolle zu als in Industrienationen. Die höchst diversen politischen Systeme werden neben klassischen Thematiken zur Sicherheit und Entwicklung des Landes auch mit Problemen der Globalisierung, dem vorkolonialen Erbe sowie den kolonia-len und postkolonialen Erfahrungen konfrontiert.38 Aufgrund der bedeutenderen Rolle hin-sichtlich gesellschaftlicher Fragestellungen, gibt es die Tendenz, Kritik direkter gegenüber der Regierung aufkommen zu lassen. Soziale, ökonomische und ökologische Missstände werden schneller und konkreter in Verbindung mit einer schlechten Regierungsweise gebracht. Hinzu kommt das Problem von Korruption. Katastrophen offenbaren die Missstände, folglich fällt die Anklage der Opfer auf die nationalen Führungspersönlichkeiten.

Auf Grundlage des bisher ausgeführten Inhalts dieser Arbeit, werden gesellschaftlichen Miss-ständen und ihre Verflechtungen ein höheres Potential beigemessen, einen extremen sozialen Wandel zu begünstigen, als dies ein zerrüttetes Verhältnis zum Personal des Katastrophenri-sikomanagements beinhaltet. Trotzdem verdeutlicht uns das FAKKEL-Modell, dass eine Ka-tastrophe in einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu sehen ist: Bereits zuvor existie-rende gesellschaftliche Komplikationen (siehe Risiko und Vulnerabilität) werden nicht nur in ein Katastrophenszenario verschleppt, sondern diese tragen maßgeblich die Verschärfung der Dynamik bei, woraus sich dann eine Situation entwickelt, die als Katastrophe bezeichnet wird. Sieht sich eine Person einer Notlage ausgesetzt, kann sich ihr Unmut allgemein auf die Verant-wortlichen des Staates richten, oder sie sucht sich einen anderen Schuldigen, nicht unbedingt die Experten, sondern eine soziale Gruppe. Die Ausführungen zu Konflikten zeigten, dass Ext-remereignisse von bestimmten Gruppen instrumentalisiert werden können. Im Erkennen ihrer Lage tritt Angst, Hoffnungslosigkeit, Wut auf, wie die FAO beschrieben hat, und könnte bei den Opfern den Drang hervorrufen, sich mit Gewalt gegen die Situation zu wehren (vgl. Kap. 6.3).

Mit Bezug auf Clausen treten solche Gefühlszustände in den besonders einschneidenden Sta-dien IV (Katastropheneintritt), V (Ende aller Sicherheit) und VI (Liquidation der Werte) auf. Neben dem Verständnis eines fortschreitenden, gesellschaftlichen Prozesses zeigte die Einfüh-rung in die Katastrophensoziologie, dass mit dem Prozess zur Katastrophe eine Dynamikver-schärfung einhergeht, die uns zum Thema Verhaltensweisen bringt, bei denen Gefühlszustände eine entscheidende Rolle spielen. Zunächst lässt sich sagen, dass die Betroffenen einer Situation ausgesetzt sind, die von Verlusten, Zerstörung und beschränkten Zugang zu Ressourcen geprägt ist. Diese Bedingungen fügen dem System Störung hinzu, wodurch die Gesellschaft in eine Ex-tremlage (vgl. Radikalität, Rapidität, Ritualität) gerät. Aufgrund der Einschnitte in das tägliche Leben liegt den Betroffenen nur eine limitierte Auswahl an Handlungsalternativen vor. In ge-wisser Weise ist die betroffene Gemeinschaft isoliert vom Rest der Gesellschaft und bestimmte Kapazitäten, Fähigkeiten und Ressourcen werden in der Extremlage relevanter, um die Situation zu überstehen. Allerdings ist nur in äußerst seltenen Fällen die Gemeinschaft völlig isoliert, da es immer noch Kontakt zum Rest der Gesellschaft gibt, sei es durch Kommunikation oder von außen gesendeter Hilfe. Halten wir uns die Punkte vor Augen, dass während einer Katastrophe ein System vorliegt, das durch Umstände gestört wird und besondere Gemütslagen unter den Betroffenen aufgrund ihrer Exposition zum Vorschein kommen. Daraus können wir ableiten, dass unter solchen Umständen die Kommunikation unter den Beteiligten sich im Vergleich zu alltäglichen Situationen ändert. Diese Punkte legen den Schritt nahe, mithilfe von Niklas Luh-manns Systemtheorie tiefer in die Katastrophenthematik einzudringen und die Grundlage phä-nomenalen Verhaltens während Extremlagen zu hinterfragen.

8.2 Die Bedeutung von Kommunikationsverhalten in Katastrophenzeiten: Niklas Luhmanns Systemtheorie

Wir gelangen an dieser Stelle in eine Art Subthematik des Katastrophenphänomens. Am Anfang dieser Arbeit wurden universale Entwicklungen thematisiert, die eine Wahrnehmungsänderung hinsichtlich bevorstehender Katastrophen bezwecken. Die Politik spielt dabei eine entscheiden-de Rolle, da sie die Instrumente hat, Maßnahmen zu ergreifen und Änderungen zu bewirken. Grundlegende Bedingungen ( hazard, exposure, vulnerability ) und der Einfluss von gesellschaft-lichen Sektoren wurden weiter geschildert und der Bogen zur menschlichen Sicherheit und zur menschlichen Entwicklung wurde gespannt. Darauf aufbauend konkretisierte sich die Abhand-lung durch die Ausführung potentieller Szenarien und die Erläuterung des Zusammenhangs zu Konflikten. Nun, da aus soziologischer Perspektive die Katastrophe als sozialer Prozess verstan-den werden kann, also sich nicht mehr nur durch Verlust und Schaden definiert, soll jetzt auf das Wesen des eigentlichen sozialen Prozesses während einer Katastrophe eingegangen werden. Damit öffnen wir weiter die Tür der Katastrophensoziologie, die bisher ein Arbeitsgebiet dar-stellt, das nur gering in der Wissenschaft behandelt wurde. Folglich ist es nicht verwunderlich, dass Niklas Luhmanns Theorie zu sozialen Systemen bzw. seine Systemtheorie hierbei weitest-gehend unberücksichtigt blieb. 8.2.1 Kommunikation als Ursache des Scheiterns

In den Stadien IV bis VI in Clausens FAKKEL-Modell, vom Katastropheneintritt über das Ende aller Sicherheit bis hin zur Liquidation der Werte, entnetzt sich die Gesellschaft progressiv. Wir wollen an dieser Stelle die Bedeutung der Kommunikation hervorheben. Beim Katastrophen-eintritt herrscht unter den Betroffenen noch eine hohe Vernetzung. Durch Kommunikation und Informationsaustausch zwischen den Betroffen und den öffentlichen Behörden oder Medienan-stalten ist das Ausmaß der Erschütterung einsehbar. Normalerweise setzt sich Kommunikation

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weiter fort. Aus der Kommunikation unter den Betroffenen kann nunmehr über den Zustand und seine Gründe gerätselt werden. Dies kann durch die gemeinsame Besinnung der Opfer, jene Gründe zu finden, warum sie in diese Situation gelangt sind, bekräftigt werden. Missstände werden aufgedeckt, Schuldige werden gesucht und gefunden. Alte soziale Netzwerke mögen gestört werden, neue Netzwerke und Gruppierungen können sich bilden. Soziale Bindungen sind eine Art Fundament für Beistand in der Notlage und dass es zu keinem breiten Sicher-heitsverfall kommt. Übersteigt jedoch die Stärke des eintretenden Phänomens bei weitem die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft, sind die Betroffenen vom Unglück überwältigt. Der Schock über menschliche und physische Verluste ist enorm. Eine schnelle Erholung hiervon ist nicht absehbar. Unfähig den Umständen entgegenzutreten, überschlagen sich die Ereignisse. Die Betroffenen sind mit Verlusten und Schäden sowie mit ihrem Schicksal konfrontiert. Sie müssen ihren Schock erst verarbeiten. Folglich gerät die Kommunikation ins Stocken, was die Entnetzung der Gesellschaft in Gang bringt. Die Betroffenen haben nur noch beschränkten Ein-blick auf die Auswirkungen, mögen gar den Überblick über die Situation verlieren. Findet keine Kommunikation im sozialen System mehr statt, oder nur noch in geringem Maße, kann die Kommunikationsstruktur nur schwer aufrechterhalten werden und die Gesellschaft gerät unter zusammenfallenden Netzwerken in das letzte Stadium.

Zunächst muss der Begriff der Kommunikation geklärt werden. Kommunikation heißt hier nicht lediglich der Austausch von Wörtern zwischen zwei Personen, sie ist vielmehr ein statt-findendes Interagieren zwischen Menschen, eine Aktion und Interaktion zwischen Personen und Gruppen. Beispielsweise werden die Ängste der Laien laut dem FAKKEL-Modell von den Eliten bagatellisiert und nicht ernst genommen. Diese Bagatellisierung ist eine kommunikati-ve Reaktion der Eliten auf die Ängste der Laien, die sie nicht teilen und auf die sie nicht ein-gehen wollen. Diese Expertenreaktion wird wiederum von den Laien wahrgenommen. Damit findet ein kommunikativer Austausch zwischen Laien und Experten statt. In Katastrophen oder Konflikten kann Kommunikation anders ablaufen als üblich. Reaktionen sind auf einmal nicht mehr erwartbar. Bestimmte Handlungsweisen stoßen in einer neuen Umgebung nicht mehr auf typische, erwartbare Reaktionen. Nach und nach destabilisiert sich das System und gerät in die Brüche – eine katastrophische Entwicklung nimmt Einzug. Gewisse Aktivitäten werden nicht mehr sanktioniert; Handlungen stoßen auf überproportionale Gegenhandlungen.

Der Kommunikation fällt eine herausragende Bedeutung zu. Ein Aufrechterhalten der Kom-munikation scheint notwendiges Mittel zu sein, damit die Gesellschaft nicht ihre Funktionsfä-higkeit verliert. Bricht die Kommunikation hingegen ein, kann sich ein beschleunigter Krisen-zustand anbahnen, der letztendlich zu einem völligen Zerreisen der sozialen Strukturen führen kann. Dieses Kapitel beginnt daher mit der These, dass eine zusammenfallende oder eine nicht mehr wie gewohnt funktionierende Kommunikation der Auslöser für eine Entnetzung der Ge-sellschaft ist. Gesellschaftliche Bedingungen wie politische, ökologische, soziale oder ökonomi-

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sche Umstände bilden somit nur den Rahmen und den Anstoß. Ein eigentliches Scheitern von Handlungsrationalitäten ist in der Kommunikationsstruktur zu finden. 8.2.2 Grundgedanken der Systemtheorie

Der Gegenstand der Soziologie ist die Gesellschaft bzw. sie findet in ihr die zu untersuchenden sozialen Formen und das zu untersuchende soziale Handeln vor. Nach Luhmann ist die Sozio-logie allerdings zu sehr festgefahren auf den Bereich der Gesellschaft. Andere Bereiche wie die Naturwissenschaften grenzt sie von vornherein aus. Forschungen verschiedenartigster sozialer Probleme können sich folglich nur auf Problemquellen einstellen, die sich der Gesellschaft im Sinne der Soziologie zuordnen lassen. „Die Problematik der Probleme wird auf Strukturen des Gesellschaftssystems oder seiner Subsysteme zurückgeführt; und wenn man diese nicht ändern kann, kann man wenigstens die Verhältnisse beklagen.“39 Durch die Ausgrenzung anderer Be-reiche werden externe Problemquellen nicht berücksichtigt, was nach Luhmann jedoch notwen-dig wäre, um Probleme wirklich zu verstehen.

Betrachtet man beispielsweise die Konfliktforschung, stößt man schnell auf verschiedene Ty-pisierungen von Konflikten. Konflikte werden von ihrer Art her unterschieden, selbst das Ver-ständnis, was ein Konflikt ist, unterscheidet sich, je nach Auffassung des Autors. Um Konflikte zu präzisieren, werden Konflikte als echt oder unecht, manifest oder latent bezeichnet oder es werden verschiedene Klassifizierungen eingeführt. So entsteht eine Klassifizierung aus soge-nannten „Bindestrich-Konflikten“, die je anhand der angeblich dem Konflikt zugrundeliegenden Empirie die Ereignisse kategorisieren. Diese Kategorisierungen sind laut manch einem Kritiker allerdings empirisch ungenau, da die Konfliktdefinitionen gerade von strukturellen Prämissen abhängig sind.40 Da die Soziologie die Probleme auf Gesellschaftsstrukturen zurückführt, kann sie keinen unabhängigen Begriff definieren. Nach Luhmanns Verständnis müsste der Konflikt-begriff unabhängig der Strukturen definiert werden, um ihn empirisch greifbar zu machen.

Um Probleme unabhängig von Strukturen zu erklären, müssten andere Wissenschaftsgebiete miteingeschlossen werden. Es müsste eine Theorie geben, die auf die ganze Welt angewendet werden könne, eine Theorie, mit der alle Probleme erklärt werden könnten. Luhmann ent-warf mit der Systemtheorie eine solche Universaltheorie. Sie hat den Anspruch, den gesamten Bereich der Wirklichkeit abzudecken. Laut der Systemtheorie ist die Realität in Systemen be-schreibbar und die Systemtheorie ist fähig, alle existierenden Systeme zu beschreiben. Das sind triviale (z. B. Maschinen), biologische, psychische oder eben soziale Systeme. Systeme bestehen dabei nicht aus Dingen oder Elementen, sondern konstituieren sich aus Operationen. Durch diese systemeigenen Operationen erhält sich das System selbst und reproduziert sich. Luhmann nennt dies Autopoiesis. Biologische Systeme erhalten sich, indem sie leben, psychische Systeme operieren auf der Basis des Bewusstseins, dass sie Gedanken an Gedanken anschließen und soziale Systeme bestehen aus Kommunikation, in denen ein kontinuierliches Prozessieren von Kommunikation das System erhält.41 Ein System existiert folglich dann, wenn Operationen des systemeigenen Typs ablaufen und sich mindestens eine Operation daran anschließt, also die Operation anschlussfähig ist und durch die Abfolge von Operationen Konsequenzen für das System entstehen. Auf diese Art reproduziert sich das System.

Es gibt kein einzig großes soziales System, sondern unendlich viele. Die Gesellschaft ist ein soziales System, in denen unendlich viele Subsysteme existieren. Zwei Freunde, die sich mitein-ander unterhalten, können ein soziales System bilden; die Marketingabteilung eines Unterneh-mens ist ein System im System des Unternehmens; ein Markt bildet ein Subsystem des großen Systems Wirtschaft; eine Gruppe oder die Bewohner einer Stadt, die von einem Naturphänomen heimgesucht werden, bilden ein System und sind ein Subsystem der Gesellschaft. Überall, wo es soziale Kontakte gibt, bildet sich ein System: „Jeder soziale Kontakt wird als System begriffen bis hin zur Gesellschaft als Gesamtheit der Berücksichtigung aller möglichen Kontakte.“42 So lassen sich einzelne soziale Systeme beobachten und die Probleme innerhalb des Systems unter-suchen, ohne dass die Untersuchung an existierende soziale Strukturen gebunden ist. Das be-deutet, dass untersuchende Probleme des sozialen Systems immer auf die Kommunikation der Beteiligten heruntergebrochen werden. Themen, wie die Einführung neuer Produkte auf dem Markt oder eine Rezension der Wirtschaft bleiben hinter der geführten Kommunikation des Personals der Marketingabteilung immer zweitrangig. Die entscheidende Komponente ist im-mer die geführte oder nicht geführte Kommunikation. Nach Luhmann erhebt die Systemtheorie durch die Möglichkeit alle sozialen Systeme zu betrachten – indem das betrachtet wird, was alle sozialen Systeme gemeinsam haben, nämlich Kommunikation – den Anspruch, den gesamten Gegensand der Soziologie zu erfassen und Universaltheorie zu sein. Dieser Anspruch soll in dieser Arbeit nicht verfolgt werden. Ob der Systemtheorie gelingt, die gesamte Wirklichkeit zu beschreiben, soll hier nicht Gegenstand der Diskussion sein. Allerdings soll an dieser Stelle kurz angemerkt werden, dass gerade im Anspruch der Systemtheorie, nämlich jegliche Systeme be-schreiben zu wollen, unter anderem ihre größte Kritik liegt. Da sie lediglich die Welt beschreibe, fehle ihr das normative Element und ein kritischer Ansatz, um aus ihr etwas zu lernen.43

Da jeder Anschluss eines sozialen Kontakts als System begriffen wird, folgt daraus, dass Sys-teme sich in anderen Systemen, größeren, übergeordneten Systemen, befinden. Systeme, die das beobachtende System umgeben, bilden die Umwelt jenes Systems. Die Umwelt eines Systems ist immer komplexer als das System selbst, vorausgesetzt, man nimmt das System als Ausgang der Beobachtung. Ein übergeordnetes System bzw. das Gesamtsystem bildet somit die Umwelt für seine eigenen Teilsysteme. Der Umwelt begriff kann in die Irre führen, besonders in einer Arbeit, in der Klima- und Umweltveränderungen thematisiert werden. Mit Umwelt ist in der System-theorie nicht die Natur gemeint. Sie entspricht keinem ökologischen Verständnis, das sich auf Wasser, Boden oder Luft beschränkt. Um eine klare Abgrenzung zu haben, soll im Folgenden von natürlicher Umwelt gesprochen werden, wenn von einem ökologischen Bezug ausgegangen werden soll.

Nach dem systemtheoretischen Ansatz hat jedes System eine spezifische Umwelt. Es gibt keine allumfassende Umwelt, in der sich alle restlichen Systeme neben dem zu beobachteten System aufhalten. Ein jedes System konstituiert seine spezifische Umwelt, indem es das ausschließt, das nicht zum System gehört. In sozialen Systemen grenzt sich das System durch seine Operatio-nen, also durch Kommunikation, von seiner Umwelt ab. Durch die eindeutige Abgrenzung des Systems durch seine sich reproduzierenden Operationen, ist jede Umwelt eines Systems system-relativ.

Um die oben genannten Beispiele nochmals aufzugreifen, bilden beispielsweise im Falle der sich zwei unterhaltenden Freunde vorbeilaufende Passanten die Umwelt oder weitere Abteilun-gen des Unternehmens mit ihren Mitarbeitern im Beispiel der Marketingabteilung. Beide Um-welten nehmen auf irgendeiner Weise Einfluss auf die Systeme. Da das System vom Beobach-ter abhängig ist, kann jedes System die Umwelt eines anderen Systems bilden. Das System, das gerade beobachtet wird, steht im Mittelpunkt. Und in der Umwelt des beobachtenden Systems können sich andere Systeme befinden.

Ein System besteht durch seine Differenz zu seiner Umwelt. Durch die Beobachtung des Sys-tems, wird diese System/Umwelt-Differenz in das System eingeführt. Mithilfe der Selbstbeob-achtung konstituiert sich demnach das System.44 Selbstbeobachtung ist als Operation im System zu verstehen. Dies bedeutet, dass es nicht einen externen Beobachter gibt, der sich außerhalb der Welt der Systeme befindet. Der Beobachter ist mittendrin und beobachtet die Operationen als Teil des Systems. Durch das Beobachten von Operationen ist der Beobachter sogar selbst Opera-tion. Eine Operation beobachtet sozusagen andere Operationen. Das Beobachten als Operation ist Unterscheiden und Bezeichnen. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Beobachter beobach-tet mithilfe der Unterscheidung von System-Umwelt Systeme. Ohne näher darauf einzugehen, kann Beobachten sowohl ein psychisches System als auch Kommunikation sein. Letzteres zum Beispiel, wenn über etwas Gesprochenes näher diskutiert wird oder eine Beobachtung themati-siert wird. Neben der Selbstbeobachtung gibt es auch Fremdbeobachtung. Dies ist der Fall, wenn sich der Beobachter in der Umwelt aufhält. Für die Soziologie ist dies zentral. Man muss kein Bestandteil eines Systems sein, um es zu beobachten. Somit lässt sich über Wirtschaft oder Poli-tik sprechen, ohne selbst Geld damit verdienen zu wollen oder politische Macht zu erwerben.45

Damit das System dauerhaft existent bleibt, wird die System/Umwelt-Differenz innerhalb eines Systems immer wieder wiederholt. „[Systeme] konstituieren und sie erhalten sich durch Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Umwelt, und sie benutzen ihre Grenzen zur Regulierung dieser Differenz.“46 Das System besteht somit aus einer gewissen Anzahl von ope-rativen System/Umwelt-Differenzen. Ein System ist damit deutlich komplexer, als wenn es nur aus Elementen bestehen würde: „Danach besteht ein differenziertes System nicht mehr einfach aus einer gewissen Zahl von Teilen und Beziehungen zwischen Teilen; es besteht viel-mehr aus einer mehr oder weniger großen Zahl operativen verwendbaren System/Umwelt-Differenzen […].“47 In diesen operativen System/Umwelt-Differenzen wird das Gesamtsystem als Einheit von Teilsystem und Umwelt rekonstruiert. Würde die System/Umwelt-Differenz zusammen brechen, würde es kein System mehr geben. Die Grenze zwischen System und Umwelt ist damit nicht nur zur bloßen Unterscheidung beider notwendig, sie ist auch als Selbsterhaltung

„Systeme mit der Fähigkeit, Beziehungen zu sich selbst herzustellen und diese Beziehungen zu differenzieren gegen Beziehungen zu ihrer Umwelt,“48 heißen nach Luhmann selbstreferen-zielle Systeme. Selbstreferenz ist dabei das Mittel zur Differenz zwischen System und Umwelt. „[…] Selbstreferenz kann in den aktuellen Operationen des Systems nur realisiert werden, wenn ein Selbst (sei es als Element, als Prozess oder als System) durch es selbst identifiziert und gegen anderes different gesetzt werden kann.“49 Mit jeder Operation des Systems identifiziert sich das System selbst und grenzt sich gleichzeitig von seiner Umwelt bzw. von dem ab, was es nicht ist.

Systeme orientieren sich strukturell an ihrer Umwelt. Nur so ist Selbstreferenz möglich. Da sich Systeme strukturell an ihre Umwelt orientieren, kann es folglich keine Systeme mit beliebi-ger Umwelt geben. System und Umwelt bedingen sich. Allerdings hängt die Umwelt nicht vom System ab, auch wenn sie relativ zum System existiert. Ebenso kann ein System nicht beliebig über seine Umwelt disponieren.50

Grenzen haben nach Luhmann immer eine Doppelfunktion, indem sie einerseits Systeme von ihrer Umwelt trennen, aber andererseits Systeme und Umwelt auch eben durch jene Gren-zen verbinden. Doch wie kann etwas verbunden werden, wenn es gleichzeitig abgegrenzt wird? Dafür muss zwischen Element und Relation unterschieden werden. Elemente werden durch die strikte Trennung zwischen System und Umwelt durch die Grenzen dem System oder der Umwelt zugeordnet. Relationen hingegen, also die Beziehungen zwischen den Elementen, kön-nen durchaus zwischen System und Umwelt bestehen. Somit werden Ereignisse durch Grenzen getrennt, jedoch die kausale Wirkung wird durch Relationen zwischen ihnen ermöglicht.51 Und indem über den Einfluss, den die Umwelt durch die Relationen auf das System hat, kommuni-ziert wird, kann die Umwelt eine indirekte Wirkung auf das System haben.

Die Umwelt bildet die Bedingung der Möglichkeit. Das System kann durch seine Umwelt ge-stört werden, was aber nicht heißt, dass sich das System daran anpassen muss. Das System bildet eigene Strukturen aus, seinen autopoetischen Prozess weiterhin zu ermöglichen. Zerbrechen diese Strukturen, hört das System auf zu existieren. Ein System ist damit in der Lage, sich selbst zu gefährden. Besonders wenn das System auf seine Umwelt auf solch eine Weise einwirkt, dass es später in seiner eigenen Umwelt nicht mehr existieren kann, da die Autopoiesis des Systems in einer beispielsweise radikal veränderten Umwelt nicht aufrechterhalten werden kann.52

Indem sich das System durch seine Systemgrenze von seiner Umwelt differenziert, erhält auch die Umwelt mit der System/Umwelt-Differenz seine Einheit, jedoch immer relativ zum System. Im Gegensatz zum System, ist die Umwelt nicht von überschreitbaren Grenzen gekennzeichnet. Umwelt ist von offenen Horizonten umgeben. Damit ist Umwelt kein System. Wie bereits er-wähnt, ist Umwelt für jedes System eine andere, was damit zusammenhängt, „da jedes System nur sich selbst aus seiner Umwelt ausnimmt“53. Systeme in einer Umwelt eines anderen Systems orientieren sich nicht auf andere Systeme. Für ein System sind andere Systeme Umwelt. Das heißt ein System orientiert sich immer nach seiner Umwelt, auch wenn sich in dieser Umwelt Systeme befinden. Das jeweilige System kann folglich über keine fremde System/Umwelt-Bezie-hung ganz verfügen.54

Dieses Grundverständnis der Systemtheorie öffnet die Tür zur Analyse von Problemen. Zu untersuchende Probleme sind, wie von Luhmann kritisiert, nicht in den sozialen Strukturen zu finden, sondern durch den Einfluss der Umwelt auf das jeweilige System, bzw. auf den Einfluss der Umwelt auf die Kommunikation eines sozialen Systems. Jedes Systemproblem ist damit auf die Differenz zwischen System und Umwelt zurückzuführen.

Da der Umweltbegriff der Systemtheorie etwas spezieller ist, wollen wir uns noch etwas ein-dringlicher mit ihm beschäftigen. Um mit der Idee arbeiten zu können, muss man sich be-sonders auf das Verständnis der Umwelt einlassen, was ebenso Konsequenzen auf den Umgang mit der natürlichen Umwelt innerhalb der Systemtheorie hat. Jedes selbstreferentielle System generiert seine eigenen Grenzen zur Umwelt, „[folglich hat] jedes selbstreferentielle System nur den Umweltkontakt, den es sich selbst ermöglicht“55. Nach Andreas Metzner werde dadurch der Umweltbegriff auf das System zentriert. Damit gäbe es keinen klassischen ökologischen Um-weltbegriff.56 In der Tat entsteht der Einfluss der Umwelt auf das System über die Differenz. So definiert Luhmann Ökologie wie folgt: „Unter Ökologie wird die Gesamtheit der wissenschaft-lichen Forschungen verstanden, die sich, auf welcher Ebene der Systembildung auch immer, mit den Konsequenzen der Differenzierung von System und Umwelt für die Umwelt des Systems be-fassen.“57 Das System bildet eine Einheit, in der Umwelt nur als Differenz des Systems aufgefasst wird. System und Umwelt sind somit zwei verschiedene Welten, auch wenn sie sich gegenseitig bewirken. Das System kann nur über Umwelt kommunizieren. Dies geschieht, indem die Diffe-renz zwischen Umwelt und System in das System eingeführt und sich an der Differenz orientiert wird.58 Gerade deshalb kann sich im systemtheoretischen Sinne keine gemeinsame Identität von Umwelt-System bilden. Das System grenzt sich durch ihre Grenzen von den Einflüssen ihrer Umwelt ab. Auch in der Wiedereinführung der System/Umwelt-Differenz, um über Umwelt kommunizieren zu können, ist die Umwelt nur als systemfremde Sphäre des Systems kenntlich. Sie hat keinen direkten Einfluss auf die Reproduktion des Systems:

Folglich haben aus der Umwelt stammende materielle, energetische oder ökologische Prozes-se keinen direkten Einfluss auf die Gesellschaft. Solange nicht über diese Prozesse im System kommuniziert wird, bleiben sie unbeachtet; man könnte gar sagen, sie bleiben für das System zunächst irrelevant. Luhmann macht dies unmissverständlich deutlich: „Es mögen Fische ster-ben oder Menschen, das Baden in Seen oder Flüssen mag Krankheiten erzeugen, es mag kein Öl mehr aus den Pumpen kommen und die Durchschnittstemperaturen mögen sinken oder steigen; solange darüber nicht kommuniziert wird, hat dies keine gesellschaftlichen Auswirkun-gen. Die Gesellschaft ist zwar ein umweltempfindliches, aber operativ geschlossenes System.“60

In seinem grundlegenden Werk zur Systemtheorie Soziale Systeme , das vor seinem Buch Ökologische Kommunikation veröffentlicht wurde,gesteht Luhmann der Umwelt zu, dass sie Elemente enthalten mag, die für das System durchaus wichtiger als die Bestandteile des Sys-tems selbst sein können.61 Dies mag allerdings nicht für die natürliche Umwelt gelten, die nur gesellschaftlich relevant ist, wenn darüber im sozialen System kommuniziert wird. Durch die kommunikative Beobachtung des Systems, kann das System nichts anderes als kommunikativ die Umweltveränderungen zu beobachten. Darin reguliert sich Kommunikation im weiteren Verlauf. Die drastische Folge dieses Verständnisses: Die Gesellschaft „ kann sich  […] nur selbst gefährden “62. Die Umwelt kann sich nur bemerkbar machen, indem sie durch Irritation oder Störung auf das System einwirkt. Die Kommunikation muss dann hierauf kommunikativ re-agieren.

Nach Luhmann ist das soziale System allerdings nicht so verschlossen, wie es den Anschein hat. Da das System mit einer System/Umwelt-Differenz aufgebaut ist, ist nach Luhmann die Ge-schlossenheit des Systems zugleich Offenheit. Alle Informationen und Informationserwartun-gen, also Strukturen, resultieren durch die Differenz. Das System erfährt sich durch seine Mittel in Differenz zu seiner Umwelt. Alle Tatsachen, die festgestellt werden, ist eine Feststellung einer Differenz zur Umwelt.63 Bedingung für das systemtheoretische Konstrukt ist allerdings die Auf-rechterhaltung der System/Umwelt-Differenz, damit das System seine Umwelt beobachten und folglich durch Kommunikation darauf reagieren kann. Allerdings gibt es bei der Differenz ein Problem: „Die Einrichtung und Erhaltung einer Differenz von System und Umwelt wird des-halb zum Problem, weil die Umwelt für jedes System komplexer ist als das System selbst.“64 Das System hat nicht diese Handlungskapazitäten, um auf jeden Zustand der Umwelt systemadäquat reagieren zu können. Auf das Komplexitätsgefälle zwischen Umwelt und System wird auf Seiten des Systems mit Selektionsstrategien gearbeitet, um die Differenz beizubehalten. Dies bedeutet, dass das System gewissen Möglichkeiten eine höhere Wahrscheinlichkeit zurechnet und damit den Eintritt bestimmter Situationen berechenbarer macht. Damit kann sich das System gegen-über potentiellen Ereignissen wappnen, deren Eintritt es für möglich erachtet.

Es ist aber nicht das übergeordnete System, das in seiner Gesamtheit einheitlich auf Verän-derungen reagiert. Die Einheit eines Systems ist die Geschlossenheit seiner autopoietischen Operationsweisen, sozusagen eine Summe aller stattfindenden Operationen der Teilsysteme. Die Gesellschaft als komplexes System ist nach Luhmann in viele Teilsysteme aufgegliedert, die wiederum innerhalb des Systems Gesellschaft eine andere Umwelt ausbilden. Die wichtigsten Teilsysteme der Gesellschaft sind Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Erziehung und Reli-gion. Diese formieren letztendlich die Gesellschaft. Dies bedeutet, dass die Gesellschaft auf ihre Umwelt reagiert, indem ihre Teilsysteme auf die Umwelt reagieren.65 Zwar gibt es nach wie vor unzählige Systeme innerhalb der Gesellschaft, doch die gesellschaftlich folgenreiche Kommuni-kation findet in den genannten wichtigen Teilsystemen statt.

Diese wichtigsten Teilsysteme sind auf eine bestimmte, eine für sie spezifische Funktion ein-gestellt. Man kann diese Teilsysteme folglich Funktionssysteme nennen. Die Spezifizierung der einzelnen Funktionssysteme erklärt zudem den Leistungs- und Komplexitätszuwachs innerhalb der Gesellschaft.66 Da die Gesellschaft auf die folgenreiche Kommunikation der Funktionssys-teme zur Umweltanpassung angewiesen ist, sind die Möglichkeiten der Funktionssysteme rele-vant, inwiefern sie sich ihrer Umwelt anpassen können.

Jedes Funktionssystem strukturiert seine Kommunikation mit spezifischen, binären Codes.67So lautet beispielsweise der binäre Code für das Teilsystem Politik ‚Macht haben – keine Macht haben‘, für das Rechtsystem ‚Recht – Unrecht‘, für die Wirtschaft ‚zahlen – nicht zahlen‘ bzw. ‚Geld Haben – Nichthaben‘ oder für die Wissenschaft ‚wahr – unwahr‘. Folglich behandelt je-des Funktionssystem Umwelteinflüsse nach seinem binären Code. „Was immer an Umweltver-schmutzungen auftritt, kann nur nach Maßgabe des einen oder des anderen Code wirkungsvoll behandelt werden.“68 Ökologische Probleme werden demnach im Wirtschaftssystem codiert, wenn sie nach einem Preis ausgerichtet werden können. Was nicht als Preis angegeben wer-den kann, auf das kann die Wirtschaft nicht reagieren.69 Eine Energiewende wird so nach dem Preis ausgerichtet und Fragen nach vorhandenen Ressourcen, Erschließung neuer Märkte, Set-zung von Preisanreizen für einen Wandel etc. werden monetär gestellt. Ökologische Probleme müssen codiert durch die Programme des jeweiligen Funktionssystems laufen. So werden sie systemrelevant.

Neben Umwelteinflüssen wie schwindende Ressourcen, Umweltverschmutzung oder natür-lichen Extremereignissen können auch andere Funktionssysteme durch Interdependenzen die Dynamik eines Teilsystems stören, wenn beispielsweise „die Wirtschaft sich gezwungen sieht, auf Rechtvorschriften zu reagieren, die die Politik dem Recht aufgezwungen hat, obwohl die Wirtschaft ohne diese Vorschriften nach ihren Eigenbegriffen bessere ökonomische Resultate erzielen würde“70. Norwegen hat sich vorgenommen, bis zum Jahre 2030 komplett kohleneutral zu werden. Dieses ambitionierte Ziel wird sicherlich nicht ausschließlich mit dem guten Willen der norwegischen Bevölkerung und Unternehmer umsetzbar sein. So will die Regierung unter anderem ab 2025 den Verkauf von mit fossilen Brennstoffen angetriebenen Autos verbieten.71Dafür müssen Gesetze verabschiedet werden, durch die die Wirtschaft reguliert wird. Hier sind klare Interdependenzen zwischen den Funktionssystemen zu erkennen. Die Politik muss mit-hilfe des Rechts Veränderungen erzwingen. Die norwegische Wirtschaft würde wahrscheinlich von sich aus nicht eine solch schnelle Verbannung von Verbrennungsmotoren wünschen, da sie dies mit einem negativen Einfluss auf ihre Wirtschaftsleistung assoziiert. „Was die Wirtschaft nicht freiwillig bringt, muss die Politik mit Hilfe ihres Rechtsinstrumentariums durchsetzen.72“

Eine gesellschaftliche Reaktion auf Umweltveränderungen ist jedoch nicht einfach die Summe der Reaktionen der einzelnen Funktionssysteme. Da die Teilsysteme eine Umwelt für andere Teilsysteme darstellen, kann ein jedes Teilsystem andere beeinflussen.73 Durch die Interdepen-denzen zwischen den Funktionssystemen kann jedes Teilsystem ein anderes beeinflussen, doch müssen die einzelnen selbst sich mit ihrer spezifischen Umwelt auseinandersetzen. Spezifische Codierungen und spezifische Umwelten der jeweiligen Teilsysteme verhindern es, dass eine Ga-rantie ausgesprochen werden kann, dass das Gesamtsystem auf ökologische Gefährdungen ge-schlossen reagieren kann.74

Nach Luhmanns Entwurf zur ökologischen Kommunikation der Systemtheorie, ist die An-passung an eine sich verändernde Umwelt eine teilspezifische Anstrengung. Jedes Funktions-system kalkuliert nach seiner eigenen Rationalität und passt sich gegebenenfalls nach seinem Programm daran an. Die Beeinflussung der Umwelt auf das System geschieht durch innerge-sellschaftliche Thematisierungen in den Teilsystemen, anstatt ein gesamtgesellschaftliches Ver-hältnis zur natürlichen Gesamtumwelt. Die Bedingung, dass die teilspezifische Umwelt auf ein Funktionssystem Einfluss nehmen kann, ist die Möglichkeit den spezifischen Einfluss zu codie-ren. Weiter, da die Operationen sich auf Kommunikation beschränken, muss neben der Mög-lichkeit der Codierung das Teilsystem den Umwelteinfluss kommunikativ thematisieren. Denn wie bereits erwähnt, hat jedes System nur den Kontakt mit seiner Umwelt, den es selbst zulässt.

Der Systemtheorie wird durchaus Kritik entgegnet. Neben der anfangs erwähnten Hauptkri-tik, dass sie aufgrund ihres deskriptiven Ansatzes wenig Neues über die Welt sagen kann – damit kann sie Reaktionen erklären, aber weniger Aktionen begründen –, erscheint sie zudem ein ziemlich starres Konstrukt zu sein. Bereits die vorangegangenen Seiten zu ihrer Einführung sollen gezeigt haben, dass sie ein komplexes Theoriegebäude darstellt. Beispielsweise attestiert Luhmann den Systemen zwar Offenheit, diese Offenheit basiert aber dennoch auf der Geschlos-senheit der Systeme. Mithilfe von eingeführten Operationen soll die Idee dann gestützt werden. Metzner beklagt, dass die Systemtheorie „sich vornehmlich mit sich selbst und weniger mit der umgebenden Wirklichkeit [beschäftigt], da ihr die kreisende Selbstbeschäftigung den Wirklich-keitskontakt ersetzt, insofern sie ihn vermeintlich immer schon enthält“75. Beck bezeichnet die Systemtheorie gar als „Opium für die Verunsicherten und Ratlosen“; die Systemtheorie stelle ein Zufluchtsort für diejenigen dar, die versuchen in einer „aus den Fugen geratenen Welt Ordnung zu stiften“.76 Das Konstrukt der Theorie ist so vereinnahmend, dass es erscheint, dass der Fokus mehr auf den Aufbau und Erhalt der Theorie selbst liegt. 8.2.4 Der systemtheoretische Wert für eine Katastrophenphänomenologie

Trotz ihres komplexen Konstrukts wollen wir einen Nutzen aus der Systemtheorie ziehen und uns an dieser Stelle ihren deskriptiven Charakter bedienen, um Verhaltensweisen während Katastrophenszenarien besser verstehen zu können. Die Grundlage der Theorie, dass soziale Systeme aus Kommunikation und nicht aus Personen bestehen, erscheint zunächst als etwas befremdlich und folgt nicht dem bisherigen Tenor dieser Arbeit, da Klimaauswirkungen und Maßnahmen gegen den Klimawandel mit einem starken Fokus auf humane Dimensionen wie der menschlichen Sicherheit diskutiert wurden. Gerade die Reduzierung auf den basalen sozia-len Prozess der Kommunikation ermöglicht uns soziales Verhalten in Katastrophen zu erklären. Wenn es tatsächlich zur Katastrophe kommt, die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft zusam-menzubrechen droht, stellt sich die Frage nach dem Verhalten innerhalb einer Katastrophe. Die eigentlichen Ursachen des Scheiterns bestimmter Handlungsrationalitäten müssen gefunden werden; warum mit dem Einzug einer Katastrophe nicht die Routinen des Alltags wiederher-gestellt werden können, sondern eine Katastrophe als extrem beschrieben wird. Im Hinblick auf das Wesen der Systemtheorie können wir bereits an dieser Stelle sagen, dass die Interaktion, im Sinne von Kommunikation, zwischen den Menschen wesentliches Kriterium für die Erklärung einer Katastrophe ist. Weiter bedeutet dies, dass Verwüstung als physische Auswirkung zweit-rangig ist. Wie Lars Clausen schon erwähnte, eine Katastrophe ist immer etwas sozial Normales, nichts Fremdartiges und immer möglich.

Nach Luhmann wird als Gesellschaft dasjenige soziale System bezeichnet, „das alle sinnhaften Kommunikationen einschließt und sich immer dann bildet, wenn im Anschluss an vorherige Kommunikation oder im Hinblick auf weitere Kommunikation (also: autopoietisch) kommu-niziert wird“77. Diese Definition von Gesellschaft hat die herausragende Eigenschaft, dass egal welche Phase eine Gesellschaft gerade durchlebt, sei es, dass sie ein Wirtschaftswunder erlebt oder ihr Staat scheitert, die Gesellschaft hört nicht auf zu existieren, solange die Menschen in kommunikativer Weise zusammentreten. Darüber hinaus gilt, falls zerfallende Strukturen, die zuvor durch die Routinen des Alltags immer wieder reproduziert wurden, ein Indikator für Ka-tastrophen darstellen, und die Grundlage des sozialen Systems Kommunikation bildet, gibt es einen kausalen Zusammenhang zwischen Kommunikation und zerfallenden Strukturen.

Die Stadien IV bis VI von Clausens Konzept sollen als Basis und Referenz dienen, wenn auf Kommunikation und das Scheitern üblicher Handlungsweisen nach dem Eintritt eines Extrem-phänomens im Folgenden eingegangen wird. Luhmanns Theorie soll nicht als sture Vorlage genutzt werden, sondern als Konzept, um eine katastrophische Entwicklung zu erklären. Der Umweltbegriff und der starke Fokus auf Kommunikation sollen darum etwas weniger streng gesehen werden. Wenn wir an Katastrophen denken, sollen wir nach wie vor die Gemeinschaft im Hinterkopf haben, die sich mit Missständen konfrontiert sieht. Damit sehen wir die System-theorie weniger als eine Universaltheorie, sondern nutzen sie eher im Zusammenhang mit einer Katastrophenphänomenologie. 8.2.5 Wahrnehmung und Auslegung von Extremereignissen als Anstoß zur systemtheoretischen Kommunikation

Soziale Interaktionen und gesellschaftliche Vorgänge beruhen auf Kommunikation. Sie ist der Systemoperator. Das soziale System besteht fort, solange auf eine Operation eine weitere folgt und nicht dauerhaft aussetzt. „Eine Operation schließt an eine andere an, dann kommt eine dritte, eine vierte, eine fünfte, dann kommt eine Thematisierung dessen, was man bisher gesagt hat, hinzu und so weiter.“78 Durch Kommunikation als Operation grenzt sich das System von all dem ab, was nicht Kommunikation ist. Außerhalb des Systems geschieht etwas anderes, das nicht dasselbe ist, was innerhalb des Systems passiert.

Jene Einwohner von New Orleans, die sich nicht vor dem Hurrikan Katrina in Sicherheit bringen konnten, erlebten wie der Sturm die Häuser zerstörte, wie sich die Straßen durch den Bruch der Dämme und Flutwälle mit Wasser füllten und das Telekommunikationsnetz zusammenbrach. Sie nahmen den Hurrikan als natürliches Phänomen wahr und sahen die Zerstörung. Dies brachte Veränderungen in das soziale System, da die Situation nicht mehr wie zuvor war. Die Betroffenen handelten nach den ihnen offenbar vorliegenden Möglichkeiten, dementsprechend fiel die Kommunikation abhängig von den neuen Um-ständen aus.

Stellen wir uns folgendes Szenario vor: Einer Familie war es nicht möglich, New Orleans zu verlassen, bevor der Hurrikan Katrina eintraf. Nachdem der Sturm vorübergezogen ist und die Verwüstungen sichtbar werden, will sie wissen, ob enge Verwandte in einem anderen Stadtteil wohlauf sind. Da das Telekommunikationsnetz tot ist, macht sich der Vater auf den Weg, doch schnell stellt er fest, dass der öffentliche Nahverkehr stillsteht, Großteile der Straßen zerstört sind, Brücken nicht passierbar sind oder Teile der Stadt Meter tief unter Wasser stehen. Er sieht keine Möglichkeit nach den Verwandten zu schauen, woraufhin er zurück zu seiner Familie kehrt und über sein Erlebtes berichtet. Die Auswirkungen werden somit innerhalb der Familie kommuniziert. An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass die technologischen Kommunika-tionsmittel unserer Zeit meistens auch nach dem Eintreffen eines Extremereignisses funktionie-ren. Das Mobilfunknetz, der SMS-Dienst, aber auch soziale Medien über eine mobile Internet-verbindung stellen wichtige Kommunikationswege dar, über die Kontakte in Katastrophenzeiten aufrechterhalten werden können. Insbesondere die sozialen Medien haben sich in den letzten Jahren als ein wichtiges Kontaktmittel herausgestellt. Es lassen sich über sie Informationen aus-tauschen und Betroffene können von Mitarbeitern der Katastrophenhilfsorganisationen direkt kontaktiert werden, um sie mit Rat oder emotionaler Unterstützung zu versorgen. Mit Künst-licher Intelligenz ausgestatteten Programmen mag es darüber hinaus zukünftig möglich sein, anhand den Aktivitäten in den sozialen Medien ein Schadensbild über das Katastrophengebiet zu erstellen.79

Luhmann ist in der Abgrenzung zwischen System und Umwelteinfluss äußerst strikt. Jegliche physikalischen, chemischen oder biologischen Tatbestände mögen stattfinden, solange nicht da-rüber kommuniziert wird, haben sie keine gesellschaftlichen Auswirkungen. Die Umwelt könne sich nur durch Irritation oder Störungen der Kommunikation bemerkbar machen; und im weite-ren kommunikativen Verlauf müsse die Kommunikation dann auf sich selbst reagieren.80 In dem geschilderten Fall reagiert die Familie auf die Auswirkungen Katrinas indem sie Kontakt zu ihren Verwandten aufnehmen will und dabei zunächst aufgrund des nicht mehr funktionierenden Telekommunikationssystems scheitert, worauf ein neues Vorhaben geplant wird, nämlich dass der Vater sich zu ihnen auf den Weg macht. Die veränderte Umwelt, kaputte Straßen, unüber-brückbare Überschwemmungen etc., verhindert dies allerdings, was ihn zum Umkehren zwingt. Daheim angekommen wird das ursprünglich Geplante thematisiert, also dass das Vorhaben, die Verwandten aufzusuchen, nicht umsetzbar sei: Die Kommunikation reagiert auf sich selbst.

Handlungen und Kommunikation in Zeiten von Katastrophen sind Reaktionen, die vom Ein-treten von natürlichen, technischen oder sozialen Phänomenen angestoßen werden. Handlungen in Katastrophenzeiten, seien sie positiv oder negativ, sind reaktionär in Relation zum aufkom-menden Extremereignis. Exogene Größen geben somit Anlass zum Handeln. Nach der Wahr-nehmung des Ausmaßes und der Evaluierung, in welchem Maße man davon betroffen ist, hängt der weitere Verlauf der sozialen Phänomenologie der Katastrophe vom Verhalten bzw. von der Kommunikation der Betroffenen ab, so zumindest nach dem Verständnis der Systemtheorie.

Der Gegenstand einer Kommunikation ergibt sich meist erst durch die Wahrnehmung eines Ereignisses oder Objekts. Nach der Wahrnehmung kann das Wahrgenommene in einer Kom-munikation verarbeitet werden. Dieses muss allerdings nicht sofort in ein Gespräch verarbeitet werden. Zum Beispiel kann eine sofortige Mitteilung des Wahrgenommenen daran scheitern, dass kein Gesprächspartner vorhanden ist oder der Akteur es bevorzugt, zunächst nicht darü-ber zu kommunizieren. Je mehr Zeit zwischen der Wahrnehmung eines Tatbestandes und der kommunikativen Mitteilung dessen vergeht, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine persönliche Beschäftigung mit dem Wahrgenommenen stattfindet. Der Protagonist verinnerlicht das Wahr-genommene, er setzt sich damit auseinander. Haftet am Tatbestand in irgendeiner Form eine gewisse Bedeutung, existiert die Möglichkeit, dass das Wahrgenommene beim Protagonisten Einfluss auf seine Psyche, seine Moral, seine Haltung gegenüber etwas, seine Gedanken oder sein Verhalten nimmt.

Für Aristoteles ist dieser Prozess gar essenziell. Die Wahrnehmung und die anschließende Auseinandersetzung mit dem Wahrgenommenen sind nach ihm die Grundvoraussetzung für Wissen. Wahrnehmung (Sinneswahrnehmung) gewährt uns die Möglichkeit zu einer bestimm-ten Erkenntnis vom Einzelnen zu gelangen.81 Die Wahrnehmung und das daran Festhalten stößt den Prozess zum Wissen an. Indem wir an unsere Wahrnehmung festhalten, entsteht als zweites Erinnerung ( mneme ). Erinnerungen können wir verknüpfen und entdecken dabei mög-licherweise Zusammenhänge, wie Ursache-Wirkungs-Beziehungen, wodurch wir Erfahrung ( empeiria ) gewinnen. Sie ist mit dem Wissen über individuelle Sachverhalte gemeint. Der weite-re Schritt zur vierten Stufe wäre sich damit zu beschäftigen, nicht nur Dass ( hoti ) etwas ist, son-dern Warum ( dioti )etwas so ist. Im Erkennen des Warums befinden sich zwei Wissensformen: Kunst ( techne ) und Wissenschaft ( episteme ). Bei beiden geht es um ein Allgemeines. Der letzte Schritt dieses Prozesses wäre zum Wissen der Gründe ( aitia ) von Gründen, der ersten Gründe von Prinzipien, zu gelangen: die Erkenntnis des Allgemeinen, was als Wissenschaftlichkeit be-zeichnet werden kann.82

Die eigene sinnliche und geistige Leistung bildet nach Aristoteles die Grundlage von Wissen. Zum Wissen kann nicht ohne Wahrnehmung gelangt werden. Kommunikation muss hierzu vorerst nicht vorliegen. Wahrnehmung und der folgende Wissensprozess ist eine Bereicherung für einen selbst. Diese Bereicherung beeinflusst die späteren Handlungen, da sich der Wissens-zustand verändert hat. Folglich hat Wahrnehmung eine bedeutende Rolle in der später folgen-den Kommunikation. Wird keine Veränderung wahrgenommen, ist es mühselig, darüber zu kommunizieren. Eine Störung der Kommunikation als Reaktion auf Umwelteinflüsse ist daher in der menschlichen Wahrnehmung verankert.

Erfahrung kann ein entscheidendes Moment in Extremzeiten sein. Ob man zum ersten Mal mit einer Katastrophe konfrontiert wird oder man in einem Gebiet lebt, in dem man bereits mehrere natürliche Extremereignisse miterlebt hat, können ausschlaggebend für weiteres Ver-halten sein. Nach erstmaligem Erleben einer Katastrophe mag man von dem Ereignis über-wältigt sein. Traten hingegen bereits in näherer Vergangenheit Extremereignissen auf, können die Betroffenen auf eine gewisse erlebte Erfahrung zurückgreifen und das Extremereignis wird möglicherweise erst gar nicht als Katastrophe wahrgenommen. Macamo stellte beispielsweise in einer Studie fest, dass die lokale Bevölkerung im Süden Mosambiks eine Überschwemmung nicht als Katastrophe angesehen hat, entgegen dem auswärtigen Not- und Katastrophenschutz. Solange erprobte Bewältigungsstrategien standhalten, wird eine Überschwemmung von den Be-troffenen als normales Ereignis angesehen, auch wenn Menschen dabei ihr Leben lassen muss-ten. Die Überschwemmung wird nach wenigen Tagen überstanden sein und dem gewohnten Leben wird wieder nachgegangen.83 Erfahrung muss sich nicht ausschließlich aus unmittelba-rem Erleben ableiten. In manchen Kulturkreisen werden Risiken durch mündliche Erzählungen, Lieder oder Straßentheateraufführungen weitergegeben, sodass Erfahrung auch von Mensch zu Mensch weitergegeben wird.84,85

Die Klassifizierung eines Ereignisses hängt nicht ausschließlich von objektiven Tatsachen ab, sondern erst durch Wahrnehmung und Deutung durch die Betroffenen erlangt das Ereignis Bedeutung. Nach Erving Goffman obliegen Menschen bestimmten sozial geprägten Mustern, mit deren Hilfe sie Ereignisse und ihre emotionale Bedeutung verstehen. Muster schaffen einen Rahmen, indem die Wahrnehmung von Ereignissen eingeordnet wird. Damit bieten sie den Menschen eine Referenz. Die Wahrnehmung von Ereignissen und ihre Deutung wird neben unbewussten und bewussten Perzeptionen und Interpretationen auch durch Hintergrundan-nahmen, sozialisierte Haltungen und Habitusformen bestimmt, die bei der Person oder in der Gemeinschaft durch irgendwelche Richtlinien oder Normen (z. B. durch Kultur, Religion, Histo-rie) präsent sind. Die Deutung von Ereignissen ist „durch kognitive Einschätzungen bestimmt, die ihrerseits an Referenzrahmen orientiert sind, die durch Interaktionen und Gruppenprozesse wechselseitig bestätigt und verfestigt werden können. Deutungsrelevant sind also die jeweiligen situativen Bedingungen, die Menschen vorfinden, ihre erlernten Wahrnehmungs- und Deu-tungsmuster und deren Veränderung durch Bedrohung, Katastrophen und Kriege“86.87 Folglich kann ein und dasselbe Ereignis von verschiedenen Menschen unterschiedlich wahrgenommen und interpretiert wird. Wahrnehmung, Erfahrung, sozialer Rahmen und subjektive Perspektive prägen das menschliche Handeln, Verhalten und Auffassung. Als Kommunikator und Adressat von Kommunikation lässt der Betroffene dies in den Kommunikationsprozess miteinfließen. Die Folge von dieser Hintergrundannahme ist, dass Handlungen nicht grundsätzlich vernünftig ausfallen müssen.

Subjektive Empfindungen über einen gesellschaftlichen Zustand können in ihrem Zusam-menwirken zu einer Dramatisierung der Lage führen. Wie weiter oben beschrieben, bilden sich nach Geenen Verflechtungszusammenhänge im Hintergrund des Alltags, die dann mit dem Ka-tastropheneintritt aufbrechen und sichtbar werden. Vom Klimawandel geförderte Extremereig-nisse (Stürme, Überschwemmungen, Erdrutsche, Desertifikationen etc.) können bereits exis-tierende Missstände in Politik, Umwelt, Ökonomie oder Sozialem weiter verschärfen und eine katastrophische Entwicklung in der Gesellschaft herbeiführen. Dort, wo Gesellschaften bereits einen destabilen Zustand aufweisen, ist die Gefahr groß, dass Umweltveränderungen ‚das Fass zum Überlaufen bringen‘. Hierbei nimmt der subjektive Faktor entscheidenden Einfluss. Die Be-troffenen evaluieren die Situation für sich, einzeln sowie zusammen in der Gruppe. Je nachdem wie die Bemühungen und Maßnahmen der Regierung zur Katastrophenbewältigung aussehen, kann sich die Gesinnung der Betroffenen ändern. Scheitert die Regierung beispielsweise mit ih-ren Maßnahmen oder bleiben diese ganz aus, fühlen sich die Betroffenen im Stich gelassen, die Meinung bildet sich, die Politik kümmere sich nicht angemessen um die Verunglückten; mög-licherweise tritt hervor, dass das Katastrophenmanagement vernachlässigt wurde, Warnungen wurden nicht ernst genommen. Zusätzlich werden die gesellschaftlichen Missstände offenbar und in den Betroffenen keimt Missgunst gegenüber den ausgemachten Verantwortlichen. Ein Drang etwas ändern zu wollen entwickelt sich, notfalls mit Gewalt. Die Folge kann ein wie von Clausen beschriebener radikaler sozialer Wandel sein.

Nun bestehen soziale Systeme nach Luhmann aus Kommunikation, nicht aus Menschen. Wie kann menschliches Wissen und Empfinden auf Kommunikation Einfluss nehmen, wenn der Mensch kein Teil davon ist? Der Mensch besteht selbst aus Systemen, dem biologischen/organischen System (Organe, Zellen) und dem psychischen System. Unter Letzterem fällt das Bewusstsein, das unter anderem für die Wahrnehmung und dessen Verarbeitung zuständig ist. Der Mensch als biologisches System kann hier vernachlässigt werden. Im sozialen System ist der Mensch der Adressat von Kommunikation. Trotz, dass der Mensch als Adressat von Kommuni-kation gilt, bestehen soziale Systeme nicht aus psychischen. Psychische Systeme sind als Umwelt sozialer Systeme anzusehen und auf diese Weise relevant für das soziale System. Wahrnehmung gilt als Bewusstseinsprozess, also als psychischer Prozess. Und psychische Prozesse sind nach Luhmann keine kommunikativen Operationen.88

Als Bestandteil der gesellschaftlichen Umwelt nimmt der Mensch Einfluss auf die Gesell-schaft. Nach Luhmann erlaubt diese Position den Menschen komplexer und ungebundener zu begreifen, da Umwelt im Vergleich zum System immer komplexer und ungeordneter ist. Unver-nünftiges und unmoralisches Verhalten ist somit eher nachzuvollziehen als wenn der Mensch als Maß der Gesellschaft gesehen wird.89 Dem Menschen werden auf diese Weise mehr Frei-heiten zugesprochen. Diese Freiheiten werden in das soziale System eingebracht. Luhmann spricht hierbei von Interpenetration. Damit wird eine besondere Art von Beitrag zum Aufbau von Systemen bezeichnet, der von Systemen aus der Umwelt erbracht wird (hier das psychische System des Menschen). Der Mensch scheint damit eine herausragende Stellung einzunehmen. Als psychisches System ist er ein System (neben anderen) in der Umwelt eines sozialen Systems, trägt jedoch zusätzlich zum Aufbau des sozialen Systems bei. Damit wirkt ein psychisches Sys-tem nicht lediglich durch Störung der Kommunikation auf das soziale System ein.

Die Beziehung zwischen sozialem und psychischem System ist eine Intersystembeziehung. Beide Systeme gehören wechselseitig füreinander zur Umwelt. Interpenetration bezeichnet da-bei den Umstand, dass beide Systeme in das jeweils andere ihre vorkonstruierte Eigenkomple-xität einbringen. Beide Systeme ermöglichen sich durch diese wechselseitige Einbringung, da sie zum Aufbau des anderen Systems beitragen bzw. ihre Komplexität dem anderen System zur Verfügung stellen. Ein soziales System wäre nicht ohne ‚Leben‘ vorstellbar. Dabei sind beide Systeme voneinander abhängig. Das Verhalten des Systems, das seine Komplexität in das andere einbringt, wird vom aufnehmenden System mitbestimmt.90 Das Verhalten eines Menschen wird demnach durch den Verlauf einer Kommunikation mitbestimmt. Handlungen sind also sowohl auf psychische (psychisches System) als auch soziale Umstände (soziales System) zurückzufüh-ren. Darüber hinaus wirkt das aufnehmende System gar auf die Strukturbildung des penetrie-renden Systems ein. Zur Strukturbildung später mehr.

Obwohl sich beide Systeme durch Interpenetration bedingen und beide Systeme auf die Exis-tenz des anderen angewiesen sind, bleiben beide Systeme Umwelt füreinander. Dies bedeutet, dass die Komplexität, die jedes System in das andere einbringt, externe Komplexität darstellt, also ein Fremdelement. Soziale Systeme werden durch die Komplexität psychischer Systeme gestört. Psychische Systeme versorgen soziale Systeme mit „hinreichender Unordnung“91, al-lerdings ebenso umgekehrt. Durch den Einfluss der Komplexität des jeweils anderen Systems, bringt das penetrierende System das aufnehmende in Unordnung und bringt die Operationen in Gang. Luhmann verwendet hierzu das Prinzip vom order from noise , das für den Aufbau beider Systemtypen relevant ist: „Soziale Systeme entstehen auf Grund der Geräusche, die psychische Systeme erzeugen bei ihren Versuchen zu kommunizieren.“92 Wahrgenommenes, Erlebtes und Empfinden will mitgeteilt werden. Diese, nennen wir sie non-kommunikative Äußerungen, werden aber erst für das soziale System relevant, wenn sie im Kommunikationssystem themati-siert werden oder sie Kommunikation beeinflussen. Stress, innere Unruhe, Erschütterung oder erhöhte Aggressivität, die Menschen während der Zeit einer Katastrophe erfahren, wirken auf Kommunikation ein. Kommunikation spielt sich unter Stress und psychischer Dysbalance an-ders ab als unter normalen Umständen.

Interaktionssysteme sind daher auf der Ebene des Wahrnehmens höchst störanfällig. Was der Wahrnehmung unterliegt, kann in laufender Kommunikation einbrechen, sie stören oder stop-pen. Jedoch muss die Informationsgewinnung nach Luhmann nicht zwangsläufig thematisiert werden. Wahrnehmung generiert Informationen, die nicht um jeden Preis als Informationen ausgewählt und anschließend kommuniziert werden müssen. Wahrnehmung erlangt nicht erst sozialen Charakter, wenn das Wahrgenommene in Kommunikation einfließt. Wenn jemand wahrnimmt, „dass er wahrgenommen wird und dass auch sein Wahrnehmen des Wahrgenom-menwerdens wahrgenommen wird, muss er davon ausgehen, dass sein Verhalten als darauf ein-gestellt interpretiert wird“93. Wahrnehmung von Wahrnehmung ist Kommunikation. Blättert jemand in Anwesenheit anderer uninteressiert in Zeitschriften und zeigt damit, dass er nicht kommunizieren will, ist das bereits Kommunikation. Ebenso schwerbewaffnete Militäreinhei-ten, die hoch frequentiert durch das Katastrophengebiet patrouillieren, um in destabilen Re-gionen der Bevölkerung zu zeigen, dass nach wie vor der Staat das Gewaltmonopol besitzt. Im Interaktionssystem ist es nicht möglich, nicht zu kommunizieren.94 Menschliches Verhalten hat einen erheblichen Einfluss auf Kommunikation, und zwar bereits ohne verbale Informations-mitteilung.

Man bekommt den Eindruck, dass sich die Systeme überschneiden, damit das eine zum ande-ren führt, also der Zustand des psychischen Systems ins soziale System einfließt und andersher-um. Der Mensch braucht soziale Systeme, damit er die Fähigkeit zum Handeln erwirbt und sozia-le Systeme sind ohne menschliches Handeln nicht vorstellbar. Allerdings wehrt Luhmann diese Vorstellung als zu einfach ab. Die Systeme überschneiden sich nach ihm nicht und es gibt kein gemeinsames Element beider Systeme. Elemente finden nur im jeweiligen System statt, in denen sie verwendet werden. Sie existieren, in dem ein Element an das nächste angeschlossen wird.95

Wie lässt sich erklären, dass beide Systeme aufeinander Einfluss nehmen können, wenn sie sich nicht überschneiden und keine gemeinsamen Elemente haben? Wie bereits erwähnt sind beide Systeme füreinander Umwelt, auch wenn sie zum Aufbau des jeweils anderen beitragen. Das Zauberwort ist dabei strukturelle Kopplung. Durch die strukturelle Kopplung wird ein System mit Störungen, Irritationen, Reizungen versorgt. Dabei sind diese Störungen keine De-termination des Systems, auf das sie einwirken. Umwelt, bzw. das eine System, kann nicht die Strukturen eines anderen Systems mit Störungen determinieren, so Luhmann. Die Störungen bringen lediglich einen Informationsverarbeitungsprozess in Gang, der im sozialen System als Kommunikation behandelt wird.96 Jedoch können die Grenzen des einen Systems in den Ope-rationsbereich des anderen übernommen werden. Die Grenzen fallen in den Aktionsbereich des jeweils anderen. „So fallen die Grenzen sozialer Systeme in das Bewusstsein psychischer Systeme. […] Das Gleiche gilt im umgekehrten Fall: Die Grenzen psychischer Systeme fallen in den Kommunikationsbereich sozialer Systeme.“97 Dies bedeutet, es handelt sich nicht um ein und dieselben Grenzen, sondern die Grenzen fallen nur in den Operationsbereich des ande-ren Systems. Die Grenze markiert somit immer noch den Raum des dazugehörenden Systems, auch wenn die Grenze im anderen System aufgenommen wird. Würden die Grenzen nicht mehr existieren, würde das System zerfallen: die Differenz von System – Umwelt wäre zunichte. Nach Luhmann ist es nur durch diese klare Ziehung der Systemgrenzen möglich, dass sich Kom-munikation laufend an psychischen Systemen orientiert, um zu überprüfen, was sie in ihrem Bewusstsein aufgenommen haben und was nicht.

Durch die mögliche Übernahme von Systemgrenzen in den Operationsbereich des anderen Systems, kann das aufnehmende System also auf Störungen, Irritationen, Reizungen reagieren, bzw. auf die Geräusche eingehen ( order from noise ), um den psychischen Systemen ‚Gehör zu verschaffen‘. Luhmann sieht diesen Input von Ressourcen oder Informationen aber nicht als die Hauptleistung von interpenetrierenden Systemen. Auch wenn ein Mensch etwas sieht und er es durch seine Erzählung als Informationen zum sozialen System beisteuert. Das Konzept der Interpenetration schafft es vor allem durch die Aufrechterhaltung der Grenzen, dass jedes System im Verhältnis zum anderen seine eigenen Prozesse durchführen kann und letztendlich seine eigene Komplexität stabilisiert.98 Die Systeme bemühen sich somit primär um ihre eigene Konstitution, anstatt Leistungen für ein anderes System zu erbringen und bereitzustellen.

Es hält sich hartnäckig das Gefühl, dass die Systemtheorie hauptsächlich eine Theorie ist, die sich mit ihrem Konzept selbst erhalten will, was Metzner bereits kritisierte. Luhmann schafft eine Universaltheorie, mit der er unter anderem Geschehnisse in sozialen Systemen erklären will. Dabei reduziert er alles Soziale auf Kommunikation. Die Grundlage von Kommunikation, dass es etwas geben muss, über das kommuniziert werden muss und man dafür etwas wahrneh-men muss, fällt allerdings eine geringere Bedeutung zu als der Konstruktion, mit der Systeme sich aufrechterhalten. Ist nun Kommunikation der wesentliche Gegenstand oder die Metho-dik der Systeme, damit innerhalb der Systemgrenzen weiterhin Autopoiesis aufrechterhalten werden kann? Hinzu ist es fragwürdig, ob durch die Kopplung der Systeme keine – zumindest indirekte – Mitbestimmung des Systemzustands stattfindet. Auch dass sich die Elemente des psychischen und sozialen Systems nicht überschneiden, obwohl die Grenze des einen Systems in den Operationsbereich des anderen übernommen wird, wirft gewisse Zweifel der Durchführ-barkeit auf. Allein die Tatsache, dass ein System ein anderes mit Störungen versorgt, heißt, dass das penetrierende System zumindest den Zustand des anderen Systems irritiert. Selbst wenn es nicht darauf reagiert, sieht es sich damit in irgendeiner Weise konfrontiert und beschäftigt sich mit den Reizungen.

Die Bedeutung der Beziehung von Bewusstsein bzw. Wahrnehmung und deren Einwirkung auf das soziale System haben wir hiermit herausgestellt. Im Folgendem wollen wir etwas näher auf die Reaktionen von und zwischen Menschen eingehen, die ohne direkte sprachliche Mit-teilungen stattfinden. Hierzu betrachten wir Emotionen, Gemütszustände und die menschliche Psyche als Kommunikationselemente, durch die Betroffene während Katastrophenzeiten weit-aus intensiver betroffen sind, als dies im Alltag der Fall ist. 8.2.6 Der Einfluss mentaler Zustände auf zwischenmenschlichen Kontakt

Erlebtes und Wahrgenommenes kann Kommunikation beeinflussen, indem es kommunikativ thematisiert wird. Wie soeben dargestellt, lässt der Mensch sein Wissen bzw. seine Wahrneh-mung und Deutung in das soziale System miteinfließen. Doch neben dem sozialen System stellt der Mensch als psychisches System ein höchst komplexes System dar, das allein aufgrund seiner Existenz Mitteilungscharakter besitzt. Gemütszustände und die Psyche sind Faktoren, die auf den zwischenmenschlichen Kontakt einwirken, selbst wenn keine kommunikative Handlung per Sprache stattfindet.

Dies muss nicht immer rational sein, was folgendes Beispiel zur Darstellung von Social Con- formity (die Änderung im Glauben oder Verhalten einer Person, um zu einer sozialen Gruppe dazuzugehören)veranschaulicht: Eine Versuchsperson betrat in einem durchgeführten Experi-ment ein volles Wartezimmer. Die anderen Patienten im Wartezimmer wurden aufgeklärt, dass sie bei jedem Piepton aufstehen und sich anschließend wieder hinsetzen sollen. Bereits beim dritten Ton stand die Versuchsperson mit den anderen, aufgeklärten Patienten, auf und setzte sich anschließend wieder hin. Selbst als alle anderen Patienten weggerufen wurden und die Ver-suchsperson nur noch allein im Wartezimmer war, setzte sie ihr Verhalten beim ertönten Piep fort. Als neue, ahnungslose Patienten den Raum betraten, übernahmen sie das Verhalten der Versuchsperson.99

Der subjektive Raum des Erlebens bestimmt unsere Handlungen, da wir eine andere Perspek-tive zu Dingen haben, als wenn wir sie nicht erlebt hätten. Søren Kierkegaard war der Ansicht, dass unsere Erfahrung vom Leben in solch einer Weise bedeutsam sei, dass sie von keinem objektiven Verständnis erfasst werden könne. Die persönliche Entwicklung ist nicht möglich, ohne dass man sich auf subjektive Erfahrung, die man im Leben mache, einließe.100 Die subjektiv erlebten Erfahrungen während einer Katastrophe können von einer ganz dramatischen Dimen-sion sein. Diese Erfahrungen können das Leben der Beteiligten erheblich prägen. Dabei wird sich mit den Erfahrungen auseinandergesetzt, bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt. Und diese Auseinandersetzung beeinflusst das Individuum in seinen weiteren Handlungen und in seinem Verhalten.

Schwere Katastrophen können wie gewalttätige Konflikte oder Kriege tiefe psychische Wun-den hinterlassen. Tropische Stürme, Sturmfluten, Massenbewegungen, Dürren oder Waldbrän-de sind besonders heimtückisch, da sie eine große Anzahl von Menschen betreffen. Das direkte Miterleben eines Notstandes, der Verlust geliebter Menschen oder des Zuhauses können die Betroffenen in Hilflosigkeit stürzen. Sind sie gezwungen in Camps und Notbehausungen über einen ausgedehnten Zeitraum zu wohnen, ohne Unterstützung von Freunden und Angehörigen, kann dies ihren psychischen Zustand noch verschlimmern. Psychische Traumata (posttraumati-sche Belastungsstörung) können hieraus resultieren. Verhaltensänderungen treten ein, Sympto-me wie Verwirrtheit oder Probleme beim Treffen von Entscheidungen, ‚Flashbacks‘, die das Er-lebte nochmals Vergegenwärtigen, Reizbarkeit, unberechenbare Gefühlsausbrüche, Angst und Depressionen treten auf. Diese Symptome treten über einen längeren Zeitraum auf (mindestens einen Monat) und können darüber hinaus erst mehrere Monate nach dem traumatischen Erleb-nis auftauchen.101 Ohne erfolgreiche Behandlungen können Traumata nach Jahren des erlebten Unglücks eine große Bürde zur Bewältigung des Alltags sein.

Ein Trauma ist eine große psychische Erschütterung, die noch nach der Katastrophe Bestand hat. Während einer Katastrophe kann jedoch bereits ein mentaler Schockzustand die Handlungs-rationalitäten der Betroffenen beeinflussen.102 Ein Schock kann wenige Minuten nach dem Un-glückserlebnis eintreten. Die Betroffenen müssen diesen zunächst verarbeiten. Clausen wies auf diesen Umstand nach dem Katastropheneintritt hin: Die Menschen sind nach dem Einbrechen des Unglücks vom Umstand überwältigt und müssen ihren Schock erst verarbeiten. Die seelische Erschütterung ist ein Ausnahmezustand. Die extreme psychische Belastung kann zu einer aku-ten Belastungsstörung führen. Hingegen zur posttraumatischen Belastungsstörung wird hierbei nicht über eine psychische Erkrankung gesprochen. Zudem unterscheiden sie sich vom zeitlichen Verlauf. Die akute Belastungsreaktion hält maximal 4 Wochen nach erstmaligem Auftreten an.

Während der Belastungszeit befinden sich die Betroffenen in einem psychischen Ungleich-gewicht, das sich in einer oft rasch wechselnden Symptomatik äußert. Neben körperlichen Symptomen (z.  B. Übelkeit, Kopfdruck, beschleunigte Herztätigkeit) sind sozialer Rückzug, sprachloses Entsetzen, erhöhtes Erregungsniveau, Unruhe oder Hyperaktivität, Amnesie über das Erlebte oder eine innere Distanzierung davon (z. B. Bewusstseinseinengung, Desorientie-rung, Aufmerksamkeitsdefizit) Zeichen für eine akute Belastungsreaktion. In der Regel klingt eine akute Belastungsreaktion innerhalb von Stunden oder Tagen nach ihrem Auftreten aus.103Zwangsläufig wirkt sich eine solche Symptomatik auf die Kommunikation aus. Sozialer Rückzug oder andere psychische Beeinträchtigungen stören die kommunikative Interaktion und hem-men sie. Man stelle sich den Extremfall vor, dass jeder von einer Katastrophe Betroffene unter einer akuten Belastungsreaktion leidet und sich diese im sozialen Rückzug äußert. Die Kom-munikation würde (nahezu) zum Erliegen kommen. Nach Luhmanns Verständnis, dass Gesell-schaft die Summe aller sozialen Systeme sei, würde in solch einer Extremsituation kurzzeitig ein gesellschaftsfreier Raum entstehen. Die Kommunikationsadressaten adressieren vorübergehend keine Kommunikation. Im Katastrophengebiet eingesetzte Hilfskräfte würden somit nicht nur ihrer Aufgabe nachgehen, Ersthilfe am Katastrophenort zu betreiben, sondern ihr Handeln und die zwangsläufige Kommunikation mit den Opfern hielte die Kommunikation überhaupt auf-recht, wodurch ein Zusammenbruch des sozialen Systems verhindert werden würde. Bestenfalls werden jedoch die von einer akuten Belastungsreaktion Betroffenen von ihrem unmittelbaren sozialen Netzwerk aufgefangen und erhalten zusätzlich Unterstützung von den Rettungskräften.

Nach dem erstmaligen Erleben eines Unglücks und der Verarbeitung des Schocks können andere, gewöhnlichere emotionale Zustände gewisse Verhaltensweisen bei den Betroffenen her-vorrufen. Angst ist beispielsweise ein Gefühlszustand, der durch die Vorstellung einer bedroh-lichen Situation entsteht. Nach erlebtem Unglück befindet sich das Opfer in einer ungewissen Situation, die es nicht kennt und von der es nicht weiß, wie sie endet. Der emotionale Zustand der Angst ist ein komplexes Konglomerat unangenehmer Emotionen und Kognitionen und kehrt durch die Besorgnis über zukünftige Bedrohungen oder Gefahren ein, die nicht unbe-dingt vorhersagbar sind und eventuell sogar unbegründet sind. Angst kann durchaus mit einem Anpassungsprozess verbunden sein („Da könnte gleich etwas Schlimmes passieren, und deshalb will ich lieber bereit sein“) und sogar leistungssteigernd wirken. Jedoch kann sie auch eine in-nere Blockade hervorrufen. Neben körperlichen Reaktionen (Schweißausbrüche, Herzklopfen, feuchte Hände, Zittern) kann sie auf der verhaltensbezogenen Ebene eine starke Tendenz zur Vermeidung von Situationen hervorrufen, da man zukünftige Bedrohungen nicht vorhersehen kann.104 Auch hier ist der emotionale Zustand an Erfahrung gekoppelt. Hat das Opfer bereits Katastrophen miterlebt, die es und seine Familie gesund und heil überstanden haben, ohne dass es lebensbedrohliche Komplikationen gab, kann die Angst, sofern vorhanden, einen adaptiven Charakter besitzen. Hat das Opfer hingegen erlebt, dass nach schweren Unglücken Übergriffe und gewaltsame Ausschreitungen stattfanden, kann der auftretende emotionale Zustand weitaus einschneidender auf das Verhalten sein.

Bisher wurden nur die Interpenetration bzw. das Zusammenwirken von sozialen und psychi-schen Systemen nach Luhmanns Theorie erklärt. Neben der sozialen Ebene kann jedoch noch eine zwischenmenschliche Ebene beschrieben werden. Zwischenmenschliche Interpenetra-tion findet zwischen Menschen statt. Die Komplexität eines Menschen wird für einen anderen bedeutend. Anstatt der Beziehung Mensch – soziales System, betrachten man die Beziehung Mensch – Mensch. Nichtsdestotrotz sind die Beziehungen unter Menschen weiterhin als sozia-les Phänomen anzusehen. Das Zustandekommen dieser Beziehungen ist sozial, ebenso hängen sie von sozialen Bedingungen ab. Mit dieser zwischenmenschlichen Interpenetration kommt die non-kommunikative Sphäre hinzu, die Empfinden und Verhalten berücksichtigt. Luhmann nennt dies Intimität , „wenn mehr und mehr Bereiche des persönlichen Erlebens und des Kör-perverhaltens eines Menschen für einen anderen zugänglich und relevant werden und dieser Sachverhalt sich wechselseitig einspielt“105. Das persönliche Umfeld sowie die individuellen Er-lebnisse des Gegenübers werden mitberücksichtigt. Der Mitmensch wird nicht nur als Bestand-teil der eigenen Umwelt determiniert, als einer neben vielen anderen, sondern als Person mit eigenen, einmaligen Erfahrungen. Sein Verhalten wird als innengesteuerte Selektion erfahren, die durch die Komplexität seiner Welt bedingt wird.

Durch die Interpenetration von psychischen Systemen erhält die non-kommunikative Sphäre in der Systemtheorie Einzug. Man muss nicht unbedingt mit seinem Gegenüber direkt kommu-nizieren, um wahrzunehmen, dass er unter Schock steht oder Symptome einer akuten Belas-tungsreaktion aufweist. Ebenso kann das Verhalten unabhängig von Kommunikation verstan-den werden. Der Kommunikationsinhalt der Person muss nicht unbedingt auf seinen mentalen Zustand referieren; die Art und Weise, wie die Person kommuniziert oder sich verhält, gibt ausreichend Anlass, Rückschlüsse auf seinen mentalen Zustand zu ziehen.

Die zwischenmenschliche Interpenetration geht demnach über die soziale Interpenetration heraus. Sie weist subtilere Elemente als herkömmliche Kommunikation auf. Gewisse Sachver-halte, Gefühle oder Empfindungen sprengen die Grenzen der herkömmlichen Sprache. Eben-so wie in manchen Situationen Körperkontakt von größerer Bedeutung ist als der Dialog. Die von Luhmann genannte Intimität schließt Inkommunikables mit ein. Diese Sphäre reicht bis in engste zwischenmenschliche Beziehungen, in denen Worte nicht nur genügen, sondern auch die Gefahr beinhalten, nicht den Sinn mitzuteilen, der beabsichtigt war.106 Sprache hat auch den Charakter, Gefühle zu banalisieren. 8.2.7 Aufbau von Kommunikation und Handlung

Die beiden vorangegangenen Unterkapitel befassten sich mit den Bedingungen von Kommu-nikation. Dabei haben wir besonders die Bedeutung der Wahrnehmung angesprochen. Wahr-nehmung ist eine menschliche Leistung, die vorliegen muss, um Ereignisse zu verinnerlichen, damit sie später in Kommunikation verarbeitet werden können. In der Systemtheorie dient diese Leistung der psychischen Systeme als Input von Ressourcen und Informationen für soziale Sys-teme. Dabei hat die Wahrnehmung von Ereignissen und deren Deutung eine erhebliche Subjek-tivität. Perzeption hängt von Erfahrung und sozialen, kulturellen, religiösen Gewohnheiten und Normen ab. Bewusstseinsausrufe können nach dem Prinzip von order from noise für Störungen, Irritationen und Reizungen im sozialen System sorgen. Im Hinblick auf die drei Dimensionen Radikalität, Rapidität, Ritualität, lässt sich schließen, dass die Störungen und Reizungen nach dem Eintritt eines Extremereignisses enorm sind.

Neben dem Einfluss der Wahrnehmung auf kommunikative Interaktion, bestimmen psychi-sche Zustände im Zuge der Verarbeitung von Extremereignissen das Verhalten von Menschen. Hierfür müssen herrschende Mentalzustände von unter dem Stress Leidenden nicht explizit Ge-sprächsinhalt sein. Symptome wie sozialer Rückzug oder Mentalzustände wie Angst sind soziale Barrieren, die das soziale System beanspruchen, ist es doch auf ausreichend Kommunikation angewiesen. Nachdem Bedingungen und Einflussgrößen von Kommunikation geschildert wur-den, muss nun das Grundlegendste erläutert werden, nämlich der Aufbau von Kommunikation und Handlung, um Handlungsrationalitäten letztendlich näher zu verstehen. 8.2.7.1 Kommunikation und Handlung

Kommunikation und Handlung sind keinesfalls identisch. Es ist bereits bekannt, dass soziale Systeme aus Kommunikation bestehen. Sämtliche Elemente, aus denen das System besteht, wer-den durch den basalen Prozess der Kommunikation gebildet. Bisher ist der Begriff der Kommu-nikation recht abstrakt, zumindest sind Akteure bzw. Kommunikationsadressaten, denen sozia-les Agieren zugeschrieben wird, um soziales Prozessieren nachzuvollziehen, deutlich konkreter. Kommunikation referiert auf die Gesamtheit der im sozialen System stattfindenden Prozesse. Eine Handlung hingegen steht im Zusammenhang mit einem Subjekt im System. Dies bedeutet, dass Handlung im System durch zwei Komponenten konstituiert wird: durch Kommunikation und Attribution (Zuordnung).

Kommunikation und Handlung unterscheiden sich folglich, sind aber für den sozialen Kom-munikationsprozess unabdingbar. Obwohl durch die Handlung das Subjekt im System Einzug nimmt, ist Kommunikation der grundlegende Faktor, auf den das soziale System aufbaut, denn der elementare Prozess im sozialen System ist ein Kommunikationsprozess. Dieser Prozess muss letztendlich auf Handlungen reduziert werden, damit er sich weiterhin selbst steuern kann. Des Weiteren kehrt eine nötige Komplexitätsreduzierung im System ein, indem Kommunikation in Handlung zerlegt wird. Auf diese Weise gewinnt der Prozess eine Anschlussgrundlage für wei-tere Kommunikationsverläufe.107 Durch diese Dekomposition von Kommunikation zu Hand-lungen wird der Gesamtkomplex des sozialen Systems aufgegliedert und auf einzelne Subjekte zugeordnet. Jedoch muss bekräftigt werden, dass in der Systemtheorie soziale Systeme nicht aus Handlungen als solche aufgebaut sind. Sie dienen lediglich der Zuordnung, also der Attribution: „Soziale Systeme reduzieren Kommunikation auf Mitteilung und rechnen diese dann als Hand-lung einzelnen Personen zu; auf diese Weise sichern soziale Systeme Identifikationspunkte, auf die sie sich im fortlaufenden Kommunikationsprozess beziehen können.“108

Soziale Systeme bestehen zwar aus Kommunikation, den sozialen Charakter bekommen sie aber erst, wenn mehrere Personen darin agieren. Da die Systemtheorie nicht vom Menschen als kons-tituierendes Element sozialer Systeme ausgeht, sind es vielmehr Handlungen, die dieses Element darstellen. Handlungen sind dabei vielschichtig. Neben gesprochenen Mitteilungen kann auch Körperverhalten einzelnen Menschen zugeordnet werden. Wie soeben erläutert, kann dies bis auf Emotionen und mentale Zustände dediziert werden, da diese auf das Körperverhalten einwirken und somit Kommunikation beeinflussen. Luhmann nennt diese Beziehung zwischen menschli-chem Empfinden und dessen Wiedergabe nach außen, die wortlos durch das Körperverhalten gezeigt wird, Sozialisation . Eine Handlung steht somit im engen Zusammenhang mit einem psy-chischen System. Sozialisation ist jener Vorgang „der das psychische System und das dadurch kon-trollierte Körperverhalten des Menschen durch Interpenetration formt“109. Körperverhalten kann positiv als auch negativ zu wertende Effekte aufweisen, als konformes oder abweichendes, krank-haftes oder gesundes Verhalten gelten. Indem der Mensch (also das psychische System) Ereignisse wahrnimmt, diese als Umwelt seines eigenen Systems differenziert, sie jedoch auf sich selbst bezie-hen kann, ist Zuwendung oder Abwendung einer Bezugsperson, Verstehen oder Nichtverstehen, Konformität oder Abweichung, Erfolg oder Misserfolg als sozialer Faktor möglich.

Wie läuft nun ein Kommunikationsprozess ab? Zunächst müssen mindestens zwei Kommuni-kationsadressaten vorhanden sein, um die Informationen verarbeiten zu können. In der Welt der Systemtheorie ist es nicht möglich mit sich selbst zu kommunizieren. Dabei ist der Kom-munikationsprozess ein Selektionsprozess, der bereits vor der Absendung und dem Empfangen des Mitgeteilten ansetzt. Es wird nicht irgendetwas mitgeteilt, sondern es wird etwas gewählt und etwas anderes beiseitegelassen; durch diese Selektion wird bereits Information konstituiert. Diese Selektion ist der Beginn eines dreiteiligen Prozesses, der zwischen Mitteilenden und Ad-ressaten stattfindet.110

Luhmann bezeichnet den Adressaten als „Ego“ und den Mitteilenden als „Alter“. Da der Adres-sat als Ego betitelt wird, rückt besonders die Position des Adressaten in den Fokus und nicht die des Mitteilenden (Alter). Die Informationsübertragung unterliegt verschiedenen Einwirkungen. Alter kann seine Mitteilung gewollt oder ungewollt übermitteln; sein Verhalten, das er während seiner Mitteilung aufweist, kann die Mitteilung beeinflussen, so weit, dass sein Verhalten selbst schon als Kommunikation aufgefasst wird, die verstanden oder missverstanden werden kann. Die Information, die vom Mitteilenden übermittelt wird, muss folglich nicht dieselbe sein, die beim Adressaten ankommt. Information und Mitteilung müssen nicht identisch sein. Dies be-deutet, dass der Adressat die Instanz ist, in der sich letztendlich ein Unterschied zwischen Infor-mation und Mitteilung herauskristallisiert. Die Bezeichnung der Kommunikationsteilnehmer als Alter und Ego verweist auf diese kritische Position, die der Mitteilungsempfänger einnimmt.

Folgende drei Stufen des Kommunikationsprozesses zwischen Alter und Ego sind nach Luh-mann vorhanden: Information, Mitteilung und Erfolgserwartung ( Verstehen ). Dabei findet im ersten Schritt die Selektivität der Information selbst statt, im zweiten die Selektion ihrer Mittei-lung und im dritten die Erfolgserwartung bzw. die Erwartung einer Annahmeselektion, also ob oder wie die Mitteilung verstanden wurde. Obwohl diese Schritte untereinander zu differenzie-ren sind, werden sie als Einheit gedacht, damit zwischen mindestens zwei psychischen Systemen Kommunikation zustande kommen kann.

Information : Im ersten Schritt wird eine Information aus einer ganzen Reihe von möglichen Informationen ausgewählt. Alter äußert einen Satz, der neben vielen anderen möglichen Sätzen ausgewählt wurde. Zwar stehen Alter eine ganze Reihe von möglichen Aussagen zur Auswahl, doch wird die Komplexität im Hinblick auf den im sozialen System herrschenden Erwartungs-kontext reduziert. Die Selektion einer Information aus dem vorhandenen Pool an Informatio-nen wird bei einer Kommunikation zwischen Abteilungsleiter und seinen Mitarbeitern anders ausfallen, als dies zwischen guten Freunden der Fall ist.

Mitteilung : Die Selektion der Mitteilung verweist auf die Notwendigkeit, dass ein bestimmtes Verhalten ausgewählt werden muss, um die Information mitzuteilen (oder sie nicht mitzutei-len). Diese kann auf unterschiedlichste Weise geschehen, mit ruhigem Gemüt, deprimiert, wei-nend, glücklich etc. oder verbal oder nonverbal.

Erfolgserwartung (Verstehen) : Der abschließende Akt bringt letztendlich Kommunikation zu-stande. Die Mitteilung wird von Ego verstanden oder missverstanden. Auch wenn sie missver-standen wird, kann auf dieser Basis weiter kommuniziert werden.111

Das Verstehen ist unabdingbar, damit Kommunikation zustande kommt. Verstehen realisiert erst Kommunikation; und weiter kann dann an der bestandenen Kommunikation angeschlos-sen werden. Bei der Anschlusskommunikation wird dann überprüft, ob die vorangegangene Kommunikation verstanden worden ist oder nicht, da sie auf das Verstehen der vorangegan-genen Mitteilung aufbaut. Jedoch ist die Überprüfung nicht der primäre Inhalt der Anschluss-kommunikation. In der Regel setzt sich die Kommunikation in einer logischen Reaktion von Ego in Abhängigkeit von Alters Mitteilung fort. Sollte sich in der Anschlusskommunikation herausstellen, dass die mitgeteilte Information von Ego missverstanden wurde, kann dies zu einer reflexiven Kommunikation führen. Es wird also über die Kommunikation kommuniziert: Das Missverständnis wird aufgegriffen. Im Kommunikationsprozess läuft folglich immer ein Verstehenstest mit. Zwangsläufig fällt ein Teil der Aufmerksamkeit der Gesprächspartner auf die Verstehenskontrolle während des Kommunizierens. Mitteilung und die Überprüfung laufen zeitversetzt ab. Erst im Anschlussverhalten wird erfahren, ob Ego die Mitteilung richtig ver-standen hat.

Abbildung 9: Kommunikation.

Aus: Lehnert 2006, S. 43.

Während eines Kommunikationsprozesses müssen die Akteure mehrmals selektieren. Alter muss wählen, was er sagen will, weiter muss er wählen, wie er es Ego mitteilen will, um mög-lichst sicher zu sein, dass Ego es in seinem Sinne versteht; weiter muss Alter abwägen, ob Ego die Mitteilung überhaupt erwarten kann und ob sie ihm zumutbar ist; abschließend muss Ego eine Verstehensmöglichkeit wählen, um Alter zu zeigen, dass oder wie er die Mitteilung verstanden hat, womit er eine Grundlage für das Anschlussverhalten schafft.112 Ist die Synthese zwischen Information, Mitteilung und Verstehen zustande gekommen, kann ein vierter Akt begangen werden, der die Einheit der vorangegangenen drei Selektionen voraussetzt: Annahme oder Ab-lehnung. Der ursprüngliche Adressat kann das Verstehen der Mitteilung in beiden Formen zum Ausdruck bringen.

Im Abschluss des Kommunikationsakts liegt das Moment der Änderung. Das Verstehen führt eine Verhaltensreaktion hervor, da der Adressat nun mehr weiß als zuvor: „die Kommunikation legt einen Zustand des Empfängers fest, der ohne sie nicht bestehen würde, aber nur durch ihn selbst bestimmt werden kann.“113 Durch die Kommunikation ist die Welt nicht mehr wie zuvor. Die Reaktion über Annehmen oder Ablehnen, die durch Kommunikation bei Ego hervorge-rufen wird, fällt nicht mehr unter die dreiteilige Einheit der Kommunikation. Die Reaktion ist bereits zum Anschlussakt zu zählen.

In der Selektion der Information und der Mitteilung kann Alter die Antwort von Ego ge-wissermaßen beeinflussen. Alter ist sich dem Risiko bewusst, dass sein Kommunikationsan-gebot abgelehnt wird. Kommunikation schafft eine soziale Situation, die gewisse Anschlussent-scheidungen erwarten lässt. Alter kann durch seine Wahl der Mitteilung die Antwort zu seinen Gunsten mitentscheiden. Im Akt der Mitteilung können Pressionselemente, Druckmittel auf-genommen werden, die den Adressaten eher in Richtung Annahme als in Richtung Ablehnung drängen. Beispielsweise greift der Katastrophenschutz beim Ausruf der Evakuierung von Sturm-fluten bedrohten Gebieten auf ein Pressionsmittel zurück, wenn er auf eine nicht mehr zu ge-währleistende Sicherheit verweist, sofern Menschen nicht ihre Häuser verlassen.

Pressionen können über Konfliktaussicht und Konfliktvermeidung laufen. Beide Seiten, so-wohl Ego als auch Alter, haben die Möglichkeit mit Ablehnung zu reagieren, und zwar zu je-der Zeit. Die Möglichkeit der Ablehnung ist im Kommunikationsvorgang immer vorhanden. Wenn Ego die Mitteilung richtig versteht, hat er sogar mehr Gründe die Mitteilung abzulehnen. Die Mitteilung kann auch als Konfliktangebot verstanden werden.114 Im Kapitel 5.1.3 wurde die Grundlage von Konflikten beschrieben, dass zwei Parteien oder Gruppen unterschiedlicher Meinung sind und sie beide gewollt sind, sich dafür einzusetzen. Im Kommunikationssystem ist Ablehnung nicht sofort mit einem Konflikt verbunden. Wird ein Angebot abgelehnt, Alter stimmt dem jedoch zu bzw. toleriert die Ablehnung Egos, findet kein Dissens statt. Der Konflikt entsteht erst, wenn beide auf ihre Ablehnung beharren: Ego lehnt das Angebot Alters ab und Alter lehnt die Ablehnung Egos ab. Geht die Anschlusskommunikation diesem Dissens nach, kann das soziale System zu einem Konfliktsystem werden. 8.2.8 Grundlage von Handlungsrationalitäten

Wir können nun zum wesentlichen Punkt übergehen, die Klärung der Grundlage von Hand-lungsrationalitäten und ein mögliches Ende ihrer Rationalität während Katastrophenzeiten. Der Fokus liegt dabei auf keinem bestimmten Typ von Katastrophe. Das Wesen der Handlungsratio-nalitäten soll allgemein thematisiert werden. Der katastrophische Effekt von Extremereignissen ist letztendlich vom sozialen Charakter des Systems Gesellschaft abhängig, weniger von der Art des Extremphänomens. 8.2.8.1 Ausgangssituation

Wir erinnern uns, dass der Eintritt einer Katastrophe ein sozialer Prozess ist, auch wenn der Auslöser im Auftreten eines natürliches Extremphänomens angesehen wird. Die Katastrophe definiert sich durch die Extremität der eintretenden sozialen Prozesse (Radikalität, Rapidi-tät, Ritualität), weniger durch die Tatsache, dass ein Extremphänomen Verluste an Human-, Sozial-, Wirtschafts- und Naturkapital verursacht hat. Wir erinnern uns auch, dass nach dem Katastrophenverständnis des UNISDR eine Katastrophe die Unterbrechung der Funktionsfä-higkeit einer Gesellschaft bedeutet. Nach ersten Betrachtungen der Systemtheorie muss hier ein Bruch mit diesem Verständnis getätigt werden. Denn eine Gesellschaft existiert so lange Kommunikation existiert. Auch wenn Kapitalbündel stark reduziert vorliegen und die Res-sourcenmobilisierung nur schwer möglich ist, würde eine Unterbrechung der gesellschaftli-chen Funktionsfähigkeit nur vorliegen, wenn der schlimmste Fall eingetreten wäre, nämlich dass den Einschlag maximal eine Person überlebt hätte. Ihre Reaktionen und Handlungen wären nicht länger von sozialem Belang, da überhaupt keine Kommunikation stattfinden könnte.

Durch das Eintreffen eines Extremereignisses erfährt das soziale System eine gewaltige Stö-rung. Die direkten Auswirkungen des Extremphänomens sind der Wahrnehmung der Betroffe-

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nen frei zugänglich. Die Menschen nehmen überschwemmte Straßen, eingestürzte Häuser und Brücken, Rauchwolken über der Stadt, verletzte Menschen, karge, unfruchtbare Felder wahr. Das Extremphänomen an sich ist ein Ereignis innerhalb der Umwelt des sozialen Systems, wo-durch soziale Prozesse angestoßen werden. Die Menschen als psychische Systeme verarbeiten das Wahrgenommene und lassen ihre Erfahrungen und Empfindungen in das soziale System einfließen. Hierdurch kann eine Kausalkette von Handlungen in Gang gesetzt werden, die von weiterer Interpenetration beeinflusst wird (beispielsweise Geenens These, dass sich im Katast-rophenfall Verflechtungszusammenhänge offenbaren, die Missstände zum Vorschein bringen oder der katalytische Effekt des Klimawandels, wodurch gesellschaftliche Probleme für die Be-völkerung einen Punkt erreichen, die untragbar werden. Handlungen können dann unter diesen Bedingungen bestimmte Formen annehmen).

Mit dem Auftreten des Extremereignisses verringern sich die Freiheitsgrade der Betroffenen. Eine anlaufende Katastrophe unterscheidet sich zum Alltag nicht nur durch ihren radikalen, rapiden und ritualen Ablauf, sondern es stehen den Betroffenen auch weniger Optionsmög-lichkeiten zur Verfügung. Hilfsinterventionen, Schäden und neue Gefahrengebiete verhindern ein freies Bewegen. Können die Betroffenen im Katastrophenfall auf keine Erfahrung zurück-greifen, sodass keine Automatismen abgerufen werden können, werden sie dementsprechend ihre Handlungen vollziehen. Die Maxime wird auf Gefahrvermeidung ausgerichtet sein. Dies kann sowohl auf Laien als auch auf Fachkräfte zutreffen. Erst in den letzten Jahren wurden im Zuge der internationalen Entwicklungszusammenarbeit in vielen weniger entwickelten Ländern Maßnahmen zur Kapazitätserweiterung, Schulung von Fachkräften und zum Katastrophen-schutz durchgeführt. Auch mit der Umsetzung dieser Maßnahmen wird das Verhalten der Be-troffenen erst von Unglücksfall zu Unglücksfall erprobter.

Weitere Einschränkungen der Optionsmöglichkeiten liegen in der Auswahl der kommuni-zierten Themen vor. Die Opfer werden nach direktem Erfahren des Unglücks kaum über all-tägliche Themen sprechen. Die Reduzierung der Handlungsmöglichkeiten wirkt sich auf den Tagesablauf statt. Gewohnte Handlungen, wie der gewohnte Schulbesuch, der Weg in die Arbeit, Essen im Restaurant, das Spielen auf dem Spielplatz, unbegrenzter Zugang zu öffentlichen Ver-kehrsmitteln etc. sind nur eingeschränkt bis gar nicht möglich. Vor allem in der ersten Phase, in der sich die Opfer zunächst vom Schock erholen müssen, werden keine tiefgreifenden Ge-danken gefasst werden. Ist die Situation für die Betroffenen neu, befinden sich die Opfer in der prekären Ausnahmesituation, nicht über die Ursache und Wirkung während der Katastrophe Bescheid zu wissen. Im extremsten Fall treten gar Zweifel über die Beständigkeit von Hand-lungsrationalitäten in diesem Unglück auf. Die Betroffenen mögen unwissend sein, ob soziale Verhaltensweisen und -regeln nach wie vor Bestand haben. Dies muss in gewissen Fällen erst überprüft werden. Die erstmalige Begegnung nach dem Eintritt des Extremereignisses mit an-deren Betroffenen kann daher von tragender Bedeutung sein.

Menschen besitzen durch ihre Erfahrung ein wichtiges Mittel, um sich auf kommende Ereig-nisse vorzubereiten. Im Kommunikationsprozess wird so Komplexität reduziert, da gewisse Verhaltensweisen bzw. Aussagen des Gegenübers als wahrscheinlich und andere als weniger wahrscheinlich kategorisiert werden. Letztere fallen dann aus dem Erwartungsraster. Ein be-stimmtes soziales Umfeld schafft einen bestimmten Kontext, indem der soziale Prozess zwar nicht vollkommen vorhersehbar ist, jedoch treten Ereignisse und Verhaltensweisen meist nicht völlig überraschend ein. Sollte die Umwelt eines Systems das System wesentlich mit Störungen versorgen, kann davon ausgegangen werden, dass im System eine entsprechende Reaktion ge-schieht. Bricht ein Feuer in einem Wohngebiet aus, wird mit großer Sicherheit mindestens ein Anwohner oder Passant die Feuerwehr alarmieren. Auch bei erprobten Katastrophenplänen ist dies der Fall. In Japan beispielsweise gibt es strikte Notfallpläne und Verhaltensweisen, an die sich die Bewohner beim Eintritt eines Erdbebens oder Tsunamis halten sollen. Der Katastro-phenschutz ist fest in den täglichen Alltag integriert. Tritt ein Beben ein, wissen die Bewohner, was sie zu tun haben.

Der Auslöser für Handlungen oder deren Unterlassung sind Informationen. So beschließt der Familienvater in dem obigen erwähnten fiktiven Beispiel, dass er nach seinen Familienan-gehörigen schaut, weil er die Information hat, dass ein Naturereignis die Stadt erschüttert hat. Er sieht die Möglichkeit, dass ihnen etwas zugestoßen sein könnte. Die potentiell Betroffenen bekommen die Information durch ein Frühwarnsystem, sofern ein solches vorhanden ist, durch mediale Warnungen oder eben durch das direkte Wahrnehmen des Ereignisses. Informationen werden aus wahrnehmbaren Sachverhalten oder Kommunikationsinhalten gewonnen. Den-noch müssen sie den Charakter eines Ereignisses haben. Von einem Gegenstand, der unver-ändert bleibt, lassen sich keine neuen Informationen gewinnen. Bei Ereignissen findet hingegen ein Prozess statt. Etwas ist anders als zuvor. Information setzen nach Luhmann immer voraus, dass Möglichkeiten gegen andere Möglichkeiten abgegrenzt werden und dass weiter innerhalb eines Bereichs von Möglichkeiten eine oder andere Information sich herauskristallisieren: „In-formation ist eine Selektion aus einem Bereich von Möglichkeiten.“115 Das, was man aus dem Ereignis als Information vorgelegt bekommt, kann also nicht unwahrscheinlich sein. Möglicher-weise war die Information gar aus dem Raum der Möglichkeiten unter Umstände zu erwarten.

Jedes System produziert Informationen und verarbeitet diese. Um Möglichkeiten zu sehen, muss das System Erwartungen bilden können. Mit Typen oder Schemata, kann das System die-se Möglichkeiten einordnen. Diese Systemmechanismen können von System zu System sehr unterschiedlich sein. Solche vom System erbrachten Leistungen sind systemeigen.116 All dies geschieht in einem Raum von Möglichkeiten, den sich das System vorstellen kann. Und dieser Möglichkeitsraum ist begrenzt. Das System kann sich keine unendlichen Ereignisse, Prozesse oder Geschehnisse vorstellen, die eintreten könnten. Indem der Möglichkeitsspielraum einge-schränkt ist, entsteht Erwartung. Erwartung ist so gesehen nichts anderes als die Einschränkung von Möglichkeiten. Das was nicht aus dem Raster fällt, das also übrigbleibt, kann erwartet wer-den. Dies trifft auf wahrnehmbare Dinge als auch auf Themen und Beiträge im Kommunika-tionsprozess zu. 8.2.8.3 Kausalität zwischen Störungen und Handlungen

Erwartung ist ein essenzielles Werkzeug, um auf Ereignisse zu reagieren. Sollten Störungen auf-treten, werden diese in das System aufgenommen und anhand der Erwartungen gemessen, die sich im System bewährt haben. In Verbindung mit dem Bereich der Möglichkeiten ergeben auftretende Störungen, Irritationen oder Informationen ein konkretes Bild im System. Japans katastrophenerprobte Bewohner befolgen die erlernten Anweisungen zum Katastrophenschutz, da sie aufgrund ihrer Erfahrung konkrete Erwartungen an das bevorstehende Ereignis hegen können und für sie die Befolgung der Anweisungen der Weg ist, größere Gefahren zu vermei-den. Wird das System hingegen von einer Störung heimgesucht, auf die zunächst nicht reagiert werden kann, da man nicht weiß, um was es sich für eine Störung handelt, können Such- oder Identifikationsvorgänge mithilfe des Möglichkeitenbereichs eingeleitet werden.117 Riecht es zum Beispiel brenzlig, kann vielleicht nicht sofort gewusst werden, ob es sich um ein Feuer han-delt, eine ausgelaufene Chemikalie oder sonst etwas passiert ist. Durch die allmähliche Identi-fizierung des Geruchs lässt sich allerdings auf eine begrenzte Möglichkeit der Interpretation schließen. Riecht es verbrannt, befindet man sich in der Nähe eines Waldes und die letzten Wochen gar Monate waren von extremer Trockenheit geprägt, erscheint der Schluss auf einen Waldbrand durchaus als möglich, zumindest deutlich wahrscheinlicher als dass eine Chemika-lie in der Nähe ausgelaufen ist. Sollte dies in der Vergangenheit schon einmal geschehen sein, verhärtet sich die Annahme. Treten zudem Zeichen auf wie eine über dem Wald aufkommende Rauchwolke, scheint die Vermutung richtig zu sein.

Wird eine Störung wahrgenommen, wird ein Informationsverarbeitungsprozess in Gang gesetzt. Mithilfe des Bewusstseins finden über die Störung Überlegungen statt, man the-matisiert sie oder man lenkt seine Wahrnehmung auf die Störstelle. Die Störung wird so in irgendeiner Weise behandelt und sie beeinflusst Handlungen (es wird über die Störung gesprochen, man warnt andere, ein Katastrophenschutzplan wird umgesetzt). Nach der Wahrnehmung der Störung werden durch die anschließenden Handlungen Systemprozesse in Gang gesetzt. Luhmann spricht hierbei von einer Übersetzung. Das Wahrgenommene wird, soweit es möglich ist, im System verbal formuliert und somit in einen Systemprozess übersetzt, der Möglichkeiten bietet, das System in Gang zu setzten und in Gang zu halten.118In der Zukunft119 wird sich dann zeigen, ob der Systemprozess passende Resultate für eine erfolgreiche Reaktion liefert.

Nach der Wahrnehmung einer Störung findet eine deutliche Separierung zwischen dem natürlichen Ereignis (Feuer, Flut, Sturm etc.) inklusive dem, was es physisch hinterlassen hat (Verwüstung, Überschwemmung etc.) und den darauffolgenden sozialen Prozessen statt. Das Extremphänomen nimmt Einfluss auf das soziale System, indem Prozesse und Abfolgen durch die aus dem Einsetzen des Extremphänomens entstehenden (Aus-)Wirkungen gestört wer-den. Auch vor dem eigentlichen Einsetzen des Gefahrenereignisses kann das soziale System bereits Störungen unterliegen. Wird das natürliche Phänomen erkannt, zum Beispiel durch ein Katastrophenfrühwarnsystem, ist das System auch hier Irritationen und Störungen aus-gesetzt. Die Menschen richten sich danach, indem sie in einem Bunker oder sicherem Ge-bäude Unterschlupf finden oder die für solch ein Ereignis vorgesehene Evakuierungsroute in das Landesinnere nehmen. Diese Störung bewirkt, dass sie ihre zu diesem Zeitpunkt nach-gegangenen Handlungen unterbrechen. An Wahrnehmung und Umsetzung schließt soziales Verhalten an. Das Phänomen an sich ist nicht sozial; für die natürliche Umwelt mag es ein natürlicher, integrierter Vorgang sein. Für das soziale System und seine Prozesse stellt es al-lerdings eine Störung dar.

Nach Luhmann findet die Störung erst statt, wenn das Wahrgenommene durch verbale Über-setzung in das System eingebracht wird. Ich sehe den Einfluss bereits früher, wenn das Wahr-genommene oder die Auswirkungen des Ereignisses das menschliche Leben tangieren und es non-kommunikatives Verhalten beeinflusst. Wenn die Auswirkungen erst einmal Einfluss auf die Betroffenen genommen haben, sind weitere Prozesse rein sozial. Handlungsrationalitäten hängen dann von vorangegangenen Handlungen ab. Die physischen Auswirkungen des Phäno-mens sind eine Art Erstursache für bevorstehendes Verhalten in Katastrophenzeiten. Allerdings ist dies systemtheoretisch nicht richtig ausgedrückt, da Ursache von Handlung eine zuvor statt-gefundene Handlung ist, die einem Subjekt zugeordnet wird. Für den weiteren, eigentlichen Verlauf der Katastrophe ist das Fortsetzen von Kommunikation nach dem Katastrophenereig-nis entscheidend. Die Katastrophe als soziale Prozess wird durch die Interaktion der Menschen fortgesetzt und weniger durch die Wahrnehmung der entstandenen Verluste und Schäden. Die Katastrophe ist ein rein soziales Ereignis und konstituiert sich im weiteren Verlauf durch die Kontinuität sich anschließender sozialer Prozesse.

Im Falle eines Frühwarnsystems wirkt sich das natürliche Phänomen doppelt auf die Inter-penetration der sozialen Prozesse aus. Zunächst reagieren die Menschen auf die Warnung und bringen sich in eine sicherere Umgebung. Hier geschieht der erste Einfluss auf die alltäglichen Handlungsweisen. Nachdem das Gefahrenereignis eingetreten und überstanden ist, verlassen die Menschen ihre Schutzzonen und kehren im Optimalfall nach Hause zurück. Das Aus-maß des Gefahrenereignisses wird nun eingesehen. Hier findet der zweite Einfluss statt. Zwar konnten durch Evakuierung herbe menschliche Verluste verhindert werden, doch das Ereignis hat physische Änderungen vorgenommen, auch wenn sich dies zum Beispiel bei einer Über-schwemmung nur in Form von angespültem Treibgut im Vorgarten widerspiegelt. Die Bewoh-ner richten ihr zukünftiges Handeln darauf aus, indem sie den Unrat entfernen oder er ihnen ihren Bewegungsraum einschränkt.

Dies trifft auf plötzlich eintretende Ereignisse zu. Langsam eintretende Phänomene wie Dür-ren oder Desertifikationen nehmen hingegen einen dauernden Einfluss auf soziale Prozesse. Schäden und Verluste entwickeln sich über die Zeit und entstehen nicht plötzlich, wie das bei einem tropischen Sturm der Fall ist. Damit setzen anhaltende Umweltveränderungen das sozi-ale System permanent unter Druck. Der Rückgang der Ernte ist beispielsweise kein einmaliges Ereignis, sondern wird mit zum Fixpunkt des sozialen Systems. Die Störung wird allgegen-wärtig, sie ist eine dauerhafte Störung für das System. Erst eine erfolgreiche Anpassung an die Umweltdegradation oder das Ende der Dürre reduziert die Störung. Die Störung kann sich allerdings in anderer Art und Weise festsetzen, beispielsweise wenn sich während der Dürre-periode das soziale Gefüge nachhaltig verschlechtert. Spannungen können entstehen, wen das Klimaphänomen instrumentalisiert wird oder es als Katalysator anderer sektoraler Probleme dient. Die Bewohner müssen sich zwangsläufig an die etablierten Spannungen anpassen, folg-lich ändern sich ihre Handlungsweisen und -rationalitäten. Fand eine Störung über einen län-geren Zeitraum statt, können sich Handlungsweisen im Zuge des Anpassungsprozesses durch-aus nachhaltig geändert haben. Eine sofortige Umkehr der mit der Katastrophe entstandenen Handlungsweisen, die sich mit der Zeit etabliert haben, wird sich nicht von heute auf morgen einstellen. Konventionen zum friedlichen Miteinander müssten möglicherweise erst wieder bekräftigt werden, nachdem sie sich in Konfliktzeiten aufgelöst haben. Das System wurde somit nachhaltig von den Störungen verändert, indem sich die Erwartungen gegenüber dem Mög-lichkeitsspielraum geändert haben.

Tropische Stürme, Fluten, Überschwemmungen, Dürren, Desertifikationen, Waldbrände oder Lawinen sind jährlich wiederkehrende Phänomene. Bestimmte Regionen gelten als besonders anfällig gegenüber solchen Extremphänomenen. In einigen Regionen kann gar von einer ge-wissen Regelmäßigkeit hinsichtlich des Eintretens von Extremphänomenen gesprochen wer-den. Für das Jahr 2016 hat die Munich Re 750 relevante Ereignisse gezählt, wovon 130 als sehr schwere ‚Naturkatastrophen‘ klassifiziert wurden.120 Zwar wird mit dem Eintritt einer schweren Katastrophe manchmal nicht nur der Katastrophenfall, sondern sogar der Ausnahmezustand ausgerufen, doch wird sich dadurch meist eine bessere Bewältigung des Desasters aufgrund einer direkten Handlungsfähigkeit erhofft. Ein Aufkommen von Aufständen und gewalttätigen Ausschreitungen im Zusammenhang mit Katastrophen ist nicht die Regel. Das Beispiel Bang-ladesch zeigte, dass historische Ausschreitungen während Katastrophenzeiten nur im Zusam-menhang zu schweren gesellschaftlichen Krisen im Land entstanden. Einige Regionen Chinas sind jährlich von natürlichen Extremphänomenen betroffen (besonders hydrologische und me-teorologische), dennoch befindet sich die betroffene Bevölkerung zu diesen Zeiten in keinem Konfliktzustand.

Sind Länder bzw. Regionen anfällig gegenüber natürlichen Extremphänomenen, bedeutet dies, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass das Katastrophenrisiko real wird und die Be-wohner mehr als einmal den Notfall in ihrem Leben erfahren. So versorgen Extremphänomene zwar die Regionen mit Störungen, durch das immer Wiederkehren der Phänomene kann die Bevölkerung allerdings auf eine gewisse Routine zurückgreifen. Viele Extremphänomene treten sogar in bestimmten Monaten auf (Hurrikansaison, Monsunmonate), meist mit immer wie-derkehrenden Auswirkungen, wodurch die Bevölkerung konkrete Erwartungen gegenüber den Ereignissen haben kann. Dementsprechend ist es ihr möglich, anhand der Erfahrung und dem über die Jahre erlangtem Wissen sich vorzubereiten und sich anzupassen. Das natürliche Ext-remphänomen tritt ein, versorgt das soziale System über einen gewissen Zeitraum mit Störung, bis es vorbei ist und das geregelte Leben weitergeht.

So liegt die These nahe, dass Änderungen im Muster von Handlungsrationalitäten, also das Abkommen von herkömmlichen Verhaltenskonventionen, bei regelmäßig auftretenden Phäno-menen eine geringe Wahrscheinlichkeit zukommen. Immer wiederkehrende Phänomene mit erwartbarem Ausmaß bieten nur wenig Anlass, diese für Konflikte oder Umstürze zu instru-mentalisieren. Die Menschen haben sich mit den regelmäßigen Ereignissen gewissermaßen ar-rangiert. Aus Erfahrung wissen sie, dass sich das soziale System auf absehbare Zeit erholen wird. Übersteigt hingegen ein Ereignis die Erfahrung, stehen Bevölkerung und Institutionen vor einer ungewohnten Herausforderung, deren Ausgang nicht offensichtlich ist. Dies kann der Fall sein, wenn ein Extremphänomen in einer Region eintritt, in deren Historie kaum bis keine Gefahren-ereignisse vorkamen oder das Phänomen von einer Dimension ist, die weitaus verheerender als gewohnt ausfällt. Letzteres war in Bangladesch in den Jahren 1970, 1974 und 1988 der Fall. Die Überschwemmungen fielen stärker als gewohnt aus und Hilfsmaßnahmen konnten die Verluste nicht auffangen. Dabei traten die Überschwemmungen zu politisch unruhigen Zeiten ein. Sie konnten demnach für politische Zwecke instrumentalisiert werden bzw. waren ein Katalysator für sich verschärfende Konflikte.

Politische Unruhen sind jedoch nicht der alleinige Grund für Ausschreitungen nach dem Ein-tritt von Extremphänomenen. Überschwemmungen und Schlammlawinen führten in der Var-gas Region in Venezuela 1999 zu einer der schwersten Katastrophen Lateinamerikas. Nach den Gefahrenereignissen kam es vielerorts zu schweren Plünderungen. Das Kriegsrecht wurde für mehr als ein Jahr ausgerufen.121 Die Hurrikansaison im Atlantik war im Jahre 2004 besonders intensiv. Hurrikan Ivan und kurz darauf Jeanne zogen über die Karibik und hinterließen unter anderem auf Haiti große Schäden, worunter auch der Verlust zahlreiche Menschenleben zu zäh-len ist. Als die Katastrophenregion mit internationalen Hilfsgütern versorgt wurde, eskalierte die Situation. Es kam zu gewalttätigen Ausschreitungen und Plünderungen von Konvois in-klusive der gewalttätigen Entwendung der Lastwagen.122 Auch nachdem Hurrikan Katrina über New Orleans zog und Teile der Stadt verwüstete und überschwemmte, wurden teilweise Waren entwendet und Kriminalität brach aus (vgl. Kap. 7.3).

Weder in Venezuela noch auf Haiti oder den USA herrschten zu diesen Zeiten politische Un-ruhen. Besonders die Entwicklung in New Orleans ist für viele Amerikaner immer noch schwer nachzuvollziehen, wie ein Hurrikan in den Vereinigten Staaten so verheerende physische als auch soziale Folgen haben konnte. Alle Katastrophen haben jedoch gemeinsam, dass die Aus-wirkungen einschneidend waren, die existierenden gesellschaftlichen Krisen deutlich wurden, bzw. noch deutlicher als dies ohnehin schon der Fall war (Haiti kämpfte zu diesem Zeitpunkt bereits seit vielen Jahren mit bitterster Armut) und dass die betroffenen Regierungen nicht in der Lage waren auf die Situation zu reagieren. Die Regionen waren wenig bis gar nicht auf ein solches Ausmaß vorbereitet. Im unzureichenden Katastrophenmanagement sahen sich die Menschen von der Regierung verlassen. Plünderungen wurden von nicht wenigen als einzige Möglichkeit angesehen, um an ausreichend Nahrung zu gelangen, damit ihr Überleben gesi-chert werde konnte.

In extremsten Gefahrensituationen können die Menschen meist auf keinerlei Erfahrung zu-rückgreifen. Geschehenes übersteigt jegliche Erfahrung. Die Betroffenen können auf kein Sche-ma zurückgreifen, das sich in der Vergangenheit bewährt hat. Die Störung lässt sich folglich nur schwer einordnen. Der Möglichkeitsspielraum wird undurchsichtig, er verschwimmt. Die Ein-ordnung von Erwartung gestaltet sich als äußerst schwierig, selbst wenn nur wenige Anschluss-handlungen möglich erscheinen. Das Nicht-Eintreffen einer erwarteten (erhofften) Handlung nimmt in solchen Zeiten schicksalsartige Züge ein: Rettung oder Nicht-Rettung. Erwartungen verschmelzen mit Vorahnung, Raten und Glauben. Der emotionale Zustand beeinflusst das Ver-halten. Die meisten sind zunächst von ihren Gefühlen überwältigt. Meist wird von ungefähr zwei Tagen ausgegangen, um den Schock zu verarbeiten. Ein affektierter Zustand eines psy-chischen Systems lässt nicht unbedingt erwarten, dass sämtliche Reaktionen und Handlungen rational und besonnen ausfallen. Der mentale Zustand wirkt sich durch Interpenetration auf das soziale System aus. Klassische Handlungsmuster fallen aus der Reihe. Aus dem begrenzten Raum der Möglichkeiten, bedingt durch die Extremsituation, können zwar gewisse Handlungen als eher wahrscheinlich angesehen werden, aber emotionale Zustände wie Angst können bewir-ken, dass diese objektiv logischen Handlungen unterlassen werden, um sich keiner potentiellen Gefahr auszusetzen. 8.2.8.5 Bildung von Strukturen durch Erwartungen

Erwartungsbildung stellt einen zentralen Aspekt in der Vorbereitung gegenüber Extrem-ereignissen dar. In der Systemtheorie hängt der Strukturbegriff eng mit der Erwartungs-bildung von Ereignissen zusammen. Katastrophen oder gewalttätigen Konflikten wird ein Potential zugeschrieben, eine Veränderung oder gar ein Zerfallen von gesellschaftlichen Strukturen zu bewirken. Anhand der medialen Berichterstattung aus Katastrophen- oder Kriegsländern mag einer nur allzu schnell den Eindruck bekommen, dass gesellschaftli-che Strukturen unter all den Verwüstungen, Verbrechen und Gräueltaten nur schwer auf-rechterhalten werden können. Aus systemtheoretischer Sicht ist ein Strukturzerfall weniger wahrscheinlich, da die Gesellschaft aus Kommunikation besteht, folglich Strukturen auf Kommunikation basieren.

Der Strukturbegriff der Systemtheorie unterscheidet sich zunächst von einem starren Ver-ständnis von Struktur. Strukturen im Sinne der Systemtheorie definieren sich nicht durch ihre Dauer. Zunächst finden im System Operationen, Handlungen statt, an die sich andere Ope-rationen anschließen. Je nach Situation folgt eine gewisse Operation auf die vorangegangene. Hierin liegt die Funktion der Strukturen, wie eine Operation zu einer nächsten kommt, eine Operation eine nächste passende findet. „Die Realität der Struktur ist dann nicht eine Lang-zeitigkeit als Existenzmodus, sondern die Realität der Struktur liegt in ihrem Zitiertwerden, in

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ihrem Benutztwerden. Nur dann, wenn Strukturen benutzt werden, gibt es sie.“123 Solange einer Handlung eine andere folgt, funktionieren die Strukturen im System.

Strukturen bieten einen bestimmten Möglichkeitsspielraum für Anschlussoperationen im System. Sie beschreiben somit in gewisser Weise die Bedingungen, was als nächstes geschieht. Strukturen eröffnen und begrenzen gleichzeitig den Raum für anschließende Operationen. „Von der Struktur her kommt die laufende Bestimmung der nächsten Elemente durch Exklusion an-derer bereitgehaltener (systemmöglicher) Möglichkeiten zustande.“124 Dabei fassen Strukturen die ganze Komplexität der Möglichkeiten, jedes Element mit jedem anderen zu verbinden. Sie eröffnen mögliche anschließende Operationen, begrenzen aber gleichzeitig den Raum, indem „ein engeres Muster ‚geltender‘, üblicher, erwartbarer, wiederholbarer oder wie immer bevor-zugter Relationen“125 gefasst wird. Dass sich solch ein Muster herausbildet, ist der Erfahrung der Protagonisten im sozialen System zu danken. Sie entwickeln mit der Zeit Erwartungsstruktu-ren, um mögliche anschließende Handlungsweisen auf vorangegangene Handlungen zu erwar-ten. Strukturen bestehen folglich aus Erwartungen; sie sind Erwartungsstrukturen der sozialen Systeme. Und da soziale Systeme auf Handlungsereignisse in der Gegenwart basieren, sind die Strukturen ebenso von gegenwärtiger Existenz: „Strukturen gibt es nur als jeweils gegenwärtige; sie durchgreifen die Zeit nur im Zeithorizont der Gegenwart, die gegenwärtige Zukunft mit der gegenwärtigen Vergangenheit integrierend.“126 Soziale Systeme strukturieren sich somit durch Erwartungen. Die Vorstellung, dass Strukturen innerhalb von Gesellschaften völlig auseinander-fallen, selbst in schlimmsten Katastrophenzeiten, ist also problematisch. Selbst wenn der Raum der Möglichkeiten stark verschwimmt, da eine Situation vorherrscht, für die der Protagonist keinen Erfahrungsschatz hat, ist es doch möglich gewisse Operationen auszuschließen. Dies be-deutet, dass wenigstens eine grobe Struktur Erwartungen bildet, auch wenn sie möglicherweise eher von Emotionen als von Erfahrung geleitet wird.

Mit solch einem Strukturverständnis erleichtert sich die Betrachtung von speziellen Hand-lungsrationalitäten während Krisenzeiten. Ausfallende oder besonders altruistische Handlun-gen stehen nicht im völligen Konflikt zum alltäglichen Handlungsrahmen, da von keinen un-flexiblen Strukturen ausgegangen wird, die sich über Jahrzehnte hinweg unter dem Einfluss von Kultur, Religion, Philosophie, Spiritualität, Ethnien, Politik, Historie oder Ökonomie verhärtet haben. Durch die Vergegenwärtigung der Strukturen und deren Ordnung durch Erwartungen, bekommen aktuelle Geschehnisse fokale Präsenz. Handlungen stehen somit nicht unter einer über-alles-richtenden Struktur. Es entsteht kein Konflikt zwischen den gegebenen, alltäglichen Handlungsrahmen und Handlungen in Krisenzeiten. Dennoch bilden sich auch im system-theoretischen Sinne Strukturen nicht völlig grundlos. Vergangenes findet sich in Bezug auf das Derzeitige, das, was gerade die Gesellschaft betrifft, wieder, bzw. Derzeitiges referiert auf Ver-gangenes. Strukturen passen sich an Gegenwärtiges an und sind flexibel, ohne dabei aus dem Nichts aufzutauchen.

Anhand von Erwartungen werden Strukturen gebildet, dies bedeutet, Strukturen hängen von Ereignissen ab, die menschliche Sphären mindestens tangieren. Erwartungen sind demnach eine Zeitform, in der Strukturen gebildet werden. Wenn dabei Erwartungen gebildet werden, die erwartet werden können, also nicht völlig abwegig sind, eignen sie sich als Struktur des sozialen Systems und gewinnen soziale Relevanz. Bedingung ist, dass Strukturen nur im sozialen Umfeld entstehen können, also mindestens ein weiterer Teilnehmer neben dem Erwartenden existiert. Darüber hinaus muss das Erwarten reflexiv sein. Die Erwartung muss sich selbst als erwartend wissen. Im Kontext des Kommunikationsaustausches heißt das, „Ego muss erwarten können, was Alter von ihm erwartet, um sein eigenes Erwarten und Verhalten mit den Erwartungen des anderen abstimmen zu können.“127 Ist diese Reflexivität vorhanden, können Erwartungen einer Selbstkontrolle unterzogen werden. Ein Teilnehmer steht beispielsweise im Austausch mit einen anderen und dabei erwartet er von sich selbst, „bestimmte Erwartungen in bezug auf den ande-ren zu haben; er kann dann zum Beispiel die Meinung haben, es sich selbst schuldig zu sein, ein bestimmtes Verhalten nicht zu tolerieren, das seine eigenen Erwartungen (an sich selbst oder an den anderen) durchkreuzt“128.

Mit der Zeit entwickeln die Akteure ein Gefühl für bestimmte Erwartungen bzw. Folgeverhal-ten. In gewissen Situationen sind sie sich sicher, dass die Person gegenüber erwartend reagiert. Bei anderen von ihnen begangenen Handlungen wiederum nicht, weil sie die Person nicht gut genug kennen, ihre Rolle, die sie einnimmt oder weil sie selbst eine ungewohnte Aktion ausfüh-ren. Diese Ebene des reflexiven Erwartens ist empfindlich und anfällig gegenüber Erwartungs-erschütterungen. „Wer ein Verhalten hinnimmt, das seine Erwartungen enttäuscht, muss damit rechnen, dass der andere künftig nicht mehr die enttäuschten Erwartungen erwartet, sondern diejenige, die seinem eigenen Verhalten entsprechen würden. Er ist zum Beispiel unpünktlich. Nimmt man das hin, restrukturiert sich der soziale Erwartungszusammenhang unter Einschluss der Möglichkeiten, unpünktlich zu sein.“129 Der Toleranzbereich, was erwartet werden kann, wird erweitert. Wolle man das verhindern, müsste der Teilnehmer, dessen Erwartungen ent-täuscht wurden, vorsorglich reagieren, indem er verständlich macht, dass man dieses nicht er-warten will, was gerade geschehen ist, zum Beispiel, dass die Person gegenüber unpünktlich erschienen ist.

Naturereignisse und physische Verwüstungen können erwartet werden. In der zwischen-menschlichen Interaktion handelt es sich jedoch um Erwartungserwartungen. Erwartungen werden an dem Gegenüber adressiert, dies bedeutet, Erwartungen können nur von jemandem erwartet werden, der auch handeln kann. Man erwartet also ein Verhalten des Anderen. Diese Ausdifferenzierung von erwartbaren Verhaltensweisen führt zu sozialen Systemen. Die Aus-differenzierung von Erwartungserwartungen ist jedoch risikobehaftend, was hier der Kern der Ausführungen ist: Was passiert im Katastrophenfall, wenn die Erfahrung des Erwartbaren schwindet? 8.2.8.6 Erwartung von Verhaltensweisen

Auch wenn keine Erfahrungen über eine bestimmte Situation vorliegen, ist es dennoch möglich, Erwartungen zu haben. Es tritt also kein strukturloses Chaos ein. Auch hier wird der Zustand durch die Ausdifferenzierung von Erwartungen strukturiert. Nach Luhmann findet ein Kombi-nationsspiel von relativ sicheren und relativ unsicheren positiven und negativen Erwartungen statt. Struktur heißt demnach nicht einfach Sicherheit, weil sie aus auf Erfahrung gründenden Erwartungen ausdifferenziert wird. „Vielmehr wird mit einem höheren Grad an Wahrschein-lichkeit Bestimmtes ermöglicht und anderes ausgeschlossen, und in Bezug darauf können Er-wartungen dann mehr oder weniger sicher/unsicher sein.“130 Sehen sich Menschen mit einer Extremsituation konfrontiert, müssen sie sich auf Sicheres/Unsicheres einlassen bzw. zwischen dem möglichen eintretenden Verhalten der anderen Teilnehmer abwägen. Folglich steht eine Struktur mit Unsicherheit in Beziehung; existiert eine Struktur, existiert auch Unsicherheit.131Und diese Unsicherheit steigt, wenn man weniger ausschließen kann.132

Über die Festlegung, was erwartet werden kann, ist es möglich, sich auf kommende Ereignisse vorzubereiten. Dies bedeutet, man greift gewisser Weise in die Zukunft vor. Mag ein Ereignis noch so unwahrscheinlich sein, sollte der Akteur es in seine Erwartungen mitaufnehmen, wird er keine vollkommene Enttäuschung erfahren, falls dieses doch tatsächlich eintritt. Durch die Festlegung von Erwartungen kann man „interne Reaktionen auf noch gar nicht eingetroffene Umweltereignisse vorbereiten. Man kann sehr unsicher erwartete Ereignisse mit sehr sicheren Erwartungen kompensieren“133. Weiter oben wurden Gefühlszustände als Faktor zur Einwir-kung auf zwischenmenschliche Interaktion angesprochen. Im Grunde passiert im Angstzustand nichts anderes als eine innere Vorbereitung auf mögliche Ereignisse, nur auf deutlich intensive-rem Wege, indem sie über die menschliche Psyche geleitet wird.

Damit das Verhalten des Gegenübers im Raum der erwartbaren Optionen konkreter wird, werden nicht nur sämtliche Möglichkeiten an Verhaltensweisen in Betracht gezogen, sondern das Erwarten wird an bestimmte Identitäten geknüpft. Die Erwartungshaltungen, die man ge-genüber einem Menschen in einer bestimmten Situation hat, müssen nicht die gleichen sein, die man gegenüber anderen Menschen in der gleichen Situation hegt. Bei einem ausgebrochenen Feuer sind die Erwartungen an einem Feuerwehrmann andere als gegenüber einem Passanten. Nach Luhmann hängen Erwartungen von Erwartungszusammenhängen ab, in den Kategorien Personen, Rollen, Programme und Werte . Durch die Bündelung dieser Identitäten können Er-wartungen konkretisiert werden.134

Mit Personen sind nicht lediglich psychische Systeme gemeint, sondern eine Person wird da-durch konstituiert, um Verhaltenserwartungen ordnen zu können. Personen können Erwartun-gen an sich ziehen und binden, gerade durch ihr psychisches System und ihren Körper. Ebenso Selbsterwartungen und Fremderwartungen. Die Erwartungen an eine Person können unter-schiedlich ausfallen, je nachdem in welchem Milieu sie sich befindet. Je mehr Erwartungen an eine Person individualisiert werden kann, desto komplexer erscheint die Person.

Rollen unterscheiden sich von der Personenidentität, indem sie spezieller als auch allgemeiner sind. Bei Rollen wird nur ein bestimmter Ausschnitt des Verhaltens einer Person betrachtet. Die Rollen, die ein Mensch einnimmt, sind auswechselbar. Die Rolle als Patient, Lehrer, Opernsän-ger, Mutter, Sanitäter etc. muss der Mensch nicht dauerhaft annehmen. Menschen können sich als Person identifizieren und an Rollen orientieren, die sie einnehmen wollen. Rollen und Per-sonen können sich darüber hinaus gegenseitig beeinflussen. Rollen bekommen einen „persön-lichen Stil“ und Personen werden durch ihre eingenommenen Rollen geprägt. Rollen können während Katastrophenzeiten neu verteilt werden. Clausen schildert, dass nach dem Katastro-pheneintritt Gruppen oftmals neue, weitere Aufgaben übernehmen. So können Personen plötz-lich in eine neue Rolle schlüpfen, wodurch man an sie neue Erwartungen hat. Indem in solchen Zeiten neue Rollen belegt werden, können Erwartungen an bestimmte Dienste während der Katastrophe erfüllt werden.

Erwartungen müssen nicht an eine einzelne Person gebunden sein. Programme erweitern hierbei die möglichen Erwartungen. Ein Programm ist ein Komplex von Bedingungen der Rich-tigkeit, wodurch Verhalten sozial abgenommen werden kann. Dies tritt ein, wenn ein Verhalten von mehr als einer Person geregelt und erwartbar gemacht werden muss. Dies ist bei Projek-ten der Fall, in der verschiedene Personen für die Durchführung zuständig sind (Planung und Durchführung einer Oper, Neukonstruktion eines Automotors, Verminderung des Grades an Verschmutzungen eines Sees). Diese Programme müssen keinen wiederkehrenden Charakter haben, sondern können einmalig sein.

Die letzte Identität für Erwartungszusammenhänge bilden Werte . Dabei sind sie als „allge-meine, einzeln symbolisierte Gesichtspunkte des Vorziehens von Zuständen oder Ereignissen“135anzusehen. Allerdings auch auf Handlungen, in denen wir ihnen am meisten Bedeutung zurech-nen. Luhmanns Werte unterscheiden sich von denjenigen, die man aus der Ethik kennt. Werte sind im Sinne der Systemtheorie keine bewussten oder unbewussten Orientierungsstandards und Leitvorstellungen, von denen sich Menschen oder Gruppen leiten lassen.136 Nach Luhmann sind sie vielmehr Vorstellungen zum Bewerten. So können Handlungen als friedensfördernd, gerecht, umweltverschmutzend, als Ausdruck von Solidarität, Hilfsbereitschaft, Hass etc. be-wertet werden. Der normative Aspekt im ethischen Sinne fällt dabei nach Luhmann weg. Hand-lungen können damit unter positive als auch negative Gesichtspunkte gebracht werden. Es lässt sich nach Luhmann somit nichts über die Richtigkeit der Handlung sagen, lediglich über dessen Bewertung.137 Dennoch sind Werte für die Erwartbarkeit des Erwartens bedeutend. Beispiels-weise innerhalb von Programmen, in denen anhand eines Wertkonsenses die Kommunikation über Programmentwicklung, situative Adaptierung, Programmänderung oder Obsoletwerdens des Programmes geführt werden kann. Somit können Werte als eine Art Sonde im Kommunika-tionsprozess dienen, um das Funktionieren konkreterer Erwartungen zu prüfen. Dies bedeutet, dass sie wenigstens im speziellen Bereich, in konkreten Situationen eine Werteorientierung be-reitstellen.

Das Ineinandergreifen der vier Identitäten erlaubt Differenzen in der Erwartung von Ver-halten zu ziehen. Aus den Identitäten lassen sich komplexere Ebenen herausbilden, um Er-wartungszusammenhänge zu konkretisieren. „Das rein persönliche kann herausgezogen und in Differenz zu Rollenforderungen stärker individualisiert werden. Das rein Wertmäßige kann herausgezogen und in Differenz zu Programmforderung stärker ideologisiert werden.“138 In-dem Verhaltenserwartungen anhand dieser vier Identitäten gebildet werden, können sowohl die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens (Individuen und Werte) als auch die Erfordernisse der Komplexität (Rollen und Programme) berücksichtigt werden. 8.2.8.7 Deviantes Verhalten in Katastrophenszenarien

Der soziale Umgang, das Interagieren zwischen Menschen im sozialen System, basiert neben der tatsächlichen Kommunikation auf Erwartungen. Erwartungen von zukünftigen Handlungen und Verhaltensweisen vereinfachen die Interaktion. Erwartungserfahrungen und die Einord-nung nach Person, Rollen, Programmen und Werten geben dem Erwartenden eine Art Leitbild an die Hand, mit dem er nicht jedes Mal völlig ahnungslos in sozialen Kontakt tritt und nicht weiß, wie sein Gegenüber ihm entgegnen wird. Komplizierter wird es, wenn die Rahmenbe-dingungen Erfahrungen übersteigen. Tritt ein Extremereignis ein, das Erfahrungen übersteigt, beschleunigt sich nach Clausen der soziale Wandel.

Warum es allerdings in Katastrophenszenarien zum Bruch von Handlungsrationalitäten kommt, kann nur schwer generalisiert werden. Ich möchte betonen, dass dies seltener der Fall als angenommen bzw. vermittelt wird. Allgemein wird davon ausgegangen, dass das Verhal-ten der Verunglückten während Katastrophenzeiten von basalen, niederen Instinkten getrieben wird; Panik und ein kollektiver Schock brechen bei den Betroffenen aus; an Normen wird sich nicht mehr gehalten, Devianz macht sich breit, Plünderungen und Wucherpreise tauchen auf; Opfer fliehen in Panik; das Kriegsrecht wird ausgerufen. All dies sind jedoch Phänomene, die von Forschern als „Katastrophenmythen“ bezeichnet werden.139 Das Gegenteil ist meist der Fall, sodass die Gemeinschaft normalerweise nicht auseinanderbricht. Im Sinne der Systemtheorie erst recht nicht, da Kommunikation auch in Extremzeiten aufrechterhalten wird und sich Struk-turen entsprechend der Interaktion der Betroffenen bilden. Zudem wird nach den Normen, die in Nicht-Krisenzeiten gelten, meist auch in Krisenzeiten gehandelt. Normen haben eine grund-legende Funktion im Leben, gerade weil sie Bestand haben und keinen ständigen Wandel unter-liegen sollten. Altruistisches Handeln ist in Katastrophenzeiten ein häufiges wahrzunehmendes Phänomen. Nach Einbruch des Unglücks widmen sich die Betroffenen den Bedürfnissen der Mitmenschen und helfen einander. Ebenso bleiben Polizisten oder Feuerwehrmänner in ihren Rollen, die sie auch im Alltag ausüben, anstatt ihre eigenen Bedürfnisse zu verfolgen und sich beispielsweise ausschließlich um ihre Angehörigen zu kümmern.140

Dennoch kommt es ab und zu nach einem Extremereignis zu erweiterten Krisen und Kon-flikten. Die Gründe, warum es zu solch einem Verhalten kommt, liegen im Ungewissen. Die Forschung tendiert, den Grund für das Auftreten von Ausschreitungen und gewaltsamen Kon-flikten, in verschiedenen Sektoren wie in Politik, Wirtschaft, Sozialem oder Umwelt zu finden. In solchen Szenarien sind meist Spannungen und potentielle Brandherde bereits vor dem Ein-tritt eines Extremereignisses existent. Gefahrenereignisse können unter entsprechenden Bedin-gungen zu politisch gefärbten Konflikten beitragen (vgl. Bangladesch 1988); eine grundlegend angespannte Lage überhitzen, indem Zugänge zu Kapitalbündel beschränkt vorliegen, die be-reits zuvor knapp waren (Beispiel Haiti); oder das Ereignis offenbart gnadenlos, dass die Region gegenüber einem Naturphänomen völlig unvorbereitet ist, sowohl beim physischen als auch beim administrativen Katastrophenmanagement, und wie sehr sich über Jahrzehnte soziale Fehlentwicklungen gebildet haben (Beispiel New Orleans); der Darfur-Konflikt zeigt darüber hinaus, wie viele Einflussgrößen über einen längeren Zeitraum eine gesellschaftliche Situation beeinflussen können.

Die von Geenen beschriebenen Verflechtungszusammenhänge sind vor der eigentlichen Katastrophe nicht unbedingt sichtbar, obwohl sie sich während des Alltags gebildet haben. Sie dringen erst mit dem Katastropheneintritt in die Wahrnehmung. Folglich können Gründe für deviantes Verhalten erst nach Auftreten der Situation analysiert werden. Kultur, Religion, His-torie etc. sind zudem Größen, die auf die Geschehnisse einwirken. Menschen verfügen nach Goffman über bestimmte sozial geprägte Muster, um Ereignisse einzuordnen, die bewusst sowie unbewusst geprägt sein können und keinesfalls unbedingt rational sein müssen (vgl. Kap. 8.2.5). So können wir beschreiben Was nach dem Auftreten eines Extremereignisses passiert, aber we-niger das Warum ergründen.

Dennoch kann von einem Reiz ausgegangen werden, der sich in der Wahrnehmung der Geschehnisse und gesellschaftlichen Zustände bildet, der dann zu bestimmten Handlungen verleitet. Der naheliegendste Reiz für deviantes Verhalten kann wohl in der Wut ausgemacht werden, die sich entwickelt, indem sich die Betroffenen in einer Opferrolle sehen. Diese kann gefördert werden, wenn sich die Betroffenen von den Verantwortlichen im Stich gelassen füh-len, und diesen mangelnde oder falsche Bemühungen zur Besserung der Lage attestiert wird. Dabei muss sich dies nicht auf die Zeit während der Katastrophe beschränken. Die Wut kann auf einen bereits zuvor herrschenden Unmut aufbauen, der sich über die gesellschaftliche Lage und herrschende Mangelzustände bei den Bürgern gebildet hat. Der Katastropheneintritt wäre dann vergleichbar mit dem bekannten Fass, das zum Überlaufen gebracht wird. Gleichgültig-keit wäre ein weiterer denkbarer Gefühlzustand, der besonders zu deviantem Handeln führen kann. Sich in einer ausweglosen Situation sehend, greift der Betroffene zu einem Verhalten, das von einer Denkweise geprägt ist, die sich auf das Jetzt beschränkt, die zukünftige Entwicklung außen vor lässt und die Möglichkeit, dass es eine Zeit nach dem Überstehen des Unglücks gibt, vernachlässigt, wodurch die Folgen der aktuellen Handlung auf das soziale System negiert bzw. als nicht relevant erachtet werden. Andere Zustände wie Ausweglosigkeit könnten zusätzlich genannt werden, doch haben wir es hier mit einem Komplex zu tun. Die Betroffenen erfahren und nehmen die gewissen Gegebenheiten war, zusätzlich werden sie mit ihren Einzelschicksalen konfrontiert. In der Extremsituation wird dies emotional verknüpft. Die Auseinandersetzung mit diesem Komplex läuft individuell ab, zumal Verluste und Schicksale in der Regel für jeden unterschiedlich ausfallen. Eine Auflistung an Affekten, die deviantes Verhalten fördern, kann daher nur oberflächlich ausfallen. 8.2.8.8 Der strukturelle Einzug einer Katastrophe

Im Alltag befinden sich die Protagonisten in einem sozialen System, das sie gut kennen. Interak-tion mit anderen Menschen laufen zum größten Teil ohne große Komplikationen ab, da Hand-lungen und Verhaltensweisen meist erwartet werden können. Sie können auf einen über die Jahre gewonnenen Erfahrungsschatz zurückgreifen, mit dem einerseits bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen ausgeschlossen werden können und andererseits gewisse Reaktionen als wahrscheinlich empfunden werden. Selbst Störungen und aus dem Rahmen fallende Ereignisse sind keine Situationen, indem die Protagonisten in einem Zustand versetzt werden, indem sie keine Lösung haben, wie zu reagieren ist. Der Möglichkeitsspielraum verschwimmt, trotzdem ist es noch möglich durch potentielle Ausschlussverfahren gewisse Erwartungen zu setzen.

Bei einer Katastrophe handelt es sich um ein Ereignis, das die Handlungsspielräume beschnei-det und deren Auswirkungen die Erwartungen übertreffen sowie die Mittel der Gesellschaft übersteigt, damit umzugehen. Nach Definition der Katastrophensoziologie ist sie ein soziales Ereignis, das immer sozial möglich ist. Dennoch unterscheidet es sich in ihren Dimensionen (Radikalität, Rapidität, Ritualität) deutlich vom herkömmlichen Zustand des sozialen Systems. Die Katastrophe ist kein zeitlich beschränktes Ereignis, sondern vielmehr ein Kontinuum, in-dem (ökologische, ökonomische, soziale) Vulnerabilität, ungenügende Resilienz und Anpassung der Grund für Verlust und Beschädigung von Kapitalbündeln (Human-, Sozial-, Wirtschafts-

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und Naturkapital) sind. Die weitläufige Definition von Katastrophen als eine „Unterbrechung der Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft“ und das damit zusammenhängende „Zerbrechen von Gesellschaft“ und die auseinanderfallenden Strukturen141 sind aus systemtheoretischer Sicht nur bedingt richtig, aufgrund des Verständnisses von Gesellschaft als Gesamtheit sozialer Interak-tionen bzw. Kommunikationen. Trotz Verlusten, Zerstörung, Verletzungen oder Todesfällen bleibt das grundlegende Element Kommunikation erhalten.

Je mehr der soziale Aspekt einer Katastrophe im Vordergrund steht, desto mehr ändert sich das Verständnis über sie. Die äußere, sachliche, deskriptive Betrachtung, anhand von Zerstö-rung und Verlusten, wird hinter der Betrachtung des Wesens von Gesellschaft gestellt. Wenn die Gesellschaft nicht aufhört zu existieren, Strukturen nicht zerfallen und physische Schadens-ausmaße weniger relevant als eigentliche soziale Prozesse sind und Schäden zwar offensichtlich sind, aber die Gesellschaft gewöhnt ist mit der Situation umzugehen, was bleibt noch übrig, dass eine Situation als Katastrophe bezeichnet werden kann?

Der Faktor des extremen sozialen Wandels nach Clausen ist weiterhin relevant. Reduziert sich ein Extremereignis ausschließlich auf Schäden und Verluste, ohne dass sich ein extremer sozialer Wandel einstellt, kann ‚nur‘ von einem entsetzlichen Unglück gesprochen werden. Aus humaner Sicht scheint es ein Desaster zu sein, aus katastrophensoziologischer Sicht vorerst noch nicht. Dafür müssten sich die sozialen Prozesse zuspitzen. Vor allem wenn sich Unglücksfälle wie in bestimmten Regionen durch ihre hohen Grade an exposure , hazard und vulnerability im-mer wieder wiederholen. Durch das regelmäßige Auftreten konkretisieren sich die Erwartungen der Betroffenen gegenüber bevorstehenden Unglücksfällen. Dennoch kann gerade die Regel-mäßigkeit des Auftretens das Potential zu einer sich zuspitzenden Krise und einem mündenden Konflikt haben. Das regelmäßige Auftreten zeigt der Bevölkerung immer wieder aufs Neue, dass Missstände existieren und nicht behoben werden. Wird dies als fehlendes oder misslungenes Handeln gedeutet, könnte dies zu einem wachsenden Unmut gegenüber Politik oder den Ver-antwortlichen führen.

Der zweite Teil der Katastrophendefinition des UNISDR, dass die Auswirkungen die Fähig-keiten der Gesellschaft übersteigen, mit ihren eigenen Ressourcen damit fertigzuwerden, ist hingegen von systemtheoretischer Relevanz. Zunächst impliziert dies, dass die resultierenden Auswirkungen die Erfahrung der betroffenen Gemeinschaft übersteigen. Andererseits hätten sie die Mittel oder die Erfahrung damit umzugehen. Weiter haben die Auswirkungen solch eine einschneidende Wirkung, dass die Betroffenen die Situation nicht einfach ‚aussitzen‘ können, bis die Fluten beispielsweise wieder abgezogen sind und der Alltag sich fortsetzt. Erwartun-gen fallen unter keine konkreten Erfahrungen mehr, alltägliche oder aus der Vergangenheit be-währte Prozesse bleiben erfolglos. Der soziale Wandel wird extrem, da sich Strukturen rapide wandeln. Auf Handlungen folgen nicht länger jene Handlungen, die sich noch im Alltag daran angeschlossen haben. Zuvor wiederholte sich der Prozess im Alltag immer und immer wieder, wodurch Strukturen aufrechterhalten werden konnten. Diese Routine der Anschlusshandlun-gen wird nun gestört. Im Bezug auf Clausen könnte man sagen, Offerten bleiben unbeantwortet. Der äußere Einfluss auf das System lässt diese Routine nicht mehr zu. Folglich ändern sich die Strukturen, und je stärker der Einfluss auf das System ist (beispielsweise in Form eines großen Mangels an vorhandenen Ressourcenbündel), desto stärker ändern sich die Strukturen. Ändern sich die Strukturen so stark, dass der Wandel extreme Dimensionen einnimmt und das System nicht entsprechend reagieren kann, was bedeutet, dass gewisse Anschlusshandlungen oder aus-bleibende Handlungen dem System weitere Störrungen zufügen, in solch einem Maße, dass der Strukturwandel sich so schnell vollzieht, dass die Menschen sich nicht mehr daran anpassen können, zieht eine Katastrophe ein.

Innerhalb der Gesellschaft findet ein ständiger sozialer Wandel statt. Folglich unterliegt das System permanenten Störungen, worauf sich die Strukturen angemessen ausbilden. Dieser Wandel geschieht zeitversetzt. Ein Ereignis muss erst eintreten, damit Erwartung und Hand-lung sich anschließend reaktiv daran anschließen. Geschieht dies über einen längeren Zeitraum, passen sich die Strukturen demnach an und werden konkreter. Handlungen folgen nach wie vor Handlungen. Die gewohnten Strukturmuster wandeln sich, da aus einer neuen Situation heraus eine innovative autopoietische Reproduktion erfolgt, „sofern nur das Handeln kommunizierbar, also sinnhaft-verständlich und anschlussfähig bleibt“142. Die Basis ist dabei nicht das Handeln selbst, sondern die Erwartungen. Tritt ein Ereignis ein, das sich nicht mit den Routinen des Alltags deckt, erwartet man in der Regel eine entsprechende Reaktion und nicht, dass alles so weiterläuft wie zuvor.

Da sich die Strukturen des Systems ändern können und auf die Störungen reagieren, erhält sich das System. Feste Strukturen, strikt gekoppelte Systeme würden diesen Wandeln erschwe-ren. „Je mehr ein System zu strikten Kopplungen übergeht, desto riskanter wird es, oder desto stärker ist es gefährdet.“143 Bei stark gekoppelten technischen Systemen kann ein Störereignis das System zum Zusammenbruch bringen. Bei lose gekoppelten Systemen bringen Störungen oder Änderungen hingegen keinen Systemabbruch. Lose gekoppelte Systeme sind daher stabi-ler. Durch die Möglichkeit der Anpassung bleiben sie erhalten.

Der Wandel muss dabei nicht unumkehrbar sein. Dies würde bedeuten, dass ein System nie wieder in den strukturellen Zustand kommen könnte, den es vor der Katastrophe hatte. Nach Luhmann geschieht dies auf der Ebene der Erwartungen, nicht auf der Ebene der Handlungen. Das System ist fähig zu lernen und Festlegungen wieder aufzulösen. Zwar sind Ereignisse ir-reversibel, strukturellen Verhältnisse allerdings reversibel.144 Gerade mit einem erfolgreichen Katastrophenmanagement wird dies versucht zu erreichen. Schäden und Verluste werden ver-sucht gering zu halten und eine schnelle Erholung der Gesellschaft wird beabsichtigt. In Katas-trophenzeiten nehmen beispielsweise bestimmte Personen neue Rollen ein, um auf den Notfall reagieren zu können. Rollen, die sie während des Alltags nicht innehaben, dessen Bekleidung aber in Katastrophenzeiten nötig ist, um das Unglück zu bewältigen. Ausgearbeitete Notfall-pläne sehen meist im Katastrophenfall eine strikte Rollenverteilung vor. Dementsprechend wird von diesen Menschen erwartet, dass sie während Katastrophenzeiten diese Rollen erfüllen. Aber auch abseits von Plänen können sich temporäre Rollen bilden. Wie Clausen schildert, können aus der Not ad-hoc Gruppierungen oder Organisationen entstehen, die Rettung und Lösungen anbieten. Nach Überstehen der Katastrophe geben die Betroffenen ihre speziellen Rollen wieder auf und treten in ihre alten zurück.

Heute werden darüber hinaus diese Rollenverteilungen in Katastrophenzeiten gezielt einge-setzt, um gesellschaftliche Missstände wie soziale Ungleichheiten zu beheben. Aktuelle Entwick-lungen im Katastrophenrisikomanagement sehen in weniger entwickelten Ländern, in denen eine traditionelle Geschlechterungleichheit herrscht, eine verstärkte Integration von Frauen vor. Frauen gehören zu den am verwundbarsten Gruppen während Krisenzeiten. Frauen verfügen allerdings über wichtiges Wissen und Fähigkeiten in Katastrophen. Sie sind diejenigen, die in den meisten weniger entwickelten Ländern hauptsächlich für die Lebensgrundlage verantwort-lich sind. Im Sendai Framework for Disaster Risk Reduction , nach dessen Prinzipen die Umset-zung von Maßnahmen zur Reduzierung von Katastrophenrisiken in der Periode 2015 bis 2030 geschehen sollen, wird explizit auf die Integrierung von verwundbaren Gruppen verwiesen.145Durch eine verstärkte Einbindung von Frauen und die Vergabe an Führungsrollen an sie, sollen durch das Katastrophenrisikomanagement notorische Ungleichheiten nachhaltig überwunden werden.146

Auch wenn sich lose gekoppelte Systeme durch Strukturänderungen gegenüber Störun-gen anpassen, finden keine absolute Strukturänderung statt. Nur auf der Ebene der Rela-tionen finden Veränderungen statt. Dies bedeutet zwischen elementaren Ereignissen und deren Reproduktion durch Anschlusshandlungen, sofern sie reproduziert werden. Das Ganze unterliegt keiner ganzheitlichen Transformationen. Man würde ansonsten vom Er-halt oder Untergang des zuvor existierenden Komplexes reden, aber nicht von seiner An-passung. Sieht man die Änderungen in den Relationen, gibt es nach Luhmann folglich drei Differenzen in jeder Situation: (1) Anschlusshandeln im Rahmen der vorhandenen Erwar-tungsstrukturen; (2) Anschlusshandeln auf Grund von abweichenden Erwartungsstruktu-ren; und (3) Aufhören. Der Unterschied dieser drei Differenzen definiert die „Matrix der Störbarkeit und Änderbarkeit von Strukturen“.147 Neben dem brachialen Aufhören, das den autopoietischen Prozess beendet, gibt es die Möglichkeiten des (1) konformen und (2) ab-weichenden Anschlusshandelns. (2) begrenzt sich keinesfalls ausschließlich auf Devianz. Abweichendes Anschlussverhalten schließt konformes Abweichen mit ein, wie erlaubte Än-derungen/Innovationen oder besonders altruistisches Handeln. Ebenso das Abweichen von noch undefinierten Erwartungen, wenn der zukünftige Strukturbereich noch nicht kulturell erschlossen wurde, also über etwas kommuniziert wird, das zuvor kein Gegenstand der systemeigenen Diskussionen war.

Durch Umwelteinfluss bzw. aufgrund aus der Umwelt stammende Störungen ändert im Sinne der Systemtheorie das System seine Strukturen. Umweltstörungen sind dabei nicht als direkte Kausalauslöser für einen Strukturwandel zu sehen. „Es gibt keinen direkten Kausalzugriff der Umwelt auf das System ohne Mitwirkung des Systems.“148 Nach Eintreten eines Störungsfalls produziert das System selbst seine Strukturänderungen. Das System sieht, dass es Umweltverän-derungen gibt und reagiert indem es die systemeigenen Relationen entsprechend anpasst; oder das System nimmt wahr, dass es keine Vorsorgeleistungen für die Störung gibt. Bei letzterem Fall kann sich das System nicht auf konkrete Erfahrung (z. B. in Form eines bekannten erfolgreichen Notfallplans) verlassen. Bei beiden Fällen kann eine Reaktion durch Kommunikation und durch Wahrnehmung mit anschließenden Folgeverhalten stattfinden Die Störungen rufen im System Situationen hervor, „in denen es beobachtbar, verständlich, plausibel ist, dass Erwartungen sich ändern“149, wenn ein übliches, alltägliches Fortsetzen der Handlungen als nicht (mehr) möglich erscheint. 8.2.8.9 Die Form der Katastrophe

Strukturänderungen geschehen nicht ohne Grund. Sie müssen situativ überzeugen. Niemand ist vom Ausruf des Ausnahmezustands überzeugt, wenn es dafür keinen Anlass gibt. Ebenso wird niemand zum Erfolg kommen, wenn er in einer gewohnten Situation einen völligen Umbruch erzwingen will, indem er auf Mittel zurückgreift, die im alltäglichen Geschehen unangemessen sind. Ohne passende Anschlusshandlungen wird kein Strukturwandel stattfinden. Erst wenn ein Weiterhandeln ermöglicht wird, wird offenbart, „ob es Strukturwert gewinnt, ob es sich also eignet, Erwartungen zu formen“150.

Konfliktträchtig wird es, wenn mit keiner Sicherheit von den Protagonisten entschieden wer-den kann, was erwartet werden kann. In Extremereignisses sind oftmals keine Erfahrungen vor-zuweisen, dies bedeutet, die potentiellen Erwartungen verlieren an Zuverlässigkeit. Die Men-schen ahnen oder befürchten gar, dass die Situation eine Änderung hervorrufen wird. Kann der Betroffene nicht auf die Sicherheit der Erwartung zurückgreifen, ob eher dies oder jenes oder gar was ganz anderes eintreffen wird, gerät er in einen Konflikt. Die Vorbereitung auf ein bevor-stehendes Ereignis bleibt ungenügend.

Die Studien zur Umweltkonfliktforschung ergaben, dass sich die Wahrscheinlichkeit eines ge-waltsamen Konflikts erhöht, wenn es in näherer Vergangenheit bereits einen solchen gab. Wenn wir dies auf den Einzug eines Extremereignisses beziehen, hieße dies, falls es in der Vergangen-heit während einer Katastrophe bereits zu deviantem Verhalten kam, können die konkrete Er-wartung von den Betroffenen gehegt werden, dass dies wieder der Fall sein könnte. Aufgrund von Störungen finden (1) die Erwartungsbildungen aus dem Raum der Möglichkeiten statt, die (2) dann überprüft werden müssen, ob jene Erwartung beibehalten werden kann oder aufgege-ben werden muss.151 Kommende soziale Aufeinandertreffen während der Katastrophe sorgen dann im Extremfall für Klarheit über die soziale Lage, worauf eine Handlungsanpassung bei den Betroffenen geschieht.

Die Unsicherheit über bevorstehende Handlungen und Ereignisse destabilisiert das System. Entscheidungen zu treffen sind mit einem hohen Risiko verbunden, da es unsicher ist, was da-rauffolgen könnte. „Zwei Erwartungslinien werden als unvereinbar herausgestellt; dann weiß man nicht, ob die Erwartungen in der einen oder die in der anderen Richtung erfüllt werden.“152In der Systemdestabilisierung treten Fragen auf, wie ob die Sicherheit während der Krise weiter-hin gewährleistet ist oder nicht; ist es weiterhin möglich, auf normalem Wege an Nahrung zu gelangen oder ist man auf Hilfsgüter angewiesen; ist Rettung unterwegs oder bleibt diese aus. Erwartungen sind dann konträr bzw. widersprüchlich.

Die Instabilität liegt in der Unsicherheit des Anschlusswertes von Ereignissen. Komplexe Sys-teme dürfen nicht fest sein, damit sie auf sich selbst oder ihre Umwelt reagieren können. Bei ungewohnten, extremen Situationen kann die Instabilität eine dramatische Dimension errei-chen. Im Katastrophenfall liegen limitierte Handlungsmöglichkeiten vor. Der Spielraum von Entscheidungen ist stark begrenzt. Jene wenigen Möglichkeiten, die zur Wahl stehen, können jedoch essentiell sein. So kann die Wahl entscheidend sein, ob man an Lebensmittel kommt oder nicht. Die autopoietische Reproduktion des Systems ist nicht mehr genau festgelegt. Codes und Programme sagen nicht länger mit hoher Wahrscheinlichkeit, was geschieht. Mögliche ein-tretende Ereignisse bekommen einen „Neuheitscharakter“.153 Weitere soziale Prozess werden ungewiss.

Hierin sehen wir die Katastrophe. Das System ist destabil geworden, da Anschlussereignisse nur noch vage erwartet werden können. Der soziale Wandel erlangt auf diesem Wege extre-me Dimensionen, weil er kaum vorhersehbar ist, auch wenn es nur wenige Optionen gibt. Die Strukturen wandeln sich dabei dramatisch, unter weiterem Einfluss von systemeigenen Störun-gen. Letztendlich gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder kann die Notsituation bewältigt werden (unter Hilfeleistungen von außen) oder das Ende aller Sicherheit tritt ein.

Man könnte auch sagen, dass das System sich in einem Prozess befindet, in dem alle mög-lichen Nächstelemente gleichwahrscheinlich werden. Ist das System an solch einen Zustand an-gekommen, ist das System entropisch. In der Entropie fehlt nach Luhmann jede Engführung der Anschlussfähigkeit. Systemtheoretisch handelt es sich um einen Grenzfall. Die Reproduktion des Systems wird aus sich selbst heraus zum Zufall.154 Auf Codes und Programme ist bei der Entscheidungsfindung nicht mehr zurückzugreifen und sind obsolet geworden.

Mit der Entropie haben wir letztendlich das wesentliche Charakteristikum bzw. die Hoch-phase der Katastrophe, getrieben vom extremen sozialen Wandel. Die Geschwindigkeit ist dabei wesentlich. Die Turbulenzen der Umwelt haben das System oder die einzelnen Systeme der Ge-sellschaft in solch einen Zustand versetzt, dass die Anpassungsleistung (bzw. ihre Flexibilitäts-steigerung) auf solch einem Level stattfinden muss, dass die klassische soziale Ordnung nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Klare Erwartungen sind nicht mehr im Strukturwandel zu erkennen. Letztendlich erscheint alles als gleich wahrscheinlich. Nach dem Eintritt des Extrem-phänomens beginnt der Wandel sich zu beschleunigen, kehrt die Entropie ein, befindet sich die Opfer – um den Bogen zu Clausens Model zu spannen – im Übergang zum Stadium Ende aller Sicherheit bis zur Liquidation aller Werte .

Auch wenn in der Katastrophenentwicklung Erwartungen immer weniger vorhersehbar werden und große Zweifel über Anschlusshandlungen herrschen, können die Betroffenen kla-re Präferenzen haben, welche Anschlusshandlungen sie lieber ersehnen. An diesem Punkt des Nicht-Wissens werden auserwählte Erwartungen als Hoffnungen erklärt. Man hofft, dass bald Hilfe naht, dass die Lage nicht eskaliert, ohne ein klares Indiz dafür zu haben. In dieser ungewis-sen Situation können Erwartungen leicht enttäuscht werden. Erwartungen können immer ent-täuscht werden. Das ist das Problem der Erwartung und mit ihrer Sicherheit sowie Stabilität.155Trotz dessen, dass Erwartung eher Hoffnung statt Wissen gleicht, kann sie enttäuscht werden. In bestimmten Kontexten sind Erwartungen sensibler als andere. Erwartungen, die sich um das Leben drehen, sind generell sensibel. Jedoch ist die Frage nach Luhmann nicht, ob Erwartungen enttäuscht werden oder nicht, sondern „[d]ie Orientierung des Erwartens am Enttäuschungsfall bedeutet Orientierung an einer Differenz “156. Die Differenz liegt darin, ob man die Erwartung im eintretenden Fall aufgibt oder ändert oder nichts dergleichen macht. Damit ist ein Lernprozess verbunden. Soll an der Erwartung festgehalten werden oder nicht, wenn die Realität zeigt, dass es anders gekommen ist, als man erwartet oder erhofft hat.

Im Enttäuschungsfall liegt erhebliches Konfliktpotential. Dass überhaupt ein Naturphänomen in einer Gesellschaft zu einer gravierenden Notlage führen kann, kann die Betroffenen enttäu-schen. Sie zweifeln an ihrer Überzeugung oder sehen sich gar bestätigt, dass die Regierung und Behörden für keinen ausreichenden Schutz sorgen können. Ebenso zeigen die zum Vorschein kommenden Verflechtungszusammenhänge im Katastrophenfall Probleme wie soziale Un-gleichheit oder Ungleichverteilung von Gütern, die Enttäuschung weiter dramatisieren können. Aus dieser Enttäuschung heraus kann ein größerer Zusammenhalt unter den Betroffen entste-hen: Sie realisieren, dass sich alle in der gleichen Situation befinden und auf Hilfe angewiesen sind, um aus ihr zu entkommen. Es kann sich aber auch Depression und Wut einstellen. Die Suche nach einem Schuldigen entlädt sich in Aggression und dient als Katalysator für Konflikte. Der Moment wird magisiert, alles erscheint als hoffnungslos, man kann sich nur noch selbst helfen, der einzige Ausweg aus der Krise ist ein Wunder. Tritt dann tatsächlich Rettung ein, wie in Form von unerwarteten Rettungsmannschaften, die die Regierung schickt oder tritt gar in der Krisensituation eine Autorität hervor, die in der Notsituation die Leitung übernimmt, an die man sich richten und glauben kann, keimt wieder neue Hoffnung.

Die Grundlage von Konflikten liegt bereits vor dem Eintritt der Krisensituation. Die eigent-lichen Probleme bestanden schon vor dem Einzug der Katastrophe, sie werden nun allerdings gravierend sichtbar. Der Konflikt bildet dabei nach Luhmann ein eigenes System im System, jedoch nicht als ein Teilsystem, sondern parasitär.157 Dieses parasitäre System gewinnt an Be-deutung, wenn andere Probleme miteinfließen, wie, dass die Hilfe und Unterstützung ausblei-ben, man sich im Stich gelassen fühlt, ein Schuldiger gesucht wird oder soziale Probleme als Ursache gefunden werden, die sinnbildlich für den Missstand des Landes stehen. Ist ein System bereits zuvor destabil gewesen, kann das Unglück ‚das Fass zum Überlaufen bringen‘ oder (ge-waltsame) Konflikte weiten sich in unbeherrschbare Dimensionen aus.158 Der Konflikt übertrifft den eigentlichen Katastrophenfall und bestimmt die Prozesse im System. „[D]as Parasitentum ist hier typisch nicht auf Symbiose angelegt, sondern tendiert zur Absorption des gastgebenden Systems durch den Konflikt in dem Maße, als alle Aufmerksamkeit und alle Ressourcen für den Konflikt beansprucht werden.“159 Der Konflikt vereinnahmt die Elemente anderer Systeme und wird gegenüber seiner Umwelt rücksichtslos. Das Ende der Sicherheit ist gekommen. 8.2.9 Die Chance eines funktionierenden Kommunikationsflusses im Katastrophenfall

Das Verständnis der Systemtheorie, dass soziale Systeme auf Kommunikation und Handlungen beruhen, kann ein entscheidender Faktor für die Praxis darstellen. Bilden die Abfolge von Kom-munikation und Handlung einen sozialen Prozess, bedeutet dies logischerweise, dass mit Kom-munikation auf diesen Prozess eingewirkt werden kann. Katastrophen werden in der öffentli-chen Wahrnehmung meist als chaotisch angesehen, sodass gar Benimmregeln währenddessen ungültig werden. Die Arbeit von Katastrophenorganisationen wird hingegen eher als effektiv angesehen. Ironischerweise ist dies oftmals andersherum. Nach Fischer ist es wahrscheinlicher, dass Organisationen im Notfall größere Schwierigkeiten haben auf ein Unglück entsprechend zu reagieren, als dass unter den Individuen deviantes Verhalten aufkommt.160

Kommunikation ist ein Hauptfaktor für ein gelungenes Katastrophenmanagement während einer Notsituation. Die geplante Katastrophenantwort liegt oftmals mit dem eigentlichen Ge-schehen weit auseinander. Es gibt nur eine teilweise Korrelation zwischen Notfallvorsorge und erfolgreichem, guten Management. Werden in der Katastrophenprävention und -vorbereitung klare Strategien verfolgt, ist im tatsächlichen Unglücksfall deutlich mehr Flexibilität und Tak-tik gefragt. Die Hauptquelle von Problemen während Katastrophen sind entgegen der weitver-breiteten Meinung nicht die Opfer selbst. In vielen Fällen ist die Hauptquelle von Problemen während des Unglücks in der Reaktion der Organisationen zu finden. Nach Quarantelli ist das Problem der ungenügende, ineffiziente Informationsfluss. Im Informationsfluss geht es darum, Was kommuniziert wird und nicht Wie . Höchst selten fallen im Unglücksfall sämtliche Kommu-nikationsmittel (Radio, Telekommunikationssysteme, Internet) aus. Entscheidend ist, dass Klar-heit darüber herrscht, wie kommuniziert wird. Im Notfall treten oftmals Organisationen und Verantwortliche in Kontakt, die zuvor noch nie miteinander gearbeitet haben; Verantwortliche wissen nicht, wie man die erhaltenden Informationen verarbeiten soll und was davon wichtig sein könnte.

Der Informationsfluss während Katastrophenzeiten findet zwischen verschiedensten Akteu-ren statt. Nach Quarantelli kann dieser in fünf Kategorien eingeteilt werden: (1) intra-organi-satorisch, (2) inter-organisatorisch, (3) von Organisationen zur Öffentlichkeit, (4) von der Öf-fentlichkeit zu den Organisationen und (5) innerhalb verschiedener Organisationssysteme (zum Beispiel innerhalb des medizinischen Systems oder des militärischen). Folglich fließen verschie-denste Informationen zwischen verschiedensten Gruppen von Personen und Organisationen.161

Daher ist es wert, Kommunikation in Risikozeiten als eine Strategie anzusehen, um Schaden zu reduzieren, inklusive der Gesundheit der Opfer, und nicht lediglich als ein Mittel zu bewer-ten.162 Es geht hierbei um Krisenmanagement, das nicht hinter Strategien zur Notfallvorsorge zurückfallen darf. Auch für die Kommunikation im Unglücksfall sind Training und Vorberei-tungen notwendig.163

Kommunikation darf im angehenden Katastrophenfall nicht annähernd zum Erliegen kom-men. Übertrifft das Ereignis die Erfahrung der Opfer, können keine gewohnten Erwartungen mehr gesetzt werden. Das heißt, der Raum der Möglichkeiten wird unpräzise. Mit einer ver-stärkten Kommunikation kann diesem Prozess entgegnet werden. Sicherlich hat jeder einmal die Erfahrung gemacht, dass er als Teil einer Gruppe in eine Situation kam, indem man als Gruppe vor Ungewissem stand und gewohnte Handlungen nicht mehr anzuschließen waren. Man denke nur an einem Morgen zu Zeiten des Berufsverkehrs und der Zug fällt aus. Die ge-wohnte Handlung, nämlich den Zug um 7:12 Uhr zu nehmen, ist nicht mehr möglich. Was ist zu tun? Fallen die Mitteilungen der Bahn hinzu äußerst spärlich aus, tritt schnell Unruhe ein: Warum ist der Zug ausgefallen? Wann kommt der nächste? Gibt es Ersatz? Ich komme zu spät! Warum gibt es keine Informationen? Das Gerede wird unter den Zuggästen lauter, manch einer macht seinem Unmut deutlich kund und ein kleines Chaos bricht aus. In einem Katastrophen-fall sind die Dimensionen weitaus größer.

Gerade nach dem Eintritt des Extremphänomens muss daher ein gezielter Informations-fluss geschehen. Mit einem verstärkten Informationsfluss zwischen Verantwortlichen und der zivilen Bevölkerung kann der Möglichkeitsspielraum wieder gefestigt werden. Mit ent-sprechender Aufklärung über Geschehendes, welche Handlungen als nächstes anstehen bzw. geplant sind, die Vermittlung von Updates oder anderen wichtigen Hinweisen können Er-wartungen konkretisiert werden. Durch den Informationsaustausch, wodurch Kommuni-kation bewusst aufrechterhaltenden wird, wird die Situation den Menschen zugänglich ge-macht.

Quarantelli, Fischer oder Martins und Spink erklären, dass mit Kommunikation Verluste während des Unglücksfalls reduziert werden können, zumal auf kommunikativem Wege Richt-linien und Leitfäden vermittelt werden können. Auf eine simple Formel gebracht: Je gelungener der Informationsaustausch, desto weniger Verluste. Ist der Informationsfluss erfolgreich, kann dies auch eine Zuspitzung der Lage verhindern. In einem Ausufern des Notfalls, besonders in Regionen, die bereits vor dem Unglück destabil und fragil waren, greift die Regierung zuweilen auf militärische Präsenz zurück, um der Bevölkerung zu zeigen, dass sie nach wie vor das Ge-waltmonopol innehat. Oftmals kann dies als Zeichen verstanden werden, dass das soziale Ge-füge bereits rissig geworden ist, bzw. aus systemtheoretischer Sicht, dass sich bereits ein Wandel der Strukturen abspielt und die soziale Ordnung instabil geworden ist. Der Versuch des Not-fallmanagements wäre folglich, den Drang in eine instabile soziale Ordnung mit ausgewoge-ner Informationsvermittlung zu verhindern. Allerdings soll dies nicht so naiv erscheinen, dass Kommunikation das alleinige Mittel im Katastrophenfall ist. In manchen Regionen sind gesell-schaftliche Missstände so gravierend und die Fronten zwischen Konfliktparteien so verhärtet, dass Katastrophen und ein gewaltsamer Konfliktausbruch nicht nur mit gezielter Kommunika-tion verhindert werden können.

Wir können nun sagen, dass das Verständnis, was unter einer Katastrophe zu verstehen ist, stark variieren kann. Als Außenstehender charakterisiert man eine Katastrophe meist anhand der Intensität des Extremphänomens und auftretende Schäden und Verluste. Erachtet man die Schäden als so groß, dass die Gesellschaft sich nicht nur davon aus eigener Kraft erholen kann, sondern gewohnte Strukturen als nicht mehr kenntlich erscheinen, spricht man gar von einem Zerbrechen der Gesellschaft bzw. von einem Aufhören der Funktionsfähigkeit.

Soziologisch gesehen findet so etwas nicht statt. Die Katastrophe ist kein fester Punkt auf einem Zeitstrahl. Die Katastrophe steht für einen dramatischen sozialen Wandel, der seine Wurzeln in den Fehlentwicklungen des Alltags hat. Soziale Strukturen zerbrechen dabei nicht, sondern passen sich nur der Situation an. Die Katastrophe zeigt sich, indem Strukturen, die im Alltag Handlungen und Operationen erwartbar machen, sich so schnell ändern, dass die Men-schen nicht mehr wissen, was zu erwarten ist; alles erscheint als gleichwahrscheinlich. Aus sys-temtheoretischer Sicht unterbricht ein solcher extremer sozialer Wandel die Gesellschaft nicht: solange Kommunikation aufrechterhalten wird, besteht sie fort.

Der Systemtheorie haften zwar Zweifel an, ob sie sich nicht selbst eine eigene Welt schafft, in der alles ausgegrenzt wird, das nicht mit ihrem Leitgedanken der Kommunikation vereinbar ist. Dennoch ermöglicht sie eine besondere Betrachtung der Katastrophe. Gerade in Katastro-phenzeiten bildet die betroffene Bevölkerung am Unglücksort ein hochgradig spezielles System, indem im Vergleich zum Alltag abweichende Prozesse erwartet werden. Das soziologische Ver-ständnis der Katastrophe zeigt, dass die Katastrophe kein zeitlich begrenztes Ereignis ist. Sowohl

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das Vorher als auch das Nachher eines Extremereignisses sind aufzuarbeiten, um das Unglück als Resultat von Problemen und Fehlentwicklungen zu sehen. Darüber hinaus zeigt ein kommu-nikatives Verständnis von sozialen Prozessen, wie wichtig Informationsvermittlung in Krisen-zeiten ist, um Erwartungen zu festigen und Schäden zu reduzieren.

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Schlusswort

Diese Arbeit hatte das Ziel zu einem besseren Verständnis der sozialen Klimakatastrophe beizu-tragen. Dabei wurde der Zusammenhang zwischen den Auswirkungen des Klimawandels, der klimapolitischen und gesellschaftlichen Situation sowie den potentiellen sozialen Konsequen-zen wie Konflikte und Katastrophen dargestellt. Die soziale Klimakatastrophe offenbart hierbei ein doppeltes Bild. Sie resultiert nicht lediglich aus einer steigenden Anzahl auftretender Klima-extreme, woraus vermehrt Stress, Not und Leid in der Gesellschaft eintreten. Sie ist auch eine Umschreibung der Gegebenheiten, dass Krisen im Zuge klimatisch-ökologischer Veränderun-gen aufgrund anhaltender Vulnerabilität, existierender Krisen, fehlender oder falscher Maßnah-men, unzureichender politischer Bemühungen oder eines gesellschaftlichen Motivations- sowie Wahrnehmungsmangel überhaupt erst in die Gesellschaft einziehen.

Statistiken der Rückversicherer zeigen einen unverkennbaren Trend, dass im Zusammenhang mit dem Klimawandel meteorologische (Stürme), hydrologische (Überschwemmungen) und klimatische (Dürren, Waldbrände, Temperaturextreme) Extremereignisse zunehmen. Dieses Phänomen wird häufig mit einem Anstieg von Katastrophen in Verbindung gesetzt. In der Be-trachtung von Katastrophen hat sich allerdings gezeigt, dass es zwar durchaus eine Kausalität zwischen dem Eintritt eines natürlichen Extremphänomens und Schäden sowie Verlusten gibt, doch die Katastrophe als soziales Phänomen resultiert grundlegend aus der Entwicklung ge-sellschaftlicher Faktoren.

Ausschlaggebender Aspekt stellen hierbei die Vulnerabilitäten in den Sektoren Ökonomie, Ökologie und Soziales dar, aus denen sich die gesamtgesellschaftliche Verwundbarkeit zusam-mensetzt, die maßgeblich Risiko beeinflusst und menschliche Sicherheit beeinträchtigt. Be-trachtet man weiter, dass aus den vorherrschenden Krisen ein verschärfter sozialer Wandel her-vorgehen kann, ist zusätzlich der politische Faktor der gesellschaftlichen Stabilität zu nennen. Somit ist es notwendig, Klimapolitik nicht allein auf eine Reduzierung des globalen Treibhaus-gasausstoßes zu fokussieren, sondern Entwicklungsstrategien zur gesellschaftlichen Anpassung in Anbetracht aktueller und zukünftiger klimatischer Veränderungen miteinzuschließen. Denn selbst wenn sämtliche Emissionen von heute auf morgen gestoppt werden könnten, würde sich das Klima aufgrund der Haltbarkeitszeit der bereits ausgestoßenen Treibhausgase und klimati-scher Rückkopplungseffekte anhaltend verändern.

Nachhaltige Widerstandsfähigkeit gegenüber klimatischen Veränderungen kann nur erzielt werden, wenn auch gesellschaftliche Missstände behoben werden. Folglich geht es nicht nur um

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die Ausweitung der erneuerbaren Energien und um die Errichtung von Deichen, Flutschutzwäl-len oder anderen physischen Konstruktionen, es geht ebenso um die Bekämpfung der Armut, die Verringerung von Ungleichheiten, die Stärkung der Bildung und ein nachhaltiges Wirtschaften. Klimaethik muss daher auch als eine Entwicklungsethik verstanden werden. Im Sinne Arendts ist es hierbei notwendig, im Verhalten und im Treffen von Entscheidungen die Gemeinschaft zu berücksichtigen. Handlungen und Verhalten haben Auswirkungen auf das Leben anderer. Doch anstatt dies als Belastung für das eigene Handeln anzusehen, birgt es die Chance, im Zusammen-sein Dinge zum Besseren zu wenden. Nicht nur in Katastrophenzeiten, sondern auch während des gesamten Prozesses der internationalen Klimapolitik.

Im Zuge klimatischer Veränderungen wird ebenfalls von einem erhöhten Aufkommen ge-waltsamer Konflikte ausgegangen. Gewaltsame Konflikte nehmen nicht selten den Status einer Katastrophe ein. Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt bereits, dass Konflikte rund um den Globus zunehmen. Klimabedingte Umweltdegradation wurde dabei als konfliktfördernder Fak-tor beobachtet. Allerdings ist es umstritten, ob Umweltveränderungen der primäre Auslöser von Konflikten sein können. Vielmehr dienen sie als Katalysator, der bereits vorhandene Krisen und Konflikte verschärft. Konflikte sind demnach in erster Linie ein Resultat fehlender oder falscher Entwicklung, politischer, sozialer, ökonomischer oder ökologischer Missstände. Es kann jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden, dass der Klimawandel zukünftig eine Situation in Regionen hervorruft, in der sich Ressourcenknappheit zur primären Konfliktursache entwickelt.

Im Laufe der Arbeit wurde nicht nur das Verständnis über die gesellschaftlichen Bedingungen eines Katastropheneintritts deutlich, sondern auch was eine Katastrophe letztendlich charakte-risiert. Dabei unterscheidet sich das Verständnis des Katastrophenrisikomanagements von der soziologischen Perspektive. Letztere sieht Katastrophen stärker als sozialen Prozess und weniger als ein Ereignis, das hauptsächlich von Verlusten und Ressourcenbeschränkungen geprägt ist. Im soziologischen Kontext spielen Verflechtungszusammenhänge die prägende Rolle: aus dem Alltag stammende soziale Prozesse, die sich mit der Zeit immer mehr miteinander verwickeln, woraus sich letztendlich eine Katastrophe in Verbindung mit dem Eintritt eines Unglücksereig-nis entwickelt. Sie verbinden sich von Prozess zu Prozess immer mehr und werden im Zuge des Alltags immer weniger sichtbar, bis letztendlich die Katastrophe eintritt und die Missstände im Unglück offenbart werden, begleitet von hohen Schäden und Verlusten.

Die Anwendung von Luhmanns Theorie über soziale Systeme hat darüber hinaus einen de-taillierten Einblick in Handlungsrationalitäten während Katastrophenzeiten gegeben. Im Sinne der Systemtheorie kann es kein Zerbrechen der Funktionsfähigkeit der Gesellschaft geben. Nach Luhmann beruhen Gesellschaften auf Kommunikation, die Interaktion von Mensch zu Mensch. Daraus entstehen gewisse Mechanismen, wie die Fertigkeit Erwartungen und Erwartungser-wartungen zu bilden, die das Zusammenleben innerhalb einer Gesellschaft vereinfachen. Im Katastrophenfall werden diese Erwartungen zerrüttet, die Grundlage der Gesellschaft bleibt je-

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doch bestehen. Da Erwartungen in Katastrophen schwieriger gebildet werden können, kehrt ein Zustand der Unsicherheit ein, da Anschlusshandlungen nicht mehr eindeutig sind und hiermit sich das soziale System destabilisiert. Mit bewusster Kommunikation zwischen den Katastro-phenbeteiligten – Opfer, Organisationen und Hilfskräfte – kann solch einer diffus werdenden Entwicklung entgegengewirkt werden.

Diese Arbeit hat die menschlichen Dimensionen der Klimafolgen herausgearbeitet. Es darf nicht ignoriert werden, dass dabei die Existenz der Zivilisation mit einer intakten Umwelt ver-flochten ist. Hinter der Perspektive des Klimawandels als Ereignis der Gefährdung der mensch-lichen Sicherheit, hinter Statistiken und Forschungen, hinter der Thematisierung politischer und ökonomischer Entscheidungen, bleibt häufig die Bedeutung der Ökosysteme für die menschli-che Lebensgrundlage und den menschlichen Schutz unbeachtet. Darüber hinaus stellen Öko-systeme einen vitalen Effekt für das menschliche Leben dar, dessen tatsächliche Tragweite mög-licherweise erst klar werden könnte, wenn er mehr und mehr schwindet. Mit der Schaffung des UNFCCC Warschau Mechanismus zu Loss & Damage im Jahre 2013 wurde versucht, die Pers-pektive der Bindung zwischen Mensch und Natur auf politischer Ebene zu stärken, insbesondere in Bezug auf die Lebensweise indigener Völker, deren Lebensgrundlage und kulturelles Erbe, das mit einer fortschreitenden Umweltdegradation langsam zugrunde gehen könnte. Doch warum wird eine intakte Natur überwiegend im Zusammenhang mit der Lebensweise indigener Völker gesehen? Haben Wälder und Wiesen für den westlichen, modernen Menschen in solch einem Maße an Bedeutung verloren, dass die Hoffnung auf eine Konservierung der übriggebliebenen natürlichen Umwelt ausschließlich auf den Interessen der indigenen Völker ruhen?

Eine Studie des Institute for European Environmental Policy hat jüngst gezeigt, wie wichtig es für den Menschen ist, Zugang zur Natur zu haben. Natur stelle ein wichtiger Faktor für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden dar. Sie ist unabdingbar, damit Menschen und Gemein-schaften florieren können.1 Moderne Metropolen, wie der Stadtstaat Singapur, haben mittler-weile erkannt, dass ein unbegrenztes bauliches Wachstum allein auf Dauer nicht zu ertragen ist. Dort, wo der Dschungel einst grauen Betonfassaden weichen musste, werden nun wieder Bäume und Grünanlagen angepflanzt. Aufgrund des Platzmangels auch an Hochhauswänden sowie auf Dächern. In Japan wurde bereits 1982 unter dem Begriff shinrin-yoku („Waldbaden“) ein staat-lich gefördertes Programm gestartet, das den Menschen das Verweilen in Wäldern verschreibt, um auf diese Weise diverse psychische oder physische Leiden zu therapieren.2

Das Pariser Abkommen gilt als Erfolg und als Meilenstein der Klimapolitik, nicht nur weil es überhaupt zur Unterzeichnung kam, sondern auch aufgrund der inhaltlichen Erweiterungen. Adaptation soll mehr Aufmerksamkeit bekommen, ebenso soll die Erderwärmung auf 1,5°C begrenzt werden. Darüber hinaus wurde bekräftigt, dass die Lebensweise und das Wissen in-digener Völker hinsichtlich eines nachhaltigen Wirtschaftens von besonderer Bedeutung seien. Große Erleichterung machte sich weltweit nach der Unterzeichnung breit. Man war sich be-wusst, dass ein Scheitern von Paris gleichbedeutend mit einem Scheitern der globalen Klima-politik wäre. Erfolgreiche Abschlüsse solcher Klimaverhandlungen verklären allerdings oftmals den Blick auf die grundlegenden Probleme. Die Erleichterung fiel in Paris besonders groß aus, da die Verhandlungen nicht unbedingt auf eine Übereinkunft schließen ließen. Nach wie vor liegen die Positionen der Staaten teilweise weit voneinander entfernt,3 geschweige die Formu-lierung von Zielen und deren praktische Umsetzung.

Ziele zu Emissionsreduzierungen wurden über die Jahre immer mehr zu Richtwerten. Deutschland hat sich ursprünglich im Rahmen des Kyoto-Protokolls vorgenommen, bis zum Jahre 2020 die Emissionen im Vergleich zum Basisjahr 1990 um 40 % zu reduzieren. Bereits einige Jahre vor Erreichung der Frist wurde angezweifelt, dass Deutschland dies schaffen wird. Im Klimaschutzbericht 2018 bekennte die Bundesregierung letztendlich selbst, dass sie mit der Umsetzung ihres Aktionsprogramms bis 2020 eine Minderung von 32 % gegenüber dem Basis-jahr 1990 erreichen wird und somit das Ziel klar verfehlen wird.4 Nur aufgrund der unerwar-teten COVID-19-Pandemie und dem drastischen Lockdown wurde das Ziel doch erreicht.5 In Anbetracht der aktuellen Bemühungen in der Verkehrs- und Energiepolitik kommen Zweifel auf, ob sich das nächste Ziel, bis 2030 55 % der Emissionen einzusparen, erreichen lässt. Die EU verfolgte ursprünglich eine Reduzierung der Emissionen von 40 % bis 2030. Der damalige EU-Klimakommissar Miguel Arias Cañete war im Sommer 2018 zuversichtlich, dass die EU ihr Ziel erfüllen wird und wollte sogar das Ziel auf 45 % anheben. Nach Cañete seien hierfür keine neu-en Gesetze nötig, sondern die höhere Reduzierung würde automatisch erreicht werden, wenn die bereits gesetzlich festgeschriebenen Maßnahmen zum Energiesparen und zum Ausbau der erneuerbaren Energien umgesetzt werden würden. Hierauf erhob sich Widerstand aus Deutsch-land sowie anderen EU-Ländern, dass der Plan aufgegeben werden solle, das Ziel offiziell anzu-heben. Letztendlich blieb es bei der ursprünglichen Ausgabe von 40 %.6 Allerdings nur vorerst, denn Ende 2020 war bereits abzusehen, dass sich die 27 Staats- und Regierungschefs auf eine Erhöhung des Reduktionsziels von 40 auf 55 % bis 2030 einigen werden. Im Frühjahr 2021 tra-ten die neue EU-Klimaziel offiziell in Kraft. Mit diesem ambitionierteren Reduzierungsziel sei die EU auf einem guten Weg, so die EU-Kommission, das Pariser Klimaabkommen umzusetzen und Klimaneutralität im Jahre 2050 zu erreichen.7

Die Anhebung ist sicherlich ein Zeichen, dass für die EU Klimaschutz nach wie vor eines der obersten politischen Ziele ist und sie auf dem richtigen Weg sein will, das Abkommen von Paris zu erfüllen, wofür unter Umständen während des Erfüllungszeitraums auch Nachbesse-rungen nötig sind.8 Hinsichtlich der zwei Jahre zuvor noch gescheiterten Erhöhung von 5 %, kann trotz Kritik von einem Schritt zu einem ambitionierten Ziel gesprochen werden. Wie das Ziel erreich werden kann, ist jedoch noch unklar. Die Wirtschaft befindet sich bereits in einem Transformationsprozess, was sich anhand der zunehmenden Wettbewerbsfähigkeit von um-weltfreundlichen Technologien abzeichnet. Das Tempo, mit welchen dieser Prozess die letzten Jahre ablief, lässt aber doch gerechtfertigte Zweifel aufkommen, ob innerhalb dieser Dekade 15 % mehr an Emissionen eingespart werden können als ursprünglich geplant. Ohne entspre-chende Maßnahmen und Strukturen in der Implementierung bleiben anspruchsvolle Ziele auch nur anspruchsvolle Ziele. Ein positiver Effekt könnte ein entstehender Wettkampf unter den In-dustrienationen und aufstrebenden Schwellenländer sein, wer schneller CO2

-neutral wird. Dies würde einen Boom für den Markt erneuerbarer Energien schaffen, den keine Wirtschaftsnation sicherlich verschlafen möchte – vor allem unter der Berücksichtigung, dass anderen Energie-quellen längst kein langfristiges Zukunftspotential mehr zugesprochen wird.

Solch ein Wettkampf könnte die Reduzierung der Emissionen in den Industriestaaten sowie BRICS-Staaten China und Indien begünstigen. Diese repräsentieren, zusammen mit Russland, seit langer Zeit den größten Anteil des globalen Treibhausgasausstoßes. Solch eine Entwicklung würde allerdings nur das Problem der Emissionen aus der Energiegewinnung in diesen Regio-nen beheben, nicht die globale Entwicklung und eine steigende Vulnerabilität in vielen anderen Weltregionen. Beinahe ungeachtet bleibt die ökologische Situation und wirtschaftliche Entwick-lung von Ländern wie Indonesien (die als Emerging Markets bezeichnet werden). Das Land in Südostasien zählt mittlerweile zu den G40 Staaten und weist mit rund 270 Millionen Einwoh-nern eine beachtliche Bevölkerungsgröße auf. Indonesien hat den größten Anteil an Torfland auf diesem Planeten. Als im Land 2015 durch El Nino und Waldrodungsprojekte verheerende Waldbrände ausbrachen, wurden schlagartig Emissionen in gigantischen Mengen freigesetzt, die zu diesem Zeitpunkt höher waren als die CO2

-Emissionen der gesamten U.S. Wirtschaft.9Auch wer schon einmal im beinahe kollabierenden Verkehrssystems der Hauptstadt Jakarta feststeckte und den an der Küste nagenden Wasserstand gesehen hat, fragt sich, welche Rolle Klimaschutz und nachhaltige Entwicklungsprojekte in der nationalen Politik einnehmen. Diese gibt es durchaus, doch diese können nur mit internationaler Unterstützung umgesetzt werden. Ermutigend ist, dass auf dem G20 Gipfel im Juli 2017 in Hamburg die Unterstützung für natio-nale Anpassungsprojekte innerhalb der Staatengemeinschaft betont wurde. Die Notwendigkeit wurde erkannt, Länder mit großer Verwundbarkeit gegenüber dem Klimawandel finanziell zu unterstützen, um Anpassungskapazitäten zu erweitern und wichtige und dringende Lösungen zur Adaptation umzusetzen.10

Nach 30 Jahren des internationalen Klimaregimes dreht sich die gegenwärtige Debatte nach wie vor um den Status quo und den Rückstand klimapolitischer Bemühungen und Fortschritte gegenüber den Klimaschutzzielen. Wissenschaftliche Veröffentlichung, die ein Ende des anth-ropogenen Treibhausgasausstoßes innerhalb der nächsten drei Jahrzehnte für unabdingbar er-achten, damit der globale Temperaturanstieg im Schnitt nicht über 2°C ausfällt, befeuern die Diskussion. In westlichen Demokratien werden Meinungen populärer, die Gesetze und Verbote fordern, womit ein Klimaschutzversagen der Industrienationen verhindert werden soll. Regie-rungen und Politiker werben allerdings für modernere Ansätze, die keine Verbotspolitik etab-lieren und Menschen erziehen wollen, sondern die Umwelt ebenso wie den Faktor Arbeit be-rücksichtigen und die die „Menschen mitnehmen“11. Nach 20 Jahren Kyoto-Protokoll lässt sich allerdings sagen, dass das Unterzeichnen klimapolitischer Abkommen allein nicht ausreicht, um eine nachhaltige Entwicklung in Industrie und Gesellschaft in Gang zu setzen, mit der nationale Klimareduktionsziele erreicht werden sollen. Dies macht das Scheitern des Kyoto-Protokolls unmissverständlich klar. Klima- und Entwicklungspolitik haben sich einer zeitlichen, räum-lichen und finanziellen Herausforderung zu stellen. Die Politik wird nicht erneut 20 Jahre Zeit haben, um mit demselben Tempo zu verfahren, mit dem mitigative und adaptive Maßnahmen bisher weltweit umgesetzt wurden. Es liegt an ihr, sich darum zu bemühen, die Wende bestmög-lich umzusetzen, und sich ihrer Rolle im Klimaregime bewusst zu werden: Die Minderung von Klimaschäden und die Verwirklichung von Wohl und Entwicklung werden dauerhaft nur mit konkreten Bemühungen und einer Stärkung der globalen Zusammenarbeit möglich sein.

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Literaturverzeichnis